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German Pages [544]
V&R
KARL HINRICH MANZKE
Ewigkeit und Zeitlichkeit Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 63
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Manzke, Karl Hinrich: Ewigkeit und Zeitlichkeit: Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit / Karl Hinrich Manzke. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 63) ISBN 3-525-56270-5 NE: GT
© 1992. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Güttingen
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die weitgehend unverändert gebliebene Fassung meiner Dissertation, die der evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilans-Universität in München im Sommer 1980 vorgelegen hat. Die Veröffentlichung der Arbeit gibt mir Gelegenheit, denen Dank zu sagen, die ihr Entstehen gefördert und ihre Drucklegung ermöglicht haben. An erster Stelle danke ich meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Pannenberg DD, DD, DD für die eingehende und geduldige Förderung und Betreuung der Arbeit. Herrn Professor Dr. Dr. Timm sage ich Dank für die Übernahme des Korreferates. Der Studienstiftung des deutschen Volkes möchte ich auch an dieser Stelle sehr herzlich für die langjährige und sehr großzügige Unterstützung meines Studiums und der Promotion danken. Herrn Professor Dr. Slenczka sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht gebührt mein Dank dafür, daß sie die Aufnahme der Arbeit in die Reihe 'Forschung zur systematischen und ökumenischen Theologie' unterstützt haben. Dank sage ich ferner der VELKD sowie der Landeskirche Hannover für die Zuschüsse zur Drucklegung. Soltau, im November 1991
Karl Hinrich Manzke
5
Inhalt Vorwort
5
Abkürzungsverzeichnis
13
Einleitung Die offene Frage nach dem Wesen der Zeit im Spiegel der gegenwärtigen'systematischen Theologie'
15
I.
Ebelings und Heims Situationsanalyse und ihre Bedeutung für eine 'theologische Zeitlehre'
19
Π Ewigkeitserfahrung als punktuelle Verdichtung menschlicher Zeiterfahrung Zu Ebelings Dogmatik des christlichen Glaubens
26
ΙΠ. Die Antinomie des theologischen Begriffes der 'Ewigkeit' oder Das Formproblem der Ewigkeit Zur Theologie von Paul Althaus
29
IV. Die Relation von Zeit und Ewigkeit als Ausdruck der Schöpfungsordnung - Zur Dogmatik Emil Brunners
35
V. Aspekte einer 'biblischen Zeitlehre'
45
VI. Ausblick auf den Gang der Arbeit
50
Teil I: Die von der Relation zur Ewigkeit 'befreite' Zeit
55
A. Zur Zeitlehre Immanuel Kants
55
Einleitung und Ausblick I.
55
Der Zeitbegriff der Dissertation von 1770 Die Deutung der Zeitvorstellung als Idee
59
1. Die These von dem Dissensus zwischen den beiden Grundvermögen der Erkenntnis als Ausgangspunkt der Dissertation
61
7
2. Die Gewinnung des Begriffs der 'reinen Anschauung', und das Schwanken Kants zwischen der Bestimmung der Zeit als Anschauung und als Idee
65
3. Die Entdeckung der Zeit als 'lex animi'
74
4. Die theologischen Motive Kants für die Ablehnung der absoluten Realität der Zeit oder: Der 'rechte' Zeitbegriff als Bedingung der Möglichkeit einer rationalen Theologie
78
Π. Die Kontroverse Clarice - Leibniz als Hintergrund der Kantischen Zeitbestimmung 1. Der Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz Exkurs: Theologische Implikationen des Zeitbegriffs bei Newton 2. Kants Stellung angesichts der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke
87 90 98
ΠΙ. Die Bestimmung der Zeit als Form des inneren Sinns Überlegungen zur Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft
102
1. Die Apriorität der Zeitvorstellung als Grundlage für die Geltung der reinen Naturwissenschaft und der Einheit der empirischen Erkenntnis
104
2. Die Folgerungen Kants aus dem Anschauungscharakter der Zeit und die Unabgeschlossenheit der Zeitanalyse der Ästhetik
117
IV. Die Zeit als Bedingung der Selbsterkenntnis des Subjekts und die zeitliche Struktur des Selbstbewußtseins Überlegungen zur 'Transzendentalen Deduktion' der Vernunftkritik
128
2. Die Folgen der 'Theorie der Selbstaffizierung des Subjekts' für das Schematismuskapitel und die Grundsatzlehre
153
Einleitung I.
127
1. Das zeitlos gedachte Ich der Apperzeption als Garant der Einheit der Zeit
B. Zur Zeitlehre Martin Heideggers
8
86
161 161
Die Bedeutung des Begriffs der Zeitlichkeit im Zusammenhang der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit'
167
1. Die Zeitlichkeit des Daseins als Bedingung der Möglichkeit seiner Ganzheit
167
2. Die Zeitlichkeit als Kennzeichen der Verfassung des Daseins zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit
179
3. Die Zeitlichkeit als Bedingung für die mögliche Selbständigkeit und Selbstverwirklichung des Daseins 4. Die Befreiung der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit Exkurs: Zur Kantinterpretation Heideggers Π. Die Aufnahme der Heideggerschen Daseinsanalyse in das Programm einer Zusammenarbeit von Theologie und Philosophie - Zur Heidegger-Rezeption R. Bultmanns
197 200 204
210
1. Die philosophische Daseinsanalyse als unhintergehbarer Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Theologie
210
2. Theologie und Philosophie als Konkurrenten hinsichtlich der Interpretation der Menschlichkeit des Menschen
213
3. Die Theologie als wahrer Interpret des natürlichen Daseins
228
4. Anmerkungen zur Auseinandersetzung um die Heideggerrezeption Rudolf Bultmanns
232
5. Die Folgen der Bestimmung des Glaubens als 'freie Tat der Entscheidung im Augenblick*
238
ΙΠ. Die Heideggersche Kehre als Herausforderung für die Theologie
245
1. Die Ablösung der Zeit von der Ewigkeit - Ein Rückblick
245
2. Die Neufassung des Zeitbegriffs auf dem Hintergrund der Kehre des Heideggerschen Denkens
249
3. Anmerkungen zur möglichen theologischen Relevanz der Heideggerschen Spätphilosophie
258
Teil Π: Die Anfange einer christlichen Lehre von der Zeit bei Augustin und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion
259
Einleitung
259
I.
Die Ewigkeit als die Wahrheit der Zeit
265
1. Die Zeitlichkeit der Seele als Indiz ihrer Unsterblichkeit Zur Schrift 'De immortalitate animae'
266
2. Die Zeitlichkeit des Seienden als Bedingung für die mögliche Erhebung des Menschen zu Gott - Bemerkungen zur Funktion des Zeitbegriffs in der Musikschrift
276
9
3. Die Suche Augustine nach einer adäquaten Bestimmung der Zeit Überlegungen zu den beiden frühen Genesisauslegungen
301
4. Die Ewigkeit als der verborgene Sinn aller Zeiten Zur Neubestimmung der Zeit in den 'Confessiones'
318
5. Die These von der Ewigkeit als der Wahrheit der Zeit auf dem Hintergrund der platonischen Philosophie
338
6. Die Ewigkeit Gottes als zeitloser Grund aller Zeiten
347
Π. Die Deutung der Zeitlichkeit als Schuld
356
IE. Die Öffnung der Zeit für die Ewigkeit als 'Kairos'
360
Teil ΙΠ: Die im Horizont der Ewigkeit gedachte Zeit Drei Entwürfe zur theologischen Interpretation der Zeit im 20. Jahrhundert
367
A. Die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit Zur Theologie Karl Heims
371
I.
10
Die wirkliche Zeit als Ruf zur Entscheidung
377
1. Grundzüge der Zeitlehre Heims in seiner Frühschrift 'Das Weltbild der Zukunft'
377
2. Die erkenntnistheoretische Absicherung der Bestimmung des Glaubens als Entscheidung - Bemerkungen zu Heims Schrift über die 'Glaubensgewißheit'
397
II. Die Wendung Heims zum Personalismus und ihre Bedeutung für die Bestimmung der Zeit Bemerkungen zur Schrift O n t o l o g i e und Theologie'
416
m . Der Entwurf einer christlichen Lebensanschauung auf dem Hintergrund einer theologischen Zeitlehre
422
1. Die Selbstvorgabe Heims für seinen Entwurf einer christlichen Lebensanschauung
422
2. Die Entfaltung der Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung auf dem Hintergrund einer Neubestimmung der Zeit
427
3. Die Implikationen der Identifikation von Zeit und Ich Zur Heidegger-Auseinandersetzung Heims
439
4. Die dimensionale Gespaltenheit der Wirklichkeit und die Gottesfrage
442
5. Die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit
445
Β. Der Protest gegen die Selbstabschließung der Endlichkeit durch den Nachweis der geschichtlichen Relation von Zeit und Ewigkeit - Zur Theologie Paul Tillichs I.
454
Die Zeit als zentrale Kategorie der Endlichkeit
456
1. Die Kategorie der Zeit
458
2. Die Relation von Zeit und Ewigkeit als kategoriale Entfaltung der Relation von Endlichkeit und Unendlichkeit
462
3. Die Ewigkeit Gottes als seine ständige und unveränderliche Gegenwart in der Zeit
470
Π. Die Verkehrung der geschöpflichen Zeit im Vollzug der Existenz als Ausdruck der Selbstentfremdung des Menschen
472
m. Die Gestalt der Zeit als Parabel
478
C. Die wirkliche Zeit als die Zeit Gottes für den Menschen Zur Theologie Karl Barths I.
490
Die Unmöglichkeit einer Bestimmung der Zeit ohne Relation zur Ewigkeit
490
1. Die christologische Begründung der Relation von Zeit und Ewigkeit
493
2. Die Funktion der Unterscheidung zwischen Schöpfungszeit, Offenbarungszeit und der Zeit des gefallenen Menschen
500
3. Die Durchsetzung der Ewigkeit in der Zeit
508
4. Die Unmöglichkeit der Identität des Menschen in seiner Zeit Zur Heidegger-Auseinandersetzung Karl Barths in KD ΠΙ/2
521
5. Die 'Umkehrung des Zeitbegriffs' durch die 'Zeitwende' Die Gnade der Endlichkeit
530
II. Die Durchsetzung der Ewigkeit Gottes in der Zeit als Realisierung des Wesens der Zeit - Eine wiederholende Interpretation
531
1. Ewigkeit als Bestimmung der Freiheit Gottes
532
2. Die Offenbarungszeit als Akt der Selbstentsprechung Gottes
533
3. Die Schöpfungszeit als 'Entsprechung zur Selbstentsprechung der Offenbarungszeit'
533
4. Die menschliche Zeit für die Ewigkeit als Entsprechung zur Gnadenzeit
534
Literaturverzeichnis
535 11
Abkürzungsverzeichnis Α, Β
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Seitenzahl der Originalausgabe von 1781 bzw. 1787, hg. v. R. Schmidt, Nachdruck Hamburg 1971
KD
K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Band 1/1 bis IV/4,1942 ff.
SuZ
M. Heidegger, Sein und Zeit, 197915
Conf. A. Augustinus, Confessiones - Bekenntnisse, hg. von J. Bernhart, 1987 (it) Im übrigen wird in den Anmerkungen bei der erstmaligen Nennung eines Titels die Zitationsweise angezeigt. In der Regel werden die herangezogenen Werke nach einer Kurzform des Titels zitiert. In den Anmerkungen werden die Untertitel der herangezogenen Werke nicht genannt; sie sind bitte dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Die Abkürzungen der Zeitschriften und Ausgaben folgen dem Verzeichnis der RGG3. Grammatikalisch und syntaktisch notwendige Ergänzungen eines Zitates werden eingeklammert.
13
EINLEITUNG
Die offene Frage nach dem Wesen der Zeit im Spiegel der gegenwärtigen 'systematischen Theologie' Die Theologie redet von den großen Taten Gottes. Christliche Theologie im besonderen denkt dem Ereignis nach, das in der Mitte der Zeit die Zeit der Welt gewendet hat. In dem ständig neuen Bezug auf dieses Ereignis entspringt christliche Theologie dem Glauben, daß in der Zeit das Ziel aller Zeiten sichtbar geworden ist. Christliche Theologie redet von der Zeitwerdung Gottes zu einer bestimmten Zeit. Indem sie diesem Ereignis nachdenkt, unterstellt die Theologie, daß die Zeit seitdem nicht mehr das ist, was sie einmal war. Insofern entspringt die christliche Theologie dem Protest gegen die Behauptung, die Zeit bleibe sich immer gleich. In ihrer Zeit die Wende der Zeit anzusagen und kenntlich zu machen, ist die Aufgabe jeder systematischen Theologie, die darin ihre Zeitgenossenschaft wahrnimmt. Die "Verantwortung des christlichen Glaubens im Blick auf die sich bewahrheitende Wahrheit heute"1 als Aufgabe systematischer Theologie impliziert nicht zuletzt die Verpflichtung der Deutung der Zeit. Hinter den Anspruch, ihre Zeit zu deuten - und das womöglich besser, als sie sich selbst zu deuten in der Lage ist - , wird keine systematische Theologie zurückfallen wollen, wenn es ihr denn um die Verantwortung des christlichen Glaubens angesichts der 'sich bewahrheitenden Wahrheit heute' geht. So sind und bleiben der Begriff und das Thema 'Zeit' für eine systematische Theologie von ständiger Brisanz. Entsprechend läßt sich das Thema 'Zeit' als Exempel für die Suche der Theologie nach einem Standort im Denken des 20. Jahrhunderts nehmen. Vielleicht zeigt kein anderes 'Thema' derart radikal an, daß christliche Theologie und christlicher Glaube in der Gefahr stehen, unserer Zeit fremd zu werden. Christlicher Glaube und christliche Theologie scheinen eine andere Zeit zu repräsentieren. "Unsere Zeit ist so sehr der Zeit ausgeliefert,
1 M. Plathow, Zeit und Ewigkeit. Ein Thema der christlichen Vorsehungslehre heute, in: NZSTh 26 (1984), 95ff„ 104
15
daß uns (sc. der christlichen Theologie) kein erstes und kein letztes Wort zur Verfügung steht".2 Entscheidende und einflußreiche Entwürfe protestantischer Dogmatik des 20. Jahrhunderts verstehen sich selbst als Zeitdeutungen.3 Dies ist wiederum in einem doppelten Sinne aufzufassen. Zum einen ist damit gemeint, daß jene 'Entwürfe' die 'christliche Wahrheit' in ihrer und fiir ihre Zeit auszulegen haben. Zum anderen gilt, daß jene Entwürfe einer systematischen Theologie die Zeitgenossenschaft der Theologie so wahrnehmen, daß sie das Zeitbewußtsein und das Zeitgefühl ihrer Zeit einer Analyse unterziehen, um auf deren Hinteigrund die christliche 'Zeitauffassung' zu entwickeln. Das Thema 'Zeit' wird jenen Entwürfen das zentrale Thema christlicher Theologie, die darin ihre Zeitgenossenschaft zu bewähren hat. Im Laufe unserer Arbeit greifen wir im besonderen die systematischen Entwürfe Karl Barths, Paul Tillichs und den 'Entwurf einer christlichen Lebensanschauung' durch den zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geratenen Karl Heim heraus. Unsere Zusammenstellung erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit; allerdings sind wir der Überzeugung, diejenigen drei Entwürfe thematisch zu machen, die nicht nur eine umfassende 'christliche Lehre' von der Zeit im Kontext des 20. Jahrhunderts entwerfen, sondern die darüber hinaus eine prinzipielle Auseinandersetzung mit 'außerchristlichen' Deutungen der Zeit voraussetzen - auch ohne dies immer ausdrücklich zu machen. So geben jene drei 'Entwürfe' jeweils präzise Antwort auf die Frage danach, was in ihrer Zeit an der Zeit ist für eine der Entfaltung der christlichen Wahrheit verpflichtete Theologie.4 Ein Beitrag der christlichen Theologie zur Frage danach, was 'heute' an der Zeit ist - und damit auch zur Frage nach dem Wesen der Zeit - , ist vor einigen Jahren von 'naturwissenschaftlicher Seite' gefordert worden. In seinem viel beachteten Buch 'Die präparierte Zeit' hat A.M.K. Müller der christlichen Theologie eine nicht unerhebliche Rolle bei der möglichen und von Müller für notwendig erachteten Überwindung eines auch wissenschaftstheoretische längst überholten 'physikalischen Zeitbegriffs' zugeschrieben. Die These Müllers von der 'präparierten Zeit' besagt, daß die Vorstellung der Zeit als ein homogenes Medium, in das alles Wirkliche verrechenbar eingefügt werden kann, das menschliche Leben über Wissenschaft und Technik hinaus bestimmt. Dabei gilt Müller als ausgemacht: "Die physikalische Zeit, die dem wissenschaftlich-technischen Zeitalter in Gestalt syn-
2 G. Ebeling, Zeit und Wort, in: ders., Wort und Glaube II, 1969,121 3 Wir beschränken uns hier auf Entwürfe im deutschsprachigen Raum. 4 Die soeben (1988) erschienene 'Systematische Theologie' W. Pannenbergs, die ebenfalls zu großen Teilen als Entfaltung einer christlichen 'Zeitlehre' gelten könnte, konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden
16
chron gehender Uhren ihren Rhythmus aufprägt, kann die Wirklichkeit des menschlichen Bewußtseins nicht adäquat darstellen".5 In der Vorstellung von der Unveränderlichkeit des Zeitlaufes, in den sich jedes Erlebnis eintragen läßt, wird die Wirklichkeit menschlichen Bewußtseins in die Objektebene projiziert. Menschliche Erfahrungen und zwischenmenschliche Beziehungen treten mit der Setzung der Zeit als unabhängige Variable im räumlichen Koordinatensystem in funktionale Beziehungen ein. Die Zeit und damit die Zukunft als Erscheinung von Möglichkeiten des Lebens wird berechenbar. Vor allem C.F. v. Weizsäcker hat im Bereich der 'philosophischen Physik' zu zeigen versucht, daß der Zeitbegriff, der die Zeit als homogenes Medium vorstellig macht, im Bereich der neueren Naturwissenschaft längst überholt ist.6 Denn v. Weizsäcker hat "mit zunehmender Präzision die These vertreten, daß die Wahrscheinlichkeiten der statistischen Mechanik wie auch die Wahrscheinlichkeit der Quantenmechanik nicht unsere bloße Unkenntnis bedeuten, also keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten sind, sondern eine objektiv inhomogene Struktur der Zeit widerspiegeln".7 Trotz dieser deutlichen und eindrücklichen Versuche, zwischen einer 'objektiven Struktur' der Zeit und der Inhomogenität des menschlichen Zeiterlebens zu vermitteln - Müller verweist in bezug auf die Fähigkeit des Menschen, Dauer bzw. ausgedehnte Gegenwart zu erleben, auf Bergson8, der die Unmöglichkeit, die Erlebniszeit von dem Gedanken der verräumlichten Zeit zu erfassen, aufgewiesen habe - , muß doch auch Müller zugestehen, daß die Gegensätzlichkeit zwischen dem unveränderlichen 'Zeitlauf' und der 'Erlebniszeit' das gegenwärtige Zeitbewußtsein bestimmt. Ja - die 'Schere' zwischen dem inneren Zeiterleben und dem Bann der veröffentlichten, unaufhaltsam 'ablaufenden' Zeit scheint immer größer zu werden. Der Prozeß der Präparierung der Zeit schreitet voran. Die Zeit wird als selbständig existierende 'Größe'erfahrbar, die an jedem Bahnhofsplatz 'aushängt'. Die 'Selbstregulierung'9 des Menschen in den durch
5 A.M.K. Müller, Die präparierte Zeit, 1972, 205 (im Text kursiv gedruckt) 6 Vgl. C.F. v. Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, Kleine Vandenhoeck- Reihe 1001, 1979, 3Iff. 7 Müller, aaO., 287 8 Vgl. aaO. 204, 242 u.ö. 9 So N. Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, 1984; Elias will ähnlich wie Müller - allerdings in anderer Orientierung - die Tiefendimension der Zeit wieder entdecken (aaO. XL VI/9 u.ö.). Dabei geht es ihm um die Einsicht in die synthetische Funktion der Zeit; diese sieht Elias in der Zeit als 'Einheit des natürlichen Universums' (14).
17
Technik und Wissenschaft geprägten Industrienationen ist unübersehbar, ihre Folge noch nicht absehbar.10 Denn die 'Veröffentlichung' der unaufhörlich und gleichmäßig 'fließenden' Zeit läßt diese immer weniger durch das bestimmt sein, was in ihr geschieht. Die erhobene Forderung nach einer 'Neuentdeckung' der Zeit als 'Dauer', - wie sie faktisch im menschlichen Leben und Erleben vorliegt verbindet sich immer mit der Forderung nach einer Einheit der Wirklichkeitsdeutung.11 Gleichwohl scheint nach wie vor zu gelten, daß kaum ein anderer Begriff wie der der Zeit die verheerende Separation der Wirklichkeitsdeutungen widerspiegelt.12 Nach Müller ist eine Befreiung von dem Bann der 'präparierten Zeit' an der Zeit, um die für das Überleben der Menschheit notwendige Hoffnung auf eine die Welt neu machende Zukunft freizusetzen. An dieser Stelle sieht Müller Chance und Aufgabe der christlichen Eschatologie als Entfaltung der Hoffnung auf das Kommen einer die Welt verändernden Zukunft.13 "Nur wenn der archimedische Punkt unseres Denkens und Handelns in die Front der Offenbarung, in das Neue, Schöpferische, auf uns zu Kommende verlegt ist, entgehen wir der Diktatur der totalen Manipulation von Menschen durch Menschen im Rahmen des schon Verfügbaren".14 Unsere Zeit - so das Urteil Müllers - braucht nichts mehr und dringlicher als die die Welt verändernde Kraft der christlichen Hoffnung. Jede 'theologische Zeitlehre' zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Begriff der Zeit in Relation zum Gedanken der Ewigkeit deutet. Darin drückt sich der Versuch aus, Zeit und Welt vom Gottesglauben bzw. vom Gottesgedanken her zu deuten. Jede theologische Zeitlehre stützt sich darin explizit oder unausgesprochen auf die These, daß noch jede Zeit dieser Gegenüberstellung und damit der Relativierung durch die Ewigkeit Gottes bedarf. - Alle dogmatischen Entwürfe in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts spiegeln in unterschiedlicherweise die großen Schwierigkeiten wider, in die das Reden der Theologie und des Glaubens von dem 'Gegenüber' von Zeit und Ewigkeit geraten ist.
10 Das vielfach belächelte 'Spätweik' Martin Heideggers kann als der vielleicht leidenschaftlichste Protest gegen die Reduktion der Zeit auf die Tätigkeit des seine Welt technisch besorgenden Verstandes gedeutet werden. 11 Vgl. Müller, aaO. 20, 316ff. u.ö. 12 Vgl. den Band R.W. Meyer, Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, 1964, und auch Die Zeit, Schriften der Carl-Friedrich-v.Siemens-Stiftung, 1983 13 Vgl. Müller, aaO. 459ff. u. 632 14 AaO. 176
18
Dem Versuch der Erhellung dieser Schwierigkeiten dient nicht zuletzt auch unsere Arbeit. Zwei Ansätze aus dem Bereich der systematischen Theorie dieses Jahrhunderts sind an hervorragender Stelle zu nennen, die anhand der Zeitthematik explizit Chancen und Probleme evangelischer Theologie im 20. Jahrhundert erörtert und zugleich Kriterien für eine angemessene Entfaltung der Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' entworfen haben.15
I. Ebelings und Heims Situationsanalyse und ihre Bedeutung für eine 'theologische Zeitlehre' Karl Heim hat die Kriterien, die seiner Meinung nach eine theologische 'Zeitlehre' erfüllen muß, in einem sehr weitsichtigen Aufsatz von 1926 unter dem Titel 'Zeit und Ewigkeit. Die Hauptfrage der heutigen Eschatologie' entwickelt.16 Heim sieht das Denken und Lebensgefühl seiner Zeit vor der Einsicht in die Unzulänglichkeit des 'Zeitgefühls der Alten'.17 Die Vorstellung 'der Alten', die Zeit sei als "in sich ruhende Form des Weltgeschehens"18 zu denken, sei ins Wanken geraten. Das Leiden unter der Zeit sei durch diese Zeitvorstellung nicht mehr beschreibbar. Das bestimmende Gefühl seiner Zeit sieht Heim in der nahenden Zeitenwende. Die 'bewährten' Lösungen der Zukunftsfrage auf dem Grunde der Vorstellung der Zeit als "sich selbst tragende(n) Zeitstrecke"19 seien obsolet geworden. Sowohl der Gedanke der Zukunft als einfache Verlängerung der Gegenwart als auch die Setzung einer überzeitlichen Sphäre, in der alles Zeitliche zur Ruhe kommt, können keine Zukunftshoffnung mehr vermitteln.
15 Der Aufsatz von M. Plathow ist hier nicht übersehen. Aber Plathow scheint uns noch zu ungebrochen von der selbstverständlichen Relation von Zeit und Ewigkeit auszugehen, wenn er darauf verweist, daß "gegenwärtige Zeiterfahrung" gleichsam automatisch "über sich hinausweist" auf die Ewigkeit (Plathow, aaO. 108). 16 Dieser Aufsatz spiegelt die Auseinandersetzung Heims mit der dialektischen Theologie, aber auch mit P. Althaus wider und zeigt den 'eigenen' Weg Heims. Da der Aufsatz weiter unten (s.u. S. 422ff.) noch ausführlicher zur Sprache kommt, beschränken wir uns hier auf seine Thesen. Der Aufsatz wird zitiert nach A. Köberle, Karl Heim. Denker und Veikündiger aus evangelischem Glauben, 1973,183ff. 17 Heim, Zeit und Ewigkeit, aaO. 184 18 AaO. 184 19 AaO. 189
19
Vielmehr gilt es einzusehen, so Heim, daß die Zeit ihren Sinn nicht in sich selbst hat. Das Leiden des 'modernen' Menschen unter dem Bann der verräumlichten Zeit ist für Heim ein Ausdruck für die Suche nach einem Sinn der Zeit in der Zeit. Eine theologische Zeitlehre hat nach Heim folgende Kriterien zu erfüllen.20 - Sie muß die Zeit als geschöpfliche Verfassung des Seienden und als Ausdruck seiner Gefallenheit ausdrücklich machen. Nur so kann eine theologische Zeitlehre zwischen den unannehmbaren Deutungen der Zukunft als bloße Verlängerung der Gegenwart oder als 'überzeitliche Sphäre' einen Platz gewinnen. - Sie muß die Ewigkeit Gottes als das Geheimnis der Zeit deutlich machen können. - Sie muß die Wende der Zeit in der Zeit durch die Aufdeckung eines der Zeit nicht lediglich fremden Ziels kenntlich machen können. In diesem Zusammenhang fordert Heim die Neuentdeckung des neutestamentlichen Telos-Begriffs. In seinem Aufsatz 'Zeit, und Wort' von 1964 hat G. Ebeling in einer eindrücklichen und bestechenden Argumentation einen "authentischen Beitrag"21 der Theologie zu einem herausragenden Thema der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gefordert - nämlich zur Frage des Zeitproblems. Deswegen empfiehlt es sich, diesen eher programmatischen Aufsatz kurz zu referieren, da er dann als Vorgabe und als Beurteilungsmaßstab nicht nur für Ebelings, sondern alle herangezogenen Dogmatiken dienen kann. Ebeling zeigt nämlich in diesem Aufsatz Möglichkeiten einer Formulierung des Zeitproblems im Zusammenhang einer christlichen Dogmatik überhaupt auf; damit verbunden erhebt Ebeling den Anspruch, in der besonderen Gestaltung der Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' im Rahmen einer christlichen Theologie einen Lösungsversuch für eines der drängenden Probleme der Neuzeit überhaupt vorlegen zu können. Diesen in der Formulierung der Überschrift des Aufsatzes selbst schon angelegten Lösungsversuch des neuzeitlichen Zeitproblems will Ebeling mithin nicht nur als bescheidenen Beitrag der Theologie zu einer viel diskutierten Problematik verstanden wissen, sondern als Schlüssel für das Verständnis dieser Problematik überhaupt.22
20 21 22 23
20
Vgl. aaO. 194ff. G. Ebeling, Zeit und Wort, WuG II, 1969,121ff„ hier 123 Vgl. aaO. 134 AaO. 124
Die Diskussion des Zeitproblems "in der Theologie unseres Jahrhunderts"23 subsumiert Ebeling unter die drei Begriffe Ewigkeit, Eschatologie und Geschichte. Diese drei Begriffe zeigen damit die Richtung an, in der christliche Dogmatik im zwanzigsten Jahrhundert versuchte und noch versucht, theologische Antworten auf das neuzeitliche Zeitproblem zu liefern. Was Ebeling genau unter 'neuzeitlichem Zeitproblem' versteht, ist nicht ganz klar. Vermutlich geht es ihm dabei um das, was er 'Verabsolutierung' der Zeit nennt, deren Folge die Machtlosigkeit des Menschen angesichts der universalen Herrschaft der Zeit ist.24 Im Blick auf den Begriff der Ewigkeit als einen nach Ebeling unaufgebbaren Begriff christlicher Dogmatik läßt sich nun die Situation der Theologie in der Neuzeit insgesamt exemplarisch kennzeichnen. Die Ewigkeit "als Inbegriff der Vollkommenheit Gottes"25 und als wesentlicher Begriff der religiösen Sprache ist der grundsätzlichen Kritik unterzogen. Hinter die Bezugnahme Ebelings auf Feuerbachs Votum: "Nur die Existenz in Raum und Zeit ist Existenz"26 - ist der Rückgriff auf Kants These von der transzendentalen Idealität der Zeit angebracht, um die ganze Tragweite jener Entwicklung zu verstehen, die den theologischen Ewigkeitsbegriff zumindest problematisch gemacht hat. Zeit ist danach Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und damit der Gegenstände. Eine dem zeitlichen Wechsel enthobene Ewigkeit kann somit strenggenommen weder gedacht, geschweige dann erfahren werden. "Die Ewigkeit als Inbegriff der Vollkommenheiten Gottes und als tragender Grund aller theologischen Aussagen über das ewige Wort, das die Zeiten und alles Zeitliche schafft und gegen Ende der Zeit in die Zeitlichkeit hinein Mensch wird ... - dies alles ist nun vom Grund her bis in die äußersten Folgen hinein in Frage gestellt".27 Die Zeit selbst ist nun an die Stelle Gottes getreten als die alles Seiende umgreifende Mächtigkeit. Diese "Vernichtung der Ewigkeit durch die Zeit"28 kommt der Verabschiedung Gottes gleich, insofern der in der theologischen Tradition als 'zeitlos' gedachte Gott nicht mehr gut als überhaupt erfahrbar und erkennbar gedacht werden kann, wenn denn gilt, daß nur dasjenige erkannt und gedacht werden kann, das der Anschauung der Zeit korrespondiert. Zeit und Ewigkeit als "dialektisch aufeinander bezogene Bestimmungen"29 zu denken im Sinne einer schöpfungsmäßigen Bezogenheit von Schöpfer und Geschöpf ist auf dem Hintergrund dessen 24 25 26 27 28 29
Vgl. aaO. 122f. AaO. 125 Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
21
kaum mehr möglich. Die Rede von der Ewigkeit Gottes, in der alle Zeiten aufgehoben sind und aus der sie entspringen, entbehrt der Verständlichkeit. In der Theologie des 20. Jahrhunderts sieht Ebeling drei Versuche, diese prekäre Situation, in die die Theologie geraten ist, zu überwinden. In der 'dialektischen Theologie' der ersten Jahre sieht Ebeling dabei erstens den Versuch, gerade durch Anerkennung und bewußte Aufnahme jener Ferne, in die die Rede von der rettenden Ewigkeit Gottes dem neuzeitlichen Menschen gerückt ist, diese Krise der Theologie zu überwinden. In dieser Ferne zur Zeit zeigt sich die Ewigkeit als Gericht der Zeit, als ihre totale Negation und nur in dieser Ferne als die der Zeit nahe Ewigkeit. "So gewinnt die Theologie gerade aus der Krisis den Sprengstoff zur Radikalisierung der Krisis, aus der Einsicht in die Unverfügbarkeit des theologischen Redens eine neue Dynamik theologischen Redens, aus der Einschärfung der Zeitlichkeit ein neues Erschwingen der Ewigkeit als des 'ganz Anderen'".30 Einen zweiten Weg, die Kritik an der unvermittelten Rede von der 'zeitumfassenden Ewigkeit' Gottes zu überwinden, sieht Ebeling in dem vielfältig unternommenen Versuch, ein genuin 'biblisches Zeitverständnis' herauszuarbeiten. Durch den Aufweis des eigenständigen 'Rechtes' des biblischen Zeitverständnisses soll dabei der philosophischen Kritik am theologischen Zeit- und Ewigkeitsverständnis begegnet werden. Alle diese Bemühungen implizieren die Kritik an der Reduktion der Zeit auf die bloße und leere Abfolge von ausdehnungslosen 'Jetztpunkten'. Zeit im biblischen Verständnis - so versuchen alle jene Studien herauszuarbeiten31 - "ist... stets konkrete Zeit"32, durch gegenwärtige Erfahrung gefällte Zeit. In der konkreten und gefüllten Zeit aber wird je und je die, die Zeiten ordnende, Hand Gottes erfahren, der vermittels der Unterscheidung der Zeiten seine Schöpfung erhält. Insofern darf die biblisch verstandene Ewigkeit Gottes auch nicht als Zeitlosigkeit, als Unberührtheit Gottes von dem Wechsel der Zeiten gedacht werden, sondern als "Zeitfülle und Zeitvollmacht"33 Gottes. Darin sieht Ebeling selbst denn auch eine wesentliche Aufgabe christlicher Dogmatik, daß sie die biblische Rede von der 'Zeitvollmächtigkeit' Gottes in die Dogmatik einträgt und damit den Einfluß des 'griechischen Erlebnisbegriffes', den Ebeling durch 'Zeitlosigkeit' und 'Zeitferne' bestimmt sieht, zurückdrängt.34 Ebeling erhebt in diesem Zu-
30 31 32 33 34
22
AaO. 126 Vgl. aaO., wo Ebeling auf G. Delling und C.H. Ratschow verweist. AaO. 126 AaO. 127 Vgl. aaO. 128
sammenhang die grundsätzliche Forderung, daß alles Reden von Gott "auf seinen temporalen Sinn hin interpretiert"344 werden müßte, um die biblische Rede von der alle Zeiten umgreifenden Ewigkeit Gottes auch für die Dogmatik fruchtbar zu machen. Einen dritten Versuch, die Möglichkeit der Rede von der Ewigkeit Gottes im Zusammenhang der neuzeitlichen Kritik zu sichern, sieht Ebeling in der Bemühung, die 'christliche'Vorstellung derZeit als eine irreversible Zeitlinie der zyklischen Zeitvorstellung gegenüber zu stellen und die Unvereinbarkeit beider Zeitbegriffe zu konstatieren. Dadurch solle dann, so Ebeling, die Eigenständigkeit der christlichen Zeitauffassung und ihre Unkritisierbarkeit von der Seite jener anderen Vorstellung gesichert werden. Diesen Versuch sieht Ebeling im wesentlichen deshalb als untauglich an, weil er gerade die 'Zeitmächtigkeit' Gottes nicht denken kann, insofern Ewigkeit hier nur als Anfang und Ende des Zeitablaufes vorgestellt wird. Deshalb wird die Zeit als alleinige und ausschließliche Bestimmtheit von Endlichkeit in dieser Argumentation festgeschrieben. Das Ewige bleibt als Bestimmungsgrund von Zeit in der Zeit unbedacht. Im Anschluß an diesen kurzen Überblick über Versuche, den theologischen Ewigkeitsbegriff zu retten, macht Ebeling nun deutlich, in welche Richtung er selbst zu gehen gewillt ist. Und zwar sieht Ebeling die Aufgabe einer christlichen Dogmatik darin, unter Würdigung und Kritik des 'griechischen Ewigkeitsbegriffs' "das Thema Gott und Zeit so"35 anzugehen, daß die biblische Rede von der Zeitvollmacht und der Zeitüberlegenheit Gottes gleichermaßen zur Geltung gebracht werden kann. Anders kann eine von der Offenbarung herkommende Theologie nicht vorgehen, will sie denn nicht darauf verzichten, die Ewigkeit Gottes als Bestimmungsgrund alles Zeitlichen zu denken. Es geht Ebeling also um eine angemessen Interpretation des temporalen Sinnes allen Redens von Gott. Die grundsätzlich temporale Interpretation der Ewigkeit Gottes und damit des göttlichen Wesens überhaupt hat ihre Berechtigung in dem Ereignis der 'Zeitwerdung' der Ewigkeit. Die Christusoffenbarung also ist alleiniger Erkenntnisgrund für die temporale Interpretation der Ewigkeit Gottes. So kann auch nur eine diesem Ereignis voll und ganz verpflichtete Theologie die temporale Struktur der Ewigkeit voll entfalten. Von hier aus versteht sich auch Ebelings Kritik an den wiederum vielfältigen Versuchen, die Lösung des Zeitproblems gänzlich in die Eschatologie zu verlagern.36 34a Ebd. 35 Ebd. 36 Vgl. dazu aaO. 128ff.
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Ebeling macht in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Ansätze aus. Zum einen sieht er den Versuch, auf dem Hintergrund der Wiederentdeckung des apokalyptischen 'Umfeldes'der neutestamentlichenTexte und des Wirkens Jesu selbst, die zeitliche Dimension der Zukunft als die das christliche Bewußtsein ganz und gar bestimmende Dimension geltend zu machen. Die Zeit als solche ist danach eschatologisch. Die Geschichte in ihrer Gesamtheit wie das Leben des Einzelnen bestimmen sich allein von ihrem Ende her, das gegenwärtig wird im Akt seiner Vorwegnahme. Ebeling sieht in diesem Versuch, die Zeit von ihrem Ende her zu denken, eine "Flucht in die Zukunft"37, die das Christusgeschehen als eschatologisches Perfectum überspringt. Darüber hinaus sieht Ebeling dieses "neue eschatologische Zeitverständnis"38 "schon sehr früh" kombiniert mit dem "Schema heilsgeschichtlicher Chronologie", womit für Ebeling der Gedanke eines 'formalen Zeitkontinuums' in die Theologie eingeführt wird, den es nach seiner Meinung vom Zeitverständnis des christlichen Glaubens gerade zu kritisieren gilt. Damit ist Ebeling bei seinem eigenen Lösungsversuch des Zeitproblems angelangt. Dieser Versuch offenbart sich in der Formulierung des Themas 'Zeit und Wort' selbst. Diese Formulierung nämlich zeigt die Richtung an, in der nach Ebeling nun der authentische Beitrag der Theologie zum Zeitproblem gesehen werden muß. Dabei ist es für Ebeling evident, daß "die Sache der Theologie das Wort"39 ist. Nur durch das verkündigte Wort werden Ewigkeit und Eschaton, werden die Ewigkeit Gottes und die Verkündigung Jesu erfahrbar. "Ewigkeit und Eschaton geschehen als Wort".40 Dieser These von der Gegenwärtigkeit der Ewigkeit im Wort korrespondiert die von Ebeling mehrfach vorgebrachte Behauptung von der grundsätzlichen Worthaftigkeit menschlicher Erfahrung und menschlichen Lebens überhaupt.41 Diese Behauptung hat bei Ebeling fundamentaltheologischen Rang in dem Sinne, daß sie Fundament aller theologischen Aussagen ist. Ewigkeitserfahrung also ereignet sich, theologisch gesprochen, in der ständigen Begegnung mit dem Wort Gottes. "Ewigkeit, theologisch verstanden, ist das ZurSprache-Kommen der Zeitherrschaft Gottes im Wort Gottes".42 Die Art und Weise, in der Gott im Wort zur Sprache kommt, ist dabei ausgesprochen
37 AaO. 131 38 Ebd. 39 AaO. 133 40 Ebd. (Hervorhebung von mir) 41 Vgl. z.B. G. Ebeling, Dogmaük des christlichen Glaubens, Band 1,1979,88,104 und 314 (Die einzelnen Bände der Dogmatik im folgenden als Ebeling, Dogmatik I-III zitiert) 42 Ebeling, Zeit und Wort, aaO. 133
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ambivalent. Als Wort der Vergangenheit, Wort "von fern her",43 ist das Wort Gottes durch die Zeit bedroht. Das Wort kann seiner Zeitmächtigkeit verlustig gehen. Es kann zur bloßen Vergangenheit gerinnen. Als vollmächtiges Wort aber bedroht es die Zeit dadurch, daß es die Situation treffen und somit Zeit verändern kann.44 Diese Ambivalenz in der Wirkung des Wortes spiegelt die Strittigkeit der Zeit in sich selbst wider. Das Geschehen der Zeit ist so "die Strittigkeit der Zeit"45 selbst, die zugleich in der Gefahr der Entleerung und unter der Verheißung der Erfüllung steht. Diese Strittigkeit der Zeit in sich selber rechtfertigt die These Ebelings von der Ewigkeitserfahrung als einem Wortgeschehen. Damit hat Ebeling in diesem frühen Aufsatz die Richtung eines seiner Meinimg nach genuin theologischen Beitrages zum Zeitproblem des 20. Jahrhunderts angezeigt. Mehr als eine solche allgemeine Richtungsanzeige kann und will dieser Aufsatz auch nicht sein. Folgende Fragen läßt er offen: 1. Wie hat die temporale Interpretation des Gedankens der Ewigkeit Gottes als eines unaufgebbaren Bestandteiles christlicher Dogmatik auszusehen? 2. Wie muß menschliche Zeiterfahrung beschrieben und gedacht werden, wenn die These von der grundsätzlichen Worthaftigkeit menschlicher Erfahrung in Geltung bleibt? 3. Wie läßt sich Ewigkeitserfahrung im Sinne des Wortgeschehens als konstitutiver Bestandteil von Zeiterfahrung einsichtig machen? Gerade die letztere Frage ist von besonderem Interesse auf dem Hintergrund des Ebelingschen Anspruchs, mit der Thematik von 'Zeit und Wort' das "Zeitproblem als solches"46 umfassend in den Blick zu nehmen und einer Lösung zuzuführen, ohne den theologischen Ewigkeitsbegriff zu eliminieren. Die Ausführungen Ebelings in seiner Dogmatik stehen also unter dem Anspruch, die in dem Aufsatz 'Zeit und Wort' offengelegten Probleme einer Lösung zuzuführen. Deshalb wird im nächsten Teil die Dogmatik Ebelings thematisch.47
43 Ebd. 44 AaO. 134 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Es geht dabei im folgenden nicht um eine 'abgerundete' Darstellung der einzelnen Entwürfe. Wir wollen nur die Grundaspekte herausstreichen, die die Bemerkungen Ebelings und dann auch Brunners und diejenigen von P. Althaus - kennzeichnen. Dabei ergeben sich notwendige Überzeichnungen, die u.E. aber gleichwohl im Gefälle der zugmndegelegten Argumentationen liegen.
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Π. Ewigkeitserfahrung als punktuelle Verdichtung menschlicher Zeiterfahrung - Zu Ebelings Dogmatik des christlichen Glaubens Auf dem Hintergrund des Aufsatzes 'Zeit und Wort' läßt sich die Dogmatik Ebelings in der Tat so interpretieren, daß sie die Beantwortung der dort noch offen gebliebenen Fragen vornimmt. Dabei ist schon vorwegnehmend zu betonen, daß alle Ausführungen Ebelings in dieser Sache auf einer fundamentalen These ruhen - der These von der grundsätzlichen Korrelation von Zeit und Ewigkeit, Zeiterfahrung und Ewigkeitserfahrung.48 Diese These mutet auf dem Hintergrund des oben referierten Aufsatzes von Ebeling zumindest merkwürdig an. Dort hatte Ebeling ja selbst auf die Problematik verwiesen, dieser Differenz von Zeit und Ewigkeit fundamentaltheologische Bedeutung zuzumessen, insofern die Rede von der Ewigkeit Gottes, die alle Zeiten umgreift, angesichts neuzeitlichen Zeitverständnisses an Verständlichkeit und Evidenz verloren hat. 1. Wie dem auch sei! Ebeling unternimmt in seiner Dogmatik jedenfalls den Versuch, Ewigkeit als konstitutive Bestimmung der Zeit oder anders Ewigkeitserfahrung als integratives Moment menschlicher Zeiterfahrung einsichtig zu machen. Menschliche Zeiterfahrung selbst ist ihm ein "Urphänomen des Menschseins" und "gleichursprünglich"49 mit dem Phänomen des Selbstbewußtseins. Daraus läßt sich folgern, daß es nach Ebeling zum Wesen menschlicher Zeiterfahrung nicht nur gehört, daß der Mensch Zeit als einen unaufhaltsamen Strom von der Vergangenheit in die Zukunft erlebt, sondern daß er sich als dasjenige Wesen erfährt und weiß, das sich zur Zeit verhalten kann. Der Mensch hat Zeitbewußtsein; dies bedeutet auf dem Hintergrund der von Ebeling behaupteten Gleichursprünglichkeit von Zeiterfahrung und Selbstbewußtsein: das Bewußtsein des Menschen von sich selbst ist zeitlich strukturiert. Und gerade deshalb bleibt nach Ebeling das Verhältnis des Menschen zur Zeit ambivalent. Seine personale Identität steht für den Menschen im Prozeß der Zeit auf dem Spiel. Der Mensch bleibt sein Leben lang auf der Suche nach seiner Bestimmung. Insofern bleibt der Mensch der Zeit ausgesetzt. Im Blick auf diese Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung wird nun die Unterscheidung der Ewigkeitserfahrung von jener sichtbar. Ewigkeitserfahrung hat nämlich "da ihren Ort, wo sich die Zeiterfahrung aufs äußerste verdichtet".50 Ebeling kann auch sagen: Ewigkeitserfahrung ist momentane, dem Menschen im Augenblick 48 Vgl. Ebeling, Dogmatik III, 408ff. und Ebeling, Dogmatik II, 350ff. (Dogmatik Ebelings wird künftig zitiert als Ebeling I - III) 49 Ebeling III, 411 50 Ebeling III, 413
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zufallende Identitäts- oder Gewißheitserfahrung.51 Darin erweist sich die Ewigkeit als "Tiefe der Zeit, die sich in einem Augenblick erschließen kann"52, die aber aufgrund dessen, daß sie im Augenblick je und je erfahren wird, menschlichem Leben immer zukünftig bleibt. Die im Augenblick auftretende Gewißheit von der letzten Tiefe menschlichen Lebens also ist die Erfahrung von Ewigkeit. Diese Erfahrung aber bringt die Zeiterfahrung allererst zu ihrer Wahrheit. Damit erweist sich die Ewigkeit als ständiges "Geheimnis der Zeit"53 und als ewige Quelle von Zeit. Das gilt nach Ebeling auch für die Erfahrung von Gleichzeitigkeit, die Ebeling als konstitutives Moment der Zeiterfahrung begreift. Es ist ein Element menschlicher Zeiterfahrung selbst, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem zu erfahren und zu wissen. Nur ist uns - das macht dann die Begrenztheit dieser Erfahrung aus - miser Leben nie in seiner Ganzheit gegenwärtig. Die Ganzheit des Lebens bleibt dem Menschen in seinem Lebensvollzug ein ständiges Problem.54 Für das Leben Gottes gilt diese Einschränkung nicht. Trotz ihrer Begrenztheit aber kann die Erfahrung von Gleichzeitigkeit im Zusammenhang menschlicher Zeiterfahrung als vestigium aetemitatis Dei gelten.55 Als 'ewige Quelle' der Zeit kann die Ewigkeit deshalb gelten, weil jeder Augenblick menschlicher Zeit unter der Verheißung letztgültiger Gewißheit steht. Und "jeder Augenblick hat das Gewicht der Ewigkeit"56, jede Zeit ist durchlässig für Ewigkeitserfahrung. Die Folge von Ewigkeitserfahrung aber ist Freiheit; Freiheit gegenüber dem 'Lauf der Zeit', die nun nicht mehr als in ihren Bann ziehende Macht, sondern als Raum zur Gestaltung der Freiheit erlebt wird. 2. Entsprechend zu der grundsätzlichen Korrelation von Zeit und Ewigkeit, die sich für Ebeling aus einer phänomenologischen Analyse menschlicher Zeiterfahrung erschließen läßt, wird nun auch der Begriff der Ewigkeit als eines Gottesattributes entwickelt. Auf dem Hintergrund der "Selbstverständlichkeit, daß der Begriff (!) der Ewigkeit auf jeden Fall einen Zeitbezug impliziert"57, entwickelt Ebeling diesen 'Begriff' der Ewigkeit als kommunikatives Attribut Gottes.58 Die immanente Begründung für die 'Kommunikativität' des Attributes der
51 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. Ebeling III, 413ff. Ebeling III, 416 Ebeling III, 420 Vgl. Ebeling III, 419 Vgl. ebd. Ebeling I, 312 Ebeling II, 352 Vgl. Ebeling II, 350ff.
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Ewigkeit liegt allerdings, wie bei allen Attributen, darin, daß nach Ebeling alle Aussagen von Gott in Korrelation zum Gebetsphänomen entwickelt werden sollen, mithin die Situation der 'Rede' selbst widerspiegeln müssen.59 Im Blick auf das Attribut der Ewigkeit bedeutet dies, daß es konkret aus der Erfahrung der Vergänglichkeit menschlichen Lebens entspringt und dieser Erfahrung korreliert. Das Postulat der Ewigkeit ist letztlich Ausdruck der Erfahrung, daß der Mensch sich in seiner Zeitlichkeit nicht endgültigen Halt zu geben vermag. Der Mensch bleibt der Zeit immer ausgeliefert.60 Entsprechend zu dieser 'Situation' erweist sich die Ewigkeit Gottes so als Zeitvollmacht, daß sie diese Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung überwindet. Durch Gewährung von Zeit, durch Erfüllung menschlicher Zeit im Augenblick und durch das "Aufbewahren"61 aller Zeiten erweist sich die Ewigkeit Gottes als seine Zeitvollmacht. Ewigkeit aber kann überhaupt das ist der Grundgedanke Ebelings - in diesem Sinne als Tiefendimension der Zeit ins Spiel gebracht werden, weil Ewigkeitserfahning der menschlichen Zeiterfahrung grundsätzlich "entspricht".62 Gerade diese alles bestimmende These von der grundlegenden Korrelation von Zeit und Ewigkeit mutet auf dem Hintergrund der Überlegungen Ebelings in seinem frühen Aufsatz zum Zeitproblem merkwürdig und beinahe anachronistisch an. War dort doch für Ebeling noch evident, daß im Blick auf die neuzeitliche Fassung des Zeitbegriffs - diejenige Fassimg also, die Zeit auf das sinnlich Erfahrbare einschränkte - die Rede von der grundsätzlichen Korrelation von Zeit und Ewigkeit verunmöglicht ist. Und noch eine zweite Entwicklung Ebelings in der Dogmatik muß auf dem Hintergrund seines frühen Aufsatzes ein wenig verwundern. Ebeling läßt in seiner Dogmatik die grundsätzliche Korrelation von Zeit und Ewigkeit in die Lehre von der Eschatologie münden. Die Fundamentalunterscheidung von Zeit und Ewigkeit kommt in der christlichen Eschatologie nach Ebeling insofern erst voll zur Geltung, als die Eschatologie diese Beziehung von Zeit und Ewigkeit als geschichtliche nochmals thematisiert mit dem Ziel, die letztliche Aufhebung der Zeit in die Ewigkeit anzudeuten. Denn erst damit käme die Behauptung, daß die Ewigkeit die Wahrheit der Zeit ist, zu ihrer vollen Entfaltung. Es stellt sich also für Ebeling die konkrete Aufgabe, das Ewige als wahrhaftige Zukunft des Lebens, als das
59 60 61 62 63
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Vgl. die Argumentation Ebeling II, 241 ff. Vgl. Ebeling II, 353 Ebd. Ebeling II, 355 Vgl. Ebeling III, 408
die Lebenszeit Bestimmende auszusagen.63 In seinem frühen Aufsatz hatte Ebeling noch deutlich von der Geschichte als dem Raum gesprochen, an dem das Ewige das Zeitliche wirklich bestimmt. Durch die Bestimmung der Ewigkeitserfahrung als Wort- bzw. Gewissenserfahrung aber vermag Ebeling diesen Zeitbezug der Ewigkeit gerade nicht als geschichtlich vermittelten zu denken, sondern sieht ihn im geschichtslosen Augenblick realisiert. Der Status aller theologischen Aussagen, daß sie nämlich "Aussagen an der Grenze von Zeit und Ewigkeit"64 sind, ist auch in der Eschatologie zu bedenken. Eschatologische Aussagen haben ihre Besonderheit nur darin, daß sie "als Kampfaussagen, als Dennoch-Aussagen"65 des Glaubens gemeint sind. Somit aber setzt sich Ebeling selbst dem Verdacht einer Entzeitlichung der Eschatologie aus; einem Verdacht, den er selbst der Bultmannschen Eschatologie entgegengehalten hatte.66 Damit aber ist auch das eigene Programm Ebelings, das Programm der temporalen Interpretation des Ewigkeitsbegriffs zumindest gefährdet. Ebeling fällt in der Durchführung seiner Dogmatik hinter die von ihm selbst aufgestellten Kriterien an eine theologische Zeitlehre zurück. 'Ewigkeit' wird zur trotzigen Selbstvergewisserung des 'Zeitlichen'.
ΙΠ. Die Antinomie des theologischen Begriffes der 'Ewigkeit' oder Das Formproblem der Ewigkeit Zur Theologie von Paul Althaus 1. Eine theologische Lehre von der Zeit hat ihren vornehmlichen Ort im Zusammenhang der Lehre von den letzten Dingen, wie Althaus seine Eschatologie nennt. In der Reformulierung der den christlichen Glauben von Grund auf bestimmenden Hoffnung auf ewiges Leben und eine neue Welt, in diese klassische Zweiteilung der eschatologischen Hoffnung läßt Althaus seine Eschatologie münden67, muß sich der 'theologische Begriff' der Zeit bewähren. Diese Bewährung ist deshalb im Zusammenhang der Eschatologie zu verlangen, weil die eschatologische Hoffnung gerade die gänzliche Aufhebung aller zeitlichen Strukturen der Welt und des menschlichen Lebens
64 65 66 67
Ebeling III, 425 Ebeling III, 428 Ebeling, Zeit und Wort, 128 Vgl. P. Althaus, Die letzten Dinge, 1961«, 319ff.
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impliziert. In der Hoffnung auf ein ewiges Leben und eine neue, die 'Verfallsstruktur' dieser Welt hinter sich lassende, Welt setzt der christliche Glaube eine bestimmte Zeiterfahrung immer schon voraus. Dieser Erfahrung des zeitlichen Geschehens als eines unaufhaltbaren Ablaufes, dem alles Endliche unterworfen ist, setzt der christliche Glaube das Postulat der Ewigkeit entgegen. Dabei erhebt Althaus den Anspruch, diese christliche Hoffnung auf die Ewigkeit so verdeutlichen und entwickeln zu können, daß gerade das Wissen um ein Letztes, auf das alles Zeitliche zuläuft, das Bewußtsein für Geschichte überhaupt erst freisetzt. Das Postulat der Ewigkeit soll mithin nicht als ein Ausstieg aus der Zeit, sondern als ein die menschliche Zeit erst auf ihr Ziel hin orientierender Akt interpretiert werden.68 D.h.: derjenige Begriff der Ewigkeit, der in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Zeitbegriff entwickelt wird, kann insofern nicht genügen, als dann die eschatologische Hoffnung nicht mehr als Hilfe für alle Zeiten einsichtig gemacht werden kann. Die diastatische Fassung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit entzeitlicht die Eschatologie. Aus diesem Grunde betont Althaus die Zukünftigkeit des durch den christlichen Glauben Erhofften. "Die Gewißheit um das Letzte und das Wissen um die Geschichte gehören zusammen"69 - und zwar so, daß die eschatologische Hoffnung dem Lauf der Zeiten ein konkretes Ziel setzt. Das aber setzt voraus, daß die eschatologische Hoffnung, die nach Althaus den christlichen Glauben weitgehend bestimmt und ausmacht, selbst geschichtlich angedeutet werden muß. Das bedeutet einerseits, daß der Akt der Hoffnung als ein zeitliches Vorauslaufen genommen wird, und das bedeutet andererseits, daß der hoffende Glaube eine "wirkliche Zukunft" erwartet, die "unser menschliches Heute ablöst, denn das Heil kommt erst".70 Damit wendet sich Althaus gegen den 'Versuch', die Eschatologie dadurch zu entzeitlichen, daß sie auf eine 'eschatologische Entscheidung' reduziert wird, in die das menschliche Subjekt je und je durch den Anruf des Wortes Gottes gestellt ist.71 Der Hinweis darauf, daß in der eschatologischen Hoffnung ein Letztes, die Zukunft Gottes erwartet wird, soll aber die Kennzeichnung der Situation des Glaubens zwischen Christusoffenbarung und Wiederkunft, wie sie von Paulus grundlegend beschrieben worden ist, nicht aufheben. Die christliche Eschatologie spricht gleichermaßen von dem "Bleiben, dem Dauern des gegenwärtigen Letzten" und von dem "Kommen des Letzten".72 Auf die-
68 69 70 71
30
Vgl. Althaus, aaO. 8ff. AaO. 8 AaO. 9 Vgl. aaO. 2; gegen Bultmann formuliert
sem Hintergrund, daß nämlich die eschatologische Hoffnung als geschichtliche und somit Geschichte erst freisetzende Hoffnung zu entwickeln ist, ist nach Althaus auch der Begriff der Ewigkeit zu konstruieren. Es ist auch hier verlangt, Ewigkeit einerseits als die Aufhebung des Zeitlichen zu denken wenn denn gilt, daß die Ewigkeit Gottes die Zeit beendet - , andererseits diese Aufhebung der Zeit durch die Ewigkeit nicht im Sinne einer Vergleichgültigung alles Zeitlichen, sondern als dessen Ziel und Sinn zu verstehen. "Die Ewigkeit wird die Aufhebung der Geschichte sein. Aber ihr Aufheben ist zugleich ein Bewahren. Die durchlebte Geschichte wird nicht vergessen."73 Diesen doppelten Aspekt der eschatologischen Hoffnung das Erhoffte einerseits als Vollendung, andererseits als Aufhebung der Zeit - trägt Althaus denn auch in den Begriff der Ewigkeit selbst ein. Dieses Vorgehen ist nach Althaus deshalb nötig, weil diese Doppelheit und Spannung das Gottesverhältnis des Menschen grundsätzlich bestimmen. Dieses Verhältnis wird von Althaus als 'Grundantinomie' bezeichnet: "die Gewißheit um Gottes schöpferische, uns gänzlich wirkende Allmacht und die Gewißheit unserer Verantwortung spannen sich widereinander, indem sie sich fordern."74 Das gläubige Bewußtsein erwartet alles, auch den Glauben selbst, von Gott und weiß sich gleichwohl für sein Tun und Lassen selbst verantwortlich. "Von hier aus ergibt sich für das Verhältnis von Schuld und Gnade eine doppelte Sicht, die wir auf eine einzige nicht zurückführen können".75 Das gläubige Bewußtsein und damit auch die Theologie kommen hinter diese Grundantinomie, die alle ihre Aussagen bestimmt, nicht zurück; seinen Grund hat dieser Sachverhalt darin, daß Glaube und Theologie auf die Erfüllung aller Hoffnung immer noch vorausblicken. Der Glaube kann zwar antizipierend auf das Erwartete aufgrund von Erinnerung vorausschauen, aber die eschatologische Hoffnung bezieht sich auf einen "transzendenten Inhalt".76 "Daher stößt unser Denken auf eine Grenze, die wir das Formproblem der Ewigkeit nennen".77 Um Ewigkeit wirklich denken zu können, müssen die Schranken unseres Daseins aufgehoben werden - was gleichwohl unmöglich ist. Schon von da her sind solche 'Begriffe der Ewigkeit' abzulehnen, die sie bloß als Entgegensetzung zur Zeit bestimmen. Der
72 73 74 75 76 77
AaO. AaO. AaO. Ebd. AaO. Ebd.
30 326 327 329
31
"philosophische Begriff der Ewigkeit als Zeitlosigkeit" ist darum ebenso unbrauchbar "wie die naive Vorstellung der Ewigkeit als der endlosen Dauer der Zeit".78 Denn beide Begriffe überspringen letztlich die Bedingungen, unter denen der Begriff der Ewigkeit gedacht wird - ja sie überspringen die Bedingungen menschlicher Sprache und Rede überhaupt. "Ein Ewigkeitsbegriff, der von der Zeitlichkeit zu abstrahieren meint, wenn er dem Werden und Geschehen das unbewegte Sein gegenüberstellt, bleibt eben durch diese Entgegensetzung gerade im Bann der Zeitform".79 Althaus entwirft deshalb eine Deutung von 'Ewigkeit', die für eine 'Prädikation' des göttlichen Wesens und auch für eine Beschreibung der eschatologischen Hoffnung hinreichend sein, die mithin der antinomischen Struktur aller Glaubensaussagen gerecht werden kann. Es ist die Deutung des Ewigkeitsbegriffs, die "Wirken und Feier, Wollen und am Ziele sein", Ruhe und Bewegtheit zusammendenken kann.80 "Damit wird die Antinomie die Form unserer Ewigkeitsaussagen"81, insofern es menschlichem Denken unmöglich ist, diese Gegensätzlichkeiten als Einheiten wirklich in einem einzigen Begriff za denken. Mithin bewegt sich die Antwort von P. Althaus auf die neuzeitliche Problematisierung des theologischen Ewigkeitsbegriffes dahin, daß Althaus letztlich die Denkunmöglichkeit der 'Ewigkeit' als Gottesprädikat und Gegenstand eschatologischer Hoffnung bestätigt. Der Hinweis auf die Grundantinomie der Rede von der Ewigkeit rechtfertigt damit die philosophische Kritik. Allerdings deutet Althaus diese philosophische Kritik insofern um, als er die Denkunmöglichkeit der 'Ewigkeit' darauf zurückführt, daß dem menschlichen Denken sowohl der Inhalt der eschatologischen Hoffnung als auch das Wesen Gottes Geheimnis, aber eben nicht bloßes Rätsel bleibt und bleiben muß.82 Damit aber wird die 'Grundantinomie' menschlichen Redens von Gott als Dialektik von 'Deus absconditus' und 'Deus revelatus' in die Gotteslehre eingetragen und dort letztlich auch verankert. Das Geheimnis Gottes ist letztlich im Denken nicht zu fassen, aber im Glauben als Geheimnis des Lebens zu ergreifen.83 2. Die Ausführungen von Althaus in seiner 'Christlichen Wahrheit' können diese Darstellung weitgehend unterstreichen und verdeutlichen.
78 AaO. 331 79 AaO. 332 80 Ebd. 81 Ebd.; vgl. das berühmte Gedicht von F.F. Meyer, Der römische Brunnen: Aufsteigt der Strahl... Und jede nimmt und gibt zugleich - und strömt und ruht. 82 A. führt hier eine neuerdings wieder vielfach verwandte Unterscheidung ein. 83 Vgl. Althaus, Die letzten Dinge, 337
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Allerdings gilt dies mit der Einschränkung, daß die Ausführungen in der Dogmatik zu der Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' gegenüber der Eschatologie etwas an Klarheit verlieren. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß Althaus den Begriff der Ewigkeit im Zusammenhang der Gotteslehre nun 'positiv' entwickeln und damit über eine 'Problemanzeige' hinausgehen muß. Althaus schickt seiner Gotteslehre grundsätzliche Überlegungen, die ihre Durchführung betreffen, voraus. Diese Überlegungen haben ihre Spitze darin, daß Althaus die klassische Unterscheidung zwischen Wesenund Eigenschaftslehre aufzugeben gedenkt mit dem Argument, sie trage in Gottes Wesen eine Differenz ein, die ihn in Analogie zur 'dinglichen Erkenntnis'84 erscheinen lasse. Dem setzt Althaus entgegen: "Wir haben sein Wesen nirgend anders als in seinem lebendigen Wirken auf uns, hier aber wirklich".85 Althaus orientiert sich vielmehr an der Differenz zwischen formalen und inhaltlichen Bestimmungen des Wesens Gottes. Diese Unterscheidung ist allerdings ebenfalls, gerade auf dem Hintergrund der Althausschen Kritik an der Differenz zwischen Wesen- und Eigenschaftslehre, nicht ganz unproblematisch, als sie zwischen ontologischen und ethischen Aussagen im Blick auf das Sein Gottes differenziert. Damit setzt sich Althaus dem Verdacht aus, daß er 'Gerechtigkeit' und 'Liebe' als die wesentlichen Bestimmungen des 'Seinsgehaltes Gottes'86 von den Aussagen über die Absolutheit Gottes unsachgemäß trennt. Wie dem auch sei! Die Verabschiedung einer besonderen Lehre von den Eigenschaften Gottes führt Althaus - und darauf kommt es uns an dieser Stelle an - zu einem doppelten Verständnis der Ewigkeit Gottes. Insofern auch der 'Gott der Bibel' als schlechterdings frei und selbstbestimmt, als absolut gedacht werden muß, kann er als der "Urwirkliche"87 bezeichnet werden. Das Sein Gottes muß also in dem Sinne als selbständiges gedacht werden, daß es keines anderen Seienden zur Verwirklichung seiner selbst bedarf. Diese Fülle an Wirklichkeit, die zum Wesen Gottes gehört, wird nach Althaus adäquat durch den Begriff der Ewigkeit umschrieben.88 Als ewiger Gott ist Gott sich selbst unerschöpfliche Lebensquelle, unerschöpfliches "Sich-selbst-setzen".89 So steht der "biblische Begriff der Ewigkeit"90 für die Absolutheit des göttlichen Wesens überhaupt.
84 85 86 87 88 89 90
Vgl. P. Althaus, Die christliche Wahiheit, 1952 3 ,263 (künftig zitiert als 'Wahiheit') Althaus, Wahiheit, 263 Vgl. Althaus, Wahrheit, 277ff. Althaus, Wahrheit 264 Vgl. ebd. Ebd. Ebd.
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In einem engeren Sinne aber bezeichnet der Begriff der Ewigkeit die Beziehung des als absolut frei gedachten Gottes auf die Zeitlichkeit, die gemeinsam mit der Räumlichkeit "das Gesetz unseres Lebens in dieser Welt" ist.91 Dem Gesetz der Zeitlichkeit, das dem Menschen durch das diastatische "Auseinander von Vergangenheit und Zukunft"92 keine Gegenwart, keine Zeit, läßt, steht die Ewigkeit Gottes gegenüber. Im Unterschied zur menschlichen Zeiterfahrung, die bestimmt ist durch die Unmöglichkeit, dem zeitlichen Nacheinander Halt oder 'Einheit' zu geben, 'ist' Gott; "Vergangenheit und Zukunft sind ihm seine eigene Gegenwart".93 Aber als der allem zeitlichen Wechsel jenseitige - und nur so - kann Gott auch in dem Sinne zeitmächtig sein, wie ihn der christliche Glaube behauptet. "Der Überzeitliche setzt unsere Zeitlichkeit und durchdringt sie an jedem Zeitpunkte mit seiner Gegenwärtigkeit".94 Denn nur der Gott, der seine eigene 'Zeit', sein Leben jederzeit im vollständigen Besitz hat, dessen Vergangenheit und Zukunft ihm selbst ständige Gegenwart sind, nur der kann auch allem Zeitlichen gegenwärtig werden. An dieser Stelle wird der Einfluß des Boethischen Ewigkeitsbegriffs deutlich. Ewigkeit im engeren Sinne wird hier von Althaus in der Tat gedacht als 'interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio', wie die berühmte Definition des Boethius lautet.95 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Althaus diese Bestimmung gerade im Zusammenhang seines engeren Ewigkeitsbegriffs geltend macht, also im Zusammenhang der 'relationalen' Bestimmtheit der Ewigkeit Gottes. Damit macht sich Althaus exakt die Argumentation des Boethius nutzbar, da Boethius aus dem Begriff der Ewigkeit als des 'vollkommenen Besitzes eines unbegrenzbaren Lebens' die konkrete Begrenzung alles Zeitlichen durch die zeitlose Ewigkeit Gottes ableitet, insofern eben alles Zeitliche in der Providentia Gottes beschlossen sein kann. Auch nach Boethius gilt, daß nur der zeitlose bzw. überzeitliche Gott der allem Zeitlichen gegenwärtige sein kann.96 Auch hier in der 'Christlichen Wahrheit' bleibt aber am Schluß nur der Hinweis auf die letztliche Unvermittelbarkeit bzw. Grundantinomie aller Glaubensaussagen möglich. Der Glaube weiß Gott als unerreichbaren Grund aller Wirklichkeit, gegenüber dem alles Zeitliche 'verschwinden' und aufgehoben werden muß. Und zugleich gründet sich der Glaube auf die
91 92 93 94 95 96
34
Althaus, Wahrheit 276 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. W. Beierwaltes (Hrsg.), Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, 1981 3 ,199
Hoffnung, daß alles Zeitliche sein konkretes Ziel in der Ewigkeit Gottes hat. "Unser Denken kann es nicht fassen. Wir wissen nur, daß wir das eine wie das andere denken und aussagen müssen: Gottes ungebrochene Gottheit und den ungebrochenen Ernst unserer Existenz vor ihm in wirklicher Geschichte".97
IV. Die Relation von Zeit und Ewigkeit als Ausdruck der Schöpfungsordnung Zur Dogmatik Emil Brunners 1. Die Ausführungen Emil Brunners zur Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' sind geprägt von dem Versuch, auch im Blick auf diese Frage eine biblisch begründete Dogmatik vorzulegen. "Dogmatik ist Bibelübersetzung"98 - das soll auch hier gelten. Damit bleibt gewahrt, daß das Denken der Theologie von dem Glauben an die Offenbarung Gottes in seinem Sohn herkommt.99 "Dogmatik ist die Weiterentwicklung des im Glauben selbst gegebenen Denk- oder logischen Elementes".100 Daß christliche Dogmatik Reflexion des Glaubensaktes ist, das gilt es also zu beachten auch in einer Lehre von der Zeitlichkeit des Menschen und der Ewigkeit Gottes. Das bedeutet für Brunner, daß die Frage nach dem Wesen der Zeit bestimmt wird durch den schöpfungsgemäßen Unterschied zwischen dem Geschaffenen und dem Schöpfer. "Zeitlichkeit ist das Wesen des Geschaffenen, als Geschöpfe sind wir zeitlich, alles ist zeitlich".101 Dabei läßt Brunner keinen Zweifel daran, daß er die Behauptung einer sich in dem 'Akt der Schöpfung' selbst ursprünglich manifestierenden Beziehung von Schöpfer und Geschöpf nicht als Aussage der natürlichen Erkenntnis des Menschen verstanden wissen will. "Daß Gott der Schöpfer ist, wissen wir wirklich nicht aus uns selbst"102, sondern Schöpfungserkenntnis ist Offenbarungserkenntnis.103 Das bedeutet, daß die Frage nach dem Sinn und Ziel dieser Welt das eigentliche Proprium der Schöpfungsaussage ist. Es geht in der Lehre von der Schöp-
97 98 99 100 101 102 103
Althaus, Wahrtieit, 277 E. Brunner, Dogmatik 1,1946, 82 (zitiert als Brunner I) Vgl. Brunner I, 85ff. Brunner I, 87 E. Brunner, Dogmatik II, 1950, 19 (Brunner II) Brunner II, 6 Vgl. Brunner II, 10
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fung primär nicht um die Frage nach dem Ursprung, sondern um die Frage nach der causa finalis des Geschaffenen. Damit aber läßt sich die Aussage von der wesensmäßigen Zeitlichkeit des Geschaffenen nicht lösen von der Frage nach dem Sinn und der Bestimmimg aller Zeit. Insofern darf Zeitlichkeit nicht mit Vergänglichkeit, mit 'Verfall' "in eins" gesetzt werden104, da so die Beziehung von Zeit und Ewigkeit von vornherein negativ besetzt wäre. Die Struktur der Zeitlichkeit des Geschaffenen kann aktuell wohl als Folge der Sünde und des Abfalls des Geschaffenen von dem Sinn der Schöpfung beschrieben werden; aber dann nur so, daß die sich mit sich selbst begnügende Zeitlichkeit als Sünde und Entfernung von Gott gedacht wird. Als Signum des Geschaffenen nämlich ist die Zeit offen für die Ewigkeit. Die Fassung des Zeitbegriffs als des 'Prädikates' für die Endlichkeit schlechthin wirkt sich bei Brunner in der Gotteslehre deshalb konsequenterweise auch so aus, daß Ewigkeit als ausschließlich relationaler Begriff, eben als Attribut Gottes entwickelt wird. Dieser Entwicklung des Begriffs der Ewigkeit Gottes liegt bei Brunner die strikte Differenzierung zwischen dem Wesen und den Eigenschaften Gottes zugrunde. Diese Differenzierung, aufgrund derer die Eigenschaften Gottes ausschließlich für die Beziehung Gottes zur Welt, zum Geschaffenen reserviert sind, mithin das Wesen Gottes, wie es seiner Selbstmitteilung vorausgeht, nicht erreichen, soll nach Brunner das Herrsein Gottes, seine Freiheit wahren. Damit bewegt sich Brunner ohne Frage 'auf dem Boden' der Barthschen Theologie; nur erreicht er durch den 'Verzicht' auf die konstitutive Funktion der Trinitätslehre keine wahre Vermittlung zwischen der Lehre vom Wesen Gottes und der von den Eigenschaften Gottes. Die Lehre von den göttlichen Eigenschaften wird von Brunner nun in folgender Weise begründet und entwickelt. Diese Lehre steht dabei nach Brunner selbst unter der besonderen Gefahr eines unerlaubten Anthropomorphismus in der Rede von Gott. Die unreflektierte 'Belegung' des göttlichen Wesens mit Eigenschaften muß demnach vermieden werden, um die Absolutheit Gottes auch theologisch zu wahren. Einer Überfremdung der theologischen Dogmatik durch die griechische Philosophie, die besonders in diesem Lehrstück droht, kann aber auch nicht einfach so gewehrt werden, daß die biblischen Aussagen über Gott lediglich zusammengetragen werden und zu dem 'Ganzen' einer Eigenschaftslehre zusammengefügt werden. Auch hier gilt: "Dogmatik ist nicht Systematisierung biblischer Aussagen, sondern Reflexion über die Offenbarung auf Grund des Glau-
104 Brunner II, 19 105 Brunner 1,263
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benszeugnisses der Bibel".105 Das sachliche Recht der Entwicklung einer Lehre von den Eigenschaften Gottes liegt denn einzig und allein darin, daß die 'Selbstoffenbarung Gottes'106 nicht nur das Wesen Gottes enthüllt, sondern auch Aussagen über sein Sein zuläßt, "wie es in bezug auf die von ihm geschaffene Welt ist".107 Dabei hat die Eigenschaftslehre sich so zu entwickeln, daß die "Begriffe göttlicher Eigenschaften" das Sein Gottes "in Hinsicht auf je einen bestimmten Aspekt der geschaffenen Welt zum Ausdruck" bringen.108 Damit bleibt stets gewahrt, daß die Bestimmungen göttlichen Wesens in der Eigenschaftslehre ausschließlich relationale Bestimmungen sind. Die Grundbestimmungen der Welt sind Raum und Zeit.109 Dem räumlichen Auseinander des Seienden korreliert die Allgegenwart Gottes. Wie dies allerdings genau zu denken ist, gehört nach Brunner "in eine christliche Philosophie".110 Wichtig ist nur, daß dem christlichen Glauben und Denken durch das Zeugnis der Liebe, die von dem ständigen Eingreifen Gottes in diese Welt redet, die Erhabenheit Gottes über den Raum gewiß ist. "Es liegt an unserer kreatürlichen Begrenztheit, daß wir diese Offenbarungsgegenwart nicht anders als räumlich ... ausdrücken können ...".1U Nun bedarf aber auch die die Theologie grundlegend bestimmende Rede von dem Eingreifen Gottes in die Welt der Berücksichtigung im Zusammenhang der Lehre von den göttlichen Eigenschaften. Das führt Brunner auf den Gedanken der Ewigkeit Gottes. Um den Gedanken der Ewigkeit Gottes, der nach Brunner die Grundlage der biblischen Gotteslehre darstellt,112 angemessen würdigen zu können, bedarf es einer voraufgehenden Analyse des Begriffes der Zeit. Auch diese hat sich wiederum am biblischen Offenbarungsglauben zu orientieren. Von da her kann zumindest keine ausschließlich 'negative' - so Brunner113 - Beurteilung der zeitlichen Struktur alles Seienden entspringen. Diese zeitliche Struktur des Seienden ist zu denken als das 'diastatische Auseinander' allen Geschehens. Zukünftiges steht noch aus, Vergangenes wird als unwiederholbar erlebt und Gegenwärtiges als in der Spannung zwischen 'Nicht-mehr' und 'Nochnicht' stehend erfahren. Gleichwohl schließt diese menschliche Grunderfahrung, daß ihm die zeitliche Einheit seines Lebens immer neu zu
106 107 108 109 110 111 112 113
Vgl. ebd. Ebd. Brunner I, 263f. Vgl. Brunner II, 3ff. und I, 273ff. Brunnerl, 275 Brunnerl, 277 Vgl. ebd. Vgl. Brunner I, 287
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entgleiten droht, nach Brunner von der Möglichkeit, diese Einheit bzw. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herzustellen, nicht von vornherein aus. Die Zeit bleibt als Prädikat alles Endlichen und Geschaffenen nicht Zeichen seines Verfalls, sondern offen für Erfüllung. "Die Erfüllung der Zeit, nicht die Negation der Zeit, die Vollzeitlichkeit, nicht die Zeitlosigkeit ist das Ziel Gottes".114 Darin genau liegt der grundlegende Sinn dessen, daß die Zeit als Geschöpf gedacht wird. Das biblische Zeugnis redet von dem unaufhebbaren Interesse Gottes an der Zeit, die insofern nicht grundsätzlich als Zeichen der Gottesferne gedacht werden darf. Dieser Sachverhalt gibt die Fassung der Ewigkeit Gottes insofern vor, als Gott eben aufgrund des biblischen Zeugnisses weder im Sinne des Ideals der Unveränderlichkeit gedacht werden kann noch so, daß er selbst als werdend, als zeitlich vorgestellt wird. Die Eigenschaft der Ewigkeit muß so ausgedeutet werden, daß sie die konkrete Zeitmächtigkeit und die Zeitüberlegenheit Gottes darstellt. In der Sprache Brunners bedeutet dies: Heiligkeit und Liebe, Freiheit und Offenbarung sind im Begriff der Ewigkeit Gottes zusammen zu denken.115 Damit rückt die 'biblische Lehre' von Gott in den Gegensatz zu der - von Brunner so genannten - 'griechischen' Lehre, die Gottes Erhabenheit durch den Gedanken der Zeitlosigkeit und Apathie Gottes wahren zu müssen meint. Eine an dem Offenbarungsglauben orientierte Gotteslehre überwindet diese platonischen Ideale nach Brunner durch die Lehre vom gnädigen Gott. Gleichwohl würde es auch nach Brunner der Erhabenheit Gottes widersprechen, wenn die Beziehung Gottes zur Zeit so gefaßt würde, daß Gott selbst sich in die Zeit verstricken könnte. Gott "geht in die Zeit ein als der, der über die Zeit erhaben ist".116 Deshalb bleibt die Aussage von der Ewigkeit Gottes auch lediglich ein Teil der Lehre von den Eigenschaften Gottes und bezieht sich nicht auf das Wesen Gottes selbst. "Gottes Wesen ist nicht Ewigkeit, sondern Gottes Wesen ist das Herrsein, das als solches noch nicht auf Zeit bezogen ist".117 " A n Gottes Wesen kann die Frage der Zeitlichkeit oder Nichtzeitlichkeit gar nicht herankommen". " A m ehesten könnte man von Gottes Überzeitlichkeit sprechen"118, wenn nicht dadurch der Gedanke der Zeitlosigkeit angedeutet wäre. -
114 Ebd. 115 Die Lehre vom Wesen oder Sein Gottes bei Brunner versucht also genau so wie Barths Gotteslehre das Für-sich-Sein Gottes und seine Beziehung zur Welt als die beiden Seiten des göttlichen Wesens zu denken. 116 Brunnerl, 290 117 Brunnerl, 291 118 Ebd.
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Unsere Darstellung der Brunnerschen Lehre von den Eigenschaften Gottes hat zwei Einschränkungen zu machen. Sie rühren daher, daß Brunner nicht konsequent bei dem angedeuteten Zeit- bzw. Ewigkeitsbegriff bleibt. Gleichwohl rechtfertigt sich die gegebene Darstellung als das Referat der wesentlichen Tendenz der Brunnerschen Gedankenführung. Gegen diese strenge Beschränkung des Begriffes der Ewigkeit auf die Lehre von den Eigenschaften Gottes, die Brunner selbst beabsichtigt, stehen Äußerungen Brunners im Zusammenhang seiner Prädestinationslehre. Dort wird der Begriff der Ewigkeit Gottes so gebraucht, daß Ewigkeit als Subjekt der Offenbarung und als der Gegenstand des Offenbarungsgeschehens auftritt. "Wenn Gott sich selbst offenbart, so offenbart er Ewigkeit". 119 Gegen den gegenständlichen Begriff der Ewigkeit im Zusammenhang der von Brunner behaupteten grundsätzlichen Korrelation von Zeit und Ewigkeit steht der bei Brunner auch auftauchende Gedanke der Ewigkeit als Tiefendimension des Zeitlichen120, der unausgeglichen bleibt mit dem ersteren. Im Zusammenhang mit der Einführung des Begriffes der Tiefendimension tritt das Ewige als dasjenige auf, das in der Frage des Zeitlichen nach Sinn als diese Bestimmung aller Zeit aufleuchtet. "Zeitliches Geschehen als Entscheidungszeit gibt es nur, wo Ewigkeit selbst in die Zeit eingegangen ist ,..".121 2. Im Zusammenhang der Prädestinationslehre liegt bei Brunner der Versuch vor, außerhalb der Frage nach dem Wesen Gottes einen genuin biblischen Begriff von Ewigkeit überhaupt zu entwickeln. Dieser biblische Begriff von Ewigkeit wird gewonnen durch eine vorausgehende Analyse des biblischen Zeitverständnisses. 122 "Biblisch ist Zeit" immer bestimmte, konkrete Zeit.123 Dadurch unterscheidet sie sich, so Brunner, von der mathematisch-physikalischen Zeit. Die Zeit als bestimmte Zeit ist Entscheidungszeit. D.h. es geht darum, daß sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten das Leben überhaupt entscheidet. Das menschliche Leben vollzieht sich nicht als homogener Zeitablauf; es vergleichgültigt nicht alles. Und messianische Zeit ist in herausgehobener Weise Entscheidungszeit. Hier geht es dem Menschen um sein Leben in einer letzten Hinsicht; ... "es geht um die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle, ewigem Heil und ewigem Verlorengehen,
119 120 121 122 123 124 125
Brunnerl, 324 Vgl. Brunner I, 325 Brunnerl, 326 Vgl. Brunnerl, 341ff. Brunnerl, 342 Ebd. Ebd.
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absoluter Sinnerfüllung und absolutem Sinnverlust".124 Oder anders: "Im Glauben wird die irdische Zeit mit Ewigkeitsspannung geladen".125 Der Glaube erfährt die Zeit also nicht als unendliche Folge atomisierter Augenblicke, wie sie der mathematische Zeitbegriff denkt.126 Vielmehr radikalisiert er die Entscheidungszeit, die Brunner 'historische Zeit' nennt.127 Die "messianische Zeit" ist "zusammengehalten durch die Ewigkeit"; "so wie die Töne einer musikalischen Gestalteinheit zusammengehalten sind durch den Phrasierungsbogen".128 Hier deutet sich ein völlig anderer Zugang zur Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' bei Brunner an. Allerdings bleibt sehr vieles unaufgefiihrt. Welchen Sinn hat letztlich die Dreiteilung der Zeit, also die Unterscheidung zwischen mathematischer, historischer und messianischer Zeit? Was bedeutet die konstitutive Funktion der Ewigkeitserfahrung für die Zeiterfahrung? Gerade in dieser Frage bleibt alles offen. Gleichwohl ist der deutliche Versuch erkennbar, die Zeitmächtigkeit der Ewigkeit anthropologisch irgendwie aussagbar und begründbar zu machen. Auch das alte und berühmte Bild der Melodienfolge im Zusammenhang der Kennzeichnung der Zeiterfahrung taucht hier bei Brunner auf. Allerdings interpretiert Bmnner dieses 'Bild' um, wenn er es als Metapher lediglich der 'messianischen Zeit' heranzieht. Seit Augustine Musikschrift diente dieses 'Bild' als Kennzeichnung für die Erfahrung von Gleichzeitigkeit im Zusammenhang menschlicher, also 'historischer' - im Brunnerschen Sprachgebrauch - Zeiterfahrung überhaupt. 3. Einen erneuten Anlauf im Zusammenhang der Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' hat Brunner dann in seinem Buch 'Das Ewige als Zukunft und Gegenwart' vorgelegt. Dieses Werk stellt den theologischen Begriff der Ewigkeit deutlicher in den Zusammenhang der Eschatologie. Diesen Komplex sieht Brunner dabei in seinem Nachwort jenes Buches 'zur theologischen Lage'129 als den über die Zeitgemäßheit von Theologie und Religion entscheidenden an. In der Frage 'was dürfen wir hoffen?' gibt sich nämlich das gegenwärtige Bewußtsein, so lautete das damalige Urteil Brunners, vollständigen Ausdruck. Deshalb hat die Frage nach der Zukunft auch das zentrale Anliegen von Kirche und Theologie zu sein. Dieses Plädoyer für eine Neuentdeckung der Eschatologie verbindet sich mit der Kritik Brun-
126 Vgl. Brunner ' 342f. 127 Vgl. Brunner I, 343 und diese Verbindung von Zeit- und Ewigkeitserfahrung in ihrer Nähe zu Ebeling. 128 Brunnerl, 343 129 Vgl. E. Brunner, Das Ewige als Zukunft und Gegenwart, 1953,229ff. (Brunner, Ewige)
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ners an denjenigen theologischen Entwürfen, die einen Neuansatz der Theologie von der Eschatologie her schon vorgelegt haben. Diese Kritik Brunners manifestiert sich einerseits genauer in dem gegen Bultmann vorgebrachten Vorwurf der Entzeitlichung der Eschatologie durch die Reduktion der Theologie auf die Frage nach dem Selbstverständnis der Subjektivität. Eschatologie wird nämlich damit lediglich als Thema letzter und fundamentaler Entscheidungen menschlicher Existenz zur Geltung gebracht.130 Auf der anderen Seite bezichtigt Brunner Barths Dogmatik eines falschen Objektivismus, der mit der Gleichschaltung der Subjektivität endet.131 Damit aber verliert die Theologie in anderer Weise die Kraft einer die Existenz betreffenden Rede. Wie aber gelingt es Brunner nun, das Thema der Eschatologie angemessen zur Geltung zu bringen? Die Eschatologie ist unter Berücksichtigung der Kritik Brunners an Barth und Bultmann zumindest formal so zu entwickeln, daß sie die Frage des menschlichen Subjekts nach der Zukunft als eine grundlegende Frage menschlichen Lebens aufweist und ihr insofern Raum gibt, daß sie eine Beantwortung des Gegenstandes der menschlichen Hoffnung vorbereitet. Brunner setzt denn auch durchaus konsequent bei einer solchen Beschreibung menschlichen Lebens an, die das Verhältnis zur Zukunft als ein menschliches Leben fundamental bestimmendes darlegt. Diese Behauptung von der grundlegenden Bedeutung der Hoffnung für das menschliche Leben wiederum ruht auf der grundsätzlichen Bestimmung des menschlichen Bewußtseins durch Zeitlichkeit.132 Die Frage nach dem Sinn und Ziel des eigenen Lebens ist unhintergehbares Moment des Lebens und Indiz für das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zur Zukunft. Zukünftiges wird in Gestalt der Angst gefürchtet und in Form von Hoffnung erwartet. Beide Formen des Verhältnisses zur Zukunft sind Weisen der 'Gegenwärtigkeit des Zukünftigen'. "Hoffnung ist Gegenwärtigkeit des Zukünftigen ,..".133 In Angst oder in Hoffnung verhält sich der Mensch zu nicht Vorhandenem; er weiß es als etwas, das ihn erwartet und zu dem er sich verhalten kann und muß. Darin kommt exemplarisch dasjenige zum Ausdruck, das Brunner
130 131 132 133 134 135
Vgl. Β runner, Ewige, 232 Vgl.aaO. 233 Vgl. Brunner, Ewige, 7ff. und46ff. AaO.7 AaO.47 Aa048
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"das Urerlebnis der Zeit"134 nennt - nämlich die Erfahrung der Irreversibilität der Zeit. So, in der unumkehrbaren Bewegung vom Nicht-mehr zum Noch-nicht "erlebt jedermann die Zeit".135 Dennoch ist nach Brunner die Zeiterfahrung, obwohl 'die Zeit flieht'136, auch bestimmt durch die Erfahrung von Gegenwart. Im Erlebnisakt schrumpft für das Subjekt die Gegenwart nicht auf einen 'punctum mathematicum' zusammen. Es gibt "in der erlebten Zeit... ein gewisses Ineinander der Zeitelemente, also ein Ineinander des Vergangenen und Gegenwärtigen".137 Vermöge der Erinnerung und der Erwartung also ist dem Menschen Vergangenes und Zukünftiges gegenwärtig. Das menschliche Erleben - Brunner verweist in diesem Zusammenhang schon allein hinsichtlich des Sprachgebrauches auf Bergson als Quelle seiner Ausführungen138 - ist nicht restringierbar auf die Erfahrung bloßer Augenblicklichkeit. Gleichwohl kann, ja muß die Zeit offenbar so gedacht werden - nämlich als ausdehnungslos und als Summe und Folge von Augenblicken. Die philosophische Reflexion über das Wesen der Zeit führt nach Brunner in einer gewissen Notwendigkeit auf die als Zahl bestimmte Zeit. Von da aus gilt es nach Brunner mit Bergson und Heidegger strikt zu unterscheiden zwischen Zeiterlebnis und Zeitreflexion.139 Neben dieser Unterscheidung aber steht die Frage nach der Deutung von Zeiterfahrung noch einmal für sich. Dabei ist nach Brunner diesen Zeitdeutungen der Versuch gemeinsam, die Zeiterfahrung, die zusammenfassend bestimmt werden kann durch die Erfahrung einer "durée réelle im reißenden Strom der Vergänglichkeit"140, zu transzendieren und damit zu deuten. Neben dem Versuch, dem Zeitlichen ganz allgemein den Gedanken der Ewigkeit als des Zeitlosen entgegenzusetzen, steht die 'mythische Deutung' der Zeit, die alles Zeitliche eingebettet sieht in den ewigen Kreislauf der Welt. Diese Deutung überspringt nach Brunner letztlich das Zeiterlebnis, erstere Deutung trennt das Zeitliche vom Ewigen und vergleichgültigt es so. Eine dritte Deutung menschlicher Zeiterfahrung liegt in der christlichen Offenbarungslehre vor. Der christliche Glaube vermag durch den Ausgang bei der einmaligen 'Intemporation' der Ewigkeit die menschliche Zeiterfahrung völlig neu zu deuten und zu erhellen. Diese Behauptung versucht Brunner im Blick auf die zeitlichen Diastasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klarzumachen. Dem Glaubenden ist seine Vergangenheit nicht
136 137 138 139 140
42
Vgl. ebd. AaO.49 Vgl. ebd. Vgl. aaO. 48ff. AaO. 50
das ihn durch deren Unwiederbringlichkeit Bedrohende; sondern durch den Glauben an den persönlichen Eintritt Gottes in die Zeit ist ihm auch seine persönliche Vergangenheit als eine Zeit, die ihn nicht von Gott zu trennen vermag, bewußt. Seine auf den Tod zulaufende 'persönliche Zukunft' steht unter dem Zeichen der Hoffnung - der Hoffnung auf Teilhabe an der Auferstehung Christi. "In die Zukunft hineinschreiten heißt jetzt: Warten auf die Zukunft Jesu Christi".141 Schließlich steht für den Glaubenden seine jeweilige Gegenwart unter der Verheißung der erfüllenden Gegenwart Gottes. Die zeitliche Struktur menschlicher Existenz also wird nach Brunner durch die Begegnung mit dem einmaligen Geschehen der Zeitwerdung des Ewigen neu qualifiziert. Darin liegt zugleich eine Neuinterpretation, ein "neues Verständnis der Zeit"142 selbst. Dieses neue Zeitverständnis hat seine Pointe darin, daß es die Zeit ausschließlich in Relation zum Gedanken der Ewigkeit des persönlichen Gottes denkt.143 Die Besonderheit des am Offenbarungsbegriff orientierten Zeitverständnisses liegt für Brunner in der Begrenzung der Zeit durch die Ewigkeit. Damit aber wird seiner Meinung nach auch der Geschichtsgedanke allererst freigesetzt, weil die Zeit in ihrem Ablauf nun ein Ziel, einen Sinn bekommt. Den Gedanken der Ewigkeit faßt Brunner dabei im Unterschied zu seiner Dogmatik so, daß er ihn als Kennzeichnung des göttlichen Wesens begreifen möchte. "Gott ist in sich selbst kein einsamer, sondern ein von Ewigkeit gegenwärtiger".144 Das Wesen Gottes, das sich in der Inkarnation vollständig offenbart, zeigt sich darin nicht als Zeitlosigkeit, sondern schlechthin als Selbstmitteilung. Eigenartig nimmt sich der Versuch Brunners aus, in den Rahmen seiner Überlegungen die Kantische Bestimmung der Zeit als Anschauungsform und die Kantische Antinomienlehre gleichsam einzufügen. Danach sieht Brunner in Kants Lehre von der transzendentalen Idealität der Zeit eine Umformulierung der biblischen Lehre von der Geschöpflichkeit der Zeit.145 Damit aber übergeht Brunner die Ergebnisse der Antinomienlehre, die ja gerade die Unmöglichkeit erweist, von einem Anfang der Zeit, also von ihrer Geschöpflichkeit zu sprechen. Dem Ding an sich bei Kant soll dann nach Brunners Deutung der christliche Gottesgedanke entsprechen.
141 142 143 144 145 146
AaO. 54 AaO 57 Vgl. aaO. 75ff. AaO. 62 Vgl. aaO. 63 Ebd.
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Die Antinomielehre Kants dagegen kann die christliche Lehre von der Schöpfung der Zeit deshalb nicht kritisieren, weil sie im Gegensatz zu jener "auf Grund der Offenbarung" entwickelt wird.146 Die herangezogenen Entwürfe einer protestantischen Dogmatik konnten in unterschiedlicher Weise verdeutlichen, daß und inwiefern die systematische Theologie durch die Problematik der Rede von der Ewigkeit Gottes, die alle Zeiten umgreift und bestimmt, gekennzeichnet ist.147 Im Blick auf Gerhard Ebelings Theologie ist erkennbar geworden, wie der von ihm selbst geforderte weite Horizont in der Entfaltung der Relation von Zeit und Ewigkeit verengt wird auf die unvermittelte 'Setzung' von Ewigkeitserfahrung als Bestandteil von Zeiterfahrung. Im Gewissen, so behauptet Ebeling, werde der Mensch der Ewigkeit als Tiefendimension seinerzeit inne. Ewigkeitserfahrung ist nach Ebeling verdichtete Gewissenserfahrung, die in Grenzerfahrungen menschlichen Lebens virulent wird. Damit geht die von Ebeling selbst eingeklagte geschichtliche Weite des menschlichen Redens von Gott verloren. Die Zeit wird restringiert auf den Augenblick der Gewißwerdung des Menschen. Im Blick auf die Ausführungen von Paul Althaus wurde deutlich, daß er über eine differenzierte Problematisierung der Rede von der alle Zeiten konstituierenden und umgreifenden Ewigkeit Gottes nicht eigentlich hinauskam. Emil Brunner schien bei einem gegenständlichen Verständnis der Relation von Zeit und Ewigkeit stehenzubleiben. Er versuchte eine Rechtfertigung dieses Sachverhaltes unter Bezugnahme auf die, Andersartigkeit' und Unvergleichbarkeit einer 'biblischen Zeitlehre' gegenüber allen philosophischen Konzepten.148 Im übrigen wurde deutlich, daß alle drei herangezogenen Dogmatiken mit der Forderung auftraten, die Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' auf dem Fundament einer 'biblischen Zeitlehre' zu entwickeln. Das stellt uns nun vor die Frage nach den Aspekten des biblischen Sprachgebrauchs hinsichtlich der Thematik von 'Zeit und Ewigkeit'.
147 Die Auswahl der dogmatischen Entwürfe erfolgte in diesem Zusammenhang nach dem Kriterium, einerseits typische Entwürfe thematisch zu machen, die in der protestantischen Theologie nicht ohne EinfluB sind, zum anderen solche Dogmatiken ins Gespräch zu bringen, die ein Konzept im Blick auf die Thematik von Zeit und Ewigkeit erkennen lassen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit sollte auch hier nicht erfüllt werden. 148 Es sei hier nochmals betont, daB es uns nur darum gehen konnte, Tendenzen der einzelnen behandelten dogmatischen Konzeptionen aufzudecken.
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V. Aspekte einer 'biblischen Zeitlehre' Schon Ebeling hatte auf nicht gänzlich abgelegene Versuche im Bereich der protestantischen Theologie verwiesen, die Problematik, in die die Rede von der Ewigkeit Gottes im Gegenüber zur Zeit der Welt geraten war, dadurch zu überwinden, daß die Andersartigkeit des biblischen Denkens gegenüber der 'metaphysischen Tradition' erwiesen werden sollte.149 Nun kann es hier nicht unsere Aufgabe sein, die Grundzüge einer biblischen 'Lehne von der Zeit', die es in dieser Form gar nicht gibt, zu entwickeln. Das müßte Gegenstand einer eigenen Arbeit sein, die im übrigen bekanntlich zu einem großen Teil schon geleistet worden ist.150 Allerdings kann die Frage nach den Aspekten des biblischen Redens von 'Zeit und Ewigkeit' hier nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Unter Bezugnahme auf die einschlägige Literatur geht es uns an dieser Stelle nicht um eine lückenlose Darstellung der biblischen Aussagen, sondern um die mögliche 'Bezugnahme' der biblischen Texte auf das 'moderne Zeitempfinden'.151 Die grundsätzlichsten Studien zum Begriff 'Zeit' im biblischen Sprachgebrauch hat G. Delling vorgelegt. Delling spricht aus guten Gründen von der 'Gegebenheit' Zeit. Denn nach Delling finden sich 'theoretisch-abstrahierende' Aussagen über die Zeit - und darin ist sich
149 Vgl. Ebeling, Zeit und Wort, aaO. 127; dort macht Ebeling deutlich, daß das 'Modell' der bloßen Opposition des biblischen Denkens zu den in der abendländischen Philosophie überlieferten Denkstrukturen nicht ausreichen kann. 150 Vgl. für das AT die immer noch ergiebige Arbeit von Orellis (C.v. Orelli, Die hebräischen Synonyma der Zeit und Ewigkeit, 1871; 'neuerdings' auch J.R. Wilch, Time and Event, 1969; für den Bereich des NT vgl. G. Delling, Zeit und Endzeit, 1970 und die Arbeiten von O. Cullmann, besonders O. Cullmann, Christus und die Zeit, 19482 151 Die Differenz zwischen dem biblischen Zeitverständnis und dem Zeitempfinden der Moderne, das durch die griechische und römische Philosophie wesentlich bestimmt ist, hat besonders O. Cullmann in seinen Veröffentlichungen hervorgehoben. Cullmann hat diese Differenz besonders im Blick auf die Vorstellung der Zeitlinie (Cullmann, Christus und die Zeit, 19482, 27, 43ff.), die sich von dem zyklischen Denken der Griechen abhebt, dann hinsichtlich des Gedankens der Ewigkeit Gottes als "unendliche Zeitlichkeit" (aaO. 55) gegenüber dem Gedanken der Zeitlosigkeit, schließlich im Rekurs auf die neutestamentliche Zweiteilung der Zeit wegen der Hervorhebung der Christusoffenbarung als Mitte der Zeit (vgl. aaO. 70ff.) deutlich zu machen gesucht. Zu einem großen Teil wurde Cullmann dabei unterstützt durch die Arbeit von Th. Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 19593, besonders 1 Iff. und 104ff. Die Schwäche des Buches von Cullmann scheintuns darin zu liegen, daß die Betonung der 'sukzessiven Zeitlinie' die konkrete Zeitbestimmung durch Gott, die ein entscheidender Grundzug des biblischen Redens ist, wieder aufhebt. Cullmann denkt allzu gegenständlich Zeit und Ewigkeit als zwei strukturgleiche neben- bzw. übereinander laufende Linien (vgl. z.B. aaO. 41).
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Delling mit allen Interpreten einig - in der Bibel nicht.152 Es gilt als allgemein anerkannt, "daß es 'Zeit' als eine eigenständige Größe, auf deren 'Vernichtung' es abgesehen sein könnte"153, weder im AT noch im NT gibt. Delling macht folgende Aspekte der biblischen Zeitauffassung ausdrücklich, wobei er zunächst auf das AT eingeht: - Die Zeit ist inhaltlich bestimmt; es wird nicht darüber reflektiert, "was die Zeit ihrem Wesen nach ist"154. Der Festkalender 'richtet' sich nach den geschichtlichen Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott. Man hat von der Israel gegenüber der umliegenden Völkerwelt auszeichnenden Historisierung seines 'Kultus' zu sprechen.155 - Das AT kennt keinen eigentlichen Zeit-Begriff.156 Die plurale 'Verwendung' derZeit im Sinne gefüllter und bestimmter Zeitabschnitte versteht sich aus der inhaltlichen Orientierung des Zeitverständnisses. - Die im AT am häufigsten verwandten Termini für 'Zeit' - 'et', 'Tage', ' olam'157 - kennzeichnen die durch ein Geschehen qualifizierte Zeit und also -Dauer. "Für das Zeitempfinden des Alten Testaments verknüpft sich, obwohl ihm auch das Ablaufen der Zeit bewußt ist (besonders deutlich das Dahineilen der dem Menschen gegebenen Zeit, z.B. Ps. 39, 6f.; 90,5-10 ...), mit den Zeitbegriffen vor allem der Gedanke an den Inhalt der Zeit, an das Geschehen, das der betreffenden Zeit zugehört".158 - Der Glaube Israels entwirft die "Konzeption von einer linearen Geschichtsstrecke"159, die das zeitliche Werden im Glauben an einen Plan Jahwes mit seinem Volk (und dann der ganzen Welt) zu einer Einheit zusammenfaßt. Die lebendige Vergegenwärtigung der 'Heilsgeschichte' geschieht im Festkalender und in der Chronologie - also in der 'Geschichtsschreibung '.160 Hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Zeit bringen die neutestamentlichen Aussagen keine Veränderungen gegenüber dem AT.161 Aller-
152 Vgl. G. Delling, Zeit und Endzeit, BSt 58, 1970, 12 153 W. Pannenberg, Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie 2,1980,188ff., 194 154 Delling, Zeit und Endzeit, 15 155 Vgl. Delling, aaO. 16f. und G.V. Rad, Theologie des Alten Testaments, Band II, 1960, 112ff. 156 Vgl. Delling, aaO. 22ff. und v. Rad, aaO. 113 157 Vgl. Delling, 22ff. 158 Delling, aaO. 25 159 v. Rad,aaO. 119 160 Vgl. v. Rad, aaO. 118ff. 161 Vgl. Delling, aaO. 25
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dings rückt die Bestimmung des Zeitgefühls durch die Enderwartung diese inhaltliche Orientierung des Zeitempfindens in ein neues Licht. Der Begriff des 'Kairos' gewinnt an Bedeutung - in seinem spezifisch zeitlichen Sinn als 'Entscheidungszeit'.162 Die Erfüllung der Zeit (,Chronos') durch den Kairos der Menschwerdung Gottes (Gal. 4,4) stellt den Glauben in die Spannung zwischen Gegenwart (des Heils) und Zukunft. Der starken Betonung der Gegenwart des Heils in Christus (Mk. 1,15; 2. Kor. 6,2; Lk. 4,19-21) korreliert die Gewißheit, daß diese Gegenwart eine Vorwegnahme der Zukunft ist. Die paulinische Theologie ist in ihrer Gesamtheit eine beschwörende Warnung davor, die Unterscheidung und Bezogenheit von Gegenwart und Zukunft nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Der Christ ist durch Kreuz und Auferstehung aus der Gewalt der Sünde befreit, aber er steht noch in der lebendigen Auseinandersetzung "zwischen Ichwillen und heiligem Geist".163 Gleichwohl ist die Zeit der Welt und des Menschen durch die Gegenwart Gottes in seinem Sohn ein für allemal gewendet. Die Welt und ihre Zeit sehen der Vollendung entgegen. Die wesentliche Ausrichtung auf die Zukunft Gottes zeigt die spezifische Differenz des neutestamentlichen Zeitempfindens gegenüber dem zyklischen Denken der 'griechischen Welt'. "Das Neue Testament denkt ausgesprochen teleologisch in seinem Zeitenverständnis: alle Zeit läuft hinaus auf das Heilshandeln Gottes".164 Die Aussagen der Bibel - und daraufkam es uns hier ja im wesentlichen an - sind immer wieder ins Verhältnis gesetzt worden zu Elementen moderner Zeiterfahrung.165 Kann anhand moderner Zeiterfahrung verdeutlicht werden, daß die neutestamentliche Rede von der Wende der Zeit durch die Zeitwerdung Gottes auch heutiges Zeitempfinden erhellen kann und aufzuschließen vermag? Ist es 'auch heute' an der Zeit, die Wende der Zeit anzusagen? Wir wollen an dieser Stelle zwei systematische 'Konzepte' heranziehen, die sich darin versuchen, ansatzweise die Aussagen des Neuen Testamentes mit Elementen modernen Zeitempfindens ins Gespräch zu bringen.
162 Zu der Geschichte und Bedeutungsvielfalt dieses Begriffs vgl. G. Delling, Art 'Kairos', in: ThWNT III, 456ff. 163 Delling, aaO. 42 164 AaO. 47 165 Daß Luther aus der Kommentierung biblischer Texte gleichsam ein systematisches 'Konzept' entfaltet hat, das die 'lebendige' Beziehung des Menschen zu Gott unter dem Aspekt von Zeit und Ewigkeit begreifen läßt, hat H. Heimler, Aspekte der Zeit und Ewigkeit bei Luther, in: LuJ 40 (1973), 9ff. gezeigt.
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C.H. Ratschow unterscheidet in seinen herausragenden 'Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems' drei nach seiner Meinung entscheidende Momente modernen Zeitempfindens, die er dann vom 'biblischen Zeitverständnis' aus in ein neues Licht rückt. Zum einen meint das Wort 'Zeit' die "Zeitlichkeit unserer selbst wie unserer Welt".166 In diesem Sinne ist die Zeit Ausdruck der Hinfälligkeit des Lebens und aller Lebensverhältnisse. Die eigentliche Leistung des Menschen dieser Erfahrung der Vergänglichkeit gegenüber ist nach Ratschow des Menschen "Postulat von der Ewigkeit"167 im Sinne der Zeitenthobenheit oder Zeitlosigkeit. Diesen 'Zeitbegriff' - Zeit als Zeichen der Vergänglichkeit der Lebensform - kennt die Bibel so nicht. Den 'biblischen Menschen' beschäftigt nach Ratschow vielmehr die Vergänglichkeit "als Schuldproblem".168 "Die Zeitlichkeit wird nicht thematisiert, sondern die Schuld".169 Die Vergänglichkeit als die Verfassung des Lebens, die es von seiner Bestimmung abhält, ist für das biblische Denken eben nicht seine 'harmlose' und natürliche Verfassung. Das 'Gegenüber' zur Zeitlichkeit im oben beschriebenen Sinne ist für das biblische 'Weltbild' nicht das 'mutige' Postulat der Ewigkeit, sondern der Zorn und die Treue Gottes. Neben der Zeit im Sinne der Zeitlichkeit sieht Ratschow als ein zweites Moment heutiger Zeiterfahrung die vergegenständlichte historische Zeit. Sie hat ein eindeutiges Gefalle von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.170 Ein Begriff von Ewigkeit ist im Blick auf die so gedachte Zeit nur im Sinne einer unendlichen Erstreckung der Zeit denkbar. Die gegenständlich gedachte Zeit hat im biblischen Denken kein Äquivalent. Die 'Tage', in denen Gott mit dem Menschen handelt, sind zwar auch im biblischen Sprachgebrauch als bestimmte Zeiteinheiten zu denken; aber sie stellen keine Zeiteinheit vor, die erst mit Ereignissen zu füllen ist. Den 'Tagen' steht nicht eine unendliche Zeitausdehnung gegenüber, sondern die "Nacht als Chaos"171, in dem das Wirken Gottes verhüllt ist. Drittens schließlich nennt Ratschow als wesentliches Moment menschlicher Zeiterfahrung die Erfahrung des Zeitverlustes in der Gegenwart - die Erfahrung, nie Zeit für irgend etwas zu haben. Dieser Verlust an Zeit für das, was an der Zeit ist, weist auf den Verlust an Tiefe und Mitte der Zeit hin.172
166 C.H. Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems, in: ZThK 51 (1954), 360ff„ hier 361 167 Ratschow, aaO. 363 168 AaO. 364 169 AaO. 365 170 Vgl. aaO. 369ff. 171 Vgl.aaO. 375
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Die so verstandene Zeit hat ihre 'Ewigkeit' gleichsam 'bei sich' als ihre Tiefendimension. Diese Zeit ist im NT bekannt als 'Kairos'. Resümierend stellt Ratschow im Blick auf die drei von ihm herausgestellten Aspekte menschlicher Zeiterfahrung fest, daß die "westliche Zeit Ewigkeit - Problematik"173 keinen Platz hat in der biblischen Ansicht der Dinge. Der vorausgesetzte Hiatus zwischen Zeit und Ewigkeit ist dem biblischen Denken offenbar fremd. Was tragen die drei genannten Aspekte im Lichte der biblischen Aussagen nun aber bei zur Klärung der Situation von Theologie und Religion? Was ist an der Zeit für die kirchliche Verkündigung und das Denken der Theologie? Ratschow sieht in der 'gegenwärtigen' Theologie eine starke Betonung des dritten von ihm herausgestellten Aspektes - eine starke Betonung der Entscheidungszeit, der 'Zeit-für'. Diese Zeit aber kann schwerlich Maßstab für die Aussagen des Glaubens über Zeit und Geschichte schlechthin sein.174 Die Gefahr der Betonung der Zeit-für liegt nach Ratschow in der Aufhebung der "Ständigkeit der Gestalt des Ehemals der Heilstat Gottes in das Je des Glaubens".175 Andererseits sieht Ratschow keine Alternative darin, die Heilstat Gottes als 'vergangene Zeit' gleichsam zu vergegenständlichen. Für Ratschow ist das Gebot der Stunde ein Ineinander von 'heilsgeschichtlicher Vergegenwärtigung' und kairologischem Denken. Das aktuelle Ergreifen des verkündeten Wortes hat so sein Regulativ am Gekommensein Gottes.176 Nur in erinnernder Vergegenwärtigung bleibt der Glaube nach Ratschow auf den kommenden Gott bezogen. Jüngst hat M. Plathow die Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' als unaufgebbaren Bestandteil einer christlichen Vorsehungslehre und wohl auch eines Vorsehungsglaubens eingeklagt. Plathow ist sich sicher, daß so der christliche Glaube auf das "Zeitverständnis(ses) heute"177 erhellend wirken kann. Als Aspekte heutiger Zeiterfahrung nennt Plathow die Erfahrung der Momenthaftigkeit der Zeit, die Begrenzung der Weltzeit und die persönliche Erfahrung der Grenzzeitlichkeit.178 Zu diesen Erfahrungen hat die Theologie im Blick auf die Dialektik von Zeit und Ewigkeit etwas zu sagen. Dabei geht Plathow davon aus, daß 172 Vgl. aaO. 380 173 AaO. 383 174 Vgl. aaO. 383f. 175 AaO. 383 176 Vgl. aaO. 386 177 Plathow, Zeit und Ewigkeit. Ein Thema der christlichen Vorsehungslehre heute, in: NZSTh 26 (1984), 95ff., hier 95 178 Vgl. aaO. 95-97
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menschliche Erfahrung gerade im Blick auf die Grenzzeitlichkeit von sich aus offen ist für das, "was so mit 'Ewigkeit' gemeint ist".179 Der Momenthaftigkeit der Zeiterfahrung setzt die Theologie die Gefülltheit der Zeit, d.h. ihr Bestimmtsein durch die geschichtlichen Taten Gottes entgegen. Die quälende Begrenzung der Zeit wird aufgehoben durch den Gedanken der die Zeit konstituierenden Ewigkeit. Und die Erfahrung der Grenzzeitlichkeit des Lebens wird aufgenommen mit dem Hinweis darauf, daß Gott in der Mitte der Zeit begegnet ist und je neu begegnen kann.180 Indem Plathow die Relation von Zeit und Ewigkeit als Thema der Vorsehungslehre zur Geltung bringen möchte, will er sichern, daß diese 'Lehre' die bleibende Strittigkeit der 'Gegenwart' Gottes in der Welt ausdrücklich macht. Dazu eignet sich nach Plathow der Zeitbegriff im besonderen Maße, weil die zeitliche Struktur der Welt zugleich ihre Unabgeschlossenheit wie ihre mögliche Ganzheit und Einheit als ihre Zukunft thematisiert.
VI. Ausblick auf den Gang der Arbeit Die Theologie erhebt, gerade im Rekurs auf ihre biblischen Wurzeln, den Anspruch auf eine umfassende und nicht ergänzungsfähige Zeitdeutung. Der Deutungsrahmen von 'Zeit und Ewigkeit' unterstellt, das Geheimnis der Wirklichkeit liege tiefer, als es eine bloße Beschreibung dessen, was ist, suggerieren will. "Die Theologie ist ein Specificum menschlichen Denkens, das im menschlichen Begreifen der Welt zwar notwendigermaßen Anwendung findet, das aber nicht im gedachten Gegenstande wohnt".181 Die Theologie kann nicht anders, als die Zeit sub ratione aetemitatis zu deuten. Gleichwohl bleibt es richtig, daß diese Deutung anachronistische Züge hat. Und selbst von theologischer Seite wird vielfach der Einwand erhoben, die Relation von Zeit und Ewigkeit sei in ihrer überlieferten Gestalt kein akzeptabler Deutungsrahmen mehr. So hat vor einigen Jahren N. Pike in seinem Buch 'God and Timelessness' den - wie er meinte - herrschenden und klassischen Ewigkeitsbe-
179 180 181 25ff.,
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AaO. 108; vgl. auch 101, 105 Vgl. die Argumentation aaO. lOOff. C.H. Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes, in: NZSTh 1 (1959), 63
griff einer radikalen Kritik unterzogen. Ewigkeit als Zeitlosigkeit, so Pike, denke danach Gott als "outside of time".182 Seine Kritik an diesem Ewigkeitsbegriff entfaltet Pike dabei in Auseinandersetzung mit Schleiermacher.183 Nach Pike kann ein ewiger und zeitloser Gott kein 'Gegenüber' des Menschen sein, weil er nicht handelnd in die Welt einzugreifen vermag. Das Prädikat der Ewigkeit muß vielmehr so gefaßt werden, daß es den Zeitbezug des göttlichen Wesens entfalten kann. Dazu 'braucht' Gott 'a temporal position'184 in der Zeit, um in der Zeit handeln zu können. "A timeless being could not deliberate, anticipate, or remember".185 Gottes Ewigkeit muß also nach Pike als seine zeitliche Verfassung, in der er wie der Mensch seine Vergangenheit hinter sich und seine Zukunft vor sich hat, gedacht werden. Den Anspruch aber, den ewigen Gott als Grund und 'Garanten' der Einheit der Zeit zu denken, kann und darf die Theologie auch nach Pike nicht aufgeben. So muß sie sich vor allem mit solchen Einwänden gegen eine Zeitdeutung sub ratione aetemitatis auseinandersetzen, die behaupten, die Zeit sei als Einheit und Ganzheit aus sich selbst zu deuten. An dieser Stelle setzt die folgende Arbeit an. Es werden zwei fundamentale Einwände gegen die theologische Zeitdeutung, die von der Selbstverständlichkeit der Relation von Zeit und Ewigkeit ausgeht, zu Gehör gebracht, um die Problematik eines theologischen Ewigkeit-Begriffs schärfer in den Blick nehmen zu können. Diese beiden Einwände aus dem Bereich der neuzeitlichen Philosophie können als gleichsam klassisch gelten. Kant und Heidegger können als die Exponenten einer Theorie der Selbstbegründung der Zeit angesehen werden. Beide versuchen die Einheit der Zeit im Subjekt zu begründen; Kant in dem logischen Ich der Apperzeption, Heidegger in dem seine Ganzheit je und je hervorbringenden zeitlichen Ich. Und beide scheitern in diesem Unternehmen; Kant durch die Entzeitlichung der Subjektivität, Heidegger durch die 'Überforderung' des zeitlichen Ich, das seine Ganzheit selbst sein soll, sie doch aber immer vor sich hat. So bleibt Kant in der Ethik schließlich auch nicht bei dem 'logischen Ich'; und Heidegger kehrt sich zu der Erwartung der Ankunft des Seins. (Teil I)
182 N. Pike God and Timelessness, 1970, IX 183 Vgl. aaO. 6ff.; dagegen M. Trowitzsch, Zeit zur Ewigkeit, BEvTh 75,1976, der zu zeigen versucht hat, daß das Prädikat der Ewigkeit bei Schleiermacher auch die Zeitbezogenheit Gottes umgreift (aaO. 18ff.); allerdings gesteht auch Trowitzsch zu, daß man "von einer Ewigkeit, in der Zeit für den Menschen ist" (aaO. 189), bei Schleiermacher wenig lesen kann. 184 Vgl. Pike, aaO. Il8f„ 122 u.ö. 185 AaO. 128
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Der Theologie Augustins kommt im Blick auf unsere Thematik nach wie vor entscheidende Bedeutung zu. Augustin hat die Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' für die Theologie in Auseinandersetzung mit der Philosophie gleichsam entdeckt. Folgende unverlierbare Gesichtspunkte einer theologischen Zeitlehre hat Augustin dabei geltend gemacht: - Die Zeit als die Verfassung des Menschen 'coram Deo' - Die Strittigkeit und Ambivalenz der Zeit als Ausdruck der Geschichtlichkeit des menschlichen Gottesverhältnisses - Die Unverfügbarkeit der Ankunft der Ewigkeit in der Zeit (Teil Π) Im Abschließenden Teil der Arbeit werden drei Konzepte der theologischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts herangezogen, die eine Antwort auf die Frage zu geben versuchen, was für die Theologie ihrer (unserer) Zeit an der Zeit ist. Die Zeitdeutungen Heims, Tillichs und Barths entfalten sich unter der leitenden Fragestellung: 'Was ist für die Theologie an der Zeit, um ihrer Zeit etwas zu sagen?' Die Antwort der drei Theologien auf diese Frage läßt sich auf dem Hintergrund der philosophischen Kritik entwerfen. Alle drei genannten Theologen haben Kants oder Heideggers Kritik an einem theologischen Zeitverständnis im Blick. Alle verbindet die Überzeugung, daß ein gleichsam gegenständliches Verständnis der Relation von Zeit und Ewigkeit der Theologie nicht mehr möglich ist. Heims Konzept läuft auf die Einsicht hinaus, der ins Leere laufenden Zeit der Welt müsse das Postulat der ständigen Ewigkeit Gottes entgegengesetzt werden, will die Zeit nicht zugrunde gehen. Nach Heims Meinung ist nichts mehr an der Zeit als der Appell, die Ewigkeit Gottes als das 'Gegenüber' zur Zeit zu entdecken und zu ergreifen. Dementsprechend entfaltet Heim den Gedanken der Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit. Darin liegt ohne Zweifel die Stärke des Heimschen Konzeptes. Die Welt soll überführt werden, daß sie ohne Gott verloren ist. Die Schwäche der Position Heims liegt in der Verabsolutierung der zeitlichen Dimension der Gegenwart, die Heim als Entscheidungszeit begreift. Tillich entwirft anders als Heim das Konzept einer geschichtlichen Vermittlung von Zeit und Ewigkeit. Diese Vermittlung wird dabei von Tillich über den Begriff der Ganzheit der Zeit versucht. Die Ewigkeit ist danach die Zukunft der Zeit im Sinne der Verwirklichung ihrer ganzheitlichen Bestimmung. Das Ende der Geschichte 'bringt' die Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit. Nach Tillich also ist nichts mehr an der Zeit als die Vermittlung der Einsicht, daß der Lauf der Zeit aus und in sich selbst den
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Bezug zur umgreifenden Ewigkeit Gottes hat. Der Welt will Tillich die Augen öffnen dafür, daß sie in noch so großer Gottesferne die Nähe Gottes nicht verliert. Die Schwäche der Position Tillichs liegt in der Verabsolutierung der Dimension der Zukunft gegenüber den anderen Dimensionen der Zeit bzw. in der Nivellierung des aktuellen Lebensvollzugs angesichts der zukünftigen Einheit der Welt. Die Stärke der Tillichschen Position ist die gegenüber Heim erreichte geschichtliche Weite der Relation von Zeit und Ewigkeit. Barths Theologie entfaltet die Ewigkeit Gottes als Geheimnis der Zeit. Das will in Barths Theologie so verstanden sein, daß es keine andere Zeit gibt als die Zeit Gottes für uns. 'Es gibt' nur die Zeit Jesu und sonst keine wirkliche Zeit. Es ist nach Barth nichts mehr an der Zeit als die Entfaltung der Botschaft, daß der Mensch in seiner Zeit gar keine andere Möglichkeit hat, als Gott zu entsprechen, denn Gott entspricht sich selbst in der Zeit. Die Zeit schlechthin ist der O r t ' der Selbstentfaltung und Selbstentsprechung Gottes. Die Gefahr der Barthschen Zeitlehre ist die Verabsolutierung der vergangenen, der auf das Christusgeschehen 'beschränkten' Heilszeit. Das unerklärbare Rätsel im Zusammenhang der Barthschen Theologie ist der Sachverhalt, daß die Zeit so wenig davon erkennen läßt, daß sie 'Zeit für Gott' ist und sonst nichts. Der Verheißungscharakter der christlichen Botschaft wird unterbelichtet. Die Stärke der Barthschen Position ist die konsequente Deutung der Wirklichkeit von der Zeitwerdung Gottes her. Unsere Arbeit versteht sich selbst wesentlich als ein Beitrag zur Bestandsaufnahme. 'Was ist an der Zeit?' - unter dieser Frage beginnt der Versuch einer theologischen Zeitdeutung notwendigerweise immer wieder von vom. Es scheint uns 'heute' nicht um die Notwendigkeit der Entfaltung der Zeit als 'Zeit für' zu gehen. Der Appell, die Zeit recht zu gebrauchen als Zeit für das, was wahrhaft an der Zeit ist, bewirkt für sich gar nichts. Die Hervorhebung des appellativen Charakters der christlichen Botschaft darin sehen wir eine Differenz zu Heim - vermag dem christlichen Glauben nicht seine das Leben gestaltende Kraft zurückzugeben. Außerdem entspricht dieses Moment nicht dem Wesen des Glaubens als Befreiung zur Tat - nicht aber als Tat selbst. Und ob die Vermittlung der Gewißheit, daß die Zukunft der Welt identisch ist mit der Ewigkeit Gottes, 'heute' an der Zeit ist, erscheint uns ebenfalls als sehr fraglich. Die These von der Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit, wie Tillich sie entfaltete, übersieht leicht die Gefahren und Tendenzen der 'Selbstbegründung' der Zeit. Gerade die Ankunft Gottes ist
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nicht das allergewisseste, sondern das allerfraglichste. Scheint es nicht so, als begegne der sich sorgende Mensch immer nur sich selbst? Uns scheint also eher das an der Zeit zu sein, was als 'vergegenwärtigendes Erinnern', das zur Erwartung der Zukunft Gottes bereit macht, umschrieben werden könnte. Nicht aus der Zeit zu fliehen und nicht in ihr umzukommen - das 'verhindert' nur die zur Ankunft der Zukunft bereit und frei machende Erinnerung.
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TEIL I
Die von der Relation zur Ewigkeit 'befreite' Zeit
A . Z U R ZEITLEHRE IMMANUEL K A N T S
Einleitung und Ausblick Daß es uns hier nicht um eine durchlaufende Interpretation der großen ersten Kritik und ihrer Zeittheorie gehen kann, bedarf keiner ausdrücklichen Begründung. Ein solches Unterfangen müßte den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im Zusammenhang unserer Untersuchung, die darauf abzielt, die Möglichkeiten einer theologischen Lehre von der Zeit - und das heißt, die Möglichkeiten einer Interpretation des Zeitphänomens vom Gedanken der Ewigkeit Gottes her - auf dem Hintergrund philosophischer Kritik zu erörtern, wird es vielmehr darum gehen müssen, die sich bei Kant vollziehende Absetzung der Zeitlehre von einer theologischen Interpretation des Zeitphänomens darzustellen. Daß unsere Darstellung mit Kant einsetzt, begründet sich folgendermaßen: - Kants Vemunftkritik hat als der eindrückliche Versuch zu gelten, die Frage nach der Einheit der Zeit durch die postulierte Einheit des Subjekts zu beantworten. Die Zurückführung der Einheit der Zeit auf die Einheit des Subjektes tritt bei Kant ausdrücklich an die Stelle einer Begründung der 'unendlichen Zeit' in der Einheit der alle Zeiten umgreifenden Ewigkeit Gottes. - Kant stößt in seiner Analyse des Zeitphänomens durchaus auf die Dialektik der menschlichen Zeiterfahrung, die sich bei ihm als Einsicht in die Dialektik von Gegebenheit und Selbstentfaltung des Subjekts zeigt.
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Der Begriff der Gegebenheit des Subjekts bringt für uns dabei zum Ausdruck, daß sich das endliche Subjekt nach Kant nicht selbst hervorbringt oder schafft. Im Blick auf die Zeiterfahrung kommt diese Einsicht so zum Tragen, daß das die Zeiten ordnende Subjekt sich im 'Fluß der Zeit' weiß. Die Zeit wird als unendliche, gegebene Größe gewußt, zu deren möglichem Ende das endliche Subjekt nicht vorzulaufen vermag. Der Begriff der Selbstentfaltung bezieht sich auf die in der Vernunftkritik entfaltete Einsicht Kants, daß sich die Struktur und Einheit der Zeit als unendlicher, gegebener Größe dem das Mannigfaltige ordnenden und so gesetzgebenden Verstand verdankt. Darin ist die Zeiterfahrung auch nach Kant in gleicher Weise wie durch die Erfahrung der Zeitlichkeit dadurch bestimmt, daß das endliche Subjekt dem endlosen 'Ruß der Zeit' durch die Ordnung der Zeiten gleichsam Einhalt zu gebieten vermag. Mit der - allerdings nicht selbst in dieser Begrifflichkeit ausdrücklich gemachten - Einsicht in die unaufhebbare Dialektik von Gegebenheit und Selbstentfaltung, die die menschliche Zeiterfahrung bestimmt, weiß Kant zugleich um die Unmöglichkeit, die Einheit der Zeit aus der Zeiterfahrung selbst zu begründen. - Gleichwohl gedenkt Kant aus der beschriebenen Kennzeichnung menschlicher Zeiterfahrung nicht den Schluß zu ziehen, die mögliche Einheit der Zeit in der Idee einer den gesamten Lauf der Zeit umgreifenden Ewigkeit garantiert zu sehen. Dieser Weg ist ihm unmöglich geworden durch die Einschränkung der Zeitvorstellung auf die Verfassung des endlichen Seins. - Die Frage nach einer möglichen Einheit der Zeit ist damit aber keineswegs erledigt. Denn die Einheit der Zeit - so wird sich zeigen - ist für Kant die vorauszusetzende Bedingung für die Wahrnehmung jeder begrenzten Zeiteinheit, die als Einschränkung der einen und einigen Zeit zu denken ist. Die Frage nach der Einheit der Zeit wird bei Kant ihre Beantwortung in dem Hinweis auf die zeitlose Einheit des Selbstbewußtseins, das sich als Subjekt aller Erkenntnis und aller Erfahrung weiß und setzt, erhalten. Darin wird die Erfahrung der Zeitlichkeit gleichsam stillgelegt. So zeigt sich die Analyse des Zeitphänomens bei Kant am Ende als der gigantische Versuch, die unendliche gegebene Zeit durch die postulierte Einheit des endlichen Subjekts zur Einheit zu bringen. - Dieser Versuch kann seine dezidiert theologischen Ursprünge nicht verleugnen. Im Begriff des stehenden und bleibenden 'Ich der Apperzeption' wird der Gedanke des 'nunc stans', der in der mittelalterlichen Theologie in dem Versuch, die Zeitüberlegenheit des ewigen Gottes
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begrifflich kenntlich zu machen, eine entscheidende Rolle spielt1, rezipiert. Denn das die Einheit der Zeit konstituierende Ich stellt sich selbst außerhalb der ständig vergehenden Zeit. Darin wird, so muß sich zeigen, die Endlichkeit des Ich übersprungen. So endet der Versuch Kants, die Zeit als Bedingung der Welt- und Selbsterfahrung des endlichen Subjekts zu deuten, mit dem 'tragischen Triumph und Jubel' der Endlichkeit, - so könnte im Anschluß an eine Äußerung Hegels formuliert werden.2 Bei der Kantdarstellung kommt es uns nun vor allem auf dreierlei an. Zunächst einmal muß es darum gehen, die Argumentation nachzuzeichnen, in der Kant versucht, die theologischen Implikationen der Zeitvorstellung, die in der Philosophie des 18. Jahrhunderts noch in unterschiedlicher Prägung thematisch gemacht wurden, aus der Analyse der Zeit zu eliminieren.3 Denn es wird sich zeigen, daß die berühmt gewordene These Kants von der transzendentalen Idealität der Zeit und auch des Raumes in letzter Konsequenz dazu führen soll, die Interpretation des Zeitphänomens im Horizont der Ewigkeit Gottes überflüssig und unmöglich zu machen. Darin gewinnt die Lehre von der transzendentalen Idealität der Zeit ihr Profil allererst auf dem Hintergrund der theologischen Interpretation des Zeitphänomens. Kant lag zu seiner Zeit eine solche Interpretation in derjenigen 'Philosophie' vor, die ihn wie kaum eine andere bestimmt und geprägt hat - in der Naturphilosophie Isaac Newtons. Die Anlehnung Kants an Newton hinsichtlich der Kennzeichnung der Strukturen der absoluten und leeren Zeit hat ihn jedoch nicht daran gehindert, die 'metaphysische' Beurteilung des Wesens der Zeit durch Newton vehement zu kritisieren. Diese ging dahin, in der Zeit und dem Raum vermöge ihrer Unendlichkeit und Unveränderlichkeit die Formen der göttlichen Anschauung der Welt und die Medien der Wirksamkeit Gottes in der Welt zu sehen. Darin galten Raum und Zeit Newton als absolute Entitäten. Die Analyse der Kritik Kants an diesen Gedanken Newtons wird interessanterweise zu dem Ergebnis führen, daß Kant im wesentlichen auch
1 Vgl. H. Schnarr, Nunc stans, in: G. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, 1984, Sp. 989f. 2 Vgl. G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen, in: Werice 2, hrsg. von E. Moldenhaueru. K.M. Michel, 1970 (SV), 321 3 Das ist besonders ausführlich von E. Cassirer im zweiten Band seiner Geschichte des Eikenntnisproblems gezeigt worden; vgl. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuen Zeit, Band II, 19223, 442ff.; aber auch A. Koyré und H. Heimsoeth haben sich mehrfach dieser Thematik gewidmet.
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theologische Gründe dazu bewegt haben, jenen unmittelbaren Zusammenhang von Welteiklärung und Gottesglauben, wie er bei Newton in dem Gedanken der Zeit als des Mediums der göttlichen Wirksamkeit in der Welt vorlag, aufzugeben. Die Wahrung der Transzendenz Gottes wird sich konkret als ein entscheidendes Motiv Kants für die Ablehnung der Lehre von der absoluten Realität der Zeit herausstellen. Nun läßt sich die Kantische 'Zeitlehre' auf dem Hintergrund der Gedanken Newtons und auch seines Schülers Clarke nicht nur gut profilieren, sondern Kant bleibt ihnen gerade auch da verpflichtet, wo er sich ausdrücklich von dieser Tradition absetzen will. Vor einigen Jahren ist von Fr. Delekat eine Interpretation der Philosophie Kants vorgelegt worden, die versuchte zu zeigen, daß die Kritik der reinen Vernunft "ihre Inhalte durch eine anthropologische Umsetzung der theistischen Metaphysik Baumgartens"4 erreicht hat. Wir werden versuchen zu zeigen, daß Kant in seiner Zeitlehre auch den Gedanken der Zeit als eines Mediums der göttlichen Wirksamkeit in der Welt - also den Begriff des 'sensorium Dei' - durchaus positiv rezipiert hat, indem er nämlich den Gedanken der Einheit der Zeit auf die Einheit des Subjekts zurückführt. Dabei ist aber der Gedanke der Zeit als des 'sensorium Dei' so aufgenommen, daß die Zeit nun als Medium der Wirkung des 'gesetzgebenden' Verstandes auf das gegebene Mannigfaltige interpretiert wird. Es wird also in unserer Darstellung der Zeitlehre Kants zweitens darauf ankommen, herauszuarbeiten, daß die Auflösung des Zusammenhanges von Welterklärung und Gottesgedanke bei Kant in letzter Konsequenz zur 'Absolutheit' 5 des endlichen Subjekts führt. Hinsichtlich der Zeitthematik wird dies bedeuten, daß das Ich in seiner Funktion als das zeitlose Ich der Apperzeption zum Garanten der Einheit der Zeit erhoben wird. Insofern sich auch hier Kant in seiner Begrifflichkeit einer theologischen Interpretation der Zeitvorstellung verpflichtet zeigt, läßt sich mit einem gewissen Recht von einer Reduktion der Zeitanalyse sprechen, die Kant angesichts der durch ihn selbst rezipierten Tradition vorgenommen hat. Diese Reduktion ist im Verlust des Bezuges der Zeitanalyse zum Gedanken der Ewigkeit Gottes zu sehen, der gleichwohl im Begriff des zeitlosen Ich der Apperzeption noch gleichsam negativ rezipiert wird. Drittens wird anzudeuten sein, daß die Zurückführung der Einheit der Zeit auf die Einheit des Ich der Apperzeption - auf das stehende und bleibende Ich - nicht ohne Folgen bleiben konnte. Mag auch die These, bei 4 W. Pannenberg, Theologische Motive im Denken Immanuel Kants, in: ThLZ 89 (1964), Sp. 897ff„ 900 5 Darunter verstehen wir den konsequenten Versuch Kants, alle Bestimmungen der Newtonschen Zeit aus der endlichen Verfassung des Subjekts zu deuten und zu erklären.
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der Ablösung des Zeitbegriffs und der Zeitvorstellung vom Gedanken der Ewigkeit Gottes handle es sich um eine folgenreiche Reduzierung des Zeitphänomens, umstritten sein und bleiben;6 so hat diese Zurückfiihrung der Zeit auf die Einheit des denkenden Subjekts doch jene Entwicklung in Gang gesetzt, an deren Ende die Zeit schlechthin als Subjektivität gedacht wird. Die These von der schlechthinnigen Zeitlichkeit der Subjektivität bei Heidegger beruft sich denn auch mit einem gewissen Recht auf die Begründung der Zeit in der Einheit des Subjekts, wie sie bei Kant vorliegt.
I. Der Zeitbegriff der Dissertation von 1770 Die Deutung der Zeitvorstellung als Idee Unsere Untersuchung zur Zeittheorie Kants setzt ein mit einer Analyse seiner Dissertation von 1770. Das bedarf der kurzen Begründung. Es wurde schon anfangs daraufhingewiesen, daß es uns im Zusammenhang unserer Arbeit keinesfalls um eine vollständige Darstellung der Kantischen Zeitlehre gehen kann; das gilt zum einen im Blick auf die Kritiken Kants, zum anderen in bezug auf die Entwicklung des Kantischen Denken insgesamt. Für uns steht im Vordergrund, daß die Bestimmung der Zeit als der Form des inneren Sinnes, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, auf dem Hintergrund der Traditionen, von denen sich Kant mit dieser Bestimmung bewußt absetzt, eine deutliche 'Einschränkung' der Zeitvorstellung darstellt, die Konsequenzen hat vor allem hinsichtlich der möglichen theologischen Interpretation des Zeitphänomens. Die unendliche gegebene Zeit, von Newton noch als Medium der Hervorbringung und Erhaltung des Geschaffenen durch Gott gedacht, wird in der Kantischen Analyse gleichsam zum sensorium hominis. Nun kann es uns ebenfalls nicht darum gehen, jene Korrektur und differenzierte Rezeption überlieferter Traditionen, wie sie bei Kant in der Raum- und Zeitlehre vorliegen, historisch vollständig nachzuvollziehen7; sondern wir haben die Argumentation zu analysieren, die Kant zu der Bestimmung der Zeit als Form des inneren Sinns führt. Diese so berühmt gewordene Bestimmung der Zeit tritt in dieser Begrifflichkeit erstmals in der Dissertation Kants von 1770 auf. Allerdings zeigt die genaue Analyse dieser Schrift, daß Kant in ihr noch nicht zu jener klaren und eindeutigen Differenzierung der 'sensualitas' und 'intelligentia' als der
6 Denn diese Ablösung läßt sich durchaus auch als Bedingung zum 'wahren Verständnis' des Zeitphänomens deuten. 7 Das ist ausführlich geschehen in dem nach wie vor ergiebigen Kommentar Vaihingers und bei Cassirer.
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beiden Grundvermögen menschlichen Eikennens gekommen ist, wie sie dann in der großen Kritik vorliegt. Auch die Bestimmung der reinen Anschauungen, als die Raum und Zeit in dieser Schrift erstmals vorgestellt werden, hat noch nicht die Klarheit und Durchsichtigkeit der späteren Kritik. Deshalb eignet sich diese Schrift für unsere Untersuchung in besonderer Weise. Es wird sich nämlich zeigen, daß sich die Begriffe von Raum und Zeit gerade in ihrer Bestimmung als Anschauungsformen erst allmählich und zögernd von dem gemeinsamen Grund der Intellektualbegriffe bzw. der reinen Verstandesbegriffe, wie Kant später formuliert, gelöst haben. Diese 'Entwicklung' des Kantischen Denkens läßt sich anhand dieser Schrift von 1770 gut nachvollziehen. Das ist insofern von Wichtigkeit, als auch die Vernunftkritik Kants diesen Prozeß noch sichtbar werden läßt. Insofern wird sich durch eine Analyse dieser Schrift das Selbstzeugnis Kants aus den Prolegomena bestätigen lassen, daß es ihm selbst nämlich "allererst nach langem Nachdenken" gelang, "die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterschieden und abzusondern".8 Am sichtbarsten wird dieser Prozeß der erst allmählichen Ablösung der reinen Anschauungen von den reinen Verstandesbegriffen im Zusammenhang der Dissertation in der Unausgeglichenheit der Begrifflichkeit selbst. So wird unten zu zeigen sein, daß das Schwanken Kants gerade hinsichtlich der Bestimmung der Zeit zwischen repraesentatio, conceptio und idea mehr ist als eine bloße begriffliche Unklarheit - nämlich Ausdruck für die Unsicherheit Kants in bezug auf die metaphysische Beurteilung der Zeit. So wird sich sogar herausstellen, daß Kant selbst die Bestimmung der unendlichen gegebenen Zeit als eines Mediums der göttlichen Gegenwart in der Welt in dieser Schrift noch positiv rezipieren kann. Oder anders gesagt: die Vorordnung des Unendlichen gegenüber dem Endlichen im Begriff der Zeit, insofern sie als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt wird9, hat für Kant in dieser Schrift von 1770 ganz offensichtlich noch theologische Implikationen. Und es werden interessanterweise im Zusammenhang dieser Schrift dann wesentlich theologische Gründe angeführt werden, die Kant dazu veranlassen, die Reduzierung der Zeit als Form des inneren Sinnes konsequent zu verfolgen und damit jene theologischen Implikationen der Zeitvorstellung zurückzudrängen.
8 I. Kant, Prolegomena, Hrsg. K. Vorländer, PhB 40, 83 9 Vgl. I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et piincipiis, K. Reich (Hrsg.), PhB 251,1958, 38
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1. Die These von dem dissensus zwischen den beiden Grundvermögen der Erkenntnis als Ausgangspunkt der Dissertation Sicherlich tritt die fundamentale Unterscheidung, der 'dissensus', wie Kant ihn in der Dissertation nennt10, zwischen sinnlichem und intellektuellem Vermögen des Menschen nicht erst in dieser Schrift Kants auf. Es ist immer wieder darauf verwiesen worden, daß für Kant seit den 'Träumen eines Geistersehers' die Metaphysik "die Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft"11 ist, die präzise Trennung zwischen Gegenständen möglicher Erfahrung und metaphysischen Erdichtungen, die die Grenzen der Erkenntnis überfliegen, zu der wesentlichen Aufgabe einer kritischen Metaphysik erhoben wird. Gleichwohl führt die Dissertation diesen dissensus zwischen sinnlichem und intellektuellem Vermögen nurmehr nicht nur thetisch ein, sondern entwickelt daraus auch erstmals die Umrisse für ein methodisches Konzept einer wissenschaftlichen Metaphysik.12 Danach ist die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik an die strenge Beachtung jenes fundamentalen Unterschiedes zwischen den Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis auf der einen und denen der intellektuellen auf der anderen Seite gebunden. Nur durch Beachtung dieser Grundregel ("potissimum praeceptum"13) kann die Metaphysik vor 'Erschleichungsfehlern'14 bewahrt werden. Der Weg, auf dem Kant zur Herausarbeitung jener beiden distinkten Erkenntnisquellen gelangt, ist nun folgender. Es geht Kant in der Schrift um die Gewinnung eines möglichen Begriffes von Welt überhaupt. Die Reflexion auf diesen möglichen Begriff führt auf zwei unterschiedliche Erkenntnisvermögen bzw., wie Kant sich hier ausdrückt, "auf seinen doppelten Ursprung aus der Natur des Geistes".15 Denn die Welt überhaupt kann durch den Verstand wohl gedacht werden als 'compositum' alles in ihr Gegebenen, als zusammengesetztes Ganzes. Aber es ist noch etwas anderes, sich
10 1. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et piincipiis, Hrsg. K. Reich, PhB 251,1958, 6 11 Cassirer, aaO. 606 12 Vgl. hierzu besonders das Anliegen der §§ 23 und 24 der Dissertation Kants, wo die Methode der Metaphysik insgesamt so gekennzeichnet wird, zu verhindern, "daß die eigentümlichen Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis ihre Grenzen überschreiten und die intellektuellen Prinzipien beeinflussen". Kant, De mundi, 76 13 Ebd. 14 Vgl. Kant, De mundi, 78 15 "ad duplicem illius e mentis natura genesin"; aaO. 2
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diesen Begriff "in concreto eandem sibi repraesentare intuitu distincto".16 Der Begriff des zusammengesetzten Ganzen also ist vermittels einer Verstandesleistung - "per notionem abstractam intellectus"17 - , die den Begriff des Zusammengesetzten erzeugt, indem sie das gegebene Mannigfaltige nach bestimmten Merkmalen unter ihn begreift, möglich. Die Vorstellung eines Ganzen in einer deutlichen Anschauung aber stützt sich auf die Vorstellung der Zeit. Dies ist deshalb der Fall, weil der Gegenstand einer möglichen Anschauung nur durch sukzessive Addition seiner Teile, d.h. durch den tätigen Aufbau ("per Synthesin"18) selbst auch nur zur wirklichen Anschauung kommen kann. Ebenso kann die Anschauung einer einfachen Substanz nur durch das 'Zurückschreiten' ("regrediendo, h.e. per analysin"19) von einem gegebenen Ganzen zu seinen einzelnen Teilen erreicht werden. Da nun aber die Welt in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung nach Kant als quantum continuum20 gedacht werden muß, kann weder der Begriff der Ganzheit noch der der Einfachheit wahrhaft zur Anschauung gelangen. Damit ist für Kant demonstriert, daß der menschliche Geist zwar "ideas abstractas"21 hervorbringt, aber eben nicht in der Lage ist, sie in eine anschauliche Vorstellung zu überführen.22 Dieses Faktum weist für Kant auf jenen dissensus "inter facultatem sensitivam et intellectualerrím des Menschen hin. Nach Kant entspringt jener dissensus der 'natura mentis ' ; es gehört also zur Natur des menschlichen Geistes, in der Bildung der Allgemeinbegriffe von jeder Zeitbedingung abstrahieren zu können; wie andererseits der menschliche Geist bzw. das Gemüt24 auf die ursprüngliche Zeitvorstellung angewiesen ist, insofern unmittelbare Vorstellung eines Gegebenen ohne diese nicht zu denken ist. So ist der Begriff einer Menge nur durch die sukzessive Folge der Teile zur Anschauung zu bringen. Aufgrund der Kontinuität der Zeit, die besagt, daß keine entgegengesetzten Zustände, "nisi per Seriem statuum diversorum intermediam"25, aufeinander folgen
16 "sich den Begriff in einem Einzelfall mittels einer deutlichen Anschauung vorzustellen" (Übersetzung nach K. Reich), aaO. 3 17 Kant, De mundi, 2 18 Ebd. 19 AaO. 4 20 Ein quantum continuum definiert Kant zu diesem Zusammenhang mit Aristoteles als eine Menge, deren Aufbau als Ganzes einzelner Teile niemals vollendbar ist; ebenso erreicht der Rückgang vom gegebenen Ganzen auf mögliche Teile keine Grenze; vgl. ebd. 21 AaO. 6 22 "et in intuitus commutare saepenumero non posse"; aaO. 8 23 AaO. 6 24 Reich übersetzt 'mens' mit Geist (aaO. 7); die Übersetzung als 'Gemüt' entspräche eher der späteren Begrifflichkeit Kants. 25 AaO. 40; "außer durch eine Zwischenreihe anderer Zustände" (nach Reich)
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können, aber sind die Begriffe der 'einfachen Substanz' und des 'zusammengesetzten Ganzen' nicht zur Anschauung zu bringen, ja letztlich nicht widerspruchsfrei zu denken. Der Prozeß der Teilung und der Zusammensetzung ist in der anschaulichen Vorstellung nie abgeschlossen. Aber Kant begnügt sich nun nicht damit, bei der Reflexion 'De notione mundi generatim'26 jenen doppelten Ursprung dieses Begriffs aus der Natur des Geistes nachzuweisen und damit den dissensus zwischen Anschauung und Allgemeinbegriff, Sinnlichkeit und Verstand einfach zu konstatieren. Erst wenn von da aus auf zwei unterschiedliche Erkenntnisquellen geschlossen werden kann, hat die Beobachtung der Mißhelligkeit zwischen dem sinnlichen und dem intellektuellen Vermögen ihren erkenntnistheoretischen Wert. So unterscheidet Kant in § 3 seiner Dissertation zwei voneinander unabhängige und selbständige Erkenntnisquellen und führt damit den 'dissensus' zwischen der anschaulichen und der begrifflichen Vorstellung eines 'Gegenstandes' auf die in der Natur des menschlichen Gemütes liegenden beiden Erkenntnisquellen zurück. Diese nennt Kant Sinnlichkeit und Verstand. "Sensualitas est receptivitas subiecti, per quam possibili est, ut status ipsius repraesentativus obiecti alicuius praesentia certo modo afficiatur."27 Und der Verstand bzw. die Vernunft - die strikte Unterscheidung dieser beiden Vermögen in der Kritik der reinen Vernunft gilt in der Dissertation noch nicht - wird bestimmt als "facultas subiecti, per quam, quae in sensus ipsius per qualitatem suam incurrere non possunt, repraesentare valet".28 Sinnlichkeit und Verstand also sind die beiden Arten der Gattung 'Vorstellung' (repraesentatio). Die Gegenstände der sinnlichen Vorstellungen nennt Kant 'phaenomena', die der intellektualen Vorstellung 'noumena'.29 Beide Arten der Vorstellung vermitteln Erkenntnis; die sinnlichen Vorstellungen die Erkenntnisse der Dinge als Erscheinung, die intellektualen die Erkenntnis der Dinge, "sicuti sunt".30 Der § 4 nun wendet sich der Art der sinnlichen Vorstellung zu. Diese vermittelt deshalb nur Erkenntnis der Dinge, "uti apparent"31, weil jede
26 So wird die Thematik von Sectio I der Dissertation formuliert (aaO. 2) 27 AaO. 18; "Sinnlichkeit ist die Empfänglichkeit eines Subjektes, durch die es möglich ist, daß sein Vorstellungszustand durch die Gegenwart irgendeines Objektes auf bestimmte Weise betroffen wird". 28 "das Vermögen eines Subjektes, kraft dessen es das, was in seine Sinne wegen seiner eigentümlichen Beschaffenheit nicht fallen kann, vorzustellen vermag" (nach Reich; ebd.) 29 Vgl. ebd. 30 AaO. 18 31 Ebd.
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sinnliche Vorstellung an die subjektive Bedingung der 'receptivitas' der Dinge gebunden ist. Diese Bedingungen, unter denen überhaupt ein Gegenstand Objekt einer sinnlichen Vorstellung werden kann, gilt es nun zu untersuchen. Die Analyse der sinnlichen Vorstellungen (sensus repraesentationes) führt Kant dabei zunächst auf die Unterscheidung zwischen 'Form' und 'Materie' einer sinnlichen Vorstellung. Der Materie nach gehört zu einer sinnlichen Vorstellung die einfache Empfindung (sensatio), der Form nach aber das Bild oder die Gestalt (species) des Vorgestellten.32 Dieses Bild eines vorgestellten 'Gegenstandes' entspringt nicht der bloßen Empfänglichkeit des Subjektes, indem es durch die Gegenwart eines Objektes affiziert wird, sondern einer durch das Subjekt hervorgebrachten 'Synthesis' mannigfaltiger Eindrücke, die der Gegenstand im Subjekt 'hervorruft'. Das Bild des sinnlich vorgestellten wird durch die Form der Sinnlichkeit - wie Kant sich ausdrückt - "quadam animi lege"33 zusammengefügt. So ist die Form eines sinnlichen Vorgestellten-geradezu als "lex quaedam menti insita"34 bestimmt, - also als die Tätigkeit des Subjektes, das mit den Sinnen Wahrgenommene in die Einheit des Gegenstandes zu bringen. Die bloße Empfindung nämlich fügt das Mannigfaltige der Erscheinung nicht zur Einheit des Gegenstandes zusammen. Im weiteren Fortgang seiner Schrift wird Kant diese 'Formen der Sinnlichkeit' reine Anschauungen nennen und als diese Formen Raum, Zeit und Zahl aufführen. Hier ist schon angedeutet, daß Kant das Vermögen der Sinnlichkeit nicht auf die bloße Empfindung reduziert, sondern es seiner Form nach als synthetisches Vermögen verstanden wissen will. Wir halten hier kurz inne; was ist in der bisherigen Argumentation gewonnen? Die These von den zwei distinkten Erkenntnisquellen, die in den Vorstellungsarten Anschauung und Begriff vorliegen, wurde von Kant aufgestellt im Zusammenhang der Reflexion über den Begriff der Welt als eines 'quantum compositum'. Dabei zeigt sich die antinomische Struktur im Begriff des quantum continuum und auch in dem Gedanken einer einfachen Substanz als Grund jener Distinktion. Insofern hat die These ihr Recht, daß die Antinomie im Begriff der Welt Kant zur Unterscheidung der phänomenalen von der intelligiblen Welt führte.35 Es ist aber ohne Zweifel richtig, daß diese Einsicht Kants in die antinomische Struktur des Weltbegriffs im Zusammenhang der Dissertation noch nicht auf dem Hintergrund des 32 AaO. 20 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Vgl. dazu K. Reich in seiner Einführung zur Dissertation Kants, aaO. VIII; vgl. dazu auch Cassirer, aaO. 621
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Wissens um die dialektische Verfassung der menschlichen Vernunft überhaupt erfolgt.36 Hinsichtlich der Begrifflichkeit Kants ist gerade auf dem Hintergrund der späteren Kritik bemerkenswert, daß der Begriff des synthetischen Ganzen in bezug auf das Vermögen der Anschauung als problematischer bzw. aufgegebener Begriff bezeichnet wird. Das rückt die Anschauung rein terminologisch in die Nähe der Vernunftideen37 bzw., wie Kant sich noch in der Dissertation ausdrückt, der 'conceptus universales'38. Darauf wird unten noch ausführlich einzugehen sein. Der Gang der Argumentation von Sectio I der Dissertation weist eine letzte Auffälligkeit auf. Die Gedankenführung zeigt, daß sich die Unterscheidung zwischen der phänomenalen und der intelligiblen Bestimmung der 'Gegenstände' der Differenzierung der beiden Erkenntnisvermögen verdankt. Daß die 'Dinge an sich' für das sinnliche Vermögen unerkennbar sind, wird von Kant daraus geschlossen, daß sinnliche Erkenntnis an die Bedingungen der Rezeptivität des Subjekts gebunden ist. Die Differenzierung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen erwächst also im Zusammenhang der Dissertation aus der Analyse der Bedingungen menschlicher Erkenntnis.
2. Die Gewinnung des Begriffs der 'reinen Anschauung', und das Schwanken Kants zwischen der Bestimmung der Zeit als Anschauung und als Idee Nach der Herausarbeitung der beiden distinkten Erkenntnisquellen unternimmt Kant im Fortgang der Sectio Π nun den Versuch, die besondere Erkenntnisweise des sinnlichen Vermögens zu beschreiben. Auf die Differenzierung zwischen Form und Materie jeder Sinnesvorstellung wurde oben schon verwiesen. Durch die Form, die jeder Sinnesvorstellung zugrundeliegt, wird das durch die Sinne wahrgenommene Mannigfaltige in das Bild eines Gegenstandes und d.h. zur Einheit gebracht. Die Form der Sinnlichkeit also ist ein Akt der Synthesis.39 Gegen Ende der Section II seiner Dissertation nun führt Kant für diese Formen der Sinnlichkeit den Begriff der Anschauung ein.40 Ja, die Pointe 36 So Reich, aaO. X 37 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 670ff. (Kants Vemunftkriük wird im folgenden nach der gängigen Zitations weise zitiert - also die erste Auflage als A, die zweite als B; beide ohne Voranstellung des Verfassemamens) 38 Vgl. Kant, De mundi, 58 39 Vgl. aaO. 2 und 20 40 Vgl. aaO. 30
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des gesamten Abschnittes liegt darin, die Formen der Sinnlichkeit als Anschauungen zu erweisen. Auch hinsichtlich des Begriffs der Anschauung unterscheidet Kant zwischen einer sinnlichen Anschauung (,intuitus sensualis bzw. singularis') und einer intellektuellen Anschauung (,intuitus intellectualis').41 Letztere ist allein die göttliche Anschauung, da sie das Angeschaute ohne Vermittlung der Sinne gegenwärtig hat bzw. hervorbringt.42 Diese Möglichkeit der Anschauung scheidet für das menschliche Wesen aus, weil alle menschliche Erkenntnis letztlich auf das sinnliche Vermögen und damit auf die Gegebenheit der Gegenstände zurückgeht. "Es ist hier von der größten Bedeutung zu bemerken, daß die Erkenntnisse immer für sinnlich zu halten sind, wie groß auch das Geschäft des logischen Verstandesgebrauchs in Anwendung auf sie gewesen ist. Denn sie werden sinnlich genannt wegen ihres Ursprungs, nicht wegen der Vergleichung auf Identität oder Widerstreit."43 Nun liegt aber in den Formen der Sinnlichkeit, die die Gegenständlichkeit des Gegenstandes hervorbringen, eine dritte Art der Gattung der Anschauung vor. Diese nennt Kant 'intuitus purus'.44 In den Formen der Sinnlichkeit liegen deshalb 'reine Anschauungen' vor, weil sie auf der einen Seite empfindungsfrei sind, auf der anderen Seite aber auch nicht dem intellektuellen Vermögen zuzurechnen sind. "Instuitus autem purus (humanus) non est conceptus universalis s. logicus, sub quo, sed singularis, in quo sensibilia quaelibet cogitantur ideoque continet conceptus spatii et temporis ...".45 Was aber bedeutet die Bestimmung der reinen Anschauungen als conceptus singulares, als Einzelvorstellungen? Werden damit nicht doch Raum und Zeit als der Verstandestätigkeit entspringend vorgestellt, in der von allen Bedingungen der Sinnlichkeit abstrahiert wird? Es gilt also, den Sinn der Differenzierung zwischen Allgemeinbegriffen und Einzelbegriffen zu beleuchten. Die Allgemeinbegriffe oder logischen Begriffe entspringen dem logischen Verstandesgebrauch (usus intellectus logicus), in dem gegebenen Begriffe nach bestimmten Regeln einander zugeordnet werden.46
41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd. 43 Übersetzung nach Reich, aaO. 23; der lateinische Text lautet: "Maxime autem momenti hic est, notasse, cognitiones semper habendas esse pro sensitivis, quantuscunque circa illas intellectui fuerit usus logicus. Nam vocantur sensitivae propter genesin, non ob collationem quoad identitatem vel oppositionem." (aaO. 22) 44 So erstmals aaO. 22; dann auch 32 45 AaO. 32; die Übersetzung nach Reich: "Die reine Anschauung aber (des Menschen) ist nicht eine allgemeine oder logische Vorstellung, unter der, sondern eine einzelne, in der irgendwelche Sinnendinge gedacht werden, und enthält daher die Vorstellungen des Raumes und der Zeit" (33) 46 Vgl. aaO. 22
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Allgemeinbegriffe also entspringen konkret der Urteilstätigkeit des Verstandes, indem er die Besonderheit verschiedener Einzelvorstellungen unter einen Allgemeinbegriff subsummiert. In der Logik nennt Kant einen conceptus universalis eine "allgemeine Vorstellung" oder "eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemeinsam ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann".47 Allgemeinbegriffe also sind Vorstellungen, in denen von den sinnenhaften Vorstellungen nicht einfach abstrahiert wird; sondern sie entspringen aus den Sinnen durch Vergleichung der Gegenstände der Erfahrung und erhalten durch den Verstand bloß die Form der Allgemeinheit. Darin unterscheiden sie sich von den Vernunftbegriffen oder reinen Ideen48, die von aller Bedingung der Gegebenheit der Gegenstände völlig abstrahieren. Allgemeinbegriffe also enthalten, insofern sie aus den Sinnen durch Vergleichung mehrerer Einzelvorstellungen entspringen, eine unendliche Menge von Einzelvorstellungen unter sich. Die Einzelvorstellungen sind dem Allgemeinbegriff subordiniert und gehören zu seinem Umfang.49 So kann man beispielsweise sagen, daß der Begriff 'Metall' als Allgemeinbegriff für die Teilbegriffe 'Gold', 'Silber', 'Kupfer' etc. fungiert, indem er der dem Umfang nach größere Begriff ist und so die anderen Begriffe als Teilbegriffe unter sich begreift. "Der Umfang oder die Sphäre eines Begriffs ist um so größer, je mehr Dinge unter ihm stehen und durch ihn gedacht werden können."50 Von den conceptus universales nun unterscheiden sich die conceptus singulares dadurch, daß sie keine unendliche Menge von Vorstellungen unter sich enthalten. Ein Einzelbegriff muß so gedacht werden, daß er einer Einzelvorstellung entspringt und nicht auf eine diskursive Verstandesleistung zurückgeführt werden kann. Oder anders: ein Einzelbegriff muß so vorgestellt werden, daß er keinen Umfang hat, sondern lediglich die Vorstellung eines Einzelnen repräsentiert. Das aber widerspricht ganz offensichtlich der Art und Weise, wie sich 'intellektuelle Erkenntnis' nach Kant überhaupt vollzieht. Denn kein Begriff kann so gedacht werden, daß er keinen Umfang hat, aber eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthält. So aber werden Raum und Zeit notwendig vorgestellt. Denn es gibt nach Kant nur ein einheitliches Ganzes der Zeit, insofern die Zeitvorstellung das Prinzip darstellt, vermittels dessen sinnliche Erkenntnisse über47 Vgl. I. Kant, Logikvorlesung, in: Werkausgabe in 10 Bänden, Hrsg. W. Weischedel, Band 5, 1959,521 48 Vgl. Kant, De mundi, 24 49 Vgl. Kant, Logik, 526 50 AaO. 526
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haupt möglich sind. "Tempus enim quodlibet non cogitatur, nisi tanquam pars unius eiusdem temporis immensi."51 Gleiches gilt von der Vorstellung des Raumes.52 Die Formen der Sinnlichkeit können aber notwendigerweise keine Allgemeinbegriffe sein, weil sie als Formen der Sinnlichkeit gerade so bestimmt wurden, daß sie die Bedingung sind, unter welcher allein etwas unmittelbar zur Anschauung kommen kann; ihr Gegebensein muß bei jeder sinnlichen Anschauung vorausgesetzt werden. Insofern können sie unmöglich der diskursiven Verstandestätigkeit entspringen. "Praeterea omnia concipis actualia in tempore posita, non sub ipsius notione generali, tanquam nota communi, contenta."53 Insofern also im Blick auf Zeit und Raum die Vorstellung des Ganzen der möglichen Vorstellung der Teile voraufgeht, sind Zeit und Raum als Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis nur als Einzelbegriffe zu bezeichnen. Da aber jeder Begriff als solcher notwendigerweise einer abstrahierenden Verstandestätigkeit entspringt, mithin kein Begriff so gedacht werden kann, "als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte"54, müssen Raum und Zeit als Bedingungen jeglicher empirischer Anschauungen ein 'Drittes' zwischen Begriff und Sinnlichkeit sein. So sieht Kant keine andere Möglichkeit, Raum und Zeit als reine Anschauungen zu denken, deren 'Reinheit' darin zu sehen ist, daß sie jeder konkreten Anschauung zeitlich und logisch voraufgehen.55 Als Pointe derjenigen Argumentation, in der Kant zu der Bestimmung von Raum und Zeit als 'reine Anschauungen' kommt, stellt sich somit die Behauptung Kants heraus, daß eine Einzelvorstellung, wie sie Raum und Zeit darstellen, nicht als Begriff, sondern als Anschauung gedacht werden kann; und zwar deshalb, weil nur so die Einsicht gesichert ist, daß Raum und Zeit formale Prinzipien menschlicher Anschauung sind. Gerade aber dieser Schluß Kants auf den notwendigen Anschauungscharakter der Zeit über das Argument, daß das Ganze der Zeit ihren Teilen in der Vorstellung der Zeit vorausgeht, ist nicht völlig plausibel.56 Den Allgemeinbegriffen, die aus der Vergleichung mehrerer Erscheinungen durch den Verstand entstehen und gebildet werden, wurden die Einzelbegriffe gegenübergestellt. Sie wurden als solche Vorstellungen eingeführt, 51 Kant, De mundi, 38 52 AaO.48 53 AaO. 38 54 So Kant in der Vernunftkritik B40; das Argument taucht aber auch schon in der Dissertation auf, indem nämlich das Wesen des Begriffs in der Allgemeinheit gesehen wird (aaO. 30); vgl. auch Kant, Logik, 526 55 Vgl. die Argumentation in Kant, De mundi, 30 56 Das gilt analog auch für das vierte und fünft Zeitargument in der metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs in der Vernunftkritik; vgl. A31f.
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die einen unendlichen Vorstellungsinhalt als Einheit in sich haben. Als Prinzip der sinnlichen Erkenntnis wiederum kann die Zeit nur so gedacht werden, daß die Vorstellung und Bestimmung jeder konkreten Zeit durch Einschränkung der einen Zeit erreicht wird, die Bedingung jeder konkreten, d.h. empirischen Anschauung ist. Die Vorstellung der einen Zeit geht mithin der Vorstellung ihrer Teile voraus. Insofern also müßte die Zeit als conceptio singularis bestimmt werden können. Es widerspricht aber der Begrifflichkeit eines Begriffs, wenn er so gedacht wird, daß er eine unendliche Menge von Vorstellungen als Teile in sich und nicht unter sich enthält. Nun wird aber die Zeit (wie auch der Raum) so vorgestellt, daß sie eine unendliche Menge von Einzelvorstellungen in sich enthält. Also kann die Zeit als Einzelvorstellung, d.h. die ursprüngliche Vorstellung der einen Zeit, nur Anschauung sein. Das ist zusammengefaßt die Argumentation, die Kant hier in der Dissertation und auch später in der großen Kritik zur Bestimmung der Zeit als reiner Anschauung führt.57 Dabei übergehen wir, daß Kant in der Dissertation die Unterscheidung zwischen repraesentatio und conceptos nicht sauber durchgehalten hat.58 Aber auch abgesehen davon ist die Argumentation Kants nicht zwingend - und das aus folgendem Grund. Kant führt nämlich auch in der Dissertation, vor allem aber in der Kritik der reinen Vernunft solche Begriffe ein, die die Einzigkeit und Einheit eines 'Gegenstandes' vorstellen und zugleich eine unendliche Menge von Teilbegriffen in sich enthalten. Diese Begriffe nennt Kant in der Dissertation intellektuelle Vorstellungen (conceptus intellectuales)59, später Vernunftbegriffe oder Ideen. Auch für die Ideen gilt, daß sie sich nicht "durch Zusammensetzung erhalten" lassen; "denn das Ganze ist hier eher, als der Teil".60 So kommt es nicht von ungefähr, daß Kant selbst diese Nähe der reinen Anschauungen zu den Ideen oder Vernunftbegriffen selbst terminologisch angedeutet hat. So wird er in § 14 seiner Dissertation die Vorstellung der Zeit als Idee bezeichnen. Und obwohl Kant mit Vehemenz betont, nachweisen zu wollen, daß die Begriffe von Raum und Zeit keine Vernunftbegriffe, sondern Einzelvorstellungen sind61, muß doch fraglich bleiben, ob ihm dies wirklich gelungen ist. Denn über die terminologische Annäherung der reinen Anschauungen an die Ideen hinaus wird von Kant die strukturelle Parallelität zwischen den reinen Anschauungen und den Vernunftbegriffen selbst gesehen. Daß in der Vor-
57 Vgl. A31f. 58 Vgl. z.B. Kant, De mundi, 32, wo mit 'conceptus' eindeutig 'repraesentatio' gemeint ist, denn die Nicht-Begrifflichkeit der Anschauung soll an dieser Stelle gerade bewiesen weiden. 59 Vgl. aaO. 24 60 Kant, Logik, 522 61 Kant, De mundi, 12
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Stellung der Zeit das Ganze den Teilen vorausgeht, wird von Kant später ausdrücklich als Grund dessen angesehen, daß sich die Zeit einer intellektuellen Vorstellung annähert.62 Spätere Äußerungen Kants machen den Zusammenhang zwischen den reine Anschauungen und den Vernunftbegriffen gerade darin deutlich, daß in beiden Vorstellungsarten eine Vorordnung des Ganzen vor den Teilen vorliegt.63 So gibt es außer Raum und Zeit eben nach Kant selbst noch andere Einzelvorstellungen, die "als Totum ihre Teile nicht unter sich, sondern in sich begreifen".64 Danach ist die Idee der durchgängigen Bestimmung aller Dinge nichts anderes als "die Vorstellung des Inbegriffs aller Realität" und darin "nicht bloß ein Begriff, der alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift".65 So kann hier zusammenfassend in einem ersten Urteil behauptet werden, daß die Kennzeichnung von Raum und Zeit als Einzelvorstellungen auf dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Allgemeinbegriffen und sinnlichen Anschauungen als der beiden distinkten Erkenntnisquellen des Menschen wohl einleuchten kann. Die ursprüngliche Vorstellung von Raum und Zeit läßt sich weder als Allgemeinbegriff noch als empirische Einzelvorstellung angemessen deuten. Die Absetzung der Vorstellungen von Raum und Zeit als reine Anschauungen von den Ideen aber ist mit der dargestellten Argumentation noch nicht zwingend gegeben. Ein kurzer Blick auf den Beschluß von Sectio ΙΠ der Dissertation kann diesen Eindruck erhärten. Dieser 'Folgesatz', wie Kant die Abschlußbemerkungen zu Sectio ΠΙ nennt, geht aus von der Überzeugung, Raum und Zeit als die beiden Prinzipien der sinnlichen Erkenntnisse hinreichend bewiesen zu haben. Als diese Prinzipien enthalten die Anschauungen von Raum und Zeit den "rationem nexus universalis omnium, quatenus sunt phaenomena".66 Raum und Zeit aber, so faßt Kant nun am Schluß von Sectio ΙΠ zusammen, sind deshalb als reine Anschauungen zu bestimmen, weil in ihnen die Vorstellung des Ganzen der Auffassung bestimmter Größe vorweggeht. "... infinitum continet rationem partis cuiusque cogitabilis"67, - das ist der Grund für den Anschauungscharakter von Raum und Zeit. Diese Argumentation wird
62 Dazu s.u. S. 73f. 63 Vgl. femer die bei G. Wohlfart, Ist der Raum eine Idee?, in: Kantstudien 71 (1980), 137ff„ hier 145f. angegebenen Stellen 64 Wohlfart, aaO. 141 65 Β 605 66 Kant, De mundi, 36; "Grund der allgemeinen Verknüpfung aller Objekte, sofern sie Phänomene sind" (nach Reich) 67 AaO. 56; "das Unendliche enthält den Grund jedes Bestandteiles" (nach Reich)
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Kant auch in der Kritik der reinen Vernunft im Zusammenhang der metaphysischen Erörterungen der Begriffe von Raum und Zeit beibehalten. Bestimmte Raum- und Zeitvorstellungen sind nur als Einschränkung des unendlichen gegebenen Raum-Zeit-Kontinuums denkbar. Folglich liegen, so fährt Kant nun fort, "omnes affectiones primitivae horum conceptuum"68 außerhalb der Schranken der Vernunft. Das Wesen von Raum und Zeit also kann auf keine Weise intellektuell verständlich gemacht werden.69 Und dennoch sind die ursprünglichen Vorstellungen von Raum und Zeit unentbehrlich für die Verstandestätigkeit selbst, ja sie sind "substrata intellectus".70 Diese Funktion als Grundlagen für den Verstandesgebrauch haben Raum und Zeit deshalb, weil der Verstand in seinen Urteilen bei den Sinnendingen ansetzt71 und sich so notwendig beziehen muß auf die Form, in der alle Erscheinungen gegeben werden. Als diese Grundlagen des Verstandes dienen Raum und Zeit aber in unterschiedlicher Weise. Der Raum bezieht sich als Vorstellung auf die Objektgebundenheit der Anschauungen, der Begriff der Zeit kennzeichnet den Status jeder Vorstellung als Akt des Subjektes.72 Insofern ist der Begriff der Zeit dem Begriff des Raumes hinsichtlich des Umfanges übergeordnet, weil die Zeit auch die Raumvorstellungen als Vorstellungen des Subjektes in sich faßt. Darin, so fährt Kant nun fort, "tempus autem universali atque rationali conceptui magis appropinquai, complectendo omnia suis respectibus, nempe spatium ipsium et praeterea accidentia, quae in relationibus spatii comprehensa non sunt, uti cogitationes animi".73 Die Zeit also nähert sich einem intellektuellen Begriff oder einem Vemunftbegriff, insofern sie ganz offensichtlich die Raumvorstellungen in sich begreift und zugleich Grundlage des Verstandesgebrauches ist. Da aber Kant zuvor in § 14 - der noch zu besprechen sein wird - in aller Ausführlichkeit die Vorstellungen von Raum und Zeit von dem gemeinsamen Grund der Allgemeinbegriffe abgelöst und so den Anschauungscharakter dieser Vorstellungen begründet hatte, muß diese Bemerkung Kants aus dem Schlußabschnitt der Sectio ΙΠ einigermaßen überraschen. Sie findet ihre 'Erklärung' darin, daß Kant die Abgrenzung der Vorstellungen von Raum und Zeit von den abstrakten Verstandesbegriffen selbst wohl 68 Ebd.; "alle ursprünglichen Eigenschaften dieser Begriffe" (nach Reich) 69 Vgl. ebd. 70 Ebd. 71 Vgl. aaO. 30 72 Vgl. aaO. 56/58 73 AaO. 58; "Die Zeit selbst aber nähert sich mehr einem allgemeinen und rationalen Begriff, weil sie überhaupt alles durch ihre Beziehungen umfaßt, nämlich den Raum selbst und außerdem noch die in den Relationen des Raumes nicht befaßten Akzidenzien, wie die Überlegungen des Geistes" (nach Reich).
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gelungen ist, daß er aber hinsichtlich der Unterscheidung der reinen Anschauungen von den Ideen bzw. Intellektualbegriffen keine letzte Sicherheit gewonnen hat. Auch die auffallige begriffliche Differenz bei der Analyse der Vorstellungen von Raum und Zeit ist ein Beleg dafür. Nur vom Raum heißt es in § 15, daß er eine 'singularis repraesentatio' ist, die Vorstellung der Zeit wird an der vergleichbaren Stelle als 'idea' bezeichnet.74 Der Grund dafür wird von Kant im 'Folgesatz' der Sectio ΠΙ unmißverständlich angegeben. Er ist darin zu sehen, daß die Zeit als Inbegriff a lier Vorstellungen gedacht werden muß. So ist die Bemerkung und Absichtserklärung Kants zu Beginn der Dissertation, er werde deutlich zeigen, daß die Begriffe von Raum und Zeit "non esse rationales atque ullius nexus ideas obiectivas, sed phaenomeηα"Ί5 angesichts der späteren Ausführungen nur als teilweise eingelöst zu betrachten. Vielsagend nämlich ist die konkrete Begründung für die Behauptung, daß sich die Zeit 'einem Intellektualbegriff ' nähert. Diese ausführliche Begründung im 'Folgesatz' zeigt, daß jene Behauptung Kants nicht nur eine gleichsam 'hingeworfene' Bemerkung ist. Das erste Argument dafür, daß die Zeit sich einem 'conceptus intellectualis' nähert76, ist die schon angeführte Bemerkung Kants, daß die Zeit alles in sich begreift, also Inbegriff aller Vorstellungen, auch der äußeren, ist, als Vorstellung selbst aber nicht durch Abstraktion von Einzelvorstellungen gewonnen wird.77 Zweitens stellt die Zeit die allgemeine Bedingung dar, unter der der Verstand in seiner Urteilstätigkeit steht. Als Beispiel führt Kant den Satz des Widerspruches an, der ohne die Zeitvorstellung keine 'Gültigkeit' hätte. Drittens ist die mögliche Einheit der Erfahrung hinsichtlich der regelhaften Verknüpfung aller Erscheinungen gebunden an die Vorstellung der Zeit als des Inbegriffs alles Wirklichen. Viertens ist der Begriff einer Größe und damit die Bestimmung eines 'äußeren Objektes' nicht ohne die sukzessive Tätigkeit des Geistes, der ein konkretes Maß an das gegebene 'Objekt' 'anlegt' und so seine Größe bestimmt, denkbar. Die Tätigkeit des Zählens aber ist gebunden an die Zeitvorstellung. Und schließlich erfährt sich der menschliche Geist, das menschliche Gemüt ('ipsa mens
74 Vgl. aaO. 38 mit 48 75 AaO. 12; "keine Vemunftbegriffe und objektive Ideen irgendeiner Verknüpfung sind, sondern Schaustücke der Sinnlichkeit" 76 Daß Kant hier nicht die Nähe der Zeit zu den Allgemeinbegriffen, sondern zu den Vernunftideen zeigen will, ist evident; denn er hatte zuvor herausgestellt, daß die Vorstellung der Zeit sich nicht der Abstraktion von allen Erscheinungen verdankt (vgl. vor allem § 14 der Diss.) 77 Vgl. aaO. 58
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actione') im Vollzug78 als der ursprünglichen Vorstellung der Zeit unterworfen und auf sie angewiesen. Denn der menschliche Geist denkt im Akt der Bestimmung der Regeln der Erscheinungen die Zeit als ein 'lex animi', das den Sinnen Gegebene zu ordnen.79 Alle diese Gründe also rücken nach Kant die Zeit in die Nähe eines Vernunftbegriffes. Sie scheinen die Bestimmung der Zeit als des Inbegriffs aller Realität nahezulegen. Aber Kant geht letztlich über seine vorsichtige Bemerkung, die Zeit nähere sich einer Idee, nicht hinaus; er kann darüber nicht hinausgehen, will er seine Einsicht in den grundsätzlichen Dissensus zwischen den beiden Erkenntnisvermögen, seine Einsicht in die Unvereinbarkeit der Prinzipien der Sinnlichkeit und des Verstandes nicht aufgeben. Die Beobachtung dieses grundsätzlichen 'dissensus' aber, so wird Kant wenig später in seiner Dissertation zeigen, ist die unverzichtbare Bedingung einer Metaphysik, die die Grenzen der menschlichen Erkenntnis reflektiert und beachtet. Die Zeit kann letztlich nicht als Idee oder Vernunftbegriff bestimmt werden, wenn synthetische Erkenntnis a priori durch eine Verbindung reiner Anschauungen mit reinen Verstandesbegriffen möglich sein soll. So kann für Kant nur gelten, daß die Zeit zwar das Prinzip der Verknüpfung der Dinge ist, aber eben nur das der in einer Anschauung gegebenen, nicht der Dinge, wie sie an sich sind. Die Zeit kann in ihrer Funktion als 'lex mentis' nicht übersehen werden, soll Erkenntnis überhaupt als möglich gedacht werden. Allerdings ist die Zeit als lex mentis, als die Form, in der alle Erscheinungen zu einer Einheit allererst verknüpft werden können, nicht einfach auf den Zusammenhang des 'rezeptiven Vermögens' des menschlichen Gemütes einzuschränken. Wenn die Zeit lediglich auf der Seite der Sinnlichkeit zu stehen käme, wäre sie als Form der Verknüpfung des den Sinnen Gegebenen sicher unterbestimmt. Darin, daß der Verstand sie als Bedingung für die Einheit der Erscheinungen denkt, gehört die Zeit zu dem Akt der regelhaften Bestimmung der Dinge selbst. Um in der späteren Begrifflichkeit Kants zu sprechen: als lex mentis gehört die Zeit auf die Seite der Spontaneität des Subjektes. Dieser Bestimmung der Zeit wenden wir uns nun zu.
78 Vgl. aaO. 56/58 79 Die aufgeführten flinf Argumente finden sich aaO. 56/58
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3. Die Entdeckung der Zeit als 'lex animi' Bevor wir in der Darstellung der Dissertation Kants fortfahren, sollen kurz die Ergebnisse der beiden letzten Abschnitte zusammengefaßt werden. Zunächst wurde die These Kants von den beiden distinkten Erkenntnisquellen dargestellt. Die Idee der Mißhelligkeit der beiden Komponenten des menschlichen Erkennens - der Sinnlichkeit und des Verstandes - erwächst daraus, daß sich nach Kant zum einen Begriffe denken lassen, die niemals Gegenstand einer konkreten Anschauung des Menschen werden können. Damit aber sind die beiden Erkenntniskomponenten als eigenständige Erkenntnisquellen für Kant hinreichend aufgedeckt. Nun hat die Art und Weise der Kennzeichnung der Prinzipien des sinnlichen Erkenntnisvermögens gezeigt, daß Kant auf dem Hintergrund seiner eigenen Unterscheidungen diese Prinzipien nicht deutlich hat absetzen können von denjenigen Begriffen, die sich einer rein intellektuellen Vorstellung verdanken - also von den nicht-empirischen Begriffen. Das allerdings ist eine Beobachtung, die nicht nur hinsichtlich dieser Schrift Kants, die am Beginn seiner sogenannten 'kritischen Philosophie' steht, zu machen ist. Diese Nähe der Prinzipien der Sinnlichkeit zu den Vernunftideen kennzeichnet das Denken Kants über diese Schrift hinaus.80 Für uns geht es in diesem Abschnitt nun darum, die Konsequenzen, die die Kennzeichnung der Zeit als 'intuitus purus' für die Möglichkeit einer Bestimmung der Affektionen der Zeit hat, herauszuarbeiten. Wenn es denn so ist, daß die Möglichkeit einer konkreten Bestimmung der Zeit außerhalb der Schranken des Verstandes liegt, wie Kant behauptet hatte, so bleibt zu fragen, was damit für die Bestimmung der Zeit gewonnen ist. Vermag die Kennzeichnung der Zeit als reine Anschauung zu jener konkreten Bestimmung auch der Eigenschaften der Zeit vorzudringen, von der sich der Verstand fernzuhalten hat, weil sie sein Vermögen übersteigen würde? Ist die Einsicht in das Wesen der Zeit selbst der Anschauung möglich? Entscheidende Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Bestimmung der Zeit als 'lex mentis' oder 'lex animi', die in den §§14 und 15 immer wieder auftaucht.81 In dieser Bestimmung sehen wir die eigentliche Definition der Zeit Kants in diesem Werk; denn sie zieht die Konsequenzen aus der Einsicht in die Nähe der Zeitvorstellung zu den Vernunftbegriffen. Die Anwendimg des Begriffs der Anschauung auf die Zeitvorstellung kennzeichnet ihren erkenntnistheoretischen Status, stellt aber keine eigent-
80 Vgl. dazu besonders Wohlfahrt, aaO. 144-147; H. Vaihinger, Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Band II, 506 und E. Henke, Zeit und Erfahrung, 1978, 84f. 81 Vgl. Kant, De mundi, 42, 44, 60 u.ö.
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liehe Definition der Zeit selbst dar. Darüber hinaus kann nur durch die Bestimmung als 'lex mentis' jene Behauptung Kants an Verständlichkeit gewinnen, die Bestimmung der Zeit und ihrer Eigenschaften liege außerhalb der Grenzen des Verstandesvermögens. Als lex mentis nämlich ist die Zeit in allen Vorstellungsakten präsent und so die intuitive Form unseres Bewußtseins. Und soll die Bestimmung einen Sinn haben, so muß die Einsicht in das so gedachte Wesen der Zeit selbst einem intuitus, einem unmittelbaren Vorstellungsakt entspringen. Auf die Bedeutung also jener Definition der Zeit als lex mentis wird es uns in diesem Abschnitt ankommen. Thematisch wird sie in Sectio ΠΙ der Dissertation Kants. Kant beginnt diesen Abschnitt seines Buches mit der Herausarbeitimg der Bedingungen, die Raum und Zeit als Prinzipien der Form des mundus sensibilis notwendig erfüllen müssen. Daß menschliche Anschauung an diese Prinzipien gebunden ist, war von Kant zuvor so gezeigt worden, daß die konkrete Anschauung eines Gegebenen ohne solche Formen der Sinnlichkeit gar nicht vorstellig gemacht werden kann. Denn die bloße Empfindung und Wahrnehmung eines Mannigfaltigen enthält noch nicht dessen Verknüpfung zur Einsicht eines Gegenstandes. Der Begriff eines Objektes aber ist erst möglich durch die tätige Verknüpfung mannigfaltiger Eindrücke zu der Einheit der Gegenstände. Ein Prinzip der Form der Sinnenwelt ist also dasjenige, "quod continet rationem nexus universalis omnium, quatenus sunt phaenomena".82 Da aber die sinnliche Erkenntnis von der Art und Weise, wie Gegebenes für das Subjekt zur Erscheinung kommen kann, abhängt, kann die Form der Sinnlichkeit nur als "prineipium formae nisi subiectivum"83 gedacht werden. Als solches aber ist die Form der Sinnlichkeit ein gewisses Gesetz der Seele.™ Der Begriff des Gesetzes aber wird von Kant hier deshalb verwandt, weil es ihm ja darum geht, die Regeln aufzusuchen, nach denen das Subjekt zur Erkenntnis der Einheit der Gegenstände kommt. Zugleich bleiben die Prinzipien der Sinnenwelt bezogen auf die Gegebenheit der Gegenstände, deren mögliche Einheit sie darstellen. Als die Formen der Sinnlichkeit nun gelten Kant Raum und Zeit. Die Definition der Zeit als lex animi, die in gleicher Weise im Blick auf den Raum nicht erfolgt, weil der Raum die allgemeine Bedingung der Gegebenheit der Objekte abgibt, wird für Kant in besonderer Weise virulent in den Zusammenhängen, in denen er die objektive und absolute Realität der Zeit
82 AaO. 36; "was den Grund der allgemeinen Verknüpfung aller Objekte, sofern sie Phänomene sind, enthält" (nach Reich) 83 Ebd. 84 Vgl. ebd.
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abzuweisen versucht. Die Gründe für diese Abweisung wurden oben schon kurz angedeutet - sie liegen nämlich darin, daß eine solche Fassung des Zeitbegriffs den Begriff der Welt mit Notwendigkeit in Antinomien führen würde und damit die subjektiven Bedingungen der Gegebenheit der Gegenstände überspringt. Der entscheidene Grund aber für die Ablehnung der absoluten Realität der Zeit wird von Kant in dieser Schrift in Sectio V angeführt werden. Die Behauptung einer absoluten Realität der Zeit führt danach die rationale Theologie in unausweichliche Schwierigkeiten, ja führt letztlich zur 'Verabschiedung' des Gottesgedanken. Selbst wenn man nämlich durch die mögliche Unterscheidung zwischen virtueller und substantieller Allgegenwart und Zeitmächtigkeit Gottes verständlich macht, daß Gott aller Zeit nahe ist, ohne selbst zeitlich zu sein, so muß man doch voraussetzen, "daß er ihren gesamten Ablauf voraussieht".85 Daraus entwickeln sich die Fragen der Vorsehungslehre und der Theodizee, deren 'Lösbarkeit' Kant aus der Einsicht, daß sie sub ratione Dei diskutiert werden und so die Grenzen des endlichen Verstandes übersteigen, grundsätzlich bestritt.86 Darüber hinaus ist - so betont Kant immer wieder - nicht einzusehen, warum man die Bedingungen von Raum und Zeit vom göttlichen Wesen fernhalten sollte, wenn sie zuvor zu absoluten Formen der Dinge an sich selbst gemacht worden sind. Das wird unten ausführlich darzustellen sein. Jedenfalls gilt, daß mit der Definition der Zeit als lex mentis nach Kant diese Behauptung der absoluten Realität der Zeit ein für allemal ausgeschlossen ist. Mit dieser Definition wird dem Gedanken, daß "tempus... est obiectivum aliquid et reale", also von Kant entgegengesetzt, daß die Zeit weder absolut ist, noch eine Substanz, noch eine Bestimmtheit an einer Substanz, noch eine Relation, "sed subiectiva conditio per naturam mentis humanae necessaria, quaelibet sensibilia certa lege sibi coordinandi" ..." Als solche geht die Zeit jeder Vorstellungstätigkeit vorauf und ist somit auch Bedingung der Verknüpfung der Begriffe sowie der Selbstanschauung des Subjekts. Von der Definition der Zeit als lex animi aus ist sowohl der Gedanke der objektiven Realität der Zeit als auch die Vorstellung, die Zeit sei Abstraktionsbegriff, widerlegbar. Durch seine Zeitdefinition also will
85 F. Delekat, Immanuel Kant, 19693, 62 86 Vgl. die Schrift Kants, Über das Mielingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: Werkausgabe, Band 9,1983 5 ,105ff. 87 Kant, De mundi, 42; "sondern eine subjektive, durch die Natur des Geistes notwendige Bedingung, beliebige Sinnendinge nach einem bestimmten Gesetz miteinander zusammenzuordnen" (nach Reich)
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Kant, historisch gesehen, einen Mittelweg zwischen Newton und Leibniz gehen. Der Irrtum in der die Position von Leibniz kennzeichnenden Auffassung der Zeit als eines "abstractum reale"88 zeigt sich in dreierlei Weise. Die Definition ist selbst zirkelhaft, wenn sie die Zeit als "a successione statuum internorum" Abstrahiertes denkt.89 Denn die Vorstellung der Sukzession setzt die Zeitvorstellung schon voraus. Zum anderen kann jene Auffassung der Zeit das Phänomen der Gleichzeitigkeit nicht denken, das hingegen durch die Bestimmung der Zeit als lex animi eine plausible Erklärung findet. Denn als lex animi entspringt die Vorstellung der Zeit einer ursprünglichen Anschauung bzw. ist dieser intuitus purus. Darin aber ist die Zeit als ursprüngliche und gegebene Vorstellung Bedingung jeder konkreten Zeitbestimmung. Und schließlich verwirrt diese Zeitbestimmung, die Leibniz und seine Anhänger vornahmen, "omnem sanae rationis usum"90, indem sie die Zeit vom Phänomen der Bewegung her zu bestimmen sucht und damit die 'certitudo regularum' in bezug auf die sinnliche Erkenntnis aufhebt, die allein in der regelhaften Tätigkeit des Subjekts zu sehen ist. Der entscheidende Einwand Kants gegen die Bestimmung der Zeit als "obiectivum aliquid et reale"91 wird an späterer Stelle diskutiert werden; er geht dahin, daß diese Bestimmung den Gottesgedanken und den Gedanken der Freiheit in unauflösliche Schwierigkeiten bringt. Die Definition der Zeit als lex animi aber ist noch in einer letzten Hinsicht entscheidend. Durch diese Definition nämlich fungiert die Zeitvorstellung als Prinzip jeglicher Anschauung im Vollzug der konkreten Anschauung selbst. Die Zeit ist damit keine angeborene Anschauung, sondern die Funktion des Geistes, Erscheinungen in eine Ordnung zu bringen. Im Anschluß an die referierten Darlegungen Kants zum Begriff der Zeit als lex animi erhebt Kant den Anspruch, das Wesen der Zeit damit hinreichend erklärt zu haben. "Tantum vero abest, ut quis unquam temporis conception adhoc rationis ope aliunde deducat et explicet ,..".92 Zum Schluß seines Gedankenganges wehrt sich Kant gegen den möglichen Vorwurf, mit seiner Bestimmung der Zeit als Gesetz des Geistes jene als bloße Idee, der keine Realität zukomme, abgetan zu haben. Sicher macht die Bestimmung der Zeit, wie Kant sie vornimmt, diese ontologisch
88 Vgl. aaO. 44 89 Ebd. 90 Ebd. 91 AaO. 42 92 AaO. 44; "Es ist aber so abwegig, daß jemand den Begriff der Zeit noch mit Hilfe der Vernunft irgendwo anders her ableitet und erklärt" (nach Reich)
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zu einem 'ens imaginarium'93; aber insofern sie Bedingung des anschaulichen Vorstellens ist, ist sie auch ein 'conceptas verissimus'.94 Denn der Begriff der Zeit enthält die allgemeine Form aller Erscheinungen. Mithin ist die Gegenständlichkeit der Dinge und damit ihre Bestimmung als Objekte ohne die Vorstellung der Zeit nicht denkbar. "Tempus itaque est principium formale mundi sensibilis absolute primum."95
4. Die theologischen Motive Kants für die Ablehnung der absoluten Realität der Zeit oder: Der 'rechte' Zeitbegriff als Bedingung der Möglichkeit einer rationalen Theologie In Sectio IV der Dissertation widmet sich Kant entsprechend zu der Thematik von Sectio ΠΙ den Prinzipien der Erkenntnis des 'mundus intelligibilis'. Die Andersartigkeit der intellektuellen Erkenntnisse im Vergleich zu den sinnlichen Erkenntnissen war von Kant bekanntlich seit den 'Träumen eines Geistersehers' vehement betont worden. Das hatte Kant in seiner Dissertation zu der These von dem dissensus zweier unterschiedlicher Erkenntnisvermögen geführt. Die Herausarbeitung der Prinzipien der intellektuellen Erkenntnisse wird dann in Sectio V durch die Forderung an die Methode einer jeden künftigen Metaphysik ergänzt, die Prinzipien der beiden Erkenntnisvermögen in ihrer Unvereinbarkeit zu beachten und eine Grenzüberschreitung zu verhindern.96 Die Herausarbeitung der foimalen Prinzipien der Sinnlichkeit, so beginnt Kant den nun zu analysierenden Abschnitt IV, hat wohl zur Erklärung der möglichen Einheit des sinnlich Gegebenen geführt. Die Frage aber, auf welchem Grund die Relation aller Substanzen, die die Welt ausmachen und in Raum und Zeit zur Einheit einer Erfahrung zusammengefügt werden können, überhaupt denkbar und möglich ist, - diese Frage ist noch offen. Die Beantwortung dieser Frage aber fällt in die Zuständigkeit des reinen Verstandes. "In hoc itaque cardo vertitur quaestionis de principio formae mundi intelligibilis, ut pateat, quoniam pacto possibile sit, ut plures substantiae in mutuo sint commercio et hac ratione pertineant ad idem totum,
93 94 95 96
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Vgl. aaO. 46 AaO. 46 Ebd.; "Die Zeit ist also ein absolut erstes formales Prinzip der Sinnenwelt" (nach Reich) Vgl. besonders aaO. 76ff.
quod dicitur mundus."97 Der mögliche Begriff der Welt als der Gemeinschaft aller Substanzen, der Begriff des 'totum syntheticum' wird durch den Hinweis auf Raum und Zeit als die Bedingungen der Einheit der Gegenstände als Erscheinungen nicht erreicht. Es bedarf vielmehr des Aufweises eines besonderen Grundes, von dem aus die reale Wechselwirkung der Substanzen in der Welt einsichtig zu machen ist. Die bloße Existenz der Substanzen erklärt diese Wechselwirkungen noch nicht. Erst mit einem solchen Nachweis aber ist der mögliche Begriff einer Ganzheit und Einheit der Welt erreicht.98 Die §§ 18-20 sollen nun zeigen, daß das gesetzte 'principium formae mundi intelligibilis' nur in einer 'außerweltlichen Substanz' ("ens extramundanum"99) gefunden werden kann. Der Beweisgang dazu vollzieht sich folgendermaßen: Es muß vorausgesetzt werden, daß die Welt als totalitas alles Seienden nicht als Wechselwirkung notwendiger Substanzen gedacht werden darf. "Totum e substantiis necessariis est impossibile."100 Denn notwendige Substanzen sind dadurch bestimmt, daß sie unabhängig von anderen Substanzen Bestand haben. Daraus läßt sich folgern: "Totum itaque substantiarum est totum contingentium, et mundus, per suam essentiam, meris constat contingentibus."101 Nun bedarf es aber eines besonderen Grundes, der die Relationen der Substanzen, die die Welt 'bilden', erklärbar macht. Eine Substanz also, die.als Grund aller Wechselwirkungen der nicht-notwendigen Substanzen vorgestellt wird, muß zugleich als notwendige Substanz, die in keinen Relationen steht, und als ursächliche im Blick auf die Welt gedacht werden. "Causa itaque mundi est ens extramundanum, adeoque est non est anima mundi, nec praesentia ipsius in mundo est localis, sed virtualis."102 Um des Begriffs der Einheit der Welt willen muß die notwendige Substanz ferner als einzig begriffen werden. Denn gesetzt, die Substanzen, die die Welt 'bilden', hingen von mehreren verschiedenen notwendigen Substanzen ab, so könnten die Wechselwirkungen der Substanzen
97 AaO. 62; "Hierum also dreht sich der Angelpunkt der Frage nach dem Prinzip der Verstandeswelt, daß erhelle, auf welche Weise es möglich ist, daß mehrere Substanzen in einer wechselseitigen Gemeinschaft stehen und auf Grund davon zu einem und demselben Ganzen gehören, das man die Welt nennt." (nach Reich) 98 Vgl. die Argumentation in § 17, aaO. 64 99 AaO. 66 100 AaO. 64 101 AaO. 66; "Ein Ganzes von Substanzen ist also ein Ganzes von zufällig existierenden Wesen, und die Welt besteht ihrem Wesen nach aus lauter zufällig existierenden Dingen." 102 Ebd.; "Die Ursache der Welt ist also ein außerweltliches Wesen, daher auch nicht die Seele der Welt, und ihre Gegenwärtigkeit in der Welt ist nicht eine räumliche, sondern rein dynamische." (nach Reich)
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nicht mehr unter eine Regelhaftigkeit gebracht werden; weil nämlich ihre ursächlichen Substanzen als notwendige nicht in Wechselwirkung stehen würden. "Ergo UNITAS in coniunctione substantiarum universi est consectarium dependentiae omnium ab uno."m Die Vorstellung der möglichen Einheit der Welt also zieht notwendig den Gedanken der Einheit und Einzigkeit der Weltursache nach sich. Kant führt damit in seiner Schrift von 1770 in abgewandelter Form den Gottesbeweis 'ex possibile et necessario', wie er bei Thomas klassisch formuliert ist, vor.104 Von besonderem Interesse aber ist nun, daß Kant im weiteren Fortgang gleichsam einen Umkehrschluß durchzuführen versucht. Von einem Umkehrschluß läßt sich insofern sprechen, als Kant im folgenden versucht, die eine und einzige notwendige Substanz in ihrer konkreten Wirkung auf die nicht-notwendigen Substanzen der Welt als solche auszuweisen. "Si, quemadmodum a dato mundo ad causam omnium ipsius partium unicam valet consequentia, ita etiam vice versa (!) a data causa communi omnibus ad nexum horum inter se, adeoque ad forman mundi similiter procederet argumentado (quanquam fateor hanc conclusionem mihi non aeque perspicuam videri), nexus substantiarum primitivus non foret contingens, sed per sustentationem omnium a principio communi necessarius, adeoque harmonía proficiscens ab ipsa earum subsistentia, fondata in causa communi, procederet secundum regulas communes."105 Die Bedeutung dieser Argumentation Kants mag die Ausführlichkeit der Zitation rechtfertigen. Denn die Umkehrung des Gottesbeweises 'ex possibile et necessario' bringt die Erweiterung des Schöpfungsbegriffs durch den Gedanken der Erhaltung106 und macht den Begriff der Welt als einer 'harmonía stabilita' möglich.107 Das hat nun auch Auswirkungen auf die 103 Ebd.; "Also ist die Einheit in der Veiknüpfung der Substanzen des Weltalls eine Folge der Abhängigkeit aller von Einem", (nach Reich) 104 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica I, qu2 a3; vgl. auch Kants Schrift, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in: Werke, Band 2, 621ff.,hier667ff. 105 Kant, De mundi, 68; "Wenn so, wie der Schluß von einer gegebenen Welt auf eine einzige Ursache aller ihrer Teile gilt, so auch umgekehrt von der gegebenen gemeinsamen Ursache aller Dinge auf ihre Veiknüpfung untereinander und also auf die Weltform der Schluß gälte (obwohl ich gestehe, daß mir dieser Schluß nicht ebenso deutlich zu sein scheint), dann würde die ursprüngliche Veiknüpfung der Substanzen nicht zufällig sein, sondern vermöge der Ertialtung aller durch ein gemeinsames Prinzip notwendig, und so würde die Harmonie, die sich aus ihrer auf eine gemeinsame Ursache gegründeten Subsistenz ergibt, nach schlechthin allgemeinen Gesetzen zustande kommen." (nach Reich) 106 Vgl. schon Kant in seiner Schrift 'Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels' von 1755, in: Weike, aaO., Band 1,334ff. 107 Vgl. Kant, De mundi, 68; der Anschluß Kants an Leibniz ist offensichtlich
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mögliche Verbindung zwischen der Einheit des mundus intelligibilis, die in der Einheit der Weltursache liegt, und der Einheit des mundus sensibilis, wie sie in den Anschauungen von Raum und Zeit vorliegt. Kant selbst nennt diesen Versuch, die Beziehung zwischen der Einheit der intelligiblen Welt und der Einheit der sinnlichen Welt ausdrücklich zu machen, einen Versuch, der die Grenzen der apodiktischen Gewißheit des Denkens zwar übersteigt; gleichwohl aber lohne die Mühe doch. Denn dieser Versuch führt auf die Durchleuchtung der Gründe für die Regelhaftigkeit der sinnlichen Anschauungen, die in deren Formen faktisch vorliegen.108 Es geht hier also für Kant um nicht weniger als die Aufdeckung der Gründe dafür, daß sich alle sinnlichen Anschauungen unter die Prinzipien des Raumes und der Zeit überhaupt vereinigen lassen. Daß der mundus sensibilis und der mundus intelligibilis tatsächlich zusammen die Einheit der Welt ausmachen, das soll nun bewiesen werden. Kant läßt keinen Zweifel darüber, wie er die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Prinzipien der intelligiblen Welt und denen der sinnlichen Welt zu beantworten gedenkt. "Nempe mens humana non afficitur ab externis, mundusque ipsius adspectui non partet in infinitum, nisi quantenus ipsa cum omnibus aliis sustentatur ab eadem vi infinita unius."109 So wie der Schluß von der gegebenen Welt auf die eine und notwendige Ursache gilt, so wird von der notwendigen Ursache aller Dinge auf die notwendige Verknüpfimg alles in der menschlichen Anschauung Gegebenen geschlossen. So erweisen sich konkret die die Einheit des Mannigfaltigen ermöglichenden Formen der menschlichen Anschauung als Wirkung der göttlichen Welterhaltung. Ja, es läßt sich noch genauer formulieren: die Welterhaltung Gottes vermittelt sich durch die einigenden Funktionen von Raum und Zeit. So nennt Kant den Raum, "quod es condicio universalis et necessaria compraesentiae omnium sensitive cognita", die Allgegenwart in der Erscheinung (omnipraesentia phaenomenon).110 Ebenso formuliert Kant im Blick auf die Zeit. Die Vorstellung der Zeit enthält, insofern sie jeder konkreten Zeitbestimmung und Zeitwahrnehmung voraufgeht, die "possibilitas mutationum et successionum omni-
108 Die Aufdeckung dieser Gründe erfolgt in Sectio IV - und zwar in dem abschließenden 'Scholion'; vgl. aaO. 70/72 109 AaO. 70; "nämlich der menschliche Geist wird von äußeren Dingen nur dann beeinflußt und die Welt steht seiner Anschauung nur dann ins Unendliche offen, insofern er zusammen mit allen anderen Dingen von einer und derselben unendlichen Kraft eines einzigen Wesens erhalten wird." (nach Reich) 110 AaO. 72; "weil er die sinnlich erkannte allgemeine und notwendige Bedingung des einander Gegenwärtigseihs von allem ist" (nach Reich) 111 Ebd.
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um".111 Nun beruht aber die Möglichkeit jeglicher Veränderung und deren Bestimmung auf der Vorstellung eines Beharrlichen, an dem die Veränderung bestimmt wird. Dauer wiederum ist nur denkbar, wenn dasjenige, dessen Zustände fließen, "sustentetur ab alio".112 So folgt, daß in der Vorstellung der Zeit als unendlicher gegebener Größe die Zeit als 'Ewigkeit der allgemeinen Ursache in der Erscheinung' ("causae generalis aeternitas phaenomenon") gedacht wird.113 Diese Bestimmung der Zeit aber besagt mehr, als daß die Zeit darin als Inbegriff aller Veränderungen gedacht wird. Die Zeit wird damit vielmehr als Medium der göttlichen Gegenwart in der Welt vorgestellt, als Medium der die Welt erhaltenden Gegenwart Gottes.114 Hier nähert sich Kant also sichtbar der Bestimmung der Zeit als reiner Dauer und ihrer 'metaphysischen Beurteilung' als des 'sensorium Dei', wie sie bei Newton und Clarke vorliegen. Es ist die Einsicht in die Apriorität der Zeit und in ihre damit verbundene Bestimmtheit als Inbegriff aller Veränderungen in der Welt, die Kant hier dazu führt, die Zeit in die Nähe eines Gottesattributes zu rücken. Kant schreckt aber vor dieser letzten Konsequenz, die Zeit als Medium der Wirkung Gottes in der Welt zu kennzeichnen, zurück, indem er die Möglichkeit jenes Umkehrschlusses von der einen Weltursache auf die Formen der Sinnenwelt einschränkt. Jener Schluß, so sagt Kant, übersteigt letztlich die Schranken der menschlichen Vernunft. Der von Kant gefürchtete Mystizismus Malebranches, der in Raum und Zeit die Formen gesehen hat, durch die Gott die Dinge der Welt ansieht, ist bei der vollen Inkraftsetzung jenes Umkehrschlusses nicht mehr fem.115 Die Sorge vor pantheistischen Konsequenzen des Gedankens, Gottes unendliche Schöpfertätigkeit vermittle sich selbst über den unendlichen Raum und die unendliche Zeit, hält Kant davon ab, diesem Umkehrschluß eine ähnliche Gültigkeit zuzumessen wie dem Schluß von den zufälligen Weltsubstanzen auf die notwendige und extramundane Weltursache. Aber trotz aller Einschränkungen Kants kann dieses die Sectio IV abschließende 'Scholion' zeigen, daß Kant in der Vorordnung des Unendli-
112 Ebd. 113 Ebd.; die Argumentation kann folgendermaßen formalisiert werden: (OS) Möglichkeit der Veränderung -> Dauer (US) Dauer -> 'sustentetur ab alio' (C) Mögl. d. Veränd. -> sust. ab alio 114 Diese Deutung ist zwingend, insofern Kant den Begriff der 'causa generalis' auf die Weltursache eingeschränkt hatte; vgl. auch Wohlfart, aaO. 146f. 115 Vgl. Kant, De mundi, 72; zu Malebranche vgl. Cassirer, aaO. 492ff. und H. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters, 19817, 6Iff.
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chen gegenüber dem Endlichen in den Anschauungsformen in der Dissertation noch theologische Implikationen zu sehen vermocht hat. Die Unendlichkeit von Raum und Zeit gilt ihm jedenfalls in dieser Schrift noch als Implikation der 'unendlichen Kraft' des die Welt erhaltenden Gottes.116 Ein kurzer Blick auf Sectio V kann diesen Eindruck noch erhärten. Kant handelt in diesem letzte Abschnitt seiner Dissertation von der Methode der Metaphysik. Die Metaphysik wird von Kant dabei als eine solche Wissenschaft vorgestellt, in der der Gebrauch des Verstandes im Blick auf die Prinzipien dieser Wissenschaft selbst real ist. D.h. die Grundlagen und Grundbegriffe der Metaphysik werden durch den Verstandesgebrauch selbst erzeugt und bestimmt.117 Der richtige Verstandesgebrauch also zeugt für die Gültigkeit der Prinzipien dieser Wissenschaft. Deshalb ist die wesentliche Methode der Metaphysik darin zu sehen, den Einfluß der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnisse aufeinander zu verhindern und als Quelle falscher Schlüsse aufzudecken. Denn, so betont Kant, der häufigste Fehler auf dem Gebiet der Metaphysik liegt in dem Versuch der Erweiterung der Sinnlichkeit hinaus auf den Bereich der 'Dinge an sich'. So stellt Kant folgendes 'principium reductionis' auf: "si de concepta quocunque intellectual! generaliter quiquam praedicatur, quod pertinet ad respectas spatii atque temporis: obiective non est enuntiandum et non dénotât nisi condicionem, sine qua conceptas datas sensitive cognoscibilis non est."118 Nach dem Kriterium dieses 'principium reductionis' erweist sich z.B. das Axiom, daß "quicquid est, est alicubi et aliquando"119, als ein erschlichenes Axiom. Denn in diesem Axiom werden alle Dinge, also auch die Dinge an sich, den Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen. Diese fungieren aber nur als Prinzipien der Gegenstände der Sinnlichkeit. Aus diesem Erschleichungsfehler aber erwachsen nach Kant die gleichsam klassischen 'Probleme' der Metaphysik - die Frage nach dem Ort der Seele, die Frage nach dem Ort der immateriellen Substanzen überhaupt und auch die Frage nach ihrer zeitlichen Bestimmtheit. Die aporetische Struktur jener Fragestellungen liegt in der Verwischung der sinnlichen mit den intellektuellen Prinzipien. Die Frage nach der 'Gegenwart' der immateriellen Substanzen in der Welt der Erscheinung - so die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt - ist aber
116 Zum Begriff der Unendlichkeit vgl. die Ausführungen unten S. lOOf. 117 Vgl. Kant, De mundi, 74 118 AaO. 80; "Wenn von irgendeinem intellektuellen Begriff etwas allgemein ausgesagt wird, was zu den Verhältnissen des Raumes und der Zeit gehört, so darf es nicht objektiv ausgesprochen werden und bedeutet nur die Bedingung, ohne die der gegebene Begriff nicht sinnlich erkennbar ist." (nach Reich) 119 AaO. 82
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für die Vernunft nach Kant nun kein Geheimnis mehr. Denn die Wirkung der immateriellen Substanzen auf die Körper ist "virtualis, non localis" zu denken.120 Darin verbirgt sich der Grund dafür, warum Kant den Umkehrschluß von der einen Weltursache auf die Form der Welt, wie sie dem menschlichen Verstand vorliegt, und damit den Gedanken der Vermittlung der Wirkung des unendlich schöpferischen Gottes über Raum und Zeit, strikt ablehnt. Nun wirkt sich jenes 'erschlichene Axiom', daß alles, was ist, in Raum und Zeit ist, natürlich auch in bezug auf die Gotteslehre aus. Jene, die dieses Axiom auch in bezug auf die Gotteslehre gelten lassen, "praesentiam Dei sibi fingunt localem, Deumque mundo involvunt, tanquam infinito spatio simul comprehensum".121 Nun ist aber der Gedanke der Gegenwart eines Subjektes an mehreren Orten zugleich schlechthin unmöglich; denn dieser Gedanke impliziert die Teilbarkeit dessen, der an vielen Orten zugleich ist, weil "loca diversa sunt extra se invicem".122 Das also macht den Gedanken der räumlichen Gegenwart des göttlichen Wesens in der Welt letztlich unmöglich. Jenes erschlichene Axiom aber wirkt sich auch hinsichtlich der möglichen zeitlichen Bestimmung der immateriellen Substanzen aus. So führt jenes Axiom zur Frage nach dem Zeitpunkt der Erschaffung der Welt oder zur Frage nach der Tätigkeit Gottes vor der Schöpfung. So wird Gott als der Bedingung der Zeit unterworfen gedacht. Damit aber degeneriert der Gedanke der Ewigkeit Gottes zu einer Vorstellung von der unendlichen Zeitfolge, in der Gott existiert. Der Gedanke der Ewigkeit Gottes verkommt zu der Vorstellung der unendlichen zeitlichen Ausdehnung seines Seins. Darin aber wird letztlich die Göttlichkeit Gottes selbst 'aufgegeben'. "Quae omnia notione temporis probe perspecta fumi instar evanescunt."123 Kant stellt also abschließend fest: die Einsicht in den Anschauungscharakter der Zeit und ihre Bestimmung als lex mentis berücksichtigen nicht nur die 'natürlichen' Grenzen menschlichen Eikennens, sondern begründen darüber hinaus auch insofern eine ' rationale Theologie ', als sie die Transzendenz Gottes im Gegensatz zu der Behauptung der absoluten Realität der Zeit denkbar machen.
120 AaO. 84 121 AaO. 84f.; "malen sich die Gegenwart Gottes als eine örtliche und schließen Gott in die Welt ein, wie wenn er von dem unendlichen Raum zugleich umfaßt würde"; hier spielt Kant auf die Argumentation Clarkes an, der über den Begriff der Unendlichkeit des Raumes die Gegenwart Gottes in der Welt denkbar machen will; s.u. S. 86f. 122 Kant, De mundi, 86; ähnlich hatte Leibniz gegen Clarke argumentiert; s.u. S. 86ff. 123 Kant, De mundi, 86; "Dies alles verschwindet wie Rauch, wenn man den Begriff der Zeit richtig durchschaut hat."
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Die kurze Analyse der Dissertation vermochte zu zeigen, daß Kant die Möglichkeit einer Verbindung von Gott und Zeit vermöge der Bestimmung der Zeit als der allgemeinen Bedingung aller Veränderungen in der Welt noch ernsthaft vorschwebte. Nicht zuletzt wegen seines Interesses an dem Gedanken der Transzendenz Gottes lehnte er aber die Möglichkeit, in der einigen und unendlichen Zeit das Medium der Wirksamkeit des ewigen Gottes zu sehen, ab. Die Gedankenführung der Dissertation zeigte allerdings, daß Kant die theologischen Implikationen in der Vorordnung des Unendlichen gegenüber dem Endlichen im Zusammenhang der Zeitvorstellung ernsthaft diskutierte. Das erwies sich nicht zuletzt daran, daß Kant die Bestimmung der Zeit als einer reinen Anschauung in Absetzung von den Vernunftbegriffen noch nicht völlig geklärt schien. Die angedeutete Unsicherheit Kants in der Differenzierung zwischen reinen Anschauungen und Vernunftbegriffen auch im Zusammenhang der großen Kritik zeigt, daß diese Unstimmigkeit auch noch die Überlegungen der voll entfalteten kritischen Philosophie bestimmt.
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Π. Die Kontroverse Clarke Leibniz als Hintergrund der Kantischen Zeitbestimmung Die Heranziehung der berühmten Kontroverse zwischen S. Clarke und Leibniz an dieser Stelle begründet sich beinahe von selbst.1 Jener Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz aus den Jahren 1715/1716 bietet nämlich nicht nur das hervorragende Beispiel eines literarischen Streites und war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts "in jedermanns Händen"2, sondern lag Kant bei der Abfassung seiner Dissertation ohne Zweifel vor. Darüber hinaus handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung "um keinen persönlichen Zwist der Parteien ..., sondern um eine Schranke, die die sachlichen Hauptgebiete und -richtungen der wissenschaftlichen Kultur voneinander scheidet".3 Es kann zudem kein Zweifel darüber bestehen, daß Kant diese Streitschriften zur Zeit der Abfassung seiner Dissertation nochmals eingehend studiert hat.4 Die vielen Anspielungen in der Dissertation auf diese 'klassische' Auseinandersetzung zeugen dafür.5 Es kann uns hier nun nicht darum gehen, eine ausführliche und vollständige Darstellung des Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke zu geben. Für uns kommt es lediglich darauf an, auf dem Hintergrund jener Streitschriften die spezifisch Kantische Position etwas deutlicher zu machen, da Kant nämlich einen mittleren Weg zwischen Clarke und Leibniz zu gehen versucht. Dabei wird sich zeigen, daß Kant in der Bestimmung der 'Affektionen' der Zeit, - wie er sich in der Dissertation ausdrückte - weitgehend an Clarke und Newton, dem Lehrer Clarkes, orientiert ist, die theologischen Implikationen des Raum- und Zeitbegriffs, wie sie bei Newton noch thematisch wurden, aber in der Kritik der reinen Vernunft dann gänzlich ausblendet. Diese theologischen Implikationen des Zeit- wie des Raumbegriffs erwachsen bei Newton und besonders bei dem Theologen Clarke aus dem Gedanken der Unendlichkeit der Zeit. Vermöge ihrer Unendlichkeit sind Raum und Zeit für Newton und Clarke Implikationen der Unendlichkeit Gottes. Anhand der Dissertation Kants konnte deutlich gemacht werden, daß Kant die Zeit als Prinzip der Form der Sinnenwelt nicht nur in der Nähe 1 Vgl. H.G. Alexander, The Leibniz-Clarke Correspondence, 1956, IXff. und die einschlägigen Darstellungen dieses literarischen Streites bei A. Koyré, From the Gosed World to The Infinite Universe, 1957; Cassirer, aaO. sowie W. Pannenberg, Gott und die Natur, in: ThPh 58 (1983), 481 ff. 2 Cassirer, aaO. 471 3 Ebd. 4 Vgl. Vaihinger, aaO. 436 und 530f.; dazu F. Delekat, Immanuel Kant, 1963, 54 5 Besonders deutlich sind sie in dem Scholion von Sectio IV, in § 27 der Sectio V und in Sectio III; dazu vgl. den folgenden Text
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zu den Vernunftbegriffen sieht, sondern auch den Gedanken der unendlichen Zeit als das Medium der Gegenwart Gottes in der Welt zumindest in diesem Stadium seines Denkens noch positiv rezipiert. 1. Der Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz Einige kurze Bemerkungen sind hier vorauszuschicken. Es wird erstens, wie schon betont, keine 'vollständige' Darstellung dieses Briefwechsel geben können. Sondern wir haben uns darauf zu beschränken, die für den Fortgang unserer Arbeit entscheidenden Argumentationsgänge darzustellen. Mithin werden wir uns thematisch auf den Zusammenhang zwischen 'Zeitbegriff' und 'Gottesgedanke' konzentrieren. Zweitens wird nicht ausdiskutiert werden können, inwieweit die Darstellungen Clarkes als autorisierte Vertretung der Position Newtons anzusehen sind.6 A. Koyré sieht in Clarke einen durchaus autorisierten Interpreten Newtons und ist sich zugleich sicher, "that Clarke communicated to Newton both: Leibniz's letters and his own replies to them".7 E. Cassirer aber, der hier nur stellvertretend für andere Autoren angeführt wird, urteilt etwas vorsichtiger und sieht eine deutliche Interessenverschiebung zwischen Newton und seinen Schülern. Danach treten die 'metaphysischen' Überlegungen Newtons, vor allem seine Ausführungen zur Beziehung zwischen Gottesglaube und Welterklärung, für die Schüler Newtons in den Mittelpunkt der Newtonschen Naturphilosophie, während sie für Newton - so Cassirer - in der Entwicklung seiner physikalischen Grundbegriffe "mehr und mehr" zurücktraten.9 So ist beispielsweise die Definition der Zeit als Eigenschaft Gottes, die bei Clarke auftritt und entscheidende Bedeutung gewinnt, bei Newton selbst nicht zu finden. Und schließlich ist vorweg zu bemerken, daß die Ausführungen Newtons, auf die sich Clarke jeweils implizit beruft, von uns nur an entscheidenden Stellen zum Vergleich herangezogen werden. Schon der erste Brief, den Leibniz an eine Verehrerin, die Prinzessin von Wales, geschrieben hat und durch den der Streit 'in Gang kam', bei dem es aber in der Tat wohl um mehr ging als die 'bloße' Sachauseinandersetzung10, thematisiert diejenigen Streitpunkte, die bis zum Ende der Auseinandersetzung strittig bleiben. Es beginnt damit, daß Leibniz Newton als einen 'verkappten' Materialisten
6 Dazu vgl. Koyré, aaO. 207 (Anm. 3) 7 Koyré, aaO. 301; so auch Pannenberg, aaO. 492 9 Cassirer, aaO. 446f. 10 Zu den persönlichen Animositäten zwischen Leibniz und Clarice/Newton vgl. Koyré, aaO. 235ff.
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vorstellt, weil er nämlich Gott zu einem "même corporel"11 degradiere. Diesen Vorwurf konkretisiert Leibniz durch den Hinweis auf den Raumund Zeitbegriff Newtons. Denn, so betont Leibniz, Newton denke den Raum und auch die Zeit als Wahrnehmungsorgan Gottes, als 'sensorium Dei'. "Monsieur Newton dit que l'Espace est l'organe dont Dieu se sert pour sentir les choses."12 Dieser Gedanke aber führt nach Leibniz notwendig zur 'Aufhebung' des Gottesglaubens und eines möglichen Gottesbegriffs. Darüber hinaus läßt die Auffassung von dem Wirken Gottes bei Newton nach Meinung Leibniz' nichts an Merkwürdigkeiten fehlen. So wird Gott nach jener Lehre geradezu genötigt, wie ein schlechter Uhrmacher "de temps en temps"13 das durch ihn Geschaffene zu reparieren. Auch der Gedanke also von der Notwendigkeit eines ständigen Eingreifens des Weltschöpfers in das Weltgeschehen ist nach Leibniz kein Anlaß dafür, in die Weisheit der erhaltenden Schöpferkraft Gottes besonderes Vertrauen zu setzen. Beide Vorwürfe, so ist deutlich, finden ihren gemeinsamen Nenner in der Behauptung, Newton verendliche das Sein Gottes, indem er ihm Wahrnehmungsorgane 'anhänge' und ihn in die Rolle eines unvollkommenen Ingenieurs dränge. Leibniz setzt schon in diesem ersten Brief gegen die Annahme eines ständigen Eingreifens Gottes in das Weltgeschehen seinen berühmt gewordenen Gedanken von der "ordre préétabli"14, den Gedanken der prästabilisierten Harmonie, die der Welt mit der Schöpfung gleichsam eingeprägt ist und kein weiteres Eingreifen Gottes verlangt. In seiner Replik auf diesen ein wenig herablassend und arrogant wirkenden Brief, aus dem nicht ersichtlich wird, inwieweit eine Auseinandersetzung mit jenem merkwürdigen Herrn Newton noch der Mühe wert sein sollte, betont Clarke denn auch, daß Leibniz in der Art seiner Kritik Newton nicht habe gerecht werden können. Exemplarisch macht Clarke dies anhand des Begriffs 'sensorium Dei' deutlich. Clarke stellt erst einmal klar: "Sir Isaac Newton doth not say, that space is the organ which God makes use of to perceive things by".15 Leibniz, so Clarke, habe den Ausdruck 'sensorium' als Wahrnehmungsorgan mißverstanden. Darüber hinaus habe Newton auch niemals behauptet, Gott bedürfe eines Mediums, durch das er das Weltgeschehen allererst auf- und 11 G.W. Leibniz, Weilcausgabe (Hrsg. C.I. Gerhardt), Band VII, 1961, 352 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Alexander, aaO. 12 (Der Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz wird im folgenden so wie hier zitiert)
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wahrnehmen kann. Vielmehr, so der empörte Clarke, habe Newton immer wieder betont, daß Gott "perceives all things by his immediate presence to them, ..., without the intervention or assistance of any organ or medium whatsoever".16 Der Hinweis auf den Raum (und auch die Zeit) als 'sensorium Dei' sei vielmehr als Verdeutlichung der göttlichen Wirkungsweise im Blick auf die Welt eingeführt. Der Begriff 'sensorium' ist also nach Clarke bei Newton analog - "he illustrates it by a similitude"17 - , nicht aber univok gebraucht. Diese Analogie aber besagt, daß Gott "sees all things, by his immediate presence to them"; so wie "the mind of man, by its immediate presence to the pictures or images of things... sees those pictures as if they were the things themselves".18 Gerade aber dieser Vergleich macht nach Clarke deutlich, daß Gott den Dingen der Welt selbst unmittelbar gegenwärtig und nicht auf das Medium eines Wahmehmungsorgans angewiesen ist. "And this similitude" - bei umso größerer Unterschiedenheit - "is all that he (sc. Newton) means, when he supposes infinite space to be (as it were) the sensorium of the Omnipresent Being."19 Dem zweiten von Leibniz erhobenen Vorwurf gegen Newton aber begegnet Clarke mit aller Leidenschaft; denn in diesem Punkt liegt sein eigentliches Interesse begründet. Die Annahme eines wiederholten Eingreifens des Weltschöpfers in den Lauf der Welt bedeutet nach Clarke gerade nicht eine Destruktion der göttlichen Vollkommenheiten, sondern ihre wahre Wertschätzung. Gott wirkt nämlich nicht in bezug auf die Welt wie ein Uhrmacher, der die Uhren so anfertigen muß, daß sie ohne sein ständiges Eingreifen ihren Dienst tun. Sondern man gibt Gott gerade erst dann die Ehre, wenn man ihn als 'preserver' 20 der Welt in ständigem Bezug auf das Weltgeschehen befindlich vorstellt; "... and consequently 'tis not a diminuation, but the true glory of his workmanship, that nothing is done without his continual government and inspection".21 Gerade der Gedanke "of the world's being a great machine, going on without the interposition of God"22 ist es, der seinerseits zu einem platten Materialismus führen muß, weil er damit die Vorstellung einer die Welt auch erhaltenden immateriellen Weltursache letztlich aufgibt und "God's
16 17 18 19 20 21 22 23
Alexander, aaO. 13 Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Alexander, aaO. 14 Ebd. Ebd. Ebd.
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government in reality out of the world"23 verlegt. Damit geht Clarke sichtbar zum 'Gegenangriff' über, indem er Leibniz nun konkret vorwirft, daß "his doctrine does in effect exclude God out of the world".24 Exkurs: Theologische Implikationen des Zeitbegriffs bei Newton Bevor wir den Gedankenaustausch zwischen Clarke und Leibniz, dessen Thematik durch die ersten beiden kurzen Briefe schon in ihrer Gänze umrissen ist, weiterverfolgen, bedarf es eines kurzen Blickes auf diejenigen Ausführungen Newtons, die ganz offensichtlich im Hintergrund dieser Auseinandersetzung stehen. Es handelt sich dabei um das Scholium zur achten Definition aus Buch I der 'Prinzipien', um das berühmte 'Scholium Generale', das Newton der zweiten Auflage seiner 'Prinzipien' hinzugefügt hat, und um einige Passagen aus der Optik. Gegen Ende der 'Query '28 seiner Optik, die sich mit der Widerlegung der 'Wellentheorie' des Lichtes befaßt, kommt Newton auf das 'Für und Wider' einer rein mechanischen Erklärung der Welt und der sie bestimmenden Bewegungsgesetze zu sprechen. Newton bestimmt dabei die Aufgabe "of natural philosophy" sehr modern dahingehend, "to argue from phaenomena without feigning hypotheses, and to deduce causes from effects, till we come to the very first cause, which certainly is not mechanical".25 Diese induktive Methode der Naturphilosophie hat Newton in seinen Prinzipien ausführlich dargelegt. 26 Die These von einer immateriellen Weltursache will Newton danach als Konsequenz aus der vorurteilsfreien Analyse der Phänomene verstanden wissen. So ist beispielsweise die Gültigkeit der Gravitationsgesetze ohne den Rückschluß auf eine immaterielle Ursache, die die 'Aufrechterhaltung' jener Gesetze ermöglicht, gar nicht vorstellbar. Es ist das zweckvolle Geschehen der Welt, das diesen Schluß auf eine Weltursache und einen 'Welterhalter' nach Newton zwingend macht.27 So endet Query 28 der Optik mit der Bemerkung Newtons, daß die Phänomene den Schluß auf die eine immaterielle Weltursache nahelegen: "... does it not appear from phaenomena that there is a Being incorporeal, living, intelligent, omnipresent, who in infinite space, as it were in his sensory, sees the things themselves intimately, and throughly perceives them, and comprehends them wholly by their immediate presence of himself ...".28 Diese Passage, auf die sich Clarke und Leibniz ganz offensichtlich gleichermaßen beziehen, also führt den Begriff des 'sensorium Dei' im Zusammenhang eines Beweisganges ein, der dem Gottesbeweis 'ex gubernatione rerum' 29 nahe kommt. Gleichwohl schränkt Newton diesen Beweisgang selbst gleich wieder ein, wenn er sagt, daß diese Argumentation "brings us not immediately to the knowledge of the first cause, yet it
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Ebd. I. Newton, Optics, zitiert nach Alexander, aaO., hier Quer 28, 173 Vgl. Cassirer, aaO. 442ff. und ders., Erkenntnisproblem, Band IV, 88ff. Vgl. dazu die Besprechung des 'General Scholium', s.u. S. 92ff. Alexander, aaO. 174 Thomas v.A., STH. I, qu2 a.3 Alexander, aaO. 174
brings us nearer to it, and on that account is to be highly valued".30 Es ist immer wieder darauf verwiesen worden, daß diese Ausführungen Newtons, die vor allem im Blick auf das 'Scholium Generale' noch näher zu betrachten sein werden, eine nicht unwesentliche Erklärung in der durchaus persönlichen Abneigung Newtons gegen ein rein mechanistisches Weltbild haben. Vor allem A. Koyré hat in seinen 'Newtonian Studies' dieses Motiv betont.31 Eine solche rein mechanistische Welterklärung, die Newton bei Descartes und seinen Schülern vertreten sah, führt nach Newton unweigerlich zum Atheismus. 32 Descartes sah eine 'Einflußmöglichkeit' Gottes auf das Weltgeschehen nur über die Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens, die er als Garanten für die Erhaltung der Massen dachte.33 "Aber dieselbe Unveränderlichkeit Gottes, die die Erhaltung der Körper in ihren Zuständen begründet, verwehrte es Descartes, die Veränderungen in der Welt auf Gott zurückzuführen ,..".34 Die Veränderungen in der Welt finden ihre Erklärung allein in der gegenseitigen Wirkung der Körper aufeinander. Mit dieser Erklärung wollte sich Newton nicht zufrieden geben, weil sie für ihn auf die Trennung zwischen Welterklärung und Gottesglaube hinauslief. Query 31 der Optik Newtons deutet nun den Gegenentwurf Newtons an. Denn Newton versucht dort zu verdeutlichen, wie der "everliving agent" der Welt als ihr Schöpfer die Welt erhält, wie er überhaupt Einfluß auf das Weltgeschehen nehmen kann.35 Dabei weist Newton erneut darauf hin, daß die 'laws of attraction' eben keine suffiziente Erklärung aller Veränderungen in der Welt liefern können, weil beispielsweise in der Planetenbewegung "some inconsiderable irregularities" auftreten, die immer weiter zunehmen "till this system wants a reformation". 36 Diese Regulierung der Unregelmäßigkeiten in der Planetenbewegung kann aber nach Newton nur durch das Eingreifen einer 'geistigen' Kraft erfolgen. "Such wonderful uniformity in the planetary system must be allowed the effect of a choice." 37 Auch die 'Entdeckung' gewisser Gesetzlichkeiten des Naturgeschehens also macht den Gedanken einer erhaltenden Ursache der Welt nicht überflüssig; weil die 'Gesetze' des Naturgeschehens sich eben nur als Näherungen an die vollständige Erklärung aller Veränderungen in der Welt deuten lassen. So kann sich Newton auch die "uniformity in the bodies of animals", die wohl beschrieben, aber kaum 'erklärt' werden kann, nicht anders denken, als daß sie "the effect of nothing else than the wisdom and skill of a powerful ever-living agent" ist, "who being in all places, is more able by his will to move the bodies within his boundless uniform sensorium, and thereby to form and reform the parts of the universe » 38
Diese Ausführungen will Newton aber nicht so verstanden wissen, als sei damit die Welt "as the body of God" 39 gedacht, derer Gott bedarf um der Wahrnehmung der Dinge und auch seiner selbst willen. Die Vorstellung, daß Gott gleichsam mittels eines
31 32 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. A. Koyré, Newtonian Studies, 1965, bes. 53ff. Vgl. Koyré, aaO. 93f. Vgl. Koyré, aaO. 70 und 75 Pannenberg, aaO. 485 Alexander, aaO. 181 AaO. 180 Ebd. AaO. 180f. AaO. 180
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'Sensoriums' die Dinge der Welt 'wahrnimmt' und in der Welt wirkt, darf natürlich nicht den Gedanken beeinträchtigen, daß Gott "an uniform Being, void of organs, members or parts" ist.40 Wie sich Gott als tätiger Erhalter der Welt erweist, ohne daß er dadurch notwendig als in dieser Beziehung zur Welt aufgehend vorgestellt wird, das versucht Newton nun im 'Scholium Generale' seiner 'Philosophiae Naturalis Principia Mathematica' zu zeigen. Das Problem also, das Newton zu 'lösen' hat, kann auch anders formuliert werden: es ist die Frage nach dem rechten Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Blick auf den 'Gottesgedanken'. Zu Beginn dieser 'Allgemeinen Erläuterung' argumentiert Newton ähnlich wie in der Optik. Auch hier steht der versuchte Nachweis am Anfang, daß die rein mechanische Erklärung der Bewegungsgesetze nicht ausreicht, um die Gründe für die Geltung dieser 'Gesetze' aufzudecken. "Et hi omnes motus regulares originem non habent ex causis mechanicis" 41 ; auch hier sieht Newton die letzte Erklärung für die Schönheiten und die Gesetzlichkeit der planetarischen Bewegungen in dem Ratschluß eines Weltschöpfers. "Elegantissima haecce solis, planetarum et cometarum compages non nisi Consilio et dominio ends intelligentis et potentis oriri potuit." 42 Nun bringt das berühmte Scholion gegenüber der Optik insofern einen 'Gedankenfortschritt', als Newton hier den 'Umkehrschluß' versucht. Er rezipiert nämlich nicht mehr nur den teleologischen Gottesbeweis, sondern versucht den Schöpfungsgedanken durch den der Erhaltung zu ergänzen. "Hie omnia regit non ut anima mundi, sed ut universorum dominus" 43 , so lautet nun der Grundsatz, den Newton erläutern möchte. Nur so wird auch dem Einwand zu begegnen sein, er neige in seiner 'Welterklärung' zum Pantheismus. Deshalb muß glaubwürdig gezeigt werden, daß Gott als dem Weltschöpfer der Bezug zur Welt wesentlich ist, und zugleich, daß er nicht gleichsam als 'Geist der Welt' in diesem Bezug aufgeht. "Deus summus est ens aeternum, infinitum, absolute perfectum"; gewiß, das ist wahr! Aber zugleich gilt, daß ein Gott ohne Herrschaftsbereich kein herrlicher und anbetungswürdiger Gott wäre. "Dicimus enim deus meus, deus vester, deus Israelis, deus deorum, et dominus dominonim". 44 Die Prädikate der Ewigkeit und Unendlichkeit sind wohl notwendige Prädikate des Gottesgedankens. Aber alle jene traditionellen Bestimmungen "relationem non habent ad servos".45 Deshalb ist es für Newton hinsichtlich des Gottesgedankens von primärer Bedeutung, Gott als den konkreten Herrn der Geschichte vorzustellen. "Dominatio ends spiritualis deum constituit ..." 4i . Nur der Gott, der wegen seiner konkreten Macht angebetet und verehrt wird, vermag sich auch als der allmächtige und ewige Gott zu erweisen. Die Attribute, die wir Gott beilegen, also entspringen dem Glauben an das machtvolle und gnädige Wirken Gottes in unserem Leben. "Durât semper, et adest ubique, et existendo semper et ubique,
40 AaO. 181 41 A. KoyréA.B. Cohen (Hrsg.), Isaac Newton's Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Band II, 1972, 760 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Newton, Prinzipien 761 46 Ebd. (Hervorhebung von mir)
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duratìonem et spatium constituit"47; also: weil wir Gott aus seinen Wirkungen als den erkennen, der ewig und überall ist, nur deshalb legen wir ihm die Prädikate der aeternitas und ubiquitas bei. Deshalb gelten auch diese Bestimmungen nicht nur virtuell, sondern substantiell. "Omnipraesens est non per virtutem solam, sed etiam per substantiam"48; denn Gott gibt sich in seinen Wirkungen als der zu erkennen, der er ist. Damit aber kann sich auch der Sinn des Sensorium-Begriffs erklären. Newton will in seiner Orientierung an einem biblischen Gottesverständnis das ständige Eingreifen Gottes denkbar und aussagbar machen. Dazu bieten sich Raum und Zeit wegen ihrer Unendlichkeit und Unveränderlichkeit an. Denn Newton meint nun zeigen zu können, daß die Unendlichkeit Gottes seine Ewigkeit und Allgegenwart in Raum und Zeit als den Formen, in denen die Welt gegeben ist, einschließt und impliziert. Raum und Zeit werden so nicht zu Wahrnehmungsorganen, sondern zu Medien der Wirksamkeit Gottes in der Welt. Gleichwohl läßt Newton selbst auch keinen Zweifel daran, daß der Begriff des 'sensorium' analog zu der Wahrnehmungstätigkeit des endlichen Subjektes vorgestellt werden muß. Hier liegt sicherlich einer der Gründe für das Mißverständnis, das die Verwendung dieses Begriffs nicht nur bei Leibniz hervorgerufen hat. Denn Leibniz vermag diesen Begriff bis zum Ende der Auseinandersetzung mit Clarke trotz dessen großer Bemühungen nicht anders denn als Bezeichnung für die Wahrnehmungsorgane zu verstehen. Das hat auch insofern seine Berechtigung, als im Begriff des 'sensorium' das Moment der Rezeptivität betont wird. Darüber hinaus hat das 'Mißverständnis' des Leibniz darin seinen Anlaß, daß 'sensorium', selbst wenn es nicht als Wahrnehmungsorgan verstanden werden soll, "nicht selber ein Produkt des Wahrnehmenden sein kann". 4 ' So hat Leibniz diesen Begriff im Blick auf die Gotteslehre um der Wahrung der Transzendenz Gottes willen strikt abgelehnt.50 Dieser Gedankengang, die konkrete Wirksamkeit Gottes in der Welt vermittels von Raum und Zeit einsichtig zu machen, ist bei Newton gebunden an die Unterscheidung zwischen Relativität und Absolutheit von Raum und Zeit. Dabei ist bemerkenswert, daß Newton jene Unterscheidung zwischen einer absoluten und einer relativen Zeit (wie einem absoluten und einem relativen Raum) aus der Beobachtung und Analyse der räumlichen Bewegungen selbst begründen zu können meint.51 Sicherlich ist es so, daß der gemeine Menschenverstand (.vulgus') die Zeit ausschließlich "ex relatione ad sensibilia" versteht (48) und damit die Zeit letztlich als Bestimmtheit an der Bewegung versteht. Newton aber sieht darin eine Einschränkung des Wesens der Zeit. Denn jede konkrete und bestimmte Zeitabmessung gewinnt sich von ihrem 'Status' innerhalb der einen und absoluten Zeit her. Der Gedanke einer absoluten Zeit ergibt sich aus der reflexiven Analyse der "tempus vulgus" (48). Denn die 'dies naturales', die als natürliches Zeitmaß dienen, bieten kein sicheres Maß für die konkreten Zeitbestimmungen, weil sie genau genommen ungleich und wechselnd sind.
47 Ebd. 48 AaO.762 49 Pannenberg, Gott und Natur, 494 50 Vgl. H. Scholz, Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, in: Kantstudien 29 (1924), 2 Iff., besonders 24f. 51 Vgl. das Scholion zu Definition VIII, Newton, Prinzipien I, 46ff. (Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Passage)
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Auch die Bewegung der Planeten stellt eine 'motus inaequabilis' vor, die im Vergleich zu einem gedachten gleichmäßigen 'Zeitverlauf' nur eine Näherung bildet. (47f.) So läßt sich bei der Beobachtung und Analyse bestimmter Bewegungen eine absolute Zeit denken, die völlig gleichmäßig fließt und aus keiner Relation zu einem bewegten Körper bestimmt ist. (46) Diese absolute Zeit bestimmt Newton als "duratio". "Tempus absolutum, verum et mathematicum, in se et natura sua sine relatione ad externum quodvis, aequabiliter fluit, alioque nomine dicitur duratio." (46) Demgegenüber ist die aus der Relation zu einem bewegten Körper bestimmte Zeit als relative zu denken. Ähnlich argumentiert Newton im Blick auf den Raum. Der Unterschied der Gegenden im Raum ist letztlich nur erklärbar durch die Beziehung der Körper auf einen absoluten Raum, in dem die Körper einen bestimmten 'Ort' einnehmen und dadurch in Abgrenzung voneinander wahrgenommen werden können. (49) Zur Bestimmung einer konkreten Bewegung in Raum und Zeit also ist nach Newton die Annahme eines absoluten Bezugssystems notwendig. So stehen in der Tat die beiden Axiome der absoluten Zeit und des absoluten Raumes am Anfang eines 'Systems', das sich methodisch durch ein streng induktives Verfahren definiert und alle Aussagen auf ihre empirische Überprüfbarkeit hin testen will, um unsachgemäße Hypothesenbildungen zu vermeiden.52 Es ist so "nicht uninteressant zu bemerken, wie der Empiriker Newton, der sein Werk mit der berühmten Erklärung: 'Hypotheses non fingo' beschließt, hier unter der Hand zum Platoniker wird, der sich mit eigentümlicher Wärme für die Realität des Unsichtbaren einsetzt".53 In Konsequenz aus dem oben dargestellten Gedankengang denkt Newton den absoluten Raum und die absolute Zeit als leer, weil sie unabhängig von Beziehung auf Räumliches und Zeitliches zu denken sind. Diese 'Immaterialität' aber - das wird sich unten bei der Darstellung der Argumentation Clarkes noch deutlicher zeigen - ist die Bedingung dafür, daß Raum und Zeit als Medien der Wirksamkeit Gottes vorgestellt werden können, ohne daß Gott damit notwendig als 'teilbar' und zeitlich gedacht werden muß. Der zweite Brief, den Leibniz an Clarke schreibt, stellt nochmals klar, daß der Begriff des 'sensorium' in bezug auf die Kennzeichnung des göttlichen Handelns rundweg abzulehnen ist, weil "le mot Sensorium a tousjour signifié l'organe de la sensation". 54 Diesen Standpunkt nimmt Leibniz bis zum Ende der Auseinandersetzung mit Clarke ein. Leibniz hat damit auch durchaus die grundsätzliche Schwierigkeit dieses Begriffs getroffen, insofern Raum und Zeit, als Medien des Wirkens Gottes, Gott selbst äußerlich bleiben. D.h. auch wenn sie nicht als Gottes Wahrnehmungsorgane gedacht werden, bleiben sie doch etwas, auf das Gott um seiner Wirkmöglichkeit willen angewiesen ist. Diese Schwierigkeit im Begriff des 'sensorium' wird Clarke, nicht aber schon Newton selbst, dann dazu bringen, Raum und Zeit sogar als Eigenschaften Gottes zu bezeichnen. Damit will er die Problema52 Vgl. Newtons 'regulae philosophandi' zu Beginn von Buch III der Prinzipien, Band II, aaO. 550ff.; dazu vgl. Cassirer, aaO. 464 53 Scholz, aaO. 25 54 Leibniz, aaO. 356
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tik des Begriffs 'sensorium' dadurch überwinden, daß er Raum und Zeit als Medien der Wirksamkeit Gottes der wesentlichen Bestimmtheit Gottes selbst zurechnet. Kant zieht aus der angedeuteten Problematik den gegenteiligen Schluß, dem Begriff seine mögliche Anwendung auf die Gotteslehre zu verweigern. Der Versuch Newtons und seiner Anhänger, das Wirken Gottes in der Welt über die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu erklären, ist nach Leibniz auch aus anderen Gründen gescheitert. Denn dieser Versuch basiert auf der Voraussetzung, daß die konkrete Wirksamkeit Gottes in der Welt allein über den Nachweis seiner räumlichen und zeitlichen 'Präsenzmöglichkeit' möglich ist. Damit trifft Leibniz durchaus die Position Clarkes, der in seinem vierten Schreiben an Leibniz in der Tat deutlich macht, daß die Unendlichkeit und Unveränderlichkeit von Raum und Zeit, insofern sie als absolute Realitäten vorgestellt werden, aus der Ewigkeit und Allmacht Gottes gleichsam folgen; ja, daß Raum und Zeit notwendige ' Vermittlungsformen' seiner Allmacht und Ewigkeit sind, "and without them, his Eternity and Ubiquity (or Omnipresence) would be taken away".55 Die absolute Zeit und der absolute Raum, so kann zusammengefaßt werden, gelten Clarke als notwendige Implikationen der Unendlichkeit Gottes und damit seiner 'ständigen' Wirksamkeit in der Welt. Ohne Raum und Zeit könnte die konkrete Wirkungsmöglichkeit Gottes in der Welt nicht ausgesagt werden, was dazu führen müßte, Gott aus der Welt 'auszuschließen'. In dieser Voraussetzung aber, daß der Gedanke der konkreten Wirkungsmöglichkeit Gottes über den Nachweis seiner räumlichen und zeitlichen Präsenzmöglichkeit erfolgen muß, sieht Leibniz den entscheidenden 'Fehler' Newtons und Clarkes. "La raison pourquoy Dieu s'appercoit de tout, n'est pas sa simple presence, mais encore son opération ...".56 So ist auch die mögliche Einflußnahme des menschlichen Geistes auf den Körper nicht über die Frage der räumlich und zeitlich manifesten 'Gegenwart' des Geistes im Körper zu lösen. Mit seiner Unterscheidung zwischen 'puissance' und 'sagesse' will Leibniz nun seine eigene 'Theorie' hinsichtlich des Gedankens der göttlichen Weltregierung darlegen; damit will er zugleich dem Einwand Clarkes begegnen, er denke die Welt als eine gut funktionierende Maschine und verdränge damit Gott an einen 'Ort' außerhalb der Welt. Nach jener Unterscheidung zwischen 'puissance' (Macht) und 'sagesse' (Wahrheit) Gottes hat es wenig Sinn, den Gedanken der Erhaltung der Welt durch Gott so zu verstehen, als müsse für jedes Geschehen in der Welt die 55 AaO. 383 56 AaO. 357
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unmittelbare Wirksamkeit Gottes nachgewiesen werden. Vielmehr wirkt Gott nach dieser 'Theorie' Leibniz' so in die Welt hinein, daß er ihr mit und in der Schöpfung "une harmonie, une beauté déjà préétablie" eingeprägt hat, die sein ständiges Eingreifen in den Lauf der Welt unnötig macht.57 Die Annahme eines ständigen Eingreifens Gottes in die Welt entspringt ganz offensichtlich einem mangelnden Zutrauen in seine Weisheit und Weitsicht. Die Weisheit Gottes also macht sein machtvolles Eingreifen in die Welt überflüssig; das harmonische Sein der Welt ist schlechthin ein Hinweis auf die weise Selbstbeschränkung des mächtigen Gottes. Die Antwort Clarkes auf diesen Brief bringt gegenüber dem ersten Schreiben insofern eine Neuigkeit, als Clarke nun seine These von der ständigen Korrektur, die Gott am Lauf des Weltgeschehens wegen dessen Irregularitäten vornehmen muß, einschränkt. Diese These, so Clarke, ist "not with regard to God, but to us only"58 zu verstehen. Darüber hinaus bestreitet Clarke erneut mit Vehemenz, daß der Begriff des 'Sensorium', verstanden als Medium der Wirksamkeit Gottes, diesen zu dem "soul of the world"59 degradiere. Vielmehr ist Gott der Welt gegenwärtig "as a governer"60. Wird die ständige Wirksamkeit in der Welt auch als zum Wesen Gottes gehörig vorgestellt, so folgt daraus doch nicht notwendig, daß Gott in seinem Weltbezug aufgeht. Die folgenden Briefe bringen insoweit einen leicht veränderten Schwerpunkt der Auseinandersetzung, als mit dem dritten Brief Leibniz' nun die Begriffe von Raum und Zeit selbst in den Mittelpunkt der Diskussion rücken. Leibniz greift nun die These von der absoluten Realität von Raum und Zeit direkt an und sieht in dieser 'Lehre' zurecht einen wesentlichen Grund für ihre Bestimmung als 'sensorium Dei', wie sie von Clarke vorgenommen wird. Diese These von der absoluten Realität von Raum und Zeit führt, so sagt Leibniz, in letztlich unauflösbare Probleme. Gilt nämlich der Raum als "quelque chose d'uniforme absolument", so unterscheidet sich, denkt man sich den absoluten Raum als leer, "un point de l'espace ne... absolument en rien d'un autre point de l'espace".61 Daraus folgt, daß letztlich nicht einsichtig zu machen ist, warum Gott den Raum und die Dinge 'in' ihm so angeordnet hat, wie sie angeordnet sind. Ähnlich argumentiert Leibniz im Blick auf die Zeit.62 Das aber widerspricht dem Grundsatz, daß Gott nichts 57 58 59 60 61 62
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AaO. 358 Alexander, aaO. 22 AaO. 24 Ebd. Leibniz, aaO. 364 Vgl. ebd.
ohne Grund bewirkt, also dem Grundsatz der 'ratio sufficiens'.63 Die Vorstellungen einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes sind für Leibniz mithin sinnlos und widersprüchlich. Für Clarke hingegen, so wurde schon verdeutlicht, sind die Vorstellungen einer absoluten Zeit und eines absoluten und leeren Raumes impliziert im Gedanken der Ewigkeit und Allgegenwart Gottes. Die oben angedeutete Problematik, die im Begriff des 'sensorium' liegt und die die Gefahr der Beschränkung der Göttlichkeit Gottes hervorruft, führt nun Clarke dazu, den absoluten Raum als "Property, or a consequence of the Existence of a Being infinite and eternal" zu bezeichnen.64 Damit soll gesichert werden, daß die ständige 'Beziehung' Gottes zur Welt Gott nicht äußerlich sein kann; zum anderen werden für Clarke Unendlichkeit und Unteilbarkeit von Raum und Zeit damit letztlich 'begründet', insofern sie damit als notwendige Implikationen der Unendlichkeit und Unteilbarkeit Gottes vorgestellt werden müssen. Ohne Raum und Zeit könnte die Unendlichkeit Gottes in der Welt nicht konkret werden. Dieser Bestimmung des absoluten Raumes und der absoluten Zeit als Implikationen des göttlichen Wesens gilt nun der letzte Angriff, den Leibniz gegen Clarkes Ausführungen vorbringt. Wenn gilt, daß Gottes Unendlichkeit durch Raum und Zeit und eben nur durch sie 'vermittelt' wird, wenn Raum und Zeit als Attribute Gottes gedacht werden, so folgt nach Leibniz, daß alles Räumliche und alles Zeitliche letztlich zum Wesen Gottes gehört. "Il faudra donc dire que ce qui est dans l'espace, est dans l'immensité dé Dieu, et par consequent dans son essence; et que ce qui est dans le temps, est dans l'essence de Dieu: Phrases etranges, et qui font bien connoistre qu'on abuse des Termes."65 Was also soll das bedeuten, daß die Unermeßlichkeit Gottes angeblich seine Gegenwart in Raum und Zeit impliziert, diese selbst aber als Eigenschaften des göttlichen Wesens gelten? "Òn a oui dire que la propriété soit dans le sujet, mais on n' a jamais oui dire que le sujet soit dans sa propriété."66 Im übrigen gilt - so Leibniz - , daß die Dinge ihren Ort im Raum verändern, der Raum mithin keine Eigenschaft der Dinge sein kann. Dem entgegnet Clarke nochmals mit dem eindringlichen Hinweis, daß er das Verhältnis Gottes zu Raum und Zeit kausal verstanden wissen will.67
63 Vgl. ebd. und aaO. 378; dieser Grundsatz ist es, den Leibniz gegenüber Clarke immer wieder einklagt, weil seine Berücksichtigung nach Leibniz dazu führen muß, den Gedanken eines ständigen Eingreifens Gottes in die Welt zu verabschieden. 64 Leibniz, aaO. 368 65 Leibniz, aaO. 399 66 Ebd. 67 Vgl Alexander, aaO. 104
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"God does not exist in space and time; but his existence causes space and time."68 Das macht nach Clarice den Einwand hinfällig, er unterwerfe Gott den Bedingungen der Endlichkeit. Raum und Zeit aber gehen auch nicht darin auf, daß sie bloße Abstraktionsbestimmungen sind; Leibniz hatte davon gesprochen, daß Raum und Zeit "de purement relatif' zu denken und "pour un ordre des Coexistences" zu halten sind.69 Daß damit Raum und Zeit unterbestimmt sind, liegt für Clarke auf der Hand. Denn die Analyse der Phänomene führt auf die Begriffe eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit mit Notwendigkeit. Und wegen ihrer Absolutheit und Immaterialität sind Raum und Zeit Implikationen der immensitas Gottes. Der Gedanke, daß der Raum als Gottesattribut vorzustellen ist, führt deshalb auch nicht notwendig zur Annahme der Teilbarkeit Gottes, weil der absolute Raum aufgrund seiner Immaterialität keine Teile hat. "Von da aus wird verständlich, daß der Raum einerseits als Eigenschaft Gottes, oder genauer als Implikat der göttlichen Eigenschaft der immensitas, andererseits aber als Wirkung Gottes bezeichnet werden konnte, sofern er nämlich durch seine Teilbarkeit der Endlichkeit der Kreaturen Raum bietet."70 2. Kants Stellung angesichts der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke Es ist nach der kurzen Durchsicht jener 'klassischen' Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke mehr als deutlich, daß Kant Leibniz in der 'metaphysischen Beurteilung'71 von Raum und Zeit gefolgt ist. "Die Zeit ist nicht etwas, was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge", so heißt es in der Kritik72; und auch die Dissertation hatte ja schon daraufhingewiesen, daß die Zeit "non est obiectivum aliquid et reale".73 Die Bestimmung der Zeit Kants in der Dissertation als 'subiectiva condicio per naturam mentis humanae necessaria'74 scheint demnach ganz auf der Linie von Leibniz zu liegen; wenn auch zu berücksichtigen ist, daß Kant Raum und Zeit als Anschauungen, nicht als Abstraktions¿egn¿/% verstanden wissen will. Aber auch für Leibniz gilt wie für Kant, daß er in
68 69 70 71 72 73 74
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Alexander, aaO. 104 Leibniz, aaO. 363 Pannenberg, aaO. 495 So Kants Begrifflichkeit in A26 und A32 A3 2 Kant, De mundi, 42 Ebd.
Raum und Zeit allgemeine Ordnungsfunktionen sieht75, die auf die Gegenstände der Empfindung angewandt werden. Trotz ihres, und das unterscheidet Leibniz von Kant, intellektuellen Ursprunges bleiben Raum und Zeit auch bei Leibniz "in ihrer Anwendung auf den Bereich der empirischen Wirklichkeit beschränkt. Sie über dieses Gebiet hinauszutreiben, sie als Attribute Gottes oder irgend welcher immaterieller Substanzen denken, heißt ihnen all ihren realen Erkenntnisweit rauben und sie zum Herd unlösbarer Widersprüche machen."76 So einsichtig das Einvernehmen Kants mit Leibniz hinsichtlich der Ablehnung der Absolutheit von Raum und Zeit auf den ersten Blick zu sein scheint, so wenig selbstverständlich ist es bei näherem Hinsehen. Denn die Analyse des Kantischen Anschauungsbegriffs hatte schon im Blick auf die Dissertation ergeben, daß Kant in der Kennzeichnung der Zeit als reine Anschauung die Vorordnung des Unendlichen vor dem Endlichen in der Vorstellung der Zeit betont. Denn die ursprüngliche anschauliche Vorstellung vergegenwärtigt die Zeit als quantum continuum, als unendliche gegebene Größe. Jede konkrete Zeitbestimmung versteht sich als Einschränkung jener unendlichen Zeit. Die Unendlichkeit der Zeit galt Clarke noch als Grund ihrer Bestimmung als Gottesattribut. Koyré hat daraufhingewiesen, daß die Beurteilung der Zeit als Gottesattribut in der Fluchtlinie auch der Newtonschen Argumentation liegt. Und zwar impliziert die Definition der Zeit als duratio den Bezug auf den Gottesgedanken als den Grund jeder Dauer.77 Nun hat auch Kant, wie gesehen, in seiner Dissertation diesen Zusammenhang zwischen der unendlichen Zeit sowie der Unendlichkeit und Ewigkeit Gottes ausdrücklich thematisiert. Auch er drang dort letztlich zu der Auffassung von Raum und Zeit als Medien der Wirksamkeit Gottes durch.78 Dies tritt dann in der Kritik der reinen Vernunft zurück. Konnte Kant in der Dissertation noch formulieren, daß es die unendliche Kraft eines einzigen Wesens ist, die die Unendlichkeit von Raum und Zeit sichert; so ist es dann die Grenzenlosigkeit im Fortgang der Anschauung, die die Gewähr für die Unendlichkeit von Raum und Zeit gibt. Die Gründe dafür, warum jene Gedanken Newtons und Clarkes, denen Kant anfänglich noch so nahe steht, später zurücktreten, können hier aufgrund der Ausführungen der Dissertation nur angedeutet werden. Einmal, so weiß Kant, werden mit der Behauptung der absoluten Realität von Raum und Zeit die methodischen Gebote einer wissenschaftlichen 75 76 77 78
Vgl. Cassirer, aaO. 469f. AaO. 470 Vgl. Koyré, Newtonian Studies, 104 S.o. S. 85.
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Metaphysik übersehen. Und zum zweiten - und dieser Gedanke stand für uns im Vordergrund - nimmt der Gottesglaube damit selbst Schaden, indem nämlich nach jener Vorstellung Gott selbst den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen wird. Der Gedanke der Transzendenz Gottes erleidet Abbruch, werden Raum und Zeit als Medien seiner Wirksamkeit gedacht. Diese Gründe sind es, die Kant letztlich schon in der Dissertation veranlassen, die Zeit zu einem sensorium hominis zu machen. Was aber ist damit nun erreicht? Gelten nun Raum und Zeit, wenn sie als 'lex animi' bestimmt werden, nicht als bloße Imaginationen menschlicher Einbildungskraft? Wodurch ist die objektive Geltung von Raum und Zeit, ihre Geltung als 'conceptus verissimi' nun verbürgt? Hier wird erst die Vernunftkritik eine eindeutige Antwort geben. Diese Antwort, die dann im Hinweis auf die synthetische Einheitsfunktion von Raum und Zeit und ihre essentielle Bedeutung für die Einheit der Erfahrung zu sehen sein wird, ist in der Dissertation gewiß angedeutet79, tritt aber nicht in dieser Klarheit wie in der Kritik auf. Die Herausarbeitimg dieser Funktion der Anschauungen von Raum und Zeit für die Einheit der Erkenntnis stellt den Mittelweg Kants zwischen Leibniz und Clarke/Newton dar. E. Cassirer hat in seiner Geschichte des Erkenntnisproblems deutlich gemacht, daß dieses Verschieben der Fragestellung auf die Frage nach der Funktion der Vorstellung von Raum und Zeit hin, die bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft voll ausgeprägt ist, bei dem Mathematiker Euler, den Kant auch in der Dissertation mehrfach positiv rezipiert, vorgedacht ist.80 Danach hat der Mathematiker Euler Kants Mittelposition zwischen Newton und Leibniz vorbereitet, indem er nachwies, daß Raum und Zeit als Vorstellungen für die Durchführung und Geltung der reinen Naturwissenschaften und die Mathematik entscheidende Bedeutung haben, ohne daß ihre 'Realität' nachgewiesen werden kann. "Beide Begriffe besitzen unzweifelhafte Realität, nicht weil sie sich durch die Empfindung beglaubigen lassen, sondern weil sie uns ... für die Gesamtheit unseres wissenschaftlichen Weltverständnisses unentbehrlich sind"81 - so umreißt Cassirer die Position Eulers. Damit, so Cassirer, ist schon bei Euler ein dritter Weg angedeutet zwischen der Behauptung einer bloßen Idealität von Raum und Zeit und der Setzung ihrer absoluten Realität. Nach Cassirer ist Euler selbst zu einer konstruktiven Erkenntnislehre aufgrund dieser Einsichten noch nicht durchgedrungen.82 Allerdings hat er mit seinen 'Andeutungen' die These Kants von Raum und Zeit als den Anschauungsformen, die die Geltung
79 80 81 82
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Vgl. Kant, De mundi, aaO. 54/56 Vgl. Cassirer, aaO. 472ff. und 632ff. AaO. 479 Vgl.aaO.481
der reinen Naturwissenschaften in ihrer Anwendung auf die empirische Erkenntnis sichern, beeinflußt." Kant geht über Euler darin hinaus, daß er dessen These von der Unentbehrlichkeit der Vorstellungen von Raum und Zeit im Gedanken der 'reinen Formen der Sinnlichkeit' konkretisiert. In diesem Gedanken nämlich wird sich für Kant nicht nur die axiomatische Geltung der reinen Naturwissenschaften erweisen, sondern auch ihre mögliche Anwendbarkeit auf die Welt der Erscheinungen. Diese 'Entdeckung' aber, das wird hier schon deutlich, zieht unweigerlich die Konsequenz nach sich, daß die theologischen Implikationen im Gedanken einer unendlichen, unteilbaren Zeit und eines unendlichen Raumes für Kant nun in den Hintergrund treten müssen. Der Begriff der Unendlichkeit, von Kant im Zusammenhang der Raumund Zeitvorstellung weiterhin rezipiert, wird seine Bedeutung entscheidend verändern.84 Der Gedanke eines vollkommenen Unendlichen, das alles Endliche umgreift, und damit die Möglichkeit der 'Unendlichkeit' als eines Gottesattributes treten in den Hintergrund.
83 Vgl. ebd. und aaO. 632ff. 84 Vgl. die Ausführungen zum Unendlichkeitsbegriff unten S. 112ff.
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ΠΙ. Die Bestimmung der Zeit als Form des inneren Sinns Überlegungen zur Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft Es ist auf den ersten Blick deutlich, daß die begriffliche 'Unsicherheit', die die Dissertation Kants hinsichtlich der Bestimmung von Raum und Zeit noch widerspiegelt, in der Vernunftkritik nun 'formell' beseitigt ist. Die Bestimmung der beiden Vorstellungen als Formen des äußeren bzw. inneren Sinnes erfolgt nun konkurrenzlos. Der Anschauungscharakter von Raum und Zeit wird dabei in der Vernunftkritik in gegenüber der Dissertation nicht wesentlich veränderter Art und Weise begründet. Es läßt sich allenfalls von einer 'Verschiebung' der Argumentation gegenüber der Dissertation sprechen. Aber die in der Dissertation noch offen diskutierte Möglichkeit der Bestimmung der Zeit als 'Intellektualbegriff' bzw. als Idee wird von Kant in der Kritik auch der Möglichkeit nach nicht mehr aufgenommen. So sieht es so aus, als beschränke sich die Kritik gänzlich darauf, die Zeitvorstellung als Bestimmtheit nur des sinnlichen 'Vermögens' ausdrücklich zu machen. Und doch findet sich schon in der ersten Auflage der Kritik in der 'Transzendentalen Ästhetik' andeutungsweise eine Ausweitung dieser vermeintlichen Reduktion der Zeit auf eine Form nur der sinnlichen Verfaßtheit des Subjektes. "Die Zeit ist nichts anderes, als die Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes."1 Diese Erklärung Kants liest sich zunächst als Aufnahme der Bestimmung der Zeit als 'lex animi' aus der Dissertation, die dort an entscheidenden Stellen auftrat. Es wird sich aber zeigen, daß die Bezeichnung der Zeit als Form der Selbstanschauung des Subjekts die These von der Zeit als 'lex animi' nicht nur aufnimmt, sondern allererst zur Entfaltung zu bringen vermag. Diese zitierte 'Andeutung' Kants aus der ersten Auflage seiner Kritik wird in der zweiten Auflage 'erweitert' zu der 'Theorie' und dem Begriff der Selbstaffektion des Subjekts, der die ursprüngliche Vorstellung der Zeit entspringt. Diese Theorie ist nichts anderes als der Versuch der Konstituierung der Zeit im tätigen Subjekt. Damit aber verlagert sich die eigentliche Pointe der 'Zeittheorie' Kants vor allem in der zweiten Auflage der Kritik in die 'Transzendentale Analytik'. Erst die Analytik bringt die vollständige Ausbildung des Kantischen Zeitbegriffs. Darin zeigt sich, daß die Zeit nicht auf das Vennögen der Sinnlichkeit beschränkt bleibt.
1 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft; A33 (im folgenden nur noch als Ά ' , so die erste Auflage, oder Έ ' zitiert)
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Oben wurde dargelegt, daß die Dissertation vor allem eine entscheidende Frage offen läßt. Sie arbeitet zwei distinkte Erkenntnisquellen heraus, aus denen sich menschliches Wissen und menschliche Erfahrung aufbauen. Die Analyse dieser Erkenntnisquellen führt auf Prinzipien, deren Geltung methodisch sauber auf die jeweiligen Erkenntnisvermögen einzuschränken ist, um falsche Schlüsse und 'Erschleichungsfehler' (vitia subreptionis) zu vermeiden. Durch die strikte Trennung - so hatte Kant dargelegt - der Prinzipien des mundus sensibilis und des mundus intelligibilis voneinander erweist sich die Metaphysik allein als Wissenschaft. Die Dissertation bleibt aber weitgehend bei der bloßen Gegenüberstellung der beiden Erkenntnisvermögen bzw. Erkenntnisquellen Verstand und Sinnlichkeit stehen und zeigte nicht die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen ihnen auf; obgleich Kant keinen Zweifel daran ließ, daß Erfahrung immer aus sinnlicher Erkenntnis und d.h. aus der Beziehung des Verstandes auf die Sinne entspringt.2 Die Möglichkeit jener konkreten 'Anwendung' der Verstandesbegriffe auf das in den Sinnen Gegebene war von Kant in der Dissertation nicht gezeigt worden; "... die erste grundsätzliche Trennung" hatte "das Problem des wechselseitigen Verhältnisses der beiden Erkenntnisweisen nicht endgültig zu lösen vermocht".3 Wir hatten gesehen, daß Kant mit dem Gedanken 'spielte', den Zusammenhang zwischen den Prinzipien des mundus sensibilis und denen des mundus intelligibilis theologisch zu deuten; allerdings schränkte er selbst den 'Erkenntniswert' dieser Deutung im Rahmen einer kritischen Metaphysik ein. Daß erst die Vernunftkritik die Aufgabe, die Möglichkeit der Vermittlung zwischen den Prinzipien der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis auch faktisch zu zeigen, unternimmt, ist eine nicht gerade originäre Feststellung. Der Anspruch einer fundamental neuen Kantinteipretation wird hier auch nicht erhoben. Uns kann es hier zunächst nur darum gehen, den Versuch Kants, jene bloße Gegenüberstellung des sinnlichen und des intellektuellen Erkenntnisvermögens zu überwinden, insoweit zu analysieren, als er den Begriff der Zeit betrifft. Allerdings wird sich zeigen, daß Kant in der Vernunftkritik die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen in wesentlicher Hinsicht über die 'Interpretation der Zeitvorstellung' erreicht. Die Analyse der in der Tat konstitutiven Bedeutung der Zeitvorstellung nicht nur für die Verfaßtheit des sinnlichen Vermögens der Subjektivität, sondern für Erkenntnis überhaupt soll also im Mittelpunkt unserer Ausfüh-
2 Vgl. Kant, De mundi, 22 3 Cassirer, aaO. 683
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rungen zu Kants Vernunftkritik stehen. Diesem Abschnitt über die 'Ästhetik' fällt dabei erstens die Aufgabe zu, die Präzisierung der Bestimmung der Zeit als 'intuitus purus' nachzuzeichnen; zum anderen soll die Öffnung der Ästhetik in ihrer zweiten Auflage auf die 'Transzendentale Analytik' hin dargestellt werden, weil sie die Bestimmung der Zeit wesentlich betrifft. Das ist und bleibt eine grundlegende Schwierigkeit in der Darstellung der Vernunftkritik überhaupt und einer Analyse der Funktion des Zeitbegriffs im besonderen. Die Ästhetik bleibt - zumindest in ihrer ersten Auflage weitgehend auf dem Standpunkt der Dissertation stehen, die die beiden Erkenntnisvermögen verschiedenen 'Welten' zuordnet und das einigende Prinzip, das sinnliche und intellektuelle Erkenntoisse zur Einheit der Erfahrung vereinigen könnte, nur eingeschränkt thematisch macht. Material stimmt Kant in der Vernunftkritik gerade mit den Ergebnissen der Analyse von Raum und Zeit in der Dissertation durchaus überein. Nur gewinnt die Lehre von der Idealität der Zeit einen anderen Status innerhalb der Erkenntnislehre überhaupt. Das vermag aber erst die Analytik in aller Deutlichkeit zu zeigen. 1. Die Apriorität der Zeitvorstellung als Grundlage für die Geltung der reinen Naturwissenschaft und der Einheit der empirischen Erkenntnis Die gegenüber der Dissertation nur leicht modifizierte Position Kants zeigt sich schon in § 1 der Ästhetik, indem Kant nämlich ausdrücklich die Künstlichkeit des Verfahrens betont, das die Sinnlichkeit im Zusammenhang einer Erkenntoislehre vom Verstand isoliert, um so die Kennzeichnung des sinnlichen Erkenntnisvermögens erreichen zu können.4 Das, "was der Verstand durch seine Begriffe dabei ( ! ) denkt",5 wird also aus rein methodischen Gründen zunächst zum Vermögen der Sinnlichkeit gedacht, obwohl spätere Ausführungen ergeben werden, daß z.B. die Formen der Sinnlichkeit in ihrer vorliegenden Struktur eher dem Verstandesvermögen zuzurechnen sind. Entsprechend zu dieser Bemerkung weist Kant dann in der Deduktion darauf hin, daß die Einheit von Raum und Zeit in der Ästhetik zunächst zur Sinnlichkeit 'gerechnet' worden sei, als apriorische Einheit aber keineswegs dem sinnlichen Vermögen entspringe.6 Analog zu den Analysen über die Raumvorstellung nun widmen sich die ersten beiden 'Zeitargumente' im Zusammenhang der 'Metaphysischen
4 Vgl. A22 5 Ebd. (Hervorhebung von mir) 6 Vgl. Β160 (Anmericung)
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Erörterung des Begriffs der Zeit' 7 , der Apriorität der Zeitvorstellung, die letzten beiden Argumente sollen ihre Intuitivität zeigen und führen darin auf den Begriff des 'inneren Sinns'; das fünfte Argument hebt die Einheit der Zeit als unendlicher gegebener Größe hervor. Das erste Argument Kants, das zu der These der Apriorität der Zeitvorstellung führt, beruht auf der Unterscheidbarkeit zwischen der Vorstellung der Gegenstände in Raum und Zeit und den Vorstellungen von Raum und Zeit selbst. Danach enthält die Vorstellung eines Gegenstandes die unmittelbare 'Gegenwärtigkeit' des Vorgestellten, nicht aber die Vorstellung der relativen Lage und der relativen Zeitausdehnung des 'Gegenstandes'. "Das Zwischen der Gegenstände, ihr Verhältnis untereinander, kann daher nicht durch die einzelnen Vorstellungen mit vorgestellt werden."8 Die Vorstellung der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, in denen sich ein sinnlich wahrgenommener 'Gegenstand' befindet, entspringt einem gesonderten Vorstellungsakt. Nun gilt aber ganz offensichtlich, daß die Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes schon immer verbunden ist mit der Vorstellung seines räumlich und zeitlich bestimmbaren 'Ortes' im Zusammenhang der mannigfaltigen Dinge. D.h. ein vorgestellter 'Gegenstand' wird immer schon wahrgenommen in Relation zu anderen - also in räumlichen und zeitlichen Verhältnissen. Die Vorstellungen von Raum und Zeit, so folgert Kant,9 fungieren also als Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Vorstellung empirischer Gegenstände und sind insofern apriorische Vorstellungen. Als solche aber sind Raum und Zeit nur dann zu denken - und diese notwendige Implikation wird von Kant an dieser Stelle nicht ausdrücklich gemacht - , wenn sie selbst niemals Vorstellungsm/ζα/ί werden können. Denn dann wären sie selbst wiederum räumlich und zeitlich bedingt. Wenn Raum und Zeit als ursprüngliche Vorstellungen gedacht werden, die Bedingung der Möglichkeit jeder empirischen Vorstellung sind, so folgt also nach Kant notwendig, daß sie identisch mit dem leeren Raum und der leeren Zeit sind.10 Das zweite Argument für die Apriorität der Zeitvorstellung versucht den Nachweis so zu führen, daß die objektive Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit der Vorstellung vom 'Nichtsein' der Zeit erwiesen wird. Es ist subjektiv zwar möglich, sich die Zeit schlechthin 'wegzudenken'; aber "in 7 So lautet die Überschrift zu § 4 der Ästhetik, B46 8 E. Henke, Zeit und Erfahrung, 1978, 94 9 Vgl. A30 10 Auf diesen Zusammenhang hat besonders H. Scholz, Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, in: Kantstudien 29 (1924), S. 21ff., hier 34 verwiesen
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Ansehung der Erscheinungen überhaupt"11 die Vorstellung der Zeit aufzuheben, würde bedeuten, in Ansehung konkreter, d.h. empirischer Vorstellungen, die Zeit als nichtseiend zu behaupten. Das aber würde die Mogliehkeit jeglicher Vorstellung überhaupt aufheben. So lautet der Schluß Kants: "Die Zeit ist also a priori gegeben."12 Dieses Argument besagt, daß ohne die Zeitvorstellung kein Gegenstand den Sinnen gegenwärtig sein kann, mithin Vorstellung überhaupt nicht möglich ist. Das dritte 'Zeitargument' schließt von der Apriorität der Zeitvorstellung auf apriorische 'Regeln' bzw. 'Grundsätze' 13 "von den Verhältnissen der Zeit".14 Diese Grundsätze aber sind diejenigen der Newtonschen Kinematik. An dieser Stelle zeigt sich schon, daß Kant jene angedeutete Implikation seiner These von der Apriorität der Zeitvorstellung nicht durchhalten kann. Bleibt es nämlich dabei, daß die Zeit als apriorische Vorstellung selbst nicht Vorstellungsinhalt sein kann, so ist die Funktion der Zeit für die Einheit bzw. Synthetisierung des Gegebenen, auf die Kant doch hinaus will, nicht einsichtig zu machen. So setzt Kant die Struktur der Newtonschen Raum - Zeit als apriorische Struktur der ursprünglichen Zeitvorstellung. Vor allem Heinrich Scholz hat sich vielfach eingehend mit dem Verhältnis der Kantschen 'Zeitlehre' zu der Physik Newtons auseinandergesetzt. Dabei konnte Scholz auf Ausführungen E. Cassirers zurückgreifen. Cassirer hatte in seiner 'Geschichte des Erkenntnisproblems' im Begriff von Raum und Zeit als reiner Anschauungen ein doppeltes Interesse Kants ausfindig gemacht. Einerseits sollte die absolute Gewißheit der Sätze der reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft gesichert werden; das wurde erreicht durch den Nachweis der Apriorität der Raum- und Zeitvorstellungen, denn dadurch war zugleich die Möglichkeit synthetischer Urteile, wie sie in Euklids Geometrie und Newtons Mechanik vorlagen, erwiesen. Zum anderen galt es für Kant, die Anwendbarkeit der Sätze der reinen Naturwissenschaft auf die empirische Erfahrung nachzuweisen. Das wurde nach Cassirer erreicht durch die Einschränkung von Raum und Zeit auf Bedingungen der Sinnlichkeit, d.h. durch den Nachweis ihres Anschauungscharakters.15 Scholz hat nun in seinem Aufsatz 'Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit' die Orientierung Kants an Newton einer besonderen Analyse unterzogen. 11 A31 12 13 14 15
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Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Cassirer, aaO. 623ff., besonders 632f.
Dabei unterscheidet er zwischen einer analytischen und einer synthetischen Fassung der Raum- und Zeitlehre Kants.16 Die analytische Fassung geht von der Gültigkeit der Newtonschen Mechanik und der Euklidschen Geometrie aus und zeigt von da aus die Möglichkeit "der Konstruierbarkeit des physikalisch-empirischen Geschehens".17 Dieses analytische Schema, von Kant übrigens selbst so bezeichnet18, ist klassisch durchgeführt in den Prolegomena. Die Pointe dieses Vorgehens sieht Kant selbst darin, "eine Wissenschaft womöglich zur Wirklichkeit zu bringen".19 Diese Bemerkung Kants zeigt die Berechtigung des Hinweises von Scholz, daß für Kant die Grundsätze Newtons und Euklids axiomatische Geltung hatten.20 Insofern konnte er auch den Anschauungscharakter der Zeit in diesem analytischen Verfahren aus der Gültigkeit der Newtonschen Mechanik geradezu ableiten, weil die Sätze Newtons hinsichtlich der Struktur der physikalischen Zeit synthetisch sind. Als solche erwachsen sie notwendig aus dem Vermögen einer ursprünglichen Anschauung und können nicht der analytischen Verstandestätigkeit entspringen. Die Zeitvorstellung kann demnach als 'Erkenntnisquelle' der Newtonschen Mechanik nicht etwas Begriffliches sein, weil sie sonst nur analytische Urteile und Sätze 'hervorbrächte'.21 Das von Scholz so bezeichnete synthetische Verfahren der Raum- und Zeitlehre Kants geht hingegen aus von einer Analyse des Raum- und Zeitbegriffs und führt zu der Aufdeckung der Bedingungen, unter denen die Newtonsche Mechanik und die Euklidsche Geometrie Gültigkeit haben und Anwendung finden auf menschliche Erfahrung überhaupt.22 Auch in diesem Verfahren werden die Newtonsche Mechanik und die Euklidsche Geometrie von Kant gleichsam kanonisiert.23 Das von Scholz so genannte synthetische Verfahren, das in der Ästhetik der Vernunftkritik durchgeführt wird, ist dadurch bestimmt, daß die Intuitivität des Zeitbewußtseins nachgewiesen werden muß; und dies in einem Verfahren, welches die Zeit einerseits als empirischen Begriff, andererseits als Anschauungsm&a/f ausschließt. Das entscheidende Argument für die Intuitivität der Zeitvorstellung ist nach Scholz, daß die leere Zeit kein Wahrnehmungs- oder Vorstel-
16 Vgl. Scholz, aaO. 2Iff. 17 Scholz, aaO. 21 18 Kant, Prolegomena, aaO. 24 19 Ebd. 20 Vgl. Scholz, aaO. 27 21 Vgl. aaO. 29 22 Vgl. aaO. 23 23 Vgl. A110: "Es gibt nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden"
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lungsinhalt sein kann, weil damit die Bedingung jeder Vorstellungstätigkeit selbst als bedingt gedacht würde.24 Dieses von Kant selbst nicht ausdrücklich gemachte25 Argument führt ihn nach Scholz in die 'dunkle' Unterscheidung zwischen Raum und Zeit als intuitiver Formen des Bewußtseins, die als Bedingung der Gegebenheit der Dinge selbst nicht Vorstellungsm/ia/te sein können, und ihrer Bestimmtheit als formale Anschauungen, in denen die immanenten Strukturen der ursprünglichen Zeit vorgestellt werden.26 Diese Unterscheidung soll bei Kant selbst die Differenz zwischen der bloßen Gegebenheit des Mannigfaltigen für die menschliche Erfahrung, die zunächst nur an die leeren Vorstellungen von Raum und Zeit gebunden ist, und dem Akt der Verknüpfung des Mannigfaltigen zu einzelnen Objekten, die gebunden ist an die immanenten Strukturen von Raum und Zeit, anzeigen.27 Nur die Berücksichtigung dieser Unterscheidung macht nach Scholz diejenigen Passagen erklärlich, in denen Kant beispielsweise von den ursprünglichen Zeitverhältnissen und Grundsätzen der Zeit spricht, die in der Vorstellung der Zeit als Form der Anschauung schon immer enthalten sind.28 Diese Differenz zwischen der Zeit (und dem Raum) als Form der Anschauung und den anschaulichen Strukturen dieser Zeit, die dann identisch sind mit den Newtonschen Axiomen der Mechanik, ist also ein Reflex der Unterscheidung zwischen der bloßen Gegebenheit des Mannigfaltigen und seiner synthetischen Einheit, die nach Kant einer ursprünglichen Synthesis (der Einbildungskraft), die kein Vermögen der Sinnlichkeit ist, entspringt. Insofern muß die oben getroffene Aussage eingeschränkt werden; die Aussage nämlich, daß die als Form der Anschauung gedachte leere Zeit die absolute Zeit der Newtonschen Mechanik ist.29 Vielmehr kann nun präziser formuliert werden: die in formaler Anschauung gegenwärtigen Strukturen der leeren Zeit sind identisch mit den Axiomen der Newtonschen Mechanik.30
24 Vgl. Scholz, aaO. 39 25 Vgl. aaO. 34 26 Vgl. Β160 (Anmerkung) und Β137 (Anmericung) 27 Vgl. besonders Β160: "Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daB die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, disformale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt." Diese Unterscheidung hat entscheidende Bedeutung für das Deduktionskapitel überhaupt, insofern durch den Begriff der formalen Anschauung in den Formen der Sinnlichkeit ein eigenes Vermögen der Synthesis angedeutet wird, das dann die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen allererst möglich macht. 28 Vgl. z.B. B67f. und auch A31 29 S.o. S. 107 30 Vgl. Scholz, aaO. 48-52
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Im Zusammenhang des dritten Zeitarguments führt Kant von den "apodiktische(n) Grundsätze(n)"31 der Zeit zunächst nur den Grundsatz der Eindimensionalität der Zeit an; die Zeit, so sagt Kant in Übereinstimmung mit Newton, hat "nur eine Dimension".32 Dieser Bestimmung folgen noch die der Unendlichkeit, der Einzigkeit, der Stetigkeit, Homogenität und der absoluten Gleichförmigkeit.33 Dies sind exakt, wie Scholz gesagt hat, die Bestimmungen der absoluten Zeit in der Newtonschen Mechanik.34 Kant kennt also durchaus einen gegenständlichen Raum und eine gegenständliche Zeit und damit letztlich einen begrifflichen Raum und eine begriffliche Zeit, insofern sie als ursprüngliche Vorstellungen apodiktische Grundsätze enthalten, die als Regeln, "unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind"35, fungieren können. Nur hat Kant im Unterschied zu Newton die Unterscheidung der immanenten Zeitstrukturen von der für sich leeren Vorstellung der Zeit behauptet mit dem Hinweis auf die Apriorität der Zeitvorstellung und ihren Anschauungscharakter. Kant bedarf dieser Unterscheidung, weil nur so die Eigenständigkeit der Ästhetik gegenüber der Analytik bewahrt werden kann. Andernfalls wäre kaum mehr einsichtig zu machen, warum die Ästhetik - wenn sie denn die Synthesis des Mannigfaltigen unter Raum und Zeit zu beschreiben hätte - , nicht in die Analytik eingeordnet werden kann. Damit aber haben wir vorausgegriffen. Der Beweis für den Anschauungscharakter der Zeit ist noch nicht erbracht. Er erfolgt im vierten und im fünften Zeitargument. Das sogenannte vierte Zeitargument soll negativ beweisen, daß die Zeit kein diskursiver Begriff, also kein der Abstraktionsfähigkeit des Verstandes entspringender Begriff ist. Das Wesen des Begriffs besteht nach Kants Logikvorlesung darin, aus gegebenen Einzelvorstellungen das diesen Gemeinsame zu bezeichnen.36 So nennt er den diskursiven Begriff eine "allgemeine Vorstellung". "Der Begriff ist der Anschauung entgegengesetzt; denn er ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann."37 Daß die Vorstellung der Zeit kein diskursiver Begriff sein kann, folgt daraus, daß sie als unmittelbare Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes
31 32 33 34 35 36 37
A31 Vgl. ebd. Vgl. A32 Vgl. Scholz, aaO. 27 A31 Vgl. Kant, Logik, 521 Ebd.
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gedacht werden muß: eine Anschauung "bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln".38 Nun geht der Kantische Gedankengang in der Ästhetik über die bloße Behauptung der Singularität des Gegenstandes, der in einer anschaulichen Vorstellung gegeben wird, hinaus. Denn Kant geht aus von der Einzigkeit der Zeit und schließt dann von da aus auf ihren Anschauungscharakter.39 Die Argumentation Kants lautet konkret: die Vorstellung der Zeit setzt die Zeit als einzig und als eine voraus und faßt die Teile des Ganzen als dessen Einschränkung auf. Nun gilt aber, daß diejenige Vorstellung, die "nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann", Anschauung ist.40 Also ist die Zeit Anschauung. Ihre Kennzeichnung als reine Anschauung begründet sich dann aus der Apriorität der Zeitvorstellung. Nun wurde schon im Zusammenhang der Analyse der Kantischen Dissertation darauf hingewiesen, daß auch nach der Begrifflichkeit Kants selbst nicht ausgemacht ist, daß die behauptete Einzigkeit der Zeit diese hinreichend als Anschauung qualifiziert. Denn auch die Ideen sind nach Kant Vorstellungen eines 'Einzigen' und eines 'Ganzen', dessen Teile in ihm enthalten sind, also nicht unter das Ganze subsummiert werden.41 So bestimmt Kant die "Idee von einem All der Realität" als Begriff, "der alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach... in sich begreift".42 "Nach der Kantischen Charakterisierung können Raum und Zeit sowohl Anschauungen als auch Ideen sein."43 Nur ist damit das vierte Zeitargument noch nicht voll erfaßt. "Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben (!) werden kann, ist aber Anschauung"44 - so formuliert Kant. Die Vemunftideen der 'omnitudo realitatis' und der Idee eines höchsten Wesens aber sind nicht als gegebene Vorstellungen zu denken, sondern sind notwendige Vorstellungen der die Grenzen des Verstandesgebrauches überschreitenden Vernunft. "Das Ideal der omnitudo realitatis stellt die omnitudo realitatis nicht als real daseiend vor."45 So kann also der Hinweis auf die Einzigkeit und ursprüngliche Einheit der Zeit allein im Zusammenhang mit dem Rekurs auf die Gegebenheit der Zeitvorstellung argumentativ zur Behauptung des Anschauungscharakters
38 39 40 41 42 43 44 45
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Β377 Vgl. A31f. A3 2 Vgl. Kant, Logik, 522 und Kritik, B606 Β 606 Wohlfart, aaO. 145; so auch Henke, aaO. 84 A32 (Hervorhebung von mir) Henke, aaO. 88
der Zeit führen. Wir hatten in der Analyse der Dissertation Kants gesehen, daß Kant dort die Zeit sogar noch als 'aufgegebene Idee'46 bezeichnen konnte. Das ist nun hier in der Kritik begrifflich geglättet, insofern die Unterscheidung zwischen Gegebenheit und Aufgegebenheit die Differenz zwischen Anschauung und Idee manifestiert. Das letzte Argument, das den reinen Anschauungscharakter der Zeit begründen soll, führt auf diesen Gedanken nicht über die Einzigkeit und Einheit der Zeit, sondern über ihre Unendlichkeit. Das Argument geht aus von der Gegebenheit der Gegenstände der Sinnlichkeit und ihrer konkreten Zeitbestimmung. Die empirische Vorstellung eines zeitlich und räumlich 'bestimmten' Gegenstandes stellt das reale Gegebensein von Raum und Zeit zugleich mit dieser Vorstellung zusammen vor. Die Vorstellung der leeren Zeit, so hatte Kant zu Beginn seiner metaphysischen Erörterung des Begriffs der Zeit betont, ist ein notwendiges Implikat jeder empirischen Vorstellung. Deshalb kann jede konkrete Zeitbestimmung nur als Einschränkung der einzigen und einen Zeit vorgestellt werden. Von hier aus kommt Kant zum Begriff der Unendlichkeit der Zeit. Dabei meint dieser Begriff nicht den Gedanken eines Maximums, sondern, "daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann".47 Das ist der wahre und transzendentale Begriff der Unendlichkeit, wie Kant betont.48 Dasjenige aber, dessen Teile nur durch Einschränkung des gegebenen Ganzen bestimmt werden können, ist nur als Gegenstand einer unmittelbaren Anschauung denkbar - so fährt Kant diese Argumentation zu Ende. "Daher muß die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein."49 Daß in der Vorstellung das unendliche Ganze der Zeit jeder Auffassung bestimmter Zeitgröße vorausgeht, ist also nach Kant das entscheidende Argument für den Anschauungscharakter der Zeit. Der Begriff der Unendlichkeit gehört also wesentlich zu der Bestimmung der Zeit als Anschauungsform. "Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei."50 Oben wurde schon angedeutet,51 daß sich Kant mit dieser Argumentation durchaus auf der Linie Clarkes befindet. Allerdings ist für ihn die Vorord-
46 Vgl. Kant, De mundi, 2 47 B460 48 Dieser Begriff der 'wahren Unendlichkeit' unterscheidet sich bekanntlich von demjenigen, den Hegel entwickelt; dazu s.u. S. 116f. 49 A32 50 Ebd. 51 S.o. S. 97f.
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nung des Unendlichen gegenüber dem Endlichen in der 'Erkenntnis' der Zeit nicht Anlaß dafür, die theologischen Implikationen, die dieser 'Sachverhalt' für Clarke und wohl auch für Newton noch hatte, ebenfalls nachzuvollziehen. Die Gründe dafür sind am Gebrauch und an der Bestimmung des Begriffs der Unendlichkeit selbst festzumachen. Die Geschichte dieses Begriffs bietet ein Exempel auch für die Differenz zwischen den Auffassungen des vorkritischen und des 'kritischen Kant'. Es ist besonders Heimsoeth gewesen, der sich der Analyse dieses Begriffs zugewandt hat. Dabei hat Heimsoeth in verschiedenen Veröffentlichungen darauf aufmerksam gemacht, wie sehr der junge Kant in das "neuzeitliche(n) Raumpathos"52 und das damit verbundene Unendlichkeitspathos einstimmt. So dachte Kant in seiner 'Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels' die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit als notwendige Implikate der Unendlichkeit Gottes. "Man kommt der Unendlichkeit der Schöpferkraft Gottes nicht näher, wenn man den Raum ihrer Offenbarung in einer Sphäre, mit dem Radius der Milchstraße beschrieben, einschließt...; aus diesem Grunde ist das Feld der Offenbarung göttlicher Eigenschaften eben so unendlich, als diese selber sind."53 Dabei weist Kant ausdrücklich darauf hin, daß er den Begriff der Unendlichkeit im Sinne seines Vollkommenheitsideals verstanden wissen will. Denen, die sich gegen den Begriff eines aktual Unendlichen wenden, hält Kant entgegen, ob denn wirklich nicht einsichtig sei, daß "die künftige Folge der Ewigkeit ... eine wahre Unendlichkeit von Mannigfaltigkeiten und Veränderungen in sich fassen"54 kann. Das wahrhaft Unendliche, das alles Endliche in sich begreift, ist für Kant so ein notwendiges Implikat der Ewigkeit Gottes.55 "Die Ewigkeit ist nicht hinlänglich, die Zeugnisse des höchsten Wesens zu fassen, wo sie nicht mit der Unendlichkeit des Raumes verbunden ist."56 So erweisen sich für Kant die Unendlichkeit von Raum und Zeit als Implikationen der unendlichen Schöpferkraft Gottes. Vermittels des unendlichen Raumes und der unendlichen Zeit erweist sich die Schöpferkraft Gottes auch allererst als seine Kraft, die Welt für alle Zeiten zu erhalten. Im Blick auf die Zeit betritt Kant dabei Neuland. So wird Kant, "wie den früheren mehr die räumliche Unendlichkeit in Ausdehnung und Teilung, jetzt ganz
52 H. Heimsoeth, Studien zur Philosophie Kants I, Kantstudien-Ergänzungshefte 71,1956, 116 53 Kant, Allgemeine Naturgeschichte, 329 54 AaO. 330 (Anmerkung) 55 Auch an dieser Stelle zeigt sich Kant Augustin verpflichtet, der die immensitas Gottes so dachte, daß ihr die unendliche Folge des Weltgeschehens als Endliches präsent ist; vgl. A. Augustin, De civitate Dei, XI, 19 56 Kant, Allgemeine Naturgeschichte, 329f.
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besonders diese Unendlichkeit der niemals abbrechenden Entwicklung ein unmittelbarer Ausdruck der Gottesunendlichkeit".57 "Die Unendlichkeit der künftigen Zeitfolge, womit die Ewigkeit unerschöpflich ist, wird alle Räume der Gegenwart Gottes ganz und gar beleben ,.."58; so ist Newton, diesem "große(n) Bewunderer der Eigenschaften Gottes aus der Vollkommenheit seiner Werke"59, nach Kant zu folgen hinsichtlich der Einschätzung von Raum und Zeit als Medien der göttlichen Schöpferkraft. Mit diesen Ausführungen steht der junge Kant, so haben Heimsoeth und auch Koyré gezeigt60, am Ende einer Traditionskette, die nicht nur das Attribut der Unendlichkeit in die Gotteslehre aufnimmt, sondern es als wesentliche Bestimmtheit seiner Immanenz, seiner Schöpferkraft, deutet. Diese Bestimmung des Unendlichkeitsbegriffs erwächst aus einer außerordentlich bewegten Geschichte dieses Begriffs im Kontext der christlichen Gotteslehre.61 Denn der Begriff der Unendlichkeit, wie er der christlichen Theologie von der griechischen Philosophie überliefert wurde, machte seine einfache 'Aufnahme' in den Zusammenhang der Gotteslehre zunächst unmöglich. Unendlichkeit war für 'die griechische Philosophie' fast durchweg Kennzeichen der Materie in ihrer Unbestimmtheit. Eine Sache als solche zu bestimmen, hieß danach, sie zu begrenzen, sie aus der Unbestimmtheit herauszuführen. Sollte Gott auf diesem Hintergrund als unendlich vorgestellt werden, so bedeutet dies, ihn der Unbestimmbarkeit zu überlassen.62 Die Vorstellung aber eines vollkommenen Wesens, das sich selbst nicht bestimmen und begrenzen kann, schien zumindest widersprüchlich, insofern sie die Vollkommenheit Gottes einschränken muß. Die Einführung des Begriffs der Unendlichkeit in die christliche Gotteslehre gelang erst mit der 'Überwindung' der Auffassung, daß 'Begrenzung' und 'Bestimmung' notwendige Implikate der Vollkommenheit Gottes sind, will sich das Denken selbst nicht in Widersprüche verwickeln. So war es vor allem wohl Gregor v. Nyssa, der gerade die Unbegrenztheit und 'Unbestimmbarkeit' Gottes als hervorragende Zeichen seiner göttlichen Transzendenz dachte.63 In diesem Zusammenhang führt Gregor auch 57 Heimsoeth, Themen 85 58 Kant, Allgemeine Naturgeschichte, 335 59 AaO. 339 60 Koyré, From the closed world, aaO., bes. 180ff.; Heimsoeth, Studien zu Kant I, aaO. 93ff. und ders., Die sechs großen Themen, aaO. 6Iff. 61 Vgl. E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, 1965; vgl. femer die aufgeführten Arbeiten von Heimsoeht und Koyré 62 Vgl. die Arbeit von Mühlenberg, der diesen Gedanken als die griechische Philosophie fast durchweg bestimmenden verdeutlicht hat 63 Vgl. Mühlenberg, aaO. 123 u.ö.
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den Begriff der Unendlichkeit als Gottsprädikat an, schränkt ihn allerdings darauf ein, Ausdruck des 'unmöglichen' menschlichen Versuches, Gott zu denken, zu sein, nicht Ausdruck für die Selbstanschauung Gottes. 'Unendlichkeit' Gottes faßt danach zusammen, "was dem Denken geschieht, wenn es sich auf Gott richtet".64 So stärkt der Gedanke der Unendlichkeit Gottes bei Gregor die Einsicht in die Transzendenz und Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens. Damit aber geht Gregor insofern nicht weit über den 'griechischen' Begriff der Unendlichkeit hinaus, als er eine aktuale Unendlichkeit ebenfalls nicht denken kann. Es war erst einer sehr viel späteren 'Entwicklung' vorbehalten, die Unendlichkeit Gottes als in seiner Schöpfungstätigkeit - d.h. in der Unendlichkeit der Kreaturwelt - anschaubar vorzustellen.65 Vorbereitet wird diese Entwicklung, die hier in ihren Einzelheiten nicht dargestellt werden kann, nach Heimsoeth wesentlich durch die christliche Anthropologie, die in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die These von der der menschlichen Seele unveräußerlichen Teilhabe am Ewigen und Unendlichen 'gelehrt' hat.66 Die Vorstellung von der wie auch immer zu denkenden 'Verbundenheit' der Seele mit Gott hat seit der christlichen Antike ihren stärksten Ausdruck in der Auffassung gefunden, daß die menschliche Seele auch in der größten Gottesfeme einen Rest ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung bewahrt hat.67 Die Wirkung dieser 'Lehre' auf die neuzeitliche Philosophie war nach Heimsoeth durchschlagend. So liegt noch in der Philosophie, die gleichsam das Tor zur Neuzeit aufstößt, nämlich in "Descartes' Erkenntnislehre... der Ton darauf', daß im Vollzug menschlicher Erkenntnis "Unendlichkeit im Endlichen gegeben sei."68 Und wir haben gesehen, daß auch Kant die Bestimmung der Unendlichkeit als deijenigen Eigenschaft Gottes, die seine 'operationes ad extra' in hervorragender Weise umschreiben kann, weil sie in der Unendlichkeit der geschaffenen Welt durchsichtig wird, mitvollzog. Nun ist das Faktum der "Abkehr vom Begriff der Unendlichkeit in Kants Aussagen über Gott und seine Ersetzung durch den Gedanken der Erhabenheit"69 vielfach beschrieben worden. "Reale gegenständliche Unendlichkeit von extensiv quantitativer Art kann uns, als endlich-diskursiven Wesen, niemals gegeben werden"70 - dies kennzeichnet die Position des
64 65 66 67 68 69 70
114
Mühlenberg, aaO. 141 Vgl. Heimsoeth, Die sechs großen Themen, 72ff. Vgl. aaO. 73 Vgl. aaO. 72 Ebd. Pannenberg, Gott und die Natur, 496; vgl. auch ders., Theologische Motive, 898f. Heimsoeth, Kantstudien I, 119
'kritischen Kant'. Der Begriff der Unendlichkeit ist ein operationaler Begriff, kein Begriff einer absoluten Größe.71 Somit hat er außerhalb des transzendentalen Gebrauchs keine Gültigkeit. Er beschreibt das, was dem Denken geschieht, wenn es sich auf das gegebene Mannigfaltige in Raum und Zeit richtet. Es ist, so hat Heimsoeth herausgestellt, vor allem die Gefahr des Pantheismus gewesen, die Kant dazu geführt hat, jenen Gedanken der 'Vermittlung' der Unendlichkeit Gottes über die Unendlichkeit von Raum und Zeit nicht weiter zu rezipieren.72 Die Einsicht in die antinomische Struktur der Vorstellung eines aktual Unendlichen tat ein übriges, um Kant davon abzubringen, im Begriff der Unendlichkeit die Möglichkeit dafür zu sehen, die Wirkung des Weltschöpfers auf die Welt aussagbar zu machen. Aber dennoch hat Kant in seinem 'kritischen' Raum- und Zeitbegriff den Gedanken der Vorordnung des Unendlichen vor dem Endlichen nicht aufgegeben. Darin werden Raum und Zeit als reine Anschauungen geradezu der Art und Weise der Anschauung des höchsten Wesens selbst analog. Denn den unendlichen und anschauenden Verstand (Gottes) haben wir uns nach Kant so vorzustellen, daß er vom Ganzen, das Gott jederzeit präsent ist, 'zurückgehend' Einzelnes begreift und anschaut. Darin ist der anschauende Verstand (Gottes) ja 'intuitus originarius', daß ihm das Ganze der Zeit präsent ist, indem er es tätig 'hervorbringt'.73 Analog dazu sind der menschlichen Anschauung Raum und Zeit als ursprüngliche Einheit gegeben; deren 'Geltung' aber ist auf die Erscheinungswelt beschränkt, weil die menschliche Anschauung das Angeschaute nicht erzeugt. Nicht also die Sensorien Gottes sind der unendliche Raum und die unendliche Zeit, sondern "die anschaulich-apriorische Fundamentalfunktion der menschlichen Vernunft".74 So basiert die Ästhetik insgesamt auf der Absetzung der reinen Anschauung des endlichen Gemütes von der intellektuellen Anschauung Gottes. Von dieser intellektuellen Anschauung aber haben wir keinen gültigen Begriff; sie wird nur als das andere der menschlichen Anschauung gesetzt. Vor allem Hegels Kritik an Kant konzentriert sich auf den eingeschränkten Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs. Dabei setzt Hegel ein bei der Kritik an dem noch zu diskutierenden Abschnitt über die Deduktion der Kategorien. Nach Hegel nämlich erfüllt das Deduktionskapitel den zweifelhaften Zweck, nachzuweisen, daß die "Endlichkeit und Erscheinung im Menschen 71 72 73 74
Vgl. B458f. und B669 Vgl. Heimsoeth, Kantstudien 1,118 und Pannenberg, Theologische Motive, 899f. Vgl. B72 Heimsoeth, Studien zu Kant 1,120; vgl. auch F. Delekat, Immanuel Kant, 1963, 44f.
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ein Absolutes ist"75; - und zwar durch den Nachweis, daß das Unendliche im Zusammenhang der theoretischen Vernunft bloß als Negation des Endlichen gedacht werden kann, im Bereich der praktischen Philosophie als bloßes Postulat. Die Endlichkeit, so Hegel, erschöpfe sich bei Kant in sich selbst; Unendlichkeit werde als bloßer Verstandesbegriff festgehalten und bleibe als Vernunftbegriff leer. In seiner Logik hat Hegel die Position Kant so kritisiert, daß er dessen Begriff der Unendlichkeit als 'verendlichte Unendlichkeit' deutete und davon den Begriff der wahrhaften Unendlichkeit absetzte.76 Das Unendliche der Kantischen Philosophie ist nach Hegel nur das schlechte Unendliche, weil es das lediglich negativ vom Endlichen abgesetzte Unendliche ist. "Das Unendliche ist auf diese Weise mit dem Gegensatz gegen das Endliche behaftet, welches, als Anderes, das bestimmte, reale Dasein zugleich bleibt, obschon es in seinem Ansichsein, dem Unendlichen, zugleich als aufgehoben gesetzt ist".77 So bleibt das Unendliche für Kant die je und je aufzuhebende Grenze des Endlichen, in der praktischen Philosophie "das perennierende Sollen" (155). Darin wird das Unendliche selbst verendlicht, indem es seine Grenze am Endlichen hat. "Wenn gesagt wird, was das Unendliche ist, nämlich die Negation des Endlichen, so wird das Endliche selbst mit ausgesprochen; es kann zur Bestimmung des Unendlichen nicht entbehrt werden" (157). Damit gibt Hegel die Richtung an, in der der Begriff des 'wahrhaft Unendlichen' gefunden werden kann. Und zwar kann die Reflexion nicht bei der bloßen Gegenüberstellung stehen bleiben und sich nicht zufrieden geben mit der angeblichen Unerkennbarkeit des Unendlichen. Indem Endliches und Unendliches voneinander unterschieden werden, ist gerade darin, daß sie in bezug auf das andere bestimmt werden, die Frage nach der Einheit beider virulent. Der Gedanke der möglichen Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit darf aber nach Hegel nicht so gedacht werden, daß er eine "abstrakte bewegungslose Sichselbstgleichheit" (163f.) vorstellig macht. Diese Einheit ist vielmehr als ein 'Werden' zu denken, insofern im Endlichen wie im Unendlichen "die Bestimmtheit des Anderen" (157) mitenthalten ist. So ist die Endlichkeit "nur als Hinausgehen über sich" (160) wahrhaft gedacht 75 G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Werkausgabe (Hrsg. E. Moldenhauer u. K.M. Michel), Band 2,1970, 315 76 Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke, aaO., Band 5,149ff. 77 AaO. 152; die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk
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wie die Unendlichkeit als ständiges "Hinausgehen über das Endliche" (160). "Indem sie beide, das Endliche und das Unendliche, selbst Momente des Progresses sind, sind sie gemeinschaftlich das Endliche, und indem sie ebenso gemeinschaftlich in ihm und im Resultat negiert sind, so heißt dieses Resultat als Negation jener Endlichkeit beider mit Wahrheit das Unendliche" (163). Der Begriff des wahrhaft Unendlichen also kennzeichnet das im Durchgang durch das Endliche realisierte Unendliche. Zu diesem Begriff drang Kant nach Meinung Hegels wegen seines Interesses an der absoluten Autonomie des Endlichen nicht vor.78 2. Die Folgerungen Kants aus dem Anschauungscharakter der Zeit und die Unabgeschlossenheit der Zeitanalyse der Ästhetik Die Argumentation Kants, die zur Behauptung des Anschauungscharakters von Raum und Zeit führt, hat viele Kritiker gefunden. Diese Kritik richtet sich vor allem darauf, daß Kant die Abgrenzung der Zeit und des Raumes von den Allgemeinbegriffen wohl gelungen ist, die Differenz der reinen Anschauungen zu den Ideen aber keine einleuchtende Begründung gefunden hat. So haben in neuester Zeit vor allem G. Wohlfart und E. Henke in ihren Beiträgen darauf verwiesen, daß die Vorordnung des gegebenen Ganzen vor seine Teilen in der ursprünglichen Vorstellung der Zeit diese nicht hinreichend als Anschauung zu kennzeichnen vermag.79 Heinrich Scholz hat in seinem großen Aufsatz über die Kantische Raum- Zeitlehre die Inkonsistenz der Kantischen Argumentation, die zu der These von Raum und Zeit als den Formen des intuitiven Bewußtseins gelangt, in noch anderer Hinsicht namhaft gemacht. Scholz hat die axiomatische Geltung der Newtonschen Mechanik für die Zeitlehre Kants als ihr wesentliches Manko angesehen. Diese 'Kanonisierung' der Newtonschen 'Zeitlehre' "ist selbst ein Axiom, das bei dem gegenwärtigen Stand der mathematischen Grundlagenforschung keineswegs aufrecht erhalten werden kann".80 So ist das Verdienst der Kantischen Raum- und Zeitlehre, nämlich die Verknüpfung der philosophischen Diskussion über Raum und Zeit mit den Grundlagen der Geometrie und Physik, für Scholz wegen der konkreten Ausführung dieses Vorhabens zugleich der Grund ihrer Schwäche.81 78 Dazu s.u. S. 143f. 79 Vgl. Wohlfahrt, aaO. 144f. unter Bezugnahme schon auf Vaihingen W. weist im übrigen nicht nur die Nähe der reinen Anschauungen zu den Vemunftideen, sondern auch zu den ästhetischen Ideen nach (151f.). Vgl. auch Henke, aaO. 84f. u.ö. 80 Scholz, aaO. 54 81 Vgl. aaO. 68
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Die Argumentation Kants in der Ästhetik - um den 'kritischen Punkt' hier nochmals zusammenzufassen - stellte die Begründung des Anschauungscharakters von Raum und Zeit über die Einzigkeit und Unendlichkeit der ursprünglichen Vorstellung von Raum und Zeit in den Vordergrund. Nun wurde schon mehrfach darauf verwiesen, daß Kant sowohl in der Vernunftkritik82 als auch in der Logikvorlesung83 die Vernunftideen derart bestimmt, daß in ihnen die Vorstellung des 'einigen Ganzen' der Vorstellung der Teile vorausgeht. Wir sahen ebenfalls, daß Kant in der Vernunftkritik die Differenz zwischen den Vernunftideen und den reinen Anschauungen dahingehend zu kennzeichnen versucht, daß die Ideen als problematische und aufgegebene Begriffe vorgestellt werden, die keine konstruktive Bedeutung für die Erfahrung haben, die reinen Anschauungen aber als 'gegebene' Vorstellungen.84 Die Schwierigkeit aber dieses Gedankens einer unendlichen Größe, die als gegeben gedacht werden soll, wurde ebenfalls "nicht erst in jüngster Zeit bemerkt".85 Weist Kant doch selbst in der Antinomienlehre, vor allem in der ' Auflösung der kosmologischen Idee ', unmißverständlich darauf hin, daß der Begriff der Unendlichkeit eher dem 'Vernunftvermögen' zuzurechnen ist. Denn die Vorstellung der Unendlichkeit dient als regulatives Prinzip der empirischen Erkenntnisse, das besagt, "daß ich von jedem gegebenen Gliede der Reihe von Bedingungen immer noch zu einem höheren (entfernteren) Gliede empirisch fortgehen müsse".86 Der Begriff einer gegebenen Unendlichkeit ist nach Kants eigenem Urteil "empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt, als eines Gegenstandes der Sinne, schlechterdings unmöglich".87 Das heißt nichts anderes, als daß eine aktuale Unendlichkeit nicht anschaulich gemacht werden kann. Scholz hat seine Kritik an dem Beweisgang Kants hinsichtlich der Herausarbeitung von Raum und Zeit als reine Anschauungen auch in dieser Frage in besonderer Weise präzisiert. Nach Scholz ist Kant die Abgrenzung der reinen Anschauungen von 'rein begrifflichen Gebilden' der Mathematik wie z.B. dem Begriff der Menge aller reellen Zahlen nicht gelungen. "Das Continuum der (reellen Zahlen) 'enthält'... alle überhaupt denkbaren (reellen) Zahlen genau so 'in sich', wie das Kantische Raum-Zeit-Continuum die aus ihm hervorgehobenen Einzelräume und Einzelheiten."88 Nun ist
82 83 84 85 86 87 88
118
Vgl. z.B. Β605 Vgl. Kant, Logik, 522 Vgl. A32 Wohlfart, aaO. 148 B547 B548 Scholz, aaO. 54
aber, so folgert Scholz, die Folge aller reellen Zahlen ein rein begriffliches Gebilde. Dementsprechend ist über den Nachweis der Einzigkeit und Unendlichkeit von Raum und Zeit keineswegs deren Bestimmtheit als reine Anschauungen bewiesen, da die Einzigkeit und Unendlichkeit für rein begriffliche Gebilde ebenso gezeigt werden kann.89 Neben dem Hinweis auf die Problematik der Kantischen Argumentation im Zusammenhang seiner 'Transzendentalen Ästhetik' muß aber ohne Zweifel festgehalten werden, daß an dem Anschauungscharakter von Raum und Zeit und ihrer Bestimmung als Formen der Sinnlichkeit "die ganze Lehre der kritischen Philosophie" hängt.90 Denn nur über Raum und Zeit als apriorische und reine Anschauungen wird nach Kant zugleich die Möglichkeit der reinen Mathematik sowie der Newtonschen Mechanik und ihre Geltung für alle empirischen Vorstellungen bewiesen. Den Beweis dafür, daß "allein unsere Erklärung die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori"91 und ebenso die Möglichkeit der 'allgemeinen Bewegungslehre' begreiflich macht, faßt Kant in den Paragraphen drei und fünf seiner Ästhetik zusammen.92 Als Voraussetzung für die Durchführung dieses Beweises gilt Kant, daß in der Geometrie Euklids und der Mechanik Newtons solche synthetischen Sätze bzw. Erkenntnisse tatsächlich vorliegen.93 Nun lassen sich aber aus Begriffen keine synthetischen Sätze bilden und ableiten - keine Sätze also, die über die gedachten Begriffe hinausgehen. So ist z.B. der Satz, daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste ist, ein synthetischer Satz, der sich aus keinem Begriff ableiten läßt. Deshalb können wir, so argumentiert Kant, die Vorstellungen von Raum und Zeit nur als Anschauung denken; denn es gilt die vollständige Disjunktion, daß Zeit und Raum entweder Anschauung oder Begriff sind. Die Anschauungen von Raum und Zeit müssen aber zugleich apriorisch sein und damit aller Erfahrung vorausgehen, weil die Sätze der Geometrie und Mechanik "mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit" verbunden sind.94 Dadurch aber, daß Raum und Zeit reine Anschauungen sind, gehen sie den jeweiligen 'Gegenständen' der empirischen und konkreten Anschauung voraus. Sie müssen also als Bestimmungen der 'formalen Beschaffen-
89 Vgl. aaO. 53f. 90 J. Ebbinghaus, Kants Lehre von der Anschauung a priori, in: G. Prauss (Hrsg.), Kant, 1973,44ff„ hier 47 91 A26; für die Zeitbestimmung vgl. A32 92 Vgl. B40/41 und B48/49 93 Vgl. B40: "Die Geometrie ist (!) eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und auch a priori bestimmt". 94 B41
119
heit' des Subjekts vorgestellt werden und können somit nicht als Bestimmung der 'Gegenstände' selbst gelten. Die Folge der Ergebnisse der metaphysischen Erörterung von Raum und Zeit ist für Kant deshalb die Bindung der apriorischen Vorstellungen von Raum und Zeit an die Subjektivität. So entspringt aus dem Nachweis, daß Raum und Zeit weder Begriffe noch bloße Empfindungen sind, die These von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit und damit ihrer erkenntnistheoretischen Dignität. Die Schlüsse Kants aus der metaphysischen Erörterung der Zeit sind hier noch kurz darzustellen.95 a. Die Zeit ist weder eine Substanz noch eine objektive Bestimmtheit der Dinge an sich selbst. Beide Auffassungen der Zeit sind widerlegt, weil sie "von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung" abstrahieren.96 b. Als reine Anschauung ist die Zeit nichts anderes "als die Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes".97 Diese Aussage geht über die Ausführungen der Dissertation insofern hinaus, als sie die Zeit nicht nur als Form der Erscheinung denkt, sondern als Bedingung der Selbstanschauung des Subjekts ausdrücklich macht. Die Einführung des Begriffs 'innerer Sinn' muß als unmittelbarer Ausdruck dieser Erweiterung der Kritik gegenüber der Dissertation angesehen werden. c. "Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung,..., und an sich, außer dem Subjekte, nichts."98 Gleichwohl ist sie empirisch real, weil alle Dinge, die durch das Subjekt angeschaut werden, in der Zeit sind, insofern die Zeit die Bedingung ist, unter der dem Subjekt überhaupt etwas zur Anschauung kommen kann. In der kurzen Bemerkung Kants, daß die Zeit nichts anderes ist "als die reine Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes"99, wird schlaglichtartig deutlich, daß die Zeit im Zusammenhang der Ästhetik, die das Vermögen der Sinnlichkeit von dem des Verstandes künstlich isoliert, noch unterbestimmt sein muß. Denn der Begriff des 'inneren Sinnes' und der Begriff der Selbstanschauung implizieren die Vorstellung einer 'reflexiven Subjektivität'; denn sie unterscheiden formal zwischen einem Subjekt und einem Objekt der Selbstanschauung und thematisieren zugleich deren mögliche Identität. Indem aber die Zeit als Form der Selbstanschauung vorgestellt wird, ist deutlich, daß sie als 95 96 97 98 99
120
Vgl. B49ff. B49 Ebd. B51 A33
formale Bedingung der Rezeptivität unterbestimmt sein muß, wenn diese Bestimmung so gedeutet wird, daß die Zeit damit ausschließlich dem rezeptiven Vermögen des Subjekts zugeschrieben wird. An dieser Stelle also wird die Unabgeschlossenheit der Zeitanalyse Kants in der Ästhetik manifest. Darüber hinaus kann dieser Sachverhalt an einer ebenfalls unscheinbar wirkenden Bemerkung Kants sichtbar werden. Als formale Bedingung jeder konkreten Anschauung ist die Zeit, so betont Kant, kein Vorstellungsinhalt, denn "sie gehöret weder zu einer Gestalt oder Lage etc. (;) dagegen bestimmt sie das Verhältnis der Vorstellungen in unserem innern Zustande".100 Weil die Zeit nun selbst kein Vorstellungsinhalt sein kann, ersetzen wir die Vorstellung der Zeitverhältnisse durch ihre räumliche Darstellung. "Hieraus erhellet auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen."101 Diese Bemerkung aber, daß die Zeit die Verhältnisse der Vorstellungen bestimmt, besagt mehr, als daß sie Bedingung der Zeitverhältnisse der Vorstellungen ist. Vielmehr deutet Kant hier an, daß die Zeit als ursprüngliche Einheit aller Zeitverhältnisse apriorische Zeitbestimmungen enthält, die die zeitliche Einheit des konkreten Angeschauten allererst ermöglichen. Anders gesagt: es bedarf noch der Erklärung, welchen Ursprung jene apriorischen Regeln und Grundsätze der Zeit, von denen Kant in § 4 sprach und "unter denen überhaupt Erfahrung"102 möglich ist, haben. Wie fungieren die apriorischen Zeitverhältnisse als Regeln für die Erfahrung? - das ist die in der Ästhetik noch offen gebliebene Frage. Die Ergänzungen der zweiten Auflage der Vernunftkritik zur 'Transzendentalen Ästhetik' bestätigen die Offenheit der Zeitanalyse im Zusammenhang dieses Teiles der Kritik.103 Diese Ergänzungen werden von Kant als "Bestätigung" der "Theorie von der Idealität des äußern sowohl als innern Sinnes" bezeichnet.104 Diese Bestätigung sieht Kant dabei darin, daß alle äußeren Anschauungen bloße Verhältnisse des in der äußeren Anschauung Vorgestellten enthalten. Dieses Faktum weist deshalb auf die Idealität des äußeren Sinnes, weil das 'Ansichsein' der Dinge uns durch die Sinne unbekannt bleiben muß; denn das Ansichsein der Dinge ist von den
100 A32f. 101 A33
102 A31 103 Vgl. Β65ff. in der Ästheük 104 B65
121
räumlichen Verhältnissen, in denen es angeschaut wird, nochmals zu unterscheiden.105 "Mit der inneren Anschauung ist es eben so bewandt."106 Auch hier gilt, daß in ihr allein "das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung"107 enthalten sein kann. Das im inneren Sinn Vorgestellte wird also, so meint Kant, nur als Angeschautes gewußt und damit von seinem der menschlichen Anschauung unzugänglichen Ansichsein unterschieden. Wie im äußere Sinn "nichts als Verhältnisvorstellungen" "der Örter in einer Anschauung"108 gegeben werden, so sind im inneren Sinn bloße Zeitverhältnisse enthalten, aber keine absoluten Zeitbestimmungen. Nun liegt aber im Begriff der Selbstanschauung bzw. im Begriff des inneren Sinnes, daß die Zeit als deren Form die zeitlichen Verhältnisse der Vorstellungen des Subjekts selbst "enthält". Und so betont Kant auch, daß die Zeit als Bedingung aller konkreten Zeitbestimmungen schon "Verhältnisse des Nacheinander-, des Zugleichseins, und dessen, was mit dem Nacheinandersein zugleich ist (des Beharrlichen),"109 beinhaltet. Diese ursprünglichen Zeitverhältnisse aber können nur durch das Subjekt selbst hervorgebracht sein, wenn denn gilt, daß die Zeit als Form des inneren Sinnes bloß die Verhältnisse der Vorstellungen des Subjekts enthält, unabhängig von äußeren Erscheinungen. So denkt Kant folgerichtig die Zeit als die "Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird".110 Dieser Satz enthält in nuce die Theorie von der Selbstaffizierung des Subjekts in der Form der Zeit. Diese Theorie wird erst im Zusammenhang der 'Transzendentalen Analytik' zur vollen Entfaltung kommen können. Jedenfalls wird hier deutlich, daß die Zeit als Form der Selbstanschauung des Subjekts die Bedingung der Selbsterkenntnis des empirischen Ich ist. Die Analytik wird dann zeigen, daß das Selbstbewußtsein (Apperzeption) überhaupt durch die sich vermittels der Zeit vollziehende Selbstunterscheidung des Subjekts möglich und vermittelt ist. Durch seine eigene Tätigkeit im Setzen der Vorstellungen wird das Gemüt affiziert zu der Anschauung, die die Einheit der Zeit in den Verhältnissen des Nacheinander, Zugleichseins und des im Wechsel Beharrlichen erfaßt. Die Ausführung dieser Thematik soll, wie gesagt, erst weiter unten erfolgen. Hier sollte nur deutlich gemacht werden, daß die Zeit als Bedin-
105 106 107 108 109 110
122
Vgl. B66 Ebd. Ebd. (Hervorhebung von mir) B65f. B67 B67f.
gung der Selbsterkenntnis des Subjekt vorgestellt werden soll. Durch diesen Gedanken aber ist die Zeit über ihre Bestimmung als Form der Sinnlichkeit hinaus gedacht. Denn die als Einheit aller Zeitverhältnisse vorgestellte Zeit entspricht offenbar einer ursprünglichen Tätigkeit des Subjekts. Es ist klar, daß diese Andeutungen Kants noch einer Erklärung bedürfen, da das Ich des Bewußtseins, das die Einheit der Vorstellungen nach der Form der Zeit bestimmt, in der Ästhetik nicht thematisch wurde. Die Zusätze Kants in der zweiten Auflage am Ende der Ästhetik deuten also die Lehre vom inneren Sinn als Vermittlung zwischen der Kategorienlehre und der Ästhetik an. Es ist vor allem H. Cohen gewesen, der die konstitutive Bedeutung der Lehre vom inneren Sinn für die Grundlegung der Erkenntnistheorie Kants gewürdigt und seiner eigenen Interpretation der Kantischen Philosophie zugrunde gelegt hat. Bekanntlich hat Cohen in seinem groß angelegten Werk über 'Kants Theorie der Erfahrung' den Mittelpunkt des Kantischen Systems in der Grundsatzlehre gesehen und damit in der These von der synthetischen Einheitsfunktion des Denkens. Dabei versucht Cohen von diesem Ansatz her die "subjektiven Erkenntnisquellen"111 Sinn, Einbildungskraft und Verstand als Momente dieser synthetischen Einheitsfunktion des Denkens so zu deuten, daß sie in unterschiedlicher Hinsicht die Funktion der Synthesis im Blick auf die Einheit der Erfahrung begründen. Das Erkennen vollzieht sich im Blick auf Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstandesvermögen durch Synthesis eines gegebenen Mannigfaltigen, wobei das entscheidene Ergebnis der zweiten Auflage der Kritik darin besteht, jede Form der Synthesis als Verstandesleistung ausdrücklich gemacht zu haben. Insofern zeigt nach Cohen die zweite Auflage in systematischer Prägnanz die konstitutive Begründung aller Erkenntnisfunktionen aus der 'synthetischen Einheit der Apperzeption', aus der Einheit des Verstandes. Der Lehre vom inneren Sinn nun kommt nach Cohen deshalb fundamentale Bedeutung zu, weil sie die Anwendbarkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption, die sich durch die Kategorien als Bedingung der Einheit der Erkenntnis zeigt, auf das durch die Sinne Gegebene ermöglicht.112 Vermittels der Lehre vom inneren Sinn kann Kant nach Cohen allererst einsichtig machen, daß alle Vorstellungen als Vorstellungen eines Subjekts unter die Bedingung ihrer Verknüpfung durch den Verstand fallen. Diese Lehre macht nämlich einmal deutlich, daß das in der Anschauung Gegebene den Verstandesfunktionen bzw. den Urteilen untergelegt werden kann,
111 A115 112 A. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 19183, 244
123
insofern es selbst in den reinen Anschauungen Bedingungen der Einheit enthält. Und zweitens kann diese Lehre zeigen, daß alle Verknüpfung von sinnlich Gegebenem angewiesen ist auf und sich verdankt der Affizierung des Gemütes durch die Verstandestätigkeit. "Wir stehen somit bei dem inneren Sinn vor der Frage nach dem Ursprung des Selbstbewußtseins."113 Der innere Sinn als 'Ort der Vermittlung' von reiner Verstandestätigkeit und Sinnlichkeit zeigt das Ich als ein solches, das sich selbst so erfährt, daß es auf die gegebenen Vorstellungen wirkt und so durch seine eigene Tätigkeit empfangen wird. So bietet die These von der Zeit als der Form des inneren Sinnes ein vollständiges Bild erst dann, wenn die Beziehung des inneren Sinns auf die synthetische Einheit der Apperzeption ausdrücklich gemacht worden ist. So kommt Cohen nach der Analyse des Deduktionskapitels in seinem Buch erneut auf die Lehre vom inneren Sinn zu sprechen und reflektiert nun abschließend ihre systematische Bedeutung.114 Diese Lehre ist für Cohen nun nach der Analyse des Deduktionskapitels nochmals als Vermittlung zwischen sinnlichem- und Verstandesvermögen als konstitutiv für die Theorie der Erfahrung gezeigt, weil sie die Angewiesenheit des Selbstbewußtseins auf die Gegebenheit des Mannigfaltigen verdeutlicht. Die transzendentale Apperzeption oder die objektive Einheit des Selbstbewußtseins ist bezogen auf die empirische Einheit des Bewußtseins angesichts der empirischen Anschauungen. Diese Beziehung der Begriffe auf die Anschauungen ist in der Lehre vom inneren Sinn konkret durchgeführt.115 Das Selbstbewußtsein also vollzieht sich durch die Affizierung des Sinnes durch den Verstand vermittels der Form der Zeit. H. Schulz hat in seiner Dissertation ansatzweise den möglichen 'historischen' Kontext, in dem die Kantische Lehre vom inneren Sinn steht, herausgearbeitet. Schulz, der die Frage nach der historischen Genese dieser Lehre weitgehend durch den Hinweis auf den "anerkannten fundamentalen Neuansatz(es) der Kritischen Philosophie Kants"116 zu 'lösen' versucht, sieht allenfalls Parallelen zu Lockes "internal sense", vermittels dessen das Subjekt auf die 'operations' reflektiert, in denen der menschliche Geist Ideen wie "Perception, Thinking, Doubting, Believing, Reasoning, Knowing, Willing ..." m bildet. Im ' internal sense ', so betont Cassirer in seiner Darstellung der Erkenntnislehre Lockes, wird auf die Wirkung reflektiert, die das Vorgestellte im
113 114 115 116 117
124
Cohen, aaO. 251 Vgl. aaO. 421 ff. Vgl. aaO. 431f. H. Schulz, Innerer Sinn und Erkenntnis in der Kantischen Philosophie, 1962,22 Zitiert nach Schulz, aaO. 23
Subjekt hervorruft.118 So hat offenbar Locke im Begriff des 'internal sense' die Wirkung der Vorstellungen des Geistes im Gemüt zusammengefaßt. Der Gedanke einer Affizierung des Subjekts durch sich selbst 'über' den inneren Sinn ist somit bei Locke zumindest angedeutet. Auch ein Blick auf die Anthropologie Kants kann diesen 'Einfluß' Lockes auf Kant verdeutlichen. Dort umschreibt Kant den 'inneren Sinn' als "Bewußtsein seiner selbst" hinsichtlich der 'Empfänglichkeit'.119 Die Anthropologie hat die Funktion des inneren Sinnes in bezug auf die Vermittlung zwischen Verstandesvermögen und Sinnlichkeit noch deutlicher herausgearbeitet als die Vernunftkritik.120 Danach ist der innere Sinn ein Bewußtsein dessen, was der Mensch "erleidet, wiefern er durch sein eigenes Gedankenspiel affiziert wird".121 "Ihm liegt die innere Anschauung, folglich das Verhältnis der Vorstellungen in der Zeit [...] zum Grunde."122 Das Ich der Apperzeption als bloß logisches Subjekt aller Vorstellungen bedarf der Vermittlung durch die empirische Apperzeption (des inneren Sinnes), um so auf das gegebene Mannigfaltige in der Zeit bestimmend wirken zu können. Die Forni der Sinnlichkeit als Bedingung der Gegebenheit der Gegenstände aber ist auch nicht identisch mit dem inneren Sinn; die Zeit ist nicht die Selbstaffektion, sondern deren Medium. So bleiben sinnliches und intellektuelles Vermögen für sich notwendige und unableitbare 'Elemente' der Erkenntnis. Kant formuliert die 'Vermittlungsfunktion' des inneren Sinns zwischen Sinnlichkeit und Verstand in der Anthropologie folgendermaßen: "Man muß also die reine Apperzeption (des Verstandes) und der empirischen (der Sinnlichkeit) unterscheiden, bei welcher letzteren, wenn das Subjekt auf sich attendiert, es sich dadurch auch zugleich affiziert und so Empfindungen in sich aufruft d.i. Vorstellungen zum Bewußtsein bringt, die der Form ihres Verhältnisses nach untereinander der subjektiven und formalen Beschaffenheit der Sinnlichkeit nämlich der Anschauungen in der Zeit [...] nicht bloß den Regeln des Verstandes gemäß sind."123 Delekat hat in seinem Kantbuch auch im Blick auf die Lehre vom inneren Sinn die Nähe Kants zu Augustin herauszuarbeiten versucht.124 Danach ist der Begriff eines 'sensus interior', der als 'sensus medius' die in zeitlicher
118 Vgl. Cassirer, aaO. 234f. 119 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werkausgabe, Band 10,1964,416 (Anmerkung) 120 Vgl. § 7 und § 22 der Anthropologie Kants 121 Kant, Anthropologie 456 122 Ebd. 123 AaO. 428f. (Anmerkung) 124 Vgl. Delekat, aaO. 59
125
Abfolge auftretenden Sinnesempfindungen zusammenfaßt und koordiniert, im Hintergrund der Kantischen Ausführungen zum inneren Sinn zu sehen. Dieser 'sensus interior' ist nach Augustin anthropologisch universal und insofern 'sensus communis', eine dem Menschen von Natur aus zukommende Fähigkeit der 'sinnvollen' Verknüpfung der Sinneseindrücke. Nur insofern ist der häufig bei Augustin vorkommende Appell an jenen 'sensus communis' zu verstehen, sich über den Bereich des Sinnlichen hinaus zu erheben, um Gott und die Wahrheit zu erkennen.125 Der Schluß der Ästhetik nach der zweiten Auflage der Kritik zeigt noch die Konsequenz der These von der Idealität der Zeit für eine Theologie 'innerhalb der Grenzen der Vernunft'. Die Ästhetik schließt also mit Überlegungen zur Gotteslehre. Dieser Sachverhalt kann die im Zusammenhang der Analyse der Dissertation getroffene Feststellung bestätigen, daß Kant bei seiner Ablehnung der absoluten Realität der Zeit wesentlich auch theologische Gründe und Motive leiteten.126 Kant betont hier nochmals, daß die Behauptung der absoluten Realität der Zeit die Transzendenz Gottes 'einschränken' muß; denn als Bedingung alles Daseins überhaupt müßte die Zeit dann Bedingung "auch vom Dasein Gottes sein".127 Gott von allen Bedingungen der Zeit frei zu denken, hat nur dann einen Sinn, wenn die Zeit auf die Bedingungen der endlichen und sinnlichen Anschauung eingeschränkt ist. Denn als Bedingung allen Daseins schlechthin müßte die Zeit auch als Bedingung der Selbstanschauung Gottes zu gelten haben. So gilt die Lehre von der Idealität der Zeit als Exempel dafür, daß durch Einsicht in die Grenzen des Verstandes und der Erkenntnis dem Glauben Platz gemacht wird.
125 Vgl. Delekat, aaO. 60 126 Vgl. Heimsoeth, Studien zu Kant I, 209f. 127 Β117
126
IV. Die Zeit als Bedingung der Selbsterkenntnis des Subjekts und die zeitliche Struktur des Selbstbewußtseins - Überlegungen zur 'Transzendentalen Deduktion' der Vernunftkritik Die Ästhetik hatte vor allem in der zweiten Auflage der Vernunftkritik in aller Deutlichkeit die Frage nach der konstruktiven Bedeutung der Zeitvorstellung für menschliche Erkenntnis überhaupt aufgeworfen. Die grundsätzliche Trennimg der beiden Erkenntnisquellen Verstand und Sinnlichkeit reicht nun als 'methodische Vorgabe' für die Entwicklung einer Theorie der Erkenntnis nicht mehr aus. Wir hatten gesehen, daß erst die zweite Auflage der Kantischen Kritik auch im Zusammenhang der Ästhetik diese veränderte Problemlage in aller Deutlichkeit thematisch macht. Dies geschieht, wie gesehen, in der Lehre vom inneren Sinn als dem 'Ort', an dem die Bestimmbarkeit der mannigfaltigen Vorstellungen des Subjekts durch die Tätigkeit des das gegebene Mannigfaltige vereinigenden Verstandes ausdrücklich wird. Mit dieser Lehre von der Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch den Verstand im inneren Sinn ist der eng gesteckte Rahmen der Ästhetik, wie Kant ihn zumindest in der ersten Auflage faktisch präsentiert, gesprengt. Das betrifft auch und gerade die vollständige Ausbildung der Zeitlehre Kants. "Erst die transzendentale Logik bringt hier die notwendige Ergänzung und Berichtigung; erst sie ermöglicht es, die neue Ansicht, die jetzt von Raum und Zeit gewonnen ist, als Ganzes zu übersehen und zu beurteilen."1 Die Logik - insbesondere aber die 'Transzendentale Analytik' - zeigt nämlich nun, daß mit der Bestimmung der Zeit als der Form des inneren Sinnes eine konstitutive Bedeutung der Zeitvorstellung für die Erkenntnistheorie überhaupt angedeutet ist, die die Ästhetik, insofern sie sich einer Isolierung der Sinnlichkeit von dem Verstandesvermögen 'verdankt' 2 , nicht auszuführen vermag. Es wird für uns nun also darum gehen, diese konstitutive Bedeutung der Zeit für die menschliche Erkenntnis, wie sie von Kant in der Analytik entwickelt wird, herauszuarbeiten. Dabei kann es erneut nicht auf eine durchlaufende Textinterpretation ankommen. Vielmehr muß für uns die Frage nach den Konsequenzen, die die Bindung der Zeit an das Bewußtsein als dessen intuitive Form hat, im Vordergrund stehen. Denn diese Bestimmung der Zeit als der Form des empirischen Selbstbewußtseins, wie Kant den inneren Sinn auch nennt3, muß sich auch hinsichtlich der möglichen
1 Cassirer, aaO. 684f. 2 Vgl. Β36 3 Vgl. Kant, Anthropologie, 428
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Begründung der Einheit der Zeit auswirken. Wir hatten gesehen, daß noch Newton mit der Bestimmung der unendlichen Zeit als Dauer (duratio) diese Einheit der Zeit begründet sah in der Einheit und 'Dauer' der Ewigkeit Gottes, weil ihm die Möglichkeit der Einheit der Zeit vermittels des endlichen Bewußtseins als widersprüchlich galt. Mit der grundsätzlichen Kritik an der Lehre von der absoluten Realität der Zeit und der Aufgabe des 'Sensorium-Begriffs' ist diese Möglichkeit für Kant nicht mehr gegeben. An die Stelle der die Einheit der Zeit konstituierenden Ewigkeit Gottes tritt, so wird sich zeigen, das stehende und bleibende Ich der Apperzeption. Es sind vor allem drei Abschnitte, die die konstitutive Bedeutung der Zeit für Erkenntnis überhaupt herausarbeiten: das Deduktionskapitel, das Schematismuskapitel und der Abschnitt über die Analogien der Erfahrung im Zusammenhang der Grundsatzlehre. Diese drei Abschnitte werden hier denn auch thematisch werden. Dabei liegt das Schwergewicht auf der Analyse des Deduktionskapitels, insofern es die Bedingungen für die Durchführung sowohl des Schematismuskapitels als auch der Grundsatzlehre herausarbeitet.4 Wir werden dagegen herauszuarbeiten haben, daß Kant in der Deduktion in letzter Hinsicht vielmehr eine ' Entzeitlichung ' der Subjektivität vornimmt, um so die Einheit der Zeit zu sichern. 1. Das zeitlos gedachte Ich der Apperzeption als Garant der Einheit der Zeit Im Zusammenhang mit der Zeitthematik hat die Interpretation der beiden unterschiedlichen Fassungen des Deduktionskapitels der Kantischen Vernunftkritik schon immer eine grundlegende Rolle gespielt. Liegt doch die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion der Kategorien nach Kant darin herauszuarbeiten, "daß (Gegenstände der sinnlichen Anschauung) den Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einsicht des Denkens bedarf, gemäß sein müssen".5 Dieses 'Vorhaben' der Deduktion aber betrifft vor allem die Zeitlehre, weil ja die Ästhetik zu zeigen versuchte, daß die Gegebenheit der Gegenstände notwendig an Formen der Sinnlichkeit eben an Raum und Zeit - gebunden sein muß. So macht diese kurze
4 Es hat gerade in den letzten Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen gegeben, die die Zeittheorie der Analytik zum Gegenstand haben (vgl. z.B. die angegebenen Arbeiten von Malcher, Schindler und Steinhoff). Daß die Analytik den Schlüssel zur Interpretation der Kantischen Zeittheorie liefert, ist dabei allgemein anerkannt. Thematisch sind diese Veröffentlichungen bestimmt durch die vor allem von Heidegger in seinem Kantbuch aufgeworfene Frage nach der zeitlichen Verfaßtheit der Subjektivität. Es ist ja Heideggers fundamentale These gewesen, daß Kant die Zeitlichkeit der Subjektivität und die 'Subjektivität' der Zeit schon gelehrt hat. (Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973", 167ff.) 5 B123
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Bemerkung Kants zu Beginn des Deduktionskapitels schon deutlich, daß die Deduktion Ausführungen zur konstitutiven Funktion der Zeit für die Durchführung der Erkenntnislehre enthalten muß. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: die Deduktion bringt den Nachweis, daß die Kategorien, die unter die Einheit der Synthesis der Apperzeption fallen, deshalb und nur deshalb Anwendung auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung finden können, weil die sinnlichen Anschauungen in den ihnen zugrunde liegenden Formen selbst eine ursprüngliche Synthesis aller Erscheinungen enthalten, die als synthetische Einheit wiederum unter der Bedingung der Einheit der Apperzeption steht. Oder anders: die Synthesis der reinen Anschauungen ist die Bedingung des empirischen Gebrauchs der Kategorien. Die Einheit der Zeit stellt also die Bedingung dar, daß der Verstand sich auf die Erscheinungen beziehen und sie zur Einheit der Erfahrung verbinden kann. Obwohl auch die erste Fassung der Deduktion dieses Ergebnis zeitigt6, ist doch hier die zweite Fassung vorzuziehen. Denn wie Henrich eindrücklich gezeigt hat7, enthält erst diese zweite Fassung der Deduktion einen regelrechten Beweisgang. Der ersten Fassung eignet durchaus ebenfalls eine außerordentliche Geschlossenheit, indem sie, von den drei Grundvermögen der Seele ausgehend8, drei verschiedene Formen der Synthesis herausarbeitet und deren transzendentalen Grund in der synthetischen Einheit des Ich aufdeckt. Allein das eigentliche Ziel der Argumentation tritt in der ersten Fassung nicht so deutlich heraus wie in dem Beweisgang der zweiten. Dieser Beweisgang soll hier mit ständigem Bezug auf die Ausführungen Henrichs kurz rekapituliert werden. Die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe liegt nach den Worten Kants darin, die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit der Beziehung der Kategorien auf Erscheinungen deutlich zu machen.9 Nur die Durchführung dieser Deduktion und damit der Nachweis, daß die Beziehung der Verstandesbegriffe auf gegebene Erscheinungen möglich ist, sichert deshalb letztlich die Möglichkeit von Erkenntnis und damit von Erfahrung überhaupt. Diejenige Tätigkeit des Verstandes, durch die Erkenntnis von gegebenen Objekte zustandekommt, nennt Kant Synthesis. "Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinen Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzusetzen, und ihre
6 Vgl. A101 7 Vgl. D. Henrich, Die Beweistruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: G. Prauss, Kant, 1973,90ff. 8 Vgl. A l 15 9 Vgl. Β117 u.ö.
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Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen."10 Die Gegebenheit des Mannigfaltigen für die sinnliche Anschauung ermöglicht noch keine Erkenntnis des Angeschauten, insofern die einzelne Anschauung das Angeschaute je für sich 'hat' und keine Einheit des Mannigfaltigen hervorbringt. Henrich hat nun dargetan, daß der Nachweis der Tauglichkeit der Kategorien für eine synthetische Erkenntnis der gegebenen Erscheinungen in der zweiten Auflage der Deduktion in zwei Beweisschritten erfolgt. In einem ersten Schritt kommt Kant zu dem Ergebnis, daß "Anschauungen unter den Kategorien stehen, sofern sie als Anschauungen bereits Einheit enthalten."11 Daß das Mannigfaltige einer Anschauung unter die Bedingimg der Einheit der Apperzeption gebracht werden muß und erst dadurch auch unter die Kategorien gebracht werden kann, war von Kant zuvor als oberster Grundsatz der Möglichkeiten der Anschauungen "in Beziehung auf den Verstand"12 geltend gemacht worden. Dieser erste Beweisschritt im Zusammenhang des Versuches, die mögliche Anwendung der Kategorien auf alle gegebenen Erscheinungen deutlich zu machen, enthält also eine Einschränkung. Auf diese Einschränkung macht der Wortlaut dieses Beweisganges in § 20 selbst unmißverständlich deutlich. Der Beweisgang stellt sich folgendermaßen dar: Die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse hinsichtlich gegebener Erscheinungen beruht auf der synthetischen Einheit der Apperzeption. (Obersatz) Die Handlung des Verstandes, durch die Mannigfaltiges unter die Einheit der Apperzeption gebracht wird, ist die Urteilstätigkeit. Denn ein Urteil ist nichts anderes "als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen".13 (Untersatz) Also steht alles Mannigfaltige, das zur Einheit eines Objekts gebracht wird, unter der Bestimmung der logischen Urteilsfunktionen des Verstandes. (Conclusio) "Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird", so formuliert Kant selbst die conclusio.14 In einer Anmerkung zu § 21 macht Kant diese Einschränkung des Beweisganges von § 20 nochmals namhaft. "Der Beweisgrund beruht auf
10 B103 11 Β143 12 B136 13 B141 14 Β143 130
der vorgestellten Einheit der Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben wird .,."15 Dieser von Henrich so genannte erste Beweisschritt der Deduktion sagt also: "Wo immer Einheit ist, da handelt es sich um einen Zusammenhang, der gemäß den Kategorien zu denken ist."16 Damit aber fehlt noch der Nachweis, daß die Kategorien für alle Objekte unserer Sinne Gültigkeit haben. So spricht Kant selbst davon, daß mit § 20 erst "der Anfang einer Deduktion"17 gemacht ist. Demzufolge betont der von Henrich so genannte zweite Beweisgang in § 26 die Aufgabe, daß nun die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf die Gegenstände, "die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen"18, darzutun sei. Dieser zweite Beweisgang der Deduktion vollzieht sich nun über den Hinweis auf die Formen der Sinnlichkeit - nämlich Raum und Zeit. In diesen Formen der Sinnlichkeit, so betont Kant, liegt schon selbst die Bestimmung der "Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori" zugrunde.19 "Also ist selbst schon Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen... a priori als Bedingung aller Synthesis der Apprehension schon mit diesen Anschauungen (sc. des Raumes und der Zeit) zugleich gegeben."20 Da aber weiter gilt, daß alle 'Einheit des Mannigfaltigen' unter der Bedingung der synthetischen Einheit der Apperzeption steht, diese sich aber in den Urteilen des Verstandes, die das Mannigfaltige unter die Einheit der Apperzeption bringen, realisiert, ist nach Kant nun nachgewiesen, daß die Kategorien in der Tat auf alle Erscheinungen Anwendung finden können. Der 'endgültige' Beweis für die faktische Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erscheinungen also vollzieht sich über den Hinweis auf die gegebenen einheitlichen Vorstellungen von Raum und Zeit. Hier zeigt sich erneut, daß ohne die Unterscheidung zwischen den Formen der Anschauung und der formalen Anschauung, in der Raum und Zeit in ihrer einheitlichen Struktur dem Gemüt gegenwärtig sind, die absolute Differenz zwischen Sinnlichkeit und Verstand zementiert werden würde und ihre Beziehung nicht gezeigt werden könnte. Der 'Beweis' besagt also: die Kategorien finden deshalb und nur deshalb Anwendung auf die apriorischen Formen der Sinnlichkeit und insofern auf das gegebene Mannigfaltige, weil die Formen der Sinnlichkeit Einheit des Mannigfaltigen schon immer enthalten, die unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden kann. Nur
15 16 17 18 19 20
Β 144 (Anm.) Henrich, aaO. 93 B144 Β159 B160 B160f.
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deshalb also, weil unsere Vorstellungen von Raum und Zeit ohne ursprüngliche Synthesis nicht gedacht werden können, rückt die Möglichkeit in das Blickfeld, daß die reinen Verstandesbegriffe Gültigkeit für die Erkenntnis des den Sinnen Gegebenen haben. "Die einzige Möglichkeit aber, den Kategorien eine Bedeutung a priori zu sichern, ist ihre Anwendung auf eine Form der sinnlichen Anschauung - das einzige Element a priori, das sich in dem Bereich ihrer Anwendung auf sinnliche Gegebenheit denken läßt. Gibt es keine Anschauung a priori, so gibt es überhaupt keinen Gebrauch der Kategorien."21 Der Hinweis Henrichs auf den doppelten Beweisschritt der Deduktion hat gewiß viele Argumente für sich, die den Wortlaut des Kantischen Textes zu erklären vermögen.22 Allerdings enthält auch dieser Erklärungsversuch der Deduktion, wenn er als vollständige Deutung der Argumentation Kants gelten will, eine wesentliche Schwierigkeit. Die Problematik dieses Erklärungsversuchs liegt darin, daß der behauptete zweite Beweisschritt den ersten logisch in sich begreift; ja, streng genommen muß der erste Beweisschritt als Konsequenz des zweiten Beweisganges angesehen werden. Dieser zweite Beweisgang besagt ja, daß alle Anschauungen vermittels der Kategorien unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden können, insofern sie in den Formen der Anschauung ursprüngliche Einheit enthalten und damit die Anwendung der Kategorien ermöglichen. Also folgt, daß die anfängliche Einschränkung der möglichen Anwendung der Kategorien auf die empirischen Anschauungen, wie sie der erste Beweisgang noch enthält, in dieser Form gar nicht in Geltung steht. Der zweite Beweisschritt läuft nämlich darauf hinaus, daß alle empirischen Anschauungen schon immer in den Formen der Sinnlichkeit unter einer Einheit stehen. Darüber hinaus ist die Einsicht, daß alle Anschauungen in diesen Formen der Sinnlichkeit eine ursprüngliche Synthesis des Mannigfaltigen enthalten, schon viel früher anzutreffen als in dem § 26, der nach Henrich diesen zweiten Beweisgang darbietet. So spricht Kant schon in § 12 davon, daß die "Synthesis in" Raum und Zeit "objektive Gültigkeit"23 hat; und die Anmerkung zu § 17 der Deduktion spricht davon, daß in den Vorstellungen von Raum und Zeit "die Einheit des Bewußtseins, als synthetisch, aber doch ursprünglich angetroffen wird".24 Und auch die Deduktion der ersten Auflage hatte diesen Gedanken, daß die Anschauungen in den Formen der Sinnlichkeit "eine
21 22 23 24
132
Henrich, aaO. 96 Das betrifft vor allem den § 26 und die Anmerkung von § 21 (B144) B121 Β136 (Anmerkung)
solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten"25, allerdings eher beiläufig erwähnt. Dort war dieses Argument noch nicht als grundlegend für den Beweisgang der Deduktion überhaupt aufgetreten, wie das in der zweiten Auflage der Fall ist.26 Die deutliche Unterscheidung zwischen der Synthesis der Apprehension als einer empirischen Verknüpfung des Mannigfaltigen und der ursprünglichen Synthesis der Einbildungskraft, die "mit diesen Anschauungen" - mit Raum und Zeit - "zugleich gegeben ist"27, ist die wesentliche Voraussetzung für das Argument, das die Anwendung der Kategorien auf alle empirischen Anschauungen möglich macht. Denn kraft der ursprünglichen Einheit alles Mannigfaltigen in den Formen unserer Anschauungen können alle Anschauungen unter die bestimmende Einheit des Verstandes gebracht werden. Obwohl also Henrich recht zu geben ist, wenn er die Pointe des Deduktionskapitels in den 'beiden Beweisschritten' sieht, so ist damit noch nicht alles gesagt, insofern die beiden Beweisschritte eben als nicht gleichwertig gelten können. Es ist also auch nach den Ausführungen Henrichs noch offen, inwiefern die zwei Beweisschritte Gleichwertigkeit beanspruchen können. Die Paragraphen zwanzig und einundzwanzig enthalten, wie gesehen, den Beweis, daß die Kategorien Anwendung finden können auf diejenigen Anschauungen, die bereits Einheit des Mannigfaltigen in ihnen enthalten. Der Paragraph sechsundzwanzig beweist, daß alle Anschauungen schon immer unter den Kategorien stehen, weil sie den sinnlichen Bedingungen der Einheit alles Gegebenen unterliegen. Dieser Beweis begreift dem Umfang nach den ersteren in sich. Damit er aber Gültigkeit haben kann, muß zuvor noch notwendigerweise verdeutlicht werden können, daß die Einheit des Mannigfaltigen in den ursprünglichen Vorstellungen von Raum und Zeit vor der Einheit der Kategorien 'da ist' und wirklich von ihr unterschieden werden kann.28 D.h. die Synthesis in den ursprünglichen Vorstellungen von Raum und Zeit muß als gegenüber der Synthesis des Verstandes eigenständige verdeutlicht werden. Erst dann gilt der Beweis, daß alle Anschauungen in der Tat schon immer unter der Einheit der Apperzeption stehen. Diesen durchaus notwendigen 'Zwischenschritt' in
25 A101 26 Das ist der entscheidende Grund für Henrich, erst in der zweiten Auflage der Deduktion einen regelrechten Beweis sehen zu können (vgl. dazu auch B67, wo Kant schon die ursprüngliche Vorstellung der Zeit so bestimmt, daß sie als Einheit Zeitveihältnisse 'enthält'). 27 Β161; vgl. auch A98ff. 28 Vgl. K. Düsing, Objektive und subjektive Zeit, in: Kantstudien 71 (1980), 8
133
der Beweisstruktur des Deduktionskapitels vollzieht Kant in den Paragraphen 22-25. Das soll hier kurz dargestellt werden. Nach den §§20 und 21, die die mehrfach erwähnte Einschränkung des Beweises der Deduktion enthalten, zeigt der § 22, daß die Kategorien als reine Verstandesbegriffe unabhängig von ihrer Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung keine Gültigkeit haben können. Denn Begriffe ohne möglichen Bezug auf empirische Anschauungen bleiben leer, ihnen liegt kein Mannigfaltiges in Raum und Zeit vor. Ein Begriff ohne "eine korrespondierende Anschauung ... wäre ... ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand"29; Erkenntnis irgendeines Gegenstandes ohne alle Anschauung wäre mithin allein durch Begriffe nicht möglich. In dem § 23 betont Kant deshalb, daß die Verstandesbegriffe wohl über die Bedingungen der Sinnlichkeit hinaus 'ausgedehnt' werden können, aber dadurch keine Erkenntnis gegebener Objekte vermitteln, mithin reine Erdichtungen bleiben. Der § 24 handelt nun "von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt".30 Die Möglichkeit dieser Anwendung ist demnach durch den dargestellten Beweisgang des § 20 noch nicht aufgezeigt. Erst jener § 24 schafft also thematisch die Voraussetzung dafür, daß der Beweisgang der Deduktion insgesamt vollzogen werden kann. Die Tätigkeit des Verstandes angesichts des mannigfaltig Gegebenen ist schlechthin als Synthesis bestimmt, als Verbindung des Gegebenen nach Regeln. Denn "die Verbindung eines Mannigfaltigen überhaupt (,) kann niemals durch Sinne in uns kommen"31, weil die Sinne immer nur das je konkret Gegebene wahrzunehmen vermögen. Also ist die Verbindung von Mannigfaltigem - auch als Synthesis der Apprehension - ausschließlich als 'Akt des Verstandes' denkbar.32 Nun kann und muß das Subjekt, das durch einen Akt der Spontaneität die Verbindung des Mannigfaltigen je und je herstellt, einen Begriff von der Möglichkeit dieser Verbindung haben; ja, als 'Subjekt' der je konkreten Verbindung von Mannigfaltigem ist das 'Ich' nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit jener Verbindung. "Die Vorstellung dieser Einheit (sc. des Mannigfaltigen) kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst
29 Β146 30 So lautet die Überschrift von § 24 (B150) 31 B129 32 Vgl. Β130; darin liegt wohl der entscheidene Unterschied der zweiten zur ersten Auflage der Deduktion. Die erste hatte den einzelnen 'Erkenntnisquellen' jeweils die Fähigkeit der Synthesis zugeschrieben und keineswegs jede Synthesis als Verstandeshandlung ausdrücklich gemacht.
134
möglich."33 Diese, jedem Akt der Synthesis notwendig vorausgehende, ursprüngliche Vorstellung der Einheit alles Mannigfaltigen nennt Kant die 'ursprünglich- synthetische Einheit der Apperzeption'. Diese ist kein objektives Selbstbewußtsein, sondern als Bedingung jeder empirischen Synthesis das bloße Bewußtsein des 'Ich denke', das alle Vorstellungen begleitet. "Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann."34 Dieses ursprüngliche Bewußtsein des 'Ich denke' begleitet alle Vorstellungen und sichert dadurch deren Einheit, weil sie die ' Jemeinigkeit' aller Vorstellungen deutlich macht. "Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d.i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin."35 Von da aus kann Kant die Tätigkeit des Verstandes überhaupt auf die Formel bringen, daß er "das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption" bringt.36 Wie genau die Kategorien Anwendung finden auf die Gegenstände der Erfahrung, um so das Gegebene unter die Einheit der Apperzeption zu bringen, das zeigt nun der berühmte § 24 der Deduktion. Die klare Antwort Kants auf diese Frage ist die Feststellung, daß in den Formen der sinnlichen Anschauungen eine Synthesis des Mannigfaltigen vorliegt, auf die der Verstand sich bezieht, ja durch die der Verstand das Angeschaute unter die Einheit der Apperzeption bringt, indem er selbst diese Einheit durch Affizierung des inneren Sinnes bzw. des empirischen Selbstbewußtseins hervorbringt. "Weil in uns aber eine gewisse Form... zum Grunde liegt,..., so kann der Verstand ... den inneren Sinn ... der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen, und so synthetische Einheit der Apperzeption des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung a priori denken, als
33 B131 34 Β132 35 Β134 36 B135 135
die Bedingung, unter welcher alle Gegenstände unserer [...] Anschauung notwendigerweise stehen müssen ..."37. Diese ursprüngliche Synthesis in den reinen Anschauungen Raum und Zeit nennt Kant 'synthesis speciosa' oder Synthesis der Einbildungskraft.38 Sie 'vermittelt' zwischen Sinnlichkeit und Verstand - genauer zwischen der Synthesis der Apprehension und der synthetischen Einheit der Kategorien - , insofern sie der subjektiven Bedingung nach, als Synthesis in den Formen der Sinnlichkeit, zur Sinnlichkeit gehört, als 'synthetisches Vermögen' aber zum Verstand. Es ist gleichwohl deutlich, daß diese dritte Grundquelle des Gemütes, wie sie in der ersten Auflage der Vernunftkritik genannt wird39, als solche in der zweiten Auflage nicht mehr so sichtbar im Mittelpunkt der Argumentation Kants steht. Das kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß die 'synthesis speciosa' als "Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit"40 bezeichnet wird. Diese These von der Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit über die Synthesis der Einbildungskraft bezeichnet und umschreibt exakt die 'Lehre' von der Selbstaffektion des Subjekts. Aus dieser Selbstaffizierung des Subjekts entspringt die Vorstellung der Zeit - und zwar die Vorstellung der Zeit ohne jeglichen Inhalt als Einheit ; kurz: die Zeit als 'formale Anschauung'.41 Folgendermaßen beschreibt Kant die 'Hervorbringung' der 'Vorstellung Zeit' aus der Selbstaffizierung des Subjekts. Danach entsteht die Vorstellung der Zeit durch die Reflexion auf die tätige Synthesis des Mannigfaltigen, die selbst als 'Anwendung' der Kategorien auf Mannigfaltiges vorgestellt werden muß. So können wir die Zeit selbst gar nicht vorstellen, "ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in demselben, Acht haben".42 Die ursprüngliche Vorstellung der Zeit, so denkt Kant, entspringt durch diejenige Handlung des Subjekts, durch die es das den Sinnen gegebene Mannigfaltige in die Einheit der Erfahrung bringt. "Der Verstand findet also in diesem (sc. dem inneren Sinn) nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affi-
li 38 39 40 41 42
136
Β150 (Hervorhebung von mir) B151 Vgl. A l 15 B152 und auch B153f. (Hervorhebung von mir) Vgl. B153f. Β154
ziert."43 Diesem Akt der Bestimmung des inneren Sinnes durch den Verstand entspringt aber gleichzeitig die Vorstellung der Zeit als der einheitlichen Form, unter der alles Mannigfaltige steht. Um diese These Kants, daß die ursprüngliche Vorstellung der Zeit der Affizierung des Subjekts durch sich selbst entspringt, verstehen zu können, bedarf es eines nochmaligen Eingehens auf die schwierige Unterscheidung zwischen der Zeit als Form der Anschauung und ihrer Bestimmung als formale Anschauung. Diese Differenzierung tritt in dieser Begrifflichkeit erst in § 26 auf.44 Sie liegt aber auch schon im Zusammenhang des Paragraphen vierundzwanzig vor; nämlich in der oben zitierten Behauptung Kants, daß die Zeitvorstellung derjenigen Tätigkeit des Verstandes entspringt, in der er das den Sinnen Gegebene über den inneren Sinn konkret bestimmt. Denn die Bemerkung, daß wir "die Zeit nicht" vorstellen können, ohne daß wir "im Ziehen einer geraden Linie... bloß auf die Handlung der Synthesis"45 reflektieren, bedeutet nichts anderes, als daß in dieser Reflexion eine anschauliche Vorstellung der Zeit entsteht. Die Zeit wird hier nicht als Bedingung oder Form jeder empirischen Anschauung gedacht, die dann als solche nicht Vorstellungsinhalt sein kann, sondern eben als Anschauungsinhalt. Die zusammen mit der Synthesis des Mannigfaltigen erzeugte Vorstellung der Zeit begreift diese als Einheit alles Mannigfaltigen hinsichtlich seiner Gegebenheit. Die als Einheit angeschaute Zeit aber ist die Zeit in formaler Anschauung. So wird die Unterscheidung zwischen der Zeit als 'unanschaulicher' Form der Sinnlichkeit und ihrer Bestimmtheit als formale Anschauung zu einem wesentlichen Moment im Beweisgang der Deduktion. Wir wollen versuchen, uns dieser Behauptung nochmals durch eine kurze Rekapitulation des Beweisganges zu nähern. Die Pointe des Gedankenganges des Deduktionskapitels konnte mit Henrich in dem Nachweis gesehen werden, "daß die Kategorien unseres Verstandes zu einer Erkenntnis der uns gegebenen Erscheinungen in der Einheit eines Erfahrungszusammenhanges"46 deshalb geeignet sind, weil das sinnliche Vermögen in den reinen Anschauungen selbst eine Einheit des Mannigfaltigen enthält. Nun muß aber im Zusammenhang einer transzendentalen Deduktion gezeigt werden, daß die in den Formen der Sinnlichkeit vorliegende und durch die Affizierung des inneren Sinnes erzeugte Einheit eine von der synthetischen Einheit der Apperzeption unterschiedene ist. Anders kann nicht gut davon gesprochen werden, daß sich der Verstand auf
43 44 45 46
Ebd. Β160 (Anmerkung) B154 Henrich, aaO. 91
137
diese Formen der Sinnlichkeit wegen ihrer synthetischen Funktion beziehen kann. Auf der anderen Seite muß aber genauso deutlich werden, daß die ursprüngliche Einheit der Zeit von der empirischen Einheit des Mannigfaltigen in der Synthesis der Apprehension unterscheidbar ist; ja nicht nur das! Es muß weiter zu erkennen sein, daß die ursprüngliche Synthesis in den Formen der Anschauung die empirische Synthesis des Mannigfaltigen möglich macht. Die behauptete Vermittlungsfunktion der Formen der Anschauung zwischen begrifflichem und sinnlichem Vermögen macht also den Nachweis nötig, daß diese Formen der Anschauung selbst eine Einheit vorstellen, die einer ursprünglichen Synthesis entspringt. Diese ursprüngliche Synthesis neben der Synthesis der Apprehension, die "die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung"47 darstellt, und der synthetischen Einheit der Apperzeption, "die a priori allem meinem bestimmten Denken" vorhergehen muß, nennt Kant die "transzendentale Synthesis der Einbildungskraft".48 Die erste Auflage der Kritik hatte die in den Vorstellungen von Raum und Zeit vorliegende Einheit noch nicht konsequent als Produkt der Einbildungskraft bezeichnet, sondern sie als Erzeugnis der Synthesis der Apprehension gedacht.49 Die zweite Auflage nun arbeitet deutlicher heraus, daß die vorgestellte Einheit von Raum und Zeit einer ursprünglichen Synthesis entspringt. Denn Kant muß zeigen können, daß in den Formen der Anschauung eine Einheit des Mannigfaltigen vorliegt, die die Beziehung der Kategorien, die unter die Bedingung der Einheit der Apperzeption fallen, auf Erscheinungen möglich macht und damit zugleich den empirischen Verstandesgebrauch. Diese 'Eigenständigkeit'der Formen der Anschauung muß so unterstrichen werden, daß die Einheit von Raum und Zeit in einer ursprünglichen Synthesis auch vorstellig gemacht werden kann und nicht in der Einheit der Apperzeption aufgeht. Die Herauslösung von Raum und Zeit als Anschauungsformen aus den reinen Verstandesbegriffen steht hier auf dem Spiel. So entscheidet sich hier nicht weniger als das Gelingen der gesamten Kritik. Der Beweis der Deduktion gelingt nach einer Äußerung Kants aus § 26 nur, wenn gezeigt werden kann, daß "Raum und Zeit... nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten), also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt" sind.50 Diesen von Kant geforderten Beleg für die Gültigkeit der Deduktion bringt die 47 Β160 48 B151 49 Vgl. A100 50 Β160 138
Unterscheidung zwischen 'Form der Anschauung' und 'formaler Anschauung' im Blick auf Raum und Zeit. Diese Unterscheidung wird von Kant in einer Anmerkung im Anschluß an die eben zitierte Stelle eingeführt. "Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, ..., in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt."51 Diese Unterscheidung, die in gleicher Weise auf die Vorstellung der Zeit gilt, enthält die grundsätzliche Schwierigkeit, daß darin Zeit und Raum als Vorstellungsm/ia/fé thematisiert werden. Dieser Auffassung hatte Kant in der Ästhetik im Zusammenhang der Herausarbeitung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung noch vehement widersprechen müssen, um der Kennzeichnung von Raum und Zeit als reiner und apriorischer Anschauungen willen. Die Pointe der Argumentation in der Ästhetik lag, wie gesehen, auf der Kennzeichnung von Raum und Zeit als 'unanschaulicher' Bedingungen unseres intuitiven Bewußtseins. Bedeutet nun die 'Wiederentdeckung' von Raum und Zeit als Vorstelhmgsinhalte die Beseitigung der Grundlagen, die Kant selbst gelegt hat? Nun haben Scholz und auch Cassirer mehrfach daraufhingewiesen, daß die als 'synthetische Einheit' vorgestellte Zeit, also die Zeit als formale Anschauung, die Zeit der Newtonschen Mechanik ist, die Kant ja auch in der Ästhetik als die Zeit unseres unmittelbaren Zeitbewußtseins beschrieben hatte.52 Raum und Zeit als Vorstellungsm/ia/ie sind der Euklidische Raum und die Newtonsche Zeit mit ihren immanenten Strukturen.53 51 Β160 (Anmerkung); zugleich gilt diese Unterscheidung als grundlegend für den gesamten Beweisgang der Deduktion (vgl. § 17 - Β136 (Anmerkung) und Β154) 52 Vgl. Scholz, aaO. 48f. und Cassirer, aaO. 696 53 Die Unterscheidung zwischen Raum und Zeit als Formen der Anschauung und ihrer Bestimmtheit als formale Anschauungen erfüllt also folgenden Sinn. Der Begriff der formalen Anschauung bringt zum Ausdruck, daß die apriorischen Strukturen von Raum und Zeit - wie sie in der Euklidischen Geometrie und der Newtonschen Mechanik konstruiert werden Ergebnis einer ursprünglichen Synthesis der Einbildungskraft sind. Darin aber werden sie nicht zum Gegenstand der sinnlichen Anschauung, weshalb Kant sie auf eine 'formale Anschauung' reduziert. Damit betont Kant seine Überzeugung, daß die im Gemüt durch die Selbstaffìziening des Subjekts erzeugte Zeitstruktur dem Euklidischen Raum und der Newtonschen Zeit entspricht. Als Formen der Anschauung gehen Raum und Zeit aller Synthesis und Tätigkeit des Subjekts voraus. Damit trägt Kant die Unterscheidung zwischen der bloßen Mannigfaltigkeit des den Sinnen Gegebenen und seiner möglichen Einheit in die Verfassung des endlichen Subjekts, das das Mannigfaltige nicht erzeugen kann, ein. Im Blick auf die Zeit unterscheidet Kant damit zwischen ihrer bloßen Gegebenheit als der allgemeinen subjektiven Bedingung der Gegenständlichkeit der Dinge und ihrer ursprünglichen Einheit im Akt des gesetzgebenden Verstandes.
139
Die Pointe der Argumentation Kants in dem entscheidenden § 24 liegt nun darin, daß die ursprüngliche Einheit in den Formen der Sinnlichkeit doch wieder als Leistung des Verstandes in der Affizierung des inneren Sinns gedacht wird.54 Das zeigen auch die Beispiele, die Kant in diesem Zusammenhang 'liefert', um die Beziehung des Verstandes auf die Erscheinungen über die Formen der Sinnlichkeit zu verdeutlichen.55 Danach ist die anschauliche Konstruktion eines Zirkels die Bedingung, unter der ein Zirkel überhaupt begrifflich erfaßt werden kann. Und die empirische Anschauung eines Hauses ist nur möglich unter der Bedingung, daß die mögliche Einheit der mannigfaltigen Vorstellungen, die zu der Anschauung des Hauses gehören, in Raum und Zeit erreichbar ist. So ist jede konkrete Zeitbestimmung angewiesen auf die sukzessive 'Zusammenfügung' einzelner Wahrnehmungen. Dieses 'Durchgehen' der einzelnen Anschauungen aber kann zu der Erkenntnis eines Objekts nur führen, wenn sie durch die Urteils tätigkeit des Verstandes, der den Begriff der Einheit des Gegenstandes hervorbringt, erweitert wird. Die Bestimmung des Objekts in seiner Einheit ist deshalb letztlich die Leistung des Verstandes.56 Nun schaut aber der menschliche Verstand nicht an; d.h. er bringt das Mannigfaltige nicht hervor. Die Synthesis des Verstandes ist lediglich die "Einheit der Handlung"57 oder das bloße Bewußtsein des 'Ich' im Akt des Denkens. Das bloße Bewußtsein des 'Ich denke' muß sich deshalb über die einheitlichen Formen der Sinnlichkeit vermitteln, um so Anwendung zu finden auf alle Erscheinungen überhaupt. Raum und Zeit stellen so "eine besondere Art der Beziehung dar, die wir zwischen den einzelnen Empfindungen stiften."58 Die synthetische Funktion der ursprünglichen Vorstellungen von Raum und Zeit aber wird anschaulich in der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft. Gelänge es nicht, den synthetischen Charakter von Raum und Zeit derart ansichtig zu machen, so wären die Vorstellungen der Einheit von Raum und Zeit und zugleich der Einheit der Erfahrung aufgehoben. Das Gefalle der Argumentation in § 24 der Deduktion zeigt also an, daß Kant diese synthetische Einheitsfunktion von Raum und Zeit als Vermittlungsinstanz und Wirkungsmöglichkeit des Verstandes auf die Sinnlichkeit denkt. Vor allem E. Cassirer hat die 'synthetische Einheitsfunktion' von Raum und Zeit als wesentlich für die Kantische Erkenntnislehre herausgestellt. 54 55 56 57 58
140
S.o. S. 134 Vgl. Β154 und Β162 Vgl. Β130 Β153 Cassirer, aaO. 685
Nur so, daß sie als Bedingung der möglichen Einheit des gegebenen Mannigfaltigen selbst eine ursprüngliche Synthesis enthalten, sind Raum und Zeit als selbständige Erkenntnisquellen auszumachen.59 "Raum und Zeit erfordern, wenn sie nicht bloß als subjektive Formen der Sinnlichkeit, sondern als Objekt der reinen Anschauung betrachtet werden, den Begriff eines Zusammengesetzten, mithin der Zusammensetzung des Mannigfaltigen"60; da aber jede Synthesis letztlich als Tätigkeit des Verstandes vorgestellt werden muß, kann diese Synthesis in den Vorstellungen von Raum und Zeit nur als Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit, deren allgemeine Bedingungen Raum und Zeit sind, gedacht werden. "Daß alle unsere Begriffe sich auf die räumliche Anschauung beziehen, dies bedeutet nichts anderes, als daß jegliche Erkenntnis des Objekts, die wir gewinnen können, durch die reine geometrische Konstruktion vermittelt sein muß."61 Also bedeutet die These von der Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit über die reinen Anschauungen nicht weniger, als daß sich der Verstand die Bedingungen schafft, unter denen die Kategorien Anwendung auf Erscheinungen finden können. Auch K. Düsing hat in seinem Aufsatz Objektive und subjektive Zeit' auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen den Formen der Anschauung und ihrer Deutung als 'formale Anschauungen' verwiesen. Auch Düsing sieht die Funktion dieser Unterscheidung Kants darin, die Eigenständigkeit der Vorstellungen von Raum und Zeit als 'Erkenntnisquelle' zu unterstreichen. Dazu aber muß nach Düsing in den reinen Anschauungen das Vermögen einer ursprünglichen Synthesis sichtbar gemacht werden. Nur dann kann wirklich davon gesprochen werden, daß die Kategorien anwendbar sind auf Erscheinungen über die reinen Anschauungen. "Wird die Zeit selbst mit den Verhältnissen in ihr zum Gegenstand des Vorstellens gemacht wie z.B. in der 'transzendentalen Ästhetik', so ist sie Thema einer 'formalen Anschauung', d.h. sie ist rein angeschaute thematische Einheit von gegebenem Mannigfaltigen, die der regelnden Einheit, wie sie in der Kategorie gedacht wird, konform sein muß."62 Zusammenfassend ist die Argumentation von § 24 der Deduktion als wesentlicher Zwischenschritt zwischen den beiden Beweisgängen in den §§20 und 26 aufgedeckt. Denn der § 24 hat die ursprüngliche Synthesis in den Formen der Anschauung, die die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen nach § 26 möglich macht, aus der Selbstaffektion des
59 60 61 62
Vgl. Cassirer, aaO. 687 AaO. 696 Ebd. Düsing, aaO. 8f.
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Subjekts erklärt. Aus der Wirkung des Verstandes auf das sinnlich Gegebene entspringen die ursprünglichen und einheitlichen Vorstellungen von Raum und Zeit als Bedingungen der Einheit des Mannigfaltigen. Dieses Ergebnis besagt also: die Kategorien sind gültig für die Erkenntnis der uns gegebenen Erscheinungen, weil die Einheit der Zeit als Bedingung der Einheit der Erscheinungen durch das Subjekt selbst erzeugt wird. So 'entstehen' wirklich zwei unterschiedliche Beweisschritte der Deduktion. Der erste bringt das Mannigfaltige einer einzelnen empirischen Anschauung unter die Einheit der Apperzeption. Der zweite Beweisschritt erklärt die Einheit aller mannigfaltigen Vorstellungen aus der Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit vermittels der 'Lehre' von der Selbstaffektion des Subjekts. Unsere Argumentation berührt sich hier mit der von W. Schindler vorgetragenen Kritik an Henrich.63 Schindler wirft Henrich ein Übergehen von § 24 vor, wodurch er dann den eigentlichen Beweis der Deduktion verschoben habe. Dieser § 24 ist nach Schindler insofern in das Zentrum des Beweisganges gehörig, als er "die Bestimmung der Sinnlichkeit durch den Verstand erklärt"64 - nämlich durch die Theorie von der Selbstaffektion des Subjekts. Schindler kann sich dabei nicht nur auf den § 24 beziehen, sondern auch auf die viel diskutierte Anmerkung zum § 26, wo Kant die Differenzierung zwischen den Formen der Anschauung und ihrer Bestimmtheit als formale Anschauungen einführt. Es ist dabei die These Schindlers, daß mit der Einführung von Raum und Zeit als formale Anschauungen nicht nur die Frage der Gültigkeit der Kategorien, sondern auch die Frage nach der Art und Weise ihrer Anwendung auf Erscheinungen in die Deduktion eingetragen ist. Daß Henrich sich bei der Beurteilung des Beweisganges der Deduktion nur auf die Frage der Gültigkeit der Kategorien bezieht, ist der eigentliche Vorwurf Schindlers.65 Schindler hält dagegen, daß mit der Theorie der Selbstaffektion des Subjekts zugleich die Thematik der konkreten Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen angedeutet ist. Gleichwohl könnten sich Henrich und Schindler vermutlich auf die Interpretation einigen, daß Kant in der ursprünglichen Synthesis von Raum und Zeit die Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand gesehen hat.66 Schindler geht allerdings darin über Henrich hinaus, daß er in der
63 64 65 66
142
W. Schindler, Die reflexive Struktur objektiver Ericenntnis, 1979,92ff. AaO. 106 AaO. 107 Vgl. z.B. Henrich, aaO. 89
ursprünglichen Synthesis von Raum und Zeit, die die Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit darstellt, eine spezifische Theorie des Selbstbewußtseins angedeutet sieht. Konkret sieht Schindler in dieser Mittelstellung der Zeit zwischen Spontaneität und Rezeptivität die These von der grundlegenden zeitlichen Konstitution der Subjektivität bei Kant begründet. Die Vorstellung der Zeit als ursprünglicher Einheit nämlich ist, insofern sie die der Einheit der Apperzeption korrespondierende Vorstellung ist, als solche die Bedingung, durch die die reflexive Struktur der Subjektivität ausdrückbar und erkennbar zugleich ist.67 Es ist also der Gedanke der reflexiven Struktur der objektiven Erkenntnis, der nach Schindler durch die Theorie der Selbstaffektion, in der das Subjekt zur Erkenntnis der Objekte kommt, ermöglicht wird.68 Diese Reflexivität hängt an der zeitlichen Verfaßtheit der Subjektivität, da die Selbstunterscheidung des 'Ich denke' von dem 'Ich empfinde' - also von dem rezeptiven Subjekt - durch die Zeitvorstellung allein vermittelt wird. Die Begründung objektiver Erkenntnis also ist abhängig von der Struktur des Selbstbewußtseins - das ist nach Schindler das Ergebnis der Heranziehung des § 24 für die Beurteilung des Deduktionskapitels. Damit ist zugleich der Vorwurf Hegels gegen die 'Flachheit der Deduktion' Kants widerlegbar.69 Dieser Vorwurf der "Flachheit der Deduktion der Kategorien"70 richtet sich darauf, daß die Einheit der Apperzeption von Kant erst bei der Deduktion der Kategorien als Erkenntnis konstituierendes Prinzip geltend gemacht wird und nicht schon als Prinzip auch der Anschauungsformen thematisch ist (304f.). Die im Deduktionskapitel auftretende Einsicht Kants in die wahrhafte Einheit von Subjekt und Objekt, Denken und Sein ist so von Kant nur als subjektive Einheit und damit defizitär entwickelt. Die Flachheit der gesamten Kantischen Philosophie rührt nach Hegel letztlich daher, daß Kant die drei, - von ihm sehr schön aufgedeckten, synthetischen Vermögen - nicht als Einheit begründen will und so die Einheit der Erfahrung bloß postuliert. Dabei hat Kant nach Hegel im Vermögen der produktiven Einbildungskraft durchaus die Fähigkeit auch des endlichen Subjekts vorstellig gemacht, das Mannigfaltige als Form selbst zu erzeugen. Die Gestalt der Deduktion, die das Erkennen des Subjektes auf ein bloß 'formales Wissen' - nämlich die bloß logische Einheit des Subjekts zurückführt, hebt diese Einsicht wieder auf und bleibt bei der von Kant 67 Vgl. Schindler, aaO. 139 68 Vgl.aaO. 111 und 139 69 Vgl. G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen, in: Werke 2, SV 1970, 304f. 70 Hegel, Glauben und Wissen 304 - die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf dieses Werk
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gewollten Gegenüberstellung von bloßer Mannigfaltigkeit und empirischem Selbstbewußtsein stehen (328f.). Die Aufhebung dieser Differenz wird von Kant in der praktischen Philosophie als Beseitigung des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, Freiheit und Notwendigkeit postuliert und so "in einem Glauben gesetzt" (330), in der Vernunftkritik gleichsam festgeschrieben. So bleibt für Hegel am Ende nur die lapidare Feststellung, Kant wolle ganz offenbar die Absolutheit der Endlichkeit und Subjektivität, der das andere ihrer selbst zum Widerständigen wird, an dem sie sich abarbeiten muß. Denn die höchste Idee der Kantischen Philosophie "ist die völlige Leerheit der Subjektivität oder die Reinheit des menschlichen Begriffs, der zugleich in der Verstandessphäre als das Objektive gesetzt ist, ... in der praktischen Seite aber als objektives Gesetz" (333). In letzterem sieht Hegel den entscheidenden Ausgangspunkt für eine Kant-immanente Kant-Kritik. Begnügt sich nämlich die theoretische Philosophie Kants mit der Konstatierung der formalen Einheit von Erfahrung und Erkenntnis, so postuliert das 'formale Ich' in der praktischen Philosophie das Sittengesetz. Das unbestimmbare Ich wird zur gesetzgebenden Vernunft. Aber auch nach der praktischen Philosophie arbeitet sich das Ich, das sich dem anderen seiner selbst gegenübergestellt weiß, an der Erfüllung 'seiner' Gesetze ab und bleibt letztlich hoffnungslos unversöhnt. So mündet Hegels Vorwurf an Kant in dessen unvermittelter Setzung eines "absoluten Punkt(es) der Egoität" (314), in dem die Endlichkeit sich absolut setzt unter der Konstatierung der Unerkennbarkeit des Unendlichen. Die Vermittlung zwischen Subjekt und Mannigfaltigem, Denken und Sein ist im Gedanken der produktiven Einbildungskraft wohl gedacht - und die Deduktion läßt sich gar nicht verstehen ohne die Einbildungskraft als "das Erste und Ursprüngliche" (308), "aus welchem das subjektive Ich sowohl als die objektive Welt erst zur notwendig zweiteiligen Erscheinung und Produkt sich trennen" (308); aber Kant ist nach Hegel vor der Idee eines endlichen anschauenden Verstandes zurückgeschreckt. Vielmehr hat er diese Idee des anschauenden Verstandes, der intellektuellen Anschauung als das unerkennbare Unendliche und Jenseitige gesetzt. Warum dieses Zurückschrecken Kants vor einer ihm selbst präsenten Idee? Hegels Antwort auf diese Frage lautet immer wieder: weil Kant die Absolutheit und Selbständigkeit des Endlichen will. Kants Philosophie mündet nach Hegel in den "Jubel des Verstandes und der Endlichkeit, sich als das Absolute dekretiert zu haben" (321). Es ist deutlich, wie sehr sich die Heideggersche Kantinterpretation deijenigen Hegels verdankt. Die Gründe des Kantischen Zurückschreckens 144
vor der vermittelnden Funktion der Einbildungskraft sieht Heidegger allerdings fundamental anders als Hegel. Kant ergreift nach Heidegger die Angst vor der Endlichkeit und Zeitlichkeit der Vernunft - weshalb er das zeitlose Ich als Garanten für die Einheit der Zeit festhält.71 Das Ergebnis der Deduktion nach der zweiten Auflage der Vemunftkritik kann nun insgesamt überblickt werden. Die Kategorien des reinen Verstandes finden Anwendung auf alle sinnlichen Anschauungen, weil der Verstand als das Vermögen der Verknüpfung der Kategorien die Formen der Anschauungen selbst in der Affizierung des Sinnes oder Gemütes als einheitliche Vorstellungen auffaßt und so hervorbringt. Insofern aber alle sinnlichen Anschauungen unter diesen Formen stehen, was die Ästhetik gezeigt hat, ist die Gültigkeit der Kategorien für alle Objekte der Sinne gezeigt. So sind Raum und Zeit als apriorische Elemente des sinnlichen Vermögens die Bedingung, durch die sich der Verstand auf die Erscheinungen beziehen kann. Der Verstand 'vollbringt' diese Beziehung so, daß er vermittels der reinen Verstandesbegriffe in den Anschauungen selbst die synthetische Einheit ausübt und hervorbringt. "Was wir in der zweiten Auflage finden, ist ein Beweis der Gültigkeit der Kategorien, der zugleich und in Einem Erklärung der Möglichkeit ihrer Beziehung auf Sinnlichkeit ist, ohne sich in die Probleme einer Analyse der Erkenntnisvermögen einzulassen"72, wie das noch die erste Auflage tat. Insofern ist es folgerichtig, wenn Kant gerade im Anschluß an die Argumentation des § 24, wo die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen vermittels der Formen der Sinnlichkeit gezeigt wird, die im Zusatz zur zweiten Auflage der Ästhetik 'angerissene' Thematik der 'Selbstaffektion des Subjekts' nochmals ausführlich diskutiert.73 Denn die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf alle Erscheinungen war ja von Kant so vorgestellt worden, daß der Verstand selbst in den Anschauungen synthetische Einheit des Mannigfaltigen hervorbringt. Damit aber ist dann die These von der Selbstaffektion zur Entfaltung gebracht. "Das, was den inneren Sinn bestimmt, ist der Verstand und dessen ursprüngliches Vermögend) das Mannigfaltige der Anschauung zu vollbringen, d.i. unter die Apperzeption zu bringen."74
71 72 73 74
S.u. S. 152f. Henrich, aaO. 98 Vgl. B152-156 Β152
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So und nur so bestimmt der Verstand durch das 'begleitende' Bewußtsein der Einheit aller Vorstellungen im 'Ich denke' die Sinnlichkeit ihrer Form nach. "Er also übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde."75 So kommt Kant zu der schon besprochenen Äußerung: "Der Verstand findet also in diesem (sc. dem inneren Sinn) nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert".16 Das bloße Bewußtsein der Einheit aller Vorstellungen im 'Ich denke' ist aber nicht identisch mit dem inneren Sinn bzw. dem empirischen Selbstbewußtsein, weil "der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauung ist".77 Der Verstand bleibt angewiesen auf die Gegebenheit des Mannigfaltigen, das er in die Einheit der Vorstellung bringt. Als 'Beispiel' einer solchen Affizierung des Subjekts durch seine eigene Tätigkeit führt Kant das schon für Augustine Zeitanalyse entscheidene Phänomen der Aufmerksamkeit (attentio) an.78 Danach bestimmt der Verstand den inneren Sinn so, daß eine empirische Verbindung mehrerer Einzelvorstellungen - denken wir als Beispiel die Wahrnehmung einer Melodie als einer Folge von Tönen - der vom Verstand gedachten Verbindung, die gleichwohl während der konkreten Wahrnehmung hervorgebracht wird, entspricht. "Der Verstand bestimmt darin (sc. in dem Actus der Aufmerksamkeit) jederzeit den inneren Sinn der Verbindung, die er denkt, gemäß, zur inneren Anschauung, die dem Mannigfaltigen in der Synthesis des Verstandes korrespondiert."79 Das Deduktionskapitel zeigt also nicht nur, daß die objektive Erkenntnis abhängig ist von der Struktur des Selbstbewußtseins, wie Schindler deutlich machen wollte. In der These von der Selbstaffektion des Subjekts als der Weise, in der der Verstand das sinnlich Gegebene bestimmt, liegt zugleich eine 'Theorie des Selbstbewußtseins' begründet, die die zeitliche Verfaßtheit als wesentliche Bestimmtheit des Subjektes begreift. Danach und das ist das für uns wesentliche Ergebnis - ist die Zeit nicht nur das Medium der Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit, sondern darin auch die Bedingung für die Selbstunterscheidung des Subjekts.
75 76 77 78 79
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B152f. Β155 B152 Vgl. Β156 Anmerkung Ebd.
Vermöge der Zeitvorstellung kann ich mich von mir selbst unterscheiden und nach meiner Identität fragen; somit ist die Identität des Ich vermittelt durch die Bestimmung der dem Ich gegebenen Anschauungen - also auch der äußeren Anschauungen. Das Ich bestimmt sich - so müßte aus diesen Bemerkungen Kants gefolgert werden können - durch anderes und an anderem. Das Ich erweist sich darin als Einheit von 'Gegebenheit' und 'Selbstentfaltung'. Das Ich der Apperzeption vermittelt für sich keine Selbsterkenntnis des Subjekts. "Wie aber das Ich, der ich denke, von dem Ich, das sich selbst anschaut, unterschieden [...] und doch mit diesem letzteren als dasselbe Subjekt einerlei sei ..."80, das versucht Kant durch den Hinweis darauf zu erläutern, daß auch der innere Sinn durch sich selbst nicht vollständig erklärt werden kann.81 Wir haben, so versucht Kant zu zeigen, von der Zeit nur eine anschauliche Vorstellung durch die Handlung des Subjekts, in der wir das Mannigfaltige bestimmen und so die Vorstellung der Zeitfolge erst hervorbringen. Eine Zeitfolge selbst aber kommt zur Anschauung allein in einer räumlichen Vorstellung - in der Vorstellung einer Linie. So müssen wir "die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen" "immer von dem hernehmen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen".82 Daraus meint Kant ableiten zu können, daß sich die Selbsterkenntnis des Subjekts nur durch Selbstanschauung vollziehen kann. Die Analogie der Zeitanschauung mit der Raumvorstellung also soll zeigen, daß das Subjekt sich "selbst nur anschauen kann"83 wie es von sich selbst durch seine Verstandestätigkeit affíziert wird. Damit aber wird die Zeit nicht nur zum 'Medium' der Objekterkenntnis, sondern zum 'Medium' der Selbsterkenntnis des Subjekts. Versuche, den Zusammenhang der Apperzeption mit der synthetischen Einheit der Einbildungskraft und d.h. mit der Einheit der Zeit - ein Zusammenhang, der bei Kant ja so bestimmt ist, daß die Apperzeption über die die Zeit konstituierende Funktion der Einbildungskraft realisiert wird84 - für eine 'Theorie der Subjektivität' überhaupt fruchtbar zu machen, wurden seit Heideggers Kantbuch verschiedentlich unternommen. Herauszuheben aus den Versuchen der letzten Jahre sind hier die breit angelegten Arbeiten von Matcher und Steinhoff.
80 B155 81 Vgl. B156f. 82 Β156; diesen notwendigen Zusammenhang der Zeitvorstellung mit der räumlichen Vorstellung hat besonders G. Krüger, Über Kants Lehre von der Zeit, in: Anteile. M. Heidegger zum 60. Geburtstag, 178ff., herausgearbeitet 83 B156 84 Vgl. Β187
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Bekanntlich hatte Heidegger die Bemerkungen Kants, daß durch die Selbstaffizierung des Subjekts die Zeit gleichsam 'erzeugt' wird85, so gedeutet, daß Kant die Subjektivität schlechthin als ursprüngliche Zeit verstanden wissen will.86 Kant selbst sei zwar, so Heidegger, vor dieser Deutung der Subjektivität schlechthin als Zeitlichkeit in der zweiten Auflage seiner Vernunftkritik durch die Zurückdrängung der Funktion der Einbildungskraft zurückgeschreckt87, habe aber gleichwohl in seiner Theorie der Selbstaffizierung des Subjekts die Grundlegung einer 'ursprünglichen' und d.h. zeitlich verfaßten Subjektivitätstheorie angedeutet. Damit habe er die Seinsvergessenheit der Metaphysik andeutungsweise überwunden, indem er die Seinsfrage im Zusammenhang der zeitlichen 'Selbstauslegung' des Subjekts thematisch gemacht habe. Diese These Heideggers ist vielfach kritisiert worden, hat aber auch durchaus positive Aufnahme gefunden.88 In jedem Fall haben die Thesen Heideggers insofern stark auf die Kantinterpretation gewirkt, als die Frage nach der Konstitution der Subjektivität im Anschluß an Kants Vernunftkritik in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt ist. Dabei spielt nicht zuletzt die Thematik des Verhältnisses von 'Zeit und Subjektivität' eine entscheidende Rolle. Es ist im Blick auf den Kantischen Text ja auch nicht von der Hand zu weisen, daß diese Thematik wesentlich ist für die Grundlegung der 'Kantischen Erkenntnislehre'. M. Maicher hat in seinem groß angelegten Werk über 'Das Problem der Grundwissenschaft' versucht zu zeigen, daß Kant schon seit seiner Dissertation von 1770 die Funktion der Zeitvorstellung nicht nur im Zusammenhang des Vermögens der Sinnlichkeit des Subjekts thematisiert hat, sondern im Zusammenhang einer 'Theorie der Subjektivität' überhaupt.89 Dabei bezieht sich Malcher zurecht auf die Definition der Zeit als 'lex mentis' in der Dissertation; darüber hinaus weist er darauf hin, daß Kant schon in dieser seiner Schrift die Möglichkeit von Erfahrung in der Einheit von Begriff und Anschauung sieht, Erfahrung als Resultat der Anwendimg der Begriffe auf das den Sinnen Gegebene begreift. Damit ist nach Malcher deutlich, daß die Zeitvorstellung konstitutive Bedeutung für die Erkenntnislehre über den 'Bereich' der Rezeptivität hinaus haben muß. Entscheidend auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Bemerkungen nun ist die These Malchers, daß die Zeit "die unmittelbar-erste bildende
85 86 87 88 1958 89
148
Vgl. B182undB153f. Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973 4 ,181 AaO. 158f. Am sichtbarsten und eindrücklichsten wohl bei G. Picht, Die Erfahrung der Geschichte, Vgl. M. Malcher, Das Problem der Grundwissenschaft nach Kant und Hegel, 1979,103
Wirkung des Vernunftveimögens in der Sinnlichkeit des Subjekts ist".90 Die Zeit ist danach nicht lediglich die Bedingung empirischer Anschauung, sondern die durch das transzendentale Subjekt selbst hervorgebrachte Bestimmung der Erscheinungen. Somit denkt Malcher das transzendentale Subjekt Kants als Ursprung der Zeit.91 Dabei versucht Malcher durch den Hinweis auf die "Strukturgleichheit der Transzendentalbegriffe und ihres Zeitschemas"92 zu zeigen, daß die Zeitvorstellung genauer aus den reinen Verstandesbegriffen hervorgeht. Dabei betont er aber, daß die reinen Verstandesbegriffe nicht etwa als Aufhebung der Zeitvorstellung vorgestellt werden können, sondern sich durch die aus ihnen 'erzeugte' Zeitvorstellung realisieren. "Das bedeutet: das Sein kann von der Zeit nicht getrennt und vor allem nicht im Sinne der Logik des Allgemeinbegriffs als ein 'noch höheres' Allgemeines der Zeit übergeordnet werden, sofern es die Zeit unmittelbar als die Form seiner immanenten Wirkmächtigkeit erzeugt und als solches den eigentlichen Inhalt oder Gehalt derselben ausmacht."93 Kurz: Malcher deutet die Vermittlung zwischen Anschauungen und Begriffen durch das synthetische Vermögen der Einbildungskraft dahingehend, daß er das 'Kantische transzendentale Subjekt' in dieser 'Theorie der Selbstaffizierung' schlechthin durch Zeitlichkeit bestimmt sieht. Das meint aber nicht die Endlichkeit oder Temporalität des empirischen Bewußtseins; sondern es ist das 'Ich denke' als die Bedingung der Einheit aller Erkenntnis überhaupt, das sich durch die Erzeugung der Zeitvorstellung im Subjekt als 'Erkenntnis konstituierendes Subjekt' zeigen kann. Die 'Erzeugung' der Zeitvorstellung ermöglicht erst die Reflexivität des Bewußtseins. "Wenn aber die Zeit nicht eine dem Selbstbewußt-Sein des Subjekts, in welchem sie ihren Ursprung hat, äußerliche und leere Form ist, sondern die Struktur eben dieses Seins in seiner lebendigen Selbstverwirklichung als wirkende Kraft ..."94, so kann die Zeitlichkeit des Subjekts nicht mehr als defizitäre Bestimmtheit des Subjekts begriffen werden. In einem ergänzenden Aufsatz zu seinem Buch hat Malcher diese Ausführungen durch den Nachweis zu erhärten versucht, "daß die Zeit als Schema der Genesis und Inhaltserfüllung des Systems der Transzendentalbegriffe"95 vorgestellt werden muß. Die Zeit fungiert nach dieser Bemerkung Malchers geradezu als Leitfaden der Entdeckung der reinen Verstan-
90 91 92 93 94 95
Malcher, aaO. 112 Vgl. aaO. 127 u.ö. AaO. 156 AaO. 164 AaO. 139 M. Malcher, Der Logos und die Zeit, in: Kantstudien 73 (1982), 208ff„ hier 227
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desbegriffe und damit als Medium der Selbstgewißheit des Denkens. "In dieser tieferen Fundierung der Zeit in der einigenden Einheit des Selbstbewußtseins als hervorbringendem Grund und definierender Bedingung bleibt sie nämlich folgerichtig keine bloße Anschauungsstruktur mehr, sondern gewinnt die begriffliche Bestimmtheit der wohlstrukturierten Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung."96 In einem anderen Licht stellt sich der Versuch Steinhoff s dar, die grundsätzlich zeitliche Verfaßtheit des Kantischen Subjektbegriffs nachzuweisen. Steinhoffs Versuch gehört in die Nähe einer phänomenologischen Zeitanalyse, indem er fordert, das Wesen der Zeit schlechthin aus der inneren Erfahrung bzw. inneren Zeitlichkeit der Subjektivität zu verstehen.97 Diese Einsicht, daß das Zeitphänomen allein aus der 'Innerzeitigkeit' der subjektiven Erfahrung gedeutet werden kann, sieht Steinhoff bei Kant 'angedeutet'. Dabei liegt für Steinhoff von vornherein auf der Hand, daß Zeiterfahrung allein "begründet liegt in der Stellung des erfahrenen Subjekts in der Zeit und ... nur aus der Selbsterfahrung erschlossen werden" kann.98 Die ursprüngliche Zeit ist nach Steinhoff die Subjektivität. So ist die Zeit als Anschauungsform nach Steinhoff unterbestimmt. Denn "ein Verstehen dessen, was mit dem Ausdruck 'Zeit' gemeint ist, (setzt) ein Bestimmen der - und das heißt ein Denken der Zeit - (voraus)".99 So macht Steinhoff in seiner Kantinterpretation diejenigen Passagen besonders stark, in denen Kant die Bestimmung der Sinnlichkeit durch die Tätigkeit des Verstandes hervorhebt. Diese Stellen werden von Steinhoff so beurteilt, daß in ihnen nicht nur das Zentrum der Kantischen Zeitlehre enthalten ist, sondern daß sie auch die Aktualität und Modernität der Kantischen Philosophie ausmachen. Das führt Steinhoff schließlich dazu, den besonders im Schematismuskapitel manifest werdenden Versuch der Vermittlung zwischen Anschauung und Begriff für überflüssig zu erklären, weil eben gilt, daß die Zeit unmittelbar in der Selbstaffizierung des Subjekts erzeugt wird. Der Verstand als das 'Subjekt' der Selbstaffizierung bringt damit die Form des Mannigfaltigen selbst unmittelbar hervor.100 Gegen diesen Versuch, die Subjektivität bei Kant schlechthin als zeitlich zu bestimmen, aber spricht die Deutung, die Kant dem Gedanken der 'Selbstaffizierung' selbst gibt. Denn dieser Begriff oder Gedanke der Selbstaffizierung des Ich impliziert für Kant die 'Zeitlosigiceli' des Ich der Apperzeption. Kant löst darin die Gleichwertigkeit der Zeit als Form der 96 97 98 99 100
150
Malcher, aaO. 229 Vgl. M. Steinhoff, Zeitbewußtsein und Selbsterfahrung, 1983,105, 108 u.ö. Steinhoff, aaO. 188 AaO. 272 Vgl. aaO. 310 u.ö.
Gegebenheit der Dinge mit ihrer Struktur in formaler Anschauung auf. Nur so meint Kant die für die Einheit der Erfahrung notwendige Einheit der Zeit sichern zu können. Das logische Subjekt aller Vorstellungen - darin läßt auch die zweite Auflage der Vernunftkritik keinen Zweifel - geht allem empirischen Verstandesgebrauch voraus, insofern es die bloße und formale Vorstellung der Einheit aller Vorstellungen ist. Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption ist "dasjenige Selbstbewußtsein ..., was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann".101 Als solche ist sie die Vorstellung der 'durchgängigen Identität'102 des Subjekts. Die erste Auflage hatte noch stärker von dem 'stehenden und bleibenden Ich' der Apperzeption gesprochen.103 Das führt uns zu der Einsicht: nicht die Subjektivität schlechthin gilt Kant als die Zeit - wie Steinhoff und Henke wollen - , sondern die Zeit ist das Medium der objektiven Erkenntnis und der Selbstanschauung des Subjekts. Die Zeit ist nicht die Selbstaffektion, sondern sie entspringt aus der Selbstaffizierung des Subjekts und macht so die Selbstunterscheidung des Subjekts möglich. Der Gedanke der Selbstunterscheidung impliziert für Kant ein unaufhebbares Gefalle vom denkenden Ich zum anschauenden Ich. Das Ich als denkendes bleibt bloßes Postulat; als solches aber Bedingung für die konstruktive Einheit der Selbstanschauung des Ich, wie es in der Zeit gegeben ist. Delekat hat nicht zuletzt in der vermittelnden Funktion der Einbildungskraft bei Kant eine Anthropologisierung der theistischen Metaphysik Baumgartens gesehen. Denn nach Delekat tritt im Gedanken der produktiven Einbildungskraft Kants, die die Vorstellung der Einheit des Mannigfaltigen erzeugt, das endliche Subjekt an die Stelle der 'schöpferischen Anschauung' Gottes.104 Diese Behauptung hat darin ihr Recht, daß es nach Kant in der Tat das Subjekt ist, das die Form, in der die Erscheinungen gegeben werden können, im Prozeß der Selbstaffizierung hervorbringt. Allein, die Gegebenheit des Mannigfaltigen selbst bleibt dem Subjekt 'entzogen'. Allerdings kann im Gedanken der Zeit als dem Medium der objektiven Erkenntnis und der Selbstanschauung des Subjekts noch deutlicher eine Aufnahme des 'Sensorium-Begriffs', wie er bei Newton und Clarke in der 'Gotteslehre' auftrat, gesehen werden. Denn als sensorium Dei waren Zeit und Raum in ihrer Unendlichkeit für Newton und Clarke das Medium der 101 102 103 104
B132 Vgl. ebd. Vgl. A123 Vgl. Delekat, aaO. 94
151
Hervorbringung der Dinge durch Gott. Kant seinerseits sieht die Zeit gewiß nicht als Medium der Hervorbringung des Daseins der Dinge durch das endliche Subjekt, sondern als Bedingung der Formung des Mannigfaltigen im Blick auf die Einheit der Erfahrung. Auch Kant rechnet die Strukturen von Raum und Zeit wie Newton zum 'Apriori' der Erkenntnis. Durch die Formen der Sinnlichkeit kann das endliche Subjekt zwar nicht das Dasein der Dinge 'erzeugen', aber doch die Bedingungen angeben, unter denen die Dinge Gegenstände der Erfahrung werden können. Auch für Kant also ist die Zeit das Medium der Wirkung des - nun allerdings - endlichen Subjekts auf die Welt. Das 'Ich' ist dabei insofern schöpferisch, als es die Strukturen von Raum und Zeit und damit die Bedingungen der Gegebenheit der Gegenstände 'hervorbringt' und festlegt. Dazu aber muß das Ich der Apperzeption als Bedingung aller Synthesis und als Bedingung der Einheit aller Vorstellungen außerhalb der Zeit stehen. Vom bloßen empirischen Ich unterscheidet sich das Ich der Apperzeption dadurch, daß es die Vorstellung einer durchgängig und unverbrüchlich möglichen Verbindung des Mannigfaltigen, die im empirischen Bewußtsein je und je vollzogen wird, repräsentiert. So sichert die Zeitenthobenheit des Ich der Apperzeption die Einheit der Zeit. Denn so wie das 'Ich denke' stehendes und bleibendes Correlatimi aller Vorstellungen ist, so ist die Zeit das Correlatum aller sinnlichen Anschauungen.105 Das 'Ich denke' als dieses ständige Correlatum aller meiner Vorstellungen kann selbst nicht Gegenstand einer Anschauung werden und steht so außerhalb der Zeitvorstellung. Die angedeutete 'Strukturgleichheit' zwischen dem 'Ich denke' und der Zeit als dem ständigen Correlatum aller Anschauungen ist alles andere als zufällig; sie liegt begründet in der These von der 'Entstehung' der Zeitvorstellung als der Einheit alles sinnlich Gegebenen in der Selbstaffizierung des Subjekts. Wenn denn gilt, daß sich die Verstandesbegriffe über die Formen der Sinnlichkeit 'realisieren', so ist diese Strukturgleichheit der synthetischen Einheit der Apperzeption und der Synthesis der Einbildungskraft notwendig. Thematisch wird sie erneut im Zusammenhang der Grundsatzlehre dort, wo Kant die Beharrlichkeit als den eigentlichen Modus der Zeit vorstellt. "Die Zeit also, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht"106, denn alle Zeitbestimmung kann nach der ersten Analogie der Erfahrung nur als Bestimmung an einem Beharrlichen vorgestellt werden. So führt die Grundsatzlehre nur noch aus, was in der Theorie der Selbstaffizierung des Subjekts angedeutet ist.
105 Vgl. A123f. 106 B224f.
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Im Gedanken des logischen und zeitlosen Ich als des Correlatimi aller Vorstellungen aber wird der theologische Ewigkeitsbegriff in der 'Fassung' der Ewigkeit als 'nunc stans' tradiert.107 "Die ständige Gegenwart der Ewigkeit - das ist der Grund des Zeitbegriffs bei Kant."108 Nur ist das Subjekt, das die Dinge in der Form der einheitlichen und unwandelbaren Zeit anschaut, nicht Gott, "sondern die menschliche Vernunft als das Subjekt des logischen Verstandes".109 Das Subjekt also, das sich selbst doch nie als unendliches Ganzes hat, soll nach Kant der Garant für die Einheit der Zeit sein. Die Möglichkeit, die Einheit der Zeit in der Ständigkeit der Ewigkeit Gottes begründet zu sehen, ist für Kant damit erledigt. 2. Die Folgen der 'Theorie der Selbstaffizierung des Subjekts' für das Schematismuskapitel und die Grundsatzlehre Die Deduktion hat allererst die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen ausgewiesen und damit nur die Bedingungen freigelegt, unter denen es auch zu einer Erkenntnis der uns gegebenen Erscheinungen in der Einheit eines Erfahrungszusammenhangs kommen kann. Mit der ursprünglichen Synthesis der Einbildungskraft nämlich liegt das 'Vermögen' im Gemüt vor, durch das die reinen Verstandesbegriffe Anwendung finden können auf die Erscheinungen und durch das die Einheit des gegebenen Mannigfaltigen unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden kann. Der konkrete Nachweis, wie sich nun die Bestimmung der Sinnlichkeit durch den Verstand konkret vollzieht, ist damit aber noch nicht erbracht. Diese Aufgabe übernehmen das Schematismuskapitel und die Grundsatzlehre.110 Die Aufgabe des Schematismuskapitels bestimmt Kant lapidar so, daß es "von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebracht werden können".111 Es genügt nicht, daß der Verstand
107 Vgl. H. Schnarr, Nunc stans, in: G. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6,1984,989ff. 108 Picht, aaO. 40; so schon viel früher F. Heinemann, Der Aufbau von Kants Kritik der reinen Vernunft und das Problem der Zeit, in: Philosophische Arbeiten, hg. von H. Cohen und P. Natorp, Band 7 (1912/13), 63-274, 119 und 121 109 Picht, aaO. 41; schon Picht hat diesen Gedanken kritisiert, daß das empirische Ich, das selbst kein absolutes Ganzes ist und sein kann, die Einheit der Zeit stiften soll (5 Iff.) 110 Es geht hier nicht darum, diese Kapitel der Vemunftkritik zu referieren; wir wollen lediglich darauf hinweisen, daß diese beiden schwierigen Kapitel auf dem Hintergrund der 'Theorie der Selbstaffektion' interpretiert werden müssen. 111 Β175
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aus den Kategorien einfach Regeln ableitet, nach welchen er das gegebene Mannigfaltige ordnet. Vielmehr muß an den Formen der Sinnlichkeit nachgewiesen werden können, daß Gegenstände so gegeben werden, daß sie den Grundsätzen des Verstandes angemessen sind. "Der Schematismus ist bestimmt, die innere 'Ungleichartigkeit' zu heben, die zwischen dem reinen Verstandesbegriff und der sinnlichen Anschauung, auf die er angewandt werden soll, zu bestehen scheint."112 Dies wird erreicht durch den Nachweis, daß mit der Einbildungskraft ein Vermögen vorliegt, die Einheit des Mannigfaltigen vorweg nach Zeitverhältnissen - und zwar nach den Verhältnissen des Nacheinander, Zugleichseins und des im Wechsel Beharrlichen - zu konstruieren. Kant nennt den Schematismus auch "die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge in einem Bild vorzustellen".113 So ist der Schematismus der Ausdruck dafür, daß unsere Begriffe einer anschaulichen Konstruktion ihr Sein verdanken und nicht einem unmittelbaren Abdruck der Gegenstände im Gemüt. Die Schemata sind Konstruktionsbedingungen der Begriffe; als solche sind sie nach Kant nichts als Zeitbestimmungen.114 So spricht Kant davon, daß "die Schemata der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren".115 Die Grundsatzlehre nun ist die andere Seite des Schematismuskapitels. Sie entwickelt die Regeln, nach denen die Kategorien auf die Anschauungen angewandt werden. Das bedeutet, daß die Grundsätze Regeln des Verstandesgebrauchs in bezug auf die Bedingungen der Sinnlichkeit sein müssen. Das hat zur Folge, daß sich die Kategorien nach den Grundsätze als transzendentale Zeitbestimmungen realisieren. Das wird am deutlichsten in den Analogien der Erfahrung, die zeigen, daß "der Verstand (ist) vermittelst der Einheit der Apperzeption die Bedingung a priori der Möglichkeit einer kontinuierlichen Bestimmung aller Zeitstellen der Erscheinungen durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen"116 ist. Die Analogien zeigen also die 'Anwendung' der synthetischen Einheit der Apperzeption als des 'Correlatum' aller Vorstellungen auf die Erscheinungen über die Einheit der Zeit als des ständigen 'Correlatum' alles Daseins. So sichert also die zeitenthobene Einheit des Subjekts die Einheit der Zeit und der Erfahrung.117
112 113 114 115 116 117
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Cassirer, aaO. 712 Β179 Vgl. B184 B185 Cassirer, aaO. 721 Vg. B262ff.
Zusammenfassende Abschlußbemerkungen Kant geht in der Geschichte des Denkens als der Philosoph ein, der im Zuge seiner Erkenntnislehre eine solche Deutung des Zeitphänomens vorgenommen hat, die die Zeit aus der Relation zum Gedanken der Ewigkeit herauslösen muß. Die Zeit hat für Kant neben dem Raum konstitutive Bedeutung für die menschliche Erkenntnis. Die Vorstellung der einen gegebenen Zeit sichert die mögliche Einheit der Erfahrung. Gerade die Einsicht in diese Funktion der Zeit verbietet es für Kant, die Zeit - etwa im Sinne Newtons - wegen ihrer Eigenschaften, die sonst nur dem göttlichen Wesen zugeschrieben werden, in die Nähe eines Gottesattributes zu rücken. Darin werden die selbst gesetzten Grenzen menschlichen Erkennens unrechtmäßig überschritten. Die These, Kant löse die Zeitanalyse aus der Relation zum Gedanken der Ewigkeit heraus, mußte zunächst - insofern sie suggeriert, es handle sich dabei um einen allmählichen Prozeß - im Blick auf die Entwicklung des Kantischen Denkens erläutert werden. Noch in seiner Inauguraldissertation hieß es bei Kant, der Raum könne, insofern er die allgemeine und notwendige Bedingung des 'einander Gegenwärtigseins von allem ist', "die Allgegenwart in der Erscheinung" genannt werden.118 Ebenso betonte Kant im Blick auf die Zeit als der allgemeinen und notwendigen Bedingung der Veränderung in der Welt, daß sie die "Ewigkeit der gemeinsamen Ursache in der Erscheinung"119 sei. Der Zusammenhang dieser Aussagen Kants mit den Thesen Newtons und vor allem Clarkes ist unabweisbar. Raum und Zeit sind nach diesen frühen Äußerungen Kants Erscheinungsweisen der Totalität, "mit der die Welt und alles, was in ihr ist, als ein sensorium ihres Schöpfers wahrgenommen wird."120 Allerdings war eine Verschiebung in der Intention dieser Äußerungen bei Kant gegenüber Clarke und Newton schon erkennbar. Kant vermied es, explizit von der Allgegenwart und Ewigkeit Gottes zu reden und deutete die beiden Bestimmungen des Raumes und der Zeit so, daß sie die allgemeinen Bedingungen für die Einheit der Erfahrung und der erkennbaren Welt angeben. Die unsere Kantinterpretation leitende These, Kant löse die Zeitanalyse aus der Relation zum Gedanken der Ewigkeit - also aus der Relation, die für
118 Kant, De mundi, 70 119 Ebd. 120 Delekat, aaO. 61
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die philosophische Tradition, die Kant rezipiert, noch in Geltung steht - , mußte aber nun auch im Blick auf das kritische Hauptwerk Kants verifiziert werden. Kant ist spätestens seit der scharfen und scharfsinnigen Deutung Hegels als der Denker vorgestellt worden, der die Zeit aus sich selbst verstehbar machen will, indem er sie als Verfassung des endlichen Erkennens schlechthin festzuschreiben sucht. Nach Hegel stimmt die Kantische Philosophie den Jubel der Endlichkeit an. Wir sahen, daß diese Deutung der Kantischen Philosophie von der die Kantinterpretation dieses Jahrhunderts bestimmenden Deutung Heideggers, allerdings mit verändertem Vorzeichen, übernommen wurde. Heidegger gilt die kritische Philosophie Kants als der ängstlich unterdrückte Jubel der sich auf sich selbst gründenden endlichen Zeitlichkeit. Unsere kurze Analyse entscheidender Passagen der Vernunftkritik rekapitulierte entscheidende Argumentationsfiguren, die Kant dazu führen, theologische Implikationen der Zeitvorstellung endgültig in das Feld einer die Erfahrung überfliegenden Spekulation zu verweisen. In der Ästhetik fielen bei der Analyse von Raum und Zeit die Begriffe der Allgegenwart und Ewigkeit gänzlich fort. Raum und Zeit wurden als reine Anschauungen des Menschen gekennzeichnet. Der Begriff der reinen Anschauung wurde in einem ausdrücklichen Gegensatz zu einer möglichen intellektuellen Anschauung entwickelt. Deren Möglichkeit, die von allen Bedingungen der Sinnlichkeit abstrahiert, läßt sich wohl denken, aber nicht verdeutlichen oder konstruieren. Der Durchgang durch die Ästhetik konnte femer zeigen, daß Kant im wesentlichen die inhaltlichen Bestimmungen von Raum und Zeit, wie sie Newton vorgenommen hat, übernimmt. Aber er begründet die Strukturen der Raum-Zeit aus der Verfassung des menschlichen Gemütes. Die Nähe des 'inneren Sinns' zum Sensorium-Begriff war hervorzuheben. Auch bei Clarke und Newton war Sensorium nicht bloßes Wahrnehmungsorgan (Gottes), sondern als Medium der Hervorbringung und Gestaltung der Welt gedacht. Die Heranziehung der Kontroverse zwischen Clarke und Leibniz konnte verdeutlichen, daß Kant sich in der metaphysischen Beurteilung der Zeit Leibniz anschloß, indem er sie als ens imaginarium dachte; darin allerdings nicht als ein der Abstraktion von empirischen Anschauungen entspringenden Begriff, sondern als reine Anschauung. Diese Absetzung der Zeitvorstellung von einem empirischen Begriff begründete Kant mit der anschaulichen Einheit der Zeit und ihrer Unendlichkeit. Daß die Zeit nur als Form der subjektiven Anschauung, nicht aber als Form des Angeschauten selbst gedacht werden darf, liegt im Gefalle der metaphysischen Beurteilung der Zeit. Andernfalls müßten auf die prakti-
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sehe Philosophie und die rationale Gotteslehre, so entwickelt Kant schon in seiner Ästhetik, unüberwindbare Probleme zukommen. Der Gedanke der Freiheit und der Gottesgedanke wären dann, wenn die Zeit die Bedingung der Dinge an sich ist, nicht mehr zu entwickeln. Nun zeigte aber die Fortsetzung schon der Ästhetik - vor allem in der zweiten Auflage der Vernunftkritik - , daß Kant mit dieser Bestimmung von Raum und Zeit als der Formen bloß der menschlichen Anschauung nicht auskommt. Denn schon die Ästhetik baut in der Kennzeichnung der Strukturen von Raum und Zeit darauf auf, daß diese Strukturen in der Euklidischen Geometrie und der Newtonschen Mechanik veranschaulicht werden können. Diese Veranschaulichung sichert letztlich die Behauptung Kants, diese Strukturen entsprängen synthetischer Erkenntnis. Die Geltung der Strukturen von Raum und Zeit als synthetische Erkenntnisse, die aus den apriorischen Vorstellungen von Raum und Zeit gezogen werden können, spricht gegen die Reduzierung der Zeit auf eine Form der Anschauung allein. Insofern sind "Raum und Zeit nicht mehr nur Formen des Anschauens, sondern auch Formen des Angeschauten".121 Unsere Überlegungen zur Transzendentalen Analytik versuchten zu verdeutlichen, daß Kant dieser Differenzierung zwischen den Formen der Anschauung und der formalen Anschauung, in der Raum und Zeit in ihrer einheitlichen Struktur erfaßt werden, entscheidende systematische Bedeutung zumißt. Durch diese Unterscheidung wird das menschliche Gemüt als diejenige Quelle gekennzeichnet, die durch das Setzen der Vorstellungen zu der Anschauung affiziert wird, die die Einheit der Zeit in den Verhältnissen des Nacheinander, des Zugleichseins und des im Wechsel der Zeit Beharrlichen erfaßt. Die Zeit in formaler Anschauung - so zeigt die These von der Selbstaffizierung des Subjekts - entspricht exakt der Zeit der Newtonschen Kinematik. Durch die Unterscheidung zwischen der Zeit als Form der Anschauung und als formaler Anschauung ist also im Sinne Kants die Differenzierung zwischen der bloßen formalen Gegebenheit der Dinge, die an die Zeitvorstellung gebunden ist, und ihrer Verknüpfung zu dem Begriff eines Gegenstandes gerechtfertigt. Zugleich unterstützt die These von der Anschaulichkeit der Zeitstrukturen in dem Vorgang der Selbstaffizierung des Subjekts das Bemühen Kants, die Einheit der Erfahrung als konkret möglich aufzuweisen. Indem die Zeitverhältnisse in ihrer Einheit durch die eigene Tätigkeit des Subjekts selbst hervorgebracht werden, ist die Einheit der Zeit durch die Einheit des Ich gesichert. Diese Einheit des Ich wird gewußt und gesetzt als Einheit des 'Ich denke'. 121 Delekat, aaO. 63
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Die Theorie von der Selbstaffizierung des Ich läuft also darauf hinaus, daß die in der Newtonschen Kinematik 'entdeckten' Strukturen der Zeit in dem Gemüt des Menschen ihre Entsprechung und eigentliche Wurzel haben und dort auch "auf dem Wege über die Selbstanschauung gefunden werden können".122 Das sieht sehr nach einer philosophischen Konstruktion aus, die sich dem glücklichen Fall verdankt, daß das unmittelbare Zeitbewußtsein die Zeit in der Form gegenwärtig hat, in der sie die Newtonsche Kinematik entdeckt hat. Die Theorie der Selbstaffizierung in der vorliegenden Form sichert die gesuchte und geforderte Einheit der Erfahrung, indem sie eine Theorie über die mögliche Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen unterlegt. Diese hängt an der aufgewiesenen Einheit der Zeit in formaler Anschauung und wird zugleich gesichert durch die Zurückführung dieser Einheit auf die logische Einheit des 'Ich denke'. In dem Vermögen der produktiven Einbildungskraft denkt Kant also ein subjektives Vermögen, das die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität vorstellig macht und damit die mögliche Beziehung zwischen dem Verstand und der Sinnlichkeit. In der Einbildungskraft werden die einheitlichen Strukturen der Zeit hervorgebracht und so auf das gegebene Mannigfaltige bezogen. So betont Kant, daß der Verstand "unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist", ausübt, "wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde".123 Die Vermittlungsfunktion der produktiven Einbildungskraft hängt an dieser ihrer Bestimmung als eines zugleich rezeptiven und spontanen Vermögens. So ist dadurch die doppelte Bestimmung der Zeit gesichert. Die Zeit ist schlechthin das bestimmbare Bestimmte oder das bestimmte Bestimmbare; die Form des Gegebenen in seiner unbestimmten Mannigfaltigkeit und das bestimmte Gegebene. Im Blick auf die Zeit als Form der Selbstanschauung heißt das: Die Zeit ist die Einheit von Gegebenheit - 'Sich-nicht- selbst-Gesetzt-Haben' - und Selbstentfaltung des Subjekts. Hegel wie Heidegger haben die produktive Einbildungskraft wegen ihrer Vermittlungsfunktion zwischen rezeptivem und spontanem Vermögen des Subjekts als den eigentlichen Begriff der Subjektivität bei Kant namhaft gemacht. Die beiden folgenreichen Kantdeutungen treffen sich eben darin, daß sie die produktive Einbildungskraft einmal als Vermögen der intellektu-
122 Delekat, aaO. 69 123 B153f.
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eilen Anschauung, zum anderen als ursprüngliche Zeitlichkeit und Endlichkeit, als die ursprüngliche Subjektivität behaupten. Die beiden Deutungen trennen sich darin, daß Hegel dieses vermittelnde Vermögen auf die produktive Vernunft zurückführen will, Heidegger auf eine sich mit ihrer Endlichkeit abfindende Subjektivität. So sind diese beiden Deutungen auf dem Hintergrund der erklärten Vermittlungsfunktion der Einbildungskraft die beiden möglichen Deutungen der Kantischen Philosophie. Hegel betont die entscheidende Funktion der Einbildungskraft als die Weise der Selbstentfaltung des Subjekts, Heidegger als die Einsicht in die vorgängige Welt- und Selbsterfahrung des sich nicht selbst setzenden Subjekts. In Kants Zeitlehre spiegelt sich die unhintergehbare Voraussetzung Kants, daß die Einheit menschlicher Erfahrung nur als Einheit von gegebenem Mannigfaltigen und tätigem Verstand zu denken ist. Die Zeit ist die Verfassung des Gegebenen, wie es das Subjekt anschaut. Das Nebeneinander von Sinnlichkeit und Verstandestätigkeit bleibt für Kant das Letzte und wirkt sich auf die doppelte Bestimmung der Zeit aus. Für Kant heben also die beiden angegebenen Deutungen seiner Philosophie dieses Nebeneinander, das für ihn an der Endlichkeit menschlichen Erkennens hängt, auf. Der Einsicht in das Nebeneinander von Sinnlichkeit und Verstand entspricht die These, die Einheit des Subjekts sei als bloß- logische zu denken. Das Bewußtsein des 'Ich denke' ist eine notwendige Bedingung für die mögliche Einheit der Erfahrung, aber kein konkretes Selbstbewußtsein. So wird die Einsicht in die Dialektik von Gegebenheit und Selbstentfaltung bei Kant nicht entwickelt, sondern in der Idee der Einheit des Ich zur Ruhe gestellt. Die Folgen dieses Gedankens sind angedeutet worden. Die postulierte Zurückführung der Zeit auf die zeitlos gedachte Einheit des Ich läßt das Subjekt 'unerlöst'. Das Ich arbeitet sich an seiner geforderten Selbständigkeit, in der es das Gegebene je neu in die Einheit der Erfahrung zu bringen hat, ab. Das wirkt sich in der Ethik, die hier nicht entwickelt werden kann, so aus, daß das Ich gegen seine Neigung je neu dem selbst gesetzten Imperativ folgen muß.124 Der Jubel der Endlichkeit bleibt tragisch.
124 Das ist vor allem aufgedeckt worden von I. Heidemann, Spontaneität und Zeitlichkeit, Kantstudien-Ergänzungshefte 75, 1958; Heidemann sieht den Mangel der kritischen Philosophie Kants darin, daß Kant die im Deduktionskapitel implizit manifeste "Thematik von Spontaneität und Zeitlichkeit" (aaO. 15) nicht entwickelt hat. In seiner Deutung der Spontaneität des Subjekts als bloß logischer, gesetzter habe Kant die Seinsweise des spontanen und - in der Ethik - gesetzgebenden Ich nicht entfaltet. So ist auch die doppelte Bestimmung der Zeit als Form des Gegebenen und 'Gesetzlichkeit', die der Verstand den Erscheinungen unterlegt, bei Kant nicht ausdifferenziert, (vgl. aaO. 68ff. u.ö.)
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Darin sehen wir die eigentliche Schwierigkeit der Kantischen Zeitlehre. Sicher bleiben noch andere, ebenfalls erwähnte Kritikpunkte. Die von Kant ungelösten Schwierigkeiten in der Unterscheidung zwischen den reinen Anschauungen und den Vernunftideen bzw. ästhetischen Ideen wurden erwähnt; ebenso die einfache Zurückdrängung der theologischen Implikationen des Zeitbegriffs und der Idee der Unendlichkeit. Diese Kritikpunkte weisen aber in die namhaft gemachte Absicht Kants, die Zeit als Bedingung des endlichen Erkennens einzuschränken, um so die Selbständigkeit des endlichen Erkennens zu sichern. Darin zeigt sich, daß Kant in seiner Zeitanalyse den Gedanken einer die Zeiten in ihrem Wechsel konstituierenden Ewigkeit bewußt zurückdrängt, obwohl er ihn im Gedanken des stehenden und bleibenden Ich rezipiert. Die Zeitanalyse Kants gelangt so zu der widersprüchlichen 'Idee' der sich absolut setzenden Endlichkeit; das sich in der Zeit wissende endliche Ich setzt sich selbst außerhalb der Zeit als den Garanten ihrer Einheit. Von theologischer Seite ist diese Konsequenz der Kantischen Zeitlehre mehrfach angedeutet worden. Für Ratschow bedeutet sie die Vertiefung der neuzeitlichen Erfahrung der Zeitlichkeit des Lebens.125 Ebeling sieht bei Kant unausgesprochen den Beginn des Prozesses der 'Vernichtung' der Ewigkeit durch die Zeit.126 Und schließlich sieht Pannenberg bei Kant das gescheiterte Unternehmen einer Begründung der Einheit der Erfahrung aus der endlichen Subjektivität unter Umgehung des Zusammenhanges von Naturerklärung und Gottesglaube.127
125 Vgl. C.H. Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems, in: ZThK 51 (1954), 360ff., hier 365 126 Vgl. G. Ebeling, Zeit und Wort, in: Wort und Glaube II, 1969, 121ff„ hier 125 127 Vgl. W. Pannenberg, Schöpfungstheologie und moderne Naturwissenschaft, in: Gottes Zukunft - Zukunft der Welt, Festschrift für J. Moltmann, 1986, 276ff„ hier 287f.
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Β . Z U R ZEITLEHRE M A R T I N HEIDEGGERS
Einleitung Die Ausführungen über Kants Zeittheorie vollzogen in sehr groben Zügen die überaus folgenreiche Entwicklung Kants von dem anfanglichen Versuch, die Zeit als Medium des göttlichen Wirkens in der Welt auszusagen, bis zu der berühmten These der 'KdrV' von der transzendentalen Idealität der Zeit nach. Diese Entwicklung, ob man sie nun als Rück- oder als Fortschritt im Kantischen Denken beurteilt, ist wesentlich bedingt durch die die kritische Philosophie unmittelbar bestimmende Einsicht in die Unhintergehbarkeit der beiden Erkenntnisstämme. Nach Kants kritischer Einsicht läßt sich das Zusammenwirken von Verstandestätigkeit und sinnlichem Vermögen für den Vollzug jeder Erkenntnis zwar beschreiben und analysieren, aber nicht auf eine noch 'höhere' Einheit zurückführen. Das Zusammenwirken von Anschauung und Begriff im Vollzug der Erkenntnisse ist nach Kant hinsichtlich seiner Möglichkeit nicht mehr erklärbar.1 Im Zusammenhang des Grundvermögens der Sinnlichkeit entwickelt Kant die Zeitvorstellung vom Gedanken der Bewegung her.2 Darin folgt er seiner Meinung nach nicht Aristoteles, sondern Newton, indem er aus der apodiktischen Geltung, die dessen Kinematik seines Erachtens zukommt, die Apriorität der Zeitvorstellung erschließt. Mit dieser 'These' meint Kant gegenüber Aristoteles geltend machen zu müssen, daß das Phänomen der Bewegung auf die Vorstellung der Zeit zurückzuführen ist. Das Modell einer wechselseitigen Bestimmung von Zeit und Bewegung erweist sich somit als dem Bewegungsphänomen nicht angemessen. Die Pointe der Kantischen These von der Apriorität der Zeitvorstellung liegt aber nun - auch und gerade gegenüber Newton - darin, daß Kant die Apriorität der Zeitvorstellung für die Behauptung der transzendentalen Idealität der Zeit in Anschlag bringt. Das bedeutet also: gerade aufgrund ihrer Apriorität als Vorstellung ist die Zeit keine Eigenschaft der Dingwelt an sich; wäre sie als solche geltend zu machen, so könnten keine apodiktisch gewissen Bewegungsgesetze aufgedeckt werden. Diese aber liegen in der Newtonschen Kinematik vor. Und - erkenntnistheoretisch gesprochen - es wären keine synthetischen Sätze hinsichtlich der Beschaffenheit von 1 Vgl. D. Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, in: PhR 3 (1955), 28ff„ 45 u.ö.; Henrich spricht in diesem Zusammenhang von der 'innersubjektiven Teleologie' der Eikenntnisstämme bei Kant als derjenigen Theorie, durch die Kant deren Zusammenwiiicen gleichsam nur nachträglich erklärt. 2 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B48
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Raum und Zeit möglich, wäre die Zeit eine Eigenschaft der Dingwelt an sich. Wie die Zeit also keinesfalls relational in bezug auf die Dinge an sich bestimmt werden kann, so entspringt sie - und dies betont Kant mit derselben Nachdrücklichkeit - auch nicht der Selbsterfahrung des Subjekts. Sondern die Zeit "nimmt Subjekt und Objekt in einen Griff ".3 Auch im Blick auf die Zeit also zeigt sich, daß sich Erkenntnis nach Kant allein aus der Beziehung und dem Zusammenwirken der beiden Erkenntnisstämme ergibt. Die Fähigkeit des Verstandes, sinnlich Gegebenes unter Regeln bringen zu können, ist nur wirksam in Anwendung auf die kontingenten Strukturen der anschaulichen Raum- und Zeitverhältnisse. Die Regelhaftigkeit des Verstandes also vermag die Kontingenz von Raum und Zeit nicht aufzuheben. Auf der anderen Seite vermittelt die Einsicht in die Strukturen von Raum und Zeit ohne die Anwendung der Verstandesprinzipien noch keine Erkenntnis gegebener Erscheinungen. Die Kantische These von der transzendentalen Idealität der Zeit, die diese an den Akt der Objekt-Erkenntnis des Subjekts bindet, hat nun Folgen in sich, die für eine theologische Auffassung der Zeit weitreichende Konsequenzen haben. Die so gedachte Zeit wird aus der Relation zur Ewigkeit herausgelöst. Diejenigen Modelle, die die Zwiespältigkeit menschlicher Zeiterfahrung so deuten, daß sie sie aus der Gegenüberstellung der Zeit zur Ewigkeit als ihrem Urbild verständlich zu machen suchen, verlieren auf dem Hintergrund der Ausführungen Kants an Aussagekraft und Geltung. Unter der Zwiespältigkeit der Zeiterfahrung verstehen wir dabei die in jeder Reflexion der Zeitvorstellung ans Licht kommende Grunderfahrung, daß die Zeit sowohl als Bedrohung der Ständigkeit des menschlichen Lebens als auch als 'Ort' und Medium der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung erlebt wird. Daß diese Erfahrung auch in den Kantischen Ausführungen über die Zeitvorstellung zur Geltung kommt, ist überdeutlich. Sie manifestiert sich nach ihrer einen Seite hin in der These von der Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen vermittels der transzendentalen Zeitbestimmungen, die der menschliche Verstand durch die Affizierung seines inneren Sinnes hervorbringt. Diese These kann so gelesen werden, daß sie die Zeit als Medium der Selbstentfaltung des Subjekts denkt. Nach ihrer anderen Seite manifestiert sich jene Grunderfahrung auch bei Kant in der Behauptung der Eindimensionalität der Zeit, wonach die Zeit durch die Sukzession der Zeitmomente definiert ist.4 Danach wird die Zeit erfahren als ständiger und unaufhaltsamer Übergang vom Sein zum Nichtsein. 3 C.H. Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems, in: ZThK 51 (1957), 360ff„ hier 362 4 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B47
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Die für eine theologische Erörterung und Deutung des Zeitphänomens folgenreichste These Kants liegt nun darin, daß die Einheit der Zeit und damit die mögliche 'Auflösung' jener Zwiespältigkeit der menschlichen Zeiterfahrung in die Ständigkeit und die 'Macht' des endlichen Subjekts gelegt wird. Das logische Subjekt ist nach Kant in seiner Ständigkeit der Garant für die Einheit der Zeit. Dieser Gedanke liegt aber durchaus in der Konsequenz der These von der Idealität der Zeit, insofern diese These die Zeit hinsichtlich ihrer die Einheit der Erfahrung ermöglichenden Funktion restringiert auf den Akt der Erkenntnis des endlichen Subjekts. In der Herauslösung der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit versteht sich der Verfasser von 'Sein und Zeit' als Sachwalter und als Vollender der Absichten und Einsichten Kants. Im weiteren Umkreis dieser seiner epochalen Schrift hat Heidegger keinen Zweifel daran gelassen, daß er sich mit seiner These, die Subjektivität sei die Zeit, in der Nachfolge der Philosophie Kants sieht.5 In einem - zugegebenermaßen sehr einseitig geführten "denkenden Gespräch"6, das der Denker Heidegger mit dem Denker Kant geführt hat, hat der Autor von 'Sein und Zeit' diese Auffassung präzisiert. Kant habe, so lautet Heideggers viel diskutierte These, in der Zeit-konstituierenden Funktion der Einbildungskraft die Subjektivität schlechthin als Zeitlichkeit gedacht und darin die Grundeinsicht von 'Sein und Zeit' vorweggenommen. Wenn die Gewaltsamkeit der Kantinterpretation Heideggers gewiß auch kaum bestritten werden kann - ein Vorwurf übrigens, der insofern an Kraft verliert, als er von Heidegger selbst immer schon vorweggenommen wurde7 - , so kann doch gleichfalls kaum negiert werden, daß Heideggers Schrift 'Sein und Zeit' dem Loslösungsprozeß der Zeit von der Ewigkeit unmittelbaren und beinahe einen klassischen Ausdruck verleiht. Die Bestimmung des Wesens der Zeit erfolgt in 'Sein und Zeit' endgültig unabhängig von dem Postulat einer Ewigkeit Gottes oder eines 'überzeitlichen Seins'. Inwiefern 'Sein und Zeit' darin den ausdrücklichen Endpunkt einer Entwicklung darstellt, die im Umkreis der kritischen Philosophie ihren Anfang nimmt, sei dahingestellt.8 Geht der von Kant und Heidegger in völlig unterschiedlicher Weise unternommene Versuch, die Einheit der Zeit aus der Subjektivität des Subjekts zu begründen, auch auf sehr differente Argumentationen und Motive zurück, so treffen sie sich doch in diesem 'Unternehmen'. Es bleibt
5 Das haben vor allem die in den letzten Jahren veröffentlichten Vorlesungen Heideggers aus den zwanziger Jahren gezeigt; dazu s.u. S. 204ff. 6 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973", Vorwort, XVII 7 Vgl. ebd. 8 So besonders W. Schulz, Über den philosophiegeschichtlichen Ort Maitin Heideggers, in: O. Pöggeler (Hrsg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, 1984, 95ff.
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dabei auch keineswegs uniibersehen, daß Heidegger gerade in seiner Grundthese von 'Sein und Zeit', die Zeit sei die Zeitlichkeit des Daseins, gewiß nicht als Sachwalter Kants gelten kann.9 Gleichwohl führt diese These die Loslösung der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit deshalb zu einem gewissen Ende, weil das endliche Dasein nun vermittels der ihm wesentlichen Zeitlichkeit von seinem Begriff her allein und ausschließlich als Garant der Einheit und Ganzheit der Zeit in Frage kommt. Entweder das Dasein vollbringt die Einheit der Zeit oder es bleibt bei der Erfahrung, daß das menschliche Leben dem Lauf der Zeit keinen Einhalt zu gebieten vermag. In der Reduzierung der Zeit auf die Zeitlichkeit des Subjekts liegt die Pointe der Zeitlehre Heideggers gegenüber Kant. Wie gelangt Heidegger dazu? Wieso kann er die Einsicht Kants in die Kontingenz der Zeit und ihrer apriorischen Strukturen, die in der Verfassung des menschlichen Gemütes eine unerklärbare Entsprechung haben, einfach übergehen? Denn wir sahen, daß Kant die formale Entsprechung von Zeit und Ich konstatierte und für den Gedanken der Einheit der Erfahrung in Anschlag brachte, ohne sie aus der Verfassung des Subjekts begründen und ableiten zu wollen. Kant sieht die Entsprechung zwischen den Formen der Sinnlichkeit und der Verstandestätigkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung an, ohne sie auf ein einheitliches Vermögen zurückzuführen. Das Ich kann nach Kant "nicht über sich hinaus und in den Grund seiner eigenen Möglichkeit gelangen".10 Die Anwendbarkeit der Kategorien auf die gegebenen Erscheinungen bleibt für Kant letztlich Ausdruck für die unerklärbare und wunderbare Zusammenstimmung der Grundkräfte der menschlichen Seele. Heidegger aber unternimmt den Versuch, die Struktur der 'Weltzeit' und der alltäglichen Zeit, wie er es nennt, auf die Zeitlichkeit des endlichen Subjekts zurückzuführen und aus dessen zeitlicher Verfassung abzuleiten. In seiner Kantinterpretation wirkt sich dieser Versuch so aus, daß Heidegger die Zeitbildende Einbildungskraft ähnlich wie Hegel als Grundvermögen des Subjekts verstehbar machen will. Daß diese Deutung den Text der Vernunftkritik besser verstehen zu können meint als der Verfasser dieser Kritik, wurde mehrfach deutlich. Unabhängig von der Frage der Gewaltsamkeit der Heideggerschen Kantinterpretation gilt es, die Motive zu ergründen, die Heidegger dazu führen, 9 Zu dem Verhältnis Heideggers zur Philosophie des dt. Idealismus vgl. die Beiträge von Henrich, Schulz, Marx und Sherover. Henrich sieht Heidegger, gerade in seiner Kantinterpretation, mehr in der Nähe zu Hegel (aaO. 57ff.), Schulz betont die Nähe Heideggers zu Schelling (aaO. 102) 10 Henrich, Einheit der Subjektivität, 43
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die fundamentale Einsicht Kants in die Kontingenz der Zeit und ihre apriorischen Strukturen zu überspringen. Warum ist Heidegger in der Lage, in seiner Kantinterpretation die Einsicht in die Gegebenheit der Zeit als unendlicher Größe schlichtweg zu eliminieren? Henrich und auch Schulz haben ausführlich deutlich gemacht, wie sehr die 'idealistische Kantinterpretation' darin auch auf Heidegger gewirkt hat, daß sie die von Kant selbst 'nur' gesetzte und bewunderte Zusammenstimmung der Grundvermögen der menschlichen Seele aus der tätigen Einheit des Selbstbewußtseins erklärt hat.11 Darin ist Heidegger Hegel und Schelling gefolgt, daß er den Gedanken einer bloß teleologischen Einheit der Subjektivität als ungenügend empfand.12 Es ist das immer wieder betonte Ziel der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit', das Dasein aus sich selbst als ursprüngliche Ganzheit aufzudecken.13 Diese Ganzheit soll - und das unterscheidet Heidegger von Hegel und Schelling - als gegliederte Einheit gleichursprünglicher Konstitutionselemente einsichtig gemacht werden, weil sie nur so nach Heidegger als ständige Möglichkeit für das Dasein präsent ist. Es ist für Heidegger sinnlos, hinter die mögliche Ganzheit des Daseins zuriickzufragen - , sei es durch die Annahme einer teleologischen Einheit des Subjekts, sei es durch die Behauptung eines einfachen Aufbauelements, das allen Tätigkeiten des Subjekts zugrunde liegt. Es geht Heidegger um den 'Selbstaufbau' der Ganzheit des Daseins aus dem ursprünglichen Vollzug des Daseins selbst. Um das Dasein als Einheit gleichursprünglicher Strukturmomente aufzeigen zu können, kommt dem Gedanken der Zeitlichkeit entscheidende Bedeutung zu. Die Unableitbarkeit gleichursprünglicher Daseinsvollzüge und ihre konstruktive Einheit kommen im Zusammenhang der Zeitlichkeit des Daseins gleichermaßen zur Geltung. Es ist so die Bestimmimg der Zeit als Einheit gleichursprünglicher Momente, die Heidegger dann Ekstasen nennen wird, die das Gelingen des Programms von 'Sein und Zeit' sichert. Das gilt auch und gerade für den geforderten neuen Zugang zur Seinsfrage über die Daseinsanalyse. Denn nur der Aufweis der möglichen Ganzheit des Daseins ist der Prinzipialität der Seinsfrage, die die Idee von Sein als "die allerprinzipiellste"14 deklariert, adäquat.
11 12 13 14
Vgl. Henrich, aaO. 55ff„ vgl. W. Schulz, aaO. lOOff. Henrich, aaO. 62 M. Heidegger, Sein und Zeit, 1979 15 ,130ff., 191f„ 231ff. u.ö. Henrich, aaO. 66
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So findet die Frage nach den Gründen für die Reduzierung der Zeit auf die Zeitlichkeit des Daseins bei Heidegger ihre Antwort darin, daß Heidegger so die Ganzheit des Daseins als seine ständige und ureigenste Möglichkeit ausdrücklich zu machen gedenkt. Der so in 'Sein und Zeit' unmißverständlich auftretende Anspruch, das menschliche Leben sei aus sich selbst verständlich zu machen, stellt für jede Theologie - gleich welcher Couleur - eine eminente Herausforderung dar. "Entschlossener als der Verfasser von 'Sein und Zeit' kann man die endliche Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit nicht bejahen und damit die Ewigkeit preisgeben."15 Diese Herausforderung ist von seiten der protestantischen Theologie und dann auch der katholischen Theologie deutscher Sprache erkannt und angenommen worden - allerdings mit denkbar unterschiedlichen Motiven und Folgerungen.16 Vor allem an der Deutung der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' schieden sich die Geister. Ein die Geschichte der protestantischen Theologie dieses Jahrhunderts nicht wenig bestimmender Entwurf hat die Herausforderung der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' in dem Sinne angenommen, daß er diese Analyse als das unhintergehbare Fundament auch einer die Wahrheit des christlichen Glaubens im Kontext der Neuzeit verantwortenden Dogmatik ansah. Diese berühmt gewordene Rezeption der Heideggerschen Philosophie von seiten eines exponierten protestantischen Theologen soll auch an dieser Stelle kurz zur Sprache kommen. Die oben gegebenen Andeutungen lassen schon ersichtlich werden, daß diese Aufnahme der Heideggerschen Analysen von 'Sein und Zeit' in das Programm einer systematischen Theologie u.E. zumindest nicht unproblematisch ist. Aber nicht nur die sprachgewaltigen Ausführungen von 'Sein und Zeit', sondern auch die teils dunklen, teils lichten Wege, die der sich kehrende Denker gegangen ist, haben manchen theologischen Zeitgenossen zur Nachfolge gereizt. Dabei scheint die Frömmigkeit des Denkens, die der 'spätere Heidegger' gefordert und praktiziert hat, auf den ersten Blick weit eher Anlaß dazu zu geben, in diesem Denker einen anerkannten Partner theologischer Dogmatik sehen zu wollen und zu können. Scheint es doch so, als sei auch die Zeit nun aus dem Wesen des - in der Nachbarschaft der 'ständigen Ewigkeit' Gottes bestimmten - ewigen Seins gedacht und somit
15 K. Löwith, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu 'Sein und Zeit', in: ders., Gesammelte Abhandlungen, 1960, 68ff., hier 89 16 Vgl. die Beiträge von K. Lehmann und H. Franz in dem von O. Pöggeler herausgegebenen Sammelband 'Heidegger', aaO.; dazu den Sammelband Neuland in der Theologie, Band I (Hrsg. J.M. Robinson/J.B. Cobb), Der spätere Heidegger und die Theologie, 1964; dazu R. Schaeffler, Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie, 1980, bes. 229ff. u.v.a.m.
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gleichsam in die Relation zur Ewigkeit zurückgeholt. Aber auch in diesem Zusammenhang wird sich zu zeigen haben, daß die ständige Erwartung des sich je und je offenbarenden Seins mit dem Glauben, der die Ankunft des einst in Niedrigkeit erschienenen Gottes erwartet, nichts gemein hat.
I. Die Bedeutung des Begriffs der Zeitlichkeit im Zusammenhang der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' 1. Die Zeitlichkeit des Daseins als Bedingung der Möglichkeit seiner Ganzheit Der Begriff der Zeitlichkeit des Daseins wird von Heidegger erst im Zusammenhang des zweiten Abschnittes von 'Sein und Zeit' eingeführt. Er baut somit auf die Analyse des alltäglichen Daseins auf. Diese Analyse bemüht sich um die Herausarbeitung der "wesenhaften Strukturen", "die in jeder Seinsart des faktischen Daseins sich als seinsbestimmende durchhalten".1 Der Ausgang bei der alltäglichen Verfassung des Daseins ist für das Vorhaben von 'Sein und Zeit' zwingend. Dieses Vorhaben ist nämlich erklärtermaßen auf die 'Neu-Entdeckung' der Grundfrage der Philosophie überhaupt gerichtet - auf die Frage nach dem Sein.2 In der Neuentdeckung der Seinsfrage beginnt 'Sein und Zeit' aber deshalb mit der Analyse desjenigen Seienden, das überhaupt Sein versteht bzw. die Seinsfrage stellt, weil nur so der Anspruch geltend gemacht werden kann, ein phänomenologisch unhintergehbares Fundament für eine Ontologie zu legen. Darin, daß das menschliche Dasein3 dasjenige Seiende ist, das Sein versteht, liegt der Vorrang begründet, den die Daseinsanalyse für eine Neubegründung der Ontologie hat. "Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist."4
1 M. Heidegger, Sein und Zeit, 1979 13 ,17 (Die Werke Heideggers werden im folgenden ohne Voranstellung des Verfassemamens zitiert; das gilt auch für die Bände der Gesamtausgabe) 2 Vgl. aaO. 2ff.; die Diskussion dieses Programms und damit auch die Beurteilung der Behauptung, mit 'Sein und Zeit' die ursprüngliche Frage der Philosophie erst wieder zu entdecken, kann hier nicht geleistet werden. Dazu muß verwiesen werden auf die einschlägigen Beiträge von Tugendhat, Marx und Pöggeler 3 Nach Heideggerschem Sprachgebrauch ein 'Hendiadyeun' - Heidegger selbst spricht bekanntlich nur von 'Dasein' 4 Sein und Zeit, 12
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Schon diesen Vorrang, den die Daseinsanalyse für eine fundamentale Ontologie hat, begründet Heidegger in dreierlei Hinsicht.5 Erstens gilt, daß das Dasein "in seinem Sein durch Existenz bestimmt" ist.6 Der ExistenzBegriff umschreibt dabei die das Dasein gegenüber allem anderen Seienden auszeichnende Eigenschaft, daß es sich schon immer verstehend zu sich selbst und gerade darin zu anderem Seienden verhält.7 Dasein, so betont Heidegger, versteht sich so immer aus seinen Möglichkeiten; existierend ist sich das Dasein so gleichsam voraus, daß es sich auf Möglichkeiten seiner selbst entwirft. "Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder selbst gewählt, oder es ist in sie hineingeraten oder je schon darin aufgewachsen."8 Die Existenz kennzeichnet so das faktische, das 'ontische' Dasein und begründet den ontischen Vorrang des Daseins im Blick auf das Programm einer Fundamental- Ontologie. Zweitens ist dieser Vorrang des Daseins ontologisch begründbar. Ist das Dasein so bestimmbar, daß es ontisch dadurch ausgezeichnet ist, Seinsverständnis zu haben, so liegt in dieser Verfassung des Daseins begründet, daß es eine "Idee von Sein überhaupt" hat.9 Drittens schließlich gilt, daß das Dasein gegenüber allem anderen Seienden dadurch ausgezeichnet ist, daß es alles nicht daseinsmäßige Seiende verstehen kann. Der ontisch-ontologisch begründbare Vorrang der Daseinsanalyse für das Programm einer Fundamentalontologie liegt also zusammengefaßt darin, daß das Dasein dadurch ausgezeichnet ist, daß es ihm in seinem Sein um das Sein selbst geht.10 Damit aber ist die Begründung für den Ausgang bei der Analyse des alltäglichen Daseins, gleichsam schon mitgegeben. Denn diese Analyse hat den ontischen Vorrang des Daseins vor allem anderen Seienden zu bewähren. Das alltägliche Dasein muß sich "an ihm selbst von ihm selbst her"11 so zeigen, daß es ursprünglich und vorontologisch schon immer Seinsverständnis hat. Anders kann der Anspruch eines solchen methodischen Vorgehens, das das Seiende so befragt, wie es sich von sich selbst her zeigt, nicht eingelöst werden.12
5 selbst 6 7 8 9 10 11 12
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Die Begründungsstruktur weist so auf die dreifach gegliederte Struktur des Daseins SuZ, 13 AaO. 12f. AaO. 12 AaO. 13 AaO. 42 u.ö. AaO. 16 Vgl. aaO. 27ff.
Zum alltäglichen Dasein - das zeigt nun die vorbereitende Analyse des Daseins - "gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt".13 Das 'In-der-Weltsein' als Grundverfassung des Daseins entfaltet sich dabei genauer in drei Hinsichten14, die Heidegger in dieser vorbereitenden Daseinsanalyse erläutert. Er stellt dabei erstens den in der existentialen Verfassung des Daseins begründet liegenden Weltbezug des Daseins heraus. Zweitens gilt es die Frage nach dem 'Subjekt' des 'In-der-Welt-seins' genauer zu stellen. Liegt die Grundverfassung des Daseins darin, daß es sich ursprünglich zu Seiendem verhält und sich selbst aus diesem Verhältnis versteht, so ist das Dasein offenbar nicht als weltloses Subjekt zu denken. Geht es in seinem Weltverhältnis auf oder 'gewinnt' es sich im Durchgang durch die Welt? Das Sein des sich in der Welt verstehenden Daseins also ist zu klären. Drittens schließlich steht die "ontologische Konstitution der Inheit selbst" in Frage.15 Diese dritte Hinblicknahme auf die Grundverfassung des alltäglichen Daseins arbeitet zugleich heraus, daß jedes dieser drei Momente des In-derWelt-seins einen Bezug auf die anderen enthält und damit einen Bezug auf die Ganzheit des so verfaßten Daseins. Diese gegliederte Struktur des alltäglichen Daseins überführt Heidegger dann am Ende der vorbereiteten Daseinsanalyse in den Sorge-Begriff. Die Sorge vermag die gegliederte Dreiheit, in der das alltägliche Dasein sich zeigt, als strukturierte Ganzheit des Daseins zu zeigen. So erklärt der Begriff der Sorge dann die phänomenologisch ausgewiesene Verfassung des alltäglichen Daseins. Die wiederholende Interpretation des Daseins - also der zweite Abschnitt von 'Sein und Zeit' - soll dann erweisen, daß das Dasein seine Ganzheit vermöge seiner zeitlichen Verfassung selbst ist. Die Ganzheit, so lautet vorwegnehmend das 'Ergebnis' dieser wiederholenden Interpretation des Daseins, liegt in der Möglichkeit des Daseins selbst; sie ist ihm also weder entzogen noch ist sie der mögliche ' Ort' der Erfahrung von Transzendenz. Nur wenn die Ganzheit des Daseins als Möglichkeit seiner selbst ausgewiesen werden kann, so wird sich zeigen, kann das Dasein überhaupt zu seiner Bestimmung kommen. Die Eigentlichkeit des Daseins hängt an der Möglichkeit des Daseins, seine Ganzheit selbst hervorbringen zu können. Dieser kurze Vorausblick auf den Argumentationsgang von 'Sein und Zeit' zeigt den systematischen Ort des Zeitbegriffs im Zusammenhang der Daseinsanalyse an. Über den Begriff der Sorge, die die Einheit der Struktur-
13 AaO. 13 14 AaO. 53 u.ö. 15 Ebd.
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momente des alltäglichen Daseins bezeichnet, wird danach der Blick auf die zeitliche Verfassung des Daseins freigelegt. 16 Die zeitliche Verfaßtheit des Daseins geht also darin über das Phänomen der Sorge hinaus, daß sie die in dieser angezeigte und bezeugte Ganzheit in die Möglichkeit des Daseins selbst legt. Vermittels seiner Zeitlichkeit kann das sorgende Dasein eigentlich ganz sein, d.h. seine Ganzheit selbst vollziehen und hervorbringen. Dieser Vorausblick soll und muß im folgenden durch einen genaueren Blick auf den Argumentationsgang der vorbereitenden Daseinsanalyse ergänzt werden. Wie gelangt Heidegger dazu, die Strukturmomente des alltäglichen Daseins unter den Sorge-Begriff zu fassen? Und wie vollzieht sich der Schritt von der Sorgestruktur zur zeitlichen Verfassung des Daseins? In einer seiner frühesten Vorlesungen hatte Heidegger die systematische Bedeutung der Zeitlichkeit für die Analyse des Daseins noch nicht in dieser Klarheit herausgearbeitet, wie sie dann in 'Sein und Zeit' hervortritt.17 Vielmehr tritt in jener Vorlesung der Begriff der Zeitlichkeit als wesentliche Kategorie des menschlichen Lebens noch gar nicht hervor. - Diese frühe Vorlesung zeigt in vielen Punkten die 'Herkunft' Heideggers von der Lebensphilosophie, trotz aller Kritik, die er an der begrifflichen Unklarheit gerade im Gebrauch des Lebensbegriffs an den 'Lebensphilosophen' übt.18 Leben gilt Heidegger hier als "phänomenologische Grundkategorie"19; so 'bezeichnet' der Lebensbegriff das faktische Leben, wie es sich von sich selbst her zeigt. Dieses faktische Leben - der Daseins-Begriff tritt in dieser Vorlesung hinter den des Lebens zurück kennzeichnet Heidegger hier durch folgende Struktur: 1. als begrenzte Erstrecktheit, 2. als das Sein seiner eigenen Möglichkeiten und 3. als Unableitbarkeit bzw. Schicksalhaftigkeit.20 Die dreifache Struktur des alltäglichen Daseins ist hier vorgezeichnet, die Gleichursprünglichkeit der Verfallenheit - wie sie dann in 'Sein und Zeit' behauptet wird - neben Entwurf und Geworfenheit allerdings noch nicht erkennbar. Schon in dieser frühen Vorlesung aber sieht Heidegger den "Grundbezugssinn des Lebens an sich"21 in der Sorge. Die Sorge umgreift alle Bezüglichkeiten des faktischen Lebensvollzugs.22 "Das Sorgen ist Grundsinn des Bezugs von Leben."23 Die Bezüge des Lebens, die sich in jener dreifachen Struktur ausdrücken, werden sogar lose als Zeitigungsweisen des Lebens beschrieben24, erfahren aber keine Rückführung auf die ursprünglich zeitliche Verfassung des Daseins wie dann in 'Sein und Zeit'. 16 Vgl. aaO. 180ff. und 230ff. 17 Vgl. M. Heidegger, Gesamtausgabe, Band 61, Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Vorlesung WS 1921/22), 1985 18 Vgl. Band 61, 80f. 19 AaO. 80 20 Vgl. aaO. 84f. 21 AaO. 89 22 AaO. 90ff. 23 AaO. 98 24 Vgl. AaO. 93, 97, 104
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Dieser kurze Blick auf die Vorlesung von 1921/22 vermag andeutungsweise zu zeigen, welche Bedeutung einer Rückführung der Sorgestruktur auf die zeitliche Verfassung des Daseins zukommen muß. Diese Bedeutung liegt darin, daß erst die Aufdeckung der wesentlichen Zeitlichkeit des Daseins zu zeigen vermag, daß das Dasein die Ganzheit seines Seins selbst zu erzeugen und hervorzubringen in der Lage ist.
Es wurde schon daraufhingewiesen, daß Heidegger in 'Sein und Zeit' über die Kennzeichnung der Sorge als einer Grundkategorie des Lebens neben anderen hinausgeht. Sorge wird ihm in 'Sein und Zeit' zur fundamentalen Kategorie hinsichtlich der möglichen Ganzheit des alltäglichen Daseins. "Sorge ist der ontologische Titel für die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins."25 Das Phänomen der Sorge macht die phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung des alltäglichen Daseins im Blick auf ihre mögliche Ganzheit allererst durchsichtig. Diese Behauptung kann aber nur so eingelöst werden, daß die Analyse des alltäglichen Daseins in den vielfältigen Strukturen des Daseins diesen Bezug auf eine mögliche Ganzheit des Daseins auch wirklich aufdecken kann. So muß also in groben Zügen gezeigt werden, wohin die Analyse des alltäglichen Daseins in seiner phänomenalen Vielfältigkeit führt. Diese Analyse führt auf die das alltägliche Dasein wesentlich kennzeichnenden Begriffe der Faktizität und der Existentialität,26 Beide Begriff interpretieren in ihrer Bezogenheit aufeinander die Weltlichkeit des Daseins. "Das Dasein existiert faktisch"27 - das bedeutet: das Dasein findet sich bei dem Umgang mit den 'Dingen' dieser Welt so vor (Faktizität), daß es sich in ihnen und durch sie in dem Sinne versteht, daß es sich auf sie hin entwirft (Existentialität). Das Dasein ist die spannungsvolle Einheit von 'Gegebensein' und 'Sich-selbst-Geben', von Geworfenheit und Entwurf. Der Begriff der Faktizität bringt die Erfahrung der Geworfenheit des Lebens, die Erfahrung, daß das Leben sich nicht selbst gibt, auf den Begriff. Die Geworfenheit meint aber nicht lediglich, daß das Dasein irgendwann einmal in sein In-der-Welt-sein gesetzt wurde; sondern der "Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten"28, der das Dasein gleichsam ausgeliefert ist. Das Dasein erfährt sein Gegebensein also so, daß es dieses zu übernehmen hat. Darin verweist das Phänomen der Geworfenheit schon in sich auf den anderen Grundaspekt des Seins des Daseins. Danach hat das Dasein sein Sein immer erst zu vollziehen, es steht
25 26 27 28
SuZ 252 Vgl. SuZ 181 u.ö. SuZ181 AaO. 135
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ihm bevor. "Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten."29 Diese ursprüngliche Zukünftigkeit des Daseins nennt Heidegger die Seinsart des Entwerfens. Darin, daß der Entwurf des Daseins dieses auf Möglichkeiten seiner selbst hin öffnet, enthält auch die Existentialität in sich den wesentlichen Bezug auf die Faktizität des Daseins. Die wesentliche Zukünftigkeit des Daseins hebt sein 'In-der-Weltsein' nicht auf. Das sich aus und in der Welt verstehende Dasein vermag sich auf Möglichkeiten seiner selbst hin nur so zu entwerfen, daß es seine Geworfenheit darin übernimmt. 'Geworfenheit' und 'Entwurf' sind also deutlich "mit Rücksicht aufeinander geprägt. In dem doppelten, gleichsam passiven und aktiven 'Wurf' soll der komplexe einheitliche Bewegungscharakter dieses Seienden zum Ausdruck kommen, der dann in der 'Zeitlichkeit' auf den Begriff gebracht wird".30 Als das dritte Strukturmoment des alltäglichen Daseins neben Entwurf und Geworfenheit arbeitet Heidegger die Verfallenheit des Daseins heraus.31 Dieser Begriff verweist auf das Phänomen, daß das Dasein in seinem In-der-Welt-sein "an die Welt" verfallen ist.32 Verfallenheit an die Welt meint, daß das Dasein derart in seinem Umgang mit den 'Dingen' der Welt aufgeht, daß es darin nicht mehr zu sich selbst kommt, seine Möglichkeiten gleichsam vergißt. In der Verfallenheit also übernimmt das Dasein nicht seine Faktizität, sondern geht gleichsam in seinem Weltbezug auf. Das seiner eigenen Möglichkeiten gewärtige Ich wird zum 'Man'. Das Woran der Verfallenheit ist also strenggenommen nicht die Welt, sondern das Dasein selbst mit seinen Möglichkeiten.33 "Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit."34 Als Modi der Verfallenheit, die das Dasein in seiner Alltäglichkeit neben seiner Existentialität und Faktizität gleichursprünglich kennzeichnet, nennt Heidegger Gerede, Neugier und Zweideutigkeit.35 Durch die dem alltäglichen Dasein wesentliche Verdeckungstendenz des Verfallens ist das Dasein also wesensmäßig uneigentliches Dasein. Das aber meint: das alltägliche Dasein ist wesensmäßig so bestimmt, daß es sich "von seinem Selbst abschnürt"36 und sich damit nicht aus seinen eigenen Möglichkeiten versteht.
29 30 31 32 33 34 35 36
172
AaO. 145 E. Tugendhat, Der Wahlheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 19702, 301 Vgl. SuZ §§ 25-27 (114ff.) und § 38 (175ff.) SuZ 176 Vgl. aaO. 178 Ebd. Vgl. aaO. 175 AaO. 146
Die drei aufgedeckten Strukturmomente des alltäglichen Daseins haben in sich den Bezug auf die mögliche Ganzheit des Daseins. Diesen Bezug auf die mögliche Ganzheit des Daseins auch und gerade an dem alltäglichen Dasein aufzudecken, ist die entscheidende Aufgabe der vorbereitenden Daseinsanalyse. Denn nur das ganze Dasein vermag eigentlich zu sein, insofern es nur so keinen ihm fremden Möglichkeiten ausgesetzt ist. Zugleich muß dieser Bezug auf die mögliche Ganzheit anhand der alltäglichen Verfassung des Daseins gezeigt werden, weil nur so der Anspruch, das faktische Dasein so, wie es sich von sich selbst her zeigt, in die Vorhabe zu bringen, eingelöst werden kann. Hinsichtlich seiner existentialen Verfassung, wonach sich das Dasein vorweg ist bzw. wesentlich zukünftig ist, verweist das alltägliche Dasein auf seine mögliche Ganzheit, weil das sich aus der Welt verstehende Dasein die Welt als 'Ganze' erschließt.37 Der verstehende Umgang mit zuhandenem Zeug verweist darauf, daß das Zeug, mit dem man alltäglich umgeht, in einem sinnvollen Zusammenhang begegnet. Heidegger spricht von der Bewandtnis ganzhei^, in der sich das alltägliche Dasein seine Welt erschlossen hat. Ebenso bezeugt das zweite Strukturmoment des alltäglichen Daseins die Geworfenheit - den Bezug auf die mögliche Ganzheit des Daseins. Dieser Bezug wird phänomenal bezeugt in der Stimmung. "Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf... allererst möglich."39 Schließlich verweist auch das ursprüngliche Verfallen des Daseins in seinem aufgehenden Sein des Daseins bei den Dingen auf eine mögliche Ganzheit des Daseins. Denn das verfallene Dasein ist zerstreut in die durchschnittliche Deutung der Welt und ihrer Einebnung aller Seinsmöglichkeiten des einzelnen Daseins. Die Durchschnittlichkeit des Man braucht geradezu einen 'Begriff von der 'Ganzheit' der Welt; denn nur die Durchgängigkeit der Einebnung aller Seinsmöglichkeiten des einzelnen Daseins gibt die Gewähr dafür, daß sich das Dasein bei dieser Durchschnittlichkeit beruhigen kann. "Die Welt des Daseins gibt das begegnende Seiende auf eine Bewandtnisganzheit frei, die dem Man vertraut ist, und in den Grenzen, die mit der Durchschnittlichkeit des Man festgelegt sind."40 Die mögliche Ganzheit des Daseins wird also in der phänomenal a n weisbaren Strukturmannigfaltigkeit des alltäglichen Daseins bezeugt. Die
37 38 39 40
Vgl. aaO. 87f. und 142ff. AaO. 84 AaO. 137 AaO. 129
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Analyse des alltäglichen Daseins aber zeigt damit zugleich an, daß die Ganzheit des Daseins wegen seiner Strukturmannigfaltigkeit nicht als identische und unbewegte Einheit verstanden werden kann. Die aufgewiesene Gleichursprünglichkeit der drei Strukturmomente des alltäglichen Daseins würde vielmehr übergangen werden, wenn die Dreiheit von Entwurf, Geworfenheit und Verfallenheit auf eine höhere Einheit zurückgeführt werden sollte. Es liegt Heidegger also nichts ferner als die Reduktion der Seins weisen des alltäglichen Daseins auf eine ursprüngliche Grundkraft - etwa auf ein identisches Selbstbewußtsein.41 Die Mannigfaltigkeit der gleichursprünglichen Strukturmomente des Daseins muß in den Gedanken der Einheit und Ganzheit des Daseins angemessen eingetragen werden. "Diese existentialen Bestimmungen (sc. Entwurf, Geworfenheit, Verfallen) gehören nicht als Stücke zu einem Kompositum, daran zuweilen eines fehlen könnte, sondern in ihnen webt ein ursprünglicher Zusammenhang, der die gesuchte Ganzheit des Strukturganzen ausmacht."42 Im Begriff der Sorge liegt nach Heidegger die Möglichkeit, die Strukturmannigfaltigkeit des Daseins als Ganzheit zu bezeichnen, vor. Sorge wird dabei von Heidegger bestimmt als: "Sich-vorweg-schon-sein-in (der-Welt) als sein - bei (innerweltlich begegnendem Seienden)".43 Diese Bestimmung zeigt schon, daß der Sorge-Begriff die Funktion erfüllt, die Einheit der Strukturmannigfaltigkeit lediglich zu 'umschreiben'. Wesentliche Kriterien, die der Begriff, der die Strukturmannigfaltigkeit des Daseins als Ganzheit zu zeigen hat, erfüllen muß, sind in dem Sorge-Begriff in der Tat erfüllt. Der Sorge-Begriff hebt die Strukturmannigfaltigkeit des alltäglichen Daseins nicht auf. Dieses von Heidegger selbst aufgestellte Kriterium erfüllt also der Begriff der Sorge. "Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann ... bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der 'Welt' und im Mitsein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht."44 Zum anderen macht die Sorge-Struktur die Ganzheit des Daseins nicht als 'totum syntheticum' namhaft, sondern als Einheit und Bezogenheit gleichursprünglicher Strukturmomente.
41 Vgl. Henrich, Einheit, der besonders dieses, Heidegger von der Philosophie des dt. Idealismus absetzende Bemühen heraushebt, den Gedanken der Einheit des Subjekts durch den der Ganzheit zu ersetzen (vgl. aaO. 65ff.) 42 SuZ 191 43 AaO. 192 44 AaO. 181
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So kann Heidegger resümierend feststellen, daß der "Ausdruck 'Sorge' ... ein existential-ontologisches Grundphänomen (meint), das in seiner Struktur gleichwohl nicht einfach ist".45 Und doch ist der Gedanke der möglichen Ganzheit des Daseins im Begriff der Sorge nicht voll erfaßt. Die Sorge-Struktur vermag die aufgewiesene Mannigfaltigkeit der Struktur des alltäglichen Daseins zwar angemessen zu beschreiben; zum Begriff der eigentlichen Ganzheit aber dringt der Hinweis auf die Einheit der Sorge-Struktur nicht vor. Inwiefern das Dasein seine Ganzheit selbst ist, indem es diese aus sich hervorbringt, ist durch die Sorge-Struktur noch nicht aufgedeckt. Das Kriterium der Eigentlichkeit nämlich ist, daß "das Dasein selbst in seinem Sein die Möglichkeit und Weise seiner eigentlichen Existenz"46 vorgeben muß. So zeigt sich die Sorge als lediglich vorletztes Phänomen hinsichtlich der Aufdeckung der Möglichkeit einer ursprünglichen Ganzheit des Daseins.47 Erst die "Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur".48 Denn erst die Zeitlichkeit macht vollends deutlich, daß das Dasein aus sich selbst ganz sein kann. So bildet der Gedanke der Zeitlichkeit den Zielpunkt der vorbereitenden Analyse des alltäglichen Daseins. Der kurz referierte Gang der vorbereitenden Daseinsanalyse wird von Heidegger selbst so zur Geltung gebracht, daß er das Dasein in seinen alltäglichen Strukturen so aufdeckt, wie es sich von sich selbst her zeigt.49 Nur die so verstandene phänomenologische Methode im Zusammenhang der Aufdeckung der Daseinsstrukturen ist nach Heidegger dem Programm von 'Sein und Zeit' angemessen. Denn 'Sein und Zeit' ist im weitesten Sinne darauf aus, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. Diese Frage als die allgemeinste Frage der Philosophie muß bei demjenigen Seienden ansetzen, das diese Frage überhaupt stellen kann. Denn nur so ist die Zirkelstruktur, in der sich die Frage nach dem Sein notwendig befindet, methodisch angemessen berücksichtigt. Diese Zirkelstruktur liegt nämlich darin, daß die Frage nach dem Sein immer schon von einem unausdrücklichen Seinsverstehen 'herkommt'. Denn alles, was im Denken thematisch gemacht wird, setzt schon eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins voraus, insofern "auf alles Befragbare die Prädikation, es sei, sinnvoll
45 AaO. 196 46 AaO. 234 47 Vgl. aaO. 196, 232 u.ö.; dieser Gedanke ist vorbereitet in einer Vorlesung Heideggers vom SS 1925; vgl. M. Heidegger, Gesamtausgabe, Band 20, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Vorlesung SS 1925), 1979 48 SuZ 328 49 Vgl. aaO. 34ff.
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möglich sein muß".50 Aus dieser Einsicht in die Zirkelstruktur der Seinsfrage versucht nun 'Sein und Zeit' das Dasein als dasjenige Seiende zu erschließen, das nicht nur Seinsverständnis hat, sondern in seinem alltäglichen Daseinsvollzug wesentlich Seinsverständnis ist. Die Daseinsanalyse läßt sich dabei von der Idee einer möglichen Ganzheit des Daseins leiten, weil sie sich letztlich auch nur so als Zugangsmöglichkeit zur Seinsfrage überhaupt zu bewähren vermag, die die allerprinzipiellste ist und d.h. auf die Einheit alles Seienden geht. Die dargestellte Analyse des alltäglichen Daseins aber führt u.E. in zwei wesentliche Schwierigkeiten, die unmittelbar mit der aufgewiesenen Strukturmannigfaltigkeit des Daseins zusammenhängen. Die Strukturen, die von Heidegger im Blick auf das alltägliche Dasein als ursprüngliche aufgedeckt werden, - Dasein als Entwurf, Geworfenheit und Verfallen - zeigen das Dasein auf dem Grunde seiner Verfassung als In-der-Welt-sein als ein solches, das selbst sein Sein ist, indem es sein Da-sein übernimmt. Das Dasein - so kann Heidegger kurz und bündig zusammenfassen - existiert faktisch. Das Dasein existiert in der Einheit von Geworfenheit und Entwerfen, Gegebenheit und 'Sich-selbst-geben- können'. Geworfenheit und Entwurf also scheinen die beiden Seiten zu sein, nach denen das Dasein sich selbst und seine Welt erschließt. Nun betont Heidegger aber, daß das so 'bestimmte' Dasein unter der Möglichkeit steht, sich entweder "aus seinem eigensten Seinkönnen" oder aber "aus der 'Welt' und den Anderen" - sich also entweder eigentlich oder uneigentlich - zu verstehen.51 Daneben steht im Zusammenhang der Kennzeichnung der Sorgestruktur das Entwerfen für das Selbstverhältnis und das 'Sein-können' des Daseins, die Geworfenheit für die Erschlossenheit von Welt.52 "Geworfenheit und Entwurf stehen demnach hier nicht primär für zwei verschiedene Seiten in der Erschlossenheit des eigenen Seins und der Welt ,..".53 Sondern das Dasein scheint hinsichtlich seiner Eigentlichkeit so bestimmt werden zu sollen, daß es sich rein aus sich selbst und seinen Möglichkeiten und nicht aus der Welt versteht und entwirft. Mit der Zuordnung des Entwurfs zum Selbst und der Geworfenheit zur Welt ist Heidegger damit im Begriff, die fundamentale Einsicht in die Verfassung des Daseins als Bezogenheit von Selbst- und Weltverständnis, Existentialität und Faktizität wieder preiszugeben. Diese Zuordnung scheint darin nun doch dahin zu führen, daß das Dasein als leeres und absolutes Subjekt vorgestellt werden muß, das absolut frei ist für die Entscheidung zur Eigentlichkeit oder zur Uneigentlichkeit. Diese Konsequenz aber muß 50 51 52 53
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Henrich, aaO. 65 SuZ 221 Vgl. SuZ 192 Tugendhat, aaO. 317 (Anmerkung)
Heidegger unbedingt scheuen; verdankt sich doch die Bestimmung des Daseins als Einheit und Bezogenheit von Selbst- und Weltverständnis gerade der fundamentalen Kritik an der 'Lehre' eines absoluten 'Ich'. 54 Der doppelte Gebrauch der Begriffe Geworfenheit und Entwurf - wonach sie einerseits in ihrer spannungsvollen Bezogenheit die Einheit des alltäglichen Daseins kennzeichnen, andererseits das Dasein zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit - also ist der Grund der ersten wesentlichen Schwierigkeit, in die die Analyse des alltäglichen Daseins führt. Nun gehört nach Heidegger zur Grundverfassung des alltäglichen Daseins neben Existentialität und Faktizität das Verfallen. Als solches ist das Dasein faktisch schon immer uneigentlich. Diese Uneigentlichkeit des alltäglichen Daseins besteht darin, daß sich das Dasein an die Welt ausliefert und sich so von seinen eigenen Möglichkeiten abschließt. Das Verfallen läßt sich aber bei näherem Hinsehen schwerlich mit Geworfenheit und Entwurf auf eine Ebene stellen. Denn wie soll gezeigt werden können, daß das Dasein von sich selbst her in der ständigen Möglichkeit, eigentlich zu sein, steht, wenn denn gleichzeitig gilt, daß das Dasein wesentlich in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit abgestürzt ist? So betont denn Heidegger auch mehrfach, daß das Verfallen in seiner Ursprünglichkeit nur als Modus der Erschlossenheit des Daseins, d.h. der Einheit von Entwurf und Geworfenheit gedacht werden kann. Nur vermöge seiner wesentlichen Möglichkeit zur Eigentlichkeit also, so soll gelten, ist das Dasein alltäglich verfallen. Es ist zu betonen: "nur sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen".55 Der Heidegger von 'Sein und Zeit' versteht die Verborgenheit bzw. Uneigentlichkeit ganz offensichtlich aus der Entdecktheit bzw. Eigentlichkeit. Wie aber kommt es dann, wenn das Verfallen strenggenommen als Modus der ursprünglichen Erschlossenheit, d.h. Wahrheit des Daseins vorgestellt werden muß, zum Absturz des Daseins in die uneigentliche Alltäglichkeit? Heidegger gibt auf diese Frage 'nur' die Antwort, daß das Dasein "wesensmäßig durch ein Interesse an der Unwahrheit bestimmt"56 ist. Gilt aber nun die Verdeckung des Daseins durch sich selbst als Modus seiner ursprünglichen Wahrheit, wie erklärt sich dann die Beiordnung der Verfallenheit zu den beiden anderen Strukturmomenten des Daseins? Wie kommt das wesentlich ver-
54 Zu Heideggers Kritik am Begriff eines absoluten, stehenden und bleibenden 'Ich' vgl. besonders SuZ 19ff., 114ff., 316ff. und Heideggers Kantbuch, aaO. 121ff.; zur Thematik hat sich am eindriicklichsten Henrich geäußert, der bei Heidegger das Bemühen sieht, den Gedanken eines absoluten 'Ich' durch den des geschichtlichen Daseins zu ersetzen. 55 SuZ 222 56 Tugendhat, aaO. 315; Tugendhat hat die verheerenden Folgen dieser 'These' für den Wahrheitsbegriff herausgearbeitet (vgl. besonders 321ff.)
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fallene Dasein in die Möglichkeit, sich selbst aus der Tendenz zur Uneigentlichkeit herauszureißen? Es ist also deutlich, daß die Beiordnung des Verfallens als eines gleichursprünglichen Strukturmomentes des alltäglichen Daseins nicht unproblematisch ist. Erklärbar ist sie, so hat Tügendhat deutlich gemacht, dadurch, daß Heidegger das Dasein phänomenologisch gleichursprünglich in Wahrheit und Unwahrheit sieht. Das sich aus der Welt verstehende Dasein hat in sich die Tendenz und das Interesse, die ihm gegebene Möglichkeit, die Welt sich zu erschließen, zu verdecken. Dahinter steht die Einsicht Heideggers, daß "das natürliche Interesse des Menschen nicht primär auf Wahrheit geht".57 Die also wohl begründete Beiordnung des Verfallens - begründet nämlich in einer gleichsam 'praktischen' und vertieften Hinblicknahme auf das Wahrheitsproblem58 - als eines gleichursprünglichen Strukturmoments des alltäglichen Daseins wird sich in der wiederholenden Interpretation des Daseins entscheidend auswirken. Es wird sich dort zeigen, daß der Versuch, die Möglichkeit der eigentlichen Ganzheit des Daseins nun auch konkret zu verdeutlichen, nie zu Ende kommen kann. Die eigentliche Ganzheit wird dem Dasein entgegen den Beteuerungen Heideggers immer zukünftig bleiben müssen, weil das Dasein sich wegen seiner ihm wesentlichen Verfallenheit an die Welt immer wieder neu aus der Uneigentlichkeit herausreißen muß. Die Breite in der Darstellung dieser vorbereitenden Daseinsanalyse empfiehlt eine kurze Zusammenfassung dieses ersten Abschnittes, der sich der Interpretation von 'Sein und Zeit' widmet. Die Daseinsanalyse, so hat Heidegger deutlich gemacht, ist die Auslegung des Daseins in seiner Grundverfassung als 'In-der-Welt- sein'. Im Blick auf diese Grundverfassung arbeitet Heidegger die gleichursprünglichen Strukturen der Faktizität, Existentialität und der Verfallenheit heraus. Diese Strukturen des alltäglichen Daseins enthalten jede für sich in sich den Bezug auf die mögliche Ganzheit des Daseins. Das wird die wiederholende Interpretation des Daseins in aller Deutlichkeit zeigen. Die einzelnen Strukturmomente des alltäglichen Daseins müssen deshalb auf die Idee einer Ganzheit des Daseins hin interpretiert werden können, weil nur so das Programm einer Neubegründung der Ontologie eingelöst werden kann. Die Frage nach dem Sinn von Sein kann nur dann angemessen gestellt werden, wenn die Ganzheit des befragten Seienden aufgewiesen wird.
57 Tugendhat 322 58 Vgl. ebd.
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Der Begriff der Ganzheit des Daseins ist so zu fassen, daß keines der Strukturmomente des alltäglichen Daseins absolut gesetzt werden kann. Die Ganzheit ist als gegliederte Einheit der Strukturmannigfaltigkeit des Daseins geltend zu machen, weil nur so das faktische und alltägliche Dasein im Blick bleibt. Die Ganzheit des Daseins ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Eigentlichkeit des Daseins. Das eigentlich ganze Dasein59 ist dadurch gekennzeichnet, daß es seine Ganzheit selbst ist. An dieser Stelle liegt die Funktion des Zeitbegriffs. Nur das vorlaufend auf sich zurückkommende Dasein, so wird sich zeigen, ist das Dasein, das seine Ganzheit selbst 'erzeugt'. 2. Die Zeitlichkeit als Kennzeichen der Verfassung des Daseins zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit Nur über die mögliche Ganzheit des Daseins kann die Eigentlichkeit des Daseins als Möglichkeit aufgedeckt werden. Das ist ein wesentliches Ergebnis der vorbereitenden Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit'. Die mögliche Eigentlickeit ist aber bei der Analyse des alltäglichen Daseins "nicht in die existentiale Interpretation hineingenommen"60 worden. Schließlich ist auch erst über die mögliche Ganzheit des eigentlichen Daseins der Blick auf den Sinn "der Einheit der Seinsganzheit des ganzen Seienden"61 möglich. Diese etwas umständliche Formulierung zeigt das Bemühen Heideggers an, den weiteren Zusammenhang seiner ontologischen Fragestellung über die Daseinsanalyse hinaus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Kontext dieses weiteren Zusammenhanges ist die Analyse des Daseins in seiner Ganzheit nur der Zugang zur Frage nach dem Seienden im ganzen und vermittelt dadurch zur Frage nach dem Sein überhaupt. Der vorliegende zweite Abschnitt von 'Sein und Zeit' widmet sich nun der Herausarbeitung der in der Sorge-Struktur aufgewiesenen Ganzheit des Daseins als Eigentlichkeit. Durchgeführt wird dieses Unterfangen in der Analyse der zeitlichen Verfassung des Daseins. Denn - so behauptet Heidegger - die Zeitlichkeit des Daseins erweist sich als der Sinn der Sorge.62 Um den Bedeutungsgehalt dieser Aussage zu beleuchten, bedarf es einer kurzen Reflexion darauf, wie Heidegger den Sinn-Begriff faßt. Der Sinn-Begriff wird erstmals im Kontext von 'Sein und Zeit' im Zusammenhang der Analyse des Verstehens thematisch.63 Sinn bezeichnet danach das in jedem alltäglichen 59 60 61 62
Vgl. SuZ 234 SuZ233 Ebd. Vgl. aaO. 323
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Umgang mit der 'Welt' kenntlich zu machende Verwiesensein auf ein Verweisungsganzes. Jeder verständige Umgang mit zuhandenem Zeug hat sich das Zuhandene im Zusammenhang einer Bewandtnisganzheit erschlossen, so daß das zuhandene Zeug sinnvoll gebraucht werden kann. "Wenn innerweltliches Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn."6* Sinn bildet also den Horizont, in dem es zum Verstehen von Sein im verständigen Umgang mit Seiendem kommt. "Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird." 65 Verstehen also wird im Sinn-Begriff von Heidegger als ein teleologisches Phänomen verstanden. Dieser Sinn-Begriff - Sinn als das 'Woraufhin' des Entwurfs - soll nun auch zur Umschreibung des Verhältnisses der Sorge-Struktur zur Zeitlichkeit des Daseins dienen. Das müßte heißen: Die Zeit ist das 'Woraufhin' der Sorge; Zeit ist dasjenige Phänomen, aus dem die Sorge als die Einheit der Strukturmannigfaltigkeit des Daseins sich selbst versteht. So betont denn auch Heidegger selbst, nach dem Sinn der Sorge zu fragen, bedeute, danach zu fragen: "Was ermöglicht die Ganzheit des gegliederten Strukturganzen der Sorge in der Einheit ihrer ausgefalteten Gliederung?" 66 So wird denn auch die Zeitlichkeit des Daseins von Heidegger so entwickelt werden, daß sie die Einheit der Sorgestruktur nicht nur aufdeckt, sondern erklärt. Damit erweist sich die Bezogenheit von Zeitlichkeit und Sorgestruktur als Zirkelstruktur. Diese Zirkel struktur kennzeichnet das Phänomen des Sinn-Verstehens nach Heidegger überhaupt.67 Die Sorgestruktur verweist in sich auf die Zeitlichkeit als ihren eigentlichen Sinn; zugleich legt sich das Dasein in der Sorge als zeitliches aus. "Das Entwerfen erschließt Möglichkeiten, das heißt solches, das ermöglicht".68 Für die Entwicklung der Zeitlichkeit des Daseins bedeutet diese Einsicht, daß die Zeitlichkeit aus der Sorgestruktur erschlossen werden muß, zugleich aber auch die Genese der alltäglichen Sorgestruktur mit der wesentlichen Tendenz des Daseins zur Verfallenheit zu erklären hat.
a) Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge Es geht nach den einleitenden Bemerkungen nun also darum, die These Heideggers, daß die Zeitlichkeit als diejenige Verfassung des Daseins zu gelten hat, die die Eigentlichkeit des Daseins ermöglicht, nachzuzeichnen und zu erläutern. Das Dasein, so wurde gezeigt, muß ganz sein können, wenn es die Möglichkeit haben will, eigentlich zu sein. Ganzheit meint aber auch die
63 Vgl. aaO. § 32 (148ff.) 64 SuZ 151 65 Ebd. (Der Satz ist im Text von SuZ insgesamt hervorgehoben) 66 SuZ 324 67 Vgl. aaO. 152 68 AaO. 324; dazu vgl. M. Heinz, Zeiüichkeit und Temporalität, 1982, 38ff. und Tugendhat, aaO. 399f.
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Vollständigkeit des Daseins.69 Solange aber das Dasein ist, steht ihm noch etwas bevor. Im Wesen der Grundverfassung des Daseins liegt eine "ständige Unabgeschlossenheit"70; denn das Dasein entwirft sich selbst, solange es ist, auf Möglichkeiten seiner selbst. Und solange das Dasein Möglichkeiten hat, steht ihm das Ende noch bevor. Deshalb bedarf es, um die mögliche Ganzheit des Daseins aus sich selbst aufdecken zu können, der Gewinnung "eines existentialen Begriffes vom Tode".71 Heidegger gedenkt also den Versuch zu unternehmen, den Tod oder das Ende des Daseins als dessen äußerste Möglichkeit in die wesentliche Bestimmtheit des Daseins mit 'hineinzunehmen'. Das Sein des Daseins zu seinem Ende ist danach die Zuspitzung der Erschlossenheit des Daseins, in der sich das Dasein immer schon und ständig vorweg ist. In diesem Sinne baut die existentiale Interpretation des Todes auf die Herausarbeitung der Sorgestruktur auf; diese hatte nämlich gezeigt, daß das Dasein sein Noch-nicht selbst sein kann. Erhärtet wird die mögliche existentiale Interpretation des Todes daneben noch durch eine Analyse der "existential-ontologischen Struktur des Todes".72 Diese phänomenologische Analyse des Todes führt auf die Einsicht in folgende Strukturen des Todesphänomens : Zunächst gilt der Tod danach als eigenste Möglichkeit des Daseins; der Tod ist unvertretbar. Zweitens ist hervorzuheben, daß der bevorstehende Tod das Dasein völlig auf sich selbst zurückwirft und es darin seiner Bezüge zu anderem Seienden beraubt. Der Tod ist also zweitens die unbezügliche Möglichkeit des Daseins. Drittens schließlich ist der Tod die äußerste Möglichkeit des Daseins, insofern er die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit ist. "So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit."73 Die Analyse des alltäglichen Seins zum Tode fügt diesen drei Bestimmungen noch zwei weitere hinzu. Die alltägliche Flucht des Daseins vor dem Tode als der äußersten Möglichkeit des eigenen Daseins deckt zum einen die unmittelbare Gewißheit des eigenen Todes auf. Diese "Gewißheit des Todes, daß er jeden Augenblick möglich ist,m, ist gerade der Grund dafür, daß das alltägliche Dasein ständig vor dem Tode flieht. Bei der Möglichkeit der ständigen Flucht vor dem gewiß 'kommenden' Ende ist
69 Vgl. SuZ 241, 233; an diesen Stellen spricht Heidegger von der Ganzheit des Daseins hinsichtlich seines Seins 'von seinem Anfang bis zu seinem Ende'. 70 SuZ 236 (im Text hervorgehoben) 71 AaO. 237 72 AaO. 249 73 AaO. 250 74 AaO. 258
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dem alltäglichen Dasein gleichsam behilflich, daß das 'Wann' des Todes unbestimmt ist. Diese Unbestimmtheit erweist sich darin als Fluchthelfer des alltäglichen Daseins bei der Flucht vor der eigensten, unbezüglichen, uniiberholbaren und durchaus gewissen Möglichkeit des Todes. Damit sind nun die Bedingungen für die existentiale Interpretation des Todes erfüllt. Die Aufdeckung der Sorge-Struktur hat verdeutlicht, daß das Dasein hinsichtlich seiner Existentialität sein 'Noch-nicht' sein kann. Daß dem Dasein also, insofern es ist, immer noch 'etwas' aussteht, spricht allein noch nicht gegen die Möglichkeit seines Ganz-sein-könnens. Die Analyse des Todesphänomens hat daneben die Jemeinigkeit des Todes, also seine Unvertretbarkeit aufgedeckt. Beides gibt nun die Basis für den Begriff der vorlaufenden Entschlossenheit als des eigentlichen Seins zum Tode. Das zeitliche Vorlaufen des Daseins zum Tode "erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz".15 Das vorlaufende Entschlossensein, in dem das Dasein seinen Tod als seine äußerste Möglichkeit in sein Sein hinein holt, wird von Heidegger im Blick auf die fünf Bestimmungen des Todesphänomens beschrieben.76 Danach erschließt die vorlaufende Entschlossenheit zum Tode das Dasein in seiner eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Möglichkeit.77 So liegt im Vorlaufen "die Möglichkeit eines existentiellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren."78 Schließlich erschließt das entschlossene Vorlaufen die Gewißheit und zugleich als deren Kehrseite die Unbestimmtheit des Todes. Der Vollzug des entschlossenen Vorlaufens gewinnt also die Gewißheit des Todes durch sich selbst·, darin erfährt sich das Dasein aber als ein solches, das nur durch sich selbst und von sich selbst her hinsichtlich seiner möglichen Eigentlichkeit bedroht werden kann. Denn nur das Dasein selbst kann sich dazu entschließen, das entschlossene Vorlaufen zu 'unterlassen'. Die durch das Vorlaufen selbst bezeugte Unbestimmtheit des Todes neben seiner Gewißheit79 hält fest, daß das entschlossene Dasein von sich selbst her bedroht bleibt. Die Möglichkeit seiner Uneigentlichkeit ist in ihm selbst festgeschrieben. Darin bewährt sich die fundamentale Einsicht Heideggers, daß das Dasein gleichursprünglich in der Wahrheit wie in der Unwahrheit ist. Zugleich wird damit ein Licht auf das präzise Ergebnis der Todesanalyse geworfen. Das entschlossene Vorlaufen sollte, so hatte Heidegger zu Beginn seiner Todesanalyse betont, das
75 76 77 78 79
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AaO. 213 Vgl. aaO. 260-267 Vgl. aaO. 263f. AaO. 264 AaO. 265f.
Ganzsein des Daseins hinsichtlich seiner Möglichkeit aufdecken. So schickt Heidegger diesem ersten Kapitel der wiederholenden Interpretation des Daseins die Versicherung voraus, daß das "ganze existierende Dasein ... sich demnach in die existentiale Vorhabe bringen" läßt.80 Die Aufdeckung der vorlaufenden Entschlossenheit aber zeitigt ein viel bescheideneres Ergebnis, wie oben schon angedeutet werden konnte.81 Danach deckt die vorlaufende Entschlossenheit lediglich die Möglichkeit des Ganzseinkönnens auf; weiter vermag eine Analyse des Daseins, das die Tendenz zur Uneigentlichkeit oder Verfallenheit als tragende Grundbewegung in sich hat, nicht zu kommen. Es ist dem Dasein nicht nur unbenommen, sich seinem Ganzseinkönnen gleichsam zu verweigern; darüber hinaus gilt, daß die das Ganze des Daseins vor es selbst bringende Entschlossenheit in sich selbst eine wesentliche Verdeckungstendenz hat. Dies ist nach Heidegger letztlich der Preis dafür, daß das Dasein sein eigener Grund sein muß, wenn es zur Eigentlichkeit gelangen will. Die so erklärte Bedrohung des Daseins durch sich selbst wird bezeugt in der Angst.82 "Weil das Vorlaufen das Dasein schlechthin vereinzelt und es in dieser Vereinzelung seiner selbst der Ganzheit seines Seinkönnens gewiß werden läßt, gehört zu diesem Sichverstehen des Daseins aus seinem Grunde die Grundbefindlichkeit der Angst."83 Es hat sich also gezeigt, daß die Daseinsanalyse von ihrem Ansatz bei dem alltäglichen, verfallenden Dasein her nicht weiter kommen kann als zur Aufdeckung der Möglichkeit des Gaiaseinkönnens. Das eigentliche Ganzsein bleibt unbezeugt. - Diese Interpretation bewährt sich auch im Zusammenhang des Gewissensbegriffs, der die daseinsmäßige Bezeugung eigentlichen Seinkönnens bringen soll.84 Auch das Phänomen des Gewissens aber bezeugt genau genommen nur - ähnlich wie die vorlaufende Entschlossenheit im Blick auf das mögliche Ganzsein des Daseins - , daß sich das Dasein in seine Freiheit und Eigentlichkeit zurückrufen kann.*5 Was das Dasein aber dazu bewegen könnte, dem eigenen Ruf zur Eigentlichkeit Folge zu leisten, läßt sich nicht mehr verdeutlichen. Das Dasein ist demnach von seinem Begriff her seiner Eigentlichkeit nur als Möglichkeit gewärtig. Es sieht seiner Eigentlichkeit immer nur entgegen. Das verdeutlicht die Verletzlichkeit des Daseins. Dieses zeigt sich als ein Wesen, das elementar auf Wahrheit angewiesen ist; gilt doch, daß das
80 81 82 83 84 85
AaO. 234 Vgl. Anm. 78 Vgl. SuZ 184ff. AaO. 266 Vgl. aaO. 267ff. Vgl. aaO. 195ff. und die Kritik von Tugendhat, aaO. 319
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Dasein gleichursprünglich auf Wahrheit und Unwahrheit bezogen ist. So scheint es, als sei das Dasein in seinem 'Bemühen', sein eigener Grund sein zu wollen und zu müssen, überfordert. Aber wir haben vorausgegriffen. Die existentiale Analyse des Todes, so meint Heidegger, deckt das Ganzseinkönnen des Daseins hinsichtlich seiner Möglichkeit auf.86 Diese Analyse entwickelt darin den Begriff der vorlaufenden Entschlossenheit, der das eigentliche Seinkönnen zum Tode bezeugt. Die Todesanalyse gibt darin den Blick frei auf die erste Grundbestimmtheit der Zeitlichkeit. Denn mit dem Gedanken der vorlaufenden Entschlossenheit ist eine Vorstellung von der Verfassung des Daseins gewonnen, die die mögliche Ganzheit des Daseins als zeitliches Geschehen in die Verfügung des Daseins selbst legt. "Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist."87 Die Gewissensanalyse fügt diesem Ergebnis der existentialen Interpretation des Todes noch hinzu, daß im Gewissensruf auch die 'Einholung' der Vergangenheit des Daseins - seine Geworfenheit - in das Dasein möglich ist. "Das Dasein ist sein Grund existierend, das heißt so, daß es sich aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend das geworfene Seiende ist" - so lautet das Ergebnis aus Todes- und Gewissensanalyse.88 Damit ist nach Heidegger bezeugt, daß das Dasein zeitlich die Ganzheit seines Seins umfaßt. Als erste Grundbestimmtheit der Zeitlichkeit gilt ihm von da aus der ekstatische Charakter der Zeitlichkeit. "Zeitlichkeit ist das ursprüngliche 'Außer-sich' an und für sich selbst."89 Kraft seiner zeitlichen Erstrecktheit also vermag das Dasein so gedacht zu werden, daß es seine Ganzheit selbst zu erzeugen vermag. So und nur so ist auch die Dreiheit der Sorgestruktur erklärbar. Darin erweist sich nun konkret die Zeitlichkeit als der Sinn der Sorge, daß sie die Bestimmungen der Sorgestruktur auf die mögliche Ganzheit des Daseins in der Weise interpretiert, daß nun diese Ganzheit als Verfaßtheit des Daseins durch sich selbst denkbar wird.
86 Die Todesanalyse Heideggers hat vielfache Kritik gefunden; so hinsichtlich der in ihr beanspruchten Allgemeinheit des analysierten Todes-Phänomens (vgl. H. Ebeling, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein, 1979, 86ff.) - so hinsichtlich des behaupteten Alleinvertretungsanspruches, der bei Heidegger die Bedingung für die ' Jemeinigkeit' des Todes ist (vgl. aaO. 89) - schließlich auch hinsichtlich der behaupteten Ganzheit, die der Tod dem Dasein angeblich vermitteln soll (vgl. W. Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: Grundfragen systematischer Theologie I, 1979\ 146 und J. Sartre, Das Sein und das Nichts, 1962, 670ff.) 87 SuZ 262 (Erste Hervorhebung von mir) 88 AaO. 285 89 AaO. 329
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Das 'Sich-vorweg-sein' der Sorgestruktur wird dabei als ursprüngliche Zukünftigkeit des Daseins ausgelegt und erklärt.90 Das 'Schon-sein-in' erfahrt seine Erklärung aus dem im Gewissen bezeugten ursprünglichen Zurückkommen der vorlaufenden Entschlossenheit auf die Geworfenheit des Daseins.91 Schließlich vermag die vorlaufende Entschlossenheit, in der das Dasein sich 'je und je' im Augenblick zur Eigentlichkeit bringt, auch das 'Sein-bei' des alltäglichen Daseins - also die Struktur des Verfallens aus der ekstatischen Zeitlichkeit zu deuten.92 So kann Heidegger zusammenfassend feststellen: "Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur."93 Die ursprüngliche Zukünftigkeit des Daseins hat in seiner zeitlichen Verfaßtheit das 'Prae'. "Phänomenal ursprünglich wird die Zeitlichkeit erfahren am eigentlichen Ganzsein des Daseins, am Phänomen der vorlaufenden Entschlossenheit."94 Darin wirkt sich erneut die Zuordnung des Entwurfs (' Sich-vorwegsein') zum Selbst, der Geworfenheit ('Schon-sein-in') aber zur Welt aus. Die Zeitlichkeit des Daseins ist in diesem Sinne wesentlich Zukunft. Neben der ekstatischen Struktur der Zeitlichkeit, die das Ganzseinkönnen des Daseins aus sich selbst erklärt, nennt Heidegger als zweite Grundbestimmung der Zeitlichkeit ihre Horizontalität.95 Diese Bestimmung wird von Heidegger aus der Ekstatik abgeleitet. Die Horizontalität bezeichnet nämlich das 'Wohin' der ekstatischen Entrückung des Daseins in seiner Zeitlichkeit. Als dieses 'Wohin' gilt Heidegger die Welt. In jeder der drei Ekstasen der Zeitlichkeit ist dieses 'Wohin' anders bestimmt. Der Zukünftigkeit korreliert das horizontale Schema des "Umwillen seiner".96 Die Welt ist - so kann überspitzt formuliert werden - in bezug auf die vorlaufende Entschlossenheit des Daseins als 'abwesende' präsent. Das 'Wohin' der vorlaufenden Entschlossenheit ist das Dasein selbst unter Ausblendung der Welt. Dem ' Zurück-kommen-auf ' - also der ursprünglichen Vergangenheit des Daseins - entspricht das horizontale Schema des "Woran der Überlassenheit".97 Das im Vorlaufen seiner Geworfenheit gewärtige Dasein erfahrt seine Welt als Ort, an dem es sich selbst überlassen ist. 90 Vgl. aaO. 325 91 Vgl.aaO. 327 92 Vgl. aaO. 327f. 93 AaO. 328 94 AaO. 304 (im Text hervorgehoben) 95 Vgl. aaO. 365 und M. Heidegger, Gesamtausgabe Band 24, Die Gnmdprobleme der Phänomenologie (SS 1927), 1975, 374ff. 96 SuZ 365 97 Ebd.
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Der durch die Entschlossenheit zur Ursprünglichkeit befreiten Gegenwart, in der das Dasein sein 'Da' sein kann und sich zum eigentlichen Vorlaufen wieder neu entschließt, entspricht das horizontale Schema des 'Um-zu'. Das im Augenblick entschlossene Dasein hat sich die Welt in ihrer Ganzheit so erschlossen, daß sie das 'Um-willen-seiner-selbst' des Daseins nicht mehr aufhebt, sondern ergänzt. Damit ist die Zielrichtung des Horizont-Begriffs angezeigt. Er soll die Bezogenheit der ekstatischen Zeitlichkeit auf die Welt erklären. Mit dem Aufweis der Horizontalität der Zeitlichkeit soll verdeutlicht werden: "auf dem Grunde der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört zum Seienden, das je sein Da ist, so etwas wie erschlossene Welt."98 Liegt aber diese Bezogenheit auf eine erschlossene Welt nicht schon in der ekstatischen Verfassung des zeitlichen Daseins? Sollte nicht das Dasein schlechthin als 'in-der-Welt-sein' bestimmt werden? Inwieweit kann und darf es sich bei der Bezogenheit des Daseins auf eine erschlossene Welt um eine gleichsam zusätzliche Bestimmung zu seiner ekstatischen Zeitlichkeit, die für sich das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins bezeichnet, handeln? Heidegger sah doch bekanntlich die Bestimmung des Daseins als 'Inder-Welt-sein' als entscheidenden Vorteil gegenüber der klassischen Erkenntnislehre an, die seiner Meinung nach mit der Frage, wie das Bewußtsein aus seiner 'Innensphäre' zu einer Außenwelt komme, diese grundsätzliche Weltlichkeit des Daseins überspringt." Die Differenzierung zwischen der ekstatischen und der horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit deckt erneut die wesentliche Unausgeglichenheit der Heideggerschen Daseinsanalyse auf, die an dem doppelten Gebrauch der Begriffe 'Geworfenheit' und 'Entwurf' festzumachen ist. Einerseits sollen sie, so sahen wir, die beiden Seiten der ursprünglichen Entschlossenheit des Daseins bezeichnen. Andererseits wird der 'Entwurf' dem Selbst des Daseins zugeordnet, das Geworfensein der Welt und damit der Uneigentlichkeit des Daseins. Nach diesem zweiten Gebrauch, der sich in der wiederholenden Interpretation des Daseins und damit auch im Blick auf die Kennzeichnung der Zeitlichkeit ganz offensichtlich durchgesetzt hat, ist das 'Worauf-hin' des sich entwerfenden Daseins immer es selbst, wenn es denn eigentlich sein will. Der Versuch, die Differenzierung zwischen dem ekstatischen und dem horizontalen Charakter der Zeitlichkeit so zu begründen, daß die Horizontalität "das Signum der Endlichkeit qua Angewiesenheit auf die Vorgabe
98 Ebd. 99 Vgl. SuZ 61f. u.ö.
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von Seiendem"100 ist, muß scheitern. Denn er macht für jene Unterscheidung den ersten Gebrauch der Begriffe 'Geworfenheit' und 'Entwurf' geltend. Dieser aber ist im Zusammenhang der Herausarbeitung der Zeitlichkeit ganz offensichtlich aufgehoben. War doch das horizontale Schema der Zukünftigkeit des Daseins selbst als 'Um-willen-seiner-selbst' gedacht worden.
b) Die vorlaufende Entschlossenheit als das ursprünglicheWesen der Zeit Die eigentliche Ganzheit des Daseins, so legt Heidegger dar, wird erreicht in der vorlaufenden Entschlossenheit. Es kommt Heidegger darauf an zu erweisen, daß der Begriff der vorlaufenden Entschlossenheit, der in sich das Prae der Zukünftigkeit vor den anderen Zeitekstasen enthält, sowohl die ursprüngliche zeitliche Verfassung des Daseins aufdeckt als auch die Zeitlichkeit des Daseins als eigentliches Wesen der Zeit überhaupt verdeutlicht. Nur die Zeitlichkeit nämlich vermag die Einheit der Zeit zu erklären. Genau darin erweist sie sich als ursprüngliches Wesen der Zeit. Entsprechend entwickelt Heidegger die vorlaufende Entschlossenheit als eigentliches Phänomen, das seine Einheit gleichsam in einem zeitlichen Prozeß selbst erzeugt. Darin liegt der eigentliche Sinn der immer wiederkehrenden Aussage Heideggers, daß die Zeitlichkeit sich selbst 'zeitigt'101 Diese Wendung soll die Behauptung, die Zeitlichkeit des Daseins sei die ursprüngliche Zeit, umschreiben. Der Versuch, diese Behauptung durch die Kennzeichnung der vorlaufenden Entschlossenheit als eines einheitlichen Phänomens zu begründen, soll deshalb noch kurz nachvollzogen werden, obwohl er im Laufe der vorangegangenen Darstellung schon implizit thematisch war. Die vorlaufende Entschlossenheit kennzeichnet das Dasein zunächst hinsichtlich seines eigenen Seinkönnens, hinsichtlich seiner zukünftigen Möglichkeiten. Denn das Ziel der vorlaufenden Entschlossenheit ist das Dasein selbst in seinem möglichen Ganzsein. In der Entschlossenheit kommt das Dasein also strenggenommen auf sich selbst zu, insofern auch die äußerste Möglichkeit des Daseins eine mögliche Bestimmtheit desselben ist. "Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft,"102 Denn die Zukunft ist hier verstanden als die "Kunst, in der das Dasein in 100 M. Heinz, Zeiüichkeit, 102 101 Z.B. SuZ328 102 SuZ 325
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seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt"103, nicht bloß als das 'Noch-nicht' des erst und nur vielleicht Kommenden. Das Dasein kommt deshalb in dem Vorlaufen auf sich selbst zu, weil das Dasein "als seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt"104, weil das Dasein wesentlich sich vorweg ist. Es wird sich später zu zeigen haben, daß die vulgäre Auffassung der Zukunft, sie sei das bloße 'Noch-nicht' des erst Kommenden, ein abkünftiger Modus dieser eigentlichen Zukunft des zeitlichen Daseins ist. Die vorlaufende Entschlossenheit "versteht das Dasein in seinem wesenhaften Schuldigsein".105 Was ist das Dasein sich schuldig? Es schuldet sich selbst die Entscheidung zur Eigentlichkeit. Denn das Dasein wird nicht von 'außen' gezwungen, es selbst sein zu wollen. Es kann sich aber nur so zur Eigentlichkeit entschließen, daß es sich in seiner Ganzheit übernimmt. Deshalb kommt die vorlaufende Entschlossenheit ständig darauf zurück, daß die Geworfenheit des Daseins - sein 'Daß' - nie hinter ihm liegt. Das Dasein ist ständig sein 'Daß' und hat sich gerade hinsichtlich seiner Geworfenheit in seinen Möglichkeiten zu entwerfen. Nur in diesem Zurückkommen auf seine Geworfenheit vermag das Dasein erst wirklich seine eigenen Möglichkeiten zu sein. So erschließt sich aus der vorlaufenden Entschlossenheit auch das Phänomen ursprünglicher Vergangenheit, die nicht das bloße und abkünftige 'Nicht-mehr' eines einmal Gewesenen, sondern der ständige Ruf zur eigentlichen Zukunft ist.106 Ähnliches gilt schließlich hinsichtlich der Dimension der Gegenwart. Die vorlaufende Entschlossenheit "erschließt die jeweilige Situation des Da"107, in der das Dasein immer schon beim Umgang mit zuhandenem Zeug ist. In der vorlaufenden Entschlossenheit wird diese 'Situation' derart erschlossen, daß das Dasein zum Handeln mit und an dem Zuhandenen befreit wird. So wird das Dasein aus seiner Verfallenheit an die Welt herausgerissen. Denn nur das entschlossene Dasein vermag das zuhandene Zeug so begegnen zu lassen, daß es unverstellt begegnet - d.h. so begegnet, daß das Dasein Zeit zum überlegten Umgang mit dem Seienden hat. Nur das aus der vorlaufenden Entschlossenheit auf seine Geworfenheit im Augenblick zurückkommende Dasein hat 'alle Zeit der Welt' zum entschlossenen Handeln.
103 104 105 106 107
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Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. aaO. 284 AaO. 326
Resümierend stellt Heidegger fest: "Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation."108 So ist deutlich geworden: Heidegger will mit der Aufdeckung der Beziehung des Vorlaufens zur Geworfenheit und zu dem Verfallen zeigen, daß die wesentliche Zukünftigkeit des Daseins auch die Gewesenheit und die Gegenwärtigkeit des Daseins einschließt und so die Einheit der Zeitlichkeit konstituiert. Damit ist ein erster Schritt getan, die Zeitlichkeit des Daseins als das ursprüngliche Wesen der Zeit überhaupt aufzudecken.
c) Die eigentliche Zeitlichkeit als abkünftiger Modus des entschlossenen Vorlaufens - der Heideggersche Versuch, die uneigentliche aus der eigentlichen Zeitlichkeit zu erklären Um die beschriebene Zeitlichkeit des entschlossenen Vorlaufens als ursprünglichste Daseinsverfassung109 ausdrücklich machen zu können, bedarf es der Aufdeckung der grundsätzlichen Möglichkeit des Daseins, uneigentlich zu sein. Diese Möglichkeit liegt nach Heidegger in der alltäglichen Verfallenheit des Daseins an die ihm 'begegnende Welt' vor. Die ständige Möglichkeit des Daseins zur Uneigentlichkeit muß sich aber aus der sich als Einheit der Ekstasen darstellenden Zeitlichkeit der vorlaufenden Entschlossenheit aufdecken lassen. Denn nur so kann der Anspruch aufrecht erhalten werden, die Zeitlichkeit des Daseins sei die ursprüngliche Zeit in dem Sinne, daß sie alle möglichen 'Zeitverhältnisse' aus sich erklärt. Konkret heißt das: die Art und Weise, in der das Dasein alltäglich mit 'Zeit umgeht', muß als abkünftiger Modus der eigentlichen Zeitlichkeit (der vorlaufenden Entschlossenheit) ausdrücklich gemacht werden können. Wir sahen, daß die von Heidegger herausgearbeitete dreifache Sorgestruktur in die Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit aufgenommen worden ist; aber nicht nur das: die Sorgestruktur erfuhr in der vorlaufenden Entschlossenheiterst ihre 'nachträgliche' Erklärung, indem so ihre Einheitlichkeit deutlich wurde. So mußte auch die wesentliche Tendenz des alltäglichen Daseins zum Verfallen in die wiederholende Interpretation des Daseins - also in die Analyse seiner zeitlichen Verfassung - mit einbezogen werden. Andererseits betont Heidegger aber zu Beginn des zweiten Abschnittes von 'Sein und Zeit' unmißverständlich, gerade die Berücksichti108 Ebd. 109 In der Vorlesung vom SS 1927 spricht Heidegger davon, die Sorge sei das vorletzte, die Zeitlichkeit aber das letzte Phänomen, "um in die eigentliche Seinsstruktur des Daseins" vorzudringen (Band 24,406)
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gung der alltäglichen Verfallensstruktur des Daseins habe in dem ersten Abschnitt verhindert, das Dasein in seiner möglichen Ganzheit und Eigentlichkeit in den Blick zu bekommen.110 So sind die Erklärungen Heideggers auch im Zusammenhang des zweiten Abschnittes von 'Sein und Zeit' zur Bedeutung der Verfallenheit - als dem dritten Moment der Sorgestruktur für die wiederholende Daseinsanalyse nie ganz eindeutig. Einerseits gilt, daß die zeitliche 'Verfaßtheit' des zur Eigentlichkeit entschlossenen Daseins aufgeht in der Einheit von 'Vorweg-sein' und 'Schon-sein', also in der Einheit der wesentlichen Zukünftigkeit des Daseins mit der Übernahme seiner Geworfenheit.111 Danach ist dann die Gegenwart oder das 'Gegenwärtigen', in dem das Verfallen als die Selbstauslieferung des Daseins an die ihm je begegnende Welt gründet, in der eigentlichen Zeitlichkeit das Daseins "eingeschlossen ... in Zukunft und Gewesenheit".112 Diese Wendung ist so zu verstehen, daß die Bezogenheit der wesentlichen Zukunft des eigentlichen Daseins auf seine Gewesenheit Gegenwart gleichsam eröffnet. Andererseits betont Heidegger im gleichen Atemzug, daß die Zeitlichkeit des Daseins die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallenheit ermöglicht und darstellt.113 Die Erklärung für diese Unausgeglichenheit in den Heideggerschen Ausführungen weist in die schon angegebene Richtung. Die Zeitlichkeit im Sinne der vorlaufenden Entschlossenheit eignet nur dem eigentlichen Dasein. Das schließt das 'Verfallen' des alltäglichen Daseins aus der zeitlichen Verfassung des eigentlichen Daseins gleichsam aus bzw. reserviert ihm nur einen abkünftigen Modus der Zeitlichkeit. Daneben gilt aber auch, daß der Ruf des Daseins in die Eigentlichkeit von der Erfahrung des Verfallens immer schon herkommt. "Entschlossen hat sich das Dasein gerade zurückgeholt aus dem Verfallen ...".•14 Das aber setzt voraus, daß das Verfallen nicht nur zur Verfassung des alltäglichen Daseins hinzuzuzählen ist, sondern auch in die Kennzeichnung der zeitlichen Struktur des eigentlichen Daseins mit eingehen muß. Denn es ist das alltägliche Dasein, das in allen seinen Momenten eigentlich werden soll. In diesem Zusammenhang gelangt Heidegger 'beinahe' dazu, zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Verfallen zu unterscheiden, wenn er betont, das Verfallen als
HO 111 112 113 114
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SuZ 233 Vgl. aaO. 328 Ebd. Vgl. ebd. Ebd.
uneigentliche Gegenwart gründe in dem 'Augenblick' des eigentlichen Gegenwärtigens.115 Die offensichtliche Schwierigkeit hinsichtlich der 'Einordnung' des Verfallens in den Zusammenhang der zeitlichen Verfaßtheit des eigentlichen Daseins weist in ein entscheidendes Grundproblem von 'Sein und Zeit' überhaupt. Die dreifache Sorgestruktur kennzeichnet nach der vorbereitenden Daseinsanalyse das alltägliche Dasein in seiner Ganzheit. Das menschliche Dasein wird damit so aufgefaßt, daß es in der Einheit und Bezogenheit von Welt- und Selbstverhältnis existiert. Dabei kann übersehen werden, daß die gleichursprüngliche Zuordnung des Verfallens zu Faktizität und Existentialität insofern nicht ganz unproblematisch ist, als diese in sich schon das enthalten, was die Besonderheit des Verfallens ausmacht - das 'Seinbei-der-Welt' des Daseins. Dieses Modell der dreifachen Sorgestruktur geht jedenfalls - ganz allgemein gesagt - davon aus, daß Welt- und Selbstverhältnis, Geworfenheit und Entwurf die beiden verschiedenen Seiten in der Erschlossenheit des eigenen Seins und der Welt sind. Nach diesem Modell könnte und müßte die Verfallenheit des Daseins den diesem innewohnenden Hang kennzeichnen, sich in die eine oder andere Richtung gleichsam 'absolut' zu setzen. Sich rein und ausschließlich aus seinen eigenen Möglichkeiten verstehen zu wollen - unter Ausblendung der Geworfenheit des Daseins - , kennzeichnet das Dasein in seinem überfliegenden Wunsche nach absoluter Freiheit und Selbstbegründung. Das geworfene Dasein versucht darin verzweifelt, in einem absoluten Sinne es selbst zu sein. Das sich vor der Aufgabe, sich aus seinen eigenen Möglichkeiten verstehen zu müssen, fürchtende Dasein überläßt sich - und das beschreibt die Tendenz des Verfallens nach der anderen Seite - ganz seiner Geworfenheit bzw. Faktizität. Es beruhigt sich bei der Welt und versucht verzweifelt, nicht es selbst sein zu müssen. Das ziellose Verfügen über eigene Möglichkeiten und die blinde Benommenheit von den Möglichkeiten, die die Welt zu bieten scheint, sind die beiden Seiten eines einzigen Vorganges, der das Verfallen des Daseins ausmacht. Die behauptete Gleichursprünglichkeit des Verfallens neben der Geworfenheit und dem Entwurf des Daseins ist innerhalb dieses Ansatzes dann so zu beurteilen, daß sie die grundsätzliche Tendenz des alltäglichen Daseins angibt, sich in der einen oder anderen 'Richtung' von seiner Bestimmung als 'geworfener Grund seiner selbst' loszusagen. Neben diesem Modell der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' steht weitgehend unverbunden ein anderes. Dieses wird sichtbar in der funda-
115 Vgl. aaO. 350; dazu Tugendhat, aaO. 319
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mentalen Gegenüberstellung von Entwurf und Geworfenheit, Existenz und Faktizität. Danach steht das Dasein ständig in der Möglichkeit, sich eigentlich und d.h. aus sich selbst zu verstehen oder aber uneigentlich und d.h. aus der Welt.116 Letztere Möglichkeit führt dann zur Verfallenheit des Daseins als dem aufgehenden Sein des Daseins bei den Dingen dieser Welt. Die Kennzeichnung des Verfallens als 'Sein-bei-der-Welt' zeigt für sich schon, daß dieses Modell sich in der Konzeption von 'Sein und Zeit' weitgehend durchgesetzt hat. Die nachträgliche Herausstellung der 'Weltlichkeit' der vorlaufenden Entschlossenheit bzw. des eigentlichen Entwurfs hinkt da gleichsam nach. Und auch hinsichtlich der Horizontalität der ekstatischen Zeitlichkeit konnte gezeigt werden, daß sie im Blick auf die wesentliche Ekstase der Zukünftigkeit des Daseins unter Ausblendung der Weltlichkeit des Daseins bestimmt wird. Hinsichtlich seiner vorlaufenden Entschlossenheit ist sich das Dasein selbst sein Horizont, d.h. das Wohin seiner Entschlossenheit. Die Wahrheit eigentlicher Existenz ist das Sein aus sich selbst. Wie aber kommt es dann 'immer wieder' zum Verfallen des Daseins 'an die Welt', wenn es doch im entschlossenen Vorlaufen ständig seine Eigentlichkeit 'erreichen' könnte? Eine Antwort auf diese Frage entzieht sich den Möglichkeiten, die die Daseinsanalyse hat. Diese vermag allenfalls die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen es zu einem Verfallen des Daseins kommen kann. Die faktische 'Übernahme' eigentlicher Existenz entscheidet sich in der Konkretion des jeweiligen Lebens.117 Die Möglichkeit des Verfallens aber muß notwendig aus der zeitlichen Verfassung des Daseins ausgewiesen werden können. Denn die wiederholende Interpretation des Daseins ist ja zu dem Ergebnis gekommen, daß das Dasein vermöge seiner Zeitlichkeit seine Ganzheit sein kann, wenn es nur will. Die Zeitlichkeit hat sich als die letztgültige und analytisch unhintergehbare Verfassung des Daseins erwiesen.118 Dieses Ergebnis hat sich nun zu bewähren durch den Aufweis, daß die Möglichkeit des Verfallens, von dem das faktische Dasein immer schon herkommt, nirgendwo anders als in der Grundverfassung des Daseins selbst liegt. Damit wird die Zeitlichkeit des Daseins als ursprüngliche Zeit aufgedeckt und zum zweiten verdeutlicht, daß das Verfallen nicht einem Vorgang entspringt, der dem Dasein gleichsam entzogen und äußerlich ist, sondern in dem sich das Dasein selbst seiner eigenen Möglichkeiten beraubt. Die Aufdeckung der Möglichkeit des Verfallens aus der ursprünglichen und ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit wird nun so durchgeführt, daß die 116 Vgl. SuZ221 117 Vgl. Tugendhat, aaO. 321 118 So formuliert Heidegger in Band 24, 40ff.
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einzelnen 'Momente' der Sorgestruktur (des alltäglichen Daseins) auf dem Grunde der Zeitlichkeit des entschlossen vorlaufenden Daseins interpretiert und veranschaulicht werden. So soll der zeitliche Sinn der Vollzüge des alltäglich sich sorgenden Daseins erhellt werden. So entspricht dieses Vorhaben unserer Interpretation, in 'Sein und Zeit' habe sich dasjenige 'Modell' durchgesetzt, das die Eigentlichkeit des Daseins in seiner absoluten Selbständigkeit unter Ausblendung des Weltbezuges des Daseins sieht. Denn die Verfallenheit liegt in der Macht des entschlossenen Daseins, das sich selbst - in einer kontingenten Entscheidung - von seinen Möglichkeiten lossagt. Das Verstehen galt in der vorbereitenden Daseinsanalyse als wesentliches Moment der Erschlossenheit des alltäglichen Daseins.119 Das Verstehen 'vertritt' in der Sorgestruktur das 'Sich-vorweg-sein' des Daseins. Das eigentliche Verstehen kennzeichnet das entschlossen vorlaufende Dasein, also dasjenige Dasein, das sich und seine 'Welt' aus sich selbst versteht. Das entschlossen vorlaufende Dasein kommt auf sich zu und übernimmt seine Geworfenheit im Augenblick. Das uneigentliche Verstehen hingegen geht auf im Besorgten. Das uneigentliche Dasein kommt im Besorgten nicht auf sich zu, sondern läßt das Besorgte auf sich zukommen. Das uneigentliche Verstehen ist ständig gewärtig des besorgten Seienden und ist so nicht frei für sich selbst.120 So vergißt es sich gleichsam 'selbst' im 'Jetzt' der sehnsüchtig erwarteten Ankunft des Besorgten. Im Zusammenhang der Analyse des alltäglichen Daseins bezeugt die Befindlichkeit oder die Stimmung phänomenal das 'Schon-sein-in-derWelt' des Daseins - seine Geworfenheit.121 Das Befinden des eigentlichen Daseins ist Angst. In der Angst 'erkennt' das Dasein seine Geworfenheit und übernimmt sie entschlossen in der Aufdeckung seiner eigenen Möglichkeiten. Das befinden des uneigentlichen Daseins ist die Furcht. In der Furcht starrt das Dasein auf seine ungewisse Herkunft in der gleichzeitigen Sorge, die 'Selbstübemahme' nicht leisten zu können. Das sich fürchtende Dasein wird so unfrei für sein Seinkönnen aus sich selbst.122 Das 'Sein-bei-der-Welt' als das dritte Moment der Sorgestruktur wurde in der vorbereitenden Daseinsanalyse bezeugt durch das alltägliche Verfallen des Daseins in Neugier, Gerede und Zweideutigkeiten.123 So ist das Verfallen in der Gestalt der Neugier z.B. so gekennzeichnet, daß das Dasein 119 120 121 122 123
SuZ SuZ Vgl. Vgl. Vgl.
142ff. 337 SuZ124ff. SuZ 342 SuZ 167ff.
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in ihr immer wieder neu dem stets 'Gegenwärtigen' nachjagt, um stets auf der Höhe der Zeit zu sein. Das neugierige Dasein verliert darin seine 'Ständigkeit'; seine Gegenwart ist gezeichnet durch Aufenthaltslosigkeit. Es hat nie die Zeit, einer 'Sache' auf den Grund zu gehen. Nur das entschlossen vorlaufende und darin auf sich selbst zurückkommende Dasein - also das 'eigentlich' verfallende Dasein124 - nimmt sich die Zeit für die Dinge dieser Welt, die es braucht, um durch sie zu sich selbst zu kommen. - Die Phänomene des alltäglichen Daseins, die die Sorgestruktur bilden, können also zeitlich interpretiert werden. Das bedeutet: diese Interpretation hat diese Phänomene so aufgedeckt, daß sie aus der zeitlichen Verfassung des Daseins erklärt werden können. Unter zeitlicher Verfassung des Daseins aber ist nicht das bloße 'In-der-Zeit-sein' des Daseins zu verstehen, sondern das sich in der Einheit seiner Ekstasen auslegende Dasein - also das seine Ganzheit selbst hervorbringende Dasein. Wie aber wird nun gezeigt, daß die uneigentliche Zeitlichkeit des alltäglichen Daseins aus der Zeitlichkeit der vorlaufenden Entschlossenheit entspringt? Erstens gilt: Das uneigentliche Verstehen gründet in der das Dasein bestimmenden ursprünglichen Zukünftigkeit. Das Dasein könnte nämlich nicht uneigentlich im Besorgten aufgehen, wenn es nicht ursprünglich so bei Besorgtem wäre, daß es sich selbst auf es hin entwerfen würde.125 Zweitens ist zu betonen, daß das Dasein sich in der Furcht nicht an die Geworfenheit 'ausliefern' könnte, wäre es nicht ursprünglich seiner Faktizität eingedenk.126 Drittens könnte sich das Dasein nicht verlieren in der Aufenthaltslosigkeit einer punktuellen Gegenwart, wäre es nicht gewärtig seiner ständigen Aufgabe, sich zur Eigentlichkeit zu entschließen.127 Damit ist nach dem Plan Heideggers die Zeitlichkeit des Daseins im Sinne ihrer ekstatischen Einheit auch nach ihrer 'negativen' Seite hin - d.h. im Blick auf die alltägliche Verfallenheit des Daseins - als Bedingung der Begegnung von Seiendem aufgedeckt. Auch für das uneigentliche Dasein ist die Einheit der zeitlichen Ekstasen der phänomenologisch ausdrücklich gemachte Bodeii, auf dem das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen erklärt und in seiner Ganzheit einsichtig gemacht werden kann.
124 Dies liegt in der Logik der Argumentation (aaO. 350), wird von Heidegger aber nicht ausdrücklich ausgesprochen 125 Vgl. SuZ 337 126 Vgl. aaO. 343f. 127 Vgl. aaO. 347f.
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Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit ist "das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller wesenhaften existentialen Strukturen des Daseins".128 In dem letzten Kapitel seiner wiederholenden Daseinsanalyse zeigt Heidegger schließlich die Zeitlichkeit des Daseins auch noch als Ursprung der 'Weltzeit', die er die vulgäre Zeit nennt. Damit schließt sich der Kreis des Versuches, die Zeitlichkeit des Daseins als das Wesen der Zeit überhaupt geltend zu machen. Die vulgäre Zeit ist nach Heidegger die als Zahl bestimmte Zeit. Als solche dient sie zur Berechnung und Verplanung des alltäglich Begegnenden.129 Die verplante und berechnete Zeit liegt immer als konkrete Anzahl vor. Darin zeigt sich die vulgäre Auffassung der Zeit wesentlich als bestimmt durch die Reduktion der Zeit auf die Jetzt-Zeit.130 Die vulgäre Zeit ist nach Heidegger die unendliche Folge der 'Jetzte'.131 Auch im Blick auf die so gedachte 'Weltzeit' versucht Heidegger zu zeigen, daß sie aus der ursprünglichen Zeitlichkeit entspringt. Die auf die bloße Folge der ausdehnungslosen Jetztpunkte reduzierte Zeit ist ein abkünftiger Modus der Zeitlichkeit und ihrer ekstatischen Einheit. Die 'Beschränkung' auf die Jetztzeit entspringt der alltäglichen Flucht des Daseins vor der Eigentlichkeit; genauer: sie entspringt der furchtsamen Beschränkung auf die Geworfenheit des Daseins. Die öffentliche, gleichsam durch sich selbst ablaufende Zeit gehört niemandem; sie geht ständig und kommt aber auch wieder. 'Man' hat immer noch einmal Gelegenheit, sich in die Eigentlichkeit rufen zu lassen und entschlossen vorzulaufen.132 128 AaO. 351 129 Vgl. aaO. 421 u.ö. 130 Vgl. aaO. 420ff. 131 Die These Heideggers, Aristoteles sei der Vater des vulgären Zeitbegriffs, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Nur soviel: diese These zeigt ähnliche Züge wie die These Heideggers, Kant sei der 'Prophet' der Zeitlichkeit des Daseins als seiner ursprünglichen Verfassung - nämlich die Züge einer bewußt 'gewaltsamen' Interpretation. Bestimmt wird der die Zeitanalyse des Aristoteles in der Tat bestimmende Begriff des 'Jetzt' im Zusammenhang der Einsicht in die Kontinuumstmktur der Zeit. Auch Aristoteles kann so - allerdings anders als Heidegger - den Gedanken einer kontinuierlichen Einheit der Zeit durch die Tätigkeit der ' zeitbe wußten ' Seele denken. Die Beschränkung der Zeit auf die bloße Folge der Jetzte liegt bei A. nicht vor. (vgl. dazu W. Wieland, Die aristotelische Physik, 19702, 278ff.) 132 H.G. Gadamer hat in seinem Aufsatz 'M. Heidegger und die Maiburger Theologie' (in: Pöggeler, Heidegger, aaO., 169ff.) darauf hingewiesen, daß in dieser Rückführung aller Zeitbestimmungen auf die Bewegtheit des Daseins die Tendenz zur Analyse der natürlichen Lebenserfahrung auf Seiten der Heideggerschen Philosophie gegenüber Husserl und dem Neukantianismus deutlich wird. Husserl hatte in seiner Analyse des Zeitbewußtseins die Retention als Quelle des Zeitbewußtseins ausgemacht und zugleich damit die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Leistung des retentionalen Bewußtseins ausdrücklich zu machen versucht. (172) "Das waren gewiß 'anonyme' Leistungen, aber eben Leistungen des Gegenwärtighaltens, sozusagen des Anhaltens des Vergehens." (173) "Heidegger dagegen hatte die
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Wohin hat uns die Untersuchung von 'Sein und Zeit' geführt? Wir verfolgten den Versuch Heideggers, die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit (des Daseins) als das Wesen der Zeit zu denken. Diesen Versuch meinte Heidegger durch den Beweis stützen zu können, daß alle Zeitbestimmungen sich auf dem Grund der Zeitlichkeit das Daseins erklären lassen. Die Zeitlichkeit deckt somit nicht nur die mögliche eigentliche Ganzheit des Daseins durch sich selbst auf, sondern auch und gleichursprünglich die Möglichkeit der Uneigentlichkeit des Daseins. Insofern aber die Zeitlichkeit das Verfallen des Daseins in die Uneigentlichkeit als Möglichkeit aufdeckt - das uneigentliche Dasein ist danach ein abkünftiger Modus des eigentlichen, den das Dasein niemals ganz überwinden kann, weil es ihn gleichsam 'in sich' trägt - , ist die Bestimmung der Zeitlichkeit nicht mehr als eine nur notwendige Bedingung der Eigentlichkeit des Daseins. Diese Bestimmung aber ist keineswegs hinreichend, um zu erklären, wie es dem Dasein gelingt, zur Eigentlichkeit zu gelangen. Auch in seiner Zeitlichkeit bleibt das Dasein zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Wahrheit und Unwahrheit und so - angewiesen auf das Ereignis der Wahrheit. - So steht am Ende ein sehr zwiespältiges Ergebnis. Einerseits kommt es Heidegger darauf an, das Dasein so zu 'zeichnen', daß es seiner Bestimmung selbst mächtig ist. Das Dasein ist sich selbst das 'Woraufhin' seines Entwurfes, es ist in seiner Erschlossenheit das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit. Andererseits hat sich gezeigt, daß das faktische Dasein seine Bestimmung, gerade insofern und weil es diese Bestimmung selbst ist (!), nur gleichsam blind 'ergreifen' kann. Das seiner eigentlichen Ganzheit mächtige Dasein erfährt in dieser Macht somit auch zugleich seine Ohnmacht. Es hat keine Kriterien 'außer sich selbst', nach denen es entscheiden könnte, ob es wahr oder unwahr, eigentlich oder uneigentlich ist. So zeigt sich am Ende derjenigen Argumentation, die die Möglichkeit des Daseins zur eigentlichen Ganzheit aus ihm selbst aufdecken sollte, die ungeheure Verletzlichkeit und Selbstgefährdung des menschlichen Lebens, das selbst sein geworfener Grund ist. Ein kurzer zusammenfassender Rückblick auf diesen zweiten Abschnitt der Darstellung von 'Sein und Zeit' soll diesen Eindruck nochmals erhärten. Das Dasein wurde von Heidegger wiederholend analysiert hinsichtlich seiner möglichen Ganzheit. Die mögliche Ganzheit wird 'bezeugt' in einem existentiellen Begriff des Todes. Dieser wird gewonnen im Gedanken eines
ursprüngliche ontologische Dimensionality der Zeit im Blick, die in der Grundbewegtheit des Lebens liegt" (ebd.)· Erst von diesem Heideggerschen Konzept her fällt nach Gadamer ein wirklich neues und erhellendes Licht auf die alltäglich erfahrbare Unumkehrbaikeit der Zeit und ihre wesentliche Zukünftigkeit.
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Vorlaufens zum Tode. So wird deutlich, daß die Einsicht in die Zeitlichkeit des Daseins den Gedanken, daß das Dasein selbst seine Ganzheit ist, erst möglich macht. Als ursprünglichste Daseinsverfassung kennzeichnet die Zeitlichkeit das Dasein nicht nur hinsichtlich seiner eigentlichen - d.h. entschlossen vorlaufenden - Ganzheit, sondern auch hinsichtlich seiner möglichen Uneigentlichkeit. Die Zeitlichkeit kennzeichnet so genau genommen die Verfassung des Daseins zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, alltäglicher 'Ganzheit' und eigentlicher Ganzheit. Dieses 'ständige Schwanken' des Daseins liegt gleichsam im Begriff des Daseins, wie Heidegger ihn faßt, insofern das Verfallen des Daseins eine der drei Grundbestimmtheiten des Daseins ist und die Existentialität letztlich mit dem 'Selbst' - unter Absehung der Welt - identifiziert wird. Das ständige Schwanken des Daseins zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit hat Heidegger so in den Begriff des Daseins eingetragen. Die Eigentlichkeit bleibt dem Dasein demnach immer zukünftig. Das mag auf dem Hintergrund der Bestimmung der Eigentlichkeit als vorlaufender Entschlossenheit äußerst provozierend klingen, - und ist auf diesem Hintergrund auch nicht ohne Ironie - liegt aber in der aufgewiesenen Tendenz der Daseinsanalyse. Weil Heidegger dasjenige Dasein will, das sich selbst in einem offenen Spielraum begegnet und so gewinnen muß, weil Heidegger das Dasein will, das in seiner Erschlossenheit selbst die Wahrheit ist, deshalb und nur deshalb steht es durch sich selbst auf dem Spiel. Das Dasein wird sich in seiner Selbstmächtigkeit zur größten Gefahr. Das Dasein nimmt in seine mögliche Eigentlichkeit sein ursprüngliches Verfallen mit. So steht das Dasein in der ständigen Situation einer Entscheidung für die Eigentlichkeit gegen die mit dieser Möglichkeit zur Eigentlichkeit gleichzeitig gesetzten Uneigentlichkeit. Über diese ständige Entscheidungssituation aber kommt das Dasein nie hinaus, insofern es sich selbst aus der Eigentlichkeit immer wieder in die Unwahrheit bringt. Das ist der Preis, den das auf sich selbst geworfene Dasein für die Freiheit, sein eigener Grund sein zu können, zu zahlen hat.
3. Die Zeitlichkeit als Bedingung für die mögliche Selbständigkeit und Selbstverwirklichung des Daseins Unsere Analyse des Argumentationsganges von 'Sein und Zeit', in dem Heidegger die Zeitlichkeit als die ursprünglichste Seinsverfassung des Daseins, - die somit die eigentliche Ganzheit des Daseins der Möglichkeit nach aufweist - herausarbeitet, führte zu dem Ergebnis, daß Heidegger in dieser Seinsverfassung das Dasein in seiner 'ohnmächtigen Macht' erhellt. Das in 'Sein und Zeit' vorgestellte Dasein muß sich im Daseinsvollzug 197
ständig wieder neu seiner 'Selbstmächtigkeit', seiner möglichen Eigentlichkeit, vergewissern, weil es ständig selbst gegen sie arbeitet und sie so gefährdet. Dieses Ergebnis hat sich zu bewähren in bezug auf die zentralen Aussagen von 'Sein und Zeit'. Wir greifen die wesentliche Frage nach der Subjéktivitât bzw. der Selbstheit - wie Heidegger formuliert - des so gedachten Daseins heraus. Welches genaue Ergebnis - so lautet unsere Frage - zeitigt die Heideggersche Daseinsanalyse im Blick auf die Frage nach dem Subjekt, nach dem 'Wer' des 'In-der-Welt-seins'? Diese Fragestellung weist nach der Einschätzung Heideggers selbst neben den Fragen nach dem 'In-sein' und dem Weltbegriff in eines der konstitutiven Momente der Sorgestruktur.133 Die Ausführungen dieses Abschnittes bringen mit dieser Fragestellung keine 'neuen Ergebnisse'. Es geht nur darum, die Konsequenzen der Daseinsanalyse von ' Sein und Zeit' an einem zentralen 'Beispiel' nochmals ausdrücklich aufzudecken. Im Zusammenhang der Analyse des alltäglichen Daseins zeigt Heidegger, daß das Dasein in seiner ontischen Verfassung von ihm selbst her verborgen ist. Das bedeutet hinsichtlich der Frage nach der Subjektivität des Daseins: das Wesen des Ich ist in der alltäglichen Verfassung das 'Man'. 134 Das Dasein ist also alltäglich nicht es selbst; es gibt seine mögliche Selbständigkeit freiwillig auf und beruhigt sich mit und in der Allgemeinheit der öffentlichen Meinung, die keiner 'macht' und für die keiner verantwortlich ist. Ein Selbst - also die Ansprechbarkeit des Daseins auf es selbst - kommt dem Dasein dementsprechend, so zeigt Heidegger in der wiederholenden Interpretation, überhaupt nur dann zu, wenn es entschlossen seine Ganzheit ist. Nur das eigentliche Dasein ist Subjekt im Sinne einer Ständigkeit seines 'Selbst'. Die bei Heidegger wesentliche zeitliche Interpretation der Selbständigkeit des Daseins - sie manifestiert sich in der Schreibweise des Begriffs 'Selbst-ständigkeit'135 - ist nur 'logisch' auf dem Hintergrund der ursprünglichen Verfassung des Daseins als Zeitlichkeit. Sie verstärkt aber implizit den Hiatus zwischen der uneigentlichen und der eigentlichen 'Verfassung' des Daseins, der dann an anderer Stelle wieder 'eingeholt' werden muß. Denn die Reservierung des Gedankens der Subjektivität oder Selbständigkeit allein für das eigentliche Dasein hat zur Folge, daß das alltägliche Dasein schlechthin subjektlos gedacht werden muß. Gleichzeitig aber hat bekanntlich zu gelten, daß die Uneigentlichkeit 133 Vgl. SuZ53 134 Vgl.aaO. 114ff. 135 Vgl. aaO. 322
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des Daseins der Selbstflucht und damit letztlich der Eigentlichkeit des Daseins entspringt. Gleichwohl - es soll gelten: "Die Selbst-ständigkeit bedeutet existential nichts anderes als die vorlaufende Entschlossenheit".136 So setzt Heidegger seinen Begriff der Selbst-ständigkeit des Daseins gerade in der zeitlichen Interpretation von dem Gedanken des beharrlichen Ich deutlich ab. Das stehende und bleibende Ich ist vielmehr für Heidegger das ständige und unaufhörliche 'Ich-sagen' des verfallenden Daseins. "Für das Aufgehen in der alltäglichen Vielfältigkeit und dem Sich-jagen des Besorgten zeigt sich das Selbst des selbstvergessenen Ich-besorge als das ständige selbige, aber unbestimmt-leere Einfache."137 Das beharrliche Ich Kants ist nach dieser überraschenden Interpretation das vorphänomenologische Ich, das sich seines Selbstseins ständig zu vergewissern wünscht, weil es dieses nie eigentlich ergreift. Das Ich Kants geht so darin fehl, daß es die Subjektivität in der Art eines Vorhandenen denkt.138 Hier zeigt sich in der Kritik an dem Kantischen Gedanken der Apperzeption erneut, welch entscheidende Bedeutung für den Heideggerschen Entwurf die Ersetzung des Gedankens einer letzten und identischen Einheit des Subjektes durch den der strukturierten und damit zeitlichen Ganzheit hat.139 In der Kritik Heideggers an der Rückführung aller Daseinsvollzüge auf eine höchste und identische Einheit des Subjekts kommt denn auch das Ungenügen zutage, das Heidegger - trotz aller anfänglichen Verwandtschaft mir ihr - an einer transzendental-philosophischen Fragestellung findet.140 Was bedeutet aber nun die These, nur das in vorlaufender Entschlossenheit seine Ganzheit 'vollziehende' Dasein sei 'selbständig'? Diese These bedeutet erneut, daß das Selbst nur in der Einheit von Macht und Ohnmacht, Selbstgewinn und ständigem Selbstverlust des Daseins zu haben ist. Die Selbst-ständigkeit des Daseins 'gibt' es nicht ohne die ständige Tendenz zur Verfallenheit. In einer seiner frühesten Vorlesungen hat Heidegger im Blick auf diese Situation des Daseins von der Ruinanz des Lebens gesprochen und, 'Sein und Zeit' vorwegnehmend, die Selbstruinanz des menschlichen Lebens behauptet.141 "In der Besorgnis, in der das faktische Sorgen sich selbst in die
136 Ebd. 137 Ebd. 138 Vgl. aaO. 320 und Heidegger, Kantbuch, 121ff. 139 Das hat besonders Henrich in seinem angegebenen Beitrag hervorgehoben, aaO. 62ff. 140 Daraufhat z.B. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1975 4 ,243f„ 94f. u.ö. hingewiesen; vgl. aber auch Schulz, Ort Heideggers, aaO. 98ff. 141 Vgl. Band 61,131 ff.
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Sorge nimmt, verfängt sich das ruinante Leben in sich selbst. Die Sorge legt sich, vollzugshaft verstanden, mehr und mehr auf das Leben und bleibt schließlich auf ihm liegen, d.h. faktisches Leben will sich selbst tragen - in seiner faktisch ruinanten Weise - und wird am Ende, ausdrücklich oder nicht, toll darüber oder töricht."142 So geht in den Begriff der Selbständigkeit des Daseins die These von der ohnmächtigen Macht, die das sich in seiner Geworfenheit entwerfende Dasein ist, unmittelbar ein. Auch hier also steht am Ende die Feststellung: Das Dasein ist in seiner ursprünglichen Erschlossenheit selbst seine Ständigkeit und gerade darin durch sich selbst am meisten gefährdet.
4. Die Befreiung der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit Unsere Interpretation der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' geht letztlich darauf hinaus, daß sie in dem Begriff und Gedanken der Zeitlichkeit des Daseins den Versuch Heideggers sieht, einer absoluten Selbstbehauptung des Daseins das Wort zu reden. Die endliche Zeitlichkeit wird von dem Verfasser von 'Sein und Zeit' entschlossen bejaht und damit schließlich und endlich die Ewigkeit als das 'Gegenüber ' der Zeit preisgegeben. Heidegger ist dem vielfach gegen ihn erhobenen Vorwurf, er beschränke sich dezisionistisch in 'Sein und Zeit' auf die Endlichkeit des zu sich selbst entschlossenen Daseins und lasse den Gedanken einer Objektivität und Absolutheit, der im Begriff der Endlichkeit doch mitgesetzt sei, einfach außen vor, entschlossen entgegengetreten.143 In seiner berühmten Davoser Disputation mit Cassirer hat Heidegger vehement darauf verwiesen, daß der Begriff der Endlichkeit - und damit auch die Entwicklung einer Ontologie des endlichen Daseins - für sich noch nicht auf den Gedanken der Unendlichkeit verweist. In der Reflexion über einen möglichen Begriff der Endlichkeit des Daseins ist das Denken - so Heidegger - nicht gleichsam automatisch schon immer über den Gedanken der Endlichkeit hinaus. Denn "der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist unendlich im Sinne des Verstehens des Seins".144 Darin aber, daß der
142 AaO. 140; an dieser Stelle wird die Differenz dieser frühen Vorlesung zu 'SuZ' deutlich; die Ruinanz des eigentlichen Seins ist noch nicht voll herausgearbeitet im Blick auf die Einsicht, daß das Dasein gleichursprünglich an Wahrheit und Unwahrheit 'interessiert' ist. 143 Als die exponiertesten Kritiker von 'SuZ', die gerade dieses Argument gegen Heidegger vorbringen, können E. Cassirer (vgl. M. Heidegger, Kant, aaO. 246ff.) - in seiner Davoser Disputation mit Heidegger - Löwith, Heidegger und Rosenzweig, aaO. 68ff. und Tugendhat, Wahrheitsbegriff, gelten. 144 Heidegger, Kantbuch 252
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Mensch im Verstehen des Seins nie zu einem Ende kommt, liegt noch kein positiver Begriff von Unendlichkeit. Dementsprechend ist der traditionelle Begriff der Ewigkeit, so fügt Heidegger noch hinzu, als existentialer Begriff zu entwickeln. "Ist diese Ewigkeit nicht nur die Beständigkeit im Sinne des bzi der Zeit?"145 Und die Beständigkeit der Zeit wiederum ist nichts anderes als die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit. So wird die Zeitlichkeit des entschlossenen vorlaufenden Daseins in der Tat zu einer Art "Ersatz für die Ewigkeit"146; oder anders: der Gedanke der Ewigkeit als einem vollständigen Besitz des ganzen Lebens wird existential interpretierbar und damit die Ewigkeit gleichsam in die Zeit(lichkeit) hineingeholt. Die endliche Zeit(lichkeit) des Daseins ist so als der allgemeine Horizont ausgemacht, in dem sich das Dasein Seiendes begegnen läßt. Insofern gilt, daß das Dasein selbst sein Seinssinn ist.1*1 - Die Selbstmächtigkeit des Daseins macht aber zugleich seine Verletzlichkeit aus. In der Davoser Disputation, die so vehement die Endlichkeit des Daseins behauptet und positiv entwickelt, spricht Heidegger davon, "daß der Mensch nur in ganz wenigen Augenblicken auf der Spitze seiner eigenen Möglichkeiten existiert".148 Das Dasein ist im Grunde nie faktisch eigentlich ganz, es ist lediglich ständig seiner Möglichkeit des Ganzseinkönnens gewärtig. Das Dasein von ' Sein und Zeit' ist so dadurch bestimmt, daß es verzweifelt es selbst sein will und doch nie endgültig sein kann. Das zu sich selbst entschlossene Dasein ist ständig der Verzweiflung nahe. - Der Gedanke der Selbstgefährdung des Daseins durch sich selbst erwächst der Beschäftigung mit der Theologie des Paulus. Darauf hat O. Pöggeler mehrfach glaubwürdig hingewiesen.149 - Das seiner Erfüllung ständig gewärtige Dasein - das ist die Situation des Daseins angesichts der ständigen Möglichkeit seiner Eigentlichkeit. Die kairologisch erfahrene Erfüllung der Eigentlichkeit meistert und berechnet die Zeit nicht; sie stellt vielmehr das Dasein neu in die Bedrohung durch die Zukunft. Diese faktische Lebenserfahrung, die die Erfüllung des Lebens in den Lebensvollzug stellt, kennzeichnet nach Heidegger auch die christliche Religiosität.150
145 AaO. 254 146 Löwith, Heidegger und Rosenzweig, aaO. 86 147 So eine Formulierung Heideggers selbst in SuZ 325 148 Heidegger, Kantbuch 262 149 Vgl. O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 1983 2 ,36ff.; ders., Zeit und Sein bei Heidegger, in: F.W. Orth (Hg.), Phänomenologische Forschungen 14, Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, 1983,165; ders., Heideggerund die hermeneutische Philosophie, 1983, 84ff. 150 Vgl. Pöggeler, Denkweg 36-38
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Vor allem der 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher zeigt nach Heidegger das Dasein "auf des Messers Schneide".151 Es ist in seinem Vollzug in die Entscheidung gestellt, es hat seine Erfüllung unmittelbar vor sich, vermag sie jedoch nicht zu erzwingen. "Durch die Besinnung auf die urchristliche Religiosität als das Modell der faktischen Lebenserfahrung gewinnt Heidegger die leitenden Begriffe, die die Struktur des faktischen Lebens oder, wie Heidegger später sagt, der 'faktischen Existenz' herausstellen."152 Diese Einsicht aber bietet keineswegs die Möglichkeit, aus dem Verfasser von 'Sein und Zeit' einen 'heimlichen' christlichen Theologen zu 'machen'. Vor diesem Urteil muß schon die ungenügende Bezeugung des präzisen theologischen Hintergrundes der Daseinsanalyse bewahren. Gewiß - Heidegger selbst hat immer wieder auf sein Theologiestudium verwiesen153 und seine Beschäftigung mit Luther hervorgehoben.154 Die Hinweise Pöggelers auf die entscheidende Bedeutung der 'urchristlichen Religiosität' für die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' beziehen sich hauptsächlich auf eine sehr frühe Vorlesung Heideggers von 1920/21 über die 'Einführung in die Phänomenologie der Religion', die bislang nicht veröffentlicht ist und nach dem neuesten Plan der Gesamtausgabe für eine Veröffentlichung auch nicht vorgesehen wird. Der Argumentationsgang von 'Sein und Zeit' zeigt vielmehr deutlich, daß Heidegger durch die Analyse des Daseins als eines geworfenen Entwurfs Religion und Theologie allererst erklären zu können meint, indem er die Transzendenz des Daseins aus ihm selbst, aus seiner zeitlichen Verfassung aufweist.155 Wenn Pöggeler herausstellt, Heideggers Denken insgesamt betreibe "ein Fragen, das sich offenhält für den Anspruch durch das Göttliche"156, so ist darin Heidegger nicht als christlicher Theologe, sondern allenfalls als 'religiöser Denker' kenntlich gemacht. Denn das Dasein von 'Sein und Zeit' ist wesentlich für sich selbst offen und insofern für Seiendes. Das sich in die Zeit ausstreckende Dasein erwartet, weil es durch sich selbst unmittelbar gefährdet ist, gespannt die Ankunft des wahren Seins, aber nicht das Kommen des in Christus offenbaren Gottes. - Über die mögliche Bedeutung paulinischer Schriften für die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' hinaus kann das epochale Buch Heideggers in
151 AaO.36 152 AaO. 38 153 Vgl. z.B. M. Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, in: ders., Zur Sache des Denkens, 19762, 8Iff. 154 Vgl. Pöggeler, H. und d. heim. Philosophie 85f. 155 Vgl. SuZ 180, 306 u.ö. 156 Pöggeler, Denkweg 194
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einem tieferen Sinne theologisch gedeutet werden. Das Modell des Daseins als Einheit der Momente Geworfenheit und Entwurf, deren jeweilige Verselbständigung gegenüber dem jeweils anderen Moment zum Verfallen des Daseins führt, weist in die Umschreibung des Unglaubens als praesumptio und desperatio.157 Vor allem Kierkegaard hat in seiner 'Krankheit zum Tode' diese doppelte 'Richtung' des ungläubigen Selbstbewußtseins aufgedeckt, das verzweifelt es selbst oder verzweifelt nicht es selbst sein will, wenn es sich dessen bewußt wird, ein Selbst, d.h. eine ewige Bestimmung zu haben.158 Überschwengliche Selbstüberhebung und verzweifelte Selbstpreisgabe des Daseins sind also nach Kierkegaard die Formen des Unglaubens in dem endlichen Selbstbewußtsein. Es scheint auf dieser Linie zu liegen, wenn Heidegger gegen die doppelte Tendenz der 'Verabsolutierung' des Daseins als Entwurf oder Geworfenheit die Einheit der beiden Momente im Gedanken der Eigentlichkeit des Daseins fordert. Warum sollte somit nicht das Dasein als Einheit von Geworfenheit und Entwurf das entschlossen seinen Unglauben überwindende Dasein - eben das gläubige Dasein sein? Aber Heidegger hat, wie gesehen, mit der Zuordnung der Eigentlichkeit zum Selbslentwurf des Daseins dieses Modell der gleichursprünglichen Einheit des Daseins als Geworfenheit und Entwurf nicht konsequent durchgehalten. Darüber hinaus wäre das Bild des sich selbst aus dem Unglauben zum Glauben rufenden Daseins für eine christlich-theologische Interpretation des Glaubens unannehmbar. Gleichwohl gilt, daß Kierkegaards Sündenbegriff im Hintergrund der Daseinsanalyse Heideggers - vor allem im Blick auf die vorbereitende Analyse - steht.159 - Ist also das Dasein von 'Sein und Zeit' schlechthin das 'sündige Dasein', das nur sich selbst will und sonst nichts? Die Beantwortung dieser Frage weist schon in den nächsten Abschnitt, der sich auszugsweise der theologischen Rezeption von 'Sein und Zeit' widmet. Soviel hat die Analyse des Gedankenganges von 'Sein und Zeit' gezeigt: Das Dasein übernimmt seine Endlichkeit im Blick auf den Entwurf seiner selbst auf Eigentlichkeit hin positiv, scheitert aber in der Aufgabe, seine Ganzheit selbst erzeugen zu müssen, an sich selbst.
157 Vgl. H. Schmid, Die Dogmaük der evangelisch-lutherischen Kirche, 1979', 270 158 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 1976 (dtv), 73ff. 159 Vgl. H. Haug, Offenbarungstheologie und philosophische Daseinsanalyse bei R. Bultmann, in: ZThK 55 (1958), 201ff.
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Exkurs
zur Kantinterpretation Heideggers: Die philosophiegeschichtliche Rechtfertigung des Zeitbegriffs von 'Sein und Zeit' im Zusammenhang der Kantinterpretation Heideggers
Die Veröffentlichung der frühen Vorlesungen Heideggers in Freiburg und Marburg ein Unternehmen übrigens, das noch nicht abgeschlossen ist - hat gezeigt, daß Heidegger auf dem Wege zu 'Sein und Zeit' vor allem mit der Analyse der Aristotelischen und der Kantischen Philosophie beschäftigt war. Diese Analyse stand unter dem Motto der phänomenologischen Interpretation dieser beiden epochalen Einschnitte in der Geschichte des Denkens.160 Daneben aber zeigen auch diejenigen Vorlesungen, die vom Titel her nicht ausdrücklich eine Auslegung eines vorgegebenen Textes der Philosophiegeschichte sein wollten161, daß Heidegger besonders der Kantischen Philosophie eine entscheidende Rolle im Zusammenhang der Entwicklung des neuzeitlichen Denkens und auch im Blick auf seine, Heideggers eigene, Philosophie zumaß. Kant ist neben Aristoteles für Heidegger der wesentliche Text für die seinsgeschichtliche Rechtfertigung und philosophiegeschichtliche Begründung seines Philosophierens. In dieser entscheidenden Bedeutung für die Geschichte des Denkens bleibt die Kantische Philosophie für Heidegger auch in der Entwicklung, die sein Denken genommen hat, gültig. Nach dem späteren Heidegger gilt Kant als die Mitte des neuzeitlichen Denkens, also desjenigen Denkens, das das Sein als Vorgestelltes denkt und so in Seinsvergessenheit geriet.162 Uns wird es hier nicht darauf ankommen können, die Bedeutung der Philosophie Kants für Heidegger in ihrer Entwicklung zur Darstellung zu bringen. Dieses Unternehmen ist auch schon mehrfach und mit unterschiedlichem Erfolg durchgeführt worden.163 Nach Hoppe ist die Kantinterpretation Heideggers jeweils konkret durch das Interesse und den Gang seines Denkens bestimmt. Für den Autor von 'Sein und Zeit' ist der Subjektbegriff Kants von hervorragender Bedeutung. Der die Ankunft des Seins als die Aufhellung der Gegenständlichkeit der Dinge erwartende Denker verarbeitet die Grundsatzlehre Kants. Die Tendenz der Interpretation des Kantischen Textes geht jeweils dahin, bei Kant eine Ursprünglichkeit des Seinsdenken aufzutun, vor der dieser selbst gleichsam zurückgeschreckt sei. Für uns liegt die entscheidende Bedeutung dieses Exkurses darin herauszustellen, daß Heidegger bei der Entwicklung der Zeit als der Zeitlichkeit des Subjekts sich Kant
160 Zu Aristoteles im WS 1921/22 (Band 61 der Gesamtausgabe); zu Kant im WS 27/28 (Band 25) 161 Vgl. die angegebenen Bände 20, 21 und 24 der Gesamtausgabe 162 M. Heidegger, Nietzsche II, 1961*, 231 163 Vgl. besonders H.G. Hoppe, Wandlungen in der Kant-Auffassung Heideggers, in: Durchblicke, Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, 1970,284ff.; in bezug auf den Zeitbegriff besonders Ch.M. Sherover, Heidegger, Kant and Time, 1971. Sherover vertritt die These, Kant sei für Heidegger gleichsam die Negativfolie für die Entwicklung seiner Philosophie gewesen. Jener, so Sherover, habe die Zeitlosigkeit des Ich behauptet, dieser dagegen die Zeitlichkeit alles Lebens und Denkens einsichtig gemacht und sei so dem faktischen Leben näher gekommen. (249ff.) Daß dieses 'Modell' zu 'einfach' ist, braucht an dieser Stelle nicht eigens bewiesen zu werden.
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als Vorläufer und Mitarbeiter seines Denkens erwählt und angeeignet hat. Diese Inanspruchnahme Kants für das Programm einer Daseinsanalyse als Zugang zu einer Neubegründung der Ontologie ist nicht nur vielfach kritisiert worden; sondern ihre fundamentale Bedeutung auch für den Gang von 'Sein und Zeit' ist hervorgehoben worden. War doch der nicht erschienene zweite Teil von 'Sein und Zeit' so konzipiert, daß vor allem im Blick auf die Kantische Zeitlehre der gewählte Zugang zur Neubegründung der Seinsfrage über die Zeitlichkeit des Daseins seine philosophiegeschichtliche Begründung finden sollte.164 Dieses Unternehmen wurde dann von Heidegger zwei Jahre nach dem Erscheinen von 'Sein und Zeit' in seinem umstrittenen Kantbuch nachgeliefert. Ein Seitenblick auf die Vorlesungen Heideggers aus jenen Jahren - es handelt sich im wesenüichen um die Jahre 1927/28 - kann zeigen, daß es sich dabei keineswegs um eine bloß äußerliche und nachgeschobene Begründung handelt; vielmehr verdankt sich die Entwicklung des Zeitbegriffs in 'Sein und Zeit' zu großen Teilen der Auseinandersetzung Heideggers mit Kant Darauf konnte oben schon im Blick auf den Heideggerschen Begriff der Selbst-ständigkeit verwiesen werden, der im Gegenzug zum Kantischen Ich der Apperzeption entwickelt wird.165 Eine kurze Analyse des Heideggerschen Kantbuches und der Vorlesungen Heideggers aus jenen Jahren soll darüber hinaus deutlich machen, in welch starkem Maße die These Heideggers, die Zeit sei der offene Horizont, in dem sich das Dasein Seiendes begegnen läßt, bestimmt ist durch die Analyse der Einbildungskraft bei Kant. Die Originalität der Heideggerschen Interpretation der großen Kritik Kants liegt gewiß nicht in der vermittelnden Funktion, die er der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand zugeschrieben hat.166 Schon Hegel hatte in seiner Schrift 'Glauben und Wissen' in der Kantischen Einbildungskraft "das Erste und Ursprüngliche" sehen wollen, auf das sinnliches- und Verstandesvermögen zurückgeführt werden können.167 Die Besonderheit der Heideggerschen Kantinterpretation ist schon eher darin zu sehen, daß Heidegger die Kantische Kritik unter dem Stichwort der 'Grundlegung der Metaphysik' zur Darstellung bringt. Die kritische Destruktion der überlieferten Metaphysik durch Kant wird also von Heidegger für den Neuaufbau einer Metaphysik in Anspruch genommen. Den Sinn jener Überführung der Kantischen Kritik in eine Grundlegung der Metaphysik sieht Heidegger selbst darin, daß so "das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen" gestellt werden kann.168 Fundamentalontologie wiederum nennt Heidegger "diejenige ontologische Analytik des endlichen Menschenwesens, die das Fundament für die zur 'Natur des Menschen gehörige' Metaphysik bereiten soll".169 Die 'Kritik der reinen Vernunft' soll also daraufhin befragt werden, welche 'Grundverfassung' des Daseins ihr implizit zugrunde liegt, aus der dann die Kritik der
164 Vgl. S u Z 4 0 165 S.o. 199f. 166 Vgl. Henrich, Einheit, 58f. 167 G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Werkausgabe SV, 1970, Band 2, 308 168 Heidegger, Kantbuch 1 169 Ebd.
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überlieferten 'materialen Metaphysik' entwickelt wird.170 Die Kantische Philosophie wird darin von Heidegger als eine solche Grundlegung der Metaphysik interpretiert, die an dem Vorhaben Heideggers in 'Sein und Zeit' selbst gemessen werden kann. So sind die Voraussetzungen geschaffen, daß sich "ein Gespräch zwischen Denkenden"171 entwickeln kann. Das Kantbuch Heideggers analysiert die Kantische Grundlegung der Metaphysik nun im einzelnen im Blick auf ihren Ansatz, ihre Durchführung, ihre Ursprünglichkeit und abschließend - in wiederholender Interpretation - ihren Sinn. Die Grundlegung der Metaphysik im Ansatz vollzieht sich bei Kant im wesentlichen als Kritik der reinen Vernunft. Gerade dies rechtfertigt ihre Beurteilung als Fundamentalontologie, weil Kant nach den möglichen Bedingungen von Erkenntnis fragt. Diese transzendentale Fragestellung Kants aber ist dem eigentlichen Gehalt nach die Frage nach der "Möglichkeit des vorgängigen Seinsverständnisses" des Daseins.172 Wie es vor aller Erkenntnis - zum "Überschreiten (Transzendenz) der reinen Vernunft zum Seienden, so daß sich diesem jetzt allererst als möglichem Gegenstand Erfahrung anmessen kann", kommt - das ist nach Heidegger die Grundfrage Kants.173 So ist die 'Kritik' Kants allemal mehr als eine bloße Theorie der Erfahrung. Der zweite Abschnitt des Heideggerschen Kantbuches - er thematisiert die Grundlegung der Metaphysik in der Durchführung - bringt die Würdigung der fundamentalen Unterschiedenheit von Sinnlichkeit und Verstand. Heidegger betont, daß die Isolierung der beiden "Elemente der reinen Erkenntnis" 174 voneinander eine gewisse Künsdichkeit an sich hat. Die Behauptung der Unableitbarkeit der beiden Quellen für menschliche Erkenntnis kann nicht das letzte Wort haben. Es geht Heidegger deshalb darum, eine mögliche Struktur der Einigung dieser beiden Erkenntnisstämme zu finden.175 Dieses Vorhaben muß nach seinen eigenen Worten so durchgeführt werden, daß die mögliche Einheit der beiden Erkenntnisstämme nicht als nachträgliche, sondern als Ursprung der Erkenntniselemente aufgedeckt wird. "Diese Einheit einigt als ursprüngliche die Elemente so, daß gerade erst in der Einigung die Elemente als solche entspringen und durch sie in ihrer Einheit gehalten werden."176 Die bloße Reduzierung der beiden Erkenntnisstämme auf eine Grundkraft liegt Heidegger demnach völlig fern. Die gesuchte ursprüngliche Einheit der Subjektivität sieht Heidegger bei Kant bekanntlich in der Einbildungskraft. 177 Die synthetische Funktion der Einbildungskraft einigt Zeit (reine Sinnlichkeit) und Kategorien (Verstandesbegriffe) so, daß sie die Zeit auf die Kategorien hin bestimmt und die Kategorien als transzendentale Zeitbestimungen durchsichtig macht.178 Es gehört dabei zu den umstrittensten Punkten der Heideg170 171 172 173 174 175 176 177 178 179
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Vgl. aaO. 6-9 Vgl. aaO. XVII (Vorwort zur zweiten Auflage) AaO. 16 Ebd. AaO. 55 Vgl. aaO. 34 und 55ff. AaO. 55 Vgl. aaO. 76f. und 133ff. Vgl. aaO. 82f. Vgl. aaO. 69f.
gerschen Kantinterpretation, daß er die transzendentale Deduktion der Kategorien 'fundamentalontologisch' versteht, d.h. als den Versuch der Grundlegung eines ursprünglichen und vorontologischen Gegenstandsbezuges des endlichen Subjekts.179 Danach ist die "Aufhellung der Transzendenz der endlichen Vernunft" die Grundabsicht der Deduktion.180 Indem die Einbildungskraft die Möglichkeit des Gegenstandsbezuges mit der Vermittlung von sinnlichem- und Verstandes-Vermögen herstellt, ist durch sie die mögliche Einheit aller Erkenntnisse aufgedeckt Diese Einheit "bildet das reine Gegenstehenlassen von ..., und als dieses Bilden macht sie so etwas wie einen Horizont von Gegenständlichkeit überhaupt erst offenbar".181 Mit der Einsicht in die die beiden Erkenntnisstämme einigenden Funktion der Einbildungskraft ist die Grundlegung der Metaphysik in ihrer Ursprünglichkeit aufgedeckt. Denn die Einbildungskraft "bildet als ursprüngliche reine Synthesis die Wesenseinheit von reiner Anschauung (Zeit) und reinem Denken (Apperzeption)".182 Denn die Einbildungskraft bezeichnet das Vermögen der Transzendenz überhaupt und bildet den Horizont, in dem es zu Erkenntnis des dem Dasein Begegnenden kommen kann. Dieses 'Bilden des Horizontes' muß so vorgestellt werden, daß das Subjekt die Zeit als dasjenige, worin alles Seiende begegnen kann, durch sein Denken selbst erzeugt. Die Identifizierung des Ich mit der Zeit liegt in der Fluchtlinie der fundamentalontologischen Interpretation der Einbildungskraft als des Grundes der Subjektivität.183 Kants Zurückweichen vor der fundamentalen Bedeutung der Einbildungskraft in der zweiten Auflage seiner Kritik ist ein Zurückweichen vor der Endlichkeit der menschlichen Vernunft; denn mit der Einsicht in die Selbsttranszendenz des Daseins sind alle inhaltlichen Bestimmungen und Aussagen der traditionellen Metaphysik existential interpretierbar. Was bedeutet nun letztlich das Zurückweichen Kants vor der von ihm selbst geahnten Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft? Es bedeutet zunächst, daß das "Hineinfragen in die Subjektivität des Subjekts,..., ins Dunkle" führt.184 Denn die Grundlegung der Metaphysik führt in ihrer Durchführung zwingend zur Erkenntnis der Endlichkeit der Vernunft - das hat Kants 'Kritik' selbst gezeigt. Kant aber ist davor zurückgewichen, weil er das 'Nichts', d.h. weil er die Erfahrung, daß das Dasein sein eigener Grund sein muß, nicht auszuhalten vermochte. Dieses 'Nichts', auf das das nach sich selbst fragende Dasein stößt, macht die Dunkelheit der Frage nach der Subjektivität des Subjekts aus. So weist die Grundlegung der Metaphysik an diesem vorläufigen Endpunkt in die grundsätzliche Frage nach dem Sein. Was ist dieses Sein überhaupt, das von dem Dasein vorgängig schon immer verstanden wird?
180 181 182 183 184
AaO. 67 AaO. 81 AaO. 122 Vgl. aaO. 183ff. AaO. 208
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Der Zusammenhang von Seinsfrage und Daseinsanalyse wurde in 'Sein und Zeit' so deutet Heidegger in seinem Kantbuch rückblickend an185 - zunächst nur vorläufig behandelt, d.h. es wurde lediglich das vorontologische Seinsverständnis behandelt. 'Sein und Zeit' hat dabei gezeigt, so Heidegger, daß das endliche Dasein in seiner Alltäglichkeit Seinsverständnis hat. Endlichkeit kennzeichnet das Dasein deshalb insgesamt, weil es angewiesen ist auf "das Seiende, das (es) nicht ist" und zugleich seiner selbst nicht mächtig wird.186 In den Vorlesungen von 1925/26 und 1927187 ist Heidegger in der Kennzeichnung des Zusammenhanges von Daseinsanalyse und Seinsfrage überhaupt weiter vorgedrungen. In diesen Vorlesungen gelangt er zu der Einsicht, die am Ende von 'Sein und Zeit' nur als Frage formuliert wurde, daß die Zeit der Horizont des Seins ist. Diese Einsicht findet ihren Ausdruck in der Fundamentalunterscheidung zwischen Zeitlichkeit und Temporalität. Diese Unterscheidung soll die Erkenntnis manifestieren, daß der Zugang zur Seinsfrage über die Zeitlichkeit des Daseins möglich ist.188 Vor allem die Vorlesung von 1927 ist diesem Zusammenhang gewidmet. In ihr zeigt Heidegger anhand traditioneller Bestimmungen des Seinsbegriffs die implizit temporale Bestimmung des Seins als Anwesenheit.189 Die Richtigkeit und Trefflichkeit dieses 'Beweises' sei hier nicht diskutiert; Kritiker haben jene Ausführungen Heideggers hinreichend gefunden. 190 Mit der Behauptung der Temporalität des Seins jedenfalls kehrt sich die Argumentation Heideggers um: weil das Sein temporal ist, vermag die Analyse der Zeitlichkeit des Daseins den Zugang zum Sein zu ebnen.191 So zeigt sich für Heidegger vermittels der Einsicht in die Temporalität des Seins die Zeit als Horizont des Seins. Worauf führt nun die Kantinterpretation Heideggers? Heidegger bringt gegenüber Kant vor: die Einheit der Subjektivität muß als strukturierte Einheit des Subjektes in seinen Daseinsvollzügen gedacht werden können, nicht als bloße - an dem Gedanken der zeitlichen Gegenwart orientierte - logische Einheit. Denn das "Selbst muß als existierendes sich identifizieren können". 192 Deshalb kann die zeitliche Erstrecktheit nicht mehr als dem Dasein äußerliche Bestimmtheit gedacht werden. Das Dasein ist sich so gegeben, daß es sich zukünftig entgegenkommt. Die zeidiche Verfassung des Daseins wird zu seiner wesentlichen Bestimmung überhaupt. Darin ist die Vielfalt und vor allem die Gleichursprünglichkeit der Strukturmomente des Daseins gesichert. Der Begriff der Ganzheit, der bei Heidegger gänzlich an die Stelle des Begriffs der Einheit tritt, hat gegenüber diesem den
185 AaO. 219 186 AaO. 221 187 Vgl. M. Heidegger, Grundprobleme, Gesamtausgabe 24,1975 undders., Logik, Gesamtausgabe 21 (Vorlesung vom WS 25/26), 1976 188 Vgl. Band 21,199f. und Band 24, 389ff. 189 Vgl. Band 24, 35ff. 190 Vgl. besonders W. Beierwaltes in mehreren Beiträgen; z.B. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, 1980,131ff. und ders., Denken des Einen, 1985,160ff. 191 Vgl. Band 24, 324, 389 u.ö. 192 M. Heidegger, Gesamtausgabe 25, Phänomenologische Interpretation von Kants KdrV (Vorlesung vom WS 27/28), 1977, 395
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Vorteil, daß er "das Zusammen verschiedener Momente bedeutet, von denen ein jedes essentiell auf das Gesamt aller verweist, ohne daß eines selbst dieses Gesamt wäre".193 Nur eine Theorie der Subjektivität, die über den Gedanken der Zeidichkeit des Subjekts entwickelt wird, kann nach Heidegger sicherstellen, daß das Subjekt von einem dinglich Vorhandenen unterschieden bleibt.
193 Henrich, Einheit, 63f.
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Π. Die Aufnahme der Heideggerschen Daseinsanalyse in das Programm einer Zusammenarbeit von Theologie und Philosophie Zur Heidegger-Rezeption R. Bultmanns 1. Die philosophische Daseinsanalyse als unhintergehbarer Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Theologie Auf den ersten Blick scheint die Frage nach der Bedeutung, die die Heideggersche Daseinsanalyse nach Bultmann für eine denkende Interpretation des Glaubens haben muß, schnell und eindeutig beantwortbar zu sein. In einem seiner frühesten Beiträge zu dieser Thematik äußert sich Bultmann in geradezu wünschenswerter Klarheit. "Der Gegenstand der existentialen Daseinsanalyse ... ist das Dasein, der Mensch"1 in seiner natürlichen Verfassung. Die Frage nach dem Menschen aber ist auch das entscheidende Thema der Theologie, die allerdings in Absetzung von der Philosophie konkret nach dem gläubigen Dasein fragt.2 "Thema der Theologie ist das gläubige Dasein."3 Es sieht demnach so aus, als thematisiere die philosophische Daseinsanalyse das Dasein in seinen allgemeinen Lebensvollzügen, die jeder konkreten Gestaltung, wie sie dann auch die Theologie im Blick auf den Glauben namhaft macht, zugrunde liegen. Wenn gilt, daß die Philosophie das natürliche Dasein im Blick hat, so ist damit nicht gemeint, daß in der philosophischen Analyse das 'widergöttliche Dasein' thematisch wird. Der Begriff des 'natürlichen Daseins' umschreibt vielmehr, daß der Philosoph vollständig davon absieht, "ob im Dasein so etwas wie Glaube oder Unglaube vorkommen kann".4 Allerdings hat der Philosoph das Dasein in einer Allgemeinheit und Grundsätzlichkeit so zu analysieren, daß verstehbar wird, wie es zu konkreten Entscheidungen im Daseinsvollzug kommen kann. So hat die philosophische Daseinsanalyse auch die Glaubensentscheidung als eine mögliche Entscheidung des Daseins auf dem Hintergrund der allgemeinen Daseinsanalyse einsichtig zu machen. Die Philosophie also untersucht die formalen Strukturen des Daseins in ontologischer Analyse und geht darin allen Interpretationen, die auf ontische Entscheidungen des Daseins aufbauen, voraus. In ihrer Formalität ist 1 R. Bultmann, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, 1967,72ff„ hier 72 2 Vgl. aaO. 73 3 Ebd. 4 Ebd.
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die philosophische Analyse wertneutral. Darin kann und muß sie jeder Interpretation des Daseins zugrunde liegen - auch der theologischen - , die das Dasein auf dem Grunde einer konkreten Entscheidung verstehbar zu machen versucht. Denn die theologische Interpretation des Daseins - als eine dieser möglichen Daseinsdeutungen auf dem Grunde einer ontischen Entscheidung des Daseins - redet vom Dasein, "sofern es glaubt (bzw. nicht glaubt ...), sofern sein Wie dadurch charakterisiert ist, daß es von einer bestimmten Verkündigung getroffen ist oder getroffen werden soll".5 Die Theologie ist somit, gerade wenn sie von einer konkreten Entscheidung des Daseins ausgeht, auf die allgemeine Analyse des Daseins, die in der Philosophie vorliegt, angewiesen. Denn nur in bezug auf diese ist deutlich zu machen, inwiefern die Glaubensentscheidung überhaupt eine reale Möglichkeit des natürlichen Daseins ist. Insofern gilt, daß sich die Theologie von der Philosophie an die Phänomene weisen läßt.® Die Theologie ist geradezu gezwungen, auf die philosophische Daseinsanalyse zurückzugreifen, "wenn sie überhaupt die gläubige Existenz begrifflich klären will, d.h. aber wenn sie Wissenschaft und nicht bloß Predigt sein will".7 Nur auf dem Grunde der ontologischen Daseinsanalyse vermag die Theologie die Glaubensentscheidung als ontische Entscheidung des Daseins einsichtig und so plausibel zu machen. Eine Theologie, die nicht bloß unmittelbar von der gläubigen Existenz und ihrer Entscheidung zum Glauben reden will, kann auf die philosophische Daseinsanalyse nicht verzichten. Die vorgängige Akzeptanz der Heideggerschen Daseinsanalyse kann so nach Bultmanns Meinung die intellektuelle Redlichkeit seiner eigenen Argumentation stützen. Daß Bultmann in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie immer die Philosophie Heideggers und zwar die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' - vor Augen hat, ist von Anfang an deutlich. Bultmann selbst macht darum kein Geheimnis.8 Die noch zur Verhandlung anstehende Nähe Bultmanns zu dem Heidegger von 'Sein und Zeit' entsprang nicht einer nebensächlichen und eher beiläufigen Einsicht Bultmanns, die vielleicht nur als philosophische Liebhaberei eines protestantischen Theologen zu deuten wäre. Bultmann hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß er in der Fragestellung Heideggers die Philosophie eine Wendung nehmen sah, die "ein echtes
5 AaO.75 6 Vgl. aaO. 77 7 AaO. 80 8 Vgl. R. Bultmann, Geschichtlichkeit, 72, sowie R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. von E. Jiingel und K.W. Müller, 1984, 8 u.ö. 9 Bultmann, Enzyklopädie, 8
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Fragen nach den Dingen" und den 'Realitäten des Lebens' 9 auf den Plan brachte, dem auch die Theologie sich nicht entziehen durfte. Wollte die Theologie ihr ureigenstes Thema, den Glauben, so zur Geltung bringen, daß sie den Glauben nämlich als ein das Menschsein in seiner Ganzheit betreffendes Selbstverständnis ausdrücklich macht, so konnte und durfte sie diese Wendung der Philosophie nicht stillschweigend übergehen. Kaum eine Schrift Bultmanns kann die Nähe zum Heideggerschen Denken und auch zur Heideggerschen Sprache - und das gilt nicht zuletzt für die exegetischen Arbeiten Bultmanns - verleugnen. Die Anlehnung Bultmanns an Heidegger bedeutet keinesfalls eine blauäugige und in ihren Folgen verheerende Inanspruchnahme eines dem christlichen Glauben völlig fremden Existenzideals für die denkende Rechtfertigung dieses Glaubens selbst.10 Sondern der Anknüpfung an die formale und wertneutrale Daseinsanalyse der Philosophie liegt die Einsicht zugrunde, daß noch jede Theologie "für die Explikation ihrer Begriffe auf ein vortheologisches ... Daseinsverständnis zurückgreift".11 Das vorgängige Ausdrücklichmachen der eigenen Grundlagen verstärkt nur die Durchsichtigkeit und Reflexivität der eigenen Position. Denn zumindest unausgesprochen baut jede Theologie auf ein vorgängiges Daseinsverständnis auf. Insofern ist Bultmann daran gelegen, die Voraussetzungen seiner Interpretation des Glaubens offen zu legen. Von dieser Einsicht in die notwendige Anknüpfung der den Glauben als eine ontische Entscheidung des Daseins voraussetzenden Theologie an die Analyse des natürlichen Daseins aus entwirft Bultmann das Programm einer natürlichen Theologie. Diese hat präzise die Verständlichkeit und Plausibilität der Glaubensentscheidung auf dem Hintergrund der Verfassung des natürlichen Daseins zu sichern. So kommt der natürlichen Theologie ein begrenztes Recht zu. Als praeambula fidei und somit als Unterbau für die theologische Dogmatik eignet sich die natürliche Theologie nicht, weil die Theologie vom Glauben ausgehen muß, ihn vorauszusetzen hat.12 Es kann auch für Bultmann nicht darum gehen, neben den Glauben als "die einzig mögliche Zugangsart zu Gott"13 eine andere 'Zugangsart' zu setzen; daß Bultmann trotz des Mißkredits, in den der Begriff und das Anliegen der 'natürlichen Theologie'14 im Kontext der protestantischen Theologie jener 10 Vgl. Bultmann, Geschichtlichkeit, 78 11 Bultmann, Geschichtlichkeit, 80 12 Vgl. aaO. 81f. und R. Bultmann, Das Problem der 'natürlichen Theologie', in: ders., Glauben und Verstehen, Band 1,1958 3 , 294ff„ 295 13 Bultmann, Problem, 294 14 Bultmann blieb aber dabei, den Begriff in Anführungszeichen zu setzen.
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Jahre geraten waren, an ihrem eingeschränkten Recht festhielt, zeigt, wie viel für ihn an diesem Punkt auf dem Spiel stand - nämlich nicht weniger als die Gesprächsfähigkeit der Theologie als Wissenschaft.15 Die natürliche Theologie hat in ihrem begrenzten Auftrag die Aufgabe, die Plausibilität der Glaubensentscheidung so zu sichern, daß sie "vom Glauben aus das 'natürliche' (vorgläubige) Dasein verständlich" zu machen sucht.16 Wie ist diese Aussage zu verstehen? Ist das natürliche Dasein aus sich selbst nicht verständlich? Verlangt die philosophische Daseinsanalyse nach der Ergänzung durch die Theologie? In dieser kurzen und unscheinbaren Aussage wird schon ansatzweise deutlich, daß Bultmann mit der These, die philosophische Analyse des natürlichen Daseins sei als Grundlage für eine theologische Glaubenslehre akzeptabel, weil sie weltanschaulich neutral und allgemein sei, offenbar das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie nicht vollständig in den Blick bekommen kann. Das Modell einer ungestörten Nachbarschaft von Theologie und Philosophie, das auf den ersten Blick in der Fluchtlinie der Bultmannschen Argumentation zu liegen scheint, gilt in dieser Eindeutigkeit für Bultmann keineswegs. Offenbar treten Theologie und Philosophie auch dann in eine Konkurrenz hinsichtlich der Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen, wenn ihre Arbeitsgemeinschaft von beiden Seiten behauptet und gewünscht wird.
2. Theologie und Philosophie als Konkurrenten hinsichtlich der Interpretation der Menschlichkeit des Menschen In dem Versuch, die philosophische Daseinsanalyse Heideggers als Grundlage einer den Glauben verantwortenden Theologie zu 'gebrauchen', um so die Wissenschaftlichkeit und Zeitgenossenschaft der Theologie zu sichern, stieß Bultmann auf das Problem der natürlichen Theologie. Bultmann wies dabei der natürlichen Theologie ein gewisses Recht auch im Zusammenhang einer Theologie zu, die daran festhält, "daß Gott nur für den Glauben sichtbar ist, und daß Glaube die gehorsame Beugung unter Gottes Offenbarung im Worte der Verkündigung ist".17 Vielmehr hat die natürliche Theolo-
15 Daß Bultmanns Begriff der "natürlichen Theologie nicht der gewöhnliche" ist, hat Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie, BHTh52,1977, 274, mit Recht betont Dennoch liegt an dieser Stelle ein entscheidender Differenzpunkt zwischen Barth und Bultmann. Die strikte Zusammenordnung von Gottesfrage und der Frage nach der Existenz bei Bultmann mochte Barth niemals akzeptieren (vgl. aaO. 264ff.) 16 Bultmann, Geschichtlichkeit, 82 (Anmerkung) 17 Bultmann, Problem, 295
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gie unter der Voraussetzung, daß der Glaube die einzig mögliche Zugangsart zu Gott ist, die Aufgabe, zu erhellen, daß der Glaube das Dasein besser versteht, als dieses sich selbst je verstehen kann. Als Unterbau für die christliche Dogmatik ist die natürliche Theologie auch nach dem Urteil Bultmanns obsolet geworden, weil als unverbrüchlicher Grundsatz protestantischer Dogmatik zu gelten hat, "daß die einzig mögliche Zugangsart zu Gott der Glaube ist".18 Drei entscheidende Gründe führt Bultmann für seine Behauptung an, daß das Problem der natürlichen Theologie dennoch auch für die protestantische Theologie nicht völlig erledigt sein kann. Erstens gilt, daß im Glauben wie im Unglauben als den beiden ontischen Reaktionen auf die Verkündigung des Evangeliums ein Vorverständnis dieser 'evangelischen Botschaft' schon immer vorausgesetzt sein muß. Denn daß ein 'Hörer der Botschaft' diese so verstehen kann, daß er sie entweder glaubt oder verwirft, zeigt, "daß er ein Vorverständnis von ihr hat".19 Mit dem 'Vorverständnis', das der Hörer der frohen Botschaft mitbringt, ist nach Bultmann nicht eine bestimmte Kenntnis ihres Inhalts oder ein dem Glauben vorausgehendes 'natürliches Gottesbewußtsein' gemeint. Verstehen ist für Bultmann vielmehr gekennzeichnet als ein Grundverhalten des Daseins; "Verstehen setzt den Lebenszusammenhang voraus, in dem der Verstehende und das Verstandene von vornherein zusammengehören".20 Das Verstehen im Sinne eines natürlichen und zunächst unreflektierten Lebenszusammenhanges zwischen dem verstehenden Subjekt und dem Gegenstand ist das ursprünglichste "menschliche Verhältnis zum Gegenstand" überhaupt.21 Entsprechend dazu wird Bultmann den Glauben als eine bestimmte und das Leben insgesamt verändernde Form menschlichen Selbst- und Weltverstehens entwickeln.22 Der Titel 'Glauben und Verstehen' gibt das theologische Programm Bultmanns in nuce an.23 Zweitens begegnet die christliche Verkündigung, wo und wie auch immer sie 'vollzogen' wird, überall einem wie auch immer 'gearteten' Gottesglauben. Die christliche Religion ist eine Religion neben anderen. Dieses Phänomen verlangt nach einer Deutung, die über die bloße Behauptung hinausgehen muß, der außerchristliche Gottesglaube sei im Unterschied zur 18 AaO. 294 19 AaO. 295 20 AaO. 296 21 Bultmann, Enzyklopädie, 160 22 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 19583, 587 und ders., Enzyklopädie, 130ff. 23 Vgl. E. Jüngel, Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns, 1985, 7 u.ö.
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christlichen Offenbarungs-Religion Ausdmck bloßer Selbsterhebung des Menschen. Drittens schließlich ist nach Bultmann das Problem der natürlichen Theologie für die protestantische Dogmatik deshalb nicht vollständig erledigt, weil der christlichen Theologie in Gestalt der Philosophie ein Denken entgegentritt, das beansprucht, das Dasein in seiner Ganzheit - also auch hinsichtlich seiner religiösen Vollzüge - verstehbar machen zu können. Der mögliche Absolutheitsanspruch der Theologie hinsichtlich der Kennzeichnung des menschlichen Lebens in seinem 'Transzendenzbezug' trifft auf seinesgleichen in Gestalt anderer und wesentlich atheistischer Wissenschaften, die behaupten, das Menschsein auch ohne Gottesbezug vollständig beschreiben zu können. Für uns sind das erste und letzte Argument Bultmanns von besonderem Interesse. Die Behauptung, die Glaubensentscheidung, also die faktische Annahme der Verkündigung, setzt ein Vorverständnis von der Sache der christlichen Verkündigung immer schon voraus, indiziert nach Bultmann keine natürliche 'Gottoffenheit' des Menschen.24 Die Rede von einem "Anknüpfungspunkt für die Offenbarung"25ist für den Glauben unakzeptabel, weil er weiß, "daß der Mensch ohne Offenbarung ganz Sünder ist".26 Glaube und Unglaube sind Grundhaltungen, die das Dasein in seiner Ganzheit betreffen also, in der Sprache Heideggers und Bultmanns, ontische Entscheidungen von ontologischem Rang. Insofern sind Glaube und Unglaube die beiden sich gegenüberstehenden Grundmöglichkeiten des Daseins angesichts der Verkündigung. "Wie der Unglaube das ganze Dasein durchherrscht, als die charakteristische Weise des natürlichen Menschen zu existieren, so ist auch der Glaube eine Weise der Existenz", in der sich das Dasein in seiner Ganzheit versteht und deutet.27 Das aber bedeutet: im Glauben - in der Glaubensentscheidung - stellt sich das natürliche Dasein, insofern es sub ratione fidei als gänzlich ungläubiges und sündiges ausgemacht ist, selbst fundamental in Frage. Der Glaube interpretiert auf dem Hintergrund der Offenbarung das natürliche Dasein, aus dem er selbst als eine Möglichkeit erwächst, in seiner Ganzheit neu. Der Glaube akzeptiert nämlich nach seinem Selbstverständnis keine Grundhaltungen neben sich.
24 25 26 27
Vgl. Bultmann, Problem, 297 Ebd. Ebd. (Hervorhebung von mir) Ebd.
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Auch in dieser Einsicht wird der Grundsatz, daß die Glaubensentscheidung nicht völlig in Diskontinuität zum natürlichen Dasein treten darf, wenn denn gelten soll, daß die Möglichkeit der Glaubensentscheidung als solche auf dem Hintergrund der allgemeinen Analyse des Daseins sichtbar gemacht werden muß - nicht aufgehoben. Auch hier muß gelten: "Die Offenbarung kann nur in Frage stellen, was schon in Frage steht".28 Das natürliche Dasein nämlich, so zeigt die philosophische Analyse, steht in seinem Selbstverständnis durch sich selbst in Frage. Dem natürlichen Dasein ist von sich selbst her unheimlich29, insofern es in sich den Zwang zur Selbstbegründung verspürt. Darin erfährt sich das Dasein als durch sich selbst bedroht. Diese Bedrohung des Daseins durch sich selbst deckt die Theologie, so Bultmann, vollends auf. Allerdings vermag die Philosophie die Deutung der Theologie, die Bedrohung des Daseins durch sich selbst sei Ausdruck seines Wunsches zur Selbstmächtigkeit30, nicht anzuerkennen. Auch an diesem Punkt decken sich Bultmanns Ausführungen mit denen Heideggers. Obwohl auch Heidegger wie Bultmann die philosophische Daseinsanalyse als Grundlage der theologischen Deutung menschlichen Lebens und damit als Grundlage der Theologie als Wissenschaft behauptete31, galt ihm damit die 'Todfeindschaft' zwischen Theologie und Philosophie doch nicht als aufgehobene.32 Diese Todfeindschaft sieht Heidegger darin begründet, daß der Glaube die "freie(r) Selbstübernahme des ganzen Daseins"33, die die philosophische Daseinsanalyse als 'eigentliche Bestimmung' des Daseins geltend macht, nur als Uneigentlichkeit und Ausdruck eines unmittelbaren Selbstbehauptungswillens des Daseins interpretieren kann. Warum die Todfeindschaft "die mögliche Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften"34 nicht auszuschließen vermag, wird noch zu entwickeln sein. Die theologische und die philosophische Daseinsanalyse, so zeigen die Ausführungen Bultmanns wie Heideggers, treten beinahe notwendigerweise zueinander in Konkurrenz. Diese Situation hat ihren gewiß stärksten Ausdruck darin, daß der Glaube das natürliche Dasein in seiner Ganzheit - für die philosophische Analyse völlig unakzeptabel - unter der Bestimmtheit der Sünde sieht.
28 Ebd. 29 Vgl. aaO. 298 30 Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: H.W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, 1954 3 ,15ff., 37 31 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: Wegmarken, 1978 2 ,45ff., hier 61 32 Vgl. aaO. 66 33 Ebd. 34 Ebd.
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Diese Konkurrenzsituation zwischen Theologie und Philosophie wird noch dadurch verstärkt, daß die Philosophie "analoge Aussagen ... wie die Theologie"35 macht, indem sie von Geschichtlichkeit, Schuld, Gewissen etc. redet. Die "Konkurrenz mit der Philosophie, in deren Kreis ... auf alle Fälle die Analyse der menschlichen Existenz gehört"36, entsteht für die Theologie zusammengefaßt dadurch, daß beide Wissenschaften "eben die menschliche Existenz"37 in ihrer Ganzheit interpretieren. So reden sie in unterschiedlicher Weise von denselben Phänomenen. Beispielsweise deutet die Theologie dann, wenn sie von Sünde redet, diejenigen Phänomene des menschlichen Lebens, die der Philosophie auch nicht unbekannt sind. Statt von Sünde redet die Philosophie in bezug auf dieselben Phänomene nur "von der Menschlichkeit und ihrer Endlichkeit".38 Die offenkundige Konkurrenzsituation zwischen Theologie und Philosophie - der Streit um die rechte Interpretation der Situation und Verfassung des Menschen - läßt aber nach Bultmann nicht den Schluß zu, der Gegenstand von Philosophie und Theologie sei ein grundsätzlich verschiedener; etwa der der Theologie das gläubige Dasein und der Gegenstand der Philosophie das ungläubige. Das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie ist komplexer. Die Theologie bedient sich zwar weitgehend derselben Kategorien wie die Philosophie, deutet sie allerdings zumeist anders. Diese veränderte Deutung der philosophischen Begriffe in der Theologie z.B. die Deutung der Endlichkeit als Sünde - hat sich hinsichtlich ihrer Wissenschaftlichkeit und ihrer existentialen Möglichkeit wiederum an der philosophischen Analyse zu bewähren. Anders kann die Theologie ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Zeitgemäßheit nicht halten. Diese enge Verknüpfung der theologischen Sprache und der Aufgabe der Theologie mit der Philosophie ist nach Bultmann nicht mit einem Handstreich aufzuheben; denn sie erwächst der Situation, "daß es das ungläubige Dasein ist, welches zum Glauben kommt, daß der Glaube nicht die menschliche Natur verändert, daß der Gerechtfertigte nicht neue aufweisbare Qualitäten hat, sondern daß der Sünder der Gerechtfertigte ist".39 Diese faktische Situation, in der sich die theologische Glaubensauslegung befindet, hält das Verhältnis von Theologie und Philosophie in ständiger Spannung. Einerseits baut die theologische Interpretation des Glaubens auf der Analyse des natürlichen Daseins auf, andererseits konkurriert sie mit dieser. 35 36 37 38 39
Bultmann, Problem, 305 Ebd. AaO. 306 AaO. 307 AaO. 309
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Diese differenzierte Stellungnahme Bultmanns zum Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie deckt sich weitgehend mit den Ausführungen Heideggers zu diesem Thema. Auf die allerdings nicht unerhebliche Differenz zwischen Heidegger und Bultmann ist deshalb um so deutlicher zu verweisen, weil sie den Versuch Bultmanns deutlich macht, trotz und in aller Bindung an die philosophische Daseinsanalyse die Selbständigkeit der theologischen Deutung der menschlichen Situation zu sichern. Heidegger hat sein Verständnis der Beziehung von Theologie und Philosophie zusammenhängend entwickelt in einem Vortrag von 1927, der unter dem Titel 'Phänomenologie und Theologie' zunächst in Tübingen, später auch in Marburg gehalten wurde.40 Diesen Vortrag hat Heidegger erst 1970 - und dann auch nur zu einem Teil - der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Veröffentlichung konnte vollends die große Nähe zwischen Heidegger und Bultmann erhellen, die aber auch schon zuvor kein großes Geheimnis mehr darstellte. Allerdings war die präzise Bestimmung der Zusammenarbeit zwischen Bultmann und Heidegger nun besser möglich geworden. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie wird von Heidegger in dem genannten Vortrag als das "Verhältnis zweier Wissenschaften" entwikkelt.41 Eine Wissenschaft ist bestimmt als "die begründende Enthüllung eines je in sich geschlossenen Gebietes des Seienden" (48). Die Theologie als eine mögliche Wissenschaft eines 'geschlossenen Gebietes des Seienden' wird noch weitergehender als eine 'positive Wissenschaft' vorgestellt; solchermaßen muß sie gedacht werden, weil sie Wissenschaft von "einem vorliegenden Seienden, einem Positum" (48) ist. Das unterscheidet die Theologie mit der Chemie oder der Mathematik absolut von der Philosophie. Denn die Philosophie als Ontologie ist "die Wissenschaft vom Sein" (48) und fragt als solche danach, wie und warum ein Seiendes überhaupt vorliegen kann. Die grundsätzliche Frage nach der Entdecktheit von Seiendem überhaupt, die dem wissenschaftlichen Umgang mit einem vorliegenden Seienden zugrunde liegt, unterscheidet die Philosophie absolut von allen anderen Wissenschaften, die von einem vorliegenden Seienden ausgehen. Der Mathematik liegen die Zahlen vor, der Chemie die stoffliche Wirklichkeit und der Theologie - der Glaube. Die Positivität einer Wissenschaft, so macht Heidegger deutlich, hängt an folgenden Kriterien. Erstens an der tatsächlichen Vorfindlichkeit des Gegenstandes der jeweiligen Wissenschaft; zweitens daran, daß das Vorfindliche in der alltäglichen Daseinsverfassung, also vorwissenschaftlich
40 Vgl. M. Heidegger, Vorwort zu 'Phänomenologie und Theologie', in: Wegmarken, 19782,45 41 AaO. 47 (Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diesen Vortrag)
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zugänglich ist und auf ein Lebensverhältnis zurückgeführt werden kann; drittens daran, daß der wissenschaftliche Umgang mit dem Vorfindlichen ein Seins- und Selbstverständnis des Daseins impliziert (50). Anhand dieser drei Kriterien nun unternimmt Heidegger den Versuch, seine These, die Theologie sei eine positive Wissenschaft, zu erläutern. Das Vorliegende für die Theologie, so macht Heidegger zunächst deutlich, ist nicht das "Christentum als ein geschichtliches Vorkommnis" (51), sondern "die Christlichkeit" (52), d.h. der Glaube. Die Besonderheit des Glaubens als einer "Existenzweise des menschlichen Daseins" (52) sieht Heidegger darin, daß er sich gänzlich "aus dem Geglaubten" (52) bestimmt und sich nicht als eine Möglichkeit versteht, die das Dasein aus und durch sich selbst immer hat. Der Glaube versteht sich selbst aus einem geschichtlichen Ereignis - und zwar so, daß er sein Verhältnis zu diesem Ereignis nicht selbst setzen kann. Der Glaube ist als Existenzweise unvermittelbar. Insofern ist der Glaube die je und je gegebene Teilnahme des Daseins an einem Geschehen und darin "immer nur als Glauben durch den Glauben gegeben" (53). "Das Offenbarungsgeschehen, das sich dem Glauben überliefert und demgemäß in der Gläubigkeit selbst geschieht, enthüllt sich nur dem Glauben" (53). Das Geschehen aber, zu dem der Glaube je und je in das Verhältnis der 'verstehenden Teilnahme' gesetzt wird, ist das Kreuz Christi (52). Das zweite Kriterium einer positiven Wissenschaft erfüllt die Theologie dann, wenn sie den Glauben aus der alltäglichen Daseinsauslegung verständlich machen kann. Diese Aufgabe löst die Theologie nach Heidegger dann und nur dann, wenn sie den Glauben als Existenzweise und d.h. als Selbstverständnis des Daseins thematisch macht. Und in der Tat macht Heidegger selbst darin das Wesen des Glaubens aus, daß er das existierende Verhältnis zum Gekreuzigten als eine besondere Weise des geschichtlichen Daseins ist (55). Die Theologie vermag den Glauben als eine Möglichkeit des alltäglichen Daseins aber nur dann wahrhaft aufzudecken, wenn sie ihren Zweck als Wissenschaft darin sieht, die christliche Existenz so durchsichtig zu machen, daß sie als eine bestimmte Selbstinterpretation des Daseins ausdrücklich wird. Die Theologie hat darin auf den Begriff zu bringen, was der Glaube als eine Existenzweise schon immer vollzieht. Die Theologie ist "aus dem Glauben dem Glauben selbst und für ihn auferlegt" (54). Darin erweist sich die Theologie dann als historische Wissenschaft, insofern sie einen bestimmten Daseinsvollzug als Konkretion der Geschichtlichkeit das Daseins beschreibt, die die freie Selbstübernahme des Daseins im Blick auf seine eigenen Möglichkeiten ist.
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In bezug auf ihre Aufgabe, die gläubige Existenz als eine Weise des geschichtlichen Existierens durchsichtig zu machen, ist die Theologie auf die Philosophie angewiesen. Die gläubige Existenz als eine Möglichkeit des natürlichen Daseins ausfindig zu machen - diese Aufgabe erfüllt die Theologie nur in und durch Aufnahme der philosophischen Daseinsanalyse. Nur so wird die Theologie dem dritten Kriterium, das an eine positive Wissenschaft zu stellen ist, gerecht. Die Bezugnahme der Theologie auf die phänomenologische Philosophie an dieser Stelle gewährleistet nicht nur die Wissenschaftlichkeit der Theologie, sondern auch die Möglichkeit, im Vollzug der gläubigen Existenz ein Seinsverständnis zu entdecken. Auch im Blick auf den Glauben und dessen Auslegung in der Theologie bewahrheitet sich der Grundsatz, daß sich alle ontischen Auslegungen "auf einem zunächst und zumeist verborgenen Grunde einer Ontologie" (62) bewegen. Das wird schon allein daran deutlich, daß alle theologischen Begriffe wie Sünde, Vergebung, Liebe etc. "notwendig das Seinsverständnis in sich (bergen), das das menschliche Dasein von sich aus hat" (63). Diese Begriffe haben ganz einfach einen 'vorgläubigen' Bedeutungsgehalt, der von der Theologie schwerlich geleugnet werden kann. Das bedeutet, daß die theologischen Begriffe, wenn sie denn auf dem Hintergrund der Einsicht, daß der Glaube ein Existenzphänomen darstellt, entwickelt werden sollen, als solche nur im Rückgang auf ursprüngliche Existenzbestimmungen des Daseins einsichtig gemacht werden können. Beispielhaft führt Heidegger den Begriff der Sünde an, dessen Gehalt "nur im Glauben offenbar" (64) ist, der aber als Existenzphänomen - nämlich als Bestimmtheit des Glaubens nur im "Rückgang auf den Begriff der Schuld" (64) zu thematisieren ist. "Schuld aber ist eine ursprüngliche ontologische Existenzbestimmung des Daseins" (64). Die vorgläubige Existenz ist in der gläubigen Existenz - so zeigt dieses Beispiel - sowohl enthalten als auch aufgehoben. Denn der Glaube erhebt den Anspruch, einen spezifischen 'Existenzübergang ' zu markieren (63). Insofern schwingt in allen theologischen Begriffen das vorgläubige Existenzverständnis mit.42 Nicht nur also um als Existenzmöglichkeit profiliert werden zu können, sondern auch, um sich selbst zu verstehen, ist der Glaube angewiesen, sich durch den Rückgang auf das vorgläubige Seinsverständnis selbst auszulegen.
42 Es ist deutlich, daB Heidegger von einem Begriff des Glaubens ausgeht, der diesen im wesentlichen im Sinne der der 'fides subjectiva' zugerechneten 'fiducia' versteht (vgl. H. Schmid, Die Dogmaük der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. von H.G. Pöhlmann, 1979®, 264f.)
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Damit ist auch nach Heidegger keineswegs daran gedacht, die gläubige Existenz aus der vorgläubigen gleichsam abzuleiten. Ontologie versteht sich nur als Korrektiv der ontischen Analyse (64). An der Bezugnahme auf die Philosophie aber hängt für die Theologie die Möglichkeit, den Glauben als eine mögliche Existenzweise - als ein Verstehen des Daseins - verständlich zu machen - kurz: die Wissenschaftlichkeit der Theologie. "Die positive Wissenschaft des Glaubens bedarf der Philosophie nur mit Rücksicht auf ihre Wissenschaftlichkeit." (61) Bleibt die Bedeutung der Philosophie für die Theologie auf diese korrektive Funktion beschränkt, so wird die richtige Einsicht nicht aufgehoben, "daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt" (66). Die kurze Wiedergabe der Ausführungen Heideggers zum Verhältnis von Theologie und Philosophie zeigt, wie sehr sich Bultmanns Sicht der Beziehung der beiden Wissenschaften mit der Heideggers deckt.43 Diese Dekkungsgleichheit in entscheidenden Punkten, die sich bis in Formulierungen hinein auswirkt44, bezeugt nach der Meinung eines Interpreten "die Fruchtbarkeit des Dialogs, der die gemeinsamen Marburger Jahre (1923-1928) geprägt hat".45 Worin liegt die weitgehende Deckungsgleichheit zwischen den Aussagen Bultmanns und Heideggers hinsichtlich des Verhältnisses von Theologie und Philosophie? Es ist nur auf die entscheidenden Gesichtspunkte aufmerksam zu machen. Beide Autoren denken die Theologie als positive historische Wissenschaft; das Vorliegende der Theologie ist der Glaube.46 43 Allerdings bleibt Bultmann hinsichtlich der Begründung der Theologie als Wissenschaft hinter Heidegger zurück. Vor allem der Frage, inwiefern Theologie Wissenschaft sein kann, widmet Bultmann zu geringe Aufmerksamkeit. Darüber hinaus bleibt das Urteil Bultmanns, daß es wissenschaftliche Theologie "nur als christliche Theologie gibt" (Enzyklopädie, 159), unbegründet. 44 Vgl. E. Jüngel, Glauben und Verstehen, 29 u.ö. 45 AaO. 27f; vgl. auch M. Lill, Zeitlichkeit und Offenbarung: Ein Vergleich von M. Heideggers 'Sein und Zeit' mit R. Bultmanns 'Das Evangelium des Johannes', 1987,25ff.; Lill übersieht allerdings den Anspruch Bultmanns, der Glaube könne das natürliche Dasein besser verstehen als dieses sich selbst Damit übergeht Lill den entscheidenden Differenzpunkt zwischen Bultmann und Heidegger; deshalb wirft er Bultmann auch irrtümlicherweise vor, er habe übersehen, daß Heideggers Philosophie keineswegs wertneutral sei (vgl. aaO. 353). 46 Die zunächst auffällige Nähe dieser Bestimmung zu der Kennzeichnung der Theologie als positiver historischer Wissenschaft durch Schleiermacher (vgl. F. Schleieimacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behufe einleitender Vorlesungen, Kritische Ausgabe hg. von H. Scholz, 19825 (1910), besonders die Paragraphen 1,28,81 und 97) hat E. Jüngel, aaO. 25ff. hervorgehoben. Jüngel betont auch die Differenz zwischen Schleieimacher und Bultmann/Heidegger.
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Bultmann wie Heidegger sehen die Aufgabe einer kritischen Beurteilung jeglicher Wissenschaft darin, aufzudecken, daß Wissenschaft "je aus dem Lebensverhältnis zu ihrem Gegenstand erwächst".47 Jedes Wissen ist auf ein vorwissenschaftliches Sich-Verstehen des Daseins zurückführbar. Eine Wissenschaft steht dann in der Gefahr, ihren Gegenstand zu verlieren, wenn sie sich auf die Formulierung von Sätzen und 'Fakten' reduzieren läßt kurz: wenn sie Wissenschaft nur noch als Kulturwert versteht. Heidegger und Bultmann sind ferner übereinstimmend der Überzeugung, daß die Theologie als Wissenschaft von der 'gläubigen Existenz' nur dann ihre Wissenschaftlichkeit bewahren - und darin mehr als nur Predigt sein kann, wenn sie ihre Begriffe auf dem Grunde der philosophischen Daseinsanalyse zu profilieren vermag. Nur so nämlich kann die Theologie den Glauben als eine mögliche Form des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses erhellen. Wie aber bestimmt nun Bultmann selbst den Glauben? Zeigt er sich auch an dieser Stelle als treuer Weggefährte Heideggers, der den Glauben als Wiedergeburt bestimmte? Der Bultmannsche Glaubensbegriff bedarf der kurzen Analyse, weil er die entscheidende Differenz zwischen Heidegger und Bultmann in ihrer weitgehend übereinstimmenden Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie andeutet. Wir halten uns dabei zunächst an die Enzyklopädie Bultmanns. In bezug auf den Glaubensbegriff, so ist zunächst zu konstatieren, ist für Bultmann die Differenz zwischen der Theologie und allen anderen Wissenschaften namhaft zu machen. Dabei stellt sich dann zugleich "das Problem der Theologie als Wissenschaft".48 Der Differenzpunkt zwischen der Theologie und den anderen ontischen Wissenschaften liegt für Bultmann auf der Hand, denn "das Verhältnis des glaubenden Daseins zu Gott ist ein anderes als das Verhältnis das Daseins überhaupt zu seinen Gegenständen und zu sich selbst" (161). Das Dasein verfügt in bezug auf jede einzelne Wissenschaft über den gegebenen Gegenstand, es geht mit ihm als einem Vorhandenen um. Und auch sich selbst ist das Dasein in gewisser Weise ständig zugänglich, insofern es sich "ständig zu sich selbst und seiner Welt" (161) verhält. Gegenstand der Theologie aber ist Gottes Offenbarung im Verhältnis zum Glauben49; dieser 'Gegenstand' aber ist dem Dasein nicht verfügbar
47 Bultmann, Enzyklopädie, 160 48 Bultmann, Enzyklopädie, 161 (Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf dieses Werk) 49 Vgl. aaO. 59ff., 161f. u.ö.
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und jederzeit zugänglich. Denn der Glaube versteht sich selbst als ein Getroffensein und Bestimmtsein durch seinen Gegenstand. Der Glaube versteht sich nicht als Existenzweise, die ihren Gegenstandsbezug selbst erzeugen könnte, sondern von der Ankunft der Offenbarung im Augenblick lebt.50 Für Bultmann heißt das: der Glaube "ist keine menschliche Haltung, keine Bewegung, die das Dasein von sich aus vollziehen kann, sondern die Antwort auf das wirkliche Getroffensein von der Offenbarung" (162). Die Theologie kann nicht wie alle anderen Wissenschaften in bezug auf ihren jeweiligen Gegenstand davon ausgehen, daß das Dasein im Glauben "immer schon bei dem in Rede stehenden Gegenstand ist und ihn von sich aus entdecken kann" (162). Denn der Glaube ist "ein Verstehen des Augenblicks" (162), in dem das glaubende Dasein durch die Offenbarung ergriffen wird; somit ist der Glaube ein Sich-Verstehen des Daseins, das sich je und je aus dem "nichtglaubenden Dasein" (162f.) erhebt. Als Verstehen des Augenblicks aber ist der Glaube durchaus "eine Weise geschichtlichen Existierens" (163); denn das Dasein existiert insofern geschichtlich, als es seine Existenz je zu ergreifen hat "in der Entscheidung des Augenblicks" (56). Die Besonderheit des Glaubens als eine Weise dieser geschichtlichen Existenz ist nur darin zu sehen, daß er die Forderung des Augenblicks nicht in dem Ergreifen seiner eigenen Möglichkeiten sieht, sondern im Ergriffenwerden durch die Offenbarung Gottes. Der Glaube - so meint Bultmann - ist ein Ergriffenwerden durch Gott im Vollzug des Augenblickverstehens; als Augenblickverstehen aber ist der Glaube vergleichbar jeder Form geschichtlicher Existenz. Daß ein bestimmter Augenblick bestimmt ist durch die Ankunft Gottes, also unter der Forderung Gottes steht, - das weiß das Dasein nicht aus sich selbst. Nicht jeder beliebige Augenblick steht unter der Forderung Gottes. "Es ist idealistische Deutung, im Ergreifen der Forderung des Augenblicks faktisch Gottes inne zu werden" (58). Der christliche Glaubensbegriff hat deutlicher zu differenzieren. "Soll von Gott die Rede sein, so muß diese Rede zu der menschlichen Möglichkeit, zum Augenblick hinzugesagt werden" (62f.). Aus der bloßen Analyse des Augenblickverstehens, in dem das Dasein je und je seine Möglichkeit ergreift, ist die Deutung des Augenblicks als Forderung Gottes nicht ableitbar. Allerdings gilt unbestritten, daß geschichtliches Dasein wesentlich dadurch bestimmt ist, "daß es aus seiner
50 So urteilt auch M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie 59; daß Bultmann damit den Glaubensbegiiff sowohl des theologischen Liberalismus als auch der lutherischen Orthodoxie kritisiert, hat Jüngel, aaO. 38ff. gezeigt.
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Vergangenheit ins Jetzt vor seine Zukunft kommend seine Möglichkeit im Entschluß ergreift".51 Deshalb muß die Forderung Gottes im Augenblick so ausdrücklich gemacht werden, daß sie "dem für die Frage des Augenblicks offenen Menschen verständlich ist" (88). Der Glaube muß also in Analogie zu dem grundsätzlichen Seinsverstehen des Daseins entwickelt werden können, wenn er als Form des menschlichen Selbstverständnisses ausdrücklich gemacht werden soll. Darin hat sich zu bewähren, daß der Glaube in Kontinuität zum ungläubigen oder vorgläubigen Dasein zu entwickeln ist, denkt er sich doch selbst als je neue Überwindung des Unglaubens. Diese Forderung Bultmanns nach der strukturellen Analogie zwischen dem Akt des Glaubens und dem Sein des Daseins in der Entscheidung ermöglicht zweierlei: diese Analogie macht den Glauben als neues Selbstund Seinsverständnis explizit und gibt damit dem Glaubensbegriff die größtmögliche Weite52; darüber hinaus ermöglicht diese Analogie die Behauptung des Glaubens als des wahren Selbstverständnisses des Daseins. An dieser Stelle nämlich wird die Kritik des natürlichen Daseins durch den Glaubensakt thematisch. Denn im Gedanken der Offenbarung ist gesagt, "daß das Dasein, so wie es ist, nie bei sich selbst, nie eigentlich ist" X89). "Sagt die Philosophie, daß es eigentlich existiert, indem es sich gerade als begrenztes bejaht, indem es im Entschluß todbereit die Situation übernimmt, so sagt der Glaube, daß solcher Entschluß die Verzweiflung ist, in der gerade zum Vorschein kommt, daß es nicht ist, wie es sein will und soll." (89) Der Glaube entlarvt die freie Tat der Entscheidung des natürlichen Daseins zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten als Ausdruck der Verzweiflung des sich auf sich selbst und sonst nichts verlassenden Daseins. Denn der Glaube bestreitet, "daß der Mensch im todbereiten Entschluß in die Situation seine Eigentlichkeit gewinnen könne" (89). Der Glaube erkennt den Augenblick und seine Forderung nicht als Forderung, das eigene Selbst zu konstituieren und zu behaupten, sondern als Befreiung zum Sein bei dem Anderen. Denn das in der Offenbarung begegnende Wort ist das Wort von der Vergebung (88). "Meine etwaige Subjektivität wird gerade durch den Anspruch des Augenblicks niedergeschlagen" (203).
51 R. Bultmann, Wahrheit und Gewißheit, in: Enzyklopädie, aaO. 183ff„ hier 199 52 Vgl. das Urteil Jüngels, Glauben und Verstehen, 65ff.
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Der Glaube erkennt, daß der Mensch "in der Frage nach sich selbst von sich selbst wegsehen" muß, "daß ihm sein Selbstsein nur in der Preisgabe seiner selbst geschenkt" (91) wird. Der durch das Ergehen des Offenbarungs wortes qualifizierte Augenblick stellt den Augenblick der Entscheidimg unter 'die Forderung der Liebe' (90) - so formuliert Bultmann zusammenfassend. "In der Forderung des Augenblicks als der Forderung der Liebe ist also Gott offenbar." (91) Die Offenbarung erschließt das Sein des Daseins in seiner Eigentlickeit eben nicht als Selbstbehauptung oder Selbstverwirklichung, sondern als das Sein bei dem anderen. Damit entdeckt die Theologie das Wesen des Menschen darin, Empfänger des Offenbarungswortes zu sein; das den Menschen ansprechende und zur Liebestat anreizende Wort ist die Weise, wie der Mensch zu sich selbst kommen kann. Darin versteht die Theologie das natürliche Dasein allemal besser, als es sich jemals selbst zu verstehen in der Lage ist. Die Grenze der Bultmannschen Ausführungen werden an dieser Stelle darin deutlich, daß er das 'Ergehen des OffenbarungsWortes' erneut unter dem Begriff der 'Forderung' deutlich macht. Die Offenbarung erschließt den Augenblick durch die 'Forderung der Liebe'. Dieser Forderung hat der Glaube so zu entsprechen, daß er zur Tat schreitet. Der Glaube gerät damit trotz aller Beteuerungen Bultmanns - Bultmann will den Glauben als Tat gerade von einem Werk abgesetzt sehen - 5 3 wieder in die Nähe eines Werkes. Darin zeigt sich, daß eine Theologie der Entscheidung - und Bultmann entwickelt den Glauben als freie Tat der Entscheidung in Analogie zur vorlaufenden Entschlossenheit - es schwer hat zu zeigen, inwiefern das von der Offenbarung ergriffene Dasein wirklich Zeit hat und "wie der allerdings autoritativ, wiewohl nicht autoritär Angesprochene den Weg zur Entscheidung hin in freiem Gehorsam mitgehen kann".54
53 Vgl. Bultmann, Enzyklopädie, 134; die Kennzeichnung des Glaubens als Tat erfolgt deshalb, weil der Mensch er selbst eben "in seinem Tun" (ebd.) ist. Dagegen ist das Werk für Bultmann das feststehende und gleichsam vorhandene Ergebnis der Tat. Der Glaube aber ist so verstanden niemals ein Werk, weil er das je neue Ergreifen des Vergebungswortes ist. Die Kennzeichnung des Offenbarungswortes als der 'Forderung der Liebe' begründet Bultmann mit der Verfassung des Menschen, der nie "ein wirklich Liebender" (Enzyklopädie, 91) ist, dem die Liebe immer nur als Forderung begegnet. 54 G.M. Martin, Vom Unglauben zum Glauben. Zur Theologie der Entscheidung bei Rudolf Bultmann, ThSt 118,1976, 61
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Nun steht aber zweifelsfrei fest, daß die "philosophische Analyse ... ihrer Art nach solche Ergänzung" durch die Theologie "nicht verträgt", weil sie beansprucht, "das Dasein als ganzes im Blick zu haben".55 Die philosophische Analyse des natürlichen Daseins verträgt von ihrem eigenen Anspruch her keine Ergänzung oder Korrektur durch die Theologie oder eine andere 'ontische' Wissenschaft. Deshalb kann die philosophische Daseinsanalyse durch die Theologie nur ganz oder gar nicht übernommen werden. Aber die notwendige Akzeptanz dieser Analyse in ihrer Ganzheit hindert die Theologie nicht daran, dem natürlichen Dasein insgesamt das Vorzeichen des Unglaubens zu geben, also die Behauptung aufrecht zu erhalten, "daß der Unglaube die Grundverfassung des menschlichen Daseins überhaupt ist".56 Diese Behauptung impliziert keineswegs den Anspruch, die philosophische Daseinsanalyse zu ergänzen·, sondern in ihr läßt die Theologie erkennen, daß sie dem natürlichen Dasein in seiner Ganzheit eine andere Deutung als die Philosophie gibt. Dasjenige Phänomen, "das die Theologie als Unglauben bezeichnet", ist für die Philosophie "die ursprüngliche Freiheit".57 Wie die Behauptung der Theologie, das in der Philosophie analysierte Dasein sei insgesamt durch Unglaube und Sünde bestimmt, keine Ergänzung der philosophischen Daseinsanalyse sein will, so impliziert sie auch keine unaufhebbare Korrektur der Philosophie durch die Theologie. Denn diese aus der Glaubenserkenntnis entspringende Behauptung paßt sich dem Rahmen der philosophischen Daseinsanalyse und der Platzanweisung, die der Glaube als eine ontische Entscheidung in ihr erfährt, durchaus ein. Und wie deutet die philosophische Daseinsanalyse den Glauben? - als einen "innerhalb des durch seine Freiheit konstituierten Daseins sich vollziehenden Entschluß"58, für den sie selbst - d.h. die philosophische Analyse - die allgemeinen Bedingungen aufweisen kann. Aber diese Deutung des Glaubens durch die Philosophie - als einen aus der grundsätzlichen Freiheit des Daseins entspringenden augenblicklichen Entschluß - "entspricht dem Charakter des Glaubens, so wie er sich selbst versteht".59 Der Glaube versteht sich selbst nach Bultmann als einen konkreten Entschluß, als freie Tat der Entscheidung, die das natürliche Dasein insgesamt in einer konkreten Situation unter das Vorzeichen des Glaubens setzt. Die Behauptung des
55 Bultmann, Problem, 309; diese Meinung trifft sich mit der Überzeugung Heideggers, daß die Philosophie das ist, was sie ist - nämlich Analyse des Daseins in seiner Ganzheit - , auch ohne daß sie kritisches Korrektiv der Theologie ist (vgl. Heidegger, Wegmarken 66) 56 Bultmann, Problem, 309 57 A a 0 . 3 1 0 58 Ebd. 59 Ebd.
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Glaubens, dieser Entschluß verändere die Grundverfassung des Daseins, stellt für die Philosophie wohl ein Ärgernis dar und impliziert diejenige Selbstdeutung des Glaubens, die die philosophische Daseinsanalyse beim besten Willen niemals nachvollziehen kann. Diese Selbstdeutung des Glaubens aber ist - so zeigt Bultmann - für den Glauben selbst anhand der Verfassung des Daseins nicht phänomenal aufweisbar. Denn der Glaube ist einforensischer Akt; er versteht sich selbst als eschatologisches Ereignis, das hier und jetzt wohl wirklich wird, seiner Bestimmung aber, das ganze 'natürliche' Dasein zu durchdringen, erst noch entgegensieht. So ist der Glaube nach seinem eigenen Selbstverständnis "kein Phänomen des Daseins", sondern "immer der konkrete Entschluß im Augenblick, d.h. Glaube ist immer nur im Überwinden des Unglaubens".60 Der Akt des Glaubens macht den Menschen - so kann auch formuliert werden - je und je zum Christen, ohne ihn damit als (ungläubigen) Menschen zu verändern. In diesem Sinne also bestätigt nach Bultmann die Selbstauslegung des Glaubens seine phänomenologische Deutung durch die philosophische Daseinsanalyse als einen ontischen Entscheidungsakt, dessen behaupteter ontologischer Rang nie den Status einer unabweisbaren Selbstversicherung zu überschreiten vermag. Diese Bestimmung des Glaubens hat Bultmann beißenden Spott eingetragen. "Was freilich dieser Glaube ist, der den Menschen so unverwandt und unverwandelt glauben läßt, dies zu verstehen, ist Sache der Theologie."61 Ist "der Charakter des Glaubens als steter Überwindung des Unglaubens"62 aber zureichend beschrieben - was gewiß fraglich ist - , so ist die Konsequenz, die Bultmann aus dieser Kennzeichnung des Glaubens zieht, zumindest einsichtig. Denn auf dem Hintergrund der Selbstdeutung des Glaubens ist es geradezu notwendig, daß die Entfaltung des Glaubensverständnisses nur in ständiger Auseinandersetzung mit der philosophischen Daseinsanalyse erfolgen kann. Ohne diesen Hintergrund nämlich müßte die Theologie, wäre sie ganz auf 'sich selbst gestellt', darauf verzichten, den Glauben als eine nachvollziehbare Entscheidung des natürlichen Daseins verständlich und plausibel zu machen. Um einem puren Dezisionismus in der Rede von dem Akt des Glaubens zu entgehen, macht Bultmann —so kann abschließend formuliert werden die natürliche Theologie zum unaufgebbaren Bestandteil der theologischen
60 AaO. 311 (Hervorhebung von mir) 61 K. Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, in: Pöggeler, Heidegger, aaO. 54ff., hier 74 62 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 29
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Dogmatik. Die natürliche Theologie erhellt, daß der Glaube nicht nur eine mögliche Form des Selbstverständnisses ist, sondern darüber hinaus die Realisierung der eigentlichen Bestimmung des Menschseins.
3. Die Theologie als wahrer Interpret des natürlichen Daseins Die Durchsicht der Ausführungen Bultmanns zum Verhältnis von Theologie und Philosophie ergab ein scheinbar äußerst widersprüchliches Ergebnis. Einerseits scheint nach Bultmann zu gelten, daß die Theologie in der Auslegung des Glaubens als einer ontischen Entscheidung des Daseins auf der philosophischen Daseinsanalyse völlig unproblematisch aufbauen kann. Die innere Möglichkeit dieser fundamentalen Bedeutung der philosophischen Daseinsanalyse für die Theologie läge dann in ihrer Formalität und Wertneutralität. Die Philosophie macht nach dieser Deutung der Theologie ihr Recht, Interpretation einer auf dem Grunde der formalen Daseinsanalyse durchaus einsehbaren ontischen Entscheidung zu sein, nicht streitig. Der Aufbau der Theologie auf der Analyse des natürlichen Daseins ist für eine Glaubenslehre, die zeitgemäß und wissenschaftlich sein will, offenbar notwendig. Nur durch die Aufnahme der philosophischen Daseinsanalyse, d.h. durch die Aktzeptanz der in dieser aufgedeckten formalen Strukturen des Daseins, die allen ontischen Entscheidungen voraufgehen, nimmt die Theologie ihre Zeitgenossenschaft wahr.63 Andererseits konstatiert Bultmann eine Konkurrenzsituation zwischen Theologie und Philosophie angesichts des Streites um die Wirklichkeit und damit besonders um die Verfassung und Situation des Menschen. Darin zeigt sich, daß Bultmann mit dem Modell einer ungestörten 'Nachbarschaft' von Theologie und Philosophie nicht auskommt - gar nicht auskommen will·. Die Konkurrenz zwischen Philosophie und Theologie tritt darin auf, daß die Theologie die Glaubensentscheidung als ontische Entscheidung von ontologischem Rang deutet. Die Entscheidung des Glaubens - so muß die 63 Daß sich darin die Bultmannsche Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie erschöpft, ist ein vielfach vorgetragenes Mißverständnis (zuletzt bei M. Lill, Zeitlichkeit und Offenbarung, 28ff.). Gewiß hat Bultmann Heideggers Fundamentalontologie im Sinne einer Fundamentalanthropologie verkürzt, um sie für die Entfaltung einer 'Theologie der Glaubensentscheidung' handhabbarer zu machen - übrigens gegen den ausdrücklichen Einspruch Heideggers (vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973", 21 lf.). Daß die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' keineswegs als voraussetzungslose Plattform für die Entfaltung des christlichen Glaubens fungieren kann, war Bultmann wohl bewußt (vgl. z.B. Bultmann, Enzyklopädie, 205).
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Theologie behaupten - verändert das Dasein in seiner Ganzheit. Deshalb verträgt es der Glaube seinem Selbstverständnis nach nicht, als eine Entscheidung neben anderen beurteilt zu werden. Diese Behauptung der Theologie erregt Anstoß und Ärgernis auf Seiten der Philosophie. So scheint es hier, als hebe die Theologie die Philosophie dann auf, wenn sie Theologie ist. Nun haben wir gesehen, daß Bultmann beide Gesichtspunkte in seiner Deutung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie nebeneinander gelten lassen will. Die Widersprüchlichkeit zwischen beiden Deutungsmustem ist für Bultmann nur scheinbar. Die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen den beiden Deutungen des Verhältnisses von Theologie und Philosophie zeichnete sich in dem Glaubensbegriff Bultmanns ab. Die philosophische Daseinsanalyse vermag die Glaubensentscheidung als einen in der grundsätzlichen Freiheit des Daseins begründeten aktuellen Entschluß zu denken. Als solcher ist der Glaube seiner Möglichkeit nach in der philosophischen Daseinsanalyse aufgedeckt. Diese ' Platzanweisung ' des Glaubens in den Rahmen einer Analyse des natürlichen Daseins akzeptiert die Theologie nach Bultmann, weil sie exakt der Selbstinterpretation des Glaubens entspricht. Denn der Glaube versteht sich selbst wohl als eine das ganze Dasein betreffende und insofern auch 'irgendwie' verändernde Entscheidung, von der aus das in der philosophischen Analyse thematisierte natürliche Dasein gänzlich als ungläubiges erscheint; nur - der Glaube versteht sich gerade so als eschatologische Tat bzw. als eschatologisches Ereignis. Das bedeutet: der Glaube denkt sich selbst wesentlich als bloße Behauptung, die phänomenal nicht beweisbar sein kann. Der Glaube ist nach seinem Selbstverständnis - zeitlich gesehen - eine augenblickliche Entscheidungstat, die mit ihrem 'Wirklich-werden' schon wieder unwirklich geworden ist. Darin ereilt den Glauben das Schicksal des flüchtigen und nie zu stehen kommenden Jetzt-Punktes. Kurz: der Glaube ist die Selbstbehauptung des gläubigen Daseins. Die vielfältigen Bestimmungen des Glaubens als "sich frei der Zukunft öffnen"64, als "freie Tat der Entscheidung"65, als 'stets neue Entscheidung'66 oder als "Erschlossenheit für die Zukunft"67 verstehen sich auf dem Hintergrund der Heideggerschen Bestimmung der eigentlichen Existenz als eines entschlossenen Vorlaufens und sind nur so deutbar, daß Bultmann damit die Möglichkeit der Einordnung des Glaubens in den Zusammenhang der Analyse des natürlichen
64 65 66 67
R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 29 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, 19583,317 AaO. 323 AaO. 349
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Daseins einsichtig machen will. So verstanden fügt sich also der Glaube, indem er als eine Form des Selbstverständnisses entwickelt wird, der philosophischen Daseinsanalyse ein, die jede ontische Entscheidung des Daseins nur als Ausdruck der sich in Freiheit vollziehenden Selbstbehauptung des Daseins denken kann. Die Behauptung der Theologie, der Glaube verändere das ganze Dasein und decke es in seiner natürlichen Verfassung als ungläubiges allererst auf, sprengt somit nicht das Modell eines friedlichen 'Miteinander' von Theologie und Philosophie, weil der Glaube akzeptiert, daß er keine das Dasein strukturell und sichtbar verändernde Kraft hat. Auf dem Hintergrund dieser Ausführungen kann es verständlich werden, warum man in Bultmann einen 'neuen' Flacius zu sehen vermocht hat.68 Aber mit diesen Bemerkungen ist die Position Bultmanns nicht vollends beschrieben und - vor allem - noch nicht zu ihrem Recht gekommen. Es hieße, Bultmann Unrecht zu tun, wenn man ihm eine naive und blauäugige Rezeption der Heideggerschen Daseinsanalyse unterstellen wollte, die um der Zeitgemäßheit der Theologie willen diese gleichsam ungewollt an die Philosophie ausliefert und ihr eigenes Thema verrät. Denn die ausgesprochene Stärke der Bultmannschen Position liegt gerade an der Stelle, an der ihre größte Schwäche zu liegen scheint. Diesen Sachverhalt gilt es noch zu würdigen. Gleichwohl bleibt die Frage dringlich, ob der Preis, den Bultmann für den Wunsch nach philosophischer 'Bewährung' der theologischen Aussagen faktisch zahlt, nicht zu hoch ist. Die Theologie, so meint Bultmann, vermag die Ortsbestimmung durch die Philosophie zu akzeptieren, weil sie den Glaubensakt exakt so deutet, wie ihn auch die philosophische Daseinsanalyse zu verstehen vermag. Auch für die Theologie selbst ist der Glaube eine 'Entscheidungstat im Augenblick', die die Verfassung des Daseins real nicht verändert, sondern nur die Möglichkeit dieser Veränderung behauptet. So wie die Theologie die Ortsbestimmung des Glaubens in dem Zusammenhang der philosophischen Daseinsanalyse annimmt, so muß die Philosophie nun ihrerseits - so meint Bultmann - die Interpretation des Daseins in seiner natürlichen Verfassung durch die Theologie zustimmend zur Kenntnis nehmen. Erst der Glaube nämlich und die ihn auslegende Theologie decken die wahre Verfassung des natürlichen Daseins, die diesem selbst dunkel bleibt, in ihrer Tiefe auf. Die von dem Offenbarungsgeschehen ausgehende Theologie zeigt, inwiefern die natürliche Existenz des Menschen durch fundamentale Fragwürdigkeit bestimmt ist.69 Diese Fragwürdigkeit des natürlichen Daseins
68 Vgl. H. Haug, Offenbarungstheologie und philosophische Daseinsanalyse bei Rudolf Bultmann, in: ZThK 55 (1958), 201ff., hier 235 69 Bultmann, Problem, 298
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hat ihre wahre Tiefe darin, daß die Grundhaltung des natürlichen Menschen seine Eigenmächtigkeit ist.70 So entdeckt erst der Glaube das natürliche Dasein in seiner diesem selbst verborgenen Angewiesenheit auf Offenbarung.11 Schließlich erschließt sich der Glaube die natürliche Verfassung des Daseins als begnadete·, denn der Glaube erkennt, daß das natürliche Dasein in seiner Fragwürdigkeit angelegt ist auf die Empfänglichkeit für die - es von seinem verzweifelten Wunsch nach Eigenmächtigkeit - freimachende Tat Gottes.72 Diese Einsicht aber ist nur dem Glauben zugänglich; "nur der Glaubende versteht ... das profane Dasein als begnadet".73 Denn nur der Glaube kommt von dem Ereignis der Offenbarung her, welches das an und in seinem Wunsche nach absoluter Eigenmächtigkeit verzweifelnde Dasein noch aus sich selbst erhofft. Mit der Einsicht des Glaubens in das 'Angelegt-sein' des natürlichen Daseins auf Offenbarung hin ist dieses letztlich "als Schöpfung wieder entdeckt".74 Das meint: der Glaube erschließt die Erkenntnis, daß das menschliche Leben unter der Bestimmung steht, von der Verkündigung der Botschaft, die die freimachende Liebe Gottes zum 'Inhalt' hat, getroffen zu werden und so den Glauben zu ergreifen. Damit ist nun die eigentliche Absicht Bultmanns, die ihn in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Theologie und Philosophie immer leitet, aufgedeckt: die Absicht nämlich zu zeigen, daß die Theologie das Dasein in seiner natürlichen Verfassung besser versteht als es sich selbst zu verstehen vermag. Dieses Ergebnis ist nach der Meinung Bultmanns aber ganz offensichtlich nur so zu erzielen, daß die Theologie die Bestimmung des Glaubens als einer ontischen Entscheidung des Daseins neben anderen, wie sie in der philosophischen Daseinsanalyse vorgenommen wird, akzeptiert. Denn diese Bestimmung entspricht der Situation, in der sich Theologie und Religion in der Neuzeit befinden. Insofern bringt der Titel seiner Aufsatzbände 'Glauben und Verstehen' das Programm der Theologie Bultmanns in aller Kürze zur Geltung. Inwiefern aber sollte nun die Philosophie dazu gebracht werden, die Deutung des natürlichen Daseins durch die Theologie anzuerkennen? Die Philosophie kann den Anspruch der Theologie - so gibt Bultmann zu verstehen - , erst sie decke die Fragwürdigkeit des natürlichen Daseins in ihrer Tiefe auf, zumindest der Möglichkeit nach nicht bestreiten. Denn der Glaube versteht sich auf dem Grund der Daseinsanalyse als entschlossene
70 Bultmann, NT und Mythologie, 37 71 Bultmann, Geschichtlichkeit, 84 72 Vgl. aaO. 84f. 73 AaO. 85 74 Ebd.; vgl. auch R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen II, 1952, 21 Iff.
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Tat des seine Zukunft erschließenden Subjekts. Die Behauptung der Theologie allerdings, die Fragwürdigkeit des Daseins liege in ihrer Tiefe in dem Wunsch des Daseins nach Eigenmächtigkeit und absoluter Selbstbegründung und sei insofern aus dem natürlichen Dasein selbst nicht zu 'lösen', kann die Philosophie wohl verstehen, aber nicht akzeptieren. Insofern aber die Theologie diese ihre Deutung des natürlichen Daseins selbst als bloße Behauptung und als augenblickliches Selbstverständnis geltend macht, kann aus dieser Differenz zwischen Theologie und Philosophie keine ihre an sich fruchtbare Zusammenarbeit störende Folgerung gezogen werden.
4. Anmerkungen zur Auseinandersetzung um die Heideggerrezeption Rudolf Bultmanns Die Aufnahme der Heideggerschen Daseinsanalyse in das 'Haus' der Theologie und das damit vert>undene Programm einer natürlichen Theologie haben Bultmann besonders aus den Reihen der ihm verbundenen dialektischen Theologie bekanntlich herbe Kritiken eingetragen. Vor allem Barth wollte der Versuch, Bultmann zu verstehen, nicht gelingen.75 Vor einigen Jahren hat Ch. Gestrich in seinem viel beachteten Buch über die Entwicklung der dialektischen Theologie der Kontroverse zwischen Barth und Bultmann, die sich nicht zuletzt an der Frage des Verhältnisses von Philosophie und Theologie entzündete, große Aufmerksamkeit gewidmet.76 Gestrich sieht einen großen Teil der Ursachen für die Kontroverse zwischen den beiden Theologen in dem unterschiedlichen Ansatzpunkt, den sie jeweils für eine neuzeitliche theologische Dogmatik geltend machen. Das Faktum der Selbstoffenbarung Gottes ist für Barth unhintergehbarer Ausgangspunkt theologischen Redens, das den Glauben auslegen will. Dem kann Bultmann in dieser Allgemeinheit wohl zustimmen; allerdings will er die Schwierigkeiten, von der Offenbarung und ihrer Bedeutung zu reden - Schwierigkeiten, die die neuzeitliche Theologie wesentlich bestimmen - , aufnehmen und in das Selbstverständnis des Glaubens gleichsam eintragen. Die theologische Dogmatik muß die faktische Situation, in der sich Glaube und Theologie in der Neuzeit befinden, in sich aufnehmen und widerspiegeln.
75 Vgl. Barths Bultmann-Kiitik in K. Barth, Rudolf Bultmarin. Ein Versuch, ihn zu verstehen, 19643 und den Briefwechsel Barth-Bultmann, hg. von B. Jaspert, Karl Barth Gesamtausgabe V, Briefe, Band 1,1971 76 Vgl. Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie, 1977, 263ff.
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Dabei entsagt Gestrich trotz dieser Einschätzung des unterschiedlichen Ausgangspunktes der beiden Theologien einer nur an der Oberfläche bleibenden Deutung ihrer Differenz - etwa im Sinne der Gegenüberstellung als Subjektivismus/Objektivismus oder als natürliche Theologie/Offenbarungstheologie.77 Beide Theologen sind nach dem Urteil Gestrichs Zeitgenossen in ihrem Denken, beider Denken ist davon geprägt, diese Zeitgenossenschaft wahrzunehmen. Konkret sieht Gestrich Barth wie Bultmann beeinflußt durch die Krise, in die die Metaphysik mit dem Vordringen "der mit ihr verknüpften Atheismuserfahrung"78 geraten ist. Diese Situation erfährt bei beiden Theologen allerdings eine völlig unterschiedliche Interpretation und zeitigt Konsequenzen, die sie in einen scheinbar fundamentalen Gegensatz bringen. Bultmann sieht in der die gescheiterte Metaphysik konstruktiv überwindenden Existentialanalyse die Möglichkeit, die Rede von Gott wieder als sinnvoll gerade auf dem Hintergrund der aktuellen Philosophie und des modernen Wirklichkeitsverständnisses zu erweisen. Barth aber sieht seinerseits in der Krise der Metaphysik den Ausgangspunkt für die 'Neuentdeckung' des ureigensten Themas der Theologie - befreit von der Last des die Theologie in der Geschichte immer wieder überfremdenden metaphysischen Denkens. Auf dem Hintergrund dieser Deutung arbeitet Gestrich eindrucksvoll die differenten hermeneutischen 'Positionen' der beiden Kontrahenten heraus.79 Auf der einen Seite sieht Gestrich den Versuch, die ' Verendlichung' des Menschen in der Neuzeit mit einer theologischen Ontotogie zu beantworten, in der das Sein der geschaffenen Welt konsequent vom Sein des sich selbst offenbarenden Gottes her seine Aufklärung erfährt.80 Auf der anderen Seite beobachtet Gestrich das ebenfalls wohl begründete Unterfangen, die Rede von Gott aus der dieser scheinbar widerständigen Wirklichkeitserfahrung des neuzeitlichen Subjekts einsichtig zu machen, um so den Sitz des Glaubens in der natürlichen Verfassung des Daseins neu aufzudecken. "Zusammenfassend können wir jetzt sagen: Bultmann durchdenkt von dem her, was gegenwärtig die Existenz-Philosophie allen Menschen zu denken gibt oder zu denken geben sollte, die Möglichkeit einer Theologie, die sich selbst in angemessener Begrifflichkeit verständlich artikuliert und so ihrem Verkündigungsauftrag gerecht wird. Barths Grund-Sorge ist, es möchte über dem apologetischen Interesse moderner Theologie, Gottes Wirklichkeit (und zugleich ihre eigene Möglichkeit) auszuweisen, das Sein Gottes
77 78 79 80
Vgl. aaO. 293 AaO. 266 Vgl. aaO. 268ff. Vgl. aaO. 261 f.
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selbst verkürzt werden auf die vom Menschen aus als relevant betrachtete Wirklichkeit."81 Dabei weist Gestrich auf die Gemeinsamkeit des Anfanges der beiden Theologien hin, die bei aller Berücksichtigung der differenten hermeneutischen 'Position' nicht übersehen werden darf. Diese Gemeinsamkeit des Anfanges sieht Gestrich in einer gegenüber der liberalen Theologie veränderten Zugangsweise zur Sache der Bibel.82 Die Gemeinsamkeit des Anfanges aber erklärt nach Gestrich nur zum Teil die Schärfe der späteren Auseinandersetzung zwischen zwei Theologen, die sich wohl schätzten, sich aber in und aufgrund ihrer unterschiedlich begründeten Position niemals wirklich verstanden. Auch die sich aus den gemeinsamen Anfängen entwickelnde Gegensätzlichkeit zwischen Barth und Bultmann erklärt Gestrich geschichtlich; nämlich aus der "kirchengeschichtlichen Situation" und der differenten Rezeption derselben "geistesgeschichtlichen Veränderungen".83 Die Pointe der Stellungnahme Bultmanns zur geistesgeschichtlichen Situation wird sichtbar in seinem Anschluß an die Existenzphilosophie. Darin realisiert Bultmann seinen Versuch, die Plausibilität des Glaubens im Zusammenhang der neuzeitlichen Selbstauslegung des Daseins aufzudekken. Barth begegnet diesem 'Unterfangen' bekanntlich mit dem Vorwurf, das führe die Theologie in einen abstrakten Subjektivismus, der die eigentliche Aufgabe der Theologie, der Offenbarung nachzudenken, verfehlt.84 Wir haben oben gesehen, daß Bultmanns Heidegger-Rezeption in der Tat die große Gefahr heraufbeschwört, das Selbstverständnis des Glaubens auf dem Hintergrund der Übernahme des philosophischen Existenz-Begriffs zu verkürzen. Deutlich wurde diese Gefahr in der Ausprägung, die der Glaubensbegriff selbst bei Bultmann erfährt. In Anlehnung an den Gedanken der möglichen Eigentlichkeit des Daseins bestimmt, gerät der Bultmannsche Glaubensbegriff notwendig in den Strudel der Probleme, die schon jenen Gedanken kennzeichneten. Der Glaube erfährt sich selbst wie das sich zur Eigentlichkeit rufende Dasein in ständiger Entscheidungssituation, die per definitionem so beschaffen ist, daß der Glaube nie sein Ziel erreicht. Das gläubige Dasein - besser: das zum Glauben entschlossene Dasein - jagt dem Glauben ständig und vergeblich nach. Der Versuch Bultmanns, die Theologie in den Rahmen der Heideggerschen Daseinsanalyse einzufügen, bedeutet die Preisgabe des Anspruchs der Theologie, Auslegung eines die Welt und den Menschen sichtbar und 81 82 83 84
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AaO. 270 AaO. 271 AaO. 293 Vgl. aaO. 276
unwiderruflich verändernden Glaubens zu sein. Das ist die große Gefahr einer Theologie, die sich wegen der von ihr behaupteten 'Überholung' der theologischen bzw. kirchlichen Begrifflichkeit durch die 'Geistesgeschichte' an das 'aktuelle' oder 'neue' Wirklichkeitsverständnis anlehnt.85 Demgegenüber bescheinigt Gestrich Barth, stets "jene neuere Philosophie vorgezogen" zu haben, "die in bewußter Selbstunterscheidung von der Theologie denkt"86, weshalb Barth nie den Versuch unternahm, das Selbstverständnis des christlichen Glaubens in die Form einer für das Christentum vielleicht offenen Weltanschauung zu gießen. Darin entsprach Barth, so meint Gestrich, der faktischen Situation der neuzeitlichen Philosophie in ihrer Ablösung von der Theologie.87 Besonders H. Jonas und K. Löwith haben in die Debatte um die Bultmannsche Heideggerrezeption einen wesentlichen Aspekt eingebracht, der die möglichen 'christlichen Hintergründe' von 'Sein und Zeit' betrifft. Jonas hat mit Vehemenz die These vertreten, beim Denken Heideggers handle es sich um "säkularisiertes Christentum".88 Diese Behauptung von Jonas bezieht sich gleichermaßen auf das Denken des frühen wie des spätererf Heidegger. Die Ausführungen von Jonas sind deshalb von besonderem Interesse für die Theologie, weil Jonas zu zeigen gewillt ist, daß die Aufdeckung der 'christlichen Hintergründe' der Heideggerschen Philosophie gerade zu dem Ergebnis kommen muß, daß eine Anknüpfung der Theologie an das Heideggersche Denken völlig unmöglich ist, wenn die Theologie bei ihrer Sache bleiben will. Denn die 'christlichen Elemente' in dem Denken Heideggers verdecken nur das tiefe "Heidentum"89, das dieses Denken nach Jonas bestimmt. Jonas verdeutlicht dies besonders im Blick auf den Heidegger nach 'Sein und Zeit'.90 Die These von der Unvereinbarkeit der Philosophie Heideggers mit einer christlichen Theologie im Blick auf 'Sein und Zeit' erwiesen zu haben, ist das Verdienst Karl Löwiths. Löwith ist wohl derjenige Interpret Heideggers gewesen, der wie kein anderer den Begriff der Endlichkeit des Daseins für die Interpretation von 'Sein und Zeit' in den Mittelpunkt gerückt hat. Löwith hat dabei in dem Heideggerschen Entwurf einer Ontologie des 85 Vgl. aaO. 373ff. 86 AaO. 378 87 Haug hat in seinem Aufsatz (Offenbarungstheologie, aaO.) wohl am schärfsten die Gefahr und die letztliche Unmöglichkeit einer theologischen Anknüpfung an die Philosophie von 'Sein und Zeit' ohne Selbstpreisgabe des Themas der Theologie herausgearbeitet. 88 H. Jonas, Heidegger und die Theologie, in: EvTh 24 (1964), 621ff„ hier 624 89 Ebd.; diesem Urteil haben sich neuerdings E. Jiingel/M. Trowitzsch, Provozierendes Denken, in: R. Bubner u.a. (Hg.), Wirkungen Heideggers, Neue Hefte für Philosophie 23 (1984), 59ff„ 69, angeschlossen. 90 S.u. 245f.
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Daseins in seiner Endlichkeit eine implizite Kritik der theologischen Rede von der 'Verankerung' der Zeitlichkeit und Endlichkeit (des Daseins) in der Ewigkeit Gottes gesehen. '"Sein und Zeit' verrät nirgends, daß es Heidegger auf ein Haltbares, Dauerndes, Unzerstörbares ... ankommen könnte".91 Die Endlichkeit von 'Sein und Zeit' ist nach Löwith die Verfassung des Daseins, an der die Ewigkeit strandet.92 So betont Löwith in einem zusammenfassenden Urteil über den eigentlichen 'Sinn' der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' : "Entschlossener als der Verfasser von 'Sein und Zeit' kann man die endliche Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit nicht bejahen und damit die Ewigkeit preisgeben".93 Von dieser Deutung aus hat Löwith in mehreren Beiträgen immer wieder herauszuarbeiten versucht, daß sich die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' in ihrer 'antichristlichen Tendenz' durchaus einem voraussetzungsvollen ontisch-ontologischen Daseinsverständnis verdankt, dessen Übernahme durch die Theologie sich nur dadurch erklären läßt, daß die Theologie in dieser Daseinsanalyse mißverständlich eine wertneutrale Kennzeichnung des Daseins sieht, auf deren Hintergrund sie die eigene Sache meint gut profilieren zu können. Positiv gewendet macht sich die Theologie die philosophische Analyse des entschlossen endlichen und darin gottlosen Daseins als Folie zunutze, auf der sich die Sache der Theologie gut darstellen läßt - zumal diese Analyse noch auf Schritt und Tritt ihre Prägung durch die "christliche Daseinsauslegung"94 erkennen läßt. Die Siege aber, die eine Theologie feiert, die den Glauben auf dem Hintergrund der Daseinsanalyse Heideggers plausibel machen zu können glaubt, sind Pyrrhussiege. Denn das Dasein von 'Sein und Zeit' ist, so Löwith, keineswegs offen für eine christliche Daseinsauslegung. Das entscheidende 'Vorurteil', das die scheinbar neutrale Daseinsanalyse leitet, sieht Löwith in der "Fixierung des Todes als der obersten Instanz des Daseins" hinsichtlich seiner ontisch bezeugten Ganzheit.95 Dieses Verständnis des Todes aber fußt auf der These, die Substanz des Menschen sei seine Existenz.96 Denn nur wenn gilt, daß das, was der Mensch ist, ausschließlich in seinen eigenen Möglichkeiten liegt und liegen muß, dann gilt auch, daß der Tod die oberste Instanz für die ontische Bezeugung der möglichen Ganzheit des Daseins ist. Das Existenzideal von 'Sein und Zeit'
91 K. Löwith, Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, I9602, 33 92 Vgl. ebd. 93 K. Löwith, Heidegger und Rosenzweig, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, 1960,99 94 K. Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger, 1984,55 95 AaO. 60 96 AaO. 61
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ist nach Löwith die 'absolute Selbständigkeit'.97 Die ontische Neutralität der Heideggerschen Existentialanalytik ist deshalb für Löwith eine Chimäre.98 Die Antwort Löwiths auf die drängende Frage, warum Vertreter der protestantischen Theologie trotz der großen Gegensätzlichkeit der Theologie zur philosophischen Daseinsanalyse diese als Fundament einer Glaubenslehre zu übernehmen bereit sind, ist interessant und gibt zu denken. Weil die protestantische Theologie - so lautet die Behauptung Löwiths den Glauben als eine bloße Interpretation des Daseins denkt, die das Dasein selbst nicht verändert, deshalb kann sie die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' als Fundament einer Glaubenslehre in Erwägung ziehen.99 Das 'simul' Luthers ist nach Löwith der präzise Grund dafür, daß die Theologie 'anfällig' ist für die philosophische Daseinsanalyse Heideggers. Mit dieser Behauptung vermag Löwith in der Tat den Glaubensbegriff Bultmanns zu treffen, der sich auch tatsächlich in der Bestimmimg des Glaubens als eines augenblicklichen Vergewisserungsaktes auf das 'simul' Luthers berufen hat.100
97 Ebd.; vgl. auch ders., Gesammelte Abhandlungen, I960, 77, wo Löwith von der "heillosen Geschlossenheit" des Daseins in 'Sein und Zeit' spricht. 98 Vgl. Löwith, Phänomenologische Ontologie, 64, 72 u.ö. 99 Vgl. aaO. 73 100 Vgl. Bultmann, Problem, 296; neuerdings hat E. Jüngel die Berufung Bultmanns auf Luther auch im Blick auf die Kennzeichnung des Glaubens als der 'Forderung der Liebe im Augenblick der Entscheidung' hervorgehoben (vgl. Jüngel, Glauben und Verstehen, 59). Glaube als das 'Sein in Christo' und Liebe als das 'Sein im Nächsten' seien danach auch für Bultmann die beiden unauflöslich zusammengehörigen Seiten der Bestimmtheit 'christlichen Lebens'. Jüngel beschreibt das Anliegen Bultmanns auch darüber hinaus als den Versuch, fundamentale reformatorische Einsichten neu zu beleben (vgl. aaO. 45, 48f. u.ö.). Allerdings dürfte Bultmann in seiner Bestimmung des Glaubens als 'ständig neuer Überwindung des Unglaubens' den Positionen der Gnesiolutheraner näher stehen als Luther selbst, der in seiner 'Lehre' vom 'tertius usus legis' im Blick auf die Gestaltwerdung des Glaubens beredter war als Bultmann mit seinem Appell an die je neue Entscheidungstat des Glaubens (vgl. W. Joest, Gesetz und Freiheit, 19562, bes. 109ff.). In Aufnahme der hilfreichen und einleuchtenden Unterscheidungen von Joest kann formuliert werden, daß Bultmann gegen Luther den Totalaspekt des Glaubens als ständiger Überwindung des Unglaubens gegenüber dem Partialaspekt einseitig betont. Die Frage der Gestaltung des Glaubens im tätigen 'Leben des Christen' bleibt bei Bultmann eigentümlich unterbelichtet. Darin gilt das Wort von B. Lohse im Blick auf die sogenannten 'antinomistischen Streitigkeiten' innerhalb der reformatorischen Theologie: "Betonte man abstrakt den neuen Menschen, kam der dritte Brauch des Gesetzes nicht in Frage; hob man jedoch mehr die konkrete Existenz der Christen hervor, konnte das Gesetz seine wegweisende und auch das 'Leben des Glaubens' bestimmende Bedeutung behalten (B. Lohse, Von Luther bis zum Konkordienbuch, in: C. Andresen (Hg.), Handbuch zur Dogmengeschichte, Band II, 1980,119).
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Allerdings übersieht Löwith darin, daß er dieses Bultmannsche Glaubensverständnis auf Luther selbst und damit die gesamte protestantische Theologie übertragen will, die lutherische Unterscheidung zwischen dem Totalaspekt und dem Partialaspekt des Glaubens. Ein Glaube, der das Leben nicht durchdringen will, schwebte Luther gewiß nicht vor.101 Deutlich aber ist, daß Löwith die Schwäche des Bultmannschen Glaubensbegriffs präzise getroffen hat. Der Glaube droht bei Bultmann dem Dasein äußerlich zu bleiben. Warum also ist die Theologie für die Daseinsanalyse 'anfällig'? Weil sie selbst nicht mehr an die Kraft des Glaubens zu glauben in der Lage ist. Auf diese Einsicht laufen die Ausführungen Löwiths hinaus. Der Unglaube, daß der Glaube das Dasein wirklich verändern kann, ist nach Löwith der Grund dafür, daß die Theologie die philosophische Daseinsanalyse als ihr Fundament ansieht. - Die Folgen, die der Glaubensbegriff Bultmanns für die Auffassung der Zeit haben muß, sind nun schnell aufgedeckt.
5. Die Folgen der Bestimmung des Glaubens als 'freie Tat der Entscheidung im Augenblick' Die Auseinandersetzung Bultmanns mit der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' hat im wesentlichen folgendes Ergebnis gebracht. Das Thema der Theologie läßt sich nach Bultmann auf dem Hintergrund der Daseinsanalyse so entfalten, daß der Glaube als eine mögliche Form menschlichen Selbstverständnisses einsichtig und plausibel gemacht werden kann. Bultmann übersieht dabei keineswegs die 'Todfeindschaft' zwischen Philosophie und Theologie; die Philosophie ist kein neutraler Boden, auf dem sich der christliche Glaube problemlos entfalten ließe. Vielmehr rückt der Gedanke der eigentlichen Existenz als entschlossener Selbstübernahme des Daseins - das sieht auch Bultmann - die Philosophie in einen unüberbrückbaren Gegensatz dazu, wie die Theologie das Bild wahrhaften Menschseins entwirft. Allerdings bleibt für Bultmann aus der Beschäftigung mit dem Ansatz von 'Sein und Zeit' die unschätzbare Möglichkeit bestehen, den Glauben als ein Selbstverständnis des Daseins zu entwickeln. Nur so hat das Verständnis des Glaubens die ihm angemessene Weite. Dementsprechend entwickelt Bultmann, so sahen wir, den Glauben als freie Tat der Entscheidung in Analogie zum Gedanken der 'vorlaufenden Entschlossenheit' Heideggers.
101 Vgl. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 19805, 206
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Explizit wird diese Strukturgleichheit zwischen dem Bultmannschen Glaubensbegriff und dem Heideggerschen Begriff der Entschlossenheit im Johanneskommentar Bultmanns. Aber auch die Enzyklopädie macht diesen Zusammenhang durchsichtig. Die Heranziehung des Johanneskommentars neben der Enzyklopädie, die die Intensität des Gespräches zwischen Heidegger und Bultmann bis in gemeinsame Formulierungen hinein deutlich bezeugt, ist durchaus angemessen. Zum einen hat E. Dinkier kürzlich dargestellt, daß Bultmann und Heidegger während der gemeinsamen Jahre in Marburg zusammen das Johannesevangelium studierten102; zum anderen enthält der Johanneskommentar Bultmanns dessen voll ausgebildete Theologie. In der Kommentierung der Theologie des Johannes ist der Denker Bultmann in seinem Element. Die behauptete Strukturanalogie zwischen dem Bultmannschen Glaubensbegriff und dem Gedanken der vorlaufenden Entschlossenheit entfaltet sich wie folgt. Wir sahen, daß Bultmann in Anlehnung an seinen philosophischen Freund das Sein des Daseins als geschichtliches vorstellte. In seiner Geschichtlichkeit steht das Dasein unter der Forderung des Augenblicks; denn 'echtes Selbstverständnis' bedeutet nach Bultmann, "mich in meinem Jetzt in der Entscheidung"103 zu verstehen. Der Forderung des Augenblicks begegnet das Dasein faktisch immer so, daß es eine Möglichkeit seiner selbst ergreift. Das Dasein ist geradezu das je neue Ergreifen zukünftiger und ureigenster Möglichkeiten. "Ist Dasein aber zeitlich geschichtlich, dem es je im Jetzt um sich selbst geht, das je im Jetzt nicht unter ihm sich bietenden Möglichkeiten eine auswählt, sondern (indem es dies auch tut) je eine Möglichkeit seiner selbst ergreift, - ist das Sein des Daseins als Seinkönnen, indem jedes Jetzt wesenhaft neu ist und eben jetzt seinen Sinn erhält, eben durch seine Entscheidung, also nicht aus einem zeitlosen Sinn der Welt, - dann hat die Frage nach der Wahrheit nur Sinn als die Frage nach der einen Wahrheit des Augenblicks, meines Augenblicks."104 Insofern die Zeitlichkeit des Daseins sein Stehen unter der Forderung des Augenblicks, um seine eigenen Möglichkeiten zu ergreifen, bedingt, hat auch für Bultmann die Zeitlichkeit ein Gefalle zur Zukunft. Die Zukunft ist das eigentliche Wesen der Zeitlichkeit als der endlichen Verfassung des Daseins. Wir sahen ferner, daß Bultmann an die theologische Analyse des Glaubens die Forderung stellte, den Glauben als eine Form des menschlichen 102 Vgl. E. Dinkier, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann, 1977,18f. 103 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel und K.W. Müller, 1984,203 104 AaO. 50
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Selbstverständnisses so zu entwickeln, daß er auf dem Hintergrund der Analyse "des Augenblicks als des geschichtlichen Jetzt"105 profiliert werden kann. Nur so gewinnt der Glaubensbegriff die angemessen Weite, die ihm als Darstellung eines konkreten Lebensverhältnisses zukommt. Nur auf dem Hintergrund der Verfassung des Daseins überhaupt wird der Glaube dem Menschen, der faktisch je und je unter der Forderung des Augenblicks steht, plausibel. Entsprechend entwickelte Bultmann den Glauben unter dem Begriff der 'geschichtlichen Tat'. Wie das natürliche Dasein das je neue Ergreifen eigenster Möglichkeiten ist, so ist der Glaube "die gehorsame Annahme der Botschaft von der Sündenvergebung und dem neuen Leben in Christus".106 Darin entdeckt die Theologie den Glauben als ein Selbstverständnis, das die Übernahme eigenster Möglichkeiten des Daseins nicht als Selbstübernahme deutet, sondern als Entsagung an die Selbstverfügung des Daseins. Der Glaube ist ein solches Verstehen des Augenblicks, das kein Akt der Selbsterschließung und Selbstverwirklichung des Daseins ist, sondern ein Ergriffen- und Erschlossenwerden durch das begegnende Offenbarungswort. Glaube ist für Bultmann so verstanden "nicht ein Werk", wohl aber "eine Tat" des zur Entscheidimg geforderten Daseins.107 Diese Unterscheidung besagt, daß der Glaube nicht etwas Vorhandenes ist, kein Resultat einer Tätigkeit des Subjekts, - wie das Werk eines Bildhauers - , sondern je neues Ergreifen eines Ergriffenwerdens. "Als Tat des Menschen ist sein Tün ins Auge gefaßt, wenn es im Vollzuge gesehen wird, d.h. in seiner Geschichtlichkeit, als sein Verhalten in der Entscheidung, als die konkrete Möglichkeit seines Seinkönnens, die er selbst wählt."108 Der Glaube ist ein Sich-Verlassen im Sinne des Verzichtes auf Selbstverfügung des Daseins. Daß das Dasein sich im Glauben selbst verlassen kann, entspringt dem Vergebungsgeschehen, in dem das Dasein sein kann, ohne sich sein Selbst selbst erarbeiten zu müssen. Darin erwächst aus dem Vergebungswort die Gewißheit der Rechtfertigung. Diese fremde, zugesagte Gerechtigkeit ist aber auch dem Glauben "nicht ein vorhandenes Etwas".109 Die Gewißheit der den Daseinsvollzug befreienden Vergebung ist kein habitueller Besitz. Dieses Mißverständnis des Glaubens als Werk ergibt sich für Bultmann nur dann, "wenn der Akt des Glaubens gegen die Tat des Augenblicks isoliert wird."110 Wird der Glaube aber als geschichtli-
105 106 107 108 109 110
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AaO. AaO. AaO. Ebd. AaO. AaO.
88 131 134 139 144 (im Text kursiv gedruckt)
che Tat des je und je unter der Forderung des Augenblicks stehenden natürlichen Daseins gedeutet, wird diesem Mißverständnis gewehrt. Somit wird der Glaube als geschichtliche Tat nur verständlich "in seiner Bezogenheit auf die Augenblicke meines faktischen Lebens".111 "Das Hören des Wortes der Offenbarung und das Verstehen des Augenblicks müssen also eine Einheit bilden"112 - das ist die immer wieder erhobene Forderung Bultmanns. Wir sahen schon, daß der Augenblick im Hören der Botschaft erschlossen wird als befreit von dem Zwang zur Selbstbegründung des Daseins zugunsten der tätig werdenden Liebe am Nächsten. Der Glaube aber darf trotz seiner Unterscheidimg von einem Werk keineswegs mißverstanden werden als ein bloßes Hinnehmen, als blinder Gehorsam. "Der Glaube ist wirklich das Erfassen (!) derGnade" - so betont Bultmann immer wieder.113 Im Akt der Glaubensentscheidung ist der Mensch "der, der er sein wird, ergreift er seine Zukunft, und in der Liebestat bewährt er seine Treue".114 Damit erschließt die Tat des Glaubens, indem sie sich auf das Wort der Vergebung bezieht, das Dasein des Menschen insgesamt so, "daß faktisch die Existenz des Menschen gar nicht eine solche ist, über die der Mensch verfügt. Das gehört eben zu meiner Existenz, daß sie mir nicht zur Verfügimg steht, sondern fremden Mächten ausgesetzt ist; und wir sind immer auf die Probe gestellt, ob und wie wir sie sehen."115 Worin findet der Glaube aber nun seine Gewißheit? "Der Glaube ist Tat und nur im Vollzuge seiner selbst sicher" - so antwortet Bultmann.116 Und wie gewinnt der Glaube die Gewißheit, daß seine in der Tat des Glaubens erschlossene Zukunft durch die Zukunft Gottes bestimmt und gehalten ist? Wie wird die Ankunft Gottes im Augenblick der Entscheidung möglich? 1. Weil Gott die 'Ewigkeit der Zukunft' ist. Gottes Zukunft ist "die Möglichkeit der Zukunft, die aber vom Glaubenden auch ergriffen werden muß"117, weil die Gewißheit, die sie schenkt, "nicht die Ständigkeit des Gegenwärtigen ist,..., sondern die Ewigkeit der Zukunft" .m
111 112 113 114 115 116 117 118
Ebd. Ebd. (im Text kursiv gedruckt) AaO. 101 (Hervorhebung von mir) AaO. 145 AaO. 156 AaO. 157 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Meyer Κ. II, 12,1952 12 ,412 (Zitiert als JK) Bultmann, JK 432 (Hervorhebung von mir)
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Gottes Zukunft ist als ständige Zukunft und nur so jeder Zeit gegenwärtig. Oder anders: Gott ist in seiner ewigen Zukunft in ' ständiger Neuheit'119 gegenwärtig. 2. Indem Gottes Ewigkeit als Zukünftigkeit zu denken ist, kann deutlich werden, inwiefern Gott in der Tat des Glaubens - im Akt der Entscheidung ankommen kann. Das Dasein versteht sich in der Tat des Glaubens wesentlich aus der Zukunft. Das Dasein ergreift im Augenblick eine zukünftige Möglichkeit seiner selbst. Entsprechend zu seiner Absicht, den Glauben als wahrhaftes Selbst- und Weltverständnis des Menschen zu erweisen und d.h. "das Dasein unter der Offenbarung in Kontinuität... mit dem Dasein ohne die Offenbarung"120 zu entwickeln, entwirft Bultmann das Bild einer Kompatibilität des menschlichen Selbstverhältnisses zum Wesen Gottes. Indem die Ankunft Gottes als seine ständige Zukünftigkeit vorgestellt wird, kann Gottes Zukunft auch die Zukunft jedes Augenblickes sein. Als Zukünftigkeit geht die Ankunft Gottes in keinem Augenblick auf. Denn es gilt, daß die Offenbarung "der Geschichte als ständige Zukunft" gegenübersteht.121 "So gesehen ist Bultmanns Konzeption von Offenbarung ein Zusammenwirken von ontologischem Existential und seiner theologischen Intention. Und es ist die Zeitlichkeit, die für die so verstandene zukommende Gegenwart und Jenseitigkeit Gottes in Bultmanns Theologie verantwortlich ist."122 Als ständige Zukünftigkeit wird Gottes Ewigkeit deshalb entworfen, weil der Gottesbezug des Menschen nur so als ein Selbstverständnis des Menschen, der sich wesentlich aus Zukunft versteht, vorgestellt werden kann. Denn es gilt für Bultmann mit Heidegger als ausgemacht, daß das Dasein der freie Entschluß zu seinen eigenen zukünftigen Möglichkeiten ist. 3. Die Zukünftigkeit Gottes muß zugleich als Ewigkeit, d.h. als seine ständige Jenseitigkeit entworfen werden. Nur als jenseitige und d.h. für Bultmann ewige Zukünftigkeit ist die Zukünftigkeit Gottes die Möglichkeit jeder Existenz zu jedem Zeitpunkt. Deswegen ist der Glaube im Ergreifen des Kerygmas "ständig am Ende der Zeit".123 Die Betonung der Jenseitigkeit der Zukunft Gottes ist ebenso eine Konsequenz aus der konkreten Bestimmung der Zeitlichkeit. In der Offenbarung "begegnet die Wirklich-
119 AaO.472 120 Bultmann, Enzyklopädie 89 (im Text kursiv gedruckt) 121 Bultmann, JK 377 122 M. Lili, Zeitlichkeit und Offenbarung: ein Vergleich von M. Heideggers 'Sein und Zeit' mit R. Bultmanns 'Das Evangelium des Johannes', 1987, 266 123 Bultmann, JK 448
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keit, die jenseits von Welt und Zeit liegt"124, weil sie nur so jeder Zeit gegenwärtig sein und jede Zeit erreichen sowie verändern kann. "Das eschatologische Geschehen ist aber jedem Glaubensakt immer schon voraus, es ist immer schon das 'Jenseits' der zukommenden Präsenz, das der Glaubende im Entschluß 'einholen' muß. Nur so ist über die Zeit entschieden, da der Glaubende in der Entscheidung aus der jenseitigen Gegenwart Gottes in Jesus Christus lebt."125 Die Einsicht in die Ewigkeit der Zukunft Gottes sichert das Selbstverständnis des Glaubens als Tat des Augenblicks und sein Selbstverständnis als Ergriffenwerden durch die Offenbarung; der Entwurf der Zukünftigkeit Gottes als seine Jenseitigkeit entspricht damit dem Verständnis des Glaubens als 'Befreimig' von sich selbst und seinem Wunsch nach unmittelbarer Selbstverwirklichung. Die ewige Zukünftigkeit Gottes bleibt so die ständige Möglichkeit des sich selbst verstehenden Daseins im glaubenden Verzicht auf seine eigene Selbstbegründung. 4. Als seine Zukünftigkeit aber bleibt die Ewigkeit Gottes zugleich die uneinholbare Möglichkeit des Daseins. Das bedeutet: als ständige Zukunft bleibt die Zukunft Gottes ständige Forderung für den Augenblick, der je und je entsprochen werden kann, der im Akt des Glaubens entsprochen ist, die dem Dasein aber sogleich wieder als Forderung gegenübertritt. Dementsprechend entwickelt Bultmann aus dem Verständnis der jenseitigen Zukünftigkeit Gottes den 'doppelten Aspekt' der neutestamentlichen Eschatologie - im Begriff des 'erfüllten Hoffens'.126 Das bestimmt "das Leben in seiner geschichtlichen Bewegtheit"127 zwischen Erfüllung und Hoffnung. Der Glaube wird entworfen als die ständige Wiederholung des tätigen Ergreifens der ewigen Zukunft. Die Zukünftigkeit Gottes wirkt im Augenblick. Sie wird darin in Entsprechung zum Verständnis der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins entworfen. Bultmann hat damit, so kann zusammenfassend konstatiert werden, die Eigentlichkeit mit dem geschichtlichen Augenblick identifiziert. Die Erschließung der Zukunft im Glauben findet in einem 'jähen Sprung' 'auf das Ende hin' statt, dessen Zeit-überwindende und die menschliche Lebenszeit bestimmende Kraft kaum deutlich zu machen ist.
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AaO. 16 Lill, Zeitlichkeit und Offenbarung, 269 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 19583, 279, 324ff„ 332ff. Bultmann, Theologie, 325
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Gottes Ankunft in der Zeit wird so entgeschichtlicht bzw. auf den wiederholbaren Akt der Selbstvergewisserung des Glaubens begrenzt. Die Reduktion der Eigentlichkeit auf den Augenblick läuft darin zugleich Gefahr, den "indikativischen Charakter der christlichen Verkündigung zugunsten des appellativen Moments zu vernachlässigen".128 Das Dasein wird der Spaltung von Zeit und Ewigkeit im Akt des Glaubens gewiß und sieht sich zugleich unter die Forderung gestellt, sich selbst auf die ewige Zukünftigkeit Gottes hin zu entwerfen. Darin denkt Bultmann die Ewigkeit letztlich als Selbstvergewisserung des gläubigen Subjekts. Damit vollzieht er zugleich die Rückführung der Ewigkeit Gottes auf die Zeitlichkeit des Menschen mit, wie sie Heidegger durchgeführt hat. So bleibt fraglich, ob Bultmanns Programm, das an der Herausarbeitung der wesentlichen Zukünftigkeit des Glaubens und damit daran interessiert ist, die Beziehung des Daseins auf die Zukunft Gottes als die Wahrheit menschlichen Lebens zu entwerfen, gelungen ist. Denn die Zeit der Glaubensentscheidung wird verabsolutiert gegenüber dem Ereignis, auf das sich der Glaube hoffend bezieht. "Die Ständigkeit der Gestalt der Heilstat Gottes wird" von dem ständig wiederholten Akt der Selbstvergewisserung des gläubigen Daseins "aufgesogen".129 So ist bei Bultmann letztlich die Zeit vorgestellt als die Form und Verfassung des Daseins, die seine Selbstabschließung, sein 'Sich-selbst- überlassen-Sein' manifestiert. Gewiß, Bultmann will die Zukünftigkeit des menschlichen Daseins und des Glaubens betonen. Aber am Ende steht bei ihm die 'Leere' des von der ständig neuen Forderung des Augenblicks überforderten Daseins, das sich in der Konfrontation mit dieser Forderung trotzig selbst behaupten muß.
128 Jiingel, Glauben und Verstehen, 71 129 C.H. Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems, in: ZThK 51 (1954), 360ff., 384
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ΠΙ. Die Heideggersche Kehre als Herausforderung für die Theologie 1. Die Ablösung der Zeit von der Ewigkeit - Ein Rückblick Die Analyse von 'Sein und Zeit' führte uns zu dem Ergebnis, daß sich in der Heideggerschen Daseinsanalyse die endgültige Ablösung des Zeitverständnisses von dem Gedanken der Ewigkeit vollzieht. 'Zeitlichkeit' meint nicht die Abhängigkeit des endlichen Daseins von einem - wie auch immer zu deutenden - 'Gegenüber' seiner selbst, sondern manifestiert die Selbstständigkeit des menschlichen Lebens. Das Dasein ist in seiner zeitlichen Verfassung in der Lage, sich selbst Ständigkeit in der Zeit zu verleihen. Der Begriff und Gedanke der Ewigkeit werden aber nicht einfach 'aufgegeben', sondern erfahren eine existentiale Erklärung. Die Behauptung einer der Zeitlichkeit gegenüberstehenden ständigen Ewigkeit (Gottes) erwächst - so wird nun erklärt - der Flucht des Daseins vor sich selbst und seinen ureigensten Möglichkeiten. Es ist also die Zeitlichkeit, die die Ganzheit des Daseins aus sich selbst ermöglicht. Kraft seiner zeitlichen Erstrecktheit vermag das Dasein seine Ganzheit eigentlich zu sein. Darin sieht Heidegger bestätigt, daß die Zeitlichkeit des Daseins die ursprüngliche Zeit ist. In der Möglichkeit des vorlaufenden Zurückkommens auf sich selbst im Augenblick ist dem menschlichen Leben seine zeitliche Erstreckung in ihrer Ganzheit ungeteilt präsent. So erfahren die Ekstasen der Zeit in der Einheit der Zeitlichkeit eine ursprüngliche Erklärung. Es ist deutlich, daß deijenige Ewigkeitsbegriff, der von Boethius klassisch formuliert wurde und der die Ewigkeit als unverbrüchlichen und gleichzeitigen Selbstbesitz des ganzen Lebens denkt - "aetemitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio"1 - , im Hintergrund der Heideggerschen Ausführungen steht. Dieser Gedanke, daß die Ewigkeit die Selbstmächtigkeit und den Selbstbesitz des Wesens kennzeichnet, dem sie als Eigenschaft zukommt, ist der Hintergrund, auf dem der Heideggersche Begriff der Zeitlichkeit sein Profil erfahren kann. Insofern ist die Deutung, daß die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' auch hinsichtlich der positiven Bestimmungen, die das Dasein in ihr erfährt, 'säkularisiertes Christentum' ist, nicht vollends von der Hand zu weisen.2 1 Boethius, Philosophiae Consolationis libri V, Buch V, 5f., CC, SL XCIV, 101 2 Jonas, Heidegger und die Theologie, in: EvTh 24 (1964), 621ff„ 624; Heidegger selbst hat diese Deutung als "letzte Verirrung" bezeichnet (M. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmaricen, 19782,324). Allerdings bezieht sich dieses Urteil beim genaueren Hinsehen auf die Behauptung, 'Sein und Zeit' denke 'Existenz' als 'Essenz' im Sinne der metaphysischen Tradition. So interpretiert Löwith in der Tat Heideggers 'Sein und Zeit'.
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Im Gedanken des seine Ganzheit je und je erzeugenden Daseins wird der theologische Ewigkeitsbegriff in das endliche Subjekt hineingeholt. Darin wird aber zugleich das theologische Verständnis der Zeit in ihrem Gegenüber zur Ewigkeit endgültig verabschiedet. Dieses Verständnis rückt gleichsam in das endliche Subjekt als eine bestimmte - und zwar uneigentliche Verfassung seiner selbst ein und kann so aus der Zeitlichkeit des Daseins 'erklärt' werden. Das ist der konsequente Prozeß der Verendlichung der Zeit, von dem Löwith im Blick auf 'Sein und Zeit' gesprochen hat. Den Versuch Heideggers, die mögliche Ganzheit des Daseins in seiner zeitlichen Verfassung aus ihm selbst und seinen eigenen Möglichkeiten zu denken, mußten wir als gescheitert betrachten. Darauf weist nicht nur die sogenannte 'Kehre' Heideggers selbst hin - wobei dahingestellt bleiben kann, ob 'Sein und Zeit' gerade in der Absicht geschrieben wurde, das Scheitern des Daseins in seiner Selbstbegründung aufzudecken3 - , sondern auch die immanente Argumentation Heideggers in 'Sein und Zeit'. Die mögliche Ganzheit bleibt dem 'Heideggerschen Dasein' immer in einem schlechten Sinne zukünftig - sein bloßes 'Noch-nicht' - , weil das Dasein in sich selbst die unaufhebbare Tendenz zur Verfallenheit bzw. zur 'zeitlichen Zerstreuung' hat. Das zentrale Anliegen von 'Sein und Zeit', die Ganzheit des Daseins in den Daseinsvollzug hineinzuholen, wird durch den Gang der Argumentation nicht eingelöst. Am Ende des Buches steht u.E. das an seiner 'Aufgabe' verzweifelnde Dasein, das alle Brücken um sich herum abgebrochen hat. Der Versuch, die Daseinsanalyse Heideggers als Fundament einer zeitgemäßen und wissenschaftlichen Theologie in das 'innere Sanktum'4 der Theologie hineinzulassen, kann sich wohl auf Heidegger berufen5, mußte von uns mit größter Skepsis betrachtet werden. Denn er führt in eine unannehmbare Reduktion des Themas der Theologie und vor allem des Selbstverständnisses des Glaubens. Heidegger hat nach 'Sein und Zeit' eine viel diskutierte Wandlung in seinem Denken 'durchgemacht'. Die sogenannte Heideggersche Kehre kann hier in ihren Aspekten nicht zur Diskussion kommen. Bestimmt ist die Diskussion um diese Kehre nach wie vor durch den Beitrag von W. Schulz. Für Schulz ist die Kehre des Heideggerschen Denkens, die er als kontinuierlichen Gedankenfortschritt Heideggers von 'Sein und Zeit' aus in diesem 3 So Schulz, Ort Heideggers, 98f., 116 u.ö., sowie Pöggeler, Denkweg, der den Denkweg Heideggers als einheitlichen beschreibt. 4 So Jonas, Heidegger, 631 5 Vgl. Heidegger, SuZ 10, 306 u.ö. 6 Vgl. Schulz, aaO. 116f.
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Frühwerk schon angelegt sieht6, darin zu sehen, daß das endliche Subjekt seinen Selbstbehauptungswillen aufgibt, weil es um sein Scheitern in dem Versuch der 'Selbstgründung' weiß.7 Ist diese Kennzeichnung richtig, so liegt in der Tat im Heideggerschen Denken eine Kontinuität hinsichtlich der es leitenden Fragestellung vor. Diese Kontinuität hat Heidegger selbst immer wieder betont und in Anspruch genommen.8 Die Deutung der Kehre durch Schulz als Entschluß zum Verzicht auf Selbstbegründung des endlichen Subjekts liegt auf der Linie der Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit', wo das Dasein als 'Inbegriff' seiner eigenen Möglichkeiten gedacht wurde. So wie das eigentliche Dasein in 'Sein und Zeit' dadurch bestimmt ist, daß es ganz und eigentlich sein will, so kommt es nun darin zu seiner Bestimmung, daß es auf seine Selbstbehauptung verzichtet. Das Dasein bleibt wie dort dasjenige Seiende, das sich selbst absolut will bzw. nicht will. Das 'demütige' Denken des späteren Heidegger könnte nach dieser Beurteilung von Schulz in der Tat nur bedingt als eine fundamentale Kehre gegenüber dem 'transzendentalen' Ansatz in 'Sein und Zeit' angesehen werden. Es ist eben das Dasein selbst, das sich zum Verzicht entschließt, das sich selbst ins Sein ruft. Der Dezisionismus bleibt nach dieser Deutung das 'Durchgängige' in Heideggers Philosophie und macht das Ärgernis aus, das vor allem die Spätphilosophie Heideggers für die philosophische Wissenschaft ohne Zweifel darstellt.9 Denn Heidegger ruft in seiner Spätphilosophie die Philosophie überhaupt in ein Denken, "das strenger ist als das begriffliche".10 Die Deutung der Heideggerschen Kehre durch Schulz kann sich auf diejenigen Passagen im Heideggerschen Spätwerk berufen, in denen Heidegger selbst sein späteres Denken in Kontinuität zu 'Sein und Zeit' sieht. "Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das Sein."11 In diesem Selbstzeugnis kennzeichnet Heidegger seine Früh- und seine Spätphilosophie als die beiden sich entsprechenden Seiten seines Seinsdenkens. Die Analyse des Daseins zeigt danach den Weg zur Seinsfrage, indem
7 Vgl. aaO. 116 8 Vgl. Heidegger, Wegmaiken, 198f. und 325 9 Vgl. z.B. die Beiträge im Heft 23 der Neuen Hefte für Philosophie (Hg. R. Bubner u.a.), 1984 10 Heidegger, Humanismusbrief, aaO. 353 11 Zur Selbstdeutung Heideggers vgl. besonders M. Heidegger, Die Technik und die Kehre, 1962; Zur Sache des Denkens, 19762; Was ist Metaphysik?, 1975 "(besonders das Nachwort der 4.Auflage und das Vorwort der 5.Auflage); Zitat hier nach Humanismusbrief, aaO. 334
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es das Dasein als dasjenige Seiende aufdeckt, das schon immer Seinsverständnis hat. Das Seinsandenken der Spätphilosophie seinerseits macht deutlich, daß der Selbstentwurf des Daseins keine Leistung der Subjektivität ist, sondern auf die 'Lichtung de Seins', nach dem es fragt, angewiesen ist. "Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hinaus-stehen in die Wahrheit des Seins."12 Das oben zitierte Selbstzeugnis Heideggers impliziert aber auch, daß der Weg zum Sein über die Analyse des zeitlichen Daseins für sich nicht gelingt und zum Ziel kommt. Die Daseinsanalyse kann in diesem Sinne nicht als das Fundament angesehen werden, auf das die spätere 'Seinsrede' aufbaut.13 Die Deutung von Spät- und Frühphilosophie als den beiden - sich entsprechenden - Seiten des Heideggerschen Denkens geht ganz offensichtlich nicht so glatt auf, wie es Heidegger selbst oftmals suggeriert. Der Heideggersche Denkweg impliziert auch eine Selbstkorrektur des Denkers. Grundkategorien der Spätphilosophie sind so gefaßt - darauf wird noch zurückzukommen sein - , daß sie eine Begründung durch das 'reflexive' Denken nicht vertragen. Dem Ereignis der Lichtung des Seins vermag das Denken nur zu entsprechen, nicht aber entgegenzudenken. In diesem Zusammenhang gehören dann die Selbstdeutungen Heideggers, in denen sich Heidegger in radikaler Abkehr von der Philosophie der Subjektivität sieht, der 'Sein und Zeit' noch bedingt verpflichtet war.14 Dem Versuch von 'Sein und Zeit', den Zugang zum Sein über die Daseinsanalyse freizulegen, mochte Heidegger später wegen der unzureichenden Sprache, die diese der metaphysischen Tradition noch zu sehr verpflichtete Analyse spricht, nicht mehr fortsetzen. Es hatte sich gezeigt, daß der Weg von 'Sein und Zeit' nur ins Nichts führen konnte. Diese gewisse Selbstkorrektur, die die Heideggersche Kehre trotz aller Kontinuität, die die Spätphilosophie mit dem Denken von 'Sein und Zeit' verbinden mag, kennzeichnet, hat auch Konsequenzen für den Zeitbegriff. Die sollen im folgenden kurz aufgedeckt werden. Die Kürze unserer Darstellung rechtfertigt sich an dieser Stelle dadurch, daß der Zeitbegriff des späten Heidegger - wenn er überhaupt so beurteilt werden kann, daß Heidegger in ihm das Zeitphänomen begrifflich zu fassen versucht - der beschriebenen Ablösung der Zeit von dem Gedanken der Ewigkeit - und um die Darstellung dieses Sachverhaltes ging es uns im Blick auf die Heideggersche Philosophie nichts hinzufügt.
12 Heidegger, Humanismusbrief, aaO. 324 13 Vgl. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag 'Zeit und Sein' (Protokollant A. Guzzoni), in: M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, aaO. 34 14 Vgl. Tugendhat, Wahrheitsbegriff 377ff.
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2. Die Neufassung des Zeitbegriffs auf dem Hintergrund der Kehre des Heideggerschen Denkens Die Heideggersche Kehre wird zumeist - entsprechend dem Selbstzeugnis Heideggers - in dem Zusammenhang des Wahrheitsvortrages von 1930 angesiedelt.15 Die Kehre manifestiert sich in diesem Vortrag in der Verlagerung von der Wahrheit als Erschlossenheit des Daseins zur Wahrheit als Ankunft des Seins.16 Die Veröffentlichung der Vorlesung Heideggers aus dem Jahre 1927 mit dem Titel 'Die Grundprobleme der Phänomenologie' hat gezeigt, daß Heidegger schon früher - und zwar im Blick auf das Phänomen der Zeit einen ersten Versuch unternommen hat, "eine gewissen Einblick in das Denken der Kehre von 'Sein und Zeit' zu 'Zeit und Sein'"17 zu geben. Heidegger selbst hat im Zusammenhang dieser Vorlesung mehrfach darauf verwiesen, daß er in ihr einen ersten Versuch sieht, den in 'Sein und Zeit' fehlenden dritten Abschnitt des ersten Teils18, der dort unter dem Titel 'Zeit und Sein' schon angekündigt worden war, nachzuliefern.19 So besteht für den Herausgeber dieser Vorlesung dann auch kein Zweifel daran, daß sie die "zentrale Thematik des dritten Abschnittes des ersten Teiles von 'Sein und Zeit' zur Ausführung (bringt): Die Beantwortung der die Daseinsanalytik leitenden fundamentalontologischen Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt durch den Aufweis der 'Zeit' als des Horizontes alles Seinsverständnisses".20 Soll diese Vorlesung erklärtermaßen über 'Sein und Zeit' hinausgehen, so kann sie bei der Analyse der Zeit als dem Horizont des Seinsverständnisses nicht stehenbleiben; die Zeit muß darüber hinaus als Horizont des Seins selbst - mit der Frage nach der Möglichkeit dieses Unterfangens Schloß 'Sein und Zeit'21 - aufgedeckt werden. Zu der Einsicht in die Zeit als Horizont des Seins Verständnisses gelangte schon 'Sein und Zeit'. So wird denn unsere kurze Analyse dieser Vorlesung von 1927 auch zeigen, daß Heidegger in ihr den ersten Versuch unternimmt, die Zeit als "Vorname für die allererst zu erfahrende Wahrheit des Seins"22 zu denken. 15 Vgl. Schulz, aaO. 113 und Pöggeler, Denkweg 90ff. 16 Die ausfuhrliche Darstellung dieser Kehre findet sich bei Tugendhat, Wahrheitsbegriff 365ff. 17 Heidegger, Humanismusbiief, aaO. 325 18 Vgl. Heidegger, SuZ 39 19 Vgl. Heidegger, Band 24, 324f.; vgl. auch Heideggers Randbemerkungen zu seinem Vortrag 'Vom Wesen des Grundes', zitiert bei Heinz, Zeitlichkeit und Temporalità 166 20 F.W. v. Herrmann, Nachwort zu Band 24 der Heideggerschen Gesamtausgabe, aaO. 472f. 21 Heidegger, SuZ 437 22 Heidegger, Einleitung zur 5. Auflage von 'WiM?', aaO. 18
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a) Heideggers Vorlesung vom SS 1927 Worin geht also diese kurz nach der Beendigung von 'Sein und Zeit' gehaltene Vorlesung über die Daseinsanalyse hinaus? - diese Frage leitet unsere Interpretation dieser Vorlesung. Sie wird aufzudecken haben, daß Heidegger in seiner Vorlesung nicht nur die Zeitlichkeit als Seinsverfassung des Daseins und somit die Zeit als Horizont des Seinsverständnisses herausarbeitet, sondern darüber hinaus die temporale Bestimmtheit des Seins als Bedingung für die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit klarzumachen versucht. Dabei setzt diese Vorlesung aber nicht bei dem Ende des zweiten Abschnitts des ersten Teiles von 'Sein und Zeit' ein, sondern nimmt einen neuen, geschichtlichen Anlauf zur Herausarbeitung der Temporalität des Seins. Der Aufweis der grundsätzlichen Temporalität des Seins soll die Heideggersche Behauptung stützen, das Sein sei in der Geschichte der Philosophie immer zeitlich gedacht - und zwar notwendigerweise, weil das Sein temporal ist. Darin blickt diese Vorlesung von 1927 zusammen mit dem Kantbuch von 1929 auf die mögliche Fassung des geplanten zweiten Hauptteiles von 'Sein und Zeit' voraus, der darauf abzielt, die temporale Interpretation des Seins im Verlauf der Geschichte der Philosophie zu zeigen.23 So geht diese Vorlesung von 1927 zumindest programmatisch über den vorliegenden Teil von 'Sein und Zeit' hinaus. Der Begründungszusammenhang zwischen Daseinsanalyse und Seinsfrage, wie er in 'Sein und Zeit' vorgestellt wurde, wird in der Vorlesung umgekehrt. Wurde in 'Sein und Zeit' die Herausarbeitung der Temporalität des Seins vor die philosophiegeschichtlichen Erwägungen gestellt, so beginnt die Vorlesung mit dem ausführlich vorgetragenen Nachweis, daß die Frage nach dem Sinn von Sein einer ursprünglichen Aneignung der abendländischen Überlieferung entspringt und nicht bloß einer 'existenzphilosophischen' Fragestellung. Im Blick auf den Zeitbegriff kommt die Vorlesung zu folgenden vorläufigen Gesichtspunkten: - Die Analyse der Zeitlichkeit des Daseins führt nicht nur zur Aufhellung des Seinsverständnisses das Daseins, sondern zum Einblick in das Sein selbst. Das Sein muß aus der Zeit verstanden werden.24
23 Vgl. Heidegger, SuZ 39f. 24 Heidegger, Band 24, 22
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- Der Nachweis, daß die Zeit in der Tat der Horizont des Seins ist - also dasjenige Phänomen, aus dem allein das Sein verstanden werden kann - , muß in eine doppelte Richtung geführt werden. Einmal gilt es zu zeigen, daß das Semsverstehen temporal sich vollzieht. Diesen Nachweis unternimmt Heidegger in der Vorlesung durch eine geringfügig erweiterte Wiederholung der Analyse von 'Sein und Zeit'. Zum zweiten ist gefordert, daß die Temporalität des Seins selbst in den Blick kommt. Letzteres vollzieht sich in der Vorlesung so, daß Heidegger klassische Deutungen des Seinsbegriffs auf die in ihnen gedachte Temporalität hin analysiert. Exemplarisch nehmen wir nur die Analyse der Kantischen These über das Sein heraus. Diese These liegt für Heidegger in der Behauptung Kants, Sein sei kein reales Prädikat eines Gedachten.25 Diese These Kants impliziert nach Heidegger die Auffassung, 'Sein' drücke bloß die Position eines Gedachten aus und d.h. das Verhältnis des Gedachten zum denkenden Subjekt.26 Bekanntlich spielt diese These Kants über das Sein eine entscheidende Rolle im Zusammenhang der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises.27 Heidegger interpretiert diese These Kants in dem Sinne, daß sie, indem Kant das Sein im Verhältnis zum wahrnehmenden Subjekt denke, das Sein in der Nähe zur Offenbarung' denke.28 Allerdings hat Kant selbst nicht die Gründe dafür ausgemacht, warum das Sein so im Verhältnis auf das wahrnehmende Subjekt bestimmt werden kann. Kant hat hier wie anderswo seine Ahnungen leider nicht konsequent verfolgt. Die Ahnung Kants liegt aber darin, daß er die temporale 'Verfassung' des Seins, wonach es als die ursprüngliche Offenheit zu denken ist, in der das Subjekt immer schon steht, wenn es seine 'Umwelt' erobert und bestimmt, implizit vorweggenommen hat.29 Der umfassende zweite Teil der Vorlesung soll nun den Nachweis führen, daß die Analyse des Daseins selbst dazu führt, das Sein aus der Zeit verstehen zu können und zu müssen. Mit anderen Worten: es geht darum, die Zeitlichkeit des Daseins in die Temporalität des Seinsverstehens zu überführen. Dieses Unternehmen führt Heidegger folgendermaßen durch:
25 26 27 28 29
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
aaO. 54ff. aaO. 67 I. Kant, Kritik d.r.V., Β 628 Heidegger, Band 24, 67ff. aaO. 77ff.
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- Kraft seiner zeitlichen Grundverfassung ist das Dasein seinsverstehend (§ 19).30 Die Zeitlichkeit erweist sich dabei als ursprüngliche Zeit. Diese Behauptung verifiziert sich an der Interpretation der die Geschichte der Philosophie bis heute bestimmenden Zeitbestimmung des Aristoteles. Diese nämlich bestimmt Zeit durch Zeit und impliziert darin eine Rückführung der Zahlzeit auf eine ursprünglichere Zeit. Diese ursprüngliche Zeit liegt in der Zeitlichkeit des Daseins vor. "Wer diese Zusammenhänge einmal gesehen hat, muß gerade fordern, daß in der Zeitdefinition die Herkunft der vulgär verstandenen, d.h. der nächstbegegnenden Zeit, aus der Zeitlichkeit an den Tag kommt."31 - Diese Aristotelesinterpretation muß nun untermauert werden durch den Nachweis, daß sich die 'vulgäre' Zeit, d.h. die als Folge der Jetzte gedachte Zeit, in der Tat zurückführen läßt auf eine ursprünglichere Zeit. Dieser Nachweis kann nur phänomenologisch erbracht werden (§ 20)32, und zwar durch den Aufweis der ekstatischen Erstrecktheit des Daseins. Dadurch wird deutlich, daß alle Zeitmomente in der Zeitlichkeit des Daseins eine ursprüngliche Einheit haben. - Drittens wird nun zu verdeutlichen versucht, daß das Sein aus der Zeitlichkeit des Daseins wirklich verstanden wird. Die Momente des Daseinsvollzuges - Verstehen, Entwurf, Geschichtlichkeit usw. - sind nur temporal letztlich verständlich. Als temporale Bestimmung implizieren diese Momente die Bezogenheit des Daseins auf einen Horizont, auf ein 'Wohin'. Das Dasein bestimmt sich im Blick auf einen 'Sinn'. Als Grundsatz aber gilt: "Die Grundbedingung für die Erkenntnis von Seiendem sowohl wie für das Verstehen von Sein ist: das Stehen in einem erhellenden Licht, ohne Bild gesprochen: irgend etwas, woraufhin wir im Verstehen das zu Verstehende entworfen haben. Das Verstehen muß selbst das, woraufhin es entwirft, als Enthülltes irgendwie sehen."33 So ist das Dasein bestimmt durch ein Verstehen von Sein. - Viertens führt Heidegger nun die Unterscheidung zwischen Zeitlichkeit und Temporalität konsequent durch.34 Temporalität wird dabei bestimmt als das Verstehen von Sein aus der Zeit. "Sein wird aus der Zeit verstanden und begriffen. Wenn die Zeitlichkeit als solche Bedingung fungiert, nennen wir sie Temporalität."35 "Temporalität ist die ursprünglichste Zeitigung der Zeitlichkeit als solcher."36 30 31 32 33 34 35 36
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Vgl. aaO. 324ff. AaO. 342 Vgl. aaO. 389ff. AaO. 402 Vgl. Band21,429ff. Vgl. Band 24, 389 AaO. 429
Die Funktion dieser Unterscheidung liegt darin, das Verstehen von Sein von dem vorontologischen Seinsverstehen, das das Dasein schon immer kennzeichnet, abzusetzen. Das hat zur Folge, daß die ekstatische und einheitliche Zeitlichkeit auf eine wiederum ursprünglichere Zeitigungsweise zurückgeführt werden muß. Diese ursprünglichere Zeitigungsweise ist der Horizont, auf den hin sich Dasein entwirft. Die Offenheit dieses Horizontes wird nun als Bedingung dafür ausgegeben37, daß das Dasein sich in seiner Zeitlichkeit auf einen Horizont hin entwerfen kann. Über die Temporalität des Sein kommt es erst zum Seins-verstehen des zeitlich verfaßten Daseins. Die Vermittlung zwischen Sein und Zeitlichkeit leistet die Temporalität des Seins in der Form zeitlicher Schemata, die die allgemeinen Bedingungen angeben, durch die sich die Zeitlichkeit des Daseins entfalten kann.38 So ist das Schema beispielsweise der ekstatischen Gegenwart die Präsenz als die temporale Bedingimg des Seins, vermittels derer dem Dasein überhaupt etwas begegnen kann. Die Begründung für diese Unterscheidung zwischen Präsenz und Gegenwart lautet folgendermaßen: "Als Entrückung zu ... ist die Gegenwart ein Offensein für Begegnendes, das somit im vorhinein auf Präsenz hin verstanden ist".39 Die Unterscheidung zwischen Präsenz und Gegenwart also macht darauf aufmerksam, daß dem mit zunehmendem Zeug umgehenden Dasein Seiendes überhaupt zugänglich gemacht werden muß, damit es Zuhandenes gebrauchen kann. Diese Zugänglichkeit des Seienden nennt Heidegger Offenheit des Sein. "Sein verstehen wir demnach aus dem ursprünglichen Schema der Ekstasen der Zeitlichkeit."40 Heidegger selbst deutet die Undurchsichtigkeit und Unklarheit der Unterscheidung zwischen Zeitlichkeit und Temporalität mehrfach an41 und sieht selbst das Problem einer Rückführung der Zeitlichkeit auf die Temporalität des Seins mit der Gefahr eines 'regressus in infinitum'.42 Daß Heidegger aber diese Unterscheidung überhaupt einführt und trotz ihrer Unklarheit beibehalten möchte, zeigt u.E., daß er schon hier den Weg des sich kehrenden Denkens beschritten hat. Denn die ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit ist ihm in dieser Vorlesung nicht mehr wie in
37 38 39 40 41 42
Vgl. aaO. 460 Vgl. aaO. 43Iff. AaO. 436 Ebd. Vgl. aaO. 437 Vgl. ebd.
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'Sein und Zeit' noch das ursprünglichste Phänomen der Zeit. Sondern es verlangt ihn nach der Rückführung dieser Einheit des sich in seiner zeitlichen Verfassung erschlossenen Daseins auf eine vorgängige Zeitigungsweise (des Seins). Das mag nicht zuletzt daran deutlich werden, daß die Todesanalyse, die im Blick auf die Ganzheit des Daseins in 'Sein und Zeit' noch eine entscheidende Rolle spielte, in dieser Vorlesung keine Erwähnung mehr findet. So zeigt diese Vorlesung doch zumindest eine - allerdings Heidegger selbst unklare - Absetzbewegung von 'Sein und Zeit'. Diese Absetzbewegung manifestiert sich in der ständig wiederholten These, das Sein sei in der Geschichte der Philosophie immer temporal gedacht.
b) Die Rückführung von 'Zeit' und 'Sein' auf den Begriff 'Ereignis' Einen Anlauf zur präzisen Bestimmung der 'Zeit' im Zusammenhang des Seinsdenkens unternimmt Heidegger in einer seiner letzten Veröffentlichungen.43 Mit dem Vortrag 'Zeit und Sein' will Heidegger den Kreis des Denkens von 'Sein und Zeit' zu 'Zeit und Sein' schließen. Aber auch dieser Vortrag gibt nur Andeutungen und Fingerzeige. Die Bedeutung des Zeitbegriffs im Zusammenhang desjenigen Denkens, das strenger sein will als das bloß begriffliche, läßt sich so nur andeutungsweise erhellen. Folgende Momente lassen sich aus dem Vortrag hinsichtlich der Bestimmung der Zeit entwickeln. - Die Bestimmung des Seins als Anwesen weist auf die temporale Struktur des Seins und so auf die Zeit. Die Bestimmung des Seins als Anwesen(heit) ist nach Heidegger so alt wie das begriffliche Denken.44 In der Ausdrücklichmachung dieser Bestimmung löst sich nur ein, was alles Philosophieren bislang unausgesprochen leitete. Die Zeit weist in der Ständigkeit ihres Vergehens auf das Sein. "Sein und Zeit bestimmen sich wechselweise."45 - Sein und Zeit sind nicht kategorisierbar. "Sein - eine Sache, aber nichts Seiendes. Zeit - eine Sache, aber nichts Zeitliches."46 Sein und Zeit sind so strenggenommen keine Worte unserer Sprache, sondern 'Gegenstand' unmittelbarer Einsicht. - Die ursprüngliche Zeit ist vorgängig gegenüber den zeitlichen Ekstasen der Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Die ursprünglich erfahrbare
43 44 45 46
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Vgl. M. Heidegger, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Iff. Vgl. aaO. 6f. AaO. 3 AaO. 4
Zeit schafft die Einheit der zeitlichen Ekstasen. Die Einheit der Ekstasen, die in 'Sein und Zeit' noch als 'Leistung' des entschlossenen Daseins beschrieben wurde, wird nun als vierte Dimension der Zeit bezeichnet und so aus der Verfügung des Daseins herausgenommen.47 "Vielmehr beruht die Einheit der drei Zeitdimensionen in dem Zuspiel jeder für jede. Dieses Zuspiel erweist sich als das eigentliche, im Eigenen der Zeit spielende Reichen, also gleichsam als die vierte Dimension - nicht nur gleichsam, sondern aus der Sache."48 So kann Heidegger jetzt formulieren: Die Zeit "hat den Menschen als solchen schon so erreicht, daß er nur Mensch sein kann, indem er innesteht im dreifachen Reichen und aussteht die es bestimmende verweigerndvorenthaltende Nähe."49 - Die Zeit beschreibt so das 'Woraufhin' (Entwurf) und das 'Woher' (Geworfenheit) des Daseins und weist in eine ursprünglichere Bestimmung des Menschen als sie 'Sein und Zeit' vornahm. - Die 'Sicherung' der Nichtobjektivierbarkeit von 'Sein' und 'Zeit' erfolgt durch ihre 'Zurückführung' auf den Begriff des Ereignisses. Im Ereignis sind Zeit und Sein so gedacht, daß sie schlechthin durch sich selbst bestimmt sind. "Im Schicken des Geschickes von Sein, im Reichen der Zeit zeigt sich ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes. Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d.h. in ihr Zusammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis."50 Im Begriff des Ereignisses wird umschrieben, daß sich Zeit und Sein dem Zugriff des Denkens entziehen. Ereignis ist selbst kein Sein und nichts Zeitliches mehr. 'Ereignis' umschreibt, daß das Dasein auf die Schickung von 'Zeit' und 'Sein' warten muß. So bleibt Heidegger am Ende seines Denkweges nur, "vom Selben her auf das Selbe zu" immer nur das Selbe zu sagen.51
47 48 49 50 51
Vgl. aaO. 16 AaO. 15f. AaO. 17 AaO. 20 AaO. 24
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c) Die Zeit als 'jähe Weile' Die Zeit gänzlich aus dem (An)-Wesen des Seins zu denken, das ist die immer wieder erklärte Absicht des sich kehrenden Denkens. Das bedeutet, daß die Zeit ihre Bestimmung nicht mehr unmittelbar aus sich selbst erfahren kann, sondern nur aus dem Seinsgeschehen. Das Sein geschieht je und jäh als die aus der Verborgenheit hervortretende Offenheit des Seienden.52 So ist die gänzlich aus dem Sein zu denkende Zeit bestimmt als 'Blitz', als 'Augenblick', in dem sich das Sein lichtet53, und zugleich als die Unbewegtheit und Verborgenheit, aus der das Sein heraustritt. "Die Zeit selbst im Ganzen ihres Wesens bewegt sich nicht, ruht still."54 So kommt es zu der möglichen Bestimmung der Zeit als 'jähe Weile'.55 Mit dieser Kennzeichnung der Zeit setzt sich Heidegger in der Tat in Gegensatz zu jedem überlieferten Zeitbegriff. Denn immer wurde das Wesen der Zeit, ihre mögliche Einheit in der Zeit selbst gesucht. Noch der Gedanke der Zeitlichkeit aus 'Sein und Zeit' reihte sich in diese Versuche ein. "Mit dieser Lehre von der Zeit des sich selbst zeitigenden Seins aus der Wahrheit seines Verhältnisses hat Heidegger die Frage nach der Zeit des Seins im Unterschied zu dem sich zeitigenden Dasein und der metaphysischen Zeit des obersten Seienden eingelöst."56 Die Berechtigung für diesen Zeitbegriff hat Heidegger nicht zuletzt aus dem Seins-vergessenen Umgang des 'neuzeitlichen' Menschen mit der Technik gezogen.57 Dem sich kehrenden Denken, das darum weiß, daß das sich auf sich selbst stellende Denken in die Irre gehen muß, bleibt nach Heidegger nur noch eines übrig: das Warten auf und das Denken für die Ankunft des Seins. In diesem Zusammenhang spricht Heidegger auch mehrfach von der 'Ankunft des Gottes', die mit der Ankunft des Seins zugleich erwartet wird.58 Es sind nicht zuletzt diese Äußerungen gewesen, die H. Ott zum Anlaß nahm, in Heidegger einen verwandten Gesprächspartner einer solchen Theologie zu sehen, die sich der Offenbarung verpflichtet weiß. 52 Vgl. besonders M. Heidegger, Die Kehre, in: ders., Die Technik und die Kehre, 1962, 37ff., 43 und ders., Zeit und Sein, aaO. 3ff. 53 Vgl. Heidegger, Die Kehre, aaO. 43f. 54 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 1959, 213 55 Vgl. D. Sinn, Heideggers Spätphilosophie, in: PhR 14 (1967), 81ff„ 136f. 56 AaO. 137 57 Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 1978,4, 9ff. 58 Vgl. Heidegger, Die Kehre 46; Humanismusbrief 347f. und das Spiegel-Gespräch vom 23.9.1966 in der Ausgabe des Spiegels vom 31.5.1976 unter dem Titel 'Nur noch ein Gott kann uns retten'
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Ott konstatiert in seinem Buch 'Denken und Sein' wesentliche Vergleichspunkte zwischen einer Offenbarungstheologie und dem Heideggerschen Seinsdenken: - Wie das Denken dem Sein zu entsprechen sucht, so bezieht sich der Glaube auf die Offenbarung.59 - Offenbarungsglaube und Seinsdenken kommen von dem Verzicht auf Selbstbegründung her.60 - Die These von dem Sein als Offenheit des Seienden entspricht dem christlichen Schöpfungsglauben.61 - Die Zurücknahme des Seins in das Ereignis korreliert der Interpretation der Offenbarung als der Se/òs/offenbarung des an sich entzogenen Gottes.62 Diese und andere Änderungen Otts hinsichtlich der möglichen Verwandtschaft des Heideggerschen Seinsdenken mit einer Offenbarungstheologie Barthscher Provenienz haben vielfache Kritik gefunden.63 Uns scheint das entscheidende Manko des Buches von Ott darin zu liegen, daß der Autor übersieht, daß nach den Kriterien des Heideggerschen Denkens die theologisch verstandene Offenbarung Gottes in die Schickung des Seins eingebaut werden müßte. Der Begriff des Gevierts macht dies deutlich.64 "Ob Gott Gott ist, ereignet sich aus der Konstellation des Seins und innerhalb ihrer."65 Ein leidenschaftlicher Mahner der Theologie, ihr eigenstes Thema nicht zu verlieren, hat das entscheidende Kriterium für ein Gespräch der Theologie mit Heidegger so formuliert: "Es muß klar und unzweideutig verstanden werden, daß das 'Sein' Heideggers mitsamt der ontologischen Differenz innerhalb der Klammer ist, mit der die Theologie das Ganze der geschaffenen Welt einklammern muß".66
59 Vgl. H. Ott, Denken und Sein, 1959, 29 60 Vgl. aaO. 87 61 Vgl. aaO. 86 62 Vgl. aaO. 144 63 Vgl. E. Jüngel, Der Schritt zurück, in: ZThK 58 (1961), 104ff. und H. Franz, Das Denken Heideggers und die Theologie, in: O. Pöggeler, Heidegger, aaO. 179ff. 64 Vgl. M. Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, 157ff. 65 Heidegger, Die Kehre, 46 66 Jonas, Heidegger und die Theologie, 630
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3. Anmerkungen zur möglichen theologischen Relevanz der Heideggerschen Spätphilosophie Heideggers Spätphilosophie ist für die Theologie lehrreich darin, einsichtig gemacht zu haben, daß das eigentlich zu Denkende dem Denken zumeist entzogen ist. Heidegger fordert das Denken auf, auf die Ankunft des Seins gelassen zu warten. Aus dem Warten-können erwächst die Frömmigkeit des Denkens. Damit wird Heideggers Denken im Hause der Philosophie zur Torheit. Allerdings sollte dies der Theologie allein noch keinen Anlaß geben zur - Nachfolge. Denn auch für die Theologie ist die Unmittelbarkeit, in der Sein und Denken zusammengedacht werden, das entscheidende Problem der Heideggerschen Spätphilosophie. Diese Unmittelbarkeit setzt sich dem Verdacht und der Gefahr aus, der Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister leichtfertig zu entsagen. Das Sein ist dem christlichen Glauben an sich noch nicht wahr. Mag das die Ankunft des Seins erwartende Denken auch bis zu der Gewißheit vordringen, 'nur noch ein Gott könne uns retten', so ist die Unbestimmtheit des Artikels dem Glauben ein ständiges Ärgernis, darin aber auch eine Herausforderung. Der christliche Glaube hat sich auf dem Hintergrund des die Ankunft des Seins erwartenden Denkens als erinnerndes Warten und Hoffen kenntlich zu machen. So versteht sich der Glaube im Kontrast zu einem Denken, das gespannt je wieder neu auf die Offenheit des Seins warten muß und darin nie zum Ziel kommt, erst recht als geschichtliche Existenz. Von da aus hat die Theologie die These von der 'permanenten Offenbarung' des Seins von sich fernzuhalten. Die Rede von der ständigen Ankunft des Seins ist ihr glossolalische Rede, Pneumatologie ohne Christologie. Mit den Begriffen 'Ereignis', 'jähe Weile' unternahm Heidegger in immer neuen Anläufen den Versuch, die Relation zwischen Sein und Denken als Relation zu denken. Darin kann die Spätphilosophie Heideggers der Theologie zur Warnung gereichen; zur Warnung davor, die Offenbarung zu 'vergegenständlichen'. Allerdings machen die Absolutsetzung der Relation und das Verschwinden der Relate das Denken schweigsam. Es kann immer nur das Eine und eben das Selbe sagen. Der Glaube wird nicht plappern, aber er kann und darf mehr erzählen. Denn er wartet nicht auf ein fremdes Geschick, sondern kennt seine Geschichte.
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TEIL Π
Die Anfänge einer christlichen Lehre von der Zeit bei Augustin und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion EINLEITUNG
Im Zusammenhang der Frage nach einem möglichen Beitrag der Theologie zum Zeitproblem kommt den Ausführungen Augustine nach wie vor eine herausragende Bedeutung zu. Diese Tatsache mag es rechtfertigen, diese Ausführungen an dieser Stelle heranzuziehen. Ist es uns auch im wesentlich darum zu tun, Möglichkeiten und Probleme einer theologischen Stellungnahme zum Zeitproblem im Zusammenhang der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts herauszuarbeiten, so ist der Rückgang auf Augustin dennoch kein Anachronismus. Augustin gilt unbestritten als der Begründer einer dezidiert theologischen Zeitlehre. Gewiß, es ist vielfach darauf verwiesen worden, daß der Beitrag der christlichen Theologie zum Nachdenken über das Wesen der Zeit nicht erst mit Augustin anhebt. So hat beispielsweise St. Otto in seinem kurzen Beitrag über 'Das Problem der Zeit in der voraugustinischen Theologie' einsichtig gemacht, daß Augustin "keineswegs der erste Theologe (war), den das Problem der Zeitlichkeit beschäftigte"1. Die gemeinsame Pointe der 'voraugustinischen Stellungnahme' zum Zeitproblem sieht Otto - er analysiert dabei Äußerungen Justins, Tertullians und des Irenaus - darin, daß alle Theologen die Zeit als 'Schauplatz' der Realisierung des göttlichen Heilsplanes sehen. Alle von Otto genannten Autoren haben nur insofern ein Interesse an der Zeit, als sie die Erscheinung des göttlichen Heilswillens manifestiert. Augustin gilt Otto demgegenüber in der Tat als der erste, "der sich endgültig vom ökonomischen Denken seiner Vorgänger distanziert hat"2, indem er das Thema der 'personalen Zeit' geltend macht. Die Analyse des inneren Zeiterlebens der menschlichen Seele war für Augustin der Weg, das Gottesverhältnis des Menschen in seiner Gesamtheit zu thematisieren und zu erhellen. Diesem Versuch ist im Laufe der Theologiegeschichte gewiß vielfach widersprochen worden; und wesentliche 1 St. Otto, Das Problem der Zeit in der voraugustinischen Theologie, in: ZKTh 82 (1960), 74ff„ hier 86 2 Ebd.
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Momente der augustinischen Theologie - wie z.B. die durch die platonischneuplatonische Philosophie geprägte Seelenlehre können nicht einfach in eine Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts unverändert übertragen werden. Die Analyse des inneren Zeiterlebens aber hat, nimmt man nur die phänomenologische Schule als Beispiel, bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht an Rang und Bedeutung verloren. Man pflegt sich auch 'heute' zumindest auf die von Augustin durchgeführte Analyse des inneren Zeitbewußtseins zu beziehen.3 Aber Augustins Bedeutung erschöpft sich keineswegs in den überragenden und gern zitierten Ausführungen der 'Confessiones' zum inneren Zeitempfinden der menschlichen Seele. Die Relevanz der augustinischen Theologie auch für die gegenwärtige Diskussion sehen wir darin, daß die Analyse des Zeitphänomens bei Augustin ein zusammenhängendes Bild für die Kennzeichnung der menschlichen Situation vor Gott ergibt. Es ist für Augustin die Einsicht in die 'Zeitlichkeit' menschlichen Lebens und Denkens, die den Menschen vor Gott stellt. Die Zeit als Verfassung menschlichen Lebens sieht sich der personalen Ewigkeit Gottes gegenüber. Den Ausführungen Augustins läßt sich dabei u.E. eine innere Systematizität unterlegen, die diesen selbst keineswegs äußerlich ist. Vielmehr stellt die Zeitanalyse in dieser Allgemeinheit das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung, die menschliche Situation vor Gott insgesamt zu entfalten. Entscheidende Grundzüge der augustinischen Theologie lassen sich auf dem Hintergrund der Relation von Zeit und Ewigkeit darstellen. Das kann im Zusammenhang unserer Arbeit nur in Ansätzen entfaltet werden, ist in der Literatur aber auch schon vielfach angedeutet worden.4 Kurz: Augustin kann als derjenige Theologe gelten, der die Thematik von 'Zeit und Ewigkeit' im Rahmen der christlichen Theologie erstmals systematisch zur Ausführung gebracht hat. Darin hat Augustin nicht zuletzt auch auf die Philosophie stark gewirkt. Die Wirkungen Augustins auf Husserl und die phänomenologische Schule insgesamt sind vielfach hervorgehoben worden.5 Heidegger hat ebenfalls erkennen lassen, daß die Daseinsanalyse von 'Sein und Zeit' ohne Bezug3 Vgl. nur beispielhaft E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, (Hg. M. Heidegger), 1980 2 ,2f. und H. Bergson, Zeit und Freiheit, 1889 4 An hervorgehobener Stelle sind zu nennen: R. Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, 1962; J. Hessen, Die Philosophie des Heiligen Augustinus, 1948 und J. Guitton, Le Temps et L'Eternité chez Ploün et Saint Augustine, 1959 5 Vgl. Husserl, aaO. 2f. und dazu G. Eigler, Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen, 1953; neuerdings auch von E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1985, 3, 1985, 1 Iff. u.ö.
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nähme auf die augustinischen Erwägungen zum inneren Zeitbewußtsein der menschlichen Seele prinzipiell nicht zu verstehen ist.6 Und auch die Auffassung Kants von der Zeit als Selbstanschauimg des endlichen Subjekts steht ganz offensichtlich in augustinischer Tradition.7 Uns geht es aber in erster Linie nicht um den Nachweis der konkreten Wirkungen Augustins im einzelnen. Diese werden eher am Rande deutlich.8 Das Hauptaugenmerk unserer Überlegungen liegt abseits dieser Einzelfragen darauf, die Ausführungen Augustins zum Zeitproblem als eine systematische Vorgabe für die Diskussion und Darstellung moderner theologischer Zeitauffassungen in Anschlag zu bringen. In diesem Sinne sind die Ausführungen Augustins vor allem in folgenden Hinsichten von Interesse.9 - Die Entwicklung der augustinischen Zeitlehre erfolgt auf dem Hintergrund philosophischer Bemühungen um das Verständnis der Zeit. Die These Augustins, daß die Zeit erst in ihrer Relation zur Ewigkeit ihre Bestimmimg gewinnt, verdankt sich in der konkreten Gestalt, in der Augustin sie entwickelt, nicht nur der Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung, sondern auch der Rezeption der überlieferten griechi6 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 197915, z.B. 427; die noch nicht veröffentlichte Vorlesung Heideggers von 1921 wird da nach den Angaben Pöggelers noch mehr Aufhellung bringen, denn diese Vorlesung trug den Titel 'Augustin und der Neuplatonismus'. Vgl. O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 19832, 38ff. 7 Vgl. F. Delekat, Immanuel Kant, 1963, 27ff. 8 Vgl. u. 357f.; zur Todesanalyse Augustins. So zeigt sich z.B., daß die Todesanalyse Heideggers, die für den Gesamtentwurf von 'Sein und Zeit' nicht unerheblich ist, weitgehend in augustinischer Tradition steht. 9 Daß wir dabei in einer Analyse der weit verstreuten Äußerungen Augustins zur anstehenden Thematik auch nicht annähernd den Anspruch auf eine vollständige Interpretation Augustins erheben können, versteht sich von selbst Dieser Anspruch würde den Rahmen dieser Arbeit nicht nur im Blick auf das umfangreiche Werte Augustins, sondern auch hinsichtlich der immens angewachsenen Literatur zu Augustin sprengen. Uns kann es nur darum zu tun sein, anhand der Analyse anerkanntermaßen wesentlicher Ausführungen Augustins zur Zeitthematik ein mögliches Bild der Zeitlehre Augustins zu entwerfen, das diesen als Gesprächspartner für moderne Ansätze zu einer theologischen Zeitlehre erkennbar macht. 10 Die Frage, welche philosophischen Autoren Augustin überhaupt im Urtext gelesen hat und welche er nur durch das Studium römischer Philosophiehistoriker zur Kenntnis genommen hat, wird in der Literatur der letzten Jahrzehnte heiß diskutiert. (Vgl. z.B. A. Schindler, Augustin, in: TRE IV (1979), 646ff., 649,659 u.ö.; vgl. auch neuerdings E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte 17ff.). Es scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, daß Augustin die griechische Philosophie im wesentlichen durch das mit seinem Beruf als Rhetor geforderte Studium lateinisch schreibender Historographen bekannt gewesen ist. So scheint sich auch die Zeitanalyse Augustins zu großen Teilen aus der römischen Rhetorik vertrauten Denkzusammenhängen und "doxographischen Elementen" (Schmidt, aaO. 23) verstehen zu lassen. Die Einsicht in diese historischen Zusammenhänge hebt aber nicht die Erkenntnis auf, daß sich die
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sehen Philosophie.10 Allerdings begnügt sich Augustin nicht mit einer einfachen Aufnahme dieses der philosophischen Überlieferung durchaus vertrauten Gedankens, sondern bemüht sich um seine 'Uminterpretation' im Rahmen einer christlichen Theologie. So läßt sich auch nach Augustin selbst ein christliches Verständnis der Zeit auf dem Hintergrund der platonisch-neuplatonischen Philosophie allererst angemessen profilieren. Augustine Zeitlehre kann darin als Exemplar einer theologischen Zeitauffassung gelten, die in und durch Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition gewonnen wird und sich dabei dennoch nicht an diese verliert. - Die berühmt gewordene Analyse des inneren Zeitbewußtseins in den 'Confessiones' führt Augustin zu der fundamentalen Einsicht, daß der Zeit als Ausdehnung des Geistes nicht nur überhaupt erst Realität zukommt, sondern daß die Zeit diese Ausdehnung des Geistes ist. Wir sehen mithin in der Bestimmung der Zeit als 'distentio animi' so etwas wie eine Definition der Zeit. Die darin implizierte These von der Priorität der Seele und ihres Zeiterlebens für das Verständnis der Zeit hat gleichsam weltgeschichtliche Folgen gehabt. Sie bestimmt weitgehend auch noch die neuzeitlichen philosophischen Analysen der Zeit, und sie wirkt ohne Zweifel in der Opposition, in die das innere Zeiterleben gegenüber dem sogenannten objektiven oder physikalischen Zeitbegriff gebracht wird, der - als gleichmäßiger und unendlicher Lauf der Zeit vorgestellt - dem Leben scheinbar keinen Raum für die Erfahrung von Dauer und Kontinuität läßt.11 Dabei hat Augustin selbst, wie wir sehen werden, die These von der Priorität der Seele für das Verständnis der Zeit keineswegs so verstanden, daß damit die sogenannte objektive Zeit - also die Zeit als Bestimmtheit der äußeren Bewegung - gleichsam 'eliminiert' ist. Vielmehr wollen die Ausführungen Augustine auch in den 'Confessiones' so gelesen werden, daß die zeitliche Struktur der Seele gerade die Abhängigkeit des Menschen von der 'objektiven Zeit', die Augustin die kreatürliche Zeit nennt, aufdeckt. Die Bindung der Zeit an die menschliche Seele hat aber zur Folge, daß der Begriff der Zeit die Gespanntheit und die innere Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens widerspiegelt. Einerseits gilt, daß Dauer - und d.h. nach Augustin Einheit unterschiedlicher Zeitmomente - nur als Erlebniseinheit vorgestellt werden kann. In diesem Zusammenhang liegt Augustin alles daran, den Nachweis zu führen, daß die menschliche Seele Erwartetes und Erinnertes in Systematik der augustinischen Zeitlehre auf dem Hintergrund philosophischer Überlieferung allerst vollständig profilieren läßt. 11 Vgl. dazu z.B. A.M.K. Müller, Die präparierte Zeit, 1972
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der Gespanntheit der Aufmerksamkeit zusammenbringen kann. Wäre die Zeit ausschließlich als Bestimmtheit an der Bewegung der Dinge vorgestellt, so wäre der Gedanke einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gar nicht zu denken. Ohne diesen Gedanken aber kommt eine Beschreibung der Lebensvollzüge der menschlichen Seele nach Augustin nicht aus. Andererseits bedeutet die Kennzeichnung der Zeit als der 'Ausdehnung' des Geistes, daß die Zeit in sich die Unvollkommenheit und Unabgeschlossenheit, die das menschliche Leben, solange es ist, bestimmen, zum Ausdruck bringt. Das menschliche Leben vermag seine Einheit und Ganzheit nicht aus sich selbst gleichsam zu erzeugen. Die Fähigkeit der Seele, Ungleichzeitiges in die Einheit eines Erlebnisses und einer Erfahrung zu bringen, wird begrenzt von dem Wissen, daß die Einheit des Lebens in seiner Ganzheit dem menschlichen Leben immer zukünftig bleibt. In seiner Ausdehnung ist das Leben der Seele von Verfall und Zerstreuung bedroht. Das hat zur Folge, daß Augustin die Frage nach dem Sinn und der Wahrheit der Zeit in Differenz zur platonisch-neuplatonischen Tradition nicht über den versuchten Nachweis ihrer Einheit und Ganzheit beantwortet. So spiegelt der Begriff 'distentio', durch den Augustin das Wesen der Zeit zu umschreiben sucht, die Dialektik menschlicher Zeiterfahrung wider. Die Einsicht in diese Dialektik menschlicher Zeiterfahrung bildet die Grundlage für die Behauptung Augustine, das Phänomen der Zeit sei ohne Bezug auf den Gedanken der Ewigkeit gar nicht deutbar. Denn die Zeiterfahrung wird von Augustin in ihrer wesentlichen Dialektik so beschrieben, daß sie in sich diesen Bezug auf eine ständige und unveränderliche Ewigkeit enthält.12 Als die eigentliche Leistung des Menschen gegenüber der Erfahrung der Zerstreuung seines Lebens gilt Augustin das Postulat der Ewigkeit. Es ist das Verdienst Augustins, einsichtig gemacht zu haben, daß die menschliche Zeiterfahrung auf dieses Postulat gleichsam ' zuläuft', indem sie die mögliche Einheit und Ganzheit der Zeit in sich selbst nicht zu finden vermag. Von dieser Einsicht aus entwickelt Augustin das Verhältnis der Seele zu Gott insgesamt unter der Thematik von Zeit und Ewigkeit. Wie dieser Bezug der in der Selbstreflexion einsichtig werdenden Zeitlichkeit menschlichen Lebens und Denkens auf die personal gedachte Ewigkeit (Gottes) vorstellig zu machen ist, ist die entscheidende Frage, die sich angesichts der Äußerungen Augustins stellt. Ihre Beantwortung ist in der Literatur höchst umstritten. Vermag sich der seiner 12 Vgl. A. Augustinus, Confessiones, Hg. J. Bemhart, 1987 (1955), Buch XI, 28, 38
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Zeitlichkeit bewußt werdende Mensch nach Augustin zu Gott zu 'erheben' und dann zu seiner Bestimmung zurückzukehren, oder ist dem 'gefallenen' Menschen diese Möglichkeit genommen? Wird sich der Mensch in der Erkenntnis seiner 'Ausgestrecktheit' in der Zeit somit nur der unaufhebbaren Differenz zur Ewigkeit bewußt? Dann wäre eine 'Rückkehr' zur wahren Bestimmung des Menschen nur in der völligen Entzweilichung des Lebens vorstellbar. - So vielschichtig und beeindruckend die Analyse des Zeitbewußtseins ist, so unbefriedigend bleiben die Ausführungen Augustine zur Frage der konkreten geschichtlichen Beziehung von Zeit und Ewigkeit. Ja, Augustin lehnt das Modell einer geschichtlichen Vermittlung von Ewigkeit und Zeit auch in seinem Werk 'De civitate Dei' letztlich ab. Unsere Ausführungen werden anhand der Analyse entscheidender augustinischer Texte folgendes Bild der 'Zeitlehre Augustine' vorstellig machen. a) Das Wesen der Zeit ist nach Augustin nur in ihrem 'Gegenüber' zur Ewigkeit bestimmbar. Dieser These gibt Augustin entsprechend zu der Entwicklung seines Denkens eine unterschiedliche Gestalt. Gegenüber anfanglichen Versuchen, dieses 'Gegenüber' im Sinne einer Ähnlichkeit von Zeit und Ewigkeit nach dem Urbild-Abbild-Modell zu deuten, setzt sich die Auffassung durch, daß die spezifische Zeitlichkeit menschlichen Lebens und Denkens die Gottesferne des Menschen abbildet. Die Ewigkeit wird so als das andere der Zeit, als ihre Aufhebung gedacht. b) Die Zeitlichkeit menschlichen Lebens im Sinne der unruhigen Zerstreutheit menschlichen Lebens und Denkens ist Ausdruck der sündhaften Entfernung des Geschöpfes von seinem Schöpfer. c) Die unbewegte und ruhige Ewigkeit Gottes bleibt nicht allein das Gericht der Zeit, sondern auch deren durch den Menschen erkennbares Ziel. Die zerstreute Zeit sucht ihre Bestimmung in der Teilhabe an der Ewigkeit, die aber nur als völlige Entzeitlichung des Lebens vorgestellt werden kann. Die erhoffte Aufhebung der das Leben zerstreuenden Zeit ist in der Zeit - also im Vollzug menschlichen Lebens - nur kairologisch erfahrbar.
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I. Die Ewigkeit als die Wahrheit der Zeit Daß das Wesen der Zeit nicht bestimmt werden kann ohne Berücksichtigung der grundsätzlichen Relation von Zeit und Ewigkeit, ist eine fundamentale Einsicht Augustine. Sie bestimmt seine Ausführungen zum Zeitproblem von Beginn seines schriftstellerischen Wirkens an und steht auch noch im Zentrum der Ausführungen seines großen Werkes 'De civitate Dei'! Nun ist diese Behauptung, das eigentliche Wesen der Zeit könne nicht aus der Zeit selbst bestimmt werden, im Zusammenhang eines dezidiert theologischen Beitrages zum Zeitproblem nicht unerwartet und auch nicht gerade originell. Ist doch noch jede im Rahmen der christlichen Theologie auftretende Darstellung des Zeitproblems in irgendeiner Weise durch die Absicht bestimmt, die letztliche Unerklärbarkeit der Zeit aus ihr selbst aufzudecken. Daß menschliche Zeiterfahrung schlechthin nur gedacht und gedeutet werden kann im Zusammenhang mit dem Postulat der Ewigkeit, ist in dieser Allgemeinheit die These jeder christlichen Dogmatik. Im übrigen zeigt sich ja auch im Zusammenhang philosophischer Bemühungen um das Verständnis der Zeit, daß auch sie in der Analyse der Zeiterfahrung nie ohne den Gedanken der 'Zeittranszendenz' auskommen. Das Phänomen der Zeit scheint ohne Reflexion auf den Sachverhalt, daß der Mensch in der Erfahrung von Zeit und Vergehen zumindest via negationis auf ein Unveränderliches und Unvergängliches schon immer bezogen ist, nicht hinreichend erfaßt werden zu können. Das gilt auch für jene Entwürfe, die mit der unterschiedlich begründeten Behauptung auftreten, menschliche Erfahrung sei auf die Zeit beschränkt und insofern bleibe das Postulat einer die Zeit umgreifenden Ewigkeit der Zeiterfahrung völlig äußerlich. Darauf läuft die Untersuchung der exemplarisch herausgegriffenen Ausführungen Kants und Heideggers zu, indem sie zu zeigen versuchte, daß beide Autoren den Gedanken der Zeit-übergreifenden Ewigkeit in die Zeitanalyse an entscheidender Stelle 'hineinholen'; Kant in der Säkularisierung der 'stehenden Ewigkeit' im Begriff des stehenden und bleibenden Ich, Heidegger mit der Behauptung der Einheit und Ganzheit des endlichen Daseins als einer Leistung des Daseins durch sich selbst. Das gilt nun aber besonders auch für den historischen und philosophischen 'Kontext', in dem die Ausführungen Augustine zu stehen kommen. Die Überlegungen Piatons und eines seiner berühmtesten Interpreten Plotins - zum Wesen der Zeit können geradezu als klassische Beispiele für jene These gelten, daß die Bestimmung der Zeit ohne die Annahme einer ursprünglichen Relation von Zeit und Ewigkeit nicht erfolgen kann. Die Zeit ist nach Piaton wie nach Plotin aus sich selbst heraus bzw. umgekehrt
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dann, wenn sie aus dieser ursprünglichen Relation herausgenommen wird, nicht zu bestimmen. So liegt für uns im Rahmen der Darstellung der augustinischen 'Zeittheorie' alles daran, die genaue und präzise Gestalt, die diese Grundeinsicht bei Augustin erfahrt, aufzudecken. Darin sehen wir denn auch einen eigenen bescheidenen Beitrag für die Literatur zu diesem Thema, die schon längst unübersehbar geworden ist. Denn der von uns in den Mittelpunkt gestellte grundsätzliche Ansatzpunkt Augustine taucht auch in der Literatur natürlich immer wieder auf, tritt aber nirgendwo derart ins Zentrum, daß die verstreuten Ausführungen Augustine zur Zeitthematik daraufhin verglichen werden, inwiefern sie die Grundthese, die Ewigkeit sei die Wahrheit der Zeit, in unterschiedlichster Weise zur Ausführung bringen. Uns wird es genauer darum gehen, daß und wie Augustin in seinen Schriften über einen langen Zeitraum hinweg diesen Gedanken moduliert hat. Denn Augustin hat völlig unterschiedliche Wege beschritten, um diese seine Grundthese anhand der Analyse menschlicher Zeiterfahrung zu erweisen. Diese unterschiedlichen Wege enthalten über die Jahrhunderte hinweg mögliche Ansatzpunkte für eine moderne 'theologische Zeitlehre'.
1. Die Zeitlichkeit der Seele als Indiz ihrer Unsterblichkeit Zur Schrift 'De immortalitate animae' In dem dritten Paragraphen seiner Schrift 'De immortalitate animae' erhebt Augustin meines Wissens erstmals das Phänomen der Zeit zum Thema einer eingehenderen Untersuchung.1 Der Kontext der Überlegungen zum Zeitbegriff ist dabei bestimmt durch die Frage, ob die Seele, die kraft ihrer wesensmäßigen Teilhabe an den ewigen Ideen unteilbar und unveränderlich ist, durch ihre Verbindung mit dem Körper nicht doch der Veränderlichkeit unterworfen wird. Das Buch 'De immortalitate animae' ist dem Beweis der Unsterblichkeit der Seele gewidmet. Dabei werden von Augustin unterschiedliche Beweisgänge vorgeführt, die in unterschiedlicher Abhängigkeit von der überlieferten griechischen Philosophie stehen und so den freien Umgang Augustine mit den Texten der Philosophie zeigen.2 So weist die These von der
1 Die Schrift 'De immortalitate animae' verfaßte Augustin Anfang des Jahres 387 in Mailand; vgl. A. Schindler, Augustin, in: TRE IV, 1979, 646ff., hier 650 2 Vgl. in bezug auf diese Schrift die Einleitung von H.P. Müller, in: A. Augustin, Selbstgespräche und andere Schriften, 1986 (Artemis), 259ff.
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Unbewegtheit der den Körper bewegenden Seele in aristotelische Gedankenführung, die Behauptung der Ewigkeit bzw. Unsterblichkeit der Seele aufgrund ihrer Teilhabe an den ewigen Ideen auf platonische Ursprünge und die Hervorhebung der Stufen des Seienden auf neuplatonische Gedankenwelt.3 Augustin zeigt sich schon in dieser frühen Schrift im Blick auf die philosophischen Überlieferungen als Eklektiker.4 Daraus versteht sich der Hinweis Schmidts und anderer, Augustin habe die überlieferte griechische Philosophie kaum im Urtext gelesen, sondern im wesentlichen doxographisches Material verwandt, das ihm die rhetorische Bildungstradition bereitstellte.5 Der erste reguläre Beweisgang nun, der die These von der Unsterblichkeit der Seele stützen soll, versucht einen Beweis der 'sempiternitas' der Seele über die unveränderlichen Gesetze der Logik, die als eine Kraft und Fähigkeit der Seele aufgewiesen wird. Die Unwandelbarkeit ('immutabilitas') der Gesetze der Logik, so weiß Augustin, kann nicht gut bestritten werden. Es bleibt immer und unveränderlich gültig, daß die durch den Mittelpunkt eines Kreises gezogene Linie die größte aller möglichen Kreissehnen ist. Mit Piaton ist Augustin der Überzeugung, daß die Sätze der Geometrie und der reinen Mathematik die Einsicht der menschlichen Seele in ewige und unveränderliche Gesetze und Ideen nachdrücklich beweisen.6 Die Seinsstruktur der Zahlen und der geometrischen Gesetze gilt Augustin als Paradigma dafür, daß sich dem menschlichen Denken in seiner Selbstreflexion etwas zeigt, das ein 'höheres' und gewisseres Sein hat als das Denken selbst. "In der Erfahrung dieses unveränderlichen Seins in uns zeigt sich unmittelbar auch der nicht mehr mit uns selbst identische Ursprung dieses Seins und dieser Erfahrung".7
3 Vgl. aaO. 260 und 262 4 Zu diesem hier nicht ausführlich zu entwickelnden Themenkomplex vgl. besonders die vorzüglichen Literatuiberichte von R. Lorenz in ThR NF 25 (1959), Iff., ThR 38 (1974), 292ff„ ThR 39 (1974), 95ff. und ThR 40 (1975), Iff. Die Literatur zu der Frage der philosophischen Abhängigkeiten Augustins ist mittlerweile so unübersehbar geworden, daß es unmöglich ist, diesen Tliemenkomplex hier eingehender zu behandeln. Im Blick auf diese Seelenschrift sind die Anknüpfungen Augustins an die überlieferte Philosophie von Müller, aaO. 26 Iff. zusammengestellt worden. 5 Vgl. E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, 1985,23 u.ö.; vgl. auch in bezug auf die Zeitlehre Augustins, G.J.P. O'Daly, Time as 'distendo' and Saint Augustine's exegesis of Philippian's 3, 12-14, in: Rev. Et. Aug. 23,1977, 265f. 6 Vgl. Platon, Menon 82aff. 7 W. Beierwaltes, Regio beatitudinis: zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-Histor. Klasse, Jg. 1981, Bericht 6, 37f.
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Aufgrund der ' sempiternitas ' der Gesetze der Logik und Mathematik gilt aber auch, daß die Seele selbst "ewig lebt" (semper vivit).8 Denn "alles, in dem etwas Ewiges ist, (muß) selber ewig sein".9 In einem zweiten Beweisgang versucht Augustin über die Einsicht in die Unveränderlichkeit der Gesetze der Logik die mögliche Deutung der Seele als der 'harmonía corporis' abzuweisen. Diese Deutung würde der Unveränderlichkeit der Seele entschieden entgegenstehen.10 Denn lediglich als Harmonie der Gestimmtheit des Leibes gedacht, würde die Seele mit dem Körper vergehen. Als eigenständiger Beweisgang für die Unsterblichkeit der Seele kann dieses Argument nicht gelten, weil es nur die Implikationen des Gedankens der Unveränderlichkeit der Seele entwickelt. Gleichwohl enthält dieser Argumentationsgang doch einen Fortschritt auf dem eingeschlagenen Weg, weil er die Unabhängigkeit der Seele vom veränderlichen Körper, mit dem sie verbunden ist, herausarbeitet. Der dritte Paragraph nun wird, wie schon angedeutet, für die Bestimmung des Phänomens der Zeit von Interesse sein. Deshalb bietet sich eine genauere Analyse der Argumentation dieses Abschnittes an. Der Beweisgang versucht herauszuarbeiten, daß mit der Annahme der verursachenden Bewegung des menschlichen Körpers durch die Seele nicht notwendig auch die Annahme der Veränderlichkeit der Seele verbunden ist. Die Argumentation vollzieht sich dabei folgendermaßen. - Auszugehen ist von einer gewissen Kraft zur Beständigkeit und Kontinuität des Lebens - eine Kraft, die dem Leben unveräußerlich innewohnt.11 Alles Beständige aber ist in gewisser Weise unveränderlich. 'Virtus' wird von Augustin als Kraft bzw. Tatkraft bestimmt; und es gilt, daß alle innere Kraft etwas tätigt, insofern sie eine Lebenskraft darstellt. Ferner ist festzuhalten, daß jede Tätigkeit entweder selbst eine Bewegung (des Körpers) hervorruft oder durch eine solche motiviert wird.12 Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Aus diesen Überlegungen kann der Schluß gezogen werden, daß entweder nicht alles Bewegte oder aber nicht alles Bewegende veränderlich ist; denn es wurde von der Realität einer gewissen 'virtus constantiae' alles Lebendigen ausgegangen. 8 A. Augustin, De immortaliate animae II; zitiert wird nach der Ausgabe H.P. Müller (Hg.), Selbstgespräche und andere Schriften Augustine, 1986 (Artemis), 154ff. Die Einteilung der Schrift ist dort übernommen aus Migne, PL 32 (zitiert wird die Seelenschrift im folgenden als De imm. ohne Verfassemame) 9 De imm. 16, "nihil, in quo quid semper est, potest esse non semper". 10 Vgl. aaO. II 2; dazu vgl. Platon, Phaidon 91B 11 De imm. III 1; "Quaedam constantiae virtus est" 12 AaO. III 2; "omnis porro actio aut movetur aut movet"
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Diese gewisse Kraft zur Beständigkeit ist dem Leben unveräußerlich, denn mit Piaton gilt Augustin als Grundbestimmung der Seele, daß sie dem, "von dem sie Besitz ergreift, Leben bringt".13 Das Dictum der Veränderlichkeit gilt also ohne Zweifel für das Bewegte, da es von anderem bewegt wird. Die Bewegung durch anderes macht zugleich die Sterblichkeit des Bewegten aus. "Kein Sterbliches aber ist unveränderlich".14 Die oben angeführte Disjunktion also kann präziser gefaßt bzw. beseitigt werden. Die mögliche Unveränderlichkeit gilt nur von den bewegenden Substanzen.15 - Bewegung qua Veränderung vollzieht sich immer an einer zugrunde liegenden Substanz und muß auf eine bewegende Ursache zurückgeführt werden können. Kann ganz allgemein zwischen lebendigen und 'leblosen', d.h. in sich unbewegten Substanzen unterschieden werden, so haben wir es im Blick auf die Verursachung einer Bewegung nur mit lebendigen Substanzen zu tun; denn "es gibt keine Bewegung ohne Seele".16 Das bedeutet: jede Bewegung ist zurückführbar auf eine lebendige Ursache (Substanz), die einen Körper auf ein bestimmtes Ziel hin in Bewegung setzt. Damit kann ein weiterer Schluß gezogen werden. Wurde oben gezeigt, daß nicht alles, das anderes in Bewegung setzt, selbst veränderlich sein muß, so kann nun hinzugefügt werden, daß eine so bewegende Substanz - die nämlich selbst unveränderlich sein kann nur eine lebendige Substanz sein kann. "Illud igitur quod ita movet ut non mutetur, non potest esse nisi viva substantia."17 In der den Körper bewegenden Seele liegt diese Substanz, die anderes in Bewegung setzt und dabei selbst nicht veränderlich ist, vor. - In einem dritten Argumentationsschritt soll nun herausgestellt werden, daß eine selbst nicht der Veränderlichkeit unterworfene Substanz doch gleichwohl Veränderliches in Bewegung bringen und auch erhalten kann. Es geht also zugleich um den Erweis der Möglichkeit, daß auch dann, wenn eine unveränderliche Substanz Veränderliches in Bewegung setzt und erhält, die Unveränderlichkeit dieser bewegenden Substanz nicht gefährdet ist. Diese Zielrichtung des dritten Beweisganges zur Herausarbeitung der Unsterblichkeit der Seele betont Augustin mehr-
13 14 15 16 17
W. Beierwaltes, Regio beatitudinis 30 De imm. III 3; "Neque mortale quidquam immutabile" Ebd.; "sine ulla disjunctione concluditur, non omne quod movet mutali" AaO. III 5; "nec est ulla exanimis actio" Ebd.
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fach.18 Es handelt sich dabei um das Hauptinteresse der gesamten Schrift, nämlich um den versuchten Nachweis, daß die menschliche Seele auch in der Verbindung mit dem Körper ihre wesentliche Bestimmtheit behält. Wie gelangt Augustin nun zu diesem Nachweis? Vorwegnehmend kann schon hier gesagt werden, daß Augustin den Nachweis der möglichen Unveränderlichkeit (immutabilitas) der den veränderlichen und dem Todesverhängnis unterworfenen Körper bewegenden Seele über die spezifische zeitliche Struktur dieser Bewegung führt. Der Beweisgang beginnt mit dem allgemeinen Hinweis auf die Zeitlichkeit jeglicher Bewegung. "Corpus autem non nisi secundum tempus movetur ,..".19 Bewegt also wird ein Körper in dem Medium der Zeit. Die Zeitlichkeit der Bewegung impliziert zum einen das Nacheinander, zum anderen die Mehrzahl der Bewegungsphasen. "Omne autem quod tempore movet(ur) corpus, ... nec simul potest omnia facere, nec potest non plura facere ...".20 Das erste Moment ergibt sich aus dem Sachverhalt der Ausgedehntheit der Zeit, in der sich eine Bewegung vollzieht, das zweite aus der Ausdehnung des Körpers, der in seiner räumlichen Ausdehnung teilbar und d.h. zusammengesetzt ist.21 Damit kommt auch der zeitlichen Bewegung des Körpers die Eigenschaft der Teilbarkeit in verschiedene Bewegungsphasen zu. Der Struktur der Größe folgt demnach die Struktur der Bewegung.22 "Neque enim valet, quavis ope agatur, aut perfecte unum esse quod in partes secan potest, aut ullum est sine partibus corpus aut sine morarum intervallo tempus ...".23 Aufgrund dieser zeitlich und räumlich manifestierbaren Ausdehnimg kann ein bewegter Körper niemals als ganzer vorliegen; denn ein Teilbares "vermag ... nicht vollendet Eines zu sein".24 Die Einheit der Bewegimg verdankt der bewegte Körper demnach nicht sich selbst, sondern der bewegenden Ursache. Nur in der bewegenden Ursache nämlich können mehrere Dinge zugleich sein, die in dem Bewegten
18 Vgl. aaO. IV 1 : "hinc iam colligimus posse esse quiddam, quod, cum movet mutabilia, non mutator"; und wenig später: "Non igitur, si qua mutatio coiporum movente animo fit, quamvis in earn sit intentos, hinc e um necessario mutali et ob hoc etiam mori arbitrandum est" (IV lf.) 19 AaO. III 6 20 AaO. III 6f. 21 Vgl.aaO.III7 22 Vgl. Aristoteles, Physik D 219a lOff. 23 De imm. III 7 24 Ebd.; "aut perfecte unum esse ..."
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als Nacheinander vorliegen.25 Nur die bewegende Ursache vermag als 'viva substantia' die Einheit einer Bewegung im Zusammenspiel von exspectatio, memoria und intentio zu ermöglichen. Darin liegt zugleich ein Hinweis auf die mögliche Unveränderlichkeit der bewegenden Ursache, insofern das 'Nicht-zugleich-sein-Können' des Ungleichzeitigen die wesentliche Bestimmtheit des Veränderlichen ist.26 In welcher Weise aber ist nun das für den Körper Ungleichzeitige in der den Körper bewegenden Seele als gleichzeitig zu denken? Auszugehen ist bei der Beantwortung dieser Frage nach Augustin von der möglichen Einheit eines Bewegungsvorganges. Ohne diese Annahme der möglichen Einheit ist die Bewegung eines Körpers gar nicht als solche kenntlich und ausdrücklich zu machen. Nur unter der Voraussetzung, daß ein beobachteter und analysierter Bewegungsvorgang überhaupt eine sinnvolle Einheit bilden kann, ist die Bewegung eines Körpers allererst analysierbar. Dazu muß der gesamte Bewegungsvorgang überblickt werden können. Diese Eigenschaft eignet nur der zur Erinnerung, Erwartung und gespannten Aufmerksamkeit fähigen Seele. Bewegung konstituiert sich hinsichtlich ihrer Einheit somit durch das Zusammenwirken von exspectatio, memoria und intentio in der die Bewegung hervorrufenden Ursache - im Blick auf den Menschen in der den Körper bestimmenden Seele. Der durch die Seele bewegte menschliche Körper ist also darauf angewiesen, daß die Seele vorausschauend die Dauer der Bewegung projektiert, die 'abgelaufenen' Bewegungsphasen in Erinnerung behält und die Intentionen der Bewegung durchhält. Des weiteren zeigt Augustin über diese zunächst aufgedeckte allgemeine Verbindung der Zeitmomente der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Zusammenhang der Bewirkung und 'Steuerung' einer Bewegung hinaus, daß die Verschränkung der Zeitmomente im Blick auf eine aktuelle Bewegung noch in einer präziseren Weise gilt. So ist der Vorgriff auf das Ende einer Bewegung gar nicht möglich ohne die Erinnerung an den Anfang der sich vollziehenden Bewegung. In gleicher Weise ist der Entschluß zur Verursachung einer Bewegung nicht denkbar ohne den Vorgriff auf die Bewegung im ganzen. "Nec coepti motus corporis exspectari finis potest sine ulla memoria: quomodo enim exspectatur ut desinat, quod aut coepisse excidit aut omnino motum esse? rursus intentio peragendi, quae praesens est, sine exspectatione
25 AaO. III 10; "possunt simul in agente plura esse, cum ea plura quae aguntur simul esse non possint" 26 AaO. III 11 (Hervorhebung von mir); "At quaecumque in tempore simul esse non possunt, et tarnen a futuro in praeteritum transmittuntur, mutabilia sint necesse est"
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finis, qui futurus est, non potest esse ,..".27 So gewährleistet also allein die Verschränkung von exspectatio, memoria und intentio die Einheit und Gerichtetheit einer sich in der Zeit vollziehenden Bewegung des Körpers. Das Zusammenspiel von Erwartung, Erinnerung und gespannter Aufmerksamkeit indiziert die Fähigkeit der Seele, Ungleichzeitiges in eine - gleichzeitige - Einheit zusammenzubringen. Diese Fähigkeit eignet nur den lebendigen Substanzen. Damit ist nun aber auch zugleich herausgearbeitet, daß den lebendigen Substanzen die Bestimmung der Veränderlichkeit nicht zukommt. Denn 'mutabilitas' kennzeichnet nur diejenigen Substanzen, die "in der Zeit nicht zugleich sein" können "und dennoch vom Zukünftigen ins Vergangene hinübergeführt" werden.28 Mit dieser Argumentation, so schließt Augustin diesen Beweisgang ab, sei letztlich aber gezeigt, daß eine unveränderliche Substanz Veränderliches bewegen kann, ohne seiner immutabilitas damit verlustig zu gehen.29 Darin nämlich, daß die Bewegungs- bzw. Zeitmomente einer Bewegung der bewegenden Substanz - der Seele - intentional gleichzeitig werden können, ist aufgedeckt, daß die Verbindimg mit dem Körper die menschliche Seele nicht notwendig ihrer Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit beraubt. Die Seele hat wohl Anteil an dem, was zu einer Handlung gehört. Sie richtet sich erinnernd, erwartungsvoll und gespannt auf das in der Zeit Getrennte. Dennoch ist daraus nicht zu folgern, daß sie selbst so wie der Körper auch notwendig teilbar ist; denn sie hat Vergangenes, Zukünftiges und Gegenwärtiges in konstruktiver Einheit gegenwärtig. Die Fähigkeit der Seele, zu handeln und so den mit ihr verbundenen Körper in Bewegung zu setzen, ist nicht der mögliche Grund ihrer Sterblichkeit. Augustin widerlegt also die Vermutung, daß die Seele durch ihre Verbindung mit dem Körper notwendig auch veränderlich ist, "dadurch, daß er zeigt, wie die Seele die Vielheit einer zeitlich-körperlichen Intervallfolge durch Gedächtnis, Gegenwartsbezogenheit und Erwartung zugleich in eins zusammengefaßt und also dem Bewegten gegenüber unverändert bleibt".30 Die die Bewegung des Körpers initiierende unveränderliche Seele muß, so hatte Augustin schon zuvor erläutert, in der Weise einer lebendigen Substanz gedacht werden. Ihre Lebendigkeit äußert sich in der 27 AaO. III 9 28 AaO. III 11; "at quaecumque in tempore simul esse non possunt et tarnen a futuro in praeteritum transmittuntur, mutabilia sint necesse est" 29 Vgl. aaO. IV 2-4 30 U. Duchrow, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff Augustine im Verhältnis zur physikalischen und geschichtlichen Zeit, in: ZThK 63 (1966), 267ff., hier 273
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Fähigkeit zur einheitlichen Gestaltung und Wahrnehmung der Bewegung des Körpers. Sichtbar wird die Fähigkeit der Seele, so stellt Augustin nun abschließend fest, sowohl in der Duchgängigkeit der Intention einer Handlung31 als auch anhand der Verschränkung von intentio, memoria und exspectatio in der bewegenden Substanz. Diese Verschränkung ist ein Charakteristikum des Lebens überhaupt und hebt die Durchgängigkeit der Intention einer Handlung keineswegs auf; denn "bei dieser ihrer Absicht kann sie (sc. die Seele) zugleich noch die Erinnerung an Vergangenes und die Erwartung des Zukünftigen haben, was alles ohne Leben unmöglich ist".32 Den Sachverhalt aber, daß auch das eine Bewegung begleitende Bewußtsein insofern wandelbar sein muß, als ja im Vollzug der bewußten Begleitung der Bewegung die Erwartung erfüllt und das zu Erinnernde vermehrt wird, übersieht Augustin an dieser Stelle durchaus nicht, wenn er zwischen der bloßen 'mutatio' der Seele und ihrem 'interims' unterscheidet.33 Demnach ist eine gewisse 'mutatio' (Veränderung) auch der Seele bei der Bewirkung und bewußten Begleitung einer Bewegung nicht rundweg ausgeschlossen; nur geht für das Bewußtsein aufgrund seiner Fähigkeit der Vergleichzeitung des Ungleichzeitigen das Vergangene nicht vollständig ins Nichts über, wie es für die leblosen Substanzen gilt. Ebenso ist Zukünftiges für die Seele nicht bloß Nochnicht-Seiendes, sondern in der Erwartung präsent. Aus dieser gewissen 'mutatio' der Seele bei der 'Begleitung' einer Bewegung aber folgt eben nicht ihr Todesverhängnis.34 Nicht jede Veränderung zieht notwendig den letztlichen Untergang des sich Verändernden nach sich.35 Die knapp dargestellte Argumentation Augustins im dritten Paragraphen seiner Schrift 'De immortalitate animae' kann nunmehr im Blick auf ihren eigentlichen Gehalt hin zusammengefaßt werden. Die Schrift bietet in vielfältiger Weise einen Vorgriff auf spätere Ausführungen Augustins zum Phänomen der Zeit.36 - Der Zeitbegriff wird von Augustin zunächst im Zusammenhang mit dem Bewegungsphänomen eingeführt. Diese zunächst rein äußerliche Beziehung des Zeitphänomens zum Phänomen der Bewegung ist deshalb von
31 "illa intentio verificiendi, quam immutatam m anere manifestum est" (De imm. IV 1) 32 AaO. IV 2; "potest enim in hac intenüone simul et memoriam praeteritonim et exspectationem futurorum habere, quae omnia sine vita esse non possunt" 33 Vgl.aaO.IV2u. 3 34 Vgl. ebd. 35 AaO. IV 3; "non tamen omnis mutatio interitum omnisque... operatur" 36 Das gilt in besonderer Weise für die Vorausnahme der Ausführungen zum Wesen der memoria, wie sie dann in Conf. X geliefert werden
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Interesse, weil Augustin diesen gleichsam 'traditionellen' Zugang zum Verständnis der Zeit wenig später in seiner ersten Genesisauslegung zumindest problematisieren wird, bevor er ihn in den 'Confessiones' im Zusammenhang mit der Bestimmung der Zeit als 'distentio animi' eine völlig neue Deutung geben wird. Gleichwohl ist auch in der Schrift 'De immortalitate' der Zeitbegriff nicht aus dem Begriff der Bewegung abgeleitet. Vielmehr ist das Phänomen der Zeit nach Augustin ganz offensichtlich deshalb in der Nähe des Bewegungsphänomens 'anzusiedeln', weil die Zeit ganz allgemein als das Medium jeglicher Bewegung zu gelten hat. Deshalb folgt die Struktur der Zeit der Struktur des Bewegten; d.h. die Zeit ist in ihrer Kontinuität als unendlich teilbar zu denken. Deshalb wird das 'In-der-Zeit-Seiende' schlechthin durch 'mutabilitas' bestimmt, d.h. durch den ständigen Übergang vom Sein zum Nichtsein. Die Zeit selbst zeigt sich darin als 'Ort' unerbittlicher und unaufhörlicher Beseitigung von nie wiederkehrenden Lebensmöglichkeiten. - Bewegung und Veränderung aber sind, so zeigt sich beim näheren Hinsehen, nicht ohne die ordnende Kraft der Seele zu denken, denn es gibt schlechthin keine Bewegung ohne eine verursachende und d.h. lebendige Substanz. Auch der alltäglichen Zeiterfahrung, so sucht Augustin einsichtig zu machen, ist das Wissen um die mögliche Einheit einer Bewegung unveräußerlich. Warum? Weil Bewegung - und in letzter Hinsicht auch der Lauf des gesamten Menschenlebens - ohne vorausschauende und erinnernde Abgrenzung des Bewegungsganzen gar nicht als solche kenntlich gemacht werden kann. Das Phänomen der Zeit ist demnach, als bloße Veränderlichkeit alles Seienden gedacht, unterbestimmt. Die Fähigkeit der einheitlichen Wahrnehmung einer Bewegung führt Augustin auf das Zusammenspiel von memoria, intentio und exspectatio in der menschlichen Seele zurück. In der Verschränkung dieser Seelenfunktionen werden die Kraft und das Vermögen der Seele zur Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen erkennbar. Dieses Vermögen kommt der menschlichen Seele kraft ihrer zeitlichen Erstrecktheit, in der sie auf Vergangenes und Zukünftiges schon immer bezogen ist, zu und ist ihr somit unveräußerlich. - Die Fähigkeit der Seele zur Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen ist Augustin ein Beweis für die Unveränderlichkeit der Seele und damit letztlich ihrer Unsterblichkeit.37 Dieser Schluß bedarf aber insofern einer kritischen Betrachtung, als mit dem Vermögen der Vergleichzeiti37 Augustin führt im Verlauf seiner Schrift noch andere Argumentationsgänge vor, die die Unsterblichkeit der Seele trotz ihrer Verbindung mit dem Körper beweisen können. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden.
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gung des Ungleichzeitigen die zeitliche Veränderbarkeit der Stimmungen der Seele selbst nicht ausgeschlossen sein kann, da schon die eine Bewegung des Körpers begleitende 'intentio' selbst dem Wechsel unterworfen ist.38 Augustin hilft sich an dieser Stelle mit der Differenzierung zwischen der Veränderlichkeit (mutatio) und dem Untergang (interitus). Diese Unterscheidung wird später, besonders in dem 'Gottesstaat', entscheidende Bedeutung gewinnen. Diese Differenz nämlich trennt die Veränderlichkeit des Geschaffenen, die seine Geschöpflichkeit ausmacht, es aber nicht fundamental von seiner Bestimmung entfernt, von dem Todesverhängnis. Augustin wird die 'alltägliche Erfahrung' der Lebenszeit als ein 'Lauf zum Tode' - also das Todesverhängnis, unter dem das menschliche Leben steht - später als Ausdruck und Folge menschlicher Sünde denken und damit der schon in dieser frühen Schrift auftretenden Unterscheidung einen 'theologischen Sinn' geben.39 - Die beschriebene Fähigkeit, Ungleichzeitiges gleichzeitig sein lassen zu können, ist ein Charakteristikum der beseelten Substanz. Sie rechtfertigt für Augustin die Einsicht, daß der Mensch die unverlierbare Möglichkeit hat, der Erfahrung der Veränderlichkeit und des Todesverhängnisses, unter dem das Leben steht, das Postulat der Ewigkeit entgegenzusetzen. - Die kurze Analyse der Schrift 'De immortalitate animae' zeigt, daß Augustin das Phänomen der Zeit von Anfang an im Zusammenhang des Gedankens der Ewigkeit erörtert. Die Zeit, zunächst rein äußerlich als Veränderlichkeit der körperlichen Dinge vorgestellt, tritt vermittels der unveränderlichen Seele in Beziehung zur Ewigkeit. In der 'Gestaltung der Zeit' erweist und bewährt die Seele gleichsam ihre ewige Bestimmung - ihre Unsterblichkeit. Mit Piaton führt Augustin die Gesetze von Logik und Mathematik als Beleg dafür an, daß die Seele in sich ein Wissen um Ewigkeit und Unveränderlichkeit hat. Das wirkt sich in der Bewegung des Körpers durch die Seele so aus, daß der Körper sich nicht unter den verschiedensten Einflüssen hin und her bewegt, sondern in harmonischer und sinnvoller Bewegung auf das Streben der Seele nach dem höchsten Gut
38 Das gesteht Augustin auch zu (vgl. De imm. VIII Iff. u.ö.), behauptet aber, daß das 'unsterbliche Wesen' - die Substanz - der Seele davon nur akzidentell betroffen ist. 39 Die Wendung, daß das Leben ein 'cursus ad mortem' ist, findet sich bei Augustin in 'De civitate Dei', XIII, 10. Schmidt, Zeit und Geschichte, wendet sich mit Recht dagegen, diese Wendung so zu deuten, als habe Augustin damit wie Heidegger das mögliche Vorlaufen des Daseins zu seinem Ende im Blick (aaO. 39). Schmidt übersieht aber, daß Augustin schon in 'De immortalitate' und dann auch später den Gedanken einer dynamischen Bewegung der Zeit auf ihr Ende hin, das sie allerdings nicht selbst 'hervorbringt', kennt.
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hin orientiert ist. Die konstruktive Zusammenfassung des in der Zeit Getrennten ist also die Leistung der den Körper bewegenden Seele. Damit wird gegenüber späteren Äußerungen die Positivität der Zeit von Augustin betont, insofern die zeitliche Erstreckung und Ausdehnung des Geistes40 die Bedingung ist, unter der die Seele ihre Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit in der Zeit bewahren kann.41
2. Die Zeitlichkeit des Seienden als Bedingung für die mögliche Erhebung des Menschen zu Gott - Bemerkungen zur Funktion des Zeitbegriffs in der Musikschrift Die Heranziehung dieser Schrift rechtfertigt sich dadurch, daß sie vor allem in ihrem sechsten Buch eine Weiterführung der Analyse des Zeitphänomens anhand der Rolle, die zeitliche Klangphänomene in der Musik einnehmen, bietet. Dieses sechste Buch der Musikschrift, das als deren Vollendung erst bei Augustine Aufenthalt in Thagaste unmittelbar vor seiner Priesterweihe entstanden ist1, enthält eine Deutung der Musik, in der diese in ihrer Bestimmung als 'scientia bene modulandi' 2 letztlich aus dem der menschlichen Seele unveräußerlichen Wissen um die Idee ewiger und unzerstörbarer Harmonie körperlicher Bewegung interpretiert wird. Augustin wird die Musik und d.h. die Fähigkeit zur geordneten Gestaltung und Wahrnehmung eines Verses oder einer Melodie in Rhythmus und Klang letztlich theologisch deuten. Darin konkretisiert sich die These, die Augustin zu Beginn des sechsten Buches der Musikschrift äußert, wonach die Möglichkeit der Gestaltung und Wahrnehmung einer Melodie nur im Überschritt3 vom "Zahlhaften im sinnlichen Bereich zum Intelligiblen und schließlich zur Zahl 'eins', zu Gott"4 begriffen werden kann.
40 Der 'distendo' - Begriff taucht in dieser Schrift allerdings noch nicht auf. 41 E.A. Schmidt hat die Beweiskraft der vorgetragenen Argumentation Augustins für die 'Entdeckung' einer in ihr intendierten Beziehung von Zeit und Ewigkeit mit der Behauptung angezweifelt, Zeit gelte Augustin auch in dieser frühen Schrift allenfalls "als eine statisch zusammengefaßte Einheit" (vgl. E.A. Schmidt, aaO. 50). Dagegen spricht aber, daß Augustin diese Einheiten doch jeweils als konstruktive Einheiten, die die menschliche Seele in ihrer zeitlichen Erstreckung erzeugt, geltend macht. 1 Vgl. Schindler, Augustin 651 und C.J. Perl, Augustin. Über die Musik, 1956, XIV 2 A. Augustin, De musica, Migne PL 32, 1081ff„ hier Liber I, caput 2,2 1083 (Die Musikschrift wir dim folgenden in der bewährten Weise ohne Verfassername als 'De musica' zitiert) 3 Vgl. De musica VI, 1,1,1162 4 V. Duchrow, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff Augustins im Vertiältnis zur physikalischen und geschichtlichen Zeit, in: ZThK 63 (1966), 273
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Die Musikschrift führt in diesem Zusammenhang die Behauptung Augustine vor, daß die zeitliche Struktur jeder Bewegung - gezeigt wir dies am Beispiel klingender Silben - diesen Überschritt ermöglicht. Oder anders: die zeitliche Verfassung alles Bewegten bietet die Möglichkeit aufzudekken, daß alles Seiende auf eine ewige Ursache verweist.
a) Die Analyse der Zeit anhand musikalischer Phänomene Aus der Analyse musikalischer und rhythmischer Phänomene gewinnt Augustin seine Ergebnisse zum Wesen der Zeit. Das hat gute Tradition im Zusammenhang antiker Rhetorik.5 Das Hören ist für Augustin ganz offensichtlich eher geeignet als das Sehen, die Kontinuität der Zeit und damit zugleich ihre Realität im Akt gegenwärtiger Wahrnehmung aufzudecken. Dieser Zugangs weise zur Bestimmung des Wesens der Zeit bleibt Augustin auch noch in seinen 'Confessiones' treu.6 Die Musikschrift gehört noch in das breit angelegte Programm des Rhetors Augustin, "eine philosophischdialogische Interpretation der sieben artes liberales auszuarbeiten".7 Diese Absicht hat Augustin aber nur im Blick auf die Kunst der Musik durchgeführt; vermutlich wohl auch deshalb, weil er in seiner beruflichen und auch schriftstellerischen Tätigkeit bald durch die Pflichten, die auf ihn als einen Geistlichen zukamen, voll vereinnahmt war. Darin aber den einzigen Grund dafür zu sehen, daß Augustin seinen ursprünglichen Plan aufgegeben hat, wäre gewiß zu kurzsichtig gedacht. Hinzu kommt, daß das Programm dieser Schriften für Augustin mit den Jahren immer weniger zu halten war. Die These, das Geschaffene bilde trotz seiner Veränderlichkeit in seiner zeitlichen Struktur die unveränderliche Ewigkeit ab, in der der Schöpfer die Welt vor ihrer Erschaffung geplant habe, war für Augustin ganz offensichtlich nicht mehr akzeptabel. Die angedeutete zeitliche und sachliche Nähe der Musikschrift zu der Tätigkeit des Rhetors ist nicht zuletzt der Grund dafür gewesen, daß man auch die Ausführungen Augustine zum Zeitbegriff - die sich in den Confessiones der Analyse ähnlicher Phänomene verdanken wie in der Musikschrift - ganz allgemein aus dem Zusammenhang der 'rhetorischen Bil-
5 Vgl. E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, 1985, 30f. u.ö.; vgl. auch schon Duchrow, aaO. 274ff. 6 A. Augustin, Confessiones XI, 22, 28f. 7 Duchrow, aaO. 273; dazu vgl. Schindler, aaO. 650; zu dieser Absicht äußert sich Augustin in De ordine II, 30-51
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dungstradition' zu erklären versucht hat.8 Besonders U. Durchrow hat in verschiedenen Beiträgen die Orientierung Augustine an der Tradition der römischen Rhetorik, die Augustin selbst ja über einen langen Zeitraum hinweg selbst lehrte, auch inhaltlich zu umreißen versucht. Danach übernimmt Augustin den Zusammenhang, in dem er das Zeitproblem erörtert, von den Rhetorikern, knüpft mit der Beobachtung der seelischen Vorgänge der Zeitwahrnehmung an rhetorische Schemata an - diese Anknüpfung geht bis zu der berühmten Trias memoria-intelligentia-voluntas9 - und stellt sich mit der Herausarbeitung der Bedeutung der memoria für die Wahrnehmung der Einheit eines Bewegungsvorganges in die Nachfolge Varros.10 Die Ausführungen Duchrows und auch Schmidts bieten durchaus eine interessante Erklärung für die 'Herkunft' der Augustinischen Zeitanalysen; die sogenannte 'Psychologisierung' der Zeit bei Augustin zeigt sich auf diesem Hintergrund nicht mehr als eine Erscheinung in der Geschichte des Geistes, die ohne jegliche Vorläufer ist. Allerdings hat die Erkenntnis, daß "Augustin das Material, aus dem er seinen psychologischen Zeitbegriff formt, besonders aus seiner rhetorischen Theorie und Praxis speziell römischer Provienz schöpft"11, auch für Duchrow und Schmidt kaum Konsequenzen bei der inhaltlichen Darstellung und Beurteilung der Zeitlehre Augustine. Diese gewinnen sich auch bei Duchrow und Schmidt aus der Verhältnisbestimmung der Augustinischen Ausführungen zu den überlieferten Darstellungen der griechischen Philosophie.12 Die entscheidende Intention, die Augustine Zeitanalyse auch in der Musikschrift leitet, nämlich die Offenheit der menschlichen Zeiterfahrung für die Ewigkeit Gottes
8 Vgl. Duchrow, aaO. 273ff.; femer H. Edelstein, Die Musikanschauung Augustins nach seioner Schrift 'De musica', 1929 und R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56), 29ff. und 213ff.; neuerdings auch Schmidt, Zeit und Geschichte, bes. 17ff. 9 Duchrow, aaO. 277; vgl. auch A. Schindler, Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre, 1955, 34ff. 10 Vgl. Duchrow, aaO. 276 11 AaO. 277 12 Vgl. besonders aaO. 278ff. und Schmidt, aaO. 47ff.; im Blick auf die glänzenden und scharfsichtigen Ausführungen Schmidts ist dabei allerdings eine nähere Differenzierung geboten. Gewiß, auch Schmidt profiliert die Zeitanalyse Augustins auf dem Hintergnind der großen Entwürfe der griechischen Philosophie (vgl. Schmidt, aaO. 47ff.). Das auch von Schmidt ausgemachte Interesse Augustins aber, die Zeit im wesentlichen im Blick auf die Dimension der Gegenwart zu deuten, führt Schmidt nicht auf die Abhängigkeit Augustins vom 'griechischen SeinsbegrifF zurück, sondern ebenfalls auf die römische Rhetorik und Grammatik (aaO. 30). So kommt Schmidt zu dem abschließenden Urteil: "Augustin steht in seiner Zeitmeditation nicht in Auseinandersetzung mit großen philosophischen Entwürfen, Systemen, Denkanstrengungen, sondern stellt seine Überlegungen von einfachen aus dem ursprünglichen Denk- und Schulzusammenhang gelösten Schemata und doxographischen Elementen her an, die ihm die rhetorische Bildungstradition vermittelt hat." (AaO. 23)
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aufzudecken, ist durch den Hinweis auf die rhetorische Bildungstradition nicht hinreichend erklärt.
b) Die Zahlverhältnisse in der Musik - Kurze Darstellung des sechsten Buches der Musikschrift Nachdem Augustin im ersten Kapitel des sechsten Buches seiner Musikschrift auf dessen für das Verständnis der gesamten Schrift entscheidende Bedeutung hingewiesen hat - die Bedeutung, die nämlich darin liegt, daß erst die Argumentation dieses letzten Buches den Anspruch verwirklichen kann, allein der Überschritt von sinnlichen Zahlverhältnissen zu rein intelligiblen Grundsätzen erfasse das Wesen der Musik - , fragt er mit dem Beginn des zweiten Kapitels nach den Erscheinungsformen musikalischer Phänomene.13 Welchen Bedingungen, so fragt Augustin, unterliegen Gestaltung und Wahrnehmung einer Melodie? Als erstes Beispiel für die Herausarbeitung der Erscheinungsformen, in denen ein musikalisches Phänomen immer auftritt, führt Augustin den Vers 'Deus creator omnium' an; er läßt den 'Lehrer' seinen Dialogpartner fragen: "wo, glaubst du, treten diese vier Jamben mit ihren zwölf Zeiten in Erscheinung?"14 Bei der Beantwortung dieser Frage gelangt Augustin zu der Unterscheidung von zunächst vier Genera, in denen ein gesungener Vers in Erscheinung tritt. Jene Maße und rhythmische Ordnung, die dem gesungenen Vers seine Gestalt geben, treten danach zuerst in dem äußeren Klang, der auf das Ohr des Hörers tritt, in Erscheinung. Dieser Klang kann durchaus in Abhängigkeit vom Akt des Hörens selbst vorgestellt werden, insofern es sich rein um eine durch den Klang bewirkte 'Schwingung der Luft', wie Augustin sich ausdrückt, handelt - "ubi nullus adsit auditor".15 Die Zeitfolge eines gesungenen Verses ergibt sich also zunächst aus der Folge der Töne. Die Zeit ist darin rein äußerlich das Medium, in dem sich eine Tonfolge entfaltet. Das ist insofern nicht ganz unwichtig, als es zeigt, daß Augustine Analyse des Zeiterlebens nicht einfach von dem Gedanken der 'realen' oder objektiven Zeit abstrahiert. 13 Vgl. De musica VI, 2, 2, 1163ff. 14 AaO. 1163; mit den zwölf 'Zeiten', in die der Vers 'Deus creator omnium ' aufteilbar ist, sind nach heutigem Sprachgebrauch 'Moren' als zeitliche Grundeinheiten eines Verses gemeint (vgl. I. Braak, Poetik in Stichworten, 19806, 98); "... istos quatuor iambos quibus constat, et tempora duodecum ubinam esse arbitreris?" 15 De musica VI, 2, 2, 1163
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Zweitens treten die rhythmischen Ordnungen eines Verses "in sensu audientis qui ad aures pertinet"16 auf - also im Akt des Hörens. Diese Gattung bedarf einer näheren und genaueren Betrachtung. Augustin unterscheidet im Blick auf den 'Sensus audientis' (Gehörsinn) zwischen der 'vis percipiendi', die unabhängig von dem Ertönen eines äußeren Klanges ist, und dem eigentlichen Akt des Hörens selbst, der abhängig ist vom Erklingen einer Melodie oder eines Tones. Die Einsicht in diese Unterscheidung und in das Bestehen einer 'vis percipiendi', die mit dem Abklingen eines äußeren Tones nicht verschwindet, lassen den Schluß zu auf eine "naturalis ... vis quasi judiciaria", die dem Gehörsinn unveräußerlich innewohnt.17 Nur die Annahme einer solchen Fähigkeit erklärt hinreichend die Tatsache, daß wir jede erklingende Melodie - auch unabhängig von der Erfassung ihrer rhythmischen und 'harmonischen' Struktur - mit Ergötzen oder mit Ablehnimg - jedenfalls mit 'innerer Beteiligung' - hören. Daß diese Fähigkeit der Beurteilung einer gehörten Melodie nicht im bloßen sensitiven Akt des Hörens aufgeht, wird von Augustin an dieser Stelle zunächst nur thetisch dargelegt.18 Nun treten ein Vers oder eine Melodie nicht 'absolut' für sich auf, d.h.. gleichsam ohne Vermittlung. Verse und Melodien werden gesprochen bzw. gesungen. Insofern manifestieren sich die rhythmischen Ordnungen einer Melodie - Augustin nennt die Genera, in denen eine Melodie oder ein Vers in Erscheinung treten, entsprechend zu seiner These, daß Musik durch Zahlenverhältnisse bestimmt ist, numeri - drittens "in actu pronuntiantis"19, d.h. also im Akt der Gestaltung einer Melodie. Denn die spezifische Gestaltung einer Melodie setzt die Möglichkeit voraus, daß der Vortragende sich die Melodie innerlich vergegenwärtigen kann - und zwar so, wie er sie vorzutragen gedenkt. Es ist also klar, daß es sich hierbei um eine 'geistige Tätigkeit'20 handelt. Auch im Blick auf diese dritte Gattung geht es Augustin darum, ihre Eigenständigkeit neben den anderen Zahlengattungen aufzuweisen. Der aktuelle Vortrag eines Verses oder eines Liedes wird von Augustin, wie gesehen, auf die in der Einbildungskraft vollziehbare Vorstellung der Vers- bzw. Tonfolge zurückgeführt. Die Unabhängigkeit dieser Vorstellung von dem Erklingen und dem Hören einer Melodie ist evident. "Wir sind nämlich imstande, schweigend in unserem Innern durch Denken
16 Ebd. 17 De musica VI, 2, 3,1164 18 "Naturalis vero illa vis quasi judiciaria, quae aurìbus adest, non desinit esse in silentio, nec nobis earn sonus infert" (aaO. 1164) 19 De musica VI, 2, 2,1163 20 AaO. 1164; 'operado animi'
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Melodien uns vorzustellen und brauchen dazu dieselbe Zeit, die nötig ist, um sie tönend zu verlebendigen."21 In ähnlicher Weise wie gegenüber dem äußeren Klang gilt die Eigenständigkeit der vorgestellten Melodie auch gegenüber der 'vis percipiendi ' : "Es ist klar, daß es sich hier (sc. bei der Vorstellung einer Melodie) um eine geistige Tätigkeit handelt, die, weil sie keinen Klang hervobringt, auch auf das Ohr keine Einwirkung ausübt".22 Aus diesen Überlegungen geht für Augustin deutlich hervor, daß diese aus der Tätigkeit der Einbildungskraft entspringende Gattung, in der eine Melodie zur Erscheinung kommt, unabhängig von den beiden Genera ist, die als äußerer Klang und als 'sensus audientis' namhaft gemacht wurden. Ob die Tätigkeit der Einbildungskraft, in der wir uns eine Melodie vorstellen, allerdings ohne Zutun des Gedächtnisses - in ihm treten dann die Maße und Zahlen einer Melodie in einer vierten Gattung auf - möglich ist, scheint fraglich zu sein. Es scheint so zu sein, daß wir uns nur eine solche Melodie vergegenwärtigen können, derer wir uns erinnern. Aber Augustin versucht die Eigenständigkeit derjenigen operatio animi, in der "aliquos numéros cogitando"23 vorgestellt werden, auch gegenüber der memoria aufzuweisen - und zwar so, daß er sie als lebensmäßige Bewegung der Seele geltend macht, die dem Rhythmus, in dem das Blut in den Adern pulsiert, analog ist.24 "Von jenen Tongestalten aber, die wie mit unserem nach innen gekehrten Geist zustandebringen, wissen wir als sicher, daß sie zeitlich geordnete Rhythmen sind, und daß sich die Lebenskraft derart mit ihnen beschäftigt, daß auch der hinzugezogene Wille sie in mannigfaltiger Weise abwandeln kann: zu ihrem Vollzug bedarf es aber keinerlei Gedächtnisses."25 Die lebensmäßige Bewegung der menschlichen Seele oder besser: der Rhythmus des menschlichen Lebens insgesamt hat keinen Bezug zur Tätigkeit der Erinnerung. Damit bringt Augustin einen sehr modern anmutenden Gedanken zum Ausdruck: der organische Vollzug des Lebens ist Gesetzen und Rhythmen unterworfen, die im aktuellen Lebensvollzug reflexiv nie einholbar und steuerbar sind; der Rhythmus des Lebensvollzuges geht der reflexiven 'Steuerung' des Lebens voraus. Aus dieser Einsicht 21 Ebd.; "Nam et taciti apud nosmetipsos possumus aliquos numéros cogitando peragere ea mora temporis, qua edam voce peragerentur" 22 Ebd.; "Hos in quadam operaüone animi esse manifestum est, quae quoniam nullum edit sonum, nihilque passionis infert auribus". 23 Ebd. 24 Vgl. De musica VI, 3,4,1165 25 Ebd.: "de istìs certe quos reciproco spiritu agimus, nulli dubium est, quin et temponim intervallis numeri sint, et eos sic anima operetur, ut etiam volúntate adhibita multis modis variari queant: nec tarnen ut agantur, ulla opus est memoria"
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begründet Augustin in unserem Zusammenhang die These, daß die menschliche Seele in der Einbildungskraft die Vorstellung einer rhythmisch und hinsichtlich des Zeitablaufes geordneten Melodie entwickeln kann - ohne Zutun der memoria. Die vierte Gattung, in der die Maße und Zahlen eines gesungenen Verses in Erscheinung treten, finden sich, wie oben angedeutet, in der memoria.26 Für diese Gattung gilt, daß wir Melodien "aus unserer Erinnerung hervorholen und (können) sie, wenn wir zu anderen Gedanken übergehen, gleichsam wieder in ihr Versteck zurücklegen können, in eine Verborgenheit, in der sie, was doch sicher einleuchtend ist, ohne die anderen sein können".27 Augustin fügt diesen vier Gattungen, in denen ein musikalisches Phänomen in Erscheinung tritt, schließlich noch eine fünfte hinzu, die er "im natürlichen Urteil des Hörers (ansiedelt), derzufolge wir uns an der Gleichförmigkeit der tönenden Zahlen ergötzen und, sofern an ihnen gesündigt wird, verletzt werden".28 Dieseßnfte Gattung wurde bereits bei der Unterscheidung zwischen einem äußeren und inneren Hören vorweggenommen, wobei diese Unterscheidung von Augustin so gedacht wurde, daß das äußere Hören als affectio des Gehörsinnes in bezug auf einen äußeren Klang zu denken ist, - gleichsam als Abdruck des Gehörten im inneren Sinn - das innere Hören aber als "naturalis... vis quasi judiciaria"29, nach der wir eine gehörte Melodie im Akt des Hörens schon immer im Blick auf Harmonie und Gefälligkeit beurteilen. Diese Beurteilung aber ist nach Augustin "ohne gewisse in unserem Gehörsinn verborgene Maße"30 nicht denkbar und verlangt also nach der Annahme dieser fünften Gattung, in der die Maße und Zahlen einer Melodie in Erscheinung treten. Diese fünfte Gattung dient für Augustin als der schlagende Beweis, daß den Sinnen eine Idee von der Harmonie und rhythmischen Gestalt jedes musikalischen Phänomens zugrunde liegt. Demnach können nun alle fünf Gattungen, in denen die zahlhaften Töne einer Melodie zur Erscheinung kommen, auf den Begriff gebracht werden. So spricht Augustin abschließend in der Reihenfolge ihrer ontologischen Wertigkeit von den judiciales numeri (urteilenden Zahlen), den progressores (aus der inneren Tätigkeit der Seele hervorgehenden), den occursores31 (den im Hören einer Melodie 26 Vgl. aaO. 1163 und 1165 27 AaO. 165: "nam si eos recordatione depromimus, et cum in alias cogitationes deserimur, hos rursum relinquimus velut in suis recretis recónditos, non, opinor, occultum est eos esse posse sine caeteris" 28 Ebd.; "genus, quod est in ipso naturali judicio sentiendi, cum delectamur parilitate numerorum, vel cum in eis peccatur, offendimur" 29 AaO. 1164 30 AaO. 1165; "sine quibus numeris in eo - sc. sensu audientis - latentibus"
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vollzogenen), den recordabiles (erinnerbaren) und den sonantes (tönenden).32 Mit der Herausarbeitung dieser fünf verschiedenen Gattungen, in denen die zahlenmäßige Ordnung eines musikalischen Phänomens vorliegt, ist aber beim näheren Hinsehen noch nicht allzuviel gewonnen. Wie bestimmen nun diese Zahlengattungen, in denen ein Vers oder eine Melodie auftreten, das konkrete Hören oder Gestalten eines Verses? Wie sind sie darüber hinaus einander zuzuordnen? Diese Fragen sind noch offen. Augustin betont aber mehrfach, daß eine Melodie für das menschliche Hören so in Erscheinung tritt, daß die einzelnen Gattungen, die jeweils einen Akt des menschlichen Geistes (operatio animi) kennzeichnen, nicht nebeneinander stehen, sondern sich gegenseitig bedingen und voraussetzen. Die - aus methodischen Gründen vorgenommene - künstliche Trennung zwischen den einzelnen Zahlengattungen gilt es also aufzuheben, um zugleich damit die Beziehung der einzelnen Gattungen zueinander kenntlich zu machen. Es ist leicht einzusehen, daß die 'vis judiciaria' der Seele, mit der sie eine gehörte Melodie beurteilt, allen anderen Tätigkeiten der Seele überzuordnen ist. Dies liegt schon im Begriff der 'numeri judiciales', wonach die Vorstellung einer vollkommenen Harmonie und Geordnetheit eines musikalischen Phänomens überhaupt nur dann zum Maß für die Beurteilung einer konkreten Melodie werden kann, wenn die Tätigkeit, aus der diese ursprüngliche Vorstellung hervorgeht, allen anderen Tätigkeiten der Seele vorgeordnet ist; "denn ragte sie nicht hervor, könnte sie nicht über jene urteilen"33. Die numeri judiciales stellen also die allen anderen übergeordnete Zahlengattung dar, weil sie das Kriterium der Bewertung des Gehörten und Gesprochenen enthalten. Der jeder Reflexion vorausgehende unmittelbare Eindruck von einer gehörten Melodie, der empfunden wird, wenn eine Melodie zu Gehör kommt, schließt nicht nur ein, daß die Ordnung und rhythmische Gestalt einer Melodie in der menschlichen Seele vorstellungsmäßig schon vor dem eigentlichen Akt des Hörens existieren, sondern auch, daß sie in einer ganz besonderen und hervorragenden Weise dort 'vorhanden' sind, weil jede Melodie nach der in der Seele präsenten Idee von der Geordnetheit und Harmonie einer Melodie beurteilt wird.
31 Hinter dieser Bezeichnung der Gattung, die das einfache Hören (actus pericipiendi) kennzeichnen soll, verbirgt sich das, was wir sinnliche Wahrnehmung nennen. Augustin bestimmt sinnliche Wahrnehmung - das kommt noch mehrfach zur Sprache - "als ein Entgegenwirken der Seele gegen die Bewegungen, die der Körper durch äußere Einwirkungen erleidet". (Durchrow, Zeitbegriff 275) 32 De musica VI, 7, 16,1172 33 De musica VI, 4,5,1165; "... non enim de illis posset, nisi excelleret, judicare"
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Für eine Beurteilung der Wertigkeit der anderen Gattungen gilt nun das Prinzip, daß die 'facti' (bewirkten) den 'facientes' (bewirkenden) nachzuordnen sind.34 Denn das Verursachte gilt ontologisch weniger als das Verursachende. Unter den iibriggebliebenen vier Gattungen verdienen deshalb offenbar die numeri sonantes den Vorrang, weil sie im Akt des Hörens zur Kenntnis genommen und empfunden werden und auch erst als solche erinnerbar sind. Sensus und memoria beziehen sich demnach auf den äußeren Klang einer Melodie und bilden die vorgegebene Ordnung einer klingenden Melodie ab. Insofern sind die numeri sonantes gegenüber den recordabiles und den numeri occursores die 'verursachenden' Zahlen. An dieser Stelle ergibt sich aber für Augustin ein schwerwiegendes Problem. Dieses Problem liegt darin, daß mit diesen Überlegungen ein äußerer und 'körperlicher' Prozeß einem rein seelischen Akt, wie es beispielsweise die Erinnerung ist, übergeordnet werden soll. Augustin läßt denn auch an dieser Stelle seinen Dialogpartner einwenden: "Was mich verwirrt, ist die Frage, wieso der tönende Vorgang, der sicher körperlich ist und im Körper entsteht, über seelische Vorgänge gestellt werden darf'. 35 Augustin zögert also darin, körperliche Vorgänge den offenbar durch sie bewirkten seelischen Vorgängen - sensus und memoria beziehen sich auf die Ordnung erklungener Melodien - vorangehen zu lassen. Der Grund dieses Zögerns bzw. der Irritation des Dialogpartners liegt darin, daß Augustin vor allem in seinen Frühschriften im Anschluß an Piaton die Eigenständigkeit der Seele gegenüber dem Leib betont hat, um von da aus das Streben der Seele nach dem Summum bonum als natürliches und unaufhebbares Streben des Menschen ausdrücklich machen zu können. Dabei ging Augustin sogar soweit, daß er die Seele in ihrer Unabhängigkeit vom Körper als 'rationalis substantia' bestimmte.36 Damit wurde zugleich die Bestimmung des Menschen als Einheit von Leib und Seele im Grunde 'begrifflich' unmöglich gemacht, da die Beziehung zum Körper der Seele selbst äußerlich bleiben mußte.37 Auf dem Hintergrund dieser Überlegung führt die Frage nach der ontologischen Wertigkeit der verschiedenen Zahlengattungen, in denen eine Me-
34 Vgl. ebd. 35 De musica VI, 4, 7, 1166: "niud me conturbai, quomodo sonantes numeri, qui certe corporei sunt, vel quoquo modo in corpore, magis laudandi sint quam illi, qui, cum sentimus, in anima esse reperiuntur" 36 Vgl. A. Augusta, De quantitate animae XIII22, Migne PL 32,1047 37 Augustin hat diese Auffassung später zu Recht im Blick auf die Herausstellung der leiblich-seelischen Einheit des Menschen, die nun auch die Seele und ihre Lebensvollzüge unter das Verdikt des Sündenfalls stellt, korrigiert (vgl. z.B. De civitate Dei, XIV, 6ff. u.ö.; dazu vgl. E. Gilson, Der Heilige Augustinus, 1930, 65ff.)
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lodie auftritt, im Zusammenhang der Frühschrift 'De musica' nicht nur in die notwendige Untersuchung des Verhältnisses von Leib und Seele, sondern darüber hinaus auch auf die Frage nach dem Zusammenspiel von Leib und Seele bei der Wahrnehmung. Augustin nämlich mag und kann sich nicht mit der Schlußfolgerung abfinden, die offensichtliche Angewiesenheit der Wahrnehmung und Erinnerung einer Melodie auf den äußeren Klang mache die Überordnung der numeri sonantes über die numeri recordabiles und occursores zwingend. Es ist vielmehr sorgfältig zu erwägen, "ob, was wir Hören nennen, in der Tat ein Vorgang in der Seele ist, der vom Körper ausgeht".38 Stellt sich nämlich heraus, daß die Wahrnehmung bzw. das Hören einer Melodie selbst nicht lediglich als ein 'körperlicher' Vorgang, in dem der menschliche Körper vermittels eines Sinnes eine 'affectio' erleidet, gedacht werden darf, so verliert auch die mögliche Vorordnung der sonantes numeri vor den recordabiles et occursores numeri ihre Schärfe und Problematik. Die Frage nach der ontologischen Wertigkeit von Leib und Seele im Blick auf ihr Zusammenwirken bei der Wahrnehmung - z.B. bei dem Hören einer Melodie - wird von Augustin in bemerkenswerter Weise beantwortet. Er geht aus von der Verwunderung über die Offensichtlichkeit der Tätsache, daß mit der Vorordnung der numeri sonantes vor den nunmehr recordabiles et occursores anerkannt wird, daß der Körper "irgend etwas in der Seele bewirkt"39, obwohl doch die Eigenständigkeit und Überlegenheit der Seele gegenüber dem Körper evident ist. Der Grund dieser möglichen und auch tatsächlich auszumachenden Wirkung des Körpers auf die Seele liegt im Sündenfall ("peccato primo") begründet40, der hier von Augustin als allgemeine Zuwendung des Körpers zum Schlechteren ('deterius') gedeutet wird.41 Ohne diese Zuwendung zum Schlechteren könnte der Körper, so fügt Augustin hinzu, gar nicht auf die Seele wirken. In 'De musica' spricht Augustin im Unterschied zu späteren Ausführungen davon, daß die Seele durch diesen Fall 'des Körpers', der nun seinen Lüsten nachgibt, lediglich in Mitleidenschaft gezogen und insofern nur indirekt betroffen ist.42
38 De musica, VI, 5,8,1167; "diligenterconsiderandum est utrum revera nihil sit aliud quod dicitur audire, nisi aliquid a corpore in anima fieri" 39 De musica, VI, 4,7,1166; "facere aliquid in anima corpus" 40 Ebd. 41 Vgl. ebd. 42 Später wird Augustin die Sünde des Menschen insgesamt als amor sui denken und auf einen, Leib und Seele gleichermaßen betreffenden Willensakt des Menschen zurückführen (vgl. z.B. De civitate XIV)
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Die möglich gewordene Auswirkung der Verfehlung des Körpers auf die Seele wird von Augustin darüber hinaus mit dem Heilsplan Gottes ("summa Dei sapientia"43) begründet - genauer mit dem vorzeitlichen Plan der Menschwerdung Gottes. Nur dann nämlich, so legt Augustin dar, wenn die Seele durch die Verfehlungen des Körpers auch wirklich in Mitleidenschaft gezogen ist, ist das Versöhnungswerk des Sohnes Gottes, das durch sein Leiden und Sterben erreicht wird, überhaupt notwendig und wirkkräftig. So ist es zu verstehen, daß Gott die Wirkmöglichkeit des Körpers auf die Seele zuließ; "nam et nasci humanitus, et pati et mori voluit".44 Augustin fügt allerdings hinzu, daß die Einsicht in diesen Zusammenhang letztlich den "sanctis et melioribus"45 vorbehalten ist. Gleichwohl ist es von diesen Überlegungen aus nicht erstaunlich, daß die Seele unter den Einwirkungen von Seiten des Körpers leidet, wenn es denn in dem göttlichen Heilsplan liegt, seinen Sohn allem Leid der Welt auszusetzen. Das Zusammenspiel von Leib und Seele bei der Wahrnehmung - ja, die Frage, wie sich sinnliche Wahrnehmung überhaupt vollzieht - , ist nun problemfreier diskutierbar, wenn geklärt ist, daß die menschliche Seele durchaus Einwirkungen durch den Körper ausgesetzt ist. Augustin geht bei der Erörterung der Frage, 'quomodo anima sentiat'46, davon aus, daß die Seele ontologisch 'höherwertiger' ist als der Körper. Dieser Grundsatz ist unveräußerlich. "Aber was es auch sei, es kann nicht stark genug sein, um uns zweifeln zu lassen, daß die Seele besser ist als der Körper."47 Die Seele dem Leib unterzuordnen und anzunehmen, daß sie den Wirkungen des Körpers schutzlos ausgeliefert ist, ist höchst verabscheuungswürdig. Denn die Seele wirkt nach dem Willen Gottes und nicht bloß aus eigenem Antrieb als beseelende Kraft auf den Körper.48 Nur ist diese Wirkung der Seele auf den Körper Schwankungen unterworfen. Denn der Körper fügt sich nicht gleichbleibend den Einwirkungen der Seele. "Aliquando ... (sc. anima potest) cum facilitate, aliquando cum difficultate operari."49 Äußere Bewegungen wirken direkt nur auf den Körper des Menschen, indem sie eine 'affectio' hervorrufen, die der seelischen Tätigkeit entgegenkommt oder aber widerspricht. Im Falle der Gegensätzlichkeit der Bewegung des Körpers, die durch eine äußere Einwirkung hervorgerufen ist, zu der Seelenbe-
43 De musica, VI, 4, 7,1166 44 Ebd. 45 De musica, VI, 4,7,1167 46 So die Fragestellung von De musica, VI, 5, 8,1167 47 AaO. 1168: "Quidquid illud sit quod fonasse inveirne aut explicare non possumus, num ad hoc valebit, ut animarti corpore meliorem esse dubitemus?" 48 Vgl. ebd. 49 Ebd.
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wegung wird die Seele bei dem Versuch, sich den Körper gefügig zu machen, in Spannung versetzt ("ideoque cum renititur adversanti, et materiam sibi subjectam in opens sui vias difficulta impingit, fit attentior ex difficultate in actionem..."). 50 Die Bewußtwerdung dieser Spannung nennt Augustin allererst Wahrnehmung. Diese Spannung kann der Seele, wenn sie sich gegen die Beeinflussung durch den Körper und dessen Eigenbewegung durchsetzen muß, Mühe und Schmerz bereiten, wodurch sie in erhöhte Spannung gerät.51 Die Leichtigkeit der Einwirkung der Seele auf den Körper verursacht in der Seele entsprechend keine erhöhte Gespanntheit (attentio), sondern Freude und Lust (voluptas).52 Die bloße Einwirkung einer äußeren Bewegung auf den mit der Seele 'verbundenen' Körper ruft nach Augustin eine gänzlich unbestimmte 'corporea actio' hervor, die ein Affiziertsein des Körpers darstellt, ohne daß aber im Blick auf diese affectio schon von einer Wahrnehmung gesprochen werden könnte. Nach diesen Überlegungen kann das Phänomen der Wahrnehmung weder als eine 'passio' der Seele im Blick auf eine äußere Bewegung gedacht werden noch als eine Einwirkung des Körpers, der eine Bewegung 'erleidet', auf die Seele; sondern es handelt sich bei der Wahrnehmung gerade um die Wirkung der Seele auf ein körperliches Erleiden - auf eine affectio des Leibes - , d.h. also um einen die Bewegung des Körpers begleitenden Akt des Bewußtseins.53 Augustin formuliert seine 'Lehre von der Wahrnehmung' resümierend folgendermaßen: die Gespanntheit der Seele (attentio) angesichts des Versuches, zwischen ihren Bewegungen bzw. Zielen und den Bewegungen des Körpers Übereinstimmung zu erzielen, ist, wenn sie bewußt ist, das, was wir Wahrnehmung nennen.54 Diese Kennzeichnung der Wahrnehmung als eines Bewußtseinsaktes führt deutlich vor Augen, daß die Seele für Augustin "eine geistige, immer wachsame und gegenwärtige Kraft ist".55 Damit ist die Konzeption Augustine in der Frage, 'quomodo anima sentiat', dargestellt. Die Pointe dieser Konzeption liegt darin, Wahrnehmung als einen Bewußtseinsakt ausdrücklich gemacht zu haben. "Ich will aber nicht zu weitläufig werden: mir scheint die Seele, wenn sie im Körper fühlt, nichts von ihm aus zu erdulden, sondern unter seinen Erduldungen gespannter zu handeln; diese jeweils leichten, jeweils schwierigen, einmal 50 51 52 53 54 55
Ebd. Augustin spricht von 'dolor aut labor' (ebd.) Vgl. ebd. Vgl. den gesamten Abschnitt De musica VI, 5 , 9 , 1 1 6 8 Ebd.; "... attentionem, cum earn non latet, sentire dicitur" Gilson, aaO. 119
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durch Übereinstimmungen, einmal durch Nichtübereinstimmungen bedingten Handlungen werden ihr bewußt: und das heißt Wahrnehmung."56 Die von Augustin angeführten Beispiele zur Unterstreichung dieser Theorie können das Gemeinte noch erhellen. Die Wirkmöglichkeit einer 'äußeren Bewegung' auf den Körper besteht kraft der unterschiedlichen sensus - beispielsweise des Gehör- oder Geschmackssinnes. Die Sinne aber sind instrumenta corporis, die von der Seele dirigiert werden. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Jede konkrete Einwirkung auf den Körper wird durch ein Gefühl der Lust oder Unlust, der Zustimmung oder der Ablehnimg begleitet. Dieses Gefühl muß auf die Tätigkeit der Seele zurückgeführt werden, die die 'affectiones' des Körpers begleitet. "Wenn ... von außen her, wenn ich so sage, entsprechende Erscheinungen an den Körper herantreten, setzt sie (die Seele) aufmerksamere Tätigkeiten in Bewegung, die jeweils dem Ort und dem Sinneswerkzeug entsprechen: dann spricht man von Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten ,..".57 Und zwar setzt die aufmerksame Tätigkeit (attentio) der Seele dann ein, wenn sie gewahr wird, daß die affectiones, die der Körper durch äußeren Einfluß erleidet, nicht ohne ihre Hilfe geordnet werden können, mithin wenn die Harmonie des Körpers durch seine Empfindungen gestört ist. Erst dieses Zusammenwirken des Körpers und der die affectiones des Körpers gleichsam kontrollierenden Seele kann im vollen Sinne Wahrnehmung genannt werden. Somit stellt der Akt jeder Wahrnehmung eine Einheit von passiver und aktiver Tätigkeit des 'ganzen Menschen' vor. Mithin kann - so ist abschließend nochmals festzustellen - im Blick auf das Phänomen der Wahrnehmung nicht von einer bloßen Einwirkung des Körpers auf die Seele gesprochen werden; allenfalls in dem oben angedeuteten Sinn, daß die menschliche Seele aufgrund des Sündenfalls sich bei ihrer aufmerksamen Begleitung der Bewegungen und Regungen des Körpers in dem Bemühen um dessen Harmonie sorgend verzehrt. Dieses ist aber ein Leiden, dem sich die Seele aus freien Stücken unterstellt ("a seipsa patitur"58). So gilt nun auch für das Phänomen der Musik - darauf zielt der ganze, ein wenig umständlich wirkende Argumentationsgang Augustins - , daß selbst
55 De musica, VI, 5, 10, 1169: "Et ne longum faciam, videtur mihi anima cum sentit in corpore, non ab ilio aliquid pati, sed in ejus passionibus attentius agere, et has actiones sive faciles propter convenienüam, sive difficiles propter inconvenienüam, non earn latere: et hoc totum est quod sentire dicitur"; vgl. auch Α. Augustin, Retractaüones, II, 2, Migne PL 32,586 57 De musica, aaO. 1169: "Cum autem adhibentur ea quae nonnulla, ut ita dicam, alteritate corpus afficiunt; exserit attentiores actiones, suis quibusque locis atque instrumentis accomodates ..." 58 De musica VI, 5 , 1 2 , 1 1 7 0
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dann, wenn erfundene oder erinnerte Melodien als abhängig von erklungenen vorzustellen sind, damit dennoch keine 'Überordnung' körperlicher Vorgänge über seelische actiones verbunden ist; denn auch die Wahrnehmung einer Melodie ist wesentlich als aktive Bestimmung und Lenkung des 'sensus audientis' durch die Seele zu denken. Das Ohr ist nämlich insofern ein 'beseeltes Organ', als die Seele bereits vor dem eigentlichen Akt des Hörens dem Hörsinn in einer 'vitalis motus' präsent ist.59 Die Einteilung und ontologische Weitung der verschiedenen Zahlengattungen, in denen eine Melodie auftreten kann, ist nach diesen Überlegungen endgültig ermöglicht. Nach den judiciales numeri, deren Überordnung über alle anderen Gattungen schon geklärt war, sind die progressores numeri, also die aus der Lebensbewegung der Seele entspringenden Zahlen und Ordnungen zu nennen, dann die occursores, schließlich die erinnerten und endlich die sonantes numeri.60 Die Frage nach dem Zusammenwirken und der Beziehung der einzelnen Gattungen ist andeutungsweise, aber noch nicht endgültig beantwortet. Deutlich ist, daß die Lösung dieser Frage in der Herausarbeitung der Wahrnehmung als einer 'operatio activa' der Seele liegt, deren einziges Bestreben es ist, die Harmonie des Körpers angesichts äußerer Einflüsse zu erhalten bzw. herzustellen. So wird verständlich, wie die Seele ihre Idee von vollkommener Harmonie schon auf den Akt der Wahrnehmung 'anwenden' kann. Mit der Darstellung der augustinischen Lehre von dem Zusammenwirken von Leib und Seele bei der Wahrnehmung ist nun der Zugang gewonnen für die Analyse der Funktion der Zeit nicht nur im Blick auf die Musik, sondern hinsichtlich der Tätigkeiten der Seele überhaupt. Daraus gewinnt die Breite der vorangegangenen Darstellung ihr Recht. Für die Untersuchung des weiteren Argumentationsganges der Musikschrift wird nun das ausführlichere Referat durch ein solches Vorgehen ersetzt, das sich auf die für unser Thema entscheidenden Gesichtspunkte beschränkt.
c) Die 'memoria' als Licht der Zeiträume Im unmittelbaren Anschluß an die oben referierten Ausführungen diskutiert Augustin die Frage, ob die judiciales numeri, d.h. diejenige Zahlengattung, die in der Seele immer präsent ist und nach der sie eine erklingende Melodie beurteilt, als unsterblich bzw. unvergänglich bezeichnet werden können.
59 Vgl.aaO. 1169 60 De musica VI, 6,16, 1172
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"Numeri judiciales an sint immortales" - so lautet die Fragestellung von Kapitel VII.61 Die immortalitas der numeri judiciales - also die Vorstellung, daß es ewige und unveränderliche Gesetze in der Musik gibt, die der menschlichen Seele unmittelbar gegenwärtig sind - , könnte dann gelten, wenn sie als von jeglichen Zeitverhältnissen unabhängig zu denken wären. Das aber kann nicht der Fall sein, da "naturale illud judicium"62, mit dem Gehörtes und Erfundenes beurteilt wird, auf gewisse Maße und Zeitverhältnisse angewiesen ist. Beispielsweise kann nicht jede beliebige zeitliche Ausdehnung der zeitlichen Grundeinheit (More) eines Verses akzeptiert werden, wenn ein Gedicht oder eine Melodie noch erkennbar sein sollen. Als konkretes Exempel für das hier Gemeinte führt Augustin Jamben an, deren Breve den Zeitraum eines Jahres einnehmen, deren Longum entsprechend den doppelten Zeitraum.63 Diese Jamben entziehen sich deshalb faktisch der möglichen Kenntnisnahme und Beurteilung, weil sie in ihrer immensen zeitlichen Ausdehnung nicht mehr als Teile eines Gedichtes kenntlich gemacht werden können. Dieses gekünstelt wirkende Beispiel soll nichts als die Angewiesenheit auch derjenigen Seelenfunktionen auf Raum und Zeit aufdecken, die hinsichtlich einer möglichen 'Vermischung' mit Körperfunktionen unverdächtig sind. "Also sind die Urteiler doch auch an gewisse Grenzen der Zeiträume gebunden; und was immer diese Grenzen überschreitet, kann nicht mehr von ihnen beurteilt werden: im Hinblick auf diese Gebundenheit sehe ich daher nicht ein, inwiefern sie unsterblich sein sollen."64 Der Grund der Angewiesenheit der menschlichen Seele auf gewisse Zeitverhältnisse liegt für Augustin einmal in der Tatsache, daß jedem Lebewesen der Zeit- und der Raumsinn zweckmäßig verliehen ist - nämlich derart, daß "jedem Lebewesen der Sinn für Raum und Zeit nur im Verhältnis seiner eigenen Gattung zur gesamten Umwelt verliehen ist"65; zum anderen in der Sterblichkeit des Menschen.66 Die Einfachheit und Plausibilität dieser Argumentation ist verblüffend. Augustin will erklärtermaßen die Angewiesenheit des menschlichen Denkens und Wahrnehmens auf bestimmte zeitliche und räumliche Ordnungen
61 Vgl. De musica VI, 7,17, 1172 62 Ebd. 63 Vgl. aaO. VI, 7, 19, 1173 64 AaO. VI, 7, 18, 1172: "Tenentur ergo et hi judiciales nonnullis finibus temporalium spatiorum, quos in judicando excedere nequeunt, et quidquid excedit haec spatia, non assequuntur ut judicent: atque iis si tenentur, quomodo sint immortales non video" 65 AaO. VI, 7,19,1173: "quia unicuique animanti in genere proprio, proportione universitatis sensus locorum temporumque tributus est" 66 Vgl. ebd.
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begründen und erläutern. Dazu weist er auf die zeitliche Begrenztheit des Einzellebens hin. Das Leben des einzelnen Menschen wie auch das Dasein der Gattung Mensch insgesamt umfaßt nur einen kleinen Abschnitt in der Geschichte der Welt: "so wie die Größe seines Körpers in einem Verhältnis zum Weltkörper steht, dessen Teil er ist, so steht auch seine Lebensdauer in einem Verhältnis zum Alter der Welt, dessen Teil sie ist".67 Das Sein des 'universum saeculum', das alles umfaßt, da jegliches Seiende als Teil desselben zu denken ist, hat seine räumliche und zeitliche Ausdehnung wiederum nur in bezug auf das Seiende, das kleiner ist und einen kürzeren Zeitraum einnimmt als es selbst. Die Welt ist also nicht in einem absoluten Sinn groß und immerwährend; sie ist "in betreff von Raum und Zeit nicht an sich groß und dauernd, sondern im Verhältnis zu einem anderen Seienden, das kleiner und weniger dauernd ist."68 Wegen dieser faktischen zeitlichen und räumlichen Begrenztheit aber ist der menschlichen Natur ein solcher Zeit- und Raumsinn verliehen worden, der sich als nützlich und zweckmäßig für das Leben des Menschen erweist. Es ist "der menschlichen Natur für die Handlungen ihres fleischlichen Lebens ein Sinn verliehen worden, dessen Urteil nur solche Zeiträume erfassen kann, die einen Gebrauchswert für das eigene Leben besitzen; und da die Natur dieses Menschen sterblich ist, halte ich auch einen solchen Sinn für sterblich".69 Es ist mithin sinnlos, den Anspruch zu erheben, daß beispielsweise Jamben, deren zeitliche Grundeinheit die Dauer eines Jahres einnimmt, durch die Sinne erkannt und wahrgenommen werden müssen, da dies der Nützlichkeit und sinnvollen Ordnung der Welt im ganzen widersprechen müßte. So endet diese ein wenig gestelzt wirkende Argumentation Augustine mit der Feststellung der grundsätzlichen Zeitlichkeit aller seelischen Akte. Von der behaupteten Unhintergehbarkeit der Zeitlichkeit ist also auch der menschliche Geist betroffen. Auf die Bemerkung Augustins, die Angewiesenheit des Geistes auf Zeiterfahrung und Raumbewußtsein gründe letztlich in der Sterblichkeit der menschlichen Natur, wird noch zurückzukommen sein. In einem weiteren Kapitel seines sechsten Buches der Musikschrift beschreibt Augustin, wie die menschliche Seele durch die numeri judicia67 Ebd.: "ut quomodo corpus ejus proportione universi corporis tantum est, cujus pars est, et aetas ejus proportione universi saeculi tanta est, cujus pars est" 68 Ebd.: "nihil in spatiis locorum et temporum per seipsum magnum est, sed ad aliquid brevius" 69 Ebd.: "humanae naturae ad camalis vitae acüones talis sensus tributus est, quo majora temporum spatia judicare non possit, quam intervalla postulant ad talis vitae usum pertinentia; quoniam talis hominis natura mortalis est, etiam talem sensum mortalem potu."
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les, die - wie gesehen - auch zeitlichen Ordnungen unterliegen, gehörte und erfundene Melodien beurteilt. Es geht also nun darum zu zeigen, inwieweit Gehörtes, Erfundenes und Erinnertes schon immer dem Urteil des hörenden, denkenden und sich erinnernden Subjekts unterliegt. Danach wirken die numeri judiciales auf die Tongestalten, die wir in unserer Einbildungskraft hervorbringen70, durch ein verborgenes Urteil ('latente nutu'71), das darauf zielt, den Körper vor unharmonischen Einflüssen und Bewegungen zu schützen und zu einer gewissen Gleichförmigkeit seiner Tätigkeit anzuhalten. Die aktuell wahlgenommenen Melodien (occursores numeri) werden ihrerseits vermittels der Erinnerungskraft dem Urteil dargeboten.72 Denn eine nach Zeitwerten geordnete Melodie kann deshalb nie ohne Vermittlung des Gedächtnisses als solche wahrgenommen werden, weil ihr eine zeitliche Ausdehnung eignet. "Eine Silbe mag noch so kurz sein, ihr Anfang ertönt zu einer anderen Zeit als ihr Ende."73 Die Funktion des Gedächtnisses besteht darin, diese zeitliche Spanne von dem Anfang einer erklingenden Melodie bis zu ihrem Ende zu überbrücken. Diese Tätigkeit des Gedächtnisses wird von Augustin so beschrieben, daß ihre konstitutive Bedeutung für die mögliche Kenntnisnahme der Einheit einer in zeitlicher Folge erklingenden und wahrgenommenen Melodie deutlich wird. Nur durch die Erinnerungsfähigkeit wird eine Tonfolge überhaupt erst als solche erkennbar. Nun gehört aber die Erinnerungsfähigkeit nach Augustin noch offenkundiger als die Einbildungskraft in den Bereich des reinen, mit körperlichen Funktionen unvermischten Denkens. Wenn nun davon die Rede ist, daß erst durch die Tätigkeit des Gedächtnisses Wahrgenommenes zu einer Einheit gebracht werden kann, so wird die oben angedeutete Lehre von der Wahrnehmung als einer 'operario activa' der Seele damit noch zugespitzt. Die Verfassung der Seele stellt, so kann nun formuliert werden, allererst die Bedingungen her, unter denen es zur Wahrnehmung einer Melodie kommen kann. "Daher erfindet (invenit!) die Vernunft sowohl örtliche als auch zeitliche Räume, um eine Einteilung der Unendlichkeit zu schaffen; und deshalb wird das Ende keiner Silbe mit dem Anfang gehört."74 Ohne die Tätigkeit der Erinnerung und d.h. zugleich des menschlichen Geistes wäre die Wahrnehmung einer Melodie als solche deshalb unmög-
70 De musica VI, 3,4,1165: "reciproco spiiitu agimus" 71 Vgl. aaO. VI, 7 , 1 9 , 1 1 7 3 72 Vgl. aaO. VI, 8, 21, 1174 73 Ebd.: "Quamlibet enim brevis syllaba, cum et incipiat, et desinat, alio tempore initium ejus, et alio finis sonat" 74 Ebd. : "Itaratioinvenit tarn localia quam temporalia spatia infinitam devisionem recipere; et idcirco nullius syllabae cum initio finis auditur"
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lieh, weil wir gegen Ende einer Melodie nicht mehr um deren Anfang wüßten, ja weil die Folge als solche selbst nicht kenntlich zu machen wäre. "Hülfe uns nicht das Gedächtnis, so würde auch beim Hören einer ganz kurzen Silbe in dem Augenblick, wo nicht mehr der Anfang und noch nicht das Ende ertönt, jene geistige Tätigkeit aussetzen, die zu Beginn entwickelt wurde: wir hätten am Ende des Klanges den Anfang bereits vergessen, wir könnten nicht sagen, daß wir etwas gehört haben."75 Durch die Tätigkeit des Gedächtnisses allein wird nicht zugleich Erklingendes in eine Gleichzeitigkeit gebracht. So ist das Gedächtnis als "quasi lumen ... temporalium spatiorum"76 namhaft zu machen. Denn "wie die Augen in einem Blickfelde viele Gegenstände und im Raum zerstreute Punkte zusammenfassen, so läßt das Gedächtnis ... im Bewußtseinsblick eine Folge von Augenblicken zugleich existieren, die sonst sich zerstreuten".77 Die Analyse dieses Kapitels der Musikschrift kann den vorhergegangenen Bemerkungen folgende Einsicht hinzufügen. Die Angewiesenheit der 'urteilenden Tätigkeit' der Seele auf zeitliche Ordnung und Gliederung musikalischer Phänomene wird von Augustin durch den Hinweis auf die Funktion der memoria in der Mitte zwischen Wahrnehmung und Verstandestätigkeit präzisiert. In seiner zeitlichen Erstrecktheit hat das Gedächtnis vermittelnde Funktion zwischen Wahrnehmung und Verstandestätigkeit. Danach ermöglicht das Gedächtnis sowohl die Erkenntnis der Einheit einer in zeitlicher Folge wahrgenommenen Melodie als auch die Beurteilung der Harmonie des Gehörten. Diese Bedeutung der memoria beruht darin, daß das Gedächtnis der Ort ist, an dem Ungleichzeitiges in eine Gleichzeitigkeit gebracht werden kann. Die herausgehobene Bedeutung der urteilenden Tätigkeit der menschlichen Seele für alle seelischen Akte wurde von Augustin im Fortgang seiner Argumentation immer wieder betont. Die Frage nach einem Kriterium, nach dem die Seele Gehörtes und Erdachtes zu beurteilen pflegt, blieb dabei bislang weitgehend unbeantwortet. Allenfalls war davon die Rede gewesen, daß die Seele in ihrer Tätigkeit, in der sie den Körper bei der Wahrnehmung lenkt, an der 'unitas valetudinis'78 und an einer 'quaedam consensio'79 des Körpers mit sich selbst und seiner Umwelt orientiert ist. In diesem Sinne ist die Einführung einer sechsten Zahlengattung, einer Gattung nämlich, die die numeri judiciales selbst nochmals übertrifft, als 75 Ebd.: "In audienda itaque vel brevissima syllaba, nisi memoria nos adjuvat, ut eo momento temporis quo jam non initium, sed finis syllabae sonat, maneat ille motus in animo, qui factus est cum initium ipsum sonuit; nihil nos audisse possumus dicere." 76 Ebd. 77 Gilson, aaO. 121 f.
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der Versuch der Einführung eines Kriteriums, nach dem Gehörtes und Wahrgenommenes faktisch beurteilt wird, zu deuten. Den Anlaß für die Frage nach einer die numeri judiciales noch übertreffenden Zahlengattung sieht Augustin in der nachgewiesenen Abhängigkeit der urteilenden Tätigkeit der Seele von zeitlichen Ordnungen. "Unter diesen Umständen wollen wir, sofern wir es vermögen, versuchen, über diese Urteiler (judiciales) hinauszukommen, und uns fragen, ob es nicht noch eine höhere Gattung gibt als sie. Wir haben nämlich erkannt, daß sie nur für ganz beschränkte Zeiträume zuständig sind, nur das beurteilen können, was sich innerhalb von bestimmten Zeitgrenzen abspielt, und auch davon nicht einmal alles, sondern nur, was gedächtnismäßig gegliedert werden kann."80 Die Angewiesenheit des Urteils auf zeitliche Bedingungen läßt also Augustin die Möglichkeit nahelegen, daß die menschliche Seele die Kenntnis unveränderlicher Gesetze hat, denen die rhythmische und zeitliche Ordnung eines musikalischen Phänomens nachgeordnet sind. Neben dem Fehlen eines Kriteriums für die Beurteilung einer gehörten oder erfundenen Melodie verlangt noch ein anderer Sachverhalt nach einer sechsten Gattung, in der die Maße und Zahlen einer Melodie in Erscheinung treten. Oben war die urteilende Tätigkeit der Seele als 'naturale judicium sentiendi', "cum delectamurparilitate numerorum, vel cum in eis peccatur, offendimur"81, d.h. also als im Akt des Hörens einer Melodie präsente Lust oder Unlust, Zustimmung oder Ablehnung des Gehörten bezeichnet worden. Das Urteil ist damit noch nicht als eine Tätigkeit des Verstandes ausdrücklich gemacht. Ein 'verstandesmäßiges Urteil' kennzeichnet Augustin gegenüber der delectatio, die lediglich eine 'sinnliche Beurteilung' (delectari sensu82) darstellt, als eine sicherere Meinungsäußerung (certior sententia83). Diese Differenz zwischen einer 'delectatio sensu' und dem 'aestimare ratione' beansprucht dabei Evidenz. Es gilt fundamental zu unterscheiden; "erstens das Billigen oder Ablehnen dieser Bewegungen (sc. des Körpers), also ein gefühlsmäßiges Ergötzen an der Harmonie oder eine ebenso gefühlsmäßige Abwehr der Disharmonie von Bewegungen oder Verfassungen, gleichviel ob sie nun zum ersten Mal gezeigt oder
78 Vgl. De musica VI, 5,10, 1169 79 Vgl. ebd 80 AaO. VI, 9,23,1176: "Haec cum ita sint, conemur, si possumus, istos números judiciales transcendere, et quaeramus utrum sint superiores. In his enim quanquam spatia temporum jam minime videamus, non tarnen adhibentur, nisi ad ea judivanda quae in spatio temporis fiunt: nec ipsa quidem omnia, sed quae possunt articulari memoriter." 81 AaO. VI, 3,4, 1165 82 Vgl. aaO. VI, 9, 23, 1176 83 Vgl. ebd.
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durch Riickerinnerung wieder auferweckt werden - zweitens das Abschätzen, ob jene zurecht oder zu unrecht ergötzen, also eine verstandesmäßige Wertung".84 Im Anschluß an diese Äußerung Augustine also soll die Gattung der Zahlen, die aus der 'aestimatio ratione' hervorgeht, das Kriterium erfüllen, die delectatio, die im Akt des Hörens einer Melodie schon immer präsent oder aber abwesend ist, zu beurteilen. Gegenstand der möglichen delectatio beim Hören einer Melodie aber ist die innere Harmonie des Gehörten. Diese läßt sich kennzeichnen als harmonische Geordnetheit der Töne innerhalb des Ganzen der Melodie. "Was lieben wir denn an der sinnlich wahrnehmbaren Zahlhaftigkeit? Doch nichts anderes als eine gewisse Gleichförmigkeit und gleichmäßig gegliederte Abstände."85 Die Ratio fragt nun nach dem Recht der delectatio, die durch den Eindruck der harmonischen Gestaltung einer Melodie hervorgerufen wird. Die Vernunft überprüft, inwieweit das Gehörte beim näheren Hinsehen wirklich diese harmonische Einheit darstellt, die Anlaß zur Freude bot. "Quaerit ergo Ratio" zum Beispiel, "utrum duae syllabae breves quascumque audierit vere sint aequales".86 Diese Prüfung ist deshalb angebracht, weil die durch die Sinne hervorgerufene delectatio der Täuschung unterliegen kann. "Daraus folgt für uns die Mahnung, unser Ergötzen nicht über die sinnliche Freude zu beziehen, in der auch die Nachahmung der Gleichheit für schön gilt. Mit den Sinnen können wir die Erfüllung der Gleichheit nicht erfassen."87 Im Blick auf die wahrgenommene Harmonie einer Melodie kann durch die Sinne allein nicht unterschieden werden zwischen wahrer und bloß scheinbarer Haimonie; die delectatio ist der möglichen Täuschung unterworfen. Gleichwohl kann zumindest gedacht werden, daß es einen 'Ort' in der Seele gibt, an dem diese Unterscheidung getroffen werden kann. "Jene Gleichheit, die wir in den sinnlich wahrnehmbaren Zahlen zwar nie als sichere und bleibende, aber immerhin als nachgeahmte und vorübergehende anerkannt haben, jene Gleichheit, sage ich, könnte der Geist in Wahrheit nie anstreben, wenn sie nicht irgendwo wirklich zu erkennen wäre."88 Das
84 AaO. VI, 9, 24,1176f.: "ita est aliud annuere, vel renuere his motibus, aut cum primitas exseruntur, aut cum recordatione resuscitantur, quod fit in delectatione convenientiae, et offensione absurditatis talium motionum sive affectionum; et aliud est aestimare utrum recte an secus ista delectant, quod fit ratiocinando." 85 AaO. VI, 10, 26, 1178: "quid est quod in sensibili numerositate diligimus? Num alius praeter parilitatem quamdam et aequaliter dimensa intervalla?" 86 AaO. VI, 10,28,1179 87 Ebd.: "Ex quo admomemur ab his avertere gaudium, quae imitantur aequalitatem, et utrum impleant, comprehendere non possumus"
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Wissen um die Idee der Harmonie, als deren Nachahmung dann die zur Freude der Seele erklingende Melodie zu gelten hätte, ist der menschlichen Seele nach Augustin unveräußerlich. "Quae vero superiora sunt, nisi illa in quibus summa, inconcussa, incommutabilis, aeterna manet aequalitas?"89 Die menschliche Seele hat also, so die Behauptung Augustins, bei der Wahrnehmung einer Melodie das Wissen um eine ideale Gleichheit und Harmonie musikalischer Phänomene in sich; von dieser Harmonie gilt nun, daß sie sich in Zahlen und Maßen ausdrückt, denen das Prädikat der inconcussitas, der incommutabilitas und der aeternitas zukommt.90 Als Beweis dieser These kann nach Augustin gelten, daß sich der Mensch dieses Wissens zwar im Vergessen entäußern kann, aber sich doch gleichwohl bei geschicktem Fragen wieder daran erinnert.91 Der Aussage von der Unveräußerlichkeit einer absoluten Idee von Harmonie und Gleichheit korrespondiert die These von der Ewigkeit und Unveränderlichkeit der der Seele präsenten Maße und Zahlen. "M: Nun sage mir, ob dir die Zahlen, die man so erfassen kann, veränderlich erscheinen? D: Keinesfalls. M: Also verneinst du nicht, daß sie ewig sind."92 Die Unveränderlichkeit und Ewigkeit der Idee der Harmonie musikalischer Phänomene ist Augustin gewährleistet durch das Gegebensein dieser Idee durch Gott. "Unde ergo credendum est animae tribuí quod aeternum est et incommutabile, nisi ab uno aeterno et incommutabili Deo."93 Die Musikschrift kann damit als Exempel dafür gelten, daß Augustin in platonischer Tradition mit der Lehre von dem 'homo interior' die unmittelbare Verbindung der menschlichen Seele mit den transzendenten und ewigen Ideen - ja mit Gott betont hat.94 Aber auch die geordnete Bewegung der 'körperlichen Dinge' - so zeigt die Musikschrift - enthält in ihrer zeitlichen Struktur Spuren der Ewigkeit. Die Seele muß gar nicht unbedingt 'in sich gehen', um dort in der Anschauung der ewigen Ideen der unveränderlichen Wahrheit inne zu werden. In der Welt der veränderlichen Dinge so zeigt Augustin im Blick auf die Musik - sind Zeichen gesetzt, die auf
88 AaO. VI, 12,34,1181 : "Aequalitatem illam quam in sensibilibus numeris non reperiebamus certam et manentem, sed tarnen adumbratarn et praetereuntem agnoscebamus, nusquam prefecto appeteret animus nisi alicubi nota esset" 89 AaO. VI, 11,29, 1179 90 Vgl. aaO. VI, 12,35,1182 91 Vgl. ebd. 92 AaO. VI, 12, 36,1183: "M. Age, nunc die mihi utnim hi numen dequibus sic quaeritur, commutabiles esse tibi videantur. D. Nullo modo. M. Ergo aeternos esse non negas." 93 Ebd. 94 W. Beierwaltes, Regio beatitudinis, 1981, spricht von der von Augustin gelehrten "ontologischen Verbindung der Seele mit dem Sein" (29).
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Gott verweisen. In der Ordnung der Zeiten hat die Ewigkeit Spuren hinterlassen. Damit ist hinsichtlich der Musikschrift die vieldiskutiert Frage, ob Augustin einen reinen Innatismus der Ideen in der Seele oder gar die platonische Wiedererinnerungslehre gelehrt hat, differenziert zu beantworten.' 5 Die Lehre von der Wiedererinnerung in platonischer Provenienz wird nämlich von Augustin teils aufgenommen, teils aber auch implizit kritisiert. Sie wird von Augustin in dem Sinne rezipiert, daß sich die übersinnliche Erkenntnis für ihn durch einen Akt der Erinnerung herstellen läßt.96 Gleichwohl ist diese Aussage bei ihm nicht wie bei Piaton mit dem Gedanken der Präexistenz der Seele verbunden. Dies ist jedenfalls für die Musikschrift festzustellen; und es muß hier dahingestellt bleiben, inwieweit Augustin zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu der Lehre der Präexistenz der Seele tendiert hat.97 Mit der Aufgabe dieses wesentlichen Elementes der platonischen Anamnesislehre aber fällt auch die Vorstellung eines Innatismus der Ideen in der menschlichen Seele in ihrer Reinheit fort. Denn es gilt ohne Frage für Augustin die Einsicht, daß auch die sich in der Lenkung des Körpers verzehrende Seele fortwährender Veränderung ausgesetzt ist und demnach ständig an ihre eigentliche Bestimmung erinnert weiden muß. Dies aber widerspricht strenggenommen schon einer solche Auffassung, die das 'Angeborensein' der ewigen Ideen in der Seele lehrt. Denn die jeweilige Präsenz der Ideen, das zeigt der Text der Musikschrift, gewährleistet nach Augustin je und je der göttliche Geist." Augustin hat bekanntlich in der Aufnahme überlieferten Gedankengutes" schon früh den Gedanken der Illumination der Seele durch den göttlichen Geist bei der Erkenntnis formuliert. 100 Der Begriff tritt in der Musikschrift nicht explizit auf; gleichwohl ist zu sagen, daß auch diese Schrift zu dieser Lehre tendiert, insofern sie die Erkenntnis der Idee absoluter Harmonie als durch den göttlichen Geist aktuell eingegeben vorstellt. Mit Piaton also lehrt Augustin in der Musikschrift, daß die Ideen der Seele vorgegeben sind; dennoch denkt er die Erinnerung an diese Ideen nicht als Erinnerung an Vergangenes, sondern als aktuelle Präsenz des Erinnerten. Dieser Sinn steckt in der Behauptung Augustine, daß die 'numeri aeternes' - also die Vorstellung vollendeter und unveränderlicher Harmonie - 'intrinsece apud mentem' 101 so präsent sind, daß ihre Erkenntnis der mens aktuell von Gott eingegeben (tribuí) wird. 95 Natürlich sind wir weit davon entfernt, diese schwierige Frage auch nur annähernd zu beantworten. 96 Vgl. De musica VI, 12,35,1182; vgl. auch A. Augustin, Soliloquien II, 20 und ders., De quantitate animae XX34 97 Vgl. dazu z.B. Gilson, aaO. 134ff. und J. Hessen, Augustins Metaphysik der Ericenntnis, I9602,55ff.; und Schindler, aaO. 672 98 Vgl. De musica VI, 10,36,1183-woAugustinvonder'ZuteUung'derEikenntnisdurch den Geist Gottes spricht 99 Vgl. Piaton, Staat 517b und ders., Siebter Brief 341b sowie Plotin, Enn V 1,10 100 Vgl. Augustin, Soliloquien I, 3,2, wo Augustin von Gott als 'intelligibilis lux' spricht, das die Dinge für den menschlichen Geist erkennbar macht, (zitiert nach H.P. Müller, A. Augustin, Selbstgespräche, 1986 (Artemis)) 101 De musica VI, 12,35,1182
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d) Die Ordnung der Zeiten als 'imitatio aeternitatis' Die der Idee der unveränderlichen Harmonie 'entspringenden' Zahlen und Maße haben aufgrund ihrer Unveränderlichkeit ontologischen Vorrang vor allen anderen Zahlengattungen, die wegen ihrer Angewiesenheit auf die Vorstellung von Zeitverhältnissen den 'numeri aeternes' nachzuordnen sind. Die unveränderlichen Zahlen und Harmoniegesetze sind gleichwohl vermittels des urteilenden Verstandes als Kriterien der Harmonie jeder gehörten oder erdachten Melodie auf die übrigen Zahlengattungen bezogen. So ist abschließend das Verhältnis der übrigen numeri zur höchsten Gattung noch näher zu bestimmen. Die Pointe der Argumentation Augustins im Blick auf diesen Punkt liegt darin, daß er in der zeitlichen Strukturiertheit und Gestalt einer Melodie den Versuch einer Nachahmung der "inconcussa, incommutabilis, aeterna ... aequalitas" sieht.102 Der vermittelnde Begriff zwischen der unveränderlichen Ordnung der numeri incorporales und den numeri corporales ist der Zeitbegriff. Aus der zeitlichen Ordnung des Erklungenen und Gehörten ist seine Eigenschaft der Nachahmung der unveränderlichen und ewigen Harmonie ablesbar, "tempora fabricantur et ordinantur et modificantur aetemitatem imitantia".103 Darin ist eine Melodie den Bewegungen der 'coelestia corpora' ähnlich, die in ihrem täglichen Umlauf ganz entsprechend den "legibus aequalitatis et unitatis et ordninationis"104 gehorchen und diese Gesetze so allererst sichtbar zur Darstellung bringen. Im Blick auf diese Analogie bezeichnet Augustin die Bewegung der Himmelskörper in ihrer zeitlichen Geordnetheit zusammen mit den geordneten Bewegungen der irdischen Dinge als 'carmen universitatis'. "So vereinen sich mit den Himmlischen die unterworfenen Irdischen im Kreislauf ihrer Zeiten in zahlhafter Nachfolge zu einem Lied des Weltalls."105 So schließt sich hier gleichsam der Kreis. Vor uns liegt die Idee der Musik als einer Kunst und Wissenschaft, die in sich den Überschritt des Lebens vom sinnlichen Bereich zum Intelligiblen darstellt. Dieser Aufstieg, so zeigt Augustin, ist ein Aufstieg der Seele zu Gott, der die Einsicht in die Gesetze der Harmonie und Geordnetheit der Welt insgesamt vermittelt. Warum die menschliche Seele zu der Einsicht in die Geordnetheit des Weltlaufes immer wieder neu gebracht werden muß, wird von Augustin lapidar beantwortet: weil der menschliche Wille sich immer wieder der 102 103 104 105 quasi
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AaO. VI, 11,29,1179 Ebd. Ebd. Ebd.: "Ita coelestíbus terrena subjecta, orbes temporum suorum numerosa successione carmini universitatis associant".
göttlichen Gnade zu entziehen sucht106 und weil das menschliche Leben dem Gesetz des Verfalls unterworfen ist.107 Der Mensch ist und bleibt in der Gefahr, sich an seine Zeit zu verlieren, indem er sie absolut setzt und den Blick für das mögliche Ganze der Weltgeschichte verliert. Die Schrift 'De musica' mündet also in die Behauptung, die rhythmische Gestalt der Musik biete selbst den Ansatzpunkt dafür, das Phänomen der Musik nicht als bloßes köiperliches Phänomen zu begreifen, sondern als Ausdruck und Bild einer unveräußerlichen Idee ewiger Geordnetheit und Harmonie der Welt. Die Musik, so lautet die These Augustine, kann ohne diese Ausrichtung gar nicht begriffen werden. Aber jene Idee unveränderlicher und ewiger Harmonie ist nicht nur das Urbild, nach dem der Lauf der Zeit gedacht wird, sondern auch das Ziel alles Zeitlichen, auf das hin es zuläuft.108 Auf die Idee der ewigen und unvergänglichen Harmonie der Welt 'antwortet' der Lauf der Zeiten - sowohl die Bewegung der Gestirne als auch eine schön gesungene Melodie. Im Blick auf die Musik heißt das: jedes Musikstück wird komponiert in dem Versuch der imitatio aeternitatis. So steht das großartige Bild einer vollendeten und sichtbaren Harmonie des Weltalls, vollbracht durch die göttliche Vorsehung109, am Ende der Überlegungen Augustine zur Musik. Daß sich darin bis in den Sprachgebrauch hinein die 'alte' These von dem Lauf der Zeiten als Bild der Ewigkeit auswirkt, ist deutlich.110 Die Analyse der Musikschrift ergibt für die Untersuchung des augustinischen Zeitbegriffs folgende Ergebnisse. - Die Musikschrift vertritt einen gleichsam empirischen Ansatz Augustine in der Analyse des Zeitphänomens. Augustin legt dar, daß die menschliche Seele in der Ordnung des Veränderlichen nicht einfach zeitlos und unveränderlich bleibt. Die um die ewigen Ideen wissende Seele ist in ihrem Bemühen, die 'affectiones' des Körpers in geordnete Bahnen zu lenken, selbst in der Zeit 'ausgestreckt'. Das zeigte sich in der Analyse
106 Vgl.aaO. 1179f. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. aaO. 1179; Augustin spricht hier ausdrücklich davon, daß die Ewigkeit die Zeiten zu sich zurückruft ('revocat')! 109 Vgl.aaO. 1179f. 110 Drei Stellen im augustinischen Gesamtwerk sind bekannt, an denen Augustin die These, die Zeiten seien in ihrer Ordnung ein Bild der ständigen Ewigkeit, positiv rezipiert (vgl. E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte 48, Anm. 90). Alle Passagen zählen zu den frühen Werken Augustins. Es wird noch zu erörtern sein, warum Augustin die Eikon-Theorie später verwirft.
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von 'De musica' besonders in der Deutung der 'numeri judiciales', durch deren Kenntnis die Seele Gehörtes ordnet. Auch die Idee der Harmonie, so zeigte Augustin, ist an bestimmte und sinnvolle zeitliche Ordnungen gebunden. Die Zeit kennzeichnet demnach nicht nur die Struktur der Wahrnehmung einer äußeren Bewegung - z.B. einer Tonfolge - , sondern die Struktur aller 'operationes animi'. Es entspringt der Tätigkeit der Seele - genauer der memoria - , daß eine Tonfolge als solche in ihrer Einheit wahrgenommen und erkannt werden kann. Die Erinnerung wird als das Vermögen der Seele vorgestellt, Ungleichzeitiges zur Gleichzeitigkeit bringen zu können. Daß die Seele Ungleichzeitiges zu einer sinnvollen Einheit bringen kann, dient zu ihrer eigenen 'delectatio' und 'beatitudo'.111 So ist Augustin der Überzeugung, daß die Seele in der Zeit ihrer ewigen und eigentlichen Bestimmung eingedenk bleiben kann, wenn sie sich nicht an die Zeit und das Neue, das sie immer zu bieten hat, verliert.112 Die menschliche Seele ist, so meint Augustin, in ihrer Gewiesenheit an das Zeitliche nicht abgetrennt von Gott; denn gerade in der Zeit kann das Ewige gesucht werden, weil in der Ordnung und Einheit der Zeiten 'Zeichen der Ewigkeit' gesetzt sind, "die unserer peregrinatio angemessen sind".113 Die Teilhabe des Zeitlichen - auch der Seele - an der Ewigkeit vollzieht sich in der Einsicht in die Einheit und Ganzheit aller Zeiten, die als 'carmen universitatis' zum Lobe Gottes erklingen.
111 Vgl. De musica VI, 11, 29,1179 112 Vgl. Beierwaltes, Regio beatitudinis 22 113 AaO. 24
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3. Die Suche Augustine nach einer adäquaten Bestimmung der Zeit Überlegungen zu den beiden frühen Genesisauslegungen Kaum eine andere biblische Schrift hat dermaßen das Interesse Augustins gefunden wie die Genesis. Das hat gewiß viele Gründe, die hier nicht alle entfaltet werden können.1 Einer der Gründe für das große Bemühen Augustins um die Auslegung des 'ersten' Buches der Bibel ist darin zu sehen, daß es den Schlüssel für die Auseinandersetzung mit den Manichäern bereithält; diese lehnten die Verbindlichkeit des ersten Buches der Bibel für den christlichen Glauben nicht nur wegen des in ihm entwickelten Schöpfungsbegriffs ab, sondern sie zogen aus den Widersprüchlichkeiten dieser Schrift obendrein die Berechtigung für diese Ablehnung. Aber auch hinsichtlich der Entwicklung des Zeitverständnisses kommt der Beschäftigung Augustins mit dieser Schrift entscheidende Bedeutung zu. Noch die Ausführungen der 'Confessiones' und von 'De civitate Dei' über das Phänomen der Zeit entfalten sich anhand einer Exegese der ersten Kapitel der Genesis.2 Die beiden frühen Auslegungen dieser ersten Schrift der Bibel von 389 und 3933 können die allmähliche Entwicklung Augustins zur berühmten Untersuchung der 'Confessiones' zum Zeitphänomen nun endgültig aufdecken. Es wird zu zeigen sein, daß Augustin auf den Weg zur Bestimmung der Zeit als 'distendo animi' gerade so gelangt, daß er den Begriff der 'objektiven Zeit' - also den Gedanken der Kreatürlichkeit der Zeit-klärt. Die 'Entdeckung' der Zeit als Erfahrungs-und Erkenntnisweise "des mit Gott redenden Menschen" erlebt erst da ihren völligen Durchbruch, wo Augustin erkannt hat, daß diese 'personale Zeit' "eine Folge der von Gott geschaffenen Zeit, der Zeit der Kreatur", ist.4 Ein wesentlicher Schritt zu dieser Einsicht liegt in der Erkenntnis der Aporien eines rein gegenständlichen Verständnisses der Zeit.
1 Vgl. Schindler, Augustin 651 und C.J. Peri, Über den Wortlaut der Genesis, Band 1, 1961, Iff. 2 Mit den Auslegungen in ' Confessiones 'XI-XIII und ' De civitate Dei' X-XII hat Augustin die Schöpfungsgeschichte insgesamt fünfmal ausführlich interpretiert. 3 Zur Datierung vgl. Schindler, aaO. 651f. 4 E. A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, 1985,11
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a) Die grundsätzliche Aporie in der Rede von der zeitlosen und zeitüberlegenen Ewigkeit Gottes Die früheste Auslegung der Genesis durch Augustin unternimmt eine Interpretation dieser Schrift in expliziter Auseinandersetzung mit deren Interpretation durch die Manichäer. Ihre Abfassung erfolgte - genauso wie die Fertigstellung der Musikschrift - während des Aufenthaltes in Thagaste vor der Priesterweihe Augustine.5 Es soll uns hier nicht darum zu tun sein, die Schlagkräftigkeit der Argumentation Augustins gegenüber dem Versuch der Manichäer, die 'mangelnde Logik' und fehlende innere Stimmigkeit der bibl. Schöpfungsberichte herauszustreichen, zu untersuchen; sondern wir müssen uns darauf beschränken herauszuarbeiten, in welcher Weise Augustin den Versuch unternimmt, den Zeitbegriff im Anschluß an die Schöpfungsberichte der Genesis als einen Schöpfungsbegriff zu entwickeln. Darin kann aber auch gleichzeitig die Pointe der Argumentation Augustins gegenüber den Manichäern gesehen werden; denn durch die Fassung des Zeitbegriffs als eines Schöpfungsbegriffs - also durch die These der 'Erschaffung' der Zeit - meint Augustin gegen die Manichäer den Gedanken einer creatio ex nihilo halten zu können. Gerade also dem Zeitbegriff kommt im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Manichäern entscheidende Bedeutung zu. Das wird gleich zu Beginn der Schrift deutlich. Augustin beginnt diese Schrift mit dem polemisch formulierten Vorwurf gegenüber den Manichäern, daß sie zu ihrer Ablehnung der Schriften des Alten Testamentes nur deshalb gelangen, weil sie sie nicht genau gelesen bzw. überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Aus der manichäischen Ablehnung der alttestamentlichen Schriften resultiert für Augustin die Herausforderung an die Christen, sich ausführlich der Auslegung dieser Schriften zuzuwenden. Seine durchlaufende Interpretation der ersten Kapitel der Genesis beginnt Augustin mit einer ausführlichen Diskussion der berühmten Wendung: "In principio fecit Deus coelum et terrain".6 Es gilt, sich mit zwei
5 Vgl. Schindler, aaO. 651 ; vgl. auch die spätere Beurteilung dieser Schrift durch Augustin selbst in seinen 'Retractationes' 110, aaO. 599 und 1,18,613f. 6 Vgl. A. Augustin, De Gensi contra Manichaeos, Liber I, caput 2, 3 Migne PL 34, 174 (Diese Schrift wird im folgenden ohne Vorausstellung des Verfassernamens zitiert als 'De gen. c.M.')
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Anfragen der Manichäer an diese Wendung auseinanderzusetzen, die in das Zentrum des christlichen Schöpfungsglaubens führen. "Si in principio aliquo temporis fecit Deus coelum et terram, quid agebat antequam faceret coelum et terram?" - so lautet die erste Anfrage.7 Diese spöttische Anfrage bringt den Zweifel an der Denkmöglichkeit eines Anfanges der Zeit zum Ausdruck. Die sich anschließende zweite Anfrage geht auf die Implikationen der Aussage des ersten Verses der Genesis für den Gottesgedanken: "quid ei (sc. Deo) subito placuit facere, quod nunquam antea fecerat per tempora aeterna?"8 Augustin widmet sich zunächst der Beantwortung der ersten Frage. Diese enthält nicht nur die spöttische Frage nach einer Tätigkeit Gottes vor der Schöpfung, sondern setzt einen fundamentalen Widerspruch in der Behauptung der 'creatio ex nihilo' voraus. Der Einwand gegen diese Lehre - einer 'creatio ex nihilo' - ist klassisch formuliert in dem Grundsatz des Aristoteles, daß ein Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist ("τό μέν έκ μή δντων γίγνεσθαι άδύνατο"). 9 Die These von der 'Ungewordenheit' der Zeit steht bei Aristoteles in einem unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Grundsatz; denn ist ein Werden und Entstehen aus Nichtseiendem undenkbar, so ist gleichfalls ausgeschlossen, daß es einmal keine Zeit 'gab'. Dem Grundsatz, daß aus nichts auch nichts entstehen kann, setzt Augustin seinerseits zwei Thesen entgegen, die für den weiteren Argumentationsgang grundlegende Bedeutung haben. Danach deutet er erstens den Begriff 'principium' im Rückgriff auf Joh. 1.1.-3 und Joh. 8,25 christologisch, so daß die Aussage von einem Anfang, in dem Himmel und Erde geschaffen wurden, die Erschaffung der Welt "non in principio temporis, sed in Christo" bedeuten muß.10 Mit diesem Hinweis aber kann und will sich Augustin nicht zufrieden geben. Denn auch dann, wenn man auf die Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes Gottes hinweist, ist die Frage nach einem konkreten Anfang alles Seienden noch nicht beantwortet; deshalb fügt Augustin eine zweite Bemerkung an, die der ironischen Anfrage, was Gott denn in der Zeit vor der Erschaffung der Welt wohl so alles gemacht habe, wirklich begegnen soll. Dieser Zweck kann aber nur erreicht werden, wenn "debemus utique intelligere quod ante principium temporis non erat tempus".11 7 De gen. c.M. 174 8 Ebd. 9 Aristoteles, Physik A, 187a 34; Aristoteles geht dabei schon auf den Vorsokratiker Melissos zurück (vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker 1,1968, 268f.) 10 Vgl De gen. c.M. 174 11 Ebd.
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Der These von der Ungewordenheit der Zeit also wird zunächst einfach die These eines Anfangs der Zeit entgegengesetzt. Diese These führt notwendig weiter zu der Aussage, daß Gott mit oder in allem Seienden auch die Zeit erschaffen haben muß. "Deus enim fecit et tempora: et ideo antequam faceret tempora, non erant tempora."12 Mithin, so schließt Augustin, können und dürfen wir keine Zeit denken, die der Schöpfungstätigkeit Gottes vorausgeht ("non ergo possumus dicere fuisse aliquod tempus quando Deus nondum aliquid fecerat").13 Denn die Schöpfermacht Gottes würde darin ihre Grenze finden - der für den christlichen Glauben unaufgebbare Gedanke der Erschaffung alles Seienden durch Gott wäre mithin aufgegeben. An dieser Stelle liegt die wesentliche Begründung für die These eines Anfangs der Zeit. Durch die Aufgabe dieser These wäre die Gottheit Gottes, nach der er als 'fabricator omnium temporum' zu denken ist14, im Denken nicht mehr gewahrt. Wegen des Glaubens an die Schöpferkraft Gottes kann keine Zeit vor der Schöpfung vorübergegangen sein, in der Gott noch nicht tätig gewesen ist. Aus diese Grunde muß die qualitative Überlegenheit Gottes gegenüber jeglicher Zeit nach Augustin als Vorzeitigkeit Gottes ausdrücklich gemacht werden; "quia non potest (sc. Deus) esse operator temporum, nisi qui est ante tempora".15 Die zweite, oben angedeutete, Anfrage an den Gedanken einer 'creatio ex nihilo' - diese Anfrage richtete sich auf die möglichen Gründe für den plötzlichen Entschluß Gottes zur Hervorbringung der Welt - beantwortet Augustin mit dem Hinweis auf die Absolutheit und Unhintergehbarkeit des göttlichen Willens.16 Die Problematik der Rede von der Vorzeitigkeit Gottes liegt auf der Hand. Diese Rede lag für Augustin im Zusammenhang seiner Argumentation gewiß nahe; diese zielte nämlich darauf ab, gegenüber der These von der Ungewordenheit der Zeit die Gottheit Gottes gedanklich zu sichern. Dazu meinte Augustin betonen zu müssen, daß Gott als 'fabricator et operator omnium temporum' vorzustellen ist, wenn denn gilt, daß alles Seiende durch ihn geschaffen ist. Von da aus gelangte Augustin zu der These von der Vorzeitigkeit Gottes, weil er meinte, anders die provozierende Frage nach einer möglichen Tätigkeit Gottes vor der Erschaffimg der Welt nicht beantworten zu können.
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AaO. 174f. AaO. 175 Vgl. ebd. Ebd. Vgl. aaO. 175
Eingeführt also, um den Gedanken der Gottheit Gottes zu wahren, vermag die Rede von der Vorzeitigkeit Gottes dieses Anliegen aber deshalb nicht ohne weiteres zu erfüllen, weil sie die Zeitüberlegenheit Gottes selbst zeitlich ausdrücken muß. Augustin gerät darin in die scheinbar unausweichliche Paradoxie des Philosophierens überhaupt, "Zeitloses in der Zeit durch ein zeithaftes Organon, die in Zeit verflochtene und von ihr wesenhaft bestimmte Sprache, aussagen zu müssen".17 Die auch noch so starke Betonung der Differenz von Zeit und Ewigkeit vermag dieser Schwierigkeit nicht zu entkommen. Die Grundaporie, in die Augustin mit seiner thetischen Entgegensetzung der Geschöpflichkeit der Zeit zu der Behauptung ihrer Ungewordenheit und Unvergänglichkeit gerät, kann in einem kurzen Rückgriff auf die klassische Stellungnahme der skeptischen Philosophie zum Zeitproblem präzisiert werden. Dieses Unternehmen findet seine Rechtfertigung dadurch, daß Augustin durch seine Übersiedlung nach Rom 383 nicht nur Bekanntschaft mit dem Skeptizismus gemacht hat18, sondern sogar große Sympathie für seine Grundsätze an den Tag legte.19 Die klassische Zusammenfassung der Stellungnahme der skeptischen Philosophie zum Zeitproblem findet sich bei Sextus Empiricus, "der ungefähr 180-200 n. Chr. schrieb, aber sicher älteres Material verwendet".20 Das in unserem Zusammenhang relevante vierte Kapitel des Buches 'Adversus Dogmáticos' fragt nach der Realität der Zeit (εϊ Ιστι χρόνος). 21 Diese Frage wird nach einer Diskussion überlieferter Zeittheorien22 unterteilt in die Frage nach den 'Vorstellungen' über die Zeit einerseits23 und die nach der Substanz der Zeit andererseits.24 Für uns ist der Abschnitt über die ZeitVorstellungen entscheidend, denn in ihm wird u.a. die Frage nach der Gewordenheit oder Ungewordenheit der Zeit gestellt. Die Funktion dieses gesamten Abschnittes über die Vorstellungen von der Zeit ist darin zu sehen, über den Nachweis der Unmöglichkeit einer widerspruchsfreien Vorstellung die Unmöglichkeit der Realität der Zeit aufzudecken. Diese Absicht erreicht Sextus so, daß er die Vorstellungen über die Zeit in der Form von drei Antinomien zusammenfaßt. 17 W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, 1981 3 ,175 18 Vgl. Augustin, Confessiones V 10,19; vgl. auch Schindler, Augustin 648 19 Vgl. Schindler, aaO. 648 unter Hinweis auf die Schrift 'Contra Académicos' 20 G. Delling, Das Zeitverständnis des NT, 1940, 26; zu Sextus Empiricus vgl.: ders., Adversus Dogmáticos IV, in: R.G. Bary (Ed.). The Loeb Classical Library, Sextus Empir. III, 1960,169-247 (zitiert als Sextus) 21 Vgl. Sextus, aaO. 169 22 Vgl. aaO. 170ff. 23 Vgl. aaO. 189-214 (Ιπινοιαι) 24 Vgl. aaO. 215ff. (οΰσια)
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Die erste Antinomie soll aufdecken, daß die Zeit weder als begrenzt (πεπερασται) noch als unbegrenzt (άπειρος) widerspruchsfrei gedacht werden kann.25 Zweitens wird dargelegt, daß sie weder unteilbar (αμέριστος) noch teilbar (μεριστός) sein kann.26 Drittens nun geht es um die Frage, ob die Zeit "unvergänglich und ungeworden ist oder aber vergänglich und geworden".27 Dabei wird von Sextus sogleich vorausgeschickt, daß die Zeit weder unvergänglich und ungeworden noch vergänglich und geworden sein kann. Da die Zeit aber notwendig in der einen oder der anderen Hinsicht vorgestellt werden muß, ist nach Sextus zu schließen, daß die Zeit überhaupt gar nicht als seiend gedacht werden kann, weil eben nur ein aporetischer Begriff von ihr möglich ist.28 Gegen die Annahme der Ungewordenheit und Unvergänglichkeit der Zeit spricht der Sachverhalt, daß man im Blick auf die Zeit von dem 'Nichtmehr' der vergangenen Zeit und dem 'Noch-nicht' der zukünftigen Zeit spricht. Der eine Teil der Zeit (του χρόνου το μεν) also ist nicht mehr (ουκ Ιτι), der andere noch nicht (οΰπω) seiend.29 Deshalb aber kann auch die Zeit insgesamt nicht unvergänglich und ungeworden sein30; denn der gegenwärtige Teil der Zeit, dem jeweils ein Sein zugesprochen werden kann, setzt sich von dem 'Nicht-mehr' ab und geht in das 'Noch-nicht' über. Die Zeit kann aber auch nicht, so fügt Sextus sogleich hinzu, vergänglich (φθαρτός) und geworden (γενητός) sein. Sextus führt zur Unterstützung dieser Behauptung mehrere Argumente an. Einmal ist bei allen Überlegungen von der Einteilung der Zeit in die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszugehen. Von einem Sein der Zeit, das wurde oben schon deutlich, ist offenbar nur im Blick auf die Gegenwart zu sprechen, die aus 'Nicht-mehr-Seiendem' hervorgeht und in 'Noch-nicht-Seiendes' übergeht. Wie aber, so fragt Sextus, soll irgend etwas aus Nicht-mehr-Seiendem entstehen und in Noch-nicht-Seiendes übergehen können?31 Der 'Übergang' vom Sein zum Nichtsein und vom Nicht-sein zum Sein ist schlechthin nicht zu denken. Damit kann aber geschlossen werden, daß der Zeit überhaupt kein Sein zukommt; kann sie doch in ihrer ekstatischen Dreiheit weder als geworden noch als ungeworden vorgestellt werden.32 25 Vgl. aaO. 189-192 26 Vgl. aaO. 193-202 27 AaO. 203: "βίφθαρτός Ιστι και άγενητος η φθαρτός και γενητός" 28 Vgl. ebd.: "ούκαρα ?στι τι χρόνος" 29 Vgl. aaO. 204 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. aaO. 205: "εκ δε των μη όντων πως δύναται τι γίνεσθαι. η εις τα μη οντα πως τι φθείρεται;" 32 Vgl. ebd.
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Ferner muß für alles Gewordene gelten, daß es in der Zeit geworden ist (έπεί π δ ν το γεννώμενον εν χρόνφ, γίνεται). 33 Ist die Zeit aber selbst in der Zeit entstanden, so ist sie entweder aus sich selbst hervorgegangen (èv α ΰ τ φ γεννώμενος) oder als anderes in und aus anderem (ετερος έν Ιτέρφ). 34 Soll nun gelten, daß die Zeit aus sich selbst entstanden ist, - das würde also bedeuten, daß die gegenwärtige Zeit aus der Gegenwart entstanden wäre, weil nur dieser Ekstase im strengen Sinne Sein zukommt - so muß gefolgert werden, daß die Zeit schon da war, bevor sie überhaupt ins Sein getreten ist (τι γεγονός πρίν γεγονέναι). 35 Eine solche Behauptung aber ist absurd und dumm (δπερ άτοπον). 36 Sie liegt aber gleichwohl im Zusammenhang des vorgetragenen Argumentationsganges - dem es um den möglichen Aufweis der Gewordenheit der Zeit geht - insofern nahe, als es zum Wesen der Entstehung einer Sache gehört, daß dasjenige Seiende, aus dem etwas hervorgeht, früher da ist als das Entstehende selbst. So würde auch für die Zeit gelten müssen, wenn sie als aus sich selbst hervorgehend zu denken ist, daß sie schon ein 'Etwas' gewesen ist, bevor sie überhaupt ins Sein treten konnte (προϋπάρξει έαυτοΰ). 37 Damit aber müßte die Zeit zugleich als Seiendes und als Nichtseiendes gedacht werden, was unmöglich ist. Mithin ist bewiesen, daß die Zeit nicht aus sich selbst entstanden sein kann. Aber auch die Annahme, daß die Zeit als anderes 'in anderem' entstanden sein kann, - z.B. die gegenwärtige Zeit aus Vergangenem - führt in Aponen. Wenn nämlich die Zeit als anderes in und aus anderem entsteht, so muß jeder der drei Ekstasen der Zeit ihre eigene Besonderheit aufgeben und die Ordnung bzw. Struktur der jeweils nächsten Ekstase annehmen.38 So würde beispielsweise die in und aus der Gegenwart entstehende, jetzt noch zukünftige Zeit Gegenwart werden müssen und erst von einem gesetzten Zeitpunkt an Zukunft sein. Die gleiche Schwierigkeit entsteht im Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Zugrunde liegt dieser Argumentation die Vorstellung, daß das jeweils Entstehende demjenigen, aus dem es entsteht, wesensverwandt sein muß. Somit ist nach Sextus nun dargelegt, daß die Zeit weder dann, wenn sie aus sich selbst entsteht, noch dann, wenn sie als ετερος έν ετερω ins Sein tritt, angemessen und widerspruchsfrei als geworden bzw. vergänglich gedacht werden kann.
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AaO. 207 Vgl. ebd. Vgl. ebd. AaO. 208 Vgl. ebd. Vgl. aaO. 210
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Gilt aber im Blick auf den Gegensatz zwischen Gewordenheit und Ungewordenheit kein Drittes - muß die Zeit also entweder als geworden oder aber als ungeworden vorgestellt werden - , so kann darüber hinaus festgestellt werden, daß der Zeit überhaupt kein Sein zukommt ("λεκτέον μηδέν υπάρχειν τον χρόνον"). 39 Drittens zeigt Sextus noch, daß Ungewordenheit oder Gewordenheit auch nicht für einen Teil oder mehrere Teile der Zeit behauptet werden können.40 Denn die gleichen Probleme, die sich bei der Vorstellung von der Gewordenheit oder Ungewordenheit der Zeit im ganzen ergaben, treten dann erneut auf. Die Teile der Zeit, die als geworden zu denken wären, müßten entweder aus sich selbst oder aber aus anderen Teilen der Zeit geworden sein. Im ersten Fall ginge die Zeit sich selbst voraus, was absurd ist; im zweiten Fall würden die jeweiligen Ekstasen der Zeit ihre spezifische Besonderheit verlieren. Wären aber Teile der Zeit als ungeworden zu denken, so könnte für diese Teile keine ekstatische Dreiheit vorgestellt werden, also kein 'Nicht-mehr' und kein 'Noch-nicht'. Das aber widerspricht nach Sextus der unabweisbaren und unmittelbar evidenten ekstatischen Dreiheit der Zeit in der Zeiterfahrung. Auch diese Argumentation also führt letztlich zu der lapidaren Feststellung, daß die Zeit selbst, da sie weder ungeworden noch geworden sein kann, offenbar nicht als seiend vorgestellt werden kann. "So ergibt sich für Sextus nur der Standpunkt schlechthinniger Skepsis"41; die philosophischen Überlegungen über die Zeit müssen so zusammengefaßt werden, daß ein widerspruchsfreies Denken hinsichtlich des Phänomens der Zeit nicht möglich ist. Die Folgerung, die Sextus daraus zieht, ist die Leugnung der Realität der Zeit überhaupt. Kritisch ist gegenüber Sextus bei aller Anerkennung der Brillanz seiner Gedankenführung vor allem anzumerken, daß die ekstatische Dreiheit der Zeit offenbar absolut gesetzt wird, ohne daß die psychologische Bedingtheit dieser Dreiteilung der Zeit in den Blick kommt. Dies liegt wohl daran, daß Sextus ein letztlich gegenständliches Verständnis der Zeit zugrunde legt, das er dann widerlegt. Demnach kann er auch nur von einem Sein des Gegenwärtigen reden. Zukünftiges und Vergangenes sind dadurch definiert, daß sie nicht sind. "Die Zeit ist nach der Meinung aller Philosophen dreigeteilt. Der eine Teil ist das, was war, also das Vergangene, der andere Teil das Gegenwärtige, der dritte das Zukünftige. Von diesen Teilen ist das Vergangene nicht mehr, das Zukünftige noch nicht. So bleibt nur ein Teil übrig, von dem gilt, daß er ist: das Gegenwärtige."42 39 AaO. 211 40 Vgl. aaO. 213f. 41 Delling, aaO. 30
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Diese Argumentation des Sextus aber macht durchaus auch eine solche Deutung des Zeitphänomens möglich, die nicht bei dem Schluß auf die 'Nichtexistenz' der Zeit stehenbleibt, sondern die die Zeit als notwendige Vorstellung des menschlichen Verstandes ausdrücklich macht. Dazu bietet, wie gesagt, die Argumentation des Sextus selbst Anhaltspunkte. So weist Sextus auf die Notwendigkeit hin, Ursächlichkeit in zeitlichen Strukturen begreiflich und ausdrückbar machen zu müssen. Danach ist das Bedingte als solches immer als dem Bedingten zeitlich vorausgehend zu denken.43 Weiter unterstreicht Sextus die Unmöglichkeit, die Gewordenheit der Zeit widerspruchsfrei denken zu können, durch den Hinweis auf die Unausweichlichkeit der Frage nach dem Grund, aus dem sie hervorgegangen sein könnte. Dieser Grund aber, aus dem die Zeit hervorgegangen sein könnte, muß als zeitlich dem Entstehenden - nämlich der Zeit - vorausgehend gedacht werden - was in die oben genannten Aponen führt.44 So bleibt das Ergebnis der Überlegungen des Sextus festzuhalten, daß die gegenständlich vorgestellte Zeit nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann. Unter Berücksichtigung der vorgetragenen Argumentation des Sextus kann die Aporie, in die Augustin in seiner Schrift 'De Genesi contra Manichaeos' geriet, nun genauer beschrieben werden. Augustin versuchte, der These von der Ungewordenheit und Unvergänglichkeit der Zeit seinerseits thetisch die These von der Gewordenheit der Zeit entgegenzustellen. Die Zeit ist danach ein Geschöpf Gottes und als solches Signum alles von Gott Geschaffenen. Augustin war deshalb so entschieden daran interessiert, die Richtigkeit dieser seiner These aufweisen zu können, weil für ihn anderenfalls die Gottheit Gottes auf dem Spiel stehen mußte. Dann nämlich, wenn die Zeit als ungeworden vorgestellt wird, kann Gott auch nicht als 'operator omnium temporum' gedacht werden; und mit seiner Schöpfungsmächtigkeit steht und fällt nach Augustin auch die Göttlichkeit Gottes. Deshalb meinte Augustin, die Schöpfungsmächtigkeit Gottes als seine Vorzeitigkeit kennzeichnen zu müssen, um so die Zeitüberlegenheit Gottes begrifflich festzuhalten.
42 Sextus, aaO. 197 43 Vgl. aaO. 207 44 Vgl. aaO. 189; bis in die Formulierung des Sextus hinein ist erkennbar, wie früheste Beschreibungen des Hervorganges des Sohnes aus dem Vater im Zusammenhang der Trinitätslehre (vgl. Text des Nicaenums von 325) die Diskussion des gleichen Problems voraussetzen: "et γαρ πεπερασται δ χρόνος, f(v ποτέ χρόνος οτε δ χρόνος ουκ ί^ν, και εσται ποτέ χρόνος οτε ουκ εσται χρόνος, άτοπον δέ γε ϊ) τό ·)εγονέναι πότε χρόνο ν οτε δ χρόνος οΰκΐίν, η τό εσεσιίαί ποτε χρόνον οτε χρόνος ουκϊσται."
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Unter Berücksichtigung der Argumentation des Sextus kann nun gesagt werden, daß Augustine Bestimmung der Zeitüberlegenheit Gottes als seine Vorzeitigkeit nicht sein letztes Wort in dieser Sache sein kann. Denn diese Bestimmung vermag die Beziehung des Schöpfers aller Zeiten zur Zeit nur zeitlich ausdrücklich zu machen und will doch gerade die Zeitenthobenheit Gottes betonen. Diese Schwierigkeit kennzeichnet gewiß grundsätzlich das Reden über die 'zeitlose Ewigkeit' Gottes. Nur fehlt Augustin - und darauf gilt es an dieser Stelle hinzuweisen - zu diesem Zeitpunkt noch das Rüstzeug, diese grundsätzliche Problematik zu reflektieren. Denn die Aporie, in die Augustin bei seinem Bemühen gerät, die Zeitüberlegenheit Gottes - die Ewigkeit Gottes - als Zeitlosigkeit aussagen zu wollen, führt in die grundsätzliche Frage nach dem Wesen der Zeit. Die genannte Aporie müßte so berücksichtigt werden, daß die grundsätzliche Temporalität menschlichen Redens und Denkens reflektiert wird. Das aber würde bedeuten, das Wesen der Zeit über ihre Kennzeichnung als ein Geschöpf hinaus zu bestimmen. Die Zeit muß offenbar einer anderen und präziseren Bestimmung zugeführt werden, um auch die Ewigkeit Gottes als seine Zeitbezogenheit adäquat erfassen zu können. Die Ewigkeit Gottes jedenfalls ist als seine Vorzeitigkeit nicht angemessen beschrieben. Gleichwohl ist aus der Kritik an der Rede von der Vorzeitigkeit Gottes in der bei Augustin vorliegenden Form nicht mit Sextus der Schluß zu ziehen, daß der Zeit überhaupt keine Realität zukommen und demnach auch die Ewigkeit Gottes gar nicht gedacht werden kann. Allerdings bedürfen beide 'Fragenkreise' einer genaueren Grundlegung. Dabei wiesen die Antinomien des Sextus schon insofern einen Weg, als seine Argumentation den Gedanken nicht ausschloß, das Zeitbewußtsein als ein dem menschlichen Denken nicht äußerliches, sondern es bestimmendes Moment verstehen zu können. Sextus selbst ging dem nicht nach, sondern Schloß von der Widersprüchlichkeit der Ί π ί ν ο ι α ι ' über die Zeit auf ihre 'Nichtexistenz'. Mit dieser Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Zeitbewußtseins aber bedarf es dann der Korrektur eines gleichsam gegenständlichen Verständnisses der Zeit, das auch noch in der Schrift Augustine 'De Genesi contra Manichaeos' mit der These von der Geschöpflichkeit der Zeit präsent zu sein scheint. Augustin selbst gibt in derselben Schrift schon Ansatzpunkte für eine Korrektur dieses Verständnisses.
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b) Die Einfiihrung der fundamentalen Differenz zwischen der Zahlzeit und der Zeitlichkeit der Seele In einem wichtigen Kapitel des ersten Buches seiner Schrift 'De Genesi contra Manichaeos' diskutiert Augustin den Sinn und die Bedeutung der Verse 14-19 des ersten Kapitels der Genesis. In diesen Versen wird von der Erschaffung der Himmelskörper, die als bewegliche Zeichen am Himmel durch ihre kontinuierliche Bewegung die Einteilung der Zeiten ermöglichen, berichtet.45 Wenn aber die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, ja die Einteilung der Zeiten überhaupt, erst mit der Erschaffung der Himmelskörper möglich wurde, so ist einerseits zu fragen, wie überhaupt die Zeit bis zum dritten Schöpfungstag vergehen konnte, andererseits, wie die Einteilung der ersten Schöpfungstage in einzelne Tage - die doch wohl den Wechsel von Tag und Nacht schon erkennen lassen - möglich ist. Diese beiden Anfragen sind von einer Interpretation der Schrift, die diese 'secundum litteram' zu verstehen sucht, durchaus ernst zu nehmen.46 Augustin versucht sich zunächst in der Beantwortung der ersten Frage, inwiefern überhaupt von einer Zeit vor der Erschaffung der Himmelskörper am dritten Schöpfungstag die Rede sein kann, wenn denn gilt, daß die Kenntnis und Einteilung der Zeit durch die Beobachtung der Himmelskörper möglich gemacht wird.47 Die Darstellung des Schöpfungsvorganges in einem zeitlichen Ablauf, wie sie sich im ersten Kapitel der Genesis findet, scheint also unannehmbar zu sein, wenn von dem Lauf der Zeiten überhaupt erst nach dem dritten Schöpfungstag gesprochen werden kann. Augustin bemerkt dazu, daß die Erschaffung der die Zeiten in ihrem Verlauf bestimmenden Himmelskörper erst am dritten Tag die Möglichkeit eines zeitlichen Ablaufes der ersten beiden Schöpfungstage nicht ausschließen muß. "Hanc enim moram et longitudinem temporis possent sentire homines etiamsi in speluncis habitarent, ubi orientem et occidentem solem videre non possent. Atque ita sentitur potuisse istam moram fieri etiam sine sole antequam sol factus esset".48 Die Zeitempfindung der Seele also ist von dem die Zeit in ihrem
45 Nach der ihm vorliegenden Itala liest Augustin den Vers 14 von Gen. 1 folgendermaßen: "et dividant inter diem et noctem, et sint in signa, et in tempora, et in dies, et in annis ..."; vgl. De ge. C.M., aaO. 182f. 46 Zur Frage des doppelten Schrilitgebrauchs s.u. 314f. 47 Augustin, De gen. c.M., aaO. 183; "Tres enim dies superiores quomodo esse sine sole potuerunt..." 48 Ebd.; mit dieser Beschreibung spielt Augustin offensichtlich auf das Höhlengleichnis aus Piatons Staat an (514 al ff.)
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Lauf konstituierenden und bestimmenden Umschwung der Himmelskörper unabhängig. Dennoch formuliert Augustin hier im Konjunktiv. Der Grund dafür aber liegt nicht darin, daß die Zeitempfindung etwa nicht als der menschlichen Seele innewohnend und unveräußerlich bewiesen werden könnte, sondern darin, daß diese Argumentation die Darstellung der Genesis nur dann voll treffen könnte, wenn in Gen. 1, 14 nicht ausdrücklich davon die Rede wäre, daß die Unterscheidung von Abend und Morgen in der Tat auf die Erschaffung der Sonne und aller gestirnten Körper zurückgeht. So fügt Augustin seiner oben zitierten Unterscheidung zwischen dem Zeitempfinden der Seele und der Ordnung der Zeiten durch die Bewegung der Himmelskörper folgende Einschränkung hinzu: "Hoc ergo responderemus, nisi nos revocaret quod ibi dicitur, 'et facta est vespera, et factum est mane', quod nunc sine solis cursu videmus fieri non posse."49 Der Wechsel von Tag und Nacht also ist gebunden an den Umlauf der gestirnten Körper; so steht es aber nicht mit dem Eindruck und der Wahrnehmung eines zeitlichen Verlaufes überhaupt. Demnach ist dann der Bericht von der Einteilung der Zeiten erst am dritten Schöpfungstag nach Augustin so zu deuten - damit kommt Augustin auf die zweite Frage zurück, wie nämlich die Einteilung der ersten Schöpfungstage als voneinander unterschiedenen Tagen zu erklären ist - , daß darin auf die faktische Erkenntnis und auch Erkennbarkeit der Einteilung der Zeiten, die sich nach dem Lauf der gestirnten Körper richtet, hingewiesen werden soll; keineswegs aber darauf, daß die Zeit überhaupt mit der Erschaffung der Himmelskörper hervorgebracht wurde. "Sed, 'in signa et tempora' dictum est, ut per haec sidera tempora distinguantur, et ab hominibus dignoscantur: quia si currant tempora, et nullis distinguantur articulis, qui articuli per siderum cursus notantur, possunt quidem currere tempora atque praeterire; sed intelligi et discerni ab hominibus non possunt."50 Beide Argumentationsgänge Augustins führen also bemerkenswerte Unterscheidungen ein. Im Blick auf die Frage, wie von einer vorübergegangenen Zeit bis zum dritten Schöpfungstag überhaupt die Rede sein kann, wenn die Zeiten doch erst am dritten Tag der Schöpfung hervorgebracht und geordnet wurden, unterscheidet Augustin zwischen der Zeitempfindung der menschlichen Seele und der an der Bewegung der Himmelskörper ausgerichteten Einteilung der Zeiten. Diese Einteilung wiederum ist von dem Lauf der Zeit selbst ('si currant tempora'51), so zeigt die zweite Unterscheidung, unabhängig vorzustellen.
49 De gen. C.M., aaO. 183 50 Ebd. 51 Vgl. ebd.
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Dieser Hinweis auf die Möglichkeit der Zeitempfindung unabhängig von der Betrachtung der Bewegung der Himmelsköiper - also unabhängig von der bewußten Messung der Zeit - kann als entscheidender Schritt Augustine auf dem Wege zu der Analyse des Zeitphänomens in den 'Confessiones' gewertet werden. Denn Augustin legt in dem referierten Abschnitt seiner Genesisauslegung allen Wert auf die Feststellung, daß die Zeitempfindung als eine der menschlichen Seele unveräußerliche Bestimmtheit zu gelten hat. Somit vollzieht sich hier der Schritt von der aus der biblischen Exegese geforderten These von der Zeit als 'Kreatur' zu ihrer Auswirkung auf die Herausarbeitung der Temporalität aller seelischen Vollzüge. Der weitere Verlauf dieser frühen Genesisauslegung kann unsere Deutung noch stützen. Wie sich der Gedanke eines der Seele unveräußerlichen Zeitbewußtseins zu der Unterscheidung zwischen der bloßen Einteilung der Zeiten - gemäß der Bewegung der Himmelskörper - und dem einfachen Lauf der Zeit verhält, läßt Augustin an dieser Stelle weitgehend unerörtert. Zweierlei aber kann dazu hier schon bemerkt werden. Die beginnende Verlagerung der Behandlung der Zeitthematik in die Analyse der Zeitlichkeit der Seele hebt die Kennzeichnung, daß alles Geschaffene per se als durch Zeitlichkeit, d.h. dauernde Veränderung bestimmt zu denken ist, nicht auf, sondern bedeutet vielmehr deren Anwendung. Davon also, daß die Zeit für Augustin "von vornherein innere Zeit"52 ist, kann insofern nicht die Rede sein. Allerdings bleibt zunächst offen, wie sich die Feststellung Augustine, daß die Zeit 'currere atque praeterire'53, zu der Thematisierung der Zeit als Zeitlichkeit der Seele verhält. Darüber hinaus ist der betonte Wechsel zwischen dem singularen und pluralen Gebrauch des Zeitbegriffs in den referierten Abschnitten der Genesisauslegung Augustine bemerkenswert. Demnach bezeichnen 'tempora' immer begrenzte und genau zu bestimmende Zeitabschnitte, die jeweils als eine Zeiteinheit vorgestellt sind. In diesem Sinne bedeutet Zeit immer so viel wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, d.h. ein bestimmtes Quantum.54 Der im Singular auftretende Gebrauch des Zeitbegriffs impliziert demgegenüber die quantitative Unbestimmtheit, ja Unbestimmbarkeit des so beschriebenen Phänomens. So spricht Augustin von einer unbestimmten zeitlichen Ausdehnung, die die Seele wahrnehmen kann, oder von einem beliebigen und unbestimmbaren 'Quantum an Zeit' ('mora temporis'55), das
52 53 54 55
F.W.v.Herrmann, Bewußtsein, Zeit und Weltverständnis, 1971, 110 De gen. c.M„ aaO. 183 Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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bis zur Erschaffung der Himmelskörper am dritten Schöpfungstag vergangen ist. Diese Differenzierung zwischen bestimmten 'tempora' und der als Ständigkeit des Wechsels (mutabilitas) verstandenen Zeit läßt es fraglich erscheinen, ob das Urteil zutreffend ist, daß Augustin mit der gesamten philosophischen Tradition die Zeit "nur unter dem Aspekt der Zeitfolge"56 also nur aus dem gegenwärtigen 'Jetzt' - verstanden hat. Wenn gegen Augustin vorgebracht wurde, daß "auch das Beharren ... ein Zeitcharakter ist"57, so gilt darauf hinzuweisen, daß auch die Unterscheidung zwischen der Zeit als konkreter Anzahl und dem unbestimmten Wechsel der Zeit den Versuch Augustine darstellt, den 'Folgezusammenhang' der Zeit - also die Erfahrung, daß sie als unaufhaltsamer 'Fluß' erlebt wird - nicht absolut zu setzen.
c) Die Zeitlichkeit der Seele als ihre Geschichte 'coram Deo' Augustin beginnt das zweite Buch dieser frühesten Genesisauslegung mit der Kommentierung des sogenannten zweiten Schöpfungsberichtes. Dabei wendet er sich zunächst dem Problem des Überganges von Gen. 2,3 zu Gen. 2,4ff. zu. Die Schwierigkeit, daß in Gen. 2,4 ganz offensichtlich neu angesetzt wird, obwohl der Bericht von der Schöpfung sich zu Beginn des zweiten Kapitels der Genesis selbst als abgeschlossen ausgibt, versucht Augustin mit einer Reflexion auf den doppelten Schriftsinn zu lösen.58 Danach kann die Schrift 'secundum historiam' oder 'secundum prophetiam' ausgelegt werden.59 Erstere Auslegung hält sich an die 'facta', die in der Schrift erzählt werden, und rekapituliert diese facta 'secundum litteram'. Bei der Auslegung 'secundum prophetiam' wird dasjenige, das in der Schrift "figurate atque in aenigmatibus"60 dargeboten ist, als Ankündigung des Zukünftigen interpretiert.61 Die vollständige Auslegung der Schrift 'secundum historiam' wäre zwar erstrebenswert, ist aber nach Augustins Meinung nicht durchführbar, weil sie notwendig auf Unstimmigkeiten in der Schrift stoßen muß - wie z.B. den Übergang von Gen. 2,3 zu Gen. 2.4.
56 Vgl. v.Herrmann, aaO. 144 mit Bezug auf Heidegger 57 AaO. 148 58 Erst in seiner zweiten Genesisauslegung von 393 dringt Augustion zu seiner berühmt gewordenen Unterscheidung eines vierfachen Schriftsinnes vor; dazu vgl. E.v. Dobschiltz, Vom vierfachen Schriftsinn, in: Harnack-Ehrung 1921, Iff. und G. StrauB, Schriftgebrauch, Schriftauslegung und Schriftbeweis bei Augustin, 1959 59 Vgl. De. gen. c.M., aaO. 197 60 Ebd. 61 Vgl. ebd.
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Gleichwohl hat aber auch die Auslegung der Schrift 'secundum prophetiam' apostolische Autorität.62 Wenn somit in Gen. 2,4 ganz offensichtlich im Gegensatz zu Gen. 1 von der Erschaffung der Welt an einem einzigen Tag die Rede ist, so ist der Begriff 'dies' in diesem Zusammenhang prophetisch als 'figura' für Zeit überhaupt zu interpretieren.63 Daraus folgt, daß Gott die Zeit zugleich mit allen Kreaturen geschaffen hat.64 Damit kann präziser formuliert werden: Gott hat die Zeit zusammen mit den Geschöpfen als Kennzeichen ihrer Wandelbarkeit geschaffen. Die Zeit ist demnach als Prädikat der Geschöpflichkeit und Endlichkeit des Geschaffenen zu fassen. Entsprechend zu der Deutung des Begriffs 'dies' in Gen. 2,4 als 'figura' für 'omne tempus' interpretiert Augustin die Wendung 'fecit Deus ... omne viride agri' als Bild für die ' invisibilia creatura' .65 Dabei greift er zurück auf die Exegese von Matth. 13,38, wo der Begriff 'ager ' nach Augustin als Bild für die Welt schlechthin gebraucht wird.66 Bedeutet 'dies' in Gen. 2,4 also 'omne tempus', so liegt es für Augustin nahe, den Abschnitt Gen. 2,4ff. insgesamt so zu deuten, daß "non solum visibilem, sed etiam invisibilem creaturam tempus posse sentire".61 Denn offenbar gilt auch für die 'invisibilia creatura' - also z.B. für die Engel - , daß sie temporalis creatura sind, wenn denn in Geltung steht, daß die Zeitlichkeit Prädikat alles Geschöpflichen ist. Daß in der Tat auch von der 'invisibilia creatura' gilt, daß sie "tempus posse sentire" bzw. "pertinere ad tempus"68, demonstriert Augustin anhand der Verfassung der menschlichen Seele. "Quod de anima nobis manifestatur, quae tanta varietate affectionum suarum, et ipso lapsu quo misera facta est, et reparatione qua rursus in beatitatem redit, tempore mutari posse convincitur."69 Die Zeitlichkeit der Seele also wird von Augustin sowohl im Blick auf ihre durch die Lenkung des Körpers hervorgerufene Bewegtheit und Gespanntheit als auch in bezug auf ihre individuelle Geschichte von ihrem Fall bis zu ihrer erstrebten Wiederherstellung entwickelt. Die Zeit62 Vgl. ebd. 63 AaO. 198; "cuius diei nomine omne tempus significare bene intellìgitur" 64 Ebd.; "fecit enim Deus omne tempus simul cum omnibus creaturis temporalibus" 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. ebd. 67 AaO. 200 68 Ebd. 69 Ebd.; 'Aus dem, was uns klar wird über die menschliche Seele, die in so großer Unbeständigkeit ihrer Stimmungen lebt, sowohl durch den Fall selbst, durch welchen sie unglücklich gemacht worden ist, als auch durch die Wiederherstellung, durch welche sie zur Zufriedenheit zurückkehrt, ist bewiesen, daß die Seele in der Zeit verändert werden kann.'
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lichkeit der menschlichen Seele läßt sich offenbar phylo- und ontogenetisch einsichtig machen. Die Wendung 'pertinere ad tempus' drückt die zeitliche Verfaßtheit der menschlichen Seele präzise und zusammenfassend aus. Die Seele unterscheidet sich in ihrem 'pertinere ad tempus' darin von der unbeseelten Kreatur, daß sie um ihre Zeitlichkeit 'coram Deo' weiß und damit um den Mangel ihrer Veränderlichkeit. Unter dem Begriff der 'visio temporalis' ist kürzlich die Pointe der als Verfassung der menschlichen Seele gedachte 'personale Zeit' zusammengefaßt worden.70 "Die personale Zeit ist... eine 'zeitliche Anschauung', zeitlich bedingte und differenzierte, dazu sich verändernde Erkenntnis."71 Daß für Augustin die Einsicht in die zeitliche Verfassung der Seele das Sein des Menschen vor Gott kennzeichnet72, wird in dieser frühen Genesisauslegung darin deutlich, daß die Zeit das Sein der Seele zwischen Fall und Wiederherstellung - also in der Gespanntheit des Gottesverhältnisses ausdrückt. Daß das 'pertinere ad tempus' also allein die unaufhebbare Differenz der zeitlichen Seele zu Gott zum Ausdruck bringen soll73, ist uns fraglich. Die oben angedeutete Präzisierung Augustine hinsichtlich der von ihm behaupteten Kreatürlichkeit der Zeit - eine Behauptung, die zunächst so vorgebracht wurde, daß ein gleichsam gegenständliches Verständnis der Zeit impliziert zu sein schien - kann damit dahingehend formuliert werden, daß Augustin in seiner Schrift 'De Genesis contra Manichaeos' die Zeit als Prädikat des Geschaffenen überhaupt verstanden wissen will. Darüber hinaus wurde auch die Geschöpflichkeit der 'creaturae invisibiles' von Augustin ausdrücklich thematisch gemacht, indem auch für sie das 'pertinere ad tempus' nachgewiesen werden sollte. Insofern also dieses 'pertinere ad tempus' auch der 'invisibiles creaturae' aus der für die menschliche Seele explizit nachgewiesenen mutabilitas ersichtlich wird, kann in diesem Punkt eine nicht unerhebliche Selbstkorrektur Augustins konstatiert werden. Die 'Zeit als Kreatur' - das besagt nun: alles Geschaffene unterliegt der Veränderlichkeit. Die Einsicht in die zeitliche Struktur und Verfassung der Seele versteht sich so als Anwendung der im Zusammenhang der biblischen Exegese gewonnene Erkenntnis, daß die Zeit Geschöpf Gottes ist. Statt also die Leugnung der objektiven Zeit zu sein, ist die Betonung der zeitlichen Verfassung der Seele und ihrer differenzierten Weise, das Zeitliche zu ordnen, im Blick auf die objektive Zeit - die Zeit als Kreatur formuliert. Hinsichtlich ihrer zeitlichen Verfassung erfährt sich die Seele in Abhängigkeit von der Zeit der Kreatur.
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Wurde also in 'De immortalitate animae' die mutabilitas als das 'Nichtzugleich-sein-Können' bestimmt, das nur den res corporeae, nicht aber der menschlichen Seele zukommen kann, da diese Ungleichzeitiges gleichzeitig sein läßt, so wird nun auch die mutabilitas der Seele ausdrücklich behauptet. Damit aber fällt auch die Fähigkeit der Seele, Ungleichzeitiges gleichzeitig sein lassen zu können, unter das Vorzeichen ihrer Veränderlichkeit. Von daher aber ist umgekehrt diese Veränderlichkeit alles Geschaffenen nicht mehr nur als die bloße Abfolge v o n Augenblicken, in der das Geschaffene ständig sein Sein verliert, zu bestimmen; sondern auch das 'Zugleich-sein-Können' muß als wesentliche Bestimmtheit der Geschöpflichkeit interpretiert werden können. Insofern ist aber auch die Zeit selbst nicht mehr nur "unter dem Aspekt der Zeitfolge"74 zu begreifen.
d) Die Ordnung der Zeiten als signum
aeternitatis
In seiner zweiten Genesisauslegung von 393 nimmt Augustin erneut den oben im Zusammenhang der Musikschrift referierten Gedanken auf, nämlich den Gedanken, der gleichmäßige Umschwung der Himmelskörper bilde die unveränderliche Ewigkeit ab. Es geht Augustin in dieser zweiten Genesisauslegung nun darum, diesen Gedanken mit der biblischen Darstellung des Schöpfungsvorganges in einen Zusammenhang zu bringen. Aus der Wendung von Gen. 1,14 'et sint (sc. luminaria) in signis et in temporibus et in diebus et in annis' schließt Augustin, daß die tempora, d.h. die sich nach dem Umlauf der Gestirne bemessenden Zeiten als signa aeternitatis gedeutet werden müssen; "ne aliud acciperentur signa et aliud tempora; haec enim nunc dicit tempora, quae intervallorum distinctione aetemitatem incommutabilem supra se manere significant, ut signum, id est quasi vestigium aeternitatis tempus adpareat".75 Es ist nach dieser Bemerkung Augustine aber nicht mehr allein die zahlenmäßige Ordnung, die - wie noch in der Musikschrift - es ermöglicht, in dem geordneten Lauf der Zeiten ein Bild der unveränderlichen Ewigkeit zu sehen. Die Zeiten, die sich aus dem Umlauf der Himmelskörper ergeben, können deshalb als signa aeternitatis genommen werden, weil sich in ihnen - und das zeigt nur die Bibel - die unveränderliche Ewigkeit abbilden will. Die exegetisch gewonnene Erkenntnis der Zeit als Kreatur ist nun der Grund für die positive Rezipierung der alten Eikon-Lehre. Daß Gottes Weisheit in der zeitlichen Ordnung der Welt zum Ausdruck kommen will - wie die Bibel es bezeugt - , ermöglicht die positive Wertung der Zeit als 'vestigium aeternitatis'. Die erkannte Ordnung der Zeiten kann das biblische Zeugnis bestätigen, daß die Ewigkeit in der Zeit zur Erscheinung kommt. 70 71 72 73 74 75
E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, 1985,57ff. AaO.58 Vgl. aaO. 61 u.ö. So Schmidt z.B. aaO. 41ff. und 57ff. V. Herrmann, aaO. 144 A. Augustin, De Genesi ad litteram. Imperfectus liber, CSEL 28,1,459ff„ 487
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Der großartige Gedanke aus der Musikschrift, der die zahlenmäßige Ordnung alles Seienden als Ansatzpunkt für die Vermittlung zwischen Zeit und Ewigkeit nahm, erfährt hier eine kleine, aber erhebliche Veränderung. Nun gilt, daß die Ewigkeit sich selbst die Art und den Ort ihrer Erscheinung in der Zeit sucht; die Zahlzeit ist nur dann als 'vestigium aetemitatis' erkennbar, wenn schlechthin ausgemacht ist, daß die Ewigkeit sich in der Zeit zu erkennen gibt.
4. Die Ewigkeit als der verborgene Sinn aller Zeiten Zur Neubestimmung der Zeit in den 'Confessiones' Die Ausführungen Augustine zum Zeitbegriff in den 'Confessiones' sind für die Darstellung der augustinischen Zeitlehre insgesamt zumeist in hervorgehobener Weise herangezogen und ausgewertet worden. Das hat seinen wesentlichen Grund darin, daß die sogenannte psychologische Fassung und Deutung des Zeitphänomens durch Augustin in dieser Schrift mit der These von der Zeit als 'distendo animi' ihren stärksten und begrifflich präzisesten Ausdruck findet.1 Die These, Augustin habe das Zeitphänomen ausschließlich als psychologisches Phänomen entwickelt bzw. die Zeit abgrenzend von einem sogenannten physikalischen Zeitbegriff als 'Zeitlichkeit des Daseins' interpretiert, beruft sich dann auch weitgehend auf die Ausführungen Augustine in seinen 'Confessiones'. 2 Für uns wird auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen die Frage, wie sich die Untersuchungen Augustins in den 'Confessiones' in den Zusammenhang seiner bislang referierten Schriften einfügen lassen, im Vordergrund stehen. Dabei wird zu zeigen sein, daß die Bestimmung der Zeit als 'distentio animi' sowohl - allerdings kritisch - an die Deutung der Zeit als 'vestigium aetemitatis' als auch an die Entwicklung des Zeitbegriffs als eines Schöpfungsbegriffs - wie sie in den Genesisauslegungen auftrat - anknüpft. Beide 'Aspekte' des augustinischen Zeitverständnisses werden in den 'Confessiones' aufgenommen und präzisiert. Dabei wird sich gleichsam nebenbei ergeben, daß die sogenannte Psychologisierung des Zeitphänomens sich nicht isolieren läßt von einer physikalischen und geschichtlichen Interpretation des Zeitphänomens. 1 Mit E.A. Schmidt sind wir der Überzeugung, daß 'distentio animi' doch auch "so etwas wie eine Définition von Zeit sein soll" (Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, 1985, 24, Anm. 36). 2 Vgl. z.B. R. Berlinger, Zeit und Zeitlichkeit bei Aur. Augustinus, ZPhF 7 (1953),493ff.; femer W. Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 1926 und auch Husserl, aaO. 368ff.; die enorme Verbreitung dieser Deutung vor allem in der deutschen Forschung und ihre Genesis aus Heideggerschem Denken und Heideggerscher Sprache hat überzeugend Schmidt, Zeit und Geschichte, bes. 12ff., gezeigt.
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Entsprechend zu den vorausgeschickten Bemerkungen wird es für uns zunächst darauf ankommen, die Argumentationsschritte, die Augustin zu der These von de Zeit als 'distentio animi' führen, nachzuvollziehen. Daran anschließend ist kurz darzustellen, inwieweit sich Augustine sogenannter psychologischer Zeitbegriff aus der stillen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie gewinnt und auf ihrem Hintergrund profilieren läßt. Die Frage nach den Quelle des augustinischen Zeitbegriffs ist in der Literatur ausführlich diskutiert worden. War vor allem durch das Buch von Guitton die Deutung der Zeitlehre Augustins auf dem Hintergrund der neuplatonischen Philosophie weitgehend unumstritten - wobei allerdings strittig blieb, ob Augustin eher an Plotin oder aber an Porphyrius anknüpfte - , so ist seit den verschiedenen Aufsätzen Callahans das Spektrum der Deutungen breiter geworden.3 Die verschiedenen Deutungen können hier nicht explizit diskutiert werden. Wir beschränken uns im Zusammenhang dieser Arbeit auf die Diskussion der möglichen 'Abhängigkeiten' Augustins im Blick auf die grundlegende These, daß erst die Relation zur Ewigkeit die Zeit zur Wahrheit bringt. Dabei gilt es herauszuarbeiten, welche Wendung der im Zusammenhang der platonischen Philosophie entwickelte Gedanke, daß die Zeit nur relational im Blick auf den Begriff der Ewigkeit bestimmt werden kann, bei Augustin erfährt. Es sind im wesentlichen vier Argumentationsschritte auszumachen, in denen Augustin zu seiner berühmt gewordenen Bestimmung der Zeit gelangt.4
3 Vgl. J. Guitton, aaO., besonders 243ff.; für die Annahme des Porphyrius als 'Quelle' Augustins ist besonders W. Theiler in seinen Veröffentlichungen eingetreten; J.F. Callahan hat diesen beiden 'traditionellen Thesen' noch eine dritte Theorie zur Seite gestellt; in Ders., Basil of Caesarea. A New Source of St. Augustine's Theory of Time, HStinCl.Ph63,1958,437ff.; dagegen Duchrow, Zeitbegriff 272; in neueren Veröffentlichungen ist eindrucksvoll versucht worden, die Zeitanalyse der 'Confessiones' aus der rhetorischen Tradition, die Augustin schon allein aus beruflichen Gründen zu studieren hatte, zu erklären. Am überzeugendsten ist dieser Versuch bei W. Duchrow und E.A. Schmidt durchgeführt. Schmidts Ausführungen eignet dabei insofern eine noch größere Konsequenz als den Analysen Duchrows, als Schmidt auch gegen Duchrow ausdrücklich zeigen will, daß sich Augustin vollständig aus der rhetorischen Tradition verstehen läßt (vgl. Schmidt, aaO. 20, 25ff.) 4 E.A. Schmidt sieht Augustin in Buch XI der 'Confessiones' in der Beantwortung der beiden Fragen, 'quid tempus sit' und 'quale tempus sit' (Schmidt, aaO. 17,27 u.ö.) und gliedert dieses Buch dementsprechend in zwei Argumentationszusammenhänge. Gegen Schmidt sind wir der Meinung, daß Augustin der Frage, 'an sit tempus' ebenfalls Aufmerksamkeit widmet allerdings 'nur' in Verbindung mit der Frage nach dem Wesen der Zeit.
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a) Augustin setzt im Buch XI der 'Confessiones' mit dem Bekenntnis ein, daß der ewige Gott5 in seiner Unwandelbarkeit als der Schöpfer und Bewahrer aller Zeiten gelten muß, die seinem Willen gemäß ablaufen.6 Diese Wahrheit bezeugen die Schrift und das sich unter der Führung Gottes wissende und erfahrende gläubige Bewußtsein.7 Die 'pietas' aber verlangt nach sicherer, intellektueller Gewißheit.8 Das zum Verstehen des Geglaubten drängende gläubige Bewußtsein hält sich dabei an die Schrift und ihre rechte Auslegung.9 Die Herrschaft Gottes über die Zeiten muß nach der Schrift das Ganze der Geschichte "ab usque 'principio', in quo 'fecisti caelum et terram', usque ad regnum tecum perpetuimi 'sanctae civitatis' tuae"10 umfassen. Insofern ist die in Conf. XI einsetzende Literarexegese von Gen. 1 notwendig und folgerichtig; denn damit kann verdeutlicht werden, daß die Geschichte Gottes mit jedem einzelnen Menschen, den er zu der Erkenntnis der Wahrheit führt, als Exemplar der Geschichte Gottes mit der Zeit im ganzen gelten muß.11
5 A. Augustin, Confessiones, Buch XI, 1,1 (nach der Ausgabe von J. Bemhart, 1955; im folg. zitiert ohne Verfassern, als Conf.) "Numquid, domine, cum tua sit aetemitas" 6 AaO. XI, 2, 3; "ad nutum tuum momenta transvolant" 7 Vgl. aaO. XI, 2,2f. 8 AaO. XI, 2,2; "Et olim inardesco 'meditali in lege tua' et in ea tibi confiteli scientiam et inpeiitiam meam" 9 AaO. XI, 2,3; "Sint castae deliciae meae scriptura tuae"; "Ecce vox tua gaudium meum" 10 Ebd. 11 U. Duchrow, Der Aufbau von Augustine Schriften Confessiones und De trinitate, ZThK 62 ( 1965), 338ff. hat zu verdeutlichen versucht, daß die drei letzten Bücher der Conf. im Anschluß an die Seligpreisungen der Bergpredigt den Aufstieg der Seele zu Gott darstellen; wenn wir an dieser Stelle von der Geschichte Gottes mit dem Menschen reden, derer sich die Seele im Zwiegespräch mit Gott bewußt wird, so unterlegen wir dem Text der 'Confessiones' noch kein 'geschichtsphilosophisches Konzept'. Gegen eine derartige, den augustinischenText pressende Deutung hat sich kürzlich vehement E.A. Schmidt in seiner Studie 'Zeit und Geschichte bei Augustin' gewandt. Schmidt setzt sich darin kritisch mit großen Teilen der Augustin-Literatur auseinander, die er bestimmt sieht von scheinbar unausrottbaren Vorurteilen, die den augustinischen Texten mehr schlecht als recht unterlegt werden. Zumal im Blick auf die 'Confessiones' und 'De civitate Dei' sind diese den augustinischenText 'überfordernden' und pressenden Prämissen weiter Teile der Forschung für Schmidt leicht namhaft zu machen. Zum einen wird Augustin zumeist ein geschichtsphilosophisches Konzept, das Konzept einer Heilsgeschichte, von dem aus er die Weltgeschichte insgesamt zu deuten sucht, unterstellt (vgl. Schmidt, aaO. 77ff. und 99ff.). Dieses Vorurteil entspringt, so Schmidt, einer Deutung Augustine aus seiner Wirkungsgeschichte, keineswegs aber einer sauberen Analyse der augustinischen Texte (vgl. aaO. 64ff.). Zum anderen werden die Ausführungen der ' Confessiones ' über das Wesen der Zeit vielfach so gedeutet - im übrigen in Entsprechung zur 'geschichtsphilosophischen Deutung' von 'De civitate Dei' -, daß Augustin angeblich die Zeit als eine 'aufsteigende Linie', auf zukünftige Erfüllung zulaufende Bewegung des Geschaffenen lehrt (vgl. aaO. 41ff.).
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Die Ausführungen des elften Buches der 'Confessiones' widmen sich im Zusammenhang der eine Einheit bildenden letzte vier Bücher der Schrift, die anhand einer Genesisexegese den Weg Gottes mit seiner Schöpfung beschreiben, der Frage, "quomodo 'in principio fecisti caelum et terram'"12, d.h. also der Frage nach dem Anfang der Schöpfung. Dabei kommt es Augustin darauf an zu zeigen, daß Gott, obwohl er Zeitliches vorauswissend schafft und erhält, selbst nicht notwendig veränderlich sein muß. Dieser Nachweis wird für Augustin von entscheidender Bedeutung in der Auseinandersetzung mit den Manichäern, "die behaupteten, die unendliche leere Erde und Zeit seien als Prinzip der Finsternis mit dem Lichtgott gleichewig".13 Konkret wurde diese Auffassung, wie schon gesehen, in der ironischen Frage nach den möglichen Tätigkeiten Gottes vor der Schöpfung; diese Frage führt - ein rein gegenständliches Verständnis der Zeit vorausgesetzt - in ein Dilemma. Ist nämlich von einer Tätigkeit Gottes vor der Erschaffung der Welt zu sprechen, in der Gott lediglich mit der Anschauung seiner selbst beschäftigt war, so muß die Schöpfungstätigkeit entweder als zu dem Wesen Gottes akzidentiell hinzukommende Bestimmung gedacht werden - womit das Wesen Gottes aber nicht mehr ' veraciter aeterna' genannt werden könnte-, oder aber der Wille Gottes, Nichtseiendes ins Sein zu rufen, wird als ewiger Wille Gottes gedacht - dann aber kann die
Dagegen habe, so betont Schmidt, Augustin die finale Struktur der Zeit keineswegs im Blick. Die Studie von Schmidt will diese Vorurteile der Forschung abbauen; ihr geht es darum, wieder "den Blick für die augustinische Theologie der Zeit des einzelnen Menschen und der Weltzeit in ihrem Abstand von Wahrheit und Heilskraft des ewigen Gottes" zu schärfen (AaO. 7). Demnach bringt für Schmidt das Nachdenken Augustins über die Zeit nichts anderes als die defizitäre Verfassung des von Gott Getrennten zum Ausdruck (aaO. 44, 53, 57 u.ö.); die unüberwindbare Opposition zwischen der Ewigkeit Gottes und der Zeit des Geschaffenen ist nach Schmidt die eigentliche Pointe der augustinischen Zeitlehre. Gleichwohl reflektieren die 'Confessiones' im ganzen die Geschichte der Seele mit und vor Gott. Augustin spricht von Gottes vergangenen, gegenwärtigen und auch zukünftigen Wohltaten gegenüber dem Bekennenden. Und der Vergleich der Geschichte der einzelnen Seele mit der Geschichte der Welt insgesamt durchzieht die Darstellung der letzten drei Bücher der 'Confessiones'. Darum geht wohl auch nicht der Streit. Die entscheidende Frage ist die, ob Augustin mit seiner unzweifelhaften Betonung der Differenz von Zeit und Ewigkeit unweigerlich intendiert, daß die Zeit nichts als die Entfernung des Geschaffenen von Gott ausdrückt. So meint es wohl Schmidt, wenn er betont: "Augustins Zeit ist in all ihrer Bewegtheit und Unruhe ungerichtet und undynamisch" (AaO. 54). Es ist aber zumindest fraglich, ob die Betonung der Differenz alles Zeitlichen zu seinem Ursprung von vornherein ausschließen muß, daß es zu seinem ewigen Ursprung zurückkehren kann. Sollten die so ausdrucksstarken Hinweise Augustins auf das Sehnen der Seele nach ihrer Ruhe bei Gott (vgl. z.B. Conf. XIII, 37, 52) nichts als Ausdruck ihrer unaufhebbaren Trennung von Gott sein? 12 Conf., aaO. XI, 3,5 13 Duchrow, Zeitbegriff, 270
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Rede auch von einer 'sempiterna creatura'14 nicht mehr glaubwürdig abgewiesen werden. Damit aber ist die These von einem Anfang der Schöpfung und einer fundamentalen Unterschiedenheit von Zeitlichem und Ewigem nicht mehr zu halten, wenn denn vorausgesetzt werden kann, daß der Schöpfungsakt nur als Geschehen und d.h. in der Zeit zu denken ist. Dieser Argumentation setzt Augustin hier erneut die These von der 'inconparabilitas' von Zeit und Ewigkeit entgegen.15 Nun erfährt diese These im Zusammenhang von 'Conf. XI' eine ausführlichere Begründung als in den anderen Werken Augustine. Diese Begründung ist vermittelt durch eine Neufassung des Zeitbegriffs.16 In einem ersten Argumentations gang versucht Augustin dabei, einen Beweis seiner These von der inconparabilitas von Zeit und Ewigkeit über eine Bestimmung der Ewigkeit Gottes zu führen. Danach kommt nur der Ewigkeit Gottes im Unterschied zur Zeit die Bestimmung der Beharrlichkeit ('semper stantis aeternitatis') zu17; denn die Ewigkeit ist nicht als Folge einzelner Zeitmomente bestimmbar. Dem Ewigen ist alles zugleich: "non autem praeterire quicquam in aeterno, sed totum esse praesens".18 Die Bestimmungen der Beharrlichkeit und der Simultaneität aller Zeitmomente im Blick auf die 'aeternitas' werden sich später auch auf die Analyse des Zeitphänomens auswirken; diese Vorbestimmungen führen Augustin dann zu der Erkenntnis, daß die Zeit aufgrund dessen, daß ihr keine Beharrung zukommt, "tendit non esse".19 Neben der Beharrlichkeit und der Simultaneität (aller Zeitmomente), die als Bestimmungen der 'aeternitas' negativ in Abhebung von der aus "multis praetereuntibus motibus, qui simul extendi non possunt"20 zusammengesetzten Zeit gewonnen werden, eignet der 'aeternitas' noch eine dritte Bestimmung; man muß nämlich erkennen, "omne praeteritum propelli ex futuro et omne futurum ex praeterito consequi et omne praeteritum ac futurum ab eo, quod semper est praesens, creari et excurrere".21 So liegt die dritte Bestimmtheit der aeternitas darin, daß sie als zeitloser Grund alles Zeitlichen zu denken ist. Als das ewige 'Heute' ist
14 Zu diesen beiden Begriffen vgl. Conf. XI, 10,12 15 Vgl. die Abschnitte Conf. XI, 11,13,14, 17 16 Augustin zieht hier also nun die Konsequenzen aus den Aporten einer gegenständlichen Zeitauffassung. 17 Vgl. Conf. XI, 11, 13 18 Ebd. 19 AaO. XI, 14, 17 20 AaO. XI, 11, 13 21 Ebd.; "daß alles Vergangene verdrängt wird von Kommendem, daß alles Kommende auf Vergangenes folgt und daß alles Vergangene und alles Kommende von dem, was stets Gegenwart ist, erschaffen wird und hervorbricht".
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Gottes Ewigkeit dabei von aller Vergangenheit und aller Zukunft gleichweit entfernt.22 Inwiefern aber der ewige Gott, von dem allein gelten kann, daß er "semper est praesens"23, als Grund alles zeitlichen Geschehens auszumachen ist, bleibt dabei zunächst noch offen. Der weitere Fortgang dieses ersten Argumentationsganges auf dem Weg zu einer Neubestimmung der Zeit versucht, aufbauend auf die Bestimmung der Ewigkeit als Beharrlichkeit, Simultaneität und als Ermöglichungsgrund allen zeitlichen Wechsels24, die Unmöglichkeit der Behauptung einer Gleichzeitigkeit des Zeitlichen mit der Ewigkeit Gottes aufzuweisen. Diese Unmöglichkeit ist nach Augustin in der durch das biblische Zeugnis begründeten Einsicht beschlossen, daß Gott, da er 'operator omnium temporum'25 ist, die Zeiten nicht in zeitlichem Sinne vorausgehen kann. "Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aetemitatis ...".26 Denn andernfalls wäre die dem Schöpfungsakt voraufgehende Zeit, in der Gott als für sich seiend vorzustellen wäre, wiederum als begrenzt durch eine vergangene und eine zukünftige Zeit zu denken. Soll aber die in dem Schöpfungsbericht der Genesis implizit behauptete Zeitüberlegenheit Gottes angemessen formuliert werden, so muß sie eben als 'semper stans' aetemitas beschrieben werden, die kein 'crastinum' und kein 'hesternum' vor bzw. hinter sich hat.27 b) Die Abschnitte 14,17-20,26 des elften Buches der Confessiones rechtfertigen die Bestimmung der aetemitas Dei als 'beharrlicher Gegenwart' durch eine Untersuchung des Zeitphänomens. Die Zeit wird dabei zunächst als das 'Allerbekannteste' gewußt, das sich gleichwohl einer genaueren Bestimmung zu entziehen scheint. "Quid est ergo 'tempus'? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio ...", lautet die berühmt gewordene Formulierung Augustine.28 Die Problematik einer genaueren Bestimmung der Zeit liegt darin, daß sie zum 'Nichtsein tendiert'.29 'Vergangenes' (praeteritum) und 'Zukünftiges' (futurum) sind dadurch bestimmt, daß sie nicht mehr bzw. noch nicht sind, Gegenwärtiges selbst aber zeigt sich als dasjenige, das keine Ausdehnung hat.30 Wäre Gegenwärtiges
22 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Schmidt, aaO. 52 Conf. XI, 11, 13 Vgl. Conf. XI, 13,15: "Cum ergo sis operator omnium temporum" Vgl. ebd. Conf. XI, 13, 16 Vgl. ebd. Conf. XI, 14, 17 Ebd., "tendit non esse" Conf. XI, 15, 20; "praesens autem nullum habet spaüum"
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nämlich 'semper praesens', so müßte es gerade als aeternitas bestimmt werden. "Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus, sed aeternitas."31 Denn die Zeit wird offenbar als solche erfahren und notwendig bestimmt, daß sie aufgrund ihrer unendlichen Teilbarkeit32 das Moment der Ausdehnung und Dauer, d.h. letztlich der Beharrung, nicht an sich hat. "Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium."33 Und doch ist das Faktum, daß "sentimus intervalla temporum et conparamus sibimet et dicimus alia longiora et alia breviora"34, unabweisbar. Dieser Sachverhalt bedarf demnach der Klärung, weil in dem Akt der Zeitmessung offenbar die Realität der Zeit vorausgesetzt wird, die aber selbst reflexiv nicht aufweisbar zu sein scheint. Vielmehr führt die Reflexion auf die mögliche Realität der Zeit immer wieder nur zu der Erkenntnis, daß sie 'tendit non esse'. Entsprechend überfuhrt Augustin die Frage nach dem 'quid' der Zeit in die Frage nach ihrem 'ubi', in die Frage nach dem Ort also, an dem ihre Realität scheinbar selbstverständlich vorausgesetzt wird.35 Diese Frage nach dem O r t ' der Zeit wird mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß die Zeit als Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Seele vorliegt.36 Den Erweis dafür erbringt Augustin folgendermaßen. Auszugehen ist von dem Faktum, daß wir Zeiten wahrnehmen und messen. Gemessen werden die Zeiten wiederum als bestimmte 'intervalla temporum', d.h. als jeweils eine bestimmte zeitliche Dauer und Ausdehnung umfassende Bewegungen. Diese Ausdehnung kann nur der konkret wahrgenommenen und gemessenen Bewegung eines Körpers zukommen. "... fidenter tarnen dico scire me, quod, si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adveniret, non esset futurum tempus, et si nihil esset, non esset praesens tempus".37 Zeit ist somit zunächst als Prädikat an der Bewegung eines Körpers, die wahrgenommen wird, vorzustellen. Wahrgenommen und gemessen werden können aber nur gegenwär31 Conf. XI, 14, 17 32 Vgl. Conf. XI, 15, 20, wo Augustin darauf hinweist, daß eine nicht mehr teilbare, aber ausgedehnte Zeit nicht vorstellbar ist 33 Conf. XI, 15, 20 34 Conf. XI, 16, 21 35 Die Frage, ob der Zeit Realität zukommt, überführt Augustin also in die Frage, 'wo' der Zeit Realität zukommt. Mit dem Hinweis auf die zeitliche 'distentio' der Seele beantwortet Augustin also zugleich die Frage nach der Realität der Zeit Allein insofern erfolgt die Äußerung Schmidts zu Recht, Augustin widme der Frage, 'an sit tempus', keine gesonderte Aufmerksamkeit (Schmidt, aaO. 17 u.ö.) 36 Vgl. Conf. XI, 20, 26 37 Conf. XI, 14, 17
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tig ablaufende Bewegungen und Zeiten ("Sed praetereuntia metimur tempora, cum sentiendo metimur ..."38), denn vergangene und zukünftige Zeiten sind aufgrund dessen, daß sie nicht mehr bzw. noch nicht sind, nicht meßbar. Meßbar ist vielmehr per definitionem nur dasjenige, dessen Sein gegenwärtig ist.39 Aber, - so unterbricht Augustin seinen Gedankengang - kommt dem Zukünftigem und Vergangenem tatsächlich per definitionem keine Realität zu?40 Zumindest in der Form der Prophetie und der wahren Erzählung muß dem Vergangenen und dem Zukünftigen doch ein Sein zukommen. "Nam ubi ea videnint qui futura cecinerunt, si nondum 'sunt'? Neque enim potest videri id quod non 'est'. Et qui narrant praeterita, non utique vera narrarent, si animo illa non cernerent: quae si nulla 'essent', cerni omnino non possent "41 Ein Sein aber ist dem Vergangenen und dem Zukünftigen, das zeigen auch diese Überlegungen, nur zuzusprechen, wenn es jeweils in irgendeiner Weise als gegenwärtig behauptet werden kann. "... scio tarnen, ubicumque 'sunt', non ibi ea futura esse aut praeterita, sed praesentia".42 Gegenwärtig aber sind vergangene und zukünftige Zeiten als Bilder und Vorstellungen (imagines) von vergangenen und zukünftigen Ereignissen. Im Blick auf die Vergangenheit spricht Augustin dabei von imagines, "quae in animo velut vestigia per sensus praetereundo fixerunt"43, im Blick auf die Zukunft von der 'praemeditatio' zukünftiger Handlungen44, die 'nondum' sind, weil sie eben als zukünftig vorgestellt werden. Nicht also die zukünftigen Ereignisse selbst werden geschaut ("Cum ergo videri dicuntur futura, non ipsa, quae nondum 'sunt', id est quae futura sunt, sed eorum causae vel signa forsitan videntur, quae iam 'sunt'..." 45 ), - diese selbst bleiben vielmehr zukünftig - sondern die Ursachen und Anzeichen des Zukünftigen als 'conceptiones animi'.46 Nur im Blick auf die conceptiones zukünftiger 38 Conf. XI, 16, 21 39 Nach Schmidt erklärt sich das bei Augustin beobachtbare Interesse an der Aufdeckung der möglichen Erfahrung von Gegenwart, die dann sowohl die Meßbaikeit der Zeit als auch ihre Realität sichern soll, ebenfalls aus der rhetorischen Tradition (gegen Duchrow, Zeitbegriff, 270, der darin den EinfluB griechischer Ontologie sieht). Wenn Augustin allein der 'praesens attentio' Dauer zuschreibt, so knüpft er nach Schmidt an das aus der Grammatik bekannte Phänomen des 'Praesens Imperfektum' an (Schmidt, aaO. 30). 40 Vgl. Conf. XI, 17, 22 41 Ebd. 42 Conf. XI, 18, 23 43 Ebd. 44 Vgl. ebd. 45 Conf. XI, 18, 24 46 Hier bestätigt sich das Urteil Schmidts, daß Augustin in der Tat das Zukünftige nach Analogie des Erinnerten denkt (Schmidt, aaO. 33ff.). "Zukunft ist für Augustin im elften Buch der Bekenntnisse Erwartung, nicht Hoffnung, aber selbst Erwartung nur in dem eingeschränk-
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Geschehnisse also gilt, daß Zukünftiges als gegenwärtig gedacht werden kann. Beispielhaft macht Augustin diese Unterscheidung zwischen dem zukünftigen Geschehen und seiner Vorausdarstellung im Bewußtsein des Menschen ('in animo' 47 ) an der Betrachtung eines Sonnenaufganges deutlich. Voraussagbar ist ein Sonnenaufgang bei der Betrachtung der Morgenröte. Die betrachtete Morgenröte ist gegenwärtig, der Sonnenaufgang selbst zukünftig. Voraussagbar wird der Sonnenaufgang aufgrund eines Vorstellungsbildes, das im Vollzug der Betrachtung der Morgenröte die Voraussage des bevorstehenden Sonnenaufganges ermöglicht. Präsent sind also die betrachtete Morgenröte und das Bild des Sonnenaufganges im Bewußtsein des Betrachters. Der Aufgang der Sonne selbst bleibt dem Bewußtsein zukünftig, wird aber sicher erwartet, weil die Erinnerung das Geschehen eines Sonnenaufganges in seiner Abfolge kennt. "Hier wird dann auch deutlich, daß das Verhältnis von gegenwärtiger sinnlicher Anschauung der Morgenröte und präsenter Imagination des zukünftigen Sonnenaufgangs eine Analogiebildung zur Anschauung zweier miteinander verbundener Erinnerungsbilder (Morgenröte und Sonnenaufgang) darstellt, also Vergangenheitserfahrung voraussetzt". 48 "Futura ergo nondum sunt et si nondum sunt, non 'sunt', et si non 'sunt', videri omnino non possunt; sed praedici possunt ex praesentibus, quae iam 'sunt' et videntur."49 Diese Aussage macht deutlich, daß Augustin mit dem Hinweis darauf, daß Vergangenes und Zukünftiges nur als Vorstellungsbilder im Bewußtsein gegenwärtig sind, die Zeit ausschließlich im Blick auf die Gegenwart bestimmt. Das Zentrum der augustinischen Zeitlehre besteht in der Erhellung dessen, was Gegenwart ist. Denn die Rede von drei Zeiten, die als solche vorliegen, - nämlich als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft - bleibt in dem Sinne nach Augustin "non proprie" 50 , weil dem Zukünftigen und Vergangenen Sein nur insofern zukommt, als sie als noch nicht bzw. nicht mehr Seiendes gewußt werden. Vergangenes wird erinnert und Zukünftiges wird erwartet in der Verlängerung der Betrachtung gegenwärtiger Begebenheiten. Vergangenes also wird lediglich in imagines gewußt, die als Reflexe des Wahrgenommenen im Geiste gewußt werden, Zukünftiges wird lediglich als das durch die gegenwärtigen causae und signa zukünftiger Ereignisse Bedingte gewußt. Deshalb formuliert Augustin: "... fortasse proprie diceretur: tempora 'sunt' tria, praesens de praeteten Sinn der sicheren Erwartung, der wahren Voraussage, die entweder auf der Erfahrung der Folge von Ursache (oder Zeichen) zu Verursachten ... beruht oder Propheüe als Lehre Gottes ist." (Schmidt, aaO. 36). 47 Vgl. Conf. XI, 18, 24 48 Schmidt, aaO. 34f. 49 Conf. XI, 18, 24 50 Conf. XI, 20, 26
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ritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris".51 Die Gegenwärtigkeit von Vergangenem also liegt in der memoria vor, die Gegenwärtigkeit von Zukünftigem in der expectatio.52 Die Frage nach dem O r t ' der Zeit aber hat damit insofern eine vorläufige Antwort gefunden, als die Zeit als eine gewisse Dreiheit in der Seele ausgemacht ist.53 Diese Dreiheit stellt sich dar als die Dreiheit von memoria, contuitus und expectatio, die offenbar die zeitliche Erstreckung der Seele ausmacht. Insofern die drei Dimensionen der Zeit auf diese Dreiheit in der Seele zurückgeführt werden, zeigt sich das Sein der Seele selbst wesentlich als zeitliches. Von daher liegt die Zurückfuhrung der drei Dimensionen der Zeit auf die Dreiheit von memoria, contuitus und expectatio auf der Linie der eingangs von Augustin behaupteten vorreflexiven Zeitlichkeit des menschlichen Bewußtseins.54 c) In einem dritten Argumentationsgang55 kommt Augustin auf die Frage nach dem Wesen der Zeit zurück. Der Umweg über die Frage nach dem O r t ' der Zeit ermöglichte die vorläufige positive Beantwortung der Existenzfrage im Blick auf die Zeit. In gewisser Weise, so zeigte Augustin, kann gelten, daß der Zeit im Blick auf ihre Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Sein zukommt, als die Zeit im menschlichen Bewußtsein als eine 'dreidimensionale' Größe vorliegt. Das Sein der Seele selbst also ist demnach als zeitlich zu denken in seiner Dreiheit von memoria, contuitus und expectatio. - Im Zurückkommen auf die Frage nach dem Wesen der Zeit setzt Augustin erneut bei dem Phänomen der Zeitmessung ein. Behauptet wurde von Augustin, daß nur die gegenwärtigen, d.h. 'praetereuntia tempora'56 wahrgenommen und gemessen werden können, da nur ihnen im Sinne der 'ständigen' Gegenwart ein Sein zuzusprechen ist. Diese Behauptung aber bedarf der Prüfung, da gleichfalls die Gegenwart als ausdehnungslos erkannt worden war.57 Diese Vorstellung von der Ausdehnungslosigkeit der Gegenwart rührte daher, daß sich im Blick auf eine bestimmte Zeitdauer doch immer noch eine Zeit denken läßt, die als Teil dieser bestimmten Zeitdauer vorgestellt werden kann. Und könnte man sich eine Zeit vorstellen, die nicht mehr teilbar ist, so muß diese gerade so gedacht werden, daß ihr keine Ausdehnung zukommt. Andernfalls ließe sich nämlich wiederum aufgrund der unendlichen Teilbarkeit der Zeit eine noch kleinere Zeitspanne denken. 51 52 53 54 55 56 57
Ebd. Vgl. ebd. Ebd.; "... in anima tria quaedam ..." Vgl. Conf. XI, 14, 17 Vgl. Conf. XI, 21, 27-24, 31 Vgl. Conf. XI, 16, 21 Vgl. Conf. XI, 14, 17 und 15, 18
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Ist die These, daß die Zeit im 'Vorübergehen' gemessen wird, - indem ihr nur dann nämlich, wenn sie im wahrnehmenden 'Bewußtsein' einen Eindruck hinterläßt, eine gewisse Ausdehnung zukommt - aber strittig, weil die Gegenwart eben als solche keine Ausdehnung hat, so scheint damit im Blick auf die Frage nach dem Wesen der Zeit nun doch nur die Konstatierung ihres Nichtseins zu bleiben. Denn wie läßt sich angemessen von Dauer und einer bestimmten und meßbaren zeitlichen Ausdehnung sprechen, wenn gar nicht deutlich ist, inwiefern die Zeit überhaupt gemessen werden kann? Bleibt die Aussage Augustine, daß die Zeit 'tendit non esse', also doch das letzte Wort? Eine mögliche und geschichtlich überlieferte Auffassung denkt die Zeit als Bewegung, genauer als Bewegung und Umschwung des Himmels.58 Schon Aristoteles zitierte und kritisierte diese Auffassung, die demnach auf vorsokratische Ausführungen zurückgeht und auch bei Piaton und in der Stoa ihren Niederschlag gefunden hat.59 Die Fassung der Zeit als "solis et lunae ac siderum motus"60 wird von Augustin aus verschiedenen, gewichtigen Gründen abgelehnt und kritisiert. Erstens ist dabei nicht einsehbar, warum die Zeiten nicht überhaupt als Bewegung der einzelnen Körper gedacht und bestimmt werden können. Oder vergeht dann, so fragt Augustin, wenn die Himmelskörper stillstehen sollten, sich aber beispielsweise die Scheibe eines Töpfers weiterhin dreht, etwa keine Zeit?61 Weil die Umläufe der Himmelskörper als bestimmte Maßeinheiten der Zeit fungieren können, ist es noch nicht notwendig, ihre Bewegungen selbst als Zeit zu denken. Vielmehr dient auch zu der Bestimmung der Dauer ihrer Bewegungen die Zeit als Medium. So ist ein Tag nicht identisch mit der Bewegung der Sonne "ab oriente usque ad orientem"62, sondern ein Tag bestimmt sich durch die Dauer, die die Bewegung der Sonne beansprucht. Somit ist zweitens die Frage nach der 'vis' und der 'natura'63 der Zeit mit der Behauptung, die Zeit sei identisch mit der Bewegung der Himmelskörper, nicht beantwortet, weil damit die Frage nicht gelöst wird, wie es möglich ist, die Bewegung eines Körpers hinsichtlich ihrer Dauer zu messen. Darüber hinaus verwechselt diese Behauptung der Identität von Zeit und Bewegung das Phänomen der Bewegung mit dem Medium der Bewegung.64 58 Vgl. Conf. XI, 23, 29, 59 Vgl. Aristoteles, Physik D, 218a 30ff. 60 Conf. XI, 23, 29 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. aaO., XI, 23, 30 63 So die Fragestellung von Conf. XI, 23, 30 64 Conf. XI, 24,31; "Cum itaque aliud sit motus corporis, aliud, quo metimurquamdiu sit, quis non sentiat, quid horum potius tempus dicendum sit?"
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Drittens führt Augustin das Zeugnis der Schrift gegen eine mögliche Gleichsetzung der Zeit mit der Bewegung der Himmelskörper an. So berichtet Jos. 10,12ff. von dem Stillstand der Sonne während der Schlacht der Israeliten bei Gibeon: der Stillstand der Sonne aber schließt in diesem Bericht ein 'Weitergehen' der Zeit ("tempus ibat"65) offenbar nicht aus, da die Schlacht "per suum quippe spatium temporis"66 vollzogen und beendet worden ist. So bestätigt das Zeugnis der Schrift die Ablehnung der Identität von Zeit und Bewegung aus Vemunftgründen. d) Durch die Einsicht, daß die Zeit nicht 'corporis motus' sein kann, ist eine Bestimmung des Seins der Zeit aber noch nicht erreicht. Vielmehr ist nur zu sagen, was die Zeit nicht ist. Gleichwohl ist auf der anderen Seite ihre 'Nichtrealität' deshalb nicht erweisbar, weil in dem Faktum der Zeitmessung so etwas wie ein Zeitbewußtsein präsent sein muß. Hinter das Faktum der Zeitmessung, d.h. hinter das Faktum, daß wir von längeren und kürzeren Zeiten sprechen und voraussetzen, es verstehe sich von selbst, was damit gemeint sei, ist nach Augustin nicht zurückzugehen; sondern dies bedarf, selbst wenn man meint, der Zeit komme kein Sein zu, der Erklärung. So führt das Nachdenken über das Wesen der Zeit in eine paradoxe Situation. "Itane, domine deus meus, metior et quid metiar nescio."67 Mit der Bewegung eines Körpers oder der Bestimmung der Dauer eines Geschehens wird immer auch schon Zeit erfahren und gemessen, ohne daß bisher deutlich gemacht werden konnte, was die Zeit selbst ist. Diese Paradoxie veranlaßt Augustin erneut, das Phänomen der Zeitmessung zu reflektieren. Danach versteht sich die Zeitmessung als ein Bewegungsvergleich bzw. als Vergleich verschiedener 'spatia temporum'. So wird beispielsweise "spatio brevis syllabae metiri spatium longae syllabae".68 Aber auch damit ist insofern kein festes Maß der Zeit bestimmt, als eine kurze Silbe, wenn sie gedehnter gesprochen wird, eine längere Zeit beanspruchen kann als eine rasch gesprochene längere Silbe. Zeitmessung als Bewegungsvergleich also impliziert die kontinuierliche Bewegung der gemessenen Größe; eine diskontinuierliche Bewegimg ist nicht durch eine bestimmte und festgesetzte Maßeinheit zu messen. Insofern ist "neque ita conprehenditur certa mensura temporis".69 Scheidet also die Bestimmung der Zeit als Bewegung auch im Blick auf die Reflexion darauf, daß sich die Messung der Dauer einer Bewegimg als 65 66 67 68 69
Conf. XI, 23, 30 Ebd. Conf. XI, 26, 33 Ebd. Ebd.
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Bewegungsvergleich verstehen läßt, aus, so bleibt Augustin nach eigenem Bekunden nur die Möglichkeit, die Zeit als 'Ausgestrecktsein' des Geistes selbst zu bestimmen. "Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi."70 Diese Vermutung begründet er dabei folgendermaßen. Gemessen wird die Zeit, so lautete die These Augustins, als vorübergehende.71 Denn nur die vorübergehende Zeit dehnt sich zu einer gewissen Dauer aus; Zukünftiges und Vergangenes kann deshalb nicht gemessen werden, weil es noch nicht bzw. nicht mehr ist. Ist also beispielsweise vorauszusetzen, daß eine körperliche Stimme ('vox corporis'72) hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer dann gemessen werden kann, wenn sie auch tatsächlich erklingt73, so muß die Bestimmung der zeitlichen Dauer selbst wiederum durch die Festsetzung eines Anfanges und Endes des zu messenden Klanges erfolgen. Für die volle Bestimmung der Dauer eines Klanges bedarf es also nicht nur der aktuellen Wahrnehmung dieses Klanges selbst, sondern auch seiner genauen zeitlichen Begrenzung.74 Streng genommen also kann ein noch nicht zu Ende gekommener Klang nicht gemessen werden. Wenn er aber zu einem Ende gekommen ist, "iam non 'erit'" 75 , und kann demnach auch nicht mehr gemessen werden. Anfang und Ende eines Klanges also sind in Wiriclichkeit niemals gleichzeitig, so daß selbst dann, wenn einem vorübergehenden Klang eine gewisse zeitliche Ausdehnung zugesprochen werden kann, diese zeitliche Ausdehnung doch gleichwohl nicht genau zu bestimmen ist. Daß einem vorübergehenden Klang ('vox praeterita'76) aber überhaupt eine gewisse zeitliche Ausdehnung zugesprochen werden kann, obwohl doch "praesens nullum habet spatium"77, findet seinen Ausdruck darin, daß wir z.B. einen vorgetragenen Vers faktisch als eine Einheit erfahren und vorstel-
70 Ebd.; an dieser Stelle bedeutet 'distendo' ohne Frage so etwas wie 'Ausdehnung', 'zeitliche Erstrecktheit' (wie z.B. auch in XI, 23, 30, 28, 38 u.ö.), an anderer Stelle (vor allem XI, 29, 39) dagegen 'Zerstreuung'. Es ist wesentlich diese schillernde Bedeutung des Verständnisses von 'distentio' (auch in verbalem Gebrauch!), die der augustinischen Zeitlehre und dem Zeitbegriff - ihren Sinn gibt. Die rein negative Deutung von 'distentio' ausschließlich als 'Zerstreuung' lehnt auch Schmidt ab (Schmidt, aaO. 23f., Anm. 36; sie ist vertreten bei G. O'Daly, Time as Distentio, aaO. 267f.), obwohl er ihr sachlich zuneigt. 71 Vgl. Conf. XI, 21,27 und hier 26,33: "Quid ergo metior? An praetereuntia tempora, non praeteriat?" 72 Vgl. Conf. XI, 27, 34 73 Ebd.; "metiamur eam, dum sonat" 74 Ebd.; "... nec metiri potest nisi ab initio sui, quo sonare coepit, usque ad fìnem, quo desinit" 75 Ebd. 76 Vgl. ebd. 77 Ebd. und vgl. 15, 20
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len können. Ermöglicht wird diese erfahrene und im Denken vorstellbare Einheit einer zeitlichen Folge, so zeigt Augustin im folgenden, durch die Tätigkeit des menschlichen Geistes. Das verdeutlicht Augustin in zweifacher Hinsicht. Zunächst im Blick auf das Problem der Zeitmessung. Nur im Gedächtnis hat eine von der Zukunft in die Vergangenheit durch den unausgedehnten gegenwärtigen Augenblick 'dahinfliegende'78 zeitliche Begebenheit eine bestimmbare und meßbare Ausdehnung. Diese geht zurück auf affectiones, die die "res praetereuntes"79 im Bewußtsein des Menschen hinterlassen. Nur diese affectiones ermöglichen die genaue Bestimmung einer wahrgenommenen körperlichen Bewegung, weil nur sie dem zählenden und messenden Bewußtsein im Sinne ständiger Gegenwart präsent sind. "Ergo aut ipsa (sc. die Eindrücke im Bewußtsein) sunt tempora, aut non tempora metior."80 Präsent sind sie dem Bewußtsein vermittels seines Erinnerungsvermögens, kraft dessen sich der Mensch sowohl der wahrgenommenen Sukzessionalität beispielsweise einer gehörten Melodie bewußt ist als auch die Simultaneität des in Folge Gehörten vorstellen kann. Dies läßt sich konkret so beschreiben, daß der Mensch in der Erinnerung die Folge von Tönen als eine Melodie ausfindig machen kann. Zweitens verdeutlicht Augustin seine These, daß die Zeit als distentio animi zu denken ist, anknüpfend an frühere Äußerungen anhand des Zusammenspiels von memoria, attentio und expectatio bei einem Liedvortrag.81 Dem aktuellen Vortrag eines dem Vortragenden bekannten Liedes geht die Antizipation des Liedganzen in der erwartenden Tätigkeit des Geistes voraus; "... antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur".82 Dieser Vorgriff auf das Ganze des Liedes ist insofern für den Vortrag des Liedes selbst konstitutiv, als er Bedingung für die geordnete und rechte Wiedergabe des als eines geordneten Ganzen gewußten Liedes ist. Nur wenn das Lied so als eine Ganzheit vorweg in den Blick genommen wird, werden die einzelnen Teile des vorgetragenen Liedes im Akt des Vortrages als die Teile des ganzen Liedes gewußt und erinnert. Erinnert wird im Vollzug des Liedvortrages wiederum das schon Vorgetragene, erwartet der noch vorzutragende Teil des Liedes, durch den das Lied erst zu einem Ganzen wird. "... atque distenditur vita huius actionis meae in meoriam propter quod dixi et in expectationem propter quod dicturus sum ,..".83 Die 78 79 80 81 82 83
Vgl. Conf. XI, 15, 20 Conf. XI, 27, 36 Ebd. Vgl. Conf. XI, 28, 38 Ebd. Ebd.
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Ausgestrecktheit des Geistes im Blick auf die Gegenwart schließlich ist als die den Vortrag begleitende Aufmerksamkeit ('attentio') des Vortragenden zu denken. Diese Aufmerksamkeit ist insofern ein Drittes neben expectatio und memoria, als sie die Form darstellt, in der Erwartetes und Erinnertes als solches gewußt und in Beziehung gesetzt werden. Augustin bezeichnet in diesem Zusammenhang implizit die attentio als die vermittelnde Tätigkeit zwischen expectatio und memoria.84. In der attentio liegt somit das Phänomen einer 'ausgedehnten Gegenwart' vor, insofern in der attentio der Übergang des noch erwarteten Teiles des Liedes in die Erinnerung als bewußte Tätigkeit des Geistes vorgestellt wird. "Et quis negat praesens tempus carere spatio quia in puncto praeteriret? Sed tarnen perdurai attentio, per quam pergat abesse quod aderit."85 Das als ganzes vorgetragene Lied ist nun vermittels der affectiones, die es im Bewußtsein hinterlassen hat, - denn es wurde im Vollzug des Liedvortrages gehört - in der Erinnerung präsent und kann somit in seiner gesamten zeitlichen Ausdehnung gemessen und bestimmt werden. "Quod quanto magis agitur et agitur, tanto breviata expectatione prolongatur memoria, donec tota expectatio consumato, cum tota illa actio finita transierit in memoriam."86 Am Schluß dieses Abschnittes fügt Augustin eine bemerkenswerte Äußerung an, in der er seine Zeitanalyse, die nun insofern zu einem vorläufigen Ende gekommen ist, als die Zeit als distentio animi nach Augustin hinreichend bestimmt ist, in dem Gedanken einer Ganzheit der Geschichte gipfeln läßt. "Et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis eibus fit atque in singulis syllabis eius, hoc in actione longiore, cuius forte partícula est illud canticum, hoc in tota vita hominis, cuius partes sunt omnes actiones hominis, hoc in toto saeculo filiorum hominum, cuius partes sunt omnes vitae hominum."87 84 Vgl. ebd.; "praesens tarnen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum" (Hervortiebung von mir) 85 Conf. XI, 28, 37 86 Conf. XI, 28, 38 87 Ebd.; diese Analogie zwischen "prämeditiertem Lied (Vorausberechnung aus der Erinnerung) und dem ganzen 'saeculum' der Menschensöhne" (Schmidt, aaO. 38) - nach Schmidt eine die Lesererwartung (wessen?) schockierende Analogie (ebd.) - impliziert gewiß alleine "noch keine Geschichtstheologie" (aaO. 38, Anm. 59) Augustins. Aber sie zeigt doch, daß die Zeitanalyse Augustins auf den Gedanken und den Begriff eines möglichen Ganzen der Zeit fuhrt, das bezogen ist auf die die Zeiten ordnende Tätigkeit des in der Zeit erstreckten Geistes. Allerdings enthält diese Analogie die Schwierigkeit, daß Gott, der als Referenzsubjekt des 'totum saeculum' gedacht werden müßte, schwerlich das Ganze der Weltzeit in gleicher Weise vor sich ablaufen läßt wie der menschliche Geist ein erinnertes Lied. Denn vor Gott gilt, daß er ohne "distinctione actionis tuae" (Conf. XI, 31,41) die Welt lenkt in unwandelbarer Ewigkeit. So bleibt unseres Erachtens keine andere Deutung dieser Analogie als die, daß der sich in seiner Zerstreuung unter der Führung Gottes wissende Glaube Gott als 'Eitialter' aller Zeiten deutet
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Diese Bemerkimg Augustine ist mehrfach dahingehend kritisiert worden, daß darin die Zeitlichkeit des Menschen und der Gedanke einer Weltzeit, d.h. eines Ganzen der Geschichte, gerade auf dem Hintergrund der augustinischen Zeitanalyse unrechtmäßig analogisiert werden. Denn die Einheit von expectato, memoria und attentio als die Konkretisierung der 'distentio' der Tätigkeiten des Einzellebens ist im Blick auf die Weltgeschichte im ganzen nicht zu denken, so der Einwand. "Die Seelen sind eben nicht im gleichen Sinne 'partes saeculi filiorumhominum', wie die Aktionen 'partes vitae hominis': sie werden gerade nicht durch Identität des gleichen Seienden, das sein eigenes zeitliches Sein kontinuierlich vollzieht, zusammengehalten. Die Deutung der überindividuellen Zeit durch die individuelle Zeitlichkeit der Seelen läßt sich offenbar nicht aufrecht erhalten."88 Diese Kritik setzt nicht nur die Inkonsistenz des einfachen Überganges von der Zeitlichkeit der Einzelseele zu dem Gedanken einer die Summe der Einzelleben umgreifenden Weltganzheit voraus, sondern expliziert die Unmöglichkeit einer Verbindung zwischen dem als distentio animi gefaßten Zeitbegriff und einer historisch, geschichtlichen Zeit. Die Zeit als das Medium der Geschichte überhaupt kann demnach von der Fassung des Zeitbegriffs als der distentio animi nicht erfaßt werden.89 Bevor diese Thematik, wie angedeutet, ausführlicher berührt werden kann, soll das Referat von Conf. X I kurz zu Ende geführt werden. Denn in einem letzten Abschnitt des elften Buches der Confessiones90 beschließt Augustin seine Überlegungen zum Zeitbegriff damit, daß er auf die anfänglich gesetzte Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit, von der sich eine Analyse der Zeit nach Augustin leiten lassen muß, zurückkommt. Der Gang der Argumentation bis hierher, so setzt Augustin nun implizit voraus, habe die beharrliche, nämlich 'semper praesens' Ewigkeit als den Sinn der Zeit gezeigt. Die Zeit wurde von Augustin als 'distentio animi' bestimmt, mithin als die zeitliche Erstrecktheit des Bewußtseins. Die Erstrecktheit des Bewußtseins wiederum, - so machte das immer wieder von Augustin herangezoge-
und weiß. Der Begriff des 'Ganzen' der Zeit wird sowohl im Blick auf einen überschaubaren Zeitraum als auch im Blick auf die Welt insgesamt geprägt und benötigt - wie das Beispiel des Liedvortrages zeigt - , aber das Ganze ist nicht als Erfüllung des Zeitprozesses gedacht, insofern es dem 'zerstreuten Geist' immer wieder entschwindet Die Zeit läuft weder als Zeitlichkeit der Seele noch als 'Weltzeit' auf ihre zukünftige Erfüllung als abgeschlossene Ganzheit zu. Darin wirkt sich die 'schillernde' Bedeutung des 'distentio'-Begiiffs aus. Wir werden aber noch zu sehen haben, daß Augustin in seiner großen Genesisauslegung ein 'Modell' dafür vorlegt, daß und wie Gott als 'creator et operator omnium temporum' in seiner ruhenden Ewigkeit auf die Zeit bezogen ist (s.u. 349ff.) 88 R. Schäffler, Die Struktur der Geschichtszeit, 1963, 214 89 Vgl. als Exempel Schäffler, aaO. 212ff. und v.Herrmann, aaO. 116ff. 90 Vgl. Conf. XI,29, 34-31,41
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ne Beispiel eines Liedvortrages deutlich - ist als das zeitliche 'Ausgestrecktsein' der Seele im aktuellen Lebensvollzug zu explizieren ("distenditur vita huius actionis meae"91)· Die Zeit wird somit als Zeitlichkeit der Seele gewußt. Daraus aber, so zeigt Augustin nun in dem erwähnten letzten Abschnitt des elften Buches, erwächst deshalb zugleich das Bewußtsein der 'Verfallenheit' in der Zeit, weil die als Zeitlichkeit der Seele gewußte Zeit als begrenzte Zeit erfahren wird; "... ecce distentio est vita mea ...".92 Konkret wird diese Erfahrung der Begrenztheit und Zersplitterung der Zeit sowohl im Blick auf die mögliche Ganzheit der Weltgeschichte, als deren Teil sich das einzelne Leben weiß93, als auch im Blick auf die 'Zersplitterung' der Existenz in der Zeit, die letztlich als Verlust der Beständigkeit und Ruhe des Lebens gedeutet wird ("at ego in tempora dissilui"94). Insofern findet die als Zeitlichkeit der Seele erfahrene und gedachte Zeit nach Augustin ihr 'Gegenüber' in der beharrlichen Ewigkeit. Allein in der Weise der "gespannten Sammlung" (intentio)95 auf die 'semper praesens aeternitas' Gottes hin vermag die in der Zeit zersplitterte Existenz so Halt zu gewinnen, daß sie "aus der Verfallenheit an das zeitlich Viele zum Einen"96 zurückgeholt wird und so Identität in der Zeit gewinnt. Auch die Zerstreuung des Lebens in der Zeit hebt diese Möglichkeit des Hinstrebens der Geschöpfe zur Gemeinschaft mit Gott nicht vollends auf. Das liegt schon im Begriff der Geschöpflichkeit verborgen, insofern die Schöpfung von Gott gut und d.h. zu seiner Freude hervorgebracht wurde.97 In diesem Zusammenhang spricht Augustin gerne davon, daß alle Kreatur, durch das Schöpfungswort hervorgebracht, sehnsüchtig nach ihrem Schöpfer ruft.98 Aber weder der Mensch an sich selbst "noch auch seine Zeit, das im Auseinander der Zeiten zerstreute und unruhige Herz, laufen auf die Sabbatruhe zu".99 Augustin spricht von der Beziehung der Zeit zur Ewigkeit bezeichnenderweise nur so, daß Gott selbst sich dann, wenn die Zeit sich zur Ewigkeit
91 Conf. XI, 28, 38 92 Conf. XI, 29, 39; nach Schmidt hat Augustin an dieser Stelle die Verschmelzung der traditionellen Definition διάστασις mit der christlichen Metapher der Zerstreuung und Zerrissenheit in das Vielerlei erreicht" (aaO. 43, Anm. 74). Auch diese Deutung (nach Schmidt die für Augustin entscheidende) von distentio ist nach Schmidt voraugustinisch belegt (ebd.). 93 Vgl. Conf. XI, 28, 38 94 Conf. XI, 29, 39; vgl. dazu auch De civitate, XIII, 9-11 u.ö. 95 Conf. XI, 29, 39 (Übersetzung nach Bemhart) 96 Duchrow, Zeitbegriff, 283 97 Vgl. Conf. XIII, 28,43 und 34, 49 98 Vgl. z.B. Conf. XI, 4, 6 99 So formuliert Schmidt im Blick auf Conf. XIII, 37, 52; Schmidt, aaO. 44
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erhebt, in ihr anschaut.100 Ja - Augustin kann sogar zu der hochspekulativen Äußerung vordringen, der göttliche Geist gebrauche den menschlichen Geist zur Ordnung der Zeiten; "etiam tunc enim sic requiesces in nobis, quemadmodum nunc operaris in nobis, et ita erit illa requies tua per nos, quemadmodum sunt istas opera tua per nos".101 Die Ordnung der Zeiten - so betont Augustin - zwecks der Verherrlichung der göttlichen Weisheit gilt nur sub specie bzw. sub visione aeternitatis.102 Und allein von daher gilt dann - aber von daher gilt sie unbedingt! - die Aufforderung, die Seele müsse und könne sich in der Zeit auf die Ewigkeit ausrichten, indem sie sich ergreifen läßt vom Geist Gottes. Die in der Zerstreuung des Geistes ansichtig werdende Entfernung von Gott ist 'um Gottes willen' nicht unaufhebbar. "Das IST Gottes... wird zum Maß und Impuls der Transzendenz-Bewegung des Menschen: 'Cogita Deum, invenies est, ubi fuit et erit esse non possit. Ut ergo et tu sis, transcende tempus'."103 Diese Aufhebung der verheerenden Zerstreuung menschlichen Lebens ist gedacht als punktuelle Entzeitlichung des Lebens, das 'Gott hat' bzw. in dem Gottes Geist ankommt.104 Die sinnliche Erfahrung aber ist je neu die Provokation und der Anstoß für die Seele zur Rückkehr zu Gott durch die 'Rückkehr nach innen'Cascensus in corde').105 Diese Identitätsgewinnung in der Zeit hat für Augustin sowohl einen christologischen als auch einen eschatologischen Aspekt. Die beharrliche Ewigkeit wird als das Ziel und die Bestimmung der Zeitlichkeit gewußt vermittels des Christusgeschehens, in dem die Ewigkeit sichtbar in die Zeit trat ('"et me suseepit dextera tua' in domine meo, mediatore filio hominis inter te unum et nos multos"106). Die endgültige Aufhebung der Erfahrung der Zersplitterung der Existenz in der Zeit wird aber erwartet in der Aufhebung der leiblich-seelischen Existenz überhaupt ("at ego in tempora dissilui,..., donee in te confluam purgatus et liquidus igne amoris tui. Et stabo atque solidabor in te"107); d.h. anders herum: die Gespaltenheit des Lebens in der Zeit wird als Bedingung leiblich-seelischer Existenz erfah-
100 Vgl. Conf. XIII, 31,46 und 34, 49 101 AaO. XIII, 37, 52 102 Vgl. aaO. XIII, 29, 44 103 W. Beierwaltes, Regio beatìtudinis, 27 (unter Hinweis auf den Johannes-Kommentar Augusüns) 104 Zur Formel 'Deum qui habet, beatus est', vgl. Beierwaltes, aaO. 27ff. 105 Vgl. Conf. IX, 10, 24 und Conf. XIII, 9.10 (dazu Beierwaltes, aaO. 34) 106 Conf. XI, 29, 39 107 Conf. XI, 29, 39, u. 30,40 sowie das gesamte Kapitel 31,41
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ren, ihre Überwindung damit zugleich an das Ende aller Zeiten als die vollständige Entzeitlichung des Lebens verlegt.108 Für die Deutung der augustinischen Zeitanalyse ergibt die Interpretation des elften Buches der 'Confessiones' folgende Ergebnisse. - 'aeternitas' wird als entscheidendes Gottesattribut herausgestellt. Die Ewigkeit beschreibt - im Unterschied zur sempitemitas als unendlicher Dauer - aber nicht nur das zeitlose Sein, sondern auch die Fähigkeit Gottes, das Ganze der Geschichte in zeitloser Gegenwart vor Augen zu haben.109 So wird das Attribut der Ewigkeit von Augustin ansatzweise so entwickelt, daß es das Sein Gottes relational im Blick auf die Geschöpflichkeit zeigt. In seiner Ewigkeit ist Gott einerseits dem Zeitlichen schlechthin entzogen; die Ewigkeit ist so die Grenze aller Zeit als ihr Gericht und Ende. Andererseits gilt, daß allein der allem Zeitlichen enthobene Gott zur Welt kommen kann und auch wahrhaft gekommen ist. Nur als das andere der Zeit vermag der ewige Gott die Zeit zurechtzubringen. - Die Zeit ist schlechthin gekennzeichnet durch ihren Mangel an Gegenwart. Darin tendiert sie ständig zum Nichtsein. Das Zeitliche ist aus sich selbst nicht zu retten. Diese Erkenntnis manifestiert sich im Vollzug der Reflexion des Zeitphänomens so, daß diese immer wieder bei sich selbst bzw. der Unständigkeit der Zeit ankommt. - Im Vollzug der Selbstreflexion erfährt sich der menschliche Geist dabei in einer grundsätzlichen Zwiespältigkeit. Einerseits weiß er um seine Möglichkeit, gewisse Zeiteinheiten wahrzunehmen und konstruktiv zu gestalten. Der ehemalige Rhetor Augustin verdeutlicht dies immer wieder an dem Beispiel musikalischer Phänomene. Diese Fähigkeit zur Vergleichzeitigung von Ungleichzeitigem deckt die 'ekstatische Erstrecktheit' des menschlichen Geistes in der Zeit als seine wesentliche Bestimmung auf. Andererseits enthüllt sie, daß der Mensch die Einheit und Ganzheit seiner selbst aus sich niemals 'herzustellen' vermag. Daran hindert ihn nicht nur seine Vergeßlichkeit und seine Lust am Augenblick, sondern auch der Tod als der nie einholbare Abbruch seines Lebens.
108 Durch "die Intensität des Gedankens, das wahre oder eigentliche glückliche Leben, seine endgültige Erfüllung liege in der Zukunft, die freilich zur zeit-losen Gegenwart wird", unterscheidet sich auch nach Beierwaltes (aaO. 30) Augustin von allen "philosophischen Konzepten eines glücklichen Lebens" (ebd.). 109 Vgl. Conf. XI, 11, 13 und 31,41
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- So drängt die Reflexion des Zeitphänomens auf den Gedanken zu, durch die rechte Unterscheidung zwischen Zeitlichem und Ewigem das Ewige dem Zeitlichen als seine eigentliche, aber nie einholbare Bestimmung vor Augen zu stellen. In Conf. XI konkretisiert sich dies in dem Gedanken, die Ewigkeit sei die Form der Zeit.110 Das bedeutet: Gegenwart, Ständigkeit und Ruhe erlangt die Zeit nicht durch sich selbst, sondern durch die Ankunft der Ewigkeit - so wie der Leib durch die Seele geformt und bestimmt wird. Die Formung der Zeit durch die Ewigkeit wird dabei konkret von Augustin als Entzeitlichung des Lebens gedacht. An dieser Stelle zeigt sich u.E. am deutlichsten die Abhängigkeit Augustine von der griechischen Philosophie. Entsprechend zu seiner Analyse des Zeitphänomens, die durch die Einsicht bestimmt ist, daß der Zeit außerhalb der Seele kein Sein zukommt, weil sie außerhalb von ihr kein ständiges Sein hat, wird das dem auf die Aufhebung seiner Zersplitterung hoffenden Bewußtsein entgegenkommende 'Heil' von Augustin als 'ewig stehende Gegenwart' gedacht. Denn Augustin stellt die Ewigkeit Gottes nicht als die den Menschen zurechtbringende Zukunft vor, sondern als diejenige, die vor allen Zeiten schon immer war. "... et a veteribus diebus colligar sequens unum, 'praeterita oblitus', non in ea quae futura et transitura sunt, sed 'in ea que ante sunt'"111 - so formuliert Augustin in Anspielung auf Phil. 3,12ff. Geleitet wird er dabei von der Übersetzung des griechischen 'έμπροσθεν' durch das lateinische 'ante' in der Itala. "Was bei Paulus ein Sich-strecken nach vome ist, wird bei Augustin... zu einem Sich-strecken nach dem a priori der ewig stehenden Wahrheit Gottes."112 "Damit wird das Philipperbriefzitat Aufhebung der Zeit, nicht Inhalt oder Ergänzung ihrer Zukunft."113 Darin ist die Zeitanalyse von Conf XI in der Tat so angelegt, daß sie eine qualitative Unterscheidung und heilsgeschichtliche Deutung von Vergangenheit und Zukunft, die die Seele in ihrem Zwiegespräch mit Gott doch gleichwohl intendiert, insofern schwierig macht, als Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen dem Nichtseienden zufallen, weil sie eben dadurch bestimmt sind, daß sie nicht mehr bzw. noch nicht sind und gleichermaßen aus der Ewigkeit herausfallen. Der von Augustin zuvor mehrfach rezipierte Gedanke, daß der Lauf der Zeiten in seiner zahlenmäßigen Geordnetheit als 'vestigium aeternitatis' gelten kann, wird nicht mehr positiv aufgenommen - wo nun alle Betonung auf der Differenz von Zeit und Ewigkeit liegt. 110 111 112 113
AaO. XI, 30, 40 AaO. XI, 29, 39 Duchrow, Zeitbegriff, 284 Schmidt, aaO. 45f.
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5. Die These von der Ewigkeit als die Wahrheit der Zeit auf dem Hintergrund der platonischen Philosophie Augustin, so sahen wir, bestimmt das Wesen der Zeit aus ihrer Relation zur Ewigkeit. Diesem 'Programm' bleibt er vom Beginn seines schriftstellerischen Wirkens bis zu dessen Ende treu. Allerdings wird dieses Programm in den verschiedenen Phasen seines Denkens ganz unterschiedlich ausgeführt. Die frühen Schriften denken die 'Ewigkeit' als eine der menschlichen Seele eingepflanzte Idee, die darin dem Denken unveräußerlich bleibt. So ist am Beispiel der Musik zu zeigen, daß sie ohne Rückgriff auf ewige Hamoniegesetze gar nicht verstanden werden kann. Im Akt der Transzendierung zeitlicher Phänomene wird die Ewigkeit als Bestimmungsgrund alles Zeitlichen gewußt. Hier zeigt Augustin gleichsam in einer empirisch angelegten Analyse, daß die Ewigkeit das Geheimnis der Zeit ist. In den beiden frühen Genesisauslegungen legt Augustin eine demgegenüber leicht veränderte Theorie hinsichüich der Interpretation der Relation von Zeit und Ewigkeit vor. Diese Theorie deutet die Beziehung von Zeit und Ewigkeit im Sinne des Verhältnisses von Abbild und Urbild, Erscheinung und Wesen. Trotz noch so großer Unähnlichkeit vermag der zahlenmäßig geordnete Lauf der Zeiten die unbewegte Ewigkeit abzubilden. Das ist die Einsicht, die Augustin in den beiden Genesisauslegungen von 389 und 393 unmißverständlich ausspricht. Das tertium comparadonis zwischen Zeit und Ewigkeit ist die zahlenmäßige Ordnung und Ganzheit des Zeitlichen. Die 'Herkunft' dieses Gedankens ist nur zu deutlich und hinreichend bekannt. Aber dennoch lohnt sich ein kurzer Blick auf den platonischen 'Timaios', insofern er deutlich machen kann, worin die eigentliche Pointe dieses Gedankens liegt. Erst dann vermag auch vollends sichtbar zu werden, wie Augustin diesen Gedanken moduliert hat und warum er ihn seit den 'Confessiones' nicht mehr rezipiert. Die hier heranzuziehende Passage aus dem platonischen 'Timaios' führt den Zeitbegriff im Zusammenhang des sogenannten Schöpfungsmythos' ein. Es heißt dort: "Als der erzeugende Vater das (Weltall) bewegt und lebendig erschaute, hervorgetreten als Heiligtum der ewigen Götter, war er entzückt und dachte daran, es dem Vorbild noch ähnlicher zu machen. So wie nun dieses selbst ein ewiges Lebewesen ist, versuchte er, jenes All nach Möglichkeit als ein derartiges zu vollenden. Nun ist das Wesen des Lebendigen aber äonisch, und dies dem Hervorgetretenen ganz zu gewähren, war allerdings nicht möglich: Er gedachte aber, ein bewegliches Bild des Äon zu machen, und indem er zugleich den Himmel ordnete, machte er ein nach Zahlen gehendes, äonisches Bild des in einem bleibenden Äon, jenes (nämlich), das wir Zeit genannt haben.'" Zwecks der Annäherung des Kosmos an sein Urbild, nach dem er geschaffen ist wenig später bezeichnet Piaton das Urbild (παράδειγμα) des Kosmos als των νοουμένων καλλίστφ κα\ κατά πάντα τελεφ μάλιστα 2 - , schuf der Demiurg also ein nach einer Ordnung bewegtes Abbild der Ewigkeit, das Zeit genannt wird. Folgende Punkte dieser 'mythischen Rede' des Timaios gilt es im Blick auf die späteren Ausführungen Augustins herauszustellen. 1 Piaton, Timaios, 37c6-37d7, Übersetzung nach G. Böhm, Zeit und Zahl, 1974, 68 2 Vgl. Timaios, 30d2 und 39dl-39d2
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- Die Zeit wird von Platon in ihrem Wesen aus der Unterscheidung zur Ewigkeit gedacht. Und doch soll die Zeit in ihrer Unterschiedenheit von der Idee - diese Unterschiedenheit wird bei Piaton nach Analogie der Differenz von Sein und Werden gedacht - das Wirken des Ursprungs erkennen lassen. - Zeit ist somit für Piaton nicht der absolute Gegensatz zur Ewigkeit; dieses 'Modell' der Relation von Zeit und Ewigkeit ist mit der Betonung der Bildhaftigkeit der Zeit für Piaton nicht maßgeblich. - Die Ähnlichkeit von Zeit und Ewigkeit besteht nach Piaton "in einer analogen Totalität"3; diese vollzieht sich im Blick auf die Zeit in einer kreishaften, jedoch im Nacheinander sich vollendenden Bewegung des 'werdenden' Kosmos. Die Ähnlichkeit mit der ewig-kreishaften, in absoluter Einheit verharrenden 'Bewegung' der Idee (des Kosmos) eignet der Zeit wegen ihres zahlhaft geordneten Verlaufs. "Warum aber ist überhaupt Zeit? Mythologisch gesprochen: auf Grund der Freude Gottes. Kosmologisch: damit die Welt ihrem Ursprung möglichst ähnlich werde." 4 - Der anthropologische Sinn der Zeit liegt darin, daß durch die als Zahl bestimmte Zeit "die Umschwünge des Himmels zum vorbildhaften Maß der Umschwünge der menschlichen Seele werden". 5 Zeit ist so das Medium der Nachahmung des Ewigen durch das Gewordene. Damit setzen wir uns ab von der sehr interessanten Deutung des Timaios durch G. Böhme. Der vielschichtige Sinn der 'mythischen Rede' des Timaios kann sich nach Böhme durch die Klärung und Bedeutung des Urbild-Abbild-Modelles und durch die Diskussion des οαών-Begriffs ergründen lassen. Beide Aufgaben hat G. Böhme in seinem Buch 'Zeit und Zahl' durchgeführt. Böhme übersetzt έικών mit 'Bild'. Bild bedeutet ihm dabei soviel wie 'Gleichnis'. 6 Denn "die dem Bild wesentliche Beschaffenheit ist Ähnlichkeit". 7 Im Bild kommt das Abgebildete zur Erscheinung. Oder anders: das Bild ist das In-Erscheinung-Treten des Abgebildeten. Darin sieht Böhme die Pointe des platonischen Bild-Begriffs, daß das als Bild gedachte sinnlich Erfaßbare in seiner Bestimmtheit als Bild eines Abgebildeten aufgeht. "Man kann nicht am sinnlichen Ding unterscheiden, was es von sich aus ist und was es darstellt. Alles, was es ist, ist es durch Darstellung." 8 Daraus folgt, daß ein sinnlich wahrgenommenes 'Ding' nicht aufgrund bestimmter Prädikate, die ihm zukommen, als Erscheinung einer bestimmten Idee zu bestimmen ist. "Die Darstellung der Ideen ist eine Darstellung ohne spezifische Darstellungsprinzipien".' Damit ist das die Piatonforschung überaus beschäftigende Problem der möglichen Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung, das als ein Reflex der bei Piaton scheinbar auftretenden unaufhebbaren Differenz von Idee und Erscheinung zu beurteilen sein müßte, durch eine Präzisierung des Bild-Begriffs im genannten Sinne einer Lösung zuführbar.
3 4 5 6 7 8 9
W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, 19813, 253 W. Beierw altes (Hg.), Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, 19813,253 AaO. 254 G. Böhme, Zeit und Zahl, 1974, 30f. Böhme, aaO. 39 AaO. 48 AaO. 49
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Ließen sich Idee und Erscheinung nur so einander zuordnen, daß jeweils Bestimmungen ausgemacht werden müßten, die einer erscheinenden 'Sache' an sich zukommen und von denen aus dann erst Kriterien zu entwickeln wären, die die erscheinende Sache als Erscheinung einer Idee ausdrücklich machen könnten, so wäre das Vermittlungsproblem zwischen Idee und Erscheinung in der Tat gegeben und letztlich unlösbar. Denn trüge der sinnliche Gegenstand als Bild einer Idee noch bestimmte Bildcharaktere an sich, nach denen er als Bild der Idee kenntlich gemacht werden könnte, so müßte das Bild wiederum als Darstellung auch dieser Charaktere begriffen werden usw. Insofern aber, wie Böhme darlegt, der sinnliche Kosmos ganz in seiner Darstellung des noetischen Kosmos aufgeht, ist es unmöglich, "den sinnlichen Kosmos durch irgendeine Bestimmung - etwa die der Veränderlichkeit - von dem noetischen Bereich zu unterscheiden. Jede solche Bestimmung wäre nach Piaton selbst als eine Darstellung des noetischen Paradigmas zu verstehen." 10 Wenn demnach 'Zeit' als Bild des 'Aion' bestimmt wird, so ist damit behauptet, daß durch die Zeit und nur durch sie der 'Aion' zur Darstellung kommt. Oder anders gesagt: die Zeit kann in dem, was ist, nur vom Wesen des 'Aion' her bestimmt werden, "χρόνος ist der Name für die Darstellung des οαών". 11 Damit ist die Frage nach dem Wesen des 'Aion' vordringlich, wenn das Wesen der Zeit bestimmt werden soll. Böhme wendet sich gegen ein Verständnis des 'Aion', dessen bewegtes Abbild die Zeit darstellt, als Ewigkeit im Sinne von Unveränderlichkeit und Zeitlosigkeit. Dieses Mißverständnis des platonischen 'Aion'-Begriffs, so Böhme, hatte weltgeschichtliche Bedeutung, insofern im Gegenzug dazu das sinnlich Erfahrbare schlechthin durch Zeitlichkeit und Veränderlichkeit bestimmt wurde.12 Damit traten Erscheinung - hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit - und Idee - wegen ihrer Unveränderlichkeit - in einen unüberbrückbaren Gegensatz, dessen Aufhebung zum unlösbaren Problem werden mußte. Demgegenüber deutet Böhme den platonischen 'Aion'-Begriff im Sinne 'eminenter Zeitlichkeit'. 13 "Aion ist ein Ausdruck, der die Zeitlichkeit dieser Sphäre artikuliert, keineswegs geeignet, das Außerzeitliche zu charakterisieren." 14 Als Argumente für seine Deutung zieht Böhme einerseits die Bedeutung des UrbildAbbild-Motivs bei Piaton heran - wonach das sinnlich Erscheinende in seiner Relation zu dem, was in ihm zur Erscheinung gebracht wird, aufgeht; andererseits die auch in dem zugrunde gelegten Text des Timaios auftretende Deutung des 'Aion'-Begriffs durch den Lebensbegriff. 15 Danach tritt 'Aion' in der Bedeutung von Lebenskraft, Lebensdauer auf; letztere Bestimmung meint das Leben als Ganzheit.16 Es ist also - und damit knüpft Piaton, worauf mehrfach hingewiesen worden ist, an ältere Interpretationen des 'Aion'-Begriffs an17 - die Idee des Lebens, "von der her 10 AaO. 60 11 AaO. 69 12 Vgl. aaO. 70 13 Vgl. aaO. 74 14 Ebd. 15 Vgl. Piatons Timaios, 37dl u. 3 16 Vgl. Böhme, aaO. 74 sowie H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: ders., Wege und Formen griechischen Denkens, 1955, Iff., hier 18 17 Vgl. Böhme, aaO. 74
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Ewigkeit und Zeit bei Piaton ihren Inhalt erhalten". 18 Wenn somit davon die Rede ist, daß die Zeit als Abbild des ' Aion ' zur Geltung zu bringen ist, so soll nach Piaton - wenn denn Aion soviel wie Lebensganzheit bedeutet - die Zeit das Ganze des sichtbaren Kosmos umfassen. Das Wesen der Zeit kann allerdings nicht in einem absoluten Sinn 'äonisch' sein; d.h. die Ganzheit der Zeit kann nur in einem abgeleiteten Sinn verstanden werden. "Die Zeit ist eine Darstellung des Aion, indem sie durch periodische Wiederholung ihrer Phasen jene Ganzheit nachzuahmen trachtet, die nur dem Lebenszusammenhang eines einzelnen Lebewesens zukommt." 19 Das heißt präzise: vermittels ihrer zahlenmäßigen Geordnetheit (κατ' άριύμόν) 2 0 und darstellbaren Ganzheit (Kreisform ihrer Bewegung) bildet die Zeit den Aion ab. Soll aber die Zahlbestimmung der Zeit nicht wiederum als eine solche Bestimmtheit der Zeit gedacht werden, die der Zeit an sich zukommt - das würde der oben dargestellten 'Bildtheorie' widersprechen - , so muß sie als Bestimmtheit des Aion selbst ausgemacht werden können, die die Zeit ihrerseits direkt abbildet.21 Demnach ist denn auch nach Böhme der Aion als das nach Zahlen geordnete Lebensganze - sowohl des Einzellebens als auch des kosmischen Lebens (der Weltseele) - aufzufassen.22Abgebildet wird der so gedachte Aion nach Piaton in der Bewegung der mit der Zeit zugleich hervorgebrachten Himmelskörper. Wenn also die Zeit als geordnete aionische Bewegung bezeichnet wird,23 so ist sie, insofern sie als Abbild des Aion im Sinne einer umfassenden Ganzheit zu denken ist, als das Umfassende der aus der Bewegung der Himmelskörper erschlossenen Zeiten vorzustellen. Zusammenfassend kann die platonische Lehre von der Zeit als dem Abbild der Ewigkeit nach Böhme folgendermaßen beschrieben werden. Das Wesen der Zeit im Sinne ihrer Bestimmung ist der 'Aion'. Die Zeit bringt den 'Aion' zur Darstellung. Der 'Aion' ist als das in Phasen geordnete Lebensganze - der Welt wie des Einzellebens zu denken. Die Zeit bringt den Aion so zur Darstellung, daß sie durch periodische Wiederholung ihrer Phasen jene Ganzheit nachzuahmen trachtet. So verweist sie in ihrer zahlenmäßigen Geordnetheit unmittelbar auf ihren 'Ursprung' - die Ewigkeit. Es besteht also nach Böhme nicht nur eine Analogie von Zeit und Ewigkeit hinsichtlich ihrer Totalität; die Zeit ist wie das ewig-kreishafte im Einen verharrende Urbild (Ewigkeit) ebenfalls in sich kreisende Totalität und bildet darin das Urbild unmittelbar ab. Darin dürfte der kritische Punkt der Interpretation Böhmes liegen. Gewiß gilt, daß die "Bildhaftigkeit der Zeit im Sinne Piatons nicht so sehr das Negative an der Zeit..., sondern ihre Ähnlichkeit zu ihrem Prinzip hervor(hebt), das als Begründendes in sich selbst bleibt."24 Aber doch führt Piaton die Zahl als 'tertium comparationis' für die 18 AaO.79 19 AaO. 83 20 Vgl. Timaios 37d6 21 Vgl. Böhme, aaO. 124 22 Vgl. aaO. 125ff. und auch J.F. Callahan, Four Views of Time in Ancient Philosophy, 1948, 20f. 23 Vgl. Timaios 37d6f. 24 W. Beierwaltes, Denken des Einen, 1985,96; es ist deutlich, daß hier keine umfassende Auseinandersetzung mit Böhme geführt wird. Böhmes Arbeit ist von der Idee beseelt, das geläufige Verständnis Piatons als ungeschichtlichen Denker und Propheten 'unvermittelbarer Gegensätze' (Sein - Werden/Idee - Erscheinung) zu widerlegen. Trotz der Gesellschaft von
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Kennzeichnung der Relation von Zeit und Ewigkeit an. Die Unterschiedenheit zwischen dem ständigen Ist der Ewigkeit und dem ruhelosen Übergang vom 'war' zum 'wird sein', durch den das Zeitliche gekennzeichnet ist25, gilt trotz der Teilhabe der Zeit an der Ewigkeit für Piaton nicht einfach als aufgehoben. Die Ausführungen Augustins in seinen 'Confessiones' zielten, wie wir sahen, in immer neuen Anläufen auf die Hervorhebung des unendlichen, qualitativen Unterschiedes zwischen Zeit und Ewigkeit. Das Zeitliche verweist nicht unmittelbar auf das Ewige. Die Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung spiegelt aber wohl die Situation des endlichen Daseins wider - in der doppelten Möglichkeit, zu seinem Ursprung zurückzukehren oder aber bei dem Genuß irdischer und vergänglicher 'Güter' zu verharren. Von da aus ist es erklärlich, warum die Rede davon, daß die Ordnung der Zeiten das Wesen der Ewigkeit abbildend zur Darstellung bringen, für Augustin seit den 'Confessiones' an Aussagekraft verloren hat. Ja, es ist ihm unmöglich geworden, menschliche Zeiterfahrung in den Zusammenhang des Urbild-Abbild-Modelles vollständig einzutragen. Und doch sind die Ausführungen in Conf. XI von der Gewißheit geprägt, daß die Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes allein dem zeitlichen Dasein Gegenwart und Ruhe zu geben vermögen und daß - so gesehen - die Ewigkeit die Form der zeitlichen Seele ist.26 Das heißt doch: die Ewigkeit Gottes ist in ihrer unendlich qualitativen Unterschiedenheit von der Zeitlichkeit der Seele deren Bestimmung und formgebende Kraft. Die menschliche Seele - so behauptet Augustin - hat ihre das gesamte Leben des Menschen betreffende Gestaltungskraft durch ihr Bestimmtsein durch die Ewigkeit Gottes. Erst die rechte Unterscheidung zwischen Zeitlichem und Ewigem bringt das menschliche Denken und Handeln auf den Weg seiner wahren Bestimmung. An dieser Stelle kann von einer qualitativen, durch die verstärkte Auseinandersetzung mit der biblischen Überlieferung hervorgerufene Veränderung der augustinischen Zeitlehre gesprochen werden. 'Die Ewigkeit als Wahrheit der Zeit' - dieser Gedanke erfährt nun eine veränderte inhaltliche Füllung. Denn es wird nun reserviert für die Beschreibung des Verhältnisses der Einzelseele zu Gott. Die Herausarbeitung der Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung macht es nunmehr unmöglich, den Lauf der Zeiten überhaupt als unmittelbaren Hinweis auf die Ewigkeit zu deuten. So entspricht der Erhebung des Ewigkeit-Begriffs zum wesentlichen Gottesattribut die Bestimmung der Zeit als Ausdehnung bzw. Erstrecktheit der Einzelseele. Der Zahlbegriff spielt im Zusammenhang der Bestimmung der Zeit und damit der Relation von Zeit und Ewigkeit für Augustin keine Rolle mehr. In der Herausstellung der Negativität der Zeit im Blick auf ihren Ursprung zeigt sich Augustin anders als sonst eher als Sachwalter Plotins denn als der Piatons. Ein kurzer Blick auf die plotinischen Reflexionen zur Zeit und Ewigkeit mag dies verdeutlichen.27 Picht und C.F.v. Weizsäcker hat die von Böhme vorgefühlte Piatondeutung nach wie vor nur eine Außenseiterstellung. Das zeigt nicht zuletzt die (fehlende) Rezeptionsgeschichte des Böhme-Buches. 25 Vgl. Timaios, 37el-38a2 26 Vgl. Augustin, Conf. XI 30, 40 27 Zu der Frage der wahrscheinlichen Anlehnung Augustins an Plotin, nicht zuletzt auch
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Piotiti gelangt - ähnlich wie Platon - zu einer Bestimmung des Wesens der Zeit auf dem Grund der Dialektik von Zeit und Ewigkeit. Insofern sich das Wesen der Zeit nach Plotin nur im Rückgang darauf, daß sie das Bild der Ewigkeit ist, darstellen läßt - zeigt sich Plotin auch hier zunächst ganz allgemein als Interpret der platonischen Philosophie. Entsprechend zu dieser Voraussetzung beginnt Plotin die Enneade 111,7 mit einer Reflexion über den Begriff der Ewigkeit.28 Die Bestimmung der Ewigkeit erfolgt wiederum auf dem Hintergrund der plotinischen Trias von Einem (§v), Geist (νους) und Seele (ψυχή). Der Geist wird bestimmt als die Selbstreflexion des Einen, das in dieser Reflexion - als grundloser Grund alles Seienden, der für den Akt des Gründens keiner Begründung bedarf - aus sich heraustretend zu sich kommt. "Der Hervorgang des Einen aus sich selbst zeugt den Geist oder ist Geist als das 'mannigfaltige' Eine." 29 Als Geist reflektiert sich das Eine selbst und bringt erst so den Geist als 'Bild' seiner selbst hervor. Das Strukturprinzip des Nus ist Ewigkeit. "Geist ist durch sie und in ihr ewig, Ewigkeit aber ist nur durch und in Geist, in dem und durch den allein sie zu erscheinen und zu wirken vermag." 30 Der Zusammenhang zwischen Geist und Ewigkeit wird bei Plotin erläutert durch den Lebensbegriff. Als sich ganz und gar immer gegenwärtiges Leben, für das es keine zeitlichen Wechsel gibt, ist das Leben des Geistes ewig.31 "Ewigkeit also ist das in sich im Selben verharrende, das Ganze oder Alles zugleich (weil ohne Vergangenheit und Zukunft) seiende, unwandelbare Leben des Geistes".32 Als Leben des Geistes wird die Ewigkeit als 'unausgedehnt' (αδιάστατον) und 'unendlich' (άπειρον) gedacht33 - als unendlich dabei in dem Sinne, daß ihr nichts fehlt und daß sie nichts von sich aufzehrt - und so von der Zeit unterschieden. Nach einer Diskussion überlieferter Zeitbestimmungen, die Plotin mit unterschiedlichen Argumenten abweist, wendet er sich der Bestimmung der Zeit zu.34 Die überlieferten Zeitbestimmungen teilt Plotin dabei in drei Gruppen ein. Zunächst weist er die Identifikation von Zeit und Bewegung mit dem Hinweis darauf, daß sie das Bewegungsphänomen mit dem Medium der Bewegung verwechselt, ab.35 Anschließend weist Plotin die stoische Zeitbestimmung als ' δ ι ά σ τ η μ α κινήσεως' mit dem Argument zurück, daß diese Bestimmung den Sachverhalt der Diskontinuität der meisten Bewegungen übersieht - mithin das Phänomen der Schnelligkeit bzw. Beschleunigung überspringt. Denn die erwähnte Zeitbestimmung legt nahe, daß dieselhinsichtlich des Begriffs 'distendo animi' vgl. Beierwaltes, Plotin, aaO. 252ff. und Callahan, Four Views, aaO. 176ff.; dagegen Callahan, Basil of Caesarea, aaO.; dagegen wiederum Duchrow, Zeitbegriff, aaO. 272 und auch E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 23f. 28 Plotin, Enneade III7,1-6; zitiert nach Beierwaltes, Plotin, aaO. (Plotin wird im folgenden ohne Voranstellung des Verfassemamens als Enn. zitiert) 29 Beierwaltes, Plotin 15 30 AaO. 37 31 Vgl. Enn. III7, 3, 16-23 sowie III7,5,26ff. 32 Beierwaltes, aaO. 41 33 Vgl. zum ersten Prädikat Enn. III7,2, 32; zum zweiten Enn. III7,5, 23ff. 34 Der Abschnitt über die überlieferten Zeittheorien umfaßt Enn. 1117,9-10; die Darstellung der eigenen Theorie findet sich in Enn. III7,11-13 35 Vgl. Enn. III7, 7, 17ff.
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be Abmessung einer verschiedenartig beschleunigten Bewegung dieselbe Spanne an Zeit umfaßt - was aber unsinnig ist. Also ist auch durch diese Bestimmung die Zeit nicht erfaßt. 36 Zuletzt setzt Plotin sich mit der Zahlbestimmung der Zeit bei Aristoteles auseinander. Gegen sie bringt er im wesentlichen drei Argumente vor. Erstens weist Plotin gegen Aristoteles darauf hin, daß beispielsweise die Messung einer unregelmäßigen Bewegung durch die als Zahl gedachte Zeit ohne die Festsetzung eines Urmaßes kaum zu denken ist. Damit aber ist das Wesen der Zeit noch unbegriffen, weil sie so nur als bestimmte Quantität vorgestellt ist. Zeit wird so nur restringiert auf eine Größe und nicht in ihrem eigenen Wesen begriffen. Zweitens ist, so Plotin, durch das Hinzutreten der Zahl die Zeit - als δ ρ ι ό μ ο ς κινήσεως - nur als Relatives im Blick auf die Bewegung gedacht, nicht aber als von sich selbst her vorliegend - also bloß attributiv, nicht substantiell bestimmt." Zwischen der Bewegung und ihrem Medium - oder Zeit - kann aber sehr wohl unterschieden werden. Drittens ist die Zeit als Zahl nicht mehr wahrhaft als unendlich begriffen, was Aristoteles doch andererseits durch seine Analyse des 'Jetzt' im Zusammenhang seiner Untersuchung über die Zeit nachzuweisen versucht; denn der Begriff der Unendlichkeit widerspricht dem der Zahl.38 Erst der Abschnitt Enn. III7,11-13 nun wendet sich der genauen Bestimmung des Wesens der Zeit zu. Entsprechend zu der Bestimmung der Ewigkeit als dem Leben des Geistes baut die Zeitanalyse auf der Untersuchung der Struktur der Seele auf.39 Die Seele wird von Plotin als die Vermittlungsinstanz zwischen dem Geistigen und dem Sinnfälligen gedacht; d.h. die Seele ist einerseits als das Aus-sich-Heraustreten des Geistes zu denken - so wie der Geist die Entäußerung des Einen ist - , andererseits als lebendige Vielfalt bezogen auf das Mannigfaltige. Als Hypostase des Nus bleibt die Seele bezogen auf das im Einen verharrende Geistige - "Ziel der menschlichen Existenz ist, selbst Geist zu werden" - 4 0 , in der Mannigfaltigkeit ihrer Lebensvollzüge aber bleibt sie ständig bezogen auf das Mannigfaltige des sinnlich Erscheinenden, das sie im Prozeß ihrer Geistwerdung zu einer konstruktiven Ganzheit zusammenfassen muß. Darin also ist die Seele nur Bild des Geistes, daß sie ihre Einheit nicht in einem zeitlosen Sinn, sondern immer nur sich vorweg hat; darin aber ist sie Bild des Geistes, daß sie die Einheit des Mannigfaltigen konstruktiv erzeugen kann und so auf das Eine bezogen ist. Als Hypostase des Geistes war die Seele nicht immer vorhanden, sondern entstand aus einer im 'Geistigen verharrenden Natur' 41 , die über sich selbst herrschen wollte und so nicht an der Einheit und Teilhabe des Geistes mit und an dem Einen Genüge fand. "Das Streben dieser 'Natur' aber, den Geist durch das Immer-mehr in den scheinbaren Besitz seiner selbst zu fuhren, verursacht Seele und damit Zeit." 42
36 37 38 39 40 41 42
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Vgl. aaO. III7, 8, 22ff. Vgl. aaO. III7, 9, 74ff. Vgl. ebd. Vgl. dazu Beierwaltes, Plotin 50ff. AaO. 60 Vgl. Enn. 1117,11, 15 Beierwaltes, aaO. 63
Die Zeit ist also die sich als Seele hypostasierende Unruhe des Geistes, dem die zeitlose Einheit mit dem Einen als Ungeniigen erschien. In diesem Sinn spricht Plotin von einem Fall der Seele und damit auch der Zeit aus dem Ewigen. 43 Die Rede vom Fall der Zeit ist nichts anderes als ein Bild für die letztlich unerklärbare Existenz der Zeit. Warum das Eine nicht bei sich bleibt, warum es außer dem Einen überhaupt Seiendes gibt - das entzieht sich nach Plotin letztlich der Reflexion. So kann die These von dem Fall der Zeit den Prozeß der Hervorbringung alles Seienden aus dem Einen wohl 'beschreiben', kaum aber erklären. Die These vom Fall der Zeit manifestiert, daß bei Plotin die Unähnlichkeit zwischen Zeit und Ewigkeit gegenüber Piaton ein stärkeres Gewicht bekommt. Als 'Motive' für den letztlich unerklärbaren Fall der Seele aus der Ruhe des Geistes nennt Plotin eine unerklärliche Vielgeschäftigkeit und Zerstreutheit (πολυπραγμοσ ύ ν η ) eines Teils des Nus, der danach strebte, Herr seiner selbst zu sein.44 Jene Vielgeschäftigkeit findet sich dann wieder bei Augustin in der negativen Wendung, die er dem distentio-Begriff gibt. Mit der Bewegtheit der Seele also entstand Zeit; bzw. Zeit ist die Bewegtheit der Seele, der nun die Einheit mit dem Geist und damit auch dem Einen als 'Zu-Denkendes ' zukünftig ist.45 Die Seele streckt sich nach dieser Einheit mit dem Geist, die ihr durch dessen Unruhe verloren gegangen ist. In diesem Sinne spricht Plotin von der Zeit als δ ι ά σ τ α σ ι ς ζ ω η ς der Seele.46 Diese Abständigkeit der Seele zeigt sich in dem Nacheinander ihrer Lebensmomente und Lebensvollzüge, deren konstruktive Verbindung zu der Einheit des Lebens nunmehr die das Leben verzehrende Aufgabe ist. Die Seele will wieder Geist werden; insofern drängt es sie zu ihrer Entzeitlichung47 Darin ist die Zeit der Seele auch für Plotin Bild der unbewegten Ewigkeit, daß sie die absolute und zeitlose Totalität der Ewigkeit im zeiüichen Nacheinander als die synthetische Ganzheit des Mannigfaltigen nachzuahmen vermag. "Beide, Ewigkeit und Zeit, sind Leben; die erstere als unwandelbare Einheit von Ständigkeit und Bewegung des Geistes, letztere als teilhafte Bewegung und Veränderlichkeit der Seele."48 Die Ausführungen Plotins können für Augustin in folgenden Hinsichten von Interesse sein, um auf deren Hintergrund seine eigene Zeitlehre zu profilieren. -
Plotin bestimmt das Wesen der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit. Darin begreift Plotin die Zeit nicht nur als 'innerweltliches' Phänomen. Plotin behandelt die Frage nach der Realität der Zeit unter dem Gesichtspunkt einer metaphysischen Vorgeschichte der Zeit. Plotin denkt die Zeit als kontingent und so als Medium der Erhebung (Rückkehr) des Endlichen zum ewigen Einen. Plotin denkt das ewige Leben des Geistes als seine Bewegtheit ohne Zeit. Plotin deutet die zeitliche Erstrecktheit der Seele als Ausdruck ihrer Unähnlichkeit mit der ruhigen und in sich selbst verharrenden Ewigkeit.
43 44 45 46 47 48
Vgl. Enn. 1117,11 AaO. 111,7, 11, 15f. Vgl. den gesamten Abschnitt Enn. III7, 11 aaO. III7,11,41 Vgl. Beierwaltes, aaO. 75ff. AaO. 67
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Die Veränderungen, die die Analyse des Zeitphänomens bei Plotin gegenüber Platon erfährt, sind kurz zu nennen: Plotin betont mit der These vom Fall der Zeit die Unähnlichkeit von Zeit und Ewigkeit. Die Zeit verweist nicht mehr unmittelbar auf ihren Ursprung; das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Plotin die Zahlbestimmung der Zeit - für Piaton und Aristoteles noch Kennzeichen der Analogie zwischen Zeit und Ewigkeit - 'verabschiedet'. Die Zeit ist vielmehr die Verfassung, an der der Seele ihre Getrenntheit vom Nus schmerzlich offenbar wird. Die ruhige Harmonie eignet nur dem ewigen Nus, nicht der zeidichen Seele. Trotz ihres Auseinander und Nacheinander ist die Zeit aber als Ganzheit des Lebens der Seele in Analogie zum ewigen Sein zu denken. Darin ist die Zeit für Plotin in aller Unähnlichkeit Abbild der Ewigkeit, daß sie in ihrer Zukunft wieder wie die Ewigkeit werden will. So ist das eigentliche Wesen der Zeit nach Plotin die Zukunft.*9 "Plotins Zeit ist die dialektische Einheit von schlechter Abkünftigkeit aus und guter Hinkünftigkeit auf Ewigkeit hin."50 Diese Überlegungen machen Plotins Ausführungen nicht nur interessant für Augustin, sondern zeigen sowohl die Nähe von Conf. XI zu dem neuplatonischen Philosophen als auch die entscheidende Differenz. In der Literatur ist diese Nähe Augustins zu Plotin besonders von J. Guitton in seinem Buch 'Le Temps et L'Éternité chez Plotin et Saint Augustine' herausgearbeitet worden. Guitton deutet Augustins Deutung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit als religiös-mystische Variante des 'intellektuellen Aufstiegs' der Seele zum Nus bei Plotin.51 Aber Augustins Ausführungen weichen gerade in diesem Punkt in entscheidender Hinsicht von denen Plotins ab, obwohl Augustin Plotin in der fundamentalen Einsicht verpflichtet bleibt, daß er die Zeit als Lebendigkeit der Seele - und so als ihre Grundverfassung - deutet und ihrer grundsätzlichen Negativität gewärtig ist. Das Überschreiten auch der plotinischen Ausführungen liegt begründet in der augustinischen Einsicht, daß die Relation zwischen Zeit und Ewigkeit nur als personale zwischen der menschlichen Seele und dem ewigen Gott - entfaltet weiden kann. Nur auf dem Hintergrund dieser Einsicht ergibt sich nach Augustin eine angemessene Erklärung und Deutung der alltäglichen Zeiterfahrung, wie er sie in Conf. XI entwikkelt. Die elementare Erfahrung menschlichen Lebens nämlich, daß ihm die Zeit zu entschwinden droht, daß sie ständig "tendit non esse" 52 , findet erst in dem Gegenüber zur ständigen Ewigkeit Gottes eine plausible Erklärung. Diese Erfahrung, die die zugemessene Zeit des Lebens als Bedrohung empfindet, ist nämlich Ausdruck der Gottesferne des Menschen, die von Augustin als Schuld gedeutet wird.53 Diese Erfahrung der Bedrohung des Lebens durch seinen Lauf zu einem Ende kennzeichnet dasjenige Dasein, das sich selbst von der Ewigkeit Gottes so entfernt hat, daß es diese für sich selbst beansprucht. Der unerklärbare Fall der Zeit durch die Selbstbewegung des Geistes bei Plotin wird bei Augustin in die sündhafte Entfernung des Geschöpfes von seinem Schöpfer umgedeutet. So wird die Zeit in der Tat Kennzei-
49 Vgl. E. A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 49, und W. Beierwaltes, Denken des Einen, 163 50 AaO.49 51 Guitton, Le Temps, aaO. 241; zum Vertiältnis Plotin-Augustin vgl. aaO. 222ff. und 390ff. 52 Augustin, Conf. XI 14, 17 53 s.u. Abschnitt II, 356ff.
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chen der Entfernung des Menschen von Gott. Ihr unmittelbarer Bildcharakter, wonach sie in ihrem geordneten Lauf ihren Ursprung abzubilden vermag, geht verloren. Für Augustin sind alle Zeiten, indem sie aus der ständigen Gegenwart Gottes 'hervorbrechen', 54 gleich weit entfernt von Gott. Die Dynamik und Gerichtetheit der Zeit auf ihre zukünftige Erfüllung vermag Augustin so nicht zu erkennen. Darin ist er eher Platoniker als der Schüler Plotins.55 Damit ist natürlich nicht gemeint, daß es für die Seele keinen 'Weg zurück' gibt. Aber dieser Weg zurück ist nicht mehr als einfacher Aufstieg der sich an ihre Herkunft und Bestimmung erinnernden Seele zu denken. Die Seele kann sich nicht durch einen einfachen Entschluß in ihren Ursprung verfügen. Die These, daß die Ewigkeit die Wahrheit der Zeit ist, gewinnt nun eine völlig andere Bedeutung. Diese These ist nun bestimmt durch die Erkenntnis, daß die dem zeidichen Leben mangelnde Beständigkeit und Gegenwart von der Ankunft der Ewigkeit in der Zeit abhängt. Denn das zeitliche Leben ist in sich dadurch definiert, daß es der Gegenwart ermangelt. Zugespitzt formuliert - die Gegenwart hat im Blick auf die Zeit keine Hypostase. So ist die Ganzheit und Totalität der Ewigkeit nach der Einsicht Augustins durch die Zeit nicht abzubilden.
6. Die Ewigkeit Gottes als zeitloser Grund aller Zeiten In einem letzten Abschnitt dieses Teiles geht es um die knappe Herausstellung der Konsequenzen, die die These Augustins, die Zeit komme erst in Relation zur Ewigkeit zu ihrer Wahrheit, für die Fassung des EwigkeitBegriffs hat. Damit kommen in diesem Abschnitt Sachverhalte zur Sprache, die in den vorangegangenen Abschnitten schon immer mit thematisch waren, nun aber allererst ausdrücklich gemacht werden.
a) Ewigkeit als das Leben Gottes In seinen 'Confessiones' gelangte Augustin zur Herausstellung der aeternitas als einer herausgehobenen Eigenschaft Gottes, die nicht nur seine Transzendenz, sondern auch die Weise seiner Gegenwärtigkeit in der Welt ausdrücklich machen kann.1 Zu Gott wird gebetet als zu dem, der die Ewigkeit 'hat', dessen Sein nicht in der Zeit zerstreut ist - und d.h. der nicht vielgeschäftig nur an der Erhaltung seiner Selbständigkeit interessiert ist.2 Daß der ferne Gott der
54 55 1 2
Vgl. Augustin, Conf. XI, 11, 13 Vgl. Ε. A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 52 Vgl. dazu W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 1972, 27ff. Vgl. Augustin, Conf. XI, 1,1
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Welt und dem nach ihm fragenden Menschen nahe ist - das kommt in der Eigenschaft der Ewigkeit zum Vorschein. Vermöge seiner Ewigkeit - so macht Augustin einerseits klar - ist Gott allem Zeitlichen gegenwärtig; denn Gott ist alles Geschehen dieser Welt "sine distinctione actionis"3 und damit zugleich gegenwärtig.4 Dem endlichen Seienden aber ist seine mögliche Totalität und konstruktive Einheit immer zukünftig, nie als solche gegenwärtig. Oder anders: der Mensch sieht seiner eigenen Ganzheit, solange er ist, immer nur entgegen; aber nicht als einer zukünftigen Möglichkeit seiner selbst, sondern als der Entzeitlichung seines Lebens schlechthin. So ist Augustin klar, daß nur der 'Entwurf' der Ewigkeit als zeitloser Gegenwart die Gewißheit stützen kann, daß es in der Macht des ewigen Gottes liegt, jeder Zeit gegenwärtig zu sein. Und andererseits macht Augustin deutlich: Gegenwart eignet allein dem Sein Gottes. So wie der Mensch seiner Ganzheit immer nacheilt, so lebt er in der Erfahrung des ständigen Verlustes an Gegenwart. In dieser Hinsicht gilt, daß die Ewigkeit Gottes seine unüberbrückbare und darin heilsame Unterschiedenheit von allem Zeitlichen ausdrückt. Wir sahen, daß Augustin im Zusammenhang des Zwiegespräches der Seele mit Gott zu dem Bekenntnis gelangte, daß die Ewigkeit die Form der Zeitlichkeit (der Seele) ist. Augustin kam zu jener Formulierung durch die fundamentale Einsicht, daß die Gegenwart im Blick auf die Zeit strenggenommen keine Hypostase hat. Die Erfahrung ungeteilter Gegenwart in der Zeit - das bedeutet die Aufhebung der Zeit oder anders: die Ankunft der Ewigkeit in der Zeit.5 Die Ausdehnung des Geistes in der praesens attentio birgt, so macht Augustin klar, zugleich immer die Gefahr der Zerstreuung der Seele in sich. - Gegen E.A. Schmidt also sehen wir Augustin nicht nur in dem Bemühen, die Ewigkeit als Gericht und Grenze der Zeit deutlich zu machen6, sondern auch in dem Versuch, die Ewigkeit als schöpferischen Grund der Zeit aufzudecken. Gerade in den 'Confessiones', wo Augustin die 'Gegenläufigkeit' alles Zeitlichen zur ungeteilten Ewigkeit betont, spricht er zugleich von der schöpferischen Hervorbringung aller Zeiten durch die Ewigkeit Gottes.7 3 Augustin, Conf XI, 31,41 4 AaO. XI, 13,16, "Anni tui omnes simul statu" 5 Vgl. aaO. XI, 14,17 und XI, 30, 40 6 So E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, besonders 41ff. 7 Vgl. Conf. XI, 11, 13, eine Passage, die Schmidt immer wieder heranzieht für die Unterstützung seiner These, Ewigkeit sei Augustin ausschließlich das Gericht der Zeit; dabei übergeht Schmidt u.E. den Aspekt der Schöpfung und Ertialtung der Zeiten.
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Das verlangt aber nun danach, die Eigenschaft der Ewigkeit Gottes so zu entwickeln, daß sie die Immanenz Gottes aufdeckt. Ewigkeit muß als relationales Attribut durchsichtig gemacht werden. Es geht dabei um die Entfaltung der Einsicht, daß vor Gott alle Zeiten wie nichts sind und daß doch gleichwohl kein Zeitliches denkbar ist, das nicht dem ewigen Willen Gottes entspringt.8 Diese 'Aufgabe' erfüllt Augustin so, daß er die Ewigkeit Gottes als seine bewegte Lebendigkeit entwickelt und so als seine Liebe. Gottes ewiges Sein ist durch den Gedanken seiner zeitlosen Identität nicht voll bestimmt; sondern Gott gibt sich so zu erkennen, daß er den leidenschaftlichen Wunsch nach dem anderen seiner selbst hat. So trägt Augustin in den Gedanken der Ewigkeit den Zeitbezug ein. Als klassisches Beispiel dafür ist neben der Trinitätsschrift die Auslegung von Psalm 102 angeführt worden -. 9 Dort bezeichnet Augustin die Ewigkeit Gottes als seine Substanz, die wohl seine Unveränderlichkeit und seine ewige Gegenwart zum Ausdruck bringt; danach ist Gott schlechthin das Sein - d.h. er ist reine Gegenwart.10 Aber, so betont Augustin, Gott ist das Sein als Entfaltung seiner selbst in Wort und Geist. In seiner Selbstentfaltung trägt Gott gleichsam in sich selbst die Andersheit ein. Die Schöpfung durch das Wort und die Erleuchtung des menschlichen Geistes durch den göttlichen Geist im Akt der Erkenntnis der Wahrheit sind die konkreten äußeren Zeichen der inneren Bewegtheit des göttlichen Seins.11 Das ewige Sein Gottes hat wegen und in seiner Ewigkeit soteriologische Bedeutung für alle Zeit. Das ist die Einsicht, die die biblischen Schriften nach Augustin kundtun und die in der Trinitätslehre entfaltet werden kann.12
b) Die Ewigkeit als Gottes Zeitmächtigkeit In seiner großen Genesisauslegung liefert Augustin nun eine Theorie, in der die Ewigkeit Gottes als seine Schöpferkraft entfaltet wird. Darin löst er das Versprechen ein, die Ewigkeit als relationales Gottesattribut zu entwickeln. Vornehmlich die Bücher vier und fünf von 'De genesi ad litteram' behandeln im Anschluß an Gen. 2,1-6 die aus den vorausgegangenen 8 Vgl. auch Conf. XII, 28, 38 9 Vgl. W. Beierwaltes, Piatonismus und Idealismus 28-31; Text in CC SL 40, 1444ff. 10 So formuliert Augustin in Anklang an Ex. 3,14 (vgl. Beierwaltes, aaO. 28f.); Beierwaltes weist mehrfach auf die darin zum Ausdruck kommende Rezeption des 'griechischen' Seinsbegriffs im Sinne - 'ständiger Gegenwart' hin (30ff.) 11 Vgl. Beierwaltes, aaO. 30ff. und ders., Identität und Differenz, 1980,75ff. 12 Das ist bei Schindler, Wort und Analogie, aaO. durchgeführt; hier kann darauf bloß verwiesen werden.
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Auslegungen der Genesis schon allzu bekannte Frage, wie die zeitliche Abfolge der einzelnen Schöpfungstage im Blick auf den Akt der Schöpfung aufzufassen ist. Zu Beginn von Buch vier deutet Augustin eine doppelte Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage an. Danach ist entweder davon zu sprechen, daß der Ablauf der sieben Schöpfungstage als reale zeitliche Folge zu denken ist, oder aber, daß nur dem Begriff nach ('nomine' 13 ) zwischen einzelnen Schöpfungstagen unterschieden werden kann. Die zweite Möglichkeit würde die zeitliche Abfolge im Schöpfungsakt als bloße Darstellungsweise zu verstehen geben und so als ein 'Zugeständnis' an menschliche Rede- und Vorstellungsweise; die erste Möglichkeit würde davon sprechen müssen, daß es sich um eine reale zeitliche Folge im Akt der Schöpfung handelt, die das 'historische' Geschehen der Schöpfung bestimmt. Gott schafft nach dieser Auffassung die Dinge also in einem zeitlichen Nacheinander. Eine Entscheidung dieser Streitfrage hat nach Augustin mehrere Grundsätze zu beachten, deren Übergehung eine Abkehr von einer schriftgemäßen und auch der ratio verpflichteten Exegese der ersten biblischen Schrift bedeuten müßte.14 Zunächst gilt es zu beachten, daß sowohl die Aussage von einem zeitlichen Nacheinander im Schöpfungsakt als auch die Behauptung, daß dieses Nacheinander nur als notwendige Darstellungsweise der im übrigen zeitlos vorzustellenden Erschaffung der Welt durch Gott zu interpretieren ist, die Autorität der Schrift für sich beanspruchen kann.15 Diese Tatsache, so betont Augustin, erlaubt es nicht, an der Wahrheit beider Aussagen zu zweifeln. "... immo vero prius atque posterius... et simul omnia facta sunt, quia et haec scriptura, quae per memoratös dies narrai opera dei, et illa quae simul eum dicit fecisse omnia, verax est; et utraque una est, quia uno spiritu veritatis inspirante conscripta est."16 Die Behauptung eines zeitlichen Nacheinander im Akt der Schöpfung verbietet sich allerdings aus Vernunftgründen. Denn wird eine solche zeitliche Folge im Akt der Schöpfung angenommen - wie es Gen. l,lff. darstellt - , so muß daraus gefolgert werden, daß Gott selbst die Welt in zeitlicher Weise geschaffen hat, d.h. daß er 'temporaliter ' das Nichtseiende ins Sein gerufen hat.17 Damit aber wird der Grundsatz, daß die Ursache ontologisch höherwertig als ihre Wirkungen sein muß, verletzt. Die funda13 Vgl. A. Augustin, De Genesi ad litteram, CSEL 28,1, Liber IV, 93 (wird im folgenden als De genesi zitiert); zur Datierung vgl. A. Schindler, Augustin, 669 14 Schriftgemäßheit und Vemünftigkeit als die beiden Pfeiler einer biblischen Exegese führt A. bei der Unterscheidung zwischen geformter und umgeformter Materie ein (!); vgl. Augustin, De geneis, 20 15 Gen. 1,1-2,2 bezeugen das zeitliche 'Nacheinander' des Schöpfungsaktes - Sir. 18,1 und Gen. 2,4 die Simultaneität alles Geschaffenen (vgl. De genesi, 133) 16 De genesi, 134
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mentale Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf drückt Augustin auch in seiner großen Genesisauslegung vornehmlich als die Unterscheidung zwischen Zeitlichem und Ewigem aus. Gott ist danach "aeterna incommutabilisque natura", die dadurch bestimmt ist, daß sie ihr Sein aus sich selbst und für sich hat.18 Deshalb ist eine Lehre, die ihm "temporale aliquod bonum" zuspricht, als grundlose Prahlerei ("vanitas temeraria") zu beurteilen, denn "illi aetemitati et incommutabilitati"19 kommt keine Zeit zu.20 Gilt also von Gott, daß ihm keine Zeit zugesprochen werden darf, so muß auch sein Schöpfungshandeln so gedeutet werden, daß es nicht als in einer zeitlichen Folge ablaufend vorstellig gemacht wird. Deshalb heißt es bei Augustin, daß "in efficacia vero creatoris omnia simul" sind.21 Zeitliche Folge der einzelnen Lebensakte wird im Gegenzug zum Kennzeichen des Geschöpflichen. 'Tempus' wird in dieser Schrift entsprechend definiert als "creaturae motus ex alio in aliud consequentibus rebus secundum ordinationem administrantis dei".22 Als Bestimmtheit des Geschaffenen wird die als geordnete Folge der einzelnen Zeitmomente gedachte Zeit damit Ausdruck nicht nur der Unterschiedenheit des Geschaffenen von seinem Schöpfer, sondern auch Kennzeichen seiner ständigen Entfernung von Gott.23 Zurückkommend auf die eingangs gestellte Frage, wie der biblische Bericht von dem zeitlichen Nacheinander im Akt der Schöpfung zu beurteilen ist, schließen sich nach den bisherigen Überlegungen die von Augustin erwähnten zwei möglichen Antworten nicht mehr unbedingt aus. In verschiedener Hinsicht muß gelten können, daß Gott alles zugleich erschaffen hat und daß das Geschaffene in einem zeitlichen Nacheinander ins Sein tritt. Dieser differenzierenden Beantwortung der Frage nach der rechten Interpretation der beiden Schöpfungsberichte der Bibel widmen sich die Bücher vier und fünf der großen Genesisauslegung. Augustin argumentiert dabei folgendermaßen: Gott selbst kann keine zeitliche Veränderung zugesprochen werden; denn Gott ist wesentlich unveränderlich. Gleichwohl berichten Gen. 1,1 ff. von einem zeitlichen Nacheinander im Akt der Erscheinung der Welt. Diese Darstellung ist als Reflex der menschlichen Wirklichkeitserfahrung zu deuten - und nur so auch eine angemessene Darstellungsweise 17 AaO. 5; dem widerspricht aber die andernorts formulierte Einsicht Augustine, daß Gott die viso temporalis, die das Denken des Menschen bestimmt, unbekannt ist (vgl. Conf. XIII, 37, 52; dazu vgl. auch E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 48f.) 18 Vgl. De genesi, 159 u.ö. 19 AaO. 116f. 20 AaO. 155; "non enim et ipsi accidit tempus" 21 AaO. 136 22 AaO. 145 23 S.u. Abschnitt II, 356ff.
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des Schöpfungsvorganges. Denn die menschliche Wirklichkeitserfahrung ist dadurch bestimmt, daß alles Seiende in bestimmten Zeitverhältnissen vorliegt und begegnet ("... nunc videmus temporalibus intervallis"24). So kann das menschliche Denken die Ewigkeit Gottes nicht anders als zeitlich denken und beschreiben. Das Paradoxon menschlichen Redens über die zeitüberlegene Ewigkeit Gottes ist unaufhebbar, wird aber reflexiv so berücksichtigt, daß die Ewigkeit als relationales Attribut Gottes entwickelt wird. Bloß die Zeitlosigkeit des göttlichen Seins zu konstatieren und sonst zu schweigen - ist für Augustin keine akzeptable Alternative. So erfährt die Aussage von der Schöpfungstöf/gÄe/r des ewigen Gottes nun folgende Deutung. Der Schöpfungsakt ist nicht so vorzustellen, wie wir in unserer auf Zeit und Raum bezogenen Wahrnehmung Wirklichkeit erfahren25, sondern unabhängig von zeitlichen und räumlichen Stufen und Entwicklungen.26 Die zeitliche und räumliche Erstrecktheit, in der wir die Dinge erfahren und wahrnehmen, ist vielmehr als Verwirklichung und Entfaltung der ursächlichen Erschaffung der Dinge vorzustellen. Zeitliches nämlich empfängt seine Ordnung nicht zeitlich.27 Positiv wird die nicht zeitlich zu denkende Erschaffung des Seienden als Erschaffung 'connexione causarum' bzw. als 'causalis ordo', nach dem Gott alles Seiende hervorgebracht hat, definiert.28 Nach dieser Vorstellung prägt Gott den Dingen die Fähigkeit zu ihrer Entwicklung "tamquam seminaliter"29 ursächlich ein; diese Fähigkeit entfaltet sich dann in der Zeit. In dem Augenblick der Schöpfung hatten nur die ungeformte Materie, der Himmel und die geistigen Substanzen das Sein. Die übrigen Geschöpfe sind in diesem Schöpfungsaugenblick nur potentiell enthalten, "quasi" als "seminales rationes".30 Diese 'rationes seminales' werden dabei von Augustin als 'numeri' gedacht31 und damit als den Dingen innewohnende Geordnetheit, die in der Zeit zur Gestalt kommt also gleichsam als innere Uhr der Dinge.32
24 De genesi, 132 25 Ebd.; "secundum motus ... naturales nunc experimur" 26 Ebd.; "neque enim et ipsa - sc. sapientia dei - gradibus adüngit aut tamquam gressibus pervenit" 27 Ebd.; "hos enim numéros tempora peragunt, quos cum crearentur non temporaliter acceperunt" 28 AaO. 146; vgl. dazu E. Gilson, Der Heilige Augustinus, aaO. 350f. 29 De genesi, 132 30 AaO. 150 31 Vgl. ebd. 32 Die Bezogenheit der Lehre von den rationes seminales auf den Gedanken der Vorsehung hat A. Mitterer, Die Entwicklungslehre Augustins, 1956, herausgearbeitet
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Der überwiegende Teil des Geschaffenen also ist im Akt der Schöpfung der Welt nur im Keimzustand 'vorhanden' und muß sich demnach in der Zeit zu dem entwickeln, als das es erschaffen wurde. Gleichwohl ist diese Entwicklung in der Zeit keine dem Geschaffenen zusätzlich zu seiner ihm zugedachten Form und Natur hinzukommende Bestimmung, sondern deren Verwirklichung. Beispielhaft spricht Augustin von der Entwicklung eines Baumes aus seinem Samen, der die spätere Entwicklung des Baumes zu seiner vollen Größe zwar nicht im Blick auf die Masse der körperlichen Größe in sich enthält,33 aber doch wohl der ursächlichen Möglichkeit nach.34 Dabei geht nichts in die spätere Gestalt des Baumes ein, was nicht in dem "occulto thesauro seminis illius"35 schon enthalten ist. Nur von den Engeln36, dem Tag der Schöpfung, den Himmelskörpern und der Seele des ersten Menschen37 gilt, daß sie als mit dem Schöpfungsakt vollendet vorgestellt werden. "Auf Grund dieser verborgenen Keime, in denen alle jene Dinge beschlossen sind, welche die Zeit zur Entfaltung bringt, kann man sagen, Gott habe die Welt schwanger an Ursachen der künftigen Wesen erschaffen."38 Diese Lehre von der ' kausalen Ordnung ', die Gott den Dingen im Akt der Schöpfung eingeprägt hat, gibt Augustin die Möglichkeit, den Gedanken der Gleichzeitigkeit alles Geschaffenen sub ratione Dei zu wahren. Denn die ursächliche Ordnung, in der alles Seiende von Gott in einem Augenblick erschaffen ist, ist als zeitlose Ordnung gedacht. Dementsprechend kann Augustin von der Gleichzeitigkeit alles Geschaffenen "in ictu condendi"39 reden, womit die zeitliche Ausdehnungslosigkeit des Schöpfungsaktes umschrieben ist. "In diesem Sinne war die Schöpfung mit dieser Hervorbringung der Dinge ... von Anfang an ganz vollendet. Denn alle Kräfte, die später ihre Wirkungen entfalten sollten, waren in den Elementen bereits enthalten."40 So liegt eine weitere große Stärke dieser Lehre darin, verdeutlichen zu können, daß Gott als der Schöpfer seiner Schöpfung nicht äußerlich bleibt, sondern ihr in ihrer geschichtlichen Entwicklung als zeitloser Grund gegenwärtig ist. Die Intention der Lehre von den 'rationes seminales', die den Dingen im Akt der Schöpfung eingeprägt sind und ihre Entwicklung in der Zeit
33 34 35 36 37 38 39 40
De genesi, 167; "non mole corporeae magnitudinis" Ebd.; "vi potentiaque causali" AaO. 169 AaO. 168 AaO. 194 Gilson, aaO. 351 De genesi, 132 Gilson, aaO. 351 f.
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ursächlich enthalten, ist darin zu sehen, die Erfahrung des zeitlichen Nacheinander, in dem die Dinge dieser Welt ihr Sein haben, mit dem Gedanken einer Simultaneität alles Seienden sub ratione Dei verbinden zu können. Die Gleichzeitigkeit des Geschaffenen sub ratione Dei lehrt einerseits die Bibel; andererseits ist sie ein notwendiges Implikat der Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes. Der Ertrag der großen Genesisauslegung Augustine für unser Thema kann folgendermaßen zusammengefaßt werden. Die Zeit wurde von Augustin zunächst als die 'ex alio in aliud' fortschreitende Bewegung der von Gott geschaffenen Kreatur bestimmt. Demgegenüber galt Gott als die 'aetema incommutabilisque natura', die keiner Veränderung unterworfen ist. Die sich schon allein aus dieser Begriffsbestimmung ergebende Problematik, wie die Hervorbringung der zeitlichen Geschöpfe durch den ewigen Gott überhaupt gedacht werden kann - wenn denn einerseits vermieden werden soll, die Ewigkeit und Ungewordenheit des Zeitlichen anzunehmen, andererseits, eine Veränderung und Bewegung in Gott vorzustellen -, wurde von Augustin mit dem Hinweis darauf gelöst, daß die Hervorbringung der Geschöpfe durch Gott nicht zeitlich, sondern ursächlich vorgestellt werden kann. "Damit wird das Problem von der Urerzeugung der Dinge ... aus der Metaphysik der Zeit in die Metaphysik des Grundes übertragen."41 Gott hat demnach "alles zugleich geschaffen, und das Werk der sechs durch den Bericht der Genesis unterschiedenen Tage darf als ein Tag oder vielmehr als ein einziger Augenblick verstanden werden".42 Muß also sub ratione Dei gelten, daß 'omnia simul in ictu' von Gott erschaffen wurden, so bedarf der biblische Bericht von der zeitlichen Folge im Schöpfungsakt doch einer befriedigenden Deutung. In diesem Zusammenhang entwickelt Augustin die Lehre von den Keimgründen (rationes seminales), - wonach die Seinsweise alles Geschaffenen im Akt der Erschaffung der Welt potentiell vorliegt. Diese rationes seminales wirken als in den Dingen verborgene Ursachen ihrer künftigen Gestalt und damit vermittelt auch als Ursachen künftiger Wesen.43 Die Entwicklung und Entfaltung der Geschichte ist so, weil sie als das 'In-Erscheinung-Treten' der im Schöpfungsakt hervorgebrachten Keimgründe alles Seienden ist, als Bewahrung und Verwaltung der Schöpfung durch Gottes Vorsehung zu begreifen. "Die geschaffenen Kräfte setzen nur
41 AaO. 345 42 Ebd. 43 Vgl. De genesi, 136 u.ö.
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die schöpferische Kraft Gottes ins Werk und nützen sie aus." 44 Vermittels dieser Lehre also vermag Augustin sowohl den Gedanken der Gleichzeitigkeit alles Geschaffenen "in efficacia... creatoris" 45 als auch die Kennzeichnung des Geschaffenen schlechthin durch Zeitlichkeit beizubehalten. Dem Glauben an die göttliche Weltregierung wird also eine anschauliche Gestalt gegeben. Daran anschließend stellt sich Augustin die Frage, inwiefern die behauptete Simultaneität alles Geschaffenen sub ratione Dei überhaupt anschaubar gemacht werden kann - wenn denn gilt, daß menschliche Erfahrung und menschliches Denken durch Zeit und Raum bestimmt sind. Augustin verweist einerseits auf die Autorität der Schrift, die die Gleichzeitigkeit alles Geschaffenen 'in efficacia creatoris' lehrt. Darüber hinaus macht er selbst auf die Notwendigkeit aufmerksam, die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit des im Wechsel Befindlichen phänomenal ausdrücklich zu machen. Augustin reflektiert das Phänomen eines Sonnenaufganges. 46 Obwohl einsehbar ist, daß die Entfernung von dem Auge des Betrachters bis zur Sonne in einem zeitlichen Nacheinander durchmessen wird und auch die 'Bewegung' der Sonne in einem kaum wahrnehmbaren Nacheinander 'verläuft', so sagen wir doch nach Augustin mit Recht, daß unser Blick alles zugleich und in einem Nu ("uno ictu" 47 ) durchschreitet, so daß es sich bei diesem Phänomen um ein Geschehen handelt, bei dem 'ein Früher oder ein Später nicht durch Zeiträume veranschaulicht werden kann' 48 . Gleichzeitig kann reflexiv einsichtig gemacht werden, daß der zeitlich kaum meßbare Übergang von der Verdecktheit der aufgehenden Sonne zu ihrem tatsächlichen Aufgang sich als zeitliches Nacheinander vollziehen muß. Mit diesem Beispiel meint Augustin eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Simultaneität eines Bewegungsvorganges im Akt seiner Erfassung durch die Seele und die zeitliche Folge des Geschehens als zwei Formen der Struktur eines einzigen Ereignisses miteinander vermitteln zu können. Wir stehen hier also vor dem Versuch Augustins, die kreatürliche Zeit im Sinne der endlosen Folge von 'Früher' und 'Später' mit der 'Dreidimensionalität' der Zeit in der distentio der Seele zu verbinden. In der Betrachtung des Sonnenaufganges - das klassische Beispiel für einen Vorgang, der nach
44 45 46 47 48
Gilson, aaO. 353 De genesi 136 Vgl. aaO. 134f. AaO. 135 AaO. 134; "prius sit vel posterius, intervalla temporum non demonstrant"
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dem Schema von 'Früher' und 'Später', 'Vorher' und 'Nachher' wahrgenommen wird - erstreckt sich das Bewußtsein in der praesens attentio antizipativ auf das Ende des Vorganges in lebendiger Erinnerung an seinen Anfang. Leider hat Augustin diesen Versuch, die Zeit als 'Bewegung' der Kreatur mit der Zeit als distentio der Seele zu verbinden, nicht weitergeführt.49 Es bleibt aber abschließend das Bemühen Augustine zu konstatieren, durch den Vorrang der kausalen Ordnung der Welt vor ihrer zeitlichen Geordnetheit die Ewigkeit Gottes auch als seine Schöpfungsmächtigkeit zu behaupten. Dieses Bemühen macht deutlich, daß die zeitliche 'Gestalt' und Ordnung des Geschaffenen für Augustin nicht per se die unaufhebbare Entfernung der Kreatur von Gott impliziert.
Π. Die Deutung der Zeitlichkeit als Schuld Die Analyse der Zeit führte Augustin zu der Einsicht, daß die Zeit nur im und durch den Bezug zur Ewigkeit Gottes wahrhaft bestimmt werden kann. Den Grund dafür sieht Augustin darin, daß menschliche Zeiterfahrung davon geprägt ist, daß ihr Gegenwart und d.h. Ständigkeit im Laufe der Zeiten mangelt. Die Zeit, herausgerissen aus ihrem Bezug zur Ewigkeit, ist der sie kennzeichnenden Tendenz zum Nichtsein ausgeliefert. So kommt es zur immer wiederkehrenden Erfahrung, keine Zeit zu haben. Nun gilt aber, wie wir sahen, daß die Zeit trotz allem ein 'ens creatum' 1 ist ; d.h. sie ist von Gott ins Sein gerufen und verweist so - wie alles Geschaffene - auf ihren Schöpfer. "Ecce sunt caelum et terra, clamant (!), quod facta sint; mutantur enim atque variantur."2 Die Behauptung, alles Geschaffene verweise in seiner Veränderlichkeit auf seinen ewigen Schöpfer, muß also auch auf die Zeit selbst ausgedehnt werden können. So ist die Einsicht in die Zeitlichkeit des Geschaffenen, in der die Abkünftigkeit alles Seienden von Gott ansichtig werden kann, noch nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, alles Endliche entferne sich in seinem zeitlichen Wechsel von Gott. Die Zeitlichkeit alles Geschaffenen bedeutet nach Augustin nicht notwendig seine Gefallenheit und unendliche Gottesferne.
49 Daraufhat E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 62, hingewiesen 1 So Augustin in De civitate Dei XII, 16,534ff. (zitiert nach der Teubner Ausgabe, Hrsg. J. Divjak, WB 1981; hinfort zitiert als De civitate) und Conf. XI, 15, 20 u.ö. 2 Conf. XI, 4, 6
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Worin liegt dann aber der Grund dafür, daß dem auf seine Zeit reflektierenden Menschen das eigene Sein - seine Gegenwart - immer wieder zu entgleiten droht? Warum wird die zeitliche Erstreckung des Lebens als Zerstreuung und Verfallenheit erfahren? Eine Antwort auf die Frage nach den Gründen für die in Conf. XI beschriebene Zeiterfahrung bietet die Todesanalyse in 'De civitate Dei'. Augustin beginnt das berühmte dreizehnte Buch seines 'Gottesstaates' mit einer Interpretation der paulinischen Todesdeutung. Daß der Tod der Sünde Sold ist3 - das heißt für Augustin: der Tod als Abbruch des menschlichen Lebens ist nicht identisch mit der natürlichen und schöpfungsmäßigen Endlichkeit des Lebens, sondern die Frucht der Ursiinde des Menschen, seiner unbeschränkten Selbstliebe.4 Die Geschöpflichkeit der Kreatur beinhaltet nicht notwendig ihr Todesverhängnis. Worin ist das Todesverhängnis, unter dem das sündhafte Leben steht, von der natürlichen, d.h. schöpfungsmäßigen Endlichkeit unterschieden? Darin, daß die menschliche Natur in ihrer Gesamtheit - in bezug auf Leib und Seele - der 'nécessitas moriendi' 5 ausgesetzt ist. Die 'Erfahrung' des Todes als radikale Bedrohung des Lebens wird bei Augustin im Anschluß an die paulinischen Ausführungen in Rom. 6 von der natürlichen Endlichkeit des zeitlichen Lebens unterschieden und als Folge und sichtbarer Ausdruck menschlicher Sünde gedeutet. Die Unterscheidung zwischen dem leiblichen Tod und dem Tod der Seele - dieser Unterscheidung gibt Augustin folgende Beschreibung: "Mors igitur animae fit, cum earn deserit Deus, sicut corporis, cum id deserit anima"6 - hängt an der augustinischen Seelenlehre, impliziert aber gerade nicht die Unterscheidung zwischen einem sogenannten 'natürlichen Tod' und dem Gerichtstod.7 Denn auch der 'natürliche Tod' ist nach Augustin mit Paulus Folge der menschlichen Sünde.8 Diese Lehre von dem Tod schlechthin als Folge der menschlichen Sünde vermag - und das gibt dieser Lehre ihre Berechtigung - das Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Ende in seiner Tiefe aufzuhellen.
3 So in Röm. 6, 23 4 De civitate XIII, 1,557, Z. 6f.; "inoboedientes autem mors plecteret damnatìone ¡ustissima" 5 Vgl. aaO. XIII, 3, 560, Ζ. 12 6 AaO. XIII, 2, 557, Z.18ff. 7 Zu dieser Unterscheidung vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/2,766ff.; P. Althaus, Tod, in: RGG VI, 1962 3 .918; vgl. dagegen W. Pannenberg, Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie II, 1980,146ff„ 151f. 8 Vgl. De civitate XIII, 3, 558ff. und XIII, 6, 563
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Das menschliche Leben tritt nach Augustin durch die Sünde schlechthin unter den Schatten des Todes. Die natürliche und geschöpfliche Veränderlichkeit alles Geschaffenen wird als Zeichen für das 'Sein zum Tode' erfahren und gefürchtet. "Hoc enim agit eius mutabilitas toto tempore vitae huius, ut veniatur in mortem."9 Die Zeitlichkeit des Lebens wird als unaufhaltsamer 'Lauf zum Tode' erlebt10; das Leben ist nichts als die Vorbereitung auf den Tod. Das ist das Verhängnis, unter dem der Mensch sich hinsichtlich seiner zeitlichen Verfassung faktisch erfahrt. Dieses Verhängnis - so deutet Augustin - ist selbstverschuldet. Der Mensch könnte seine Zeitlichkeit als natürliche Begrenzung seiner selbst und als Möglichkeit der Bezogenheit auf seinen Schöpfer verstehen. Die letztlich unerklärliche Unzufriedenheit mit seiner auf Gott bezogenen Endlichkeit bringt den Menschen auf die 'fixe Idee', ihm stehe noch mehr zu, als seine Endlichkeit im Angesicht Gottes zu 'leben'. So bringt sich das geschöpfliche Sein in den Zwang, seine Zeit bedingungslos zu nutzen. In diesem Drang entkommt es aber doch nie der Erfahrung des ständigen Zeitverlustes und dem Wissen um sein bevorstehendes Ende. Dem Leben, das mehr will als seine Geschöpflichkeit und natürliche Endlichkeit, wird seine Endlichkeit zum Verhängnis. Es starrt wie gebannt auf sein Ende, dem es entkommen möchte. Aber der Tod bleibt dem Denken und Leben entzogen; er kommt, wann er will.11 Das gerade macht das Verhängnis, unter dem jedes menschliche Leben steht, offensichtlich, daß ihm nämlich das Vorlaufen zum Tode, um ihn so in die Gewalt - d.h. in die selbst hervorgebrachte Einheit des eigenen Lebens - zu nehmen, benommen ist. "Numquam ergo moriens, id est in morte, esse conprehenditur."12 So ist das endliche Dasein durch sich selbst dazu verurteilt, in der Zeit keine Gegenwart, keine wahrhafte Dauer gewinnen zu können. Das also zeigt die kurz skizzierte Todesanalyse in dem 'Gottesstaat', daß Augustin keineswegs die Zeitlichkeit des Lebens im Sinne seines ständigen und unaufhaltsamen Vergehens - die dem Leben gleichsam natürlich gegeben ist - thematisch macht. Sondern die Erfahrung der Zeitlichkeit - die
9 AaO. XIII, 10, 567, Z.4ff. 10 Augustin spricht in der Tat vom Leben als 'cursus ad mortem' (vgl. ebd.); darauf hinzuweisen, bedeutet noch nicht Augustin als 'Vorläufer' Heideggers zu interpretieren. Natürlich meint das 'Sein zum Tode' bei Augustin nicht die mögliche Ganzheit des Daseins durch sich selbst, sondern das Verhängnis seiner selbst verschuldeten Gottesfeme in einem 'täglichen Sterben' (vgl. den richtigen Hinweis E.A. Schmidts, Zeit und Geschichte, 39, Anm. 60). 11 Vgl. aaO. XIII, l l , 5 6 8 f f . 12 AaO. 569, Z.3f.; das ist gleichsam eine vorweggenommene Heidegger-Kritik (!).
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noch jedes Leben, insofern alles Geschaffene unter die Sünde beschlossen ist, bestimmt - des Lebens wird aus der menschlichen Schuld gedeutet. Damit wird das Verständnis der Zeitlichkeit entscheidend vertieft. Der vermeintlich 'natürlichen Zeiterfahrung' wird so eine überraschende Deutung gegeben.13 Das wirft auch auf die Art und Weise, in der sich die Zeitanalyse in den 'Confessiones' vollzieht, ein neues Licht. Die Analyse der Zeit wurde dort immer wieder unterbrochen oder weitergeführt durch die Anrufung Gottes und seines Geistes - also durch die Bitte um Erleuchtung. Das ist mehr als ein bloßes Stilmittel; der Vollzug der Reflexion auf das Wesen der Zeit coram Deo entspricht nicht nur der Situation des Menschen, der sich als Geschöpf von seinem Ursprung entfernt hat, sondern auch der Deutung der Zeitlichkeit als Schuld. "Bei Augustin geht es nach dem Vorbild der alttestamentlichen Psalmen um das Ineins von Lob- und Sündenbekenntnis. Er lobt Gott für seine guten Werke, aber er lobt ihn auch dadurch, daß er ihm als dem helfenden Arzt seine Sünden und Unvollkommenheiten bekennt."14 So wie die Zeiterfahrung geprägt ist durch die Entfernung des Menschen von Gott, so ist seine mögliche 'Rückkehr' zu seinem Schöpfer nun so beschreibbar, daß der Mensch seine ihm zugemessene Zeit in Relation zur Ewigkeit Gottes lebt. Die Ambivalenz menschlicher Zeiterfahrung erfahrt darin eine umfassende Deutung. Sie kennzeichnet das Sein des Menschen zwischen Selbstliebe und Gottesliebe. Wie die Zeiterfahrung durch seine Selbstliebe in den Sog seiner sündhaften Verstrickung gerät - indem der Mensch sich selbst seiner Gegenwart beraubt -, so ist dem Menschen der Weg zurück doch nicht völlig verstellt. Der Mensch kann mit Hilfe des göttlichen Geistes die Einsicht gewinnen, daß seine gegenwartslose Zeit ihr Gegenüber in der Ewigkeit Gottes hat. So stellt das Bekenntnis Augustins gegen Ende des elften Buches der 'Confessiones' der Erfahrung der Zerstreutheit (distentio) des Lebens die 'misericordia' Gottes gegenüber.15 Das Gegenüber der Zeitlichkeit im Sinne der schuldhaften Verstrickung ist nicht mehr die abstrakte und zeitlose Ewigkeit Gottes, sondern seine - Geduld und Treue. Die Aufhebung der Zersplitterung, d.h. Gegenwartslosigkeit, des Lebens wird erhofft, aber nicht mehr als einfache und unmittelbar mögliche Erhebung des Zeitlichen zum Ewigen gewußt; sondern als Wirkung des göttlichen Geistes in der menschlichen Seele geglaubt.
13 E.A. Schmidt formuliert treffend: "Die zeitliche Struktur menschlichen Eikennens und Wissens wird gerade im Reden mit Gott bewußt" (aaO. 61). 14 U. Duchrow, Der Aufbau von Augustins Schriften Confessiones und De trinitate, in: ZThK 62 (1965), 338ff„ 341 15 Vgl. Conf. XI, 29, 39
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ΠΙ. Die Öffnung der Zeit für die Ewigkeit als 'Kairos' Die bis hierher dargestellten Überlegungen Augustine zum Phänomen der Zeit lassen noch eine entscheidende Frage offen. Die Bestimmung der Zeit als Ausdehnung des menschlichen Geistes bietet an sich ein ambivalentes Bild. Gewiß, Augustin meint, die Zeit vorläufig als 'distentio animi' definieren zu können. Damit aber - daran läßt Augustin keinen Zweifel - ist das Sein der Zeit keineswegs hinreichend bestimmt. Denn in seiner Ausdehnung ist der menschliche Geist bedroht von der Zerstreuung in der Zeit; anders ausgedrückt: der menschliche Geist ist in der ständigen Gefahr, sich in der Zeit zu verlieren. Er kann vermöge seiner zeitlichen Erstrecktheit die Einheit eines zeitlichen Geschehens konstruktiv erzeugen. Insofern hat der menschliche Geist die Fähigkeit, dem Lauf der Zeit gleichsam Einhalt zu gebieten1, indem er durch die Verbindung von Erwartung, Erinnerung und gegenwärtiger Aufmerksamkeit eine zeitliche Folge zur Einheit eines Geschehens verbindet und darin Dauer erfährt. Aber sowohl hinsichtlich des eigenen Lebens als auch in bezug auf 'Phänomene', die das Einzelleben übersteigen, ist dem menschlichen Geist der Blick auf das Ganze verstellt. Aber nicht nur das! Schon in der Auffassung eines vergleichsweise kurzen Prozesses - beispielsweise der Erfassung einer bekannten Melodie - ist der menschliche Geist der möglichen Täuschung und zeitlichen Zersplitterung ausgeliefert. Denn schon bei dem Hören einer Melodie ist der Geist von der Aufspaltung der Aufmerksamkeit betroffen, indem er sich teils auf das Vergangene richtet, teils das Zukünftige erwartet und vorausbedenkt. Um wieviel mehr gelten Zerstreuung und Aufspaltung des menschlichen Geistes im Blick auf das gesamte Leben; "ecce distentio est vita mea".2 Der kurze Blick auf das dreizehnte Buch des Gottesstaates konnte zeigen, daß Augustin die so verstandene Zeitlichkeit des Lebens in letzter Konsequenz aus der schuldhaften Gottesferne des Menschen deutet. Die grundsätzliche Erfahrung der fehlenden Gegenwart und Dauer, so betont Augustin, ist die Folge des hybriden menschlichen Wunsches, mehr sein zu wollen als ihm zusteht - d.h. des Wunsches, sein Sein aus sich selbst haben zu wollen. Die alltägliche Erfahrung, die den Lauf der Zeit als Bedrohung erfüllten Lebens erlebt, entspringt der Rebellion des Geschöpfes gegen seine Geschöpflichkeit. Auch in den 'Confessiones' formuliert Augustin in dieser Hinsicht: "et quam longe inde me 'proiecerunt' consequentia delictorum meorum".3 1 Vgl. Augustin, Conf. XI, 28, 37 2 AaO. XI, 29, 39 3 AaO. XI, 31,41
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Ist aber die Zeiterfahrung schlechthin dadurch bestimmt, daß sie das Verhältnis des absolut selbständig sein wollenden und sich so seiner Ständigkeit beraubenden Daseins zum Ausdruck bringt - gibt es dann wirklich einen 'Weg zurück'? Ist die Rede von der Zeit als einem Geschöpf, das mit allen anderen Geschöpfen für den, der Augen hat zu sehen, auf seinen Schöpfer verweist, dann überhaupt noch angemessen? Augustin spricht in seinen 'Confessiones' selbst davon, daß sich die Einsicht, daß die Zeit ein 'Gegenüber' hat, nur im 'Augenblick' und in einem 'steilen Aufstieg' ("rara visio et nimis ardua"4) einstellt. Wie aber sollte dieser 'steile Aufstieg' überhaupt gedacht und vorgestellt werden können, wenn denn gilt, daß ihn der Mensch sich selbst verstellt hat? Augustin gibt darauf eine klare Antwort. Die Erkenntnis und lebensmäßige Gründung des Zeitlichen in der Ewigkeit ereignet sich nicht als einfacher Aufstieg der Seele zu Gott, sondern als Erleuchtung des menschlichen Geistes durch den Geist Gottes. Wie diese Erleuchtung erfahrbar wird, macht Augustin in den Confessiones deutlich im Zusammenhang der Auslegung von Gen. 1,1. Augustin beginnt diese Auslegung bezeichnenderweise mit der Bitte: "Audiam et intellegam, quomodo 'in principio fecisti caelum et terram'". 5 Die Einsicht in das Verständnis der Aussage von Gen. 1,1 erbittet der Glaube vom göttlichen Geist. Denn nur so ist, wie Augustin betont, die Sicherheit der möglichen Einsicht gegeben. Diese Sicherheit erweist sich aber natürlich nur im Herzen des Fragenden, "intus in domicilio cogitationis".6 So gilt die Aufforderung: "Audiat te intus sermocinantem qui potest".7 Das Wort, das Gewißheit gibt, kann aber deshalb inwendig gehört werden, weil - wie die Schrift zeigt - die Hervorbringung alles Seienden durch das göttliche Wort geschieht.8 Allein die Worthaftigkeit der Hervorbringung der Dinge zieht die Worthaftigkeit und Wortgebundenheit aller Einsicht, allen Denkens nach sich. Wegen der Erschaffung alles Seienden durch das Wort kann Augustin sagen: "Ecce sunt caelum et terra, clamant, quod facta sint".9 "Augustin bezeichnet das Wort, das wir im Herzen sprechen, als Denken, das von der Sache, die wir wissen, geformt ist".10
4 5 6 7 8 9 10
AaO. XII, 29, 40 AaO. XI, 3, 5 Ebd. AaO. XI, 9, 11 Vgl. aaO. XI, 5, 7 AaO. XI, 4, 6 W. Beierwaltes, Identität und Differenz, 1980, 78f.
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So ist das 'Verbum Dei' als Mittler der Hervorbringung aller Dinge geglaubt. Die Wahrheit und Berechtigung dieser Deutung sieht Augustin in der Schrift begründet.11 Nur - die Erleuchtung, die die Gegenwart des Lehrers Christus12 in der Seele bewirkt und die zur Einsicht in die schöpferische Ewigkeit Gottes führt, wird nicht zum Besitz der Seele, sondern bleibt das 'Aufblitzen' einer der Seele unerschließbaren Einsicht. "Was ist das, was je und je mir aufblitzt, mir das Herz trifft, ohne es zu versehren? Beides: ich erschrecke, ich entbrenne: erschrecke darüber, weil ich dem so ungleich bin, entbrenne danach, weil ich so sehr ihm gleiche. Die Weisheit ist es, die Weisheit selber, die mir da aufblitzt, das Gewölk um mich zerreißend. Und abermals, da ich in ihrem Augenblick nicht verharren kann, deckt es die schweren Finsternisse über mich, die zur Strafe ich leide."13 So bleibt die Möglichkeit der 'Rückkehr' der gefallenen Seele zu Gott doch immer gebrochen und ist nie eindeutig; die Ewigkeitserfahrung ist auf Momente erfüllter Gegenwart beschränkt. Das menschliche Leben ist der Zweideutigkeit niemals gänzlich entrissen. Durch die aktuell erfahrene Aufhebung der Zerstreuung des Lebens "erhält der Mensch nicht ein anderes Sein, und den Zeiten selbst tut solche Aufhebung nichts an; der Mensch gewinnt, wie in der Vision von Ostia, eine andere Erkenntnisweise. Objektiv bleibt der Mensch, wie er Geschöpf bleibt, in der Zeit, aber er hat, für kurze Zeit, die Präsenzweisen von Vergangenheit und Zukunft überstiegen und ist für eine Weile, in der Anschauung von Ewigkeit, von der Erfahrung vorübergehender Zeit befreit gewesen".14 Allerdings ist dem Glauben gewiß, daß die zeitliche Erstreckung des Geistes in ihrer Zweideutigkeit zukünftiger Erfüllung - und das heißt der Entzeitlichung - entgegensieht. Allein - die Worte Augustine bleiben im Blick auf den Versuch, die Ewigkeit Gottes als die zukünftige Verheißung für das zerstreute Leben auszusagen, doch merkwürdig steril und zurückhaltend. Das zeigt nicht zuletzt die bezeichnende Deutung von Phil. 3,12; aus der Ausrichtung des Glaubens auf seine zukünftige Erfüllung wird bei Augustin die Gerichtetheit des Glaubens auf die ständige und 'vorzeitige' Ewigkeit.
11 12 13 14
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Vgl Conf. XIII, 5, 6 u.ö. Vgl Augustin, De magistro IX, 38 Conf. XI, 9,11 (Übersetzung nach Bernhart) E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte 62
Abschlußbemerkungen: - Augustine Bestimmung der Zeit erfolgt im Zusammenhang der Selbstanalyse der menschlichen Situation als Situation coram Deo. Dieser Zusammenhang der Zeitanalyse ist nicht bloß äußerlich. Die zeitliche Struktur, das ist Augustine Überzeugung, des menschlichen Erkennens und Wissens wird erst im Reden mit Gott voll bewußt. Alle Aussagen Augustins über das Wesen der Zeit erhalten darin ihr Kriterium. So findet auch die Beschränkung der Zeit auf die individuelle Seele und ihre Geschichte bei Augustin gegenüber der platonischen Tradition ihre Begründung. - Die Analyse der zeitlichen Verfassung der Welt und des Menschen führt dabei nach Augustin zu der Erkenntnis, daß die Situation vor Gott primär bestimmt ist durch die Gottesferne des Menschen. Die zeitliche Verfassung des Menschen kennzeichnet die Unähnlichkeit des Geschöpflichen gegenüber seinem Schöpfer. Die Verfassung des Menschen ist so insgesamt zu kennzeichnen im Sinne der 'regio dissimiltudinis'15 in Relation zu Gott; die Zeit des Menschen hat ihre Mitte verloren. Das wird gewußt und erfahren in der Zerstreutheit des Lebens. Diese Zerstreutheit ist der faktische Zustand des Menschen coram Deo, der auch durch die Fähigkeit der praesens attentio als Leistung der Seele nicht aufgehoben ist. Die Zeit kann ihre Einheit und Ganzheit nicht aus sich selbst erzeugen. - Der Gedanke der Ganzheit der Zeit als Weise der Teilhabe des Zeitlichen am Ewigen ist für Augustin im Gegensatz zur platonischen Tradition damit nicht mehr bestimmend. Gleichwohl ist die Suche nach der möglichen Teilhabe des Zeitlichen am Ewigen bei Augustin mit der Konstatierung der Unähnlichkeit von Zeit und Ewigkeit nicht einfach erledigt.16 Aber der Versuch, die Teilhabe über den Aufweis der zukünftigen und d.h. möglichen Ganzheit der Zeit zu zeigen, hat sich für Augustin erledigt. Diese Teilhabe wird bei Augustin vielmehr über die Aufdeckung von Gegenwart im Leben der Seele erhellt. Die entscheidende Dimension der Zeit ist für Augustin nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. Das zeigt sich zum einen im Blick auf die Aufdeckung der distentio der Seele als praesens attentio, dann im Blick auf die Deutung der Ewigkeit als 'semper stans aeternitas' und schließlich auch im Blick auf die Herausarbeitung von 'Ewigkeitserfahrung' als Zeitenthobenheit bzw. Entzeitlichung des Lebens im Sinne stehender Gegenwart. Die Ruhe gewinnt die Zeit nur als ständige 15 Vgl. Augustin, Confessiones VII, 10,16 16 Diesen Sachverhalt 'übersieht' E.A. Schmidt in seinem hervorragenden Beitrag 'Zeit und Geschichte bei Augustin'.
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Gegenwart und eben nicht als auf ihre Bestimmung zulaufende distentio der Seele. "Weder der Mensch selbst noch auch seine Zeit, das im Auseinander der Zeiten zerstreute und unruhige Herz, laufen auf die Sabbatruhe zu."17 - Die Zeiten der möglichen Überwindung der 'regio dissimilitudinis' sieht der frühe Augustin noch im geordneten Lauf der Zeiten selbst, die auf die Idee der ewigen Ordnung der Welt und damit ihren Schöpfer bildhaft verweisen. Und es bleibt bei Augustin auch die Einsicht dominant, daß die coram Deo gewonnene Erkenntnis der Entfernung des Menschen von Gott deren Überwindung provoziert.18 Der Gedanke aber der unmittelbaren Erhebung der Seele zu Gott wird dem späteren Augustin suspekt. Gerade schon die Confessiones entfalten den Gedanken der Entzeitlichung des Lebens als seine Erfüllung. In diesem Zusammenhang gilt die von Duchrow zitierte Wendung v. Weizsäckers, daß das platonische Weltbild bei Augustin die eschatologische Erfüllung darstellt.19 Die Anzeichen der Überwindimg der Zerstreutheit des Lebens sieht Augustin im Verbum Dei als der zweiten Person der Trinität und als dem das menschliche Denken erleuchtenden Geist.20 Die immer wieder im Zusammenhang der Exegese der Genesis gewonnene Überzeugung der Worthaftigkeit der Wirklichkeit in ihrer Geschöpflichkeit zeigt: die Überwindimg der Zeitlichkeit ist Gegenstand des Glaubens. Augustin selbst bürgt mit seinem Leben für die nur zu glaubende Erfahrung des 'paululum stat' des Herzens, die er selbst "als zeitenthobene Enklave der Ewigkeit in seiner Zeit erfahren" hat.21 - Der Gedanke der Dynamik der Zeit im Blick auf ihre zukünftige Erfüllung tritt bei Augustin völlig zurück. Die plotinische Dialektik von Zeit und Ewigkeit wird ersetzt durch ein Modell, das die Ewigkeit als das ständige Gegenüber des Zeitlichen denkt, zu dem dieses sich nicht einfach verfügen kann, an dem es aber seiner Zerfahrenheit eingedenk wird. So tritt aber bei Augustin auch der Gedanke, daß das von der 17 E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 1985,44 18 Das bleibt mit W. Beierwaltes, Regio Beatitudinis, 1981, 24, gegen Schmidt festzuhalten. Schmidt übergeht die ethischen Implikationen der augustinischen Zeitlehre. Soll die Zeit nach Augustin, wie Schmidt meint, in der Tat nichts anderes sein als das Zeichen der unaufhebbaren Entfernung des Menschen von Gott, worin liegt dann der Sinn der immer wiederkehrenden Aufforderungen Augustine an die Seele, durch die Rückkehr in sich selbst Gott und die Wahrheit nicht zu vergessen? 19 Vgl. U. Duchrow, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff Augustins im Verhältnis zur physikalischen und geschichtlichen Zeit, in: ZThK 63 (1966), 267ff„ 282 20 Das hat u.a. W. Beierwaltes, Regio Beatitudinis 27, 34ff. u.ö. herausgestellt. 21 E.A. Schmidt, Zeit und Geschichte, 47
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Erfahrung der Ankunft der Ewigkeit herkommende Bewußtsein das Sein in der Zeit gestaltet, merkwürdig zurück. Der Mensch bleibt für Augustin in seiner Geschichte immer gleich weit von der Ewigkeit Gottes entfernt.
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TEIL
M
Die im Horizont der Ewigkeit gedacht Zeit Drei Entwürfe zur theologischen Interpretation der Zeit im 20. Jahrundert Mit den folgenden Ausführungen wenden wir uns nun drei umfassenden Entwürfen einer theologischen Dogmatik im 20. Jahrhundert zu, die in unterschiedlicher Weise als theologische Lehre von der Zeit für die Zeit gelesen werden können und wollen. Damit intendieren wir folgenden Sachverhalt: Den Theologen Heim, Tillich und Barth geht es in je eigener Weise um die Wahrnehmung der Zeitgenossenschaft der Theologie. Diese Zeitgenossenschaft der Theologie wird dann wahrgenommen, wenn die Theologie die wesentliche Frage im Zusammenhang der Zeit zu beantworten vermag, - nämlich die Frage danach, was an der Zeit ist. Was ist an der Zeit in einer Zeit, die sich auf sich selbst zu stellen versucht? An der Zeit ist die Relativierung der Zeit durch die Ewigkeit, weil anders der Mensch in seiner Zeit umzukommen droht. Diese allgemeine Übereinstimmung zwischen Heim, Tillich und Barth führt zu unterschiedlich ausgeführten Versuchen, die Zeit als eine wesentliche Grundbestimmtheit von Welt und Mensch in Relation zur Ewigkeit zu bestimmen. Daß die Zeit als Zeitfür die Ewigkeit zu ihrer Wahrheit kommt, - diese Überzeugung verbindet die drei genannten Ansätze. Heim, Tillich und Barth sehen sich selbst in ihren Entwürfen einer systematisch und dogmatischen Theologie dabei mehr oder minder zwischen den Zeiten - in einer Zeitenwende. Karl Heim versucht nach eigenem Bekunden die religiöse Gewißheit in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Denken wieder denkmöglich zu machen. Die plausible Vermittlung der "Botschaft von der Erlösermacht Christi"1 in eine Zeit, der mit der christlichen Überlieferung auch eine jahrhundertelang bewährte Wertorientierung des Lebens verlorenzugehen droht, ist die selbst gestellte Aufgabe Heims. Die drohende Zeitferne des christlichen Glaubens muß nach Heim überwunden werden durch eine plausible und erhellende Zeitdeutung von Seiten der christlichen Theologie. 1 K. Heim, Weltschöpfung und Weltende. Der Evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band VI, 1952,173
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Was an der Zeit ist in einer Zeit, die ihre Mitte zu verlieren droht - die Antwort auf diese Frage weiß nach der Überzeugung Karl Heims letztlich nur die christliche Theologie. Denn nur die christliche Theologie vermag die zeitliche Erfahrung der Bedrohlichkeit des Zeitablaufes aufzunehmen und mit einer Deutung zu verbinden, die der scheinbar ins Leere laufenden Zeit eine Richtung gibt. Der Hinweis auf den verborgenen und ewigen Sinn der Zeit ist nach Heim das Gebot der Stunde. Mit dieser Botschaft kann die christliche Theologie die Zeit wenden, die mögliche Wende der sich selbst überlassenen und sich auf sich selbst stellenden Zeit anzeigen. Daß die Bedrohlichkeit der Zeit in ihrem Lauf ins Nichts die Erfahrung des modernen Menschen bestimmt, setzt Heim als evident voraus. Die These, die Zeiterfahrung des 20. Jahrhunderts sei bestimmt durch die Erfahrung der bevorstehenden Zeitenwende, bildet den Hintergrund der Heimschen Theologie und somit auch ihre Grenze. Insofern aber Heim dieses Zeitgefühl an der Strittigkeit, in die der christliche Glaube geraten ist, festmacht, kann es sinnvoll sein, Heim auch heute zu Wort kommen zu lassen. Seit den Tagen Heims hat sich die Strittigkeit des christlichen Glaubens auf den Hintergrund des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins in Gesellschaft und Wissenschaft gewiß nicht verringert. Worin nun sieht Heim den genuinen Beitrag der Theologie zum Verständnis der Zeit? Die Theologie hat der verunsicherten Zeit die Botschaft von der heilsamen Begrenzung der Zeit durch die Ewigkeit zu sagen. Dabei deckt die Theologie in bezug auf das "ewige und große Perfektum"2 der Beziehung von Zeit und Ewigkeit die Ewigkeit als die alle Zeit zurecht bringende Tiefe der Zeit auf. Darin bezieht sich die Theologie auf die den neuzeitlichen Menschen bestimmende Erfahrung, daß die Zeit aus sich selbst heraus nicht auf ihre Erfüllung zuläuft. Die gleichsam ins Nichts laufende Zeit führt zur Verzweiflung und zum Skeptizismus. Die Zeit, das ist die Überzeugung Heims, ruft zur Entscheidung für die Ewigkeit und gegen die Verzweiflung. Das also ist an der Zeit - zur Zeitßr die Ewigkeit aufzurufen, weil nur so die Bedrohung des Zeitverlustes abgewehrt werden kann. Heims Augenmerk gilt also der Herausarbeitung der wahren Gegenwart der Zeit, der Entscheidung, vor die die Zeit in der Gegenwart gestellt ist. Im Augenblick entscheidet sich der Sinn und die mögliche Tiefe der Zeit als eine wesentliche Dimension menschlichen Lebens. Für Paul Tillichs Systematische Theologie gilt, daß sie nach eigenem Bekunden "in allen Teilen" des Systems die "Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen" thematisiert.3 Als eine "theologische Zeitlehre" schlechthin kann 2 Vgl. K. Heim, Die Aufgabe der Apologetik in der Gegenwart, in: ders., Glaube und Leben. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, 1926,157ff„ 477 3. P. Tillich, Systematische Theologie, Band III, 19813, 342
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die Systematische Theologie Tillichs deshalb gelten, weil nach Tillich die zeitliche Struktur des endlichen Seins das Sein auf der Grenze am sichtbarsten aufdeckt. Die Einsicht in die Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen gewinnt sich bei Tillich aus der Analyse "der allgemeinen SubjektObjekt-Struktur"4 der menschlichen Lebensvollzüge. Die Polaritäten von Individuation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal, in denen sich menschliches Leben entfaltet, zeigen dieses Leben in und als Zentriertheit von Selbstverwirklichung und Selbstüberschreitung. Die Zeit wird von Tillich als zentrale Kategorie der Endlichkeit entfaltet, weil sie die Geschichtlichkeit des Lebens in den Polaritäten ersichtlich macht. Die Zeit ist somit nicht nur die Verfassung, in der das menschliche Leben zwischen Selbsterhaltung und Selbstüberschreitung sich vollzieht, sondern die Zeit macht darüber hinaus die Geschichtlichkeit des Lebens ausdrücklich. Damit ist die Zeit die allgemeine Bedingung des Lebens in seiner Möglichkeit, in und trotz der Widersprüchlichkeiten des Lebens zur Erfüllung zu kommen. Der Zeit ist die Beziehung, so versucht Tillich aufzudekken, zur Ewigkeit unveräußerlich. Kraft seiner Zeitlichkeit vermag der Mensch sich seiner selbst als eines Wesens bewußt zu werden, das im Vollzug seines Lebens der Erfüllung entgegensieht und sich seines Daseins in seiner ewigen Bestimmung gewiß werden kann. Das also hat die Theologie ihrer Zeit zu sagen: daß die sich auf sich selbst beschränkende Zeitlichkeit und Endlichkeit ihrer eigentlichen Bestimmung verlustig geht. In der Vorstellung der geschichtlichen Vermittlung von Zeit und Ewigkeit gelangt Tillich zu einer gegenüber Heim veränderten 'Beantwortung' der Strittigkeit, in die christlicher Glaube und christliche Theologie in der Neuzeit geraten sind. Tillich möchte Ewigkeit nicht nur als die bloße Grenze der Zeit vorstellig machen. Das die Endlichkeit wahrhaft Begrenzende liegt jenseits der Polaritäten von Endlichkeit und Unendlichkeit, Freiheit und Schicksal. Indem Tillich die Polaritäten des Lebens auf das Sein selbst, dessen symbolischer Ausdruck Gott ist, zurückführt, macht er deutlich, daß die Zeit der Ort ist, an dem der Streit um das wahre Wesen der Zeit ausgetragen wird. Es reicht demnach nicht, der Zeit die zeitlose Ewigkeit als das andere ihrer selbst einfach gegenüberzustellen. Das Ewige "transzendiert jeden Moment des zeitlichen Prozesses; es ist das Ende der Zeit im Sinne des Ziels der Geschichte."5 Das Ewige läßt der Zeit im Prozeß ihrer Selbstentfaltung Gelegenheit zur Rückkehr in ihre eigentliche Bestimmung. Insofern die Ewigkeit das Ziel von Zeit und Geschichte ist, trägt jede
4 F. Wagner, Absolute Positivität. Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, in: NZSTh 15 (1973), 172ff„ 186 5 Tillich, Systematische Theologie III, 446
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Zeit zur Ewigkeit nach Tillich etwas bei. Die Erfüllung der Zeit stellt Tillich dementsprechend als Koinzidenz von Ewigkeit und Zeit vor. Insofern kann gesagt werden, daß für Tillich die entscheidende Dimension der Zeit die Zukunft ist. Auch Karl Barths Dogmatik, daran besteht kein Zweifel, ist geprägt von der Erfahrung der Strittigkeit, in die christlicher Glaube und christliche Theologie in der Neuzeit geraten sind. Auch Barths Theologie kennzeichnet der Versuch, einen genuin-theologischen Beitrag zur Zeitdeutung zu liefern. Barths Theologie ist verglichen mit den beiden anderen zu thematisierenden Ansätzen einer theologischen Dogmatik vielleicht der leidenschaftlichste Protest gegen eine Selbstbeschränkung der Zeit, gegen den Versuch, Einheit und Sinn der Zeit aus der Zeit selbst zu entwickeln. Mit dem schroff vorgetragenen Anspruch, die wirkliche Zeit sei die durch die Ewigkeit konstituierte Zeit, erhebt Barth Einspruch gegen den Versuch, die Zeit als Verfassung des Endlichen unabhängig von ihrer Relation zur Ewigkeit zu denken. Was ist an der Zeit? Die unerschütterte Verkündigung des 'großen Perfektum', der Zeitwerdung des Ewigen in der Menschwerdung Gottes. Darin liegt die Gewißheit begründet, daß der Versuch der Selbstbegründung der Zeit schon immer gescheitert ist als eine unmögliche Möglichkeit. Mit dem Hinweis auf die Zeitwerdung der Ewigkeit in der Menschwerdung Gottes vermag die christliche Theologie einsichtig zu machen, daß die Zeit "ihren Sinn schon jetzt nicht in sich selber" hat.6 Die Prägung der Zeit also liegt nach Barth in dieser ihrer unüberholbaren Vergangenheit. Die Dimension der Vergangenheit wird für Barth zum entscheidenden Kriterium der Beurteilung dessen, was an der Zeit ist. Heim, Tillich und Barth entwickeln ihre Theologie unter der Frage, was in Wahrheit an der Zeit ist und so als eine theologische Zeitlehre. Einmütigkeit zwischen ihnen besteht darin, daß die Zeit der Begrenzung und Relativierung durch die Ewigkeit allemal bedarf. Es wird sich zeigen, daß die Heranziehung von Kant und Heidegger im ersten Teil dieser Arbeit in diesem Schlußteil ihre Rechtfertigung erfährt in dem Versuch der drei genannten Theologen, in je eigener Denkbewegung die These zu stützen, die Zeit erfahre erst in Relation zur Ewigkeit ihre eigentliche Bestimmung. In der Stützung dieser These richten sich alle drei herangezogenen Theologen an entscheidender Stelle auf Heidegger und Kant als die beiden Autoren, gegen die sich eine solche These zur Wehr zu setzen hat.
6 K. Barth, Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Schöpfung, Band III/2, 1979*, 547
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Α . D I E EWIGKEIT ALS TIEFENDIMENSION DER Z E I T
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Z U R THEOLOGIE K A R L H E I M S
Kaum ein anderer evangelischer Theologe des 20. Jahrhunderts verkörpert wie Karl Heim den Versuch, in einer Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts die Sache der Theologie zu rechtfertigen und plausibel zu machen. Heim will seine Zeitgenossenschaft als Theologe - und das heißt für ihn als ein Wissenschaftler, dem der Christusglaube zur Mitte des Lebens geworden ist - so wahrnehmen, daß er den Glauben als eine die gesamte Wirklichkeit betreffende Lebensdeutung ausdrücklich macht. Gegen Ende des sechsten Bandes seines voluminösen Werkes 'Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart' - schon der Titel dieses Werkes deutet in nuce das Programm Heims an - betont Heim, ihm gehe es um nichts anderes als darum, "die Botschaft von der Erlösermacht Christi zu bezeugen einer Welt gegenüber, die diese Botschaft in weiten Kreisen ablehnt und bekämpft".1 Und schon in dem Werk, mit dem Heim 1904 einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, formuliert Heim sein Bemühen, die religiöse Gewißheit aus ihrer durch die Entwicklung in Philosophie und Naturwissenschaft aufgedeckten radikalen Fraglichkeit und Fragwürdigkeit herauszunehmen und auf ein breiteres Fundament zu stellen.2 Heim geht es nach eigenem Bekunden um "einen Heimweg zur verlorenen Gewißheit".3 Denn das kennzeichnet die Situation von Glaube und Theologie, daß sie ihre Akzeptanz im Kontext des neuzeitlichen Denkens offensichtlich verloren haben. Und Heim läßt keinen Zweifel daran, daß der christliche Glaube als eine Lebensanschauung, die das Ganze der Wirklichkeit zu deuten beansprucht, diesen Ausschluß aus dem Haus akzeptabler Lebensdeutungen und Wirklichkeits-Interpretationen nicht lange ertragen kann, ohne an gestaltender und die Gesellschaft prägender Kraft zu verlieren. Es scheint so, als habe sich die Situation des christlichen Glaubens seit den Ausführungen Heims kaum verändert. Allein vielleicht insofern, als Theologie und Kirche die Weite der Fragestellung Karl Heims verloren
1 K. Heim, Weltschöpfung und Weltende, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band 6,1952,173 Die zu der Reihe 'Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart' gehörenden Bände werden im folgenden nur noch nach ihren ursprünglichen Titeln zitiert. 2 Vgl. K. Heim, Das Weltbild der Zukunft Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, neu hg. von K.H. Rengstorf, 1980, 239ff. 3 AaO. 240
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haben in der weitgehenden Funktionalisierung ihres Denkens und Handelns. Bei Heim verbindet sich die praktische Frage mit theoretischen Überlegungen. Theologie und Glaube können nicht in Aktionismus flüchten, wenn sie den Boden zur Deutung des Glaubens als einermöglichen und alle anderen Lebensdeutungen fundamentierenden Weltanschauung verloren haben. Ohne Aufweisung der Plausibilität des Glaubens auf dem Hintergrund des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins verliert auch die praktische Kompetenz des Glaubens als Liebe am Nächsten an das Leben gestaltender Kraft. Will der christliche Glaube seine ihm angemessene Weite zurückgewinnen, muß er sich nach Heim als umfassende Wirklichkeitsdeutung zu erkennen geben. So steht die Theologie vor der gewaltigen Aufgabe, die Antworten des Glaubens auf die Fragen der Zeit zu entwikkeln. Die überlieferte Christusbotschaft und die Zeitsituation sind die Bezugspunkte einer Theologie, die den Glauben in ihre Zeit auszulegen hat. Die Frage nach der Zeit ist demnach für die Theologie zunächst die Frage danach, was an der Zeit ist. Welches Wort hat die Theologie, hat der Glaube für seine Zeit zu sagen? Kann der Glaube der Welt deutlich machen, daß noch jede Zeit in der Christusbotschaft eine plausible und jede Zeit zurecht bringende Deutung findet? Kann die Theologie ihrer Zeit sagen, daß es an der Zeit ist, die Christusbotschaft zu hören? Die so gestellte Aufgabe der Theologie ist nur zu erfüllen, wenn sie sich "auf den Boden des Gegners" begibt.4 Es geht also für Heim darum, den Zeitgenossen zu überzeugen, "daß auch er von seinem Standpunkt gar nicht umhin kann"5, die christliche Gewißheit als alle anderen Formen der Gewißheit fundamentierende Lebensdeutung anzuerkennen. Im Blick auf die möglichen Gewißheitsformen heißt das, sowohl die Gewißheit unmittelbarer Erfahrung als auch die Gewißheit, die sich aus der Einsicht in das Denknotwendige gewinnt, fußen auf der religiösen Gewißheit. Das allgemeine Wahrheitsbewußtsein gründet also in der religiösen Gewißheit als der umfassendsten Weltdeutung. Das versucht Heim im Zusammenhang seines Denkens zu zeigen. So beabsichtigt er, die Denkmöglichkeit des Glaubens auf dem Grunde des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins zu sichern. Die fundamentale Strittigkeit, in die christlicher Glaube und christliche Theologie in der Neuzeit geraten sind, macht Heim in verschiedene Richtungen deutlich. Diese Fraglichkeit von Glaube und Religion, so legt Heim immer wieder dar, ist zunächst im Rekurs auf allgemeine menschliche Lebenserfahrungen 4 K. Heim, Glaubensgewissheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, 19233, 51 5 AaO. 51
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namhaft zu machen. Die Aufsätze Heims während und nach Beendigung des Ersten Weltkrieges - gerade auch diejenigen Aufsätze, die sich ausdrücklich dogmatischen Themen widmen - sind geprägt von der Einsicht in die Erschütterung, die der Erste Weltkrieg den Überlieferungen des christlichen Abendlandes gebracht hat. Die Erfahrung der Relativierung von Gewissen und Moral bestimmt nach Heim die westlichen Kulturen nach Beendigung des Ersten Weltkrieges. Die Frage, was zählt, beschäftigt die europäische Kultur. Von der Erschütterung der Überlieferungen des christlichen Abendlandes ist auch wie selbstverständlich die christliche Religion betroffen. "Wir christlichen Europäer sind vor den Heiden gründlich entlarvt und können uns nie mehr rohen Negerhäuptlingen oder räuberischen Kurden gegenüber auf unsere Gesittung berufen. Und welche Rolle hat das große englische Weltmissionsvolk gespielt, das sich für das Volk Gottes hielt!"6 Aber schon vor den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die viele Zeitgenossen Heims in ähnlicher Weise beschrieben und dargestellt haben, sieht Heim das allgemeine Bewußtsein vor die radikale Fraglichkeit aller Überlieferungen gestellt.7 Die europäische Kultur steht nach der Überzeugung Heims am Wendepunkt, vor der Aufgabe einer neuen Traditionsbildung angesichts der Zertrümmerung der überkommenen Werte. Aber das menschliche Leben schlechthin steht angesichts von Grenzerfahrungen von sich selbst her vor der ständigen Frage, was die Welt und das Leben im Innersten zusammenhält. Der 'faustische Mensch' - Heim kennzeichnet sein eigenes Denken und das Denken des zweifelnden Zeitgenossen gerne unter dieser Überschrift - aber will die Wirklichkeit als Ganze erklären und begreifen können; er begnügt sich nicht mit Teilerklärungen. Die Lebensfrage seiner Zeit sieht Heim also kurz gesagt in der Frage danach, was angesichts der Fraglichkeit überlieferter Normen und Werte noch trägt. "Gibt es etwas, was uns die Gewißheit verleiht, daß unser Leben kein Sturz ins Leere ist?"8 Die Fraglichkeit von christlicher Theologie und christlichem Glauben in der Neuzeit sieht Heim im Blick auf die Geschichte der Philosophie begründet in der Herrschaft des Prinzips der 'Ich-Introjektion' - also in der Zurückführung aller Seelenfunktionen auf das zeitlose Ich. Aber die idealistische Philosophie, die dem Prinzip der Ich-Introjektion zum Durchbruch 6 K. Heim, Die Aufgabe der Apologetik in der Gegenwart, in: ders., Glaube und Leben, aaO., 157ff., hier 170; als weitere Aufsätze sind in diesem Zusammenhang zu nennen die in dem gleichen Aufsatzband erschienen Aufsätze ' Kriegs- und Heilstatsache ' (aaO. 181 ff.) und ' Krieg und Gewissen' (aaO. 234ff.) 7 Vgl. Heim, Das Weltbild der Zukunft, 12ff„ 26f. u.ö. 8 K. Heim, Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschuung, Band I, 19312
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verholfen hat, hat selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Kraft verloren. Heim spricht sogar von dem "Zusammenbruch der Bewußtseinsphilosophie".9 Heim betont dabei die Aponen des Autonomiestrebens der neuzeitlichen Subjektivität, die im wesentlichen darin liegeft, daß das Ich sich auf seinen unmittelbaren Selbstbehauptungswillen beschränkt. Demgegenüber steht nach Heim die wachsende Einsicht darin, daß das Ich sich selbst aus seinen Relationen zur Welt und zum anderen Ich bestimmt. Der Zusammenbruch der Bewußtseinsphilosophie verschärft nach Heim auch die Lage der christlichen Theologie und des christlichen Glaubens, weil sich die Theologie des 19. Jahrhunderts größtenteils auf Grundsätze der idealistischen Philosophie gegründet hat. So stehen wir nach Heim vor dem Zusammenbruch des natürlichen Transzendenzbewußtseins, das die idealistische Philosophie nach Ansicht Heims mit der postulierten Einheit von menschlichem Geist und göttlichem Geist behauptet hatte. Der Zerfall der großen philosophischen Systeme des 18. und 19. Jahrhunderts hat zur Folge, daß auch die Philosophie an einem Punkt angekommen ist, wo sich die elementare Frage nach dem eigentlichen Sinn des Lebens und der Geschichte völlig neu stellt. Diejenige Philosophie, die die Einsicht in die grundsätzliche Zeitlichkeit des Lebens als letztes Ergebnis erreicht hat, steht vor der Frage, ob die konstatierte Zeitlichkeit des Daseins das letzte Wort ist, was die Philosophie den Zeitgenossen zu sagen hat. Damit hat nach Heim auch "das philosophische Gespräch den Punkt erreicht, wo für das philosophische Denken die Frage nach dem Letzten in Sicht kommt".10 Schließlich wird die Fraglichkeit von Glaube und Theologie deutlich im Blick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften. Die Auflösung des klassischen mechanistischen Weltbildes und der Zerfall eines absoluten Zeiträume, in dem alles Endliche gleichsam aufgehoben ist, stellt das endliche Subjekt auch im Blick auf die naturwissenschaftliche Welterklärung vor die Frage nach einer neuen letzten Erklärung und Deutung menschlichen Lebens überhaupt. Die Möglichkeit der Berechenbarkeit der Zukunft ist so wie auf philosophischem Gebiet das Transzendenzbewußtsein vergangen. Die fundamentale Zeitenwende, vor der das neuzeitliche Bewußtsein steht, wird für Heim ausdrücklich in der Bewußtwerdung der 'Zeitlichkeit unsere Existenz'. "Diese schließt jede Gewißheit der Zukunft aus und stellt uns in ein Nichts hinein, das auf uns zukommt."11 Diese das neuzeitliche Denken in vielerlei Hinsicht bestimmende Erfahrung, nach der 9 AaO. 24 10 AaO. 31 11 K. Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band V, 19543, 157
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Auflösung der lange bewährten Weltanschauungen vor der elementaren Frage nach dem eigentlichen und tiefen Sinn der Zeit zu stehen, sieht Heim als Ansatzpunkt für die Gottesfrage. "Nach dem Abbruch aller Weltanschauungsbauten, nicht nur der idealistischen, sondern auch der monistischen und materialistischen, nach dem Ende des Kampfes um die Weltbilder stehen die Menschen heimatlos und obdachlos vor der Frage nach Gott."12 Die Einsicht in die fundamentale Fraglichkeit von Zeit und Welt ist eine "unmittelbare Vorbereitung für das Verständnis des Evangeliums vom gekreuzigten Christus",13 weil die Frage der religiösen Gewißheit die umfassendste Frage nach der Ganzheit der Wirklichkeit ist. Der Glaube setzt der vor dem Nichts stehenden Situation des Menschen in der Neuzeit das große Perfektum der Heilstat Gottes entgegen. Damit stellt Heim die Situation der radikalen Fraglichkeit aller Weltanschauungen nicht nur als die Situation seiner Zeit dar, sondern er beschreibt sie zugleich als die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Zeit. Die Schilderung der Zeitsituation mündet also bei Heim in die Forderung nach einer Deutung der Zeit, die deren Geworfenheit auf sich selbst überwindet. Mit dieser Forderung geht es Heim zugleich um eine neue Deutung des Zeitbegriffs. Denn im Zuge der Einsicht in die Fraglichkeit jeglicher Setzung eines Zeitsinnes ist das überlieferte Verständnis der Zeit als eine "in sich ruhende Form des Weltgeschehens, die keiner tragenden Grundlage, keines Ermöglichungsgrundes bedarf", alles andere als hilfreich.14 Die Vorstellung einer objektiven, "sich selbst tragende(n) Zeitstrecke, in der man entweder bleiben kann oder aus der man in eine andere überzeitliche Sphäre flüchten muß"15, ist ins Wanken geraten. Das Zeitgefühl ist bestimmt durch das Gefühl einer Zeitenwende. Die Frage, was jetzt an der Zeit ist und die Gewißheit, daß jetzt das Sein der Zeit überhaupt auf dem Spiel steht, bestimmt das moderne Zeitbewußtsein. In der Gegenwart steht der Sinn der Zeit auf dem Spiel. An dieser Stelle hat die Theologie anzusetzen und sich zu bewähren. Erweist sich der Glaube als eine Kraft, die den ewigen Sinn jeder Zeit in der Zeit kenntlich und so die Konstitution der Zeit durch die Ewigkeit glaubhaft machen kann? Die Theologie redet von der "Begegnung zwischen Ewigkeit und Zeit".16 Will die Theologie auf ihre Zeit wirken, so muß sie im Rekurs auf 12 Heim, Glaube und Denken, 7 13 Heim, Die Aufgabe der Apologetik in der Gegenwart, aaO. 176 14 K. Heim, Zeit und Ewigkeit, Die Hauptfrage der heutigen Eschatologie, in: A. Köberle, Karl Heim. Denker und Verkündiger aus evangelischem Glauben, 1973,183ff., 184 15 AaO. 189 16 Heim, Weltschöpfung und Weltende, 178
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die Rede von der Begegnung zwischen Zeit und Ewigkeit die gegenwärtige Zeitsituation erklären und für die Erfahrung der Ewigkeit aufschließen. Andernfalls kann sich die christliche Lebensanschauung in ihrer Zeit nicht plausibel machen und vor allem nicht als weiteste und umfassendste Welterklärung darstellen, die vor Verzweiflung und Skeptizismus bewahren kann. Karl Heim sieht in der Entdeckung der Ewigkeit als dem Geheimnis und der Tiefe der Zeit die Möglichkeit, diese Aufgabe zu erfüllen. Die christliche Zeitlehre hat ihre Pointe in der Einsicht, daß sie die Zeit so zu begreifen lehrt, daß sie ihren Sinn nicht in sich selbst trägt. Mit der Lehre von der Ewigkeit als dem Geheimnis der Zeit, das der Zeit eine Richtung vom Verfall zur Erfüllung gibt, erklärt die Theologie einerseits das im menschliche Leben erfahrbare Leiden unter der Zeit; andererseits aber erschließt sie den verborgenen Sinn der Zeit. Damit gibt sie der Zeit eine Richtung, ohne ihre reflexiv erfahrbare Widersprüchlichkeit einfach zu übergehen. Heim tritt somit mit der Forderung auf, ein neues Verständnis der Zeit zu entwickeln, das die Zeit in ihrer Widersprüchlichkeit so zu verstehen lehrt, daß sie für die Ankunft der Ewigkeit offen ist. Deshalb entwickelt Heim die Zeit als die Verfassung des endlichen Subjektes in der Entscheidung. Die Zeit ist das auf dem "Spiel-stehen" der Gegenwart. Die Endlichkeit des Daseins entfaltet Heim als dimensionale Spaltung und Gespaltenheit des Lebens in Subjekt und Objekt, Gegenwart und Vergangenheit. Darin zeigt sich für Heim die Endlichkeit als diejenige Verfassung des Menschen, die aus den Relationen, in denen das Leben steht, zu entwickeln ist. Der Begriff der Zeitlichkeit drückt für Heim dabei aus, daß die Relationen des menschlichen Lebens im Lebensvollzug je neu gesetzt und bestimmt werden. Die Zeit schlechthin ist das je neue Setzen der Beziehungen und Relationen des Lebens. Damit ist die Zeit das Innewerden des Daseins für seine Situation. Die Zeit ist der Ruf des Menschen in die Entscheidung darüber, wofür er sich Zeit nehmen will, worauf er seine Zeit zusetzen gedenkt. Die Situation des Augenblicks ist dabei in eine doppelte Möglichkeit gestellt. Das menschliche Leben steht im Augenblick vor der Möglichkeit seiner Vereinzelung oder vor der Möglichkeit, die Zeit in Beziehung zur Ewigkeit zu setzen. Dementsprechend entwickelt Heim die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit. In der Beziehung zur Ewigkeit ist die Zeit ihrer gegenständlichen Verhaftung als Lauf ins Leere befreit. Der Mensch gewinnt für Heim in der Entscheidung für die Ewigkeit, also im Akt des Glaubens, Zeit für sich und Zeit für Gott.
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I. Die wirkliche Zeit als Ruf zur Entscheidung 1. Grundzüge der Zeitlehre Heims in seiner Frühschrift 'Das Weltbild der Zukunft' a) Die Beschreibung der Wirklichkeit durch lebendige Grundverhältnisse Das grundsätzliche Anliegen Heims ist schon in diesem Buch 'Das Weltbild der Zukunft' so zu bestimmen, daß es Heim um den erkenntnistheoretischen Aufweis der Denkmöglichkeit des Glaubens geht. Läßt sich der Anspruch der christlichen Theologie im Kontext neuzeitlichen Denkens aufrechterhalten? - das ist die Ausgangsfrage Heims in seiner Frühschrift. Der Anspruch der christlichen Religion als einer Weltanschauung, die das Ganze der Wirklichkeit zu erklären versucht, manifestiert sich für Heim erstens darin, daß der christliche Glaube eine Antizipation des Weltsinnes und zweitens eine umfassende "Bestimmung des Weltumkreises"1 darstellt. Die erstere Form ihres Anspruchs, eine Weltanschauung zu sein, die das Ganze der Wirklichkeit im Blick hat, teilt die christliche Religion mit allen anderen Weltanschauungen. Denn es gehört zu dem Anspruch jeder Weltanschauung, daß sie sich in Antizipationen der Gesamtwirklichkeit der Welt formuliert. Die Aufgabe dieses Anspruches der christlichen Religion, eine mit anderen konkurrierende Weltanschauung zu sein, hätte nach Heim verheerende Folgen. Eine solche Aufgabe eines ihr wesentlichen Anspruches sieht Heim auch in dem Versuch, die Absolutheit der christlichen Religion durch die Behauptung ihrer völligen Unvergleichbarkeit mit anderen Weltanschauungen zu sichern. "Das Bewußtsein der Erhabenheit über alles andere ist nur eine der vielen Formen, in denen eine Entscheidung innerhalb irgend eines Umkreises ihren Sieg antizipiert."2 Die christliche Religion kann ihre Geltung und Autorität nur im Streit der Weltanschauungen sicherstellen. Der formale und absolute Anspruch entscheidet also keineswegs über die mögliche Akzeptanz der christlichen Weltanschauung. Die steht erst dann auf dem Spiel, "wenn ein bestimmtes Zukunftsbild von konkreten Farben auftaucht als Inhalt des weltüberwindenden Gotteswillens".3
1 K. Heim, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, neu hg. von K.H. Rengstorf, 1980,198; dieses Werk Heims wird im folgenden zitiert als 'Weltbild der Zukunft' ohne Voranstellung des Verfassemamens. 2 Weltbild der Zukunft, 197 3 AaO. 198
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Der Zusammenhang, in dem sich die christliche Weltanschauung in der Neuzeit zu bewähren hat, ist wesentlich ein praktisch-ethischer. Es sind nach Heim nicht die Fragen, die traditionell in den Prolegomena einer christlichen Dogmatik ihren Sitz haben, die über die Akzeptanz der christlichen Religion entscheiden. "Das, worum es sich eigentlich handelte, war immer nur die inhaltliche Frage: Was will Gott, was muß ich also tun, daß ich selig werde?"4 Wie kann nun die Antizipation, die die christliche Religion schlechthin kennzeichnet, nach Heim inhaltlich bestimmt werden? Gewiß handelt es sich um keine "nationale Antizipation"5 wie im Judentum, d.h. um eine Antizipation, die das Weltziel in Richtung auf die Selbstverwirklichung eines Volkes bestimmt. "Es sind drei umfassende Antizipationen"6, die für den christlichen Glauben bestimmend sind: erstens die Idee der "ideale(n) Vollendung des Menschheitsganzen".7 Die zweite Antizipation äußert sich in der Idee eines 'Henismus', also in der Vorstellung einer Vereinheitlichung alles Seienden in der zukünftigen Vervollkommnung des Wirklichen. Diese Idee vereint nach Heim alle höheren Religionen. "Fast die ganze indische, orientalische, platonische, neuplatonische, mittelalterliche Mystik ist... nur eine einzige Religion ...".8 Die dritte Antizipation der christlichen Religion ist die Idee eines neuen Menschen; diese Idee ist die die christliche Religion von allen anderen Religionen unterscheidende Idee schlechthin. Die entscheidende Bedeutung dieser Antizipation macht die Besonderheit der christlichen Religion und ihre Unableitbarkeit auf dem Hintergrund der Geschichte des menschlichen Geistes aus. Nun beschränkt sich die Weltgeschichte gewiß nicht auf das Schauspiel "eines Ringkampfes von Entscheidungen um die Zukunft"9 der Welt. Aber doch macht diese Frage, welche Antizipation die jeweilige Situation der Zeit aufzunehmen vermag und darin allgemeine Akzeptanz erlangen kann, einen entscheidenden Impetus des Weltgeschehens aus. Das geistige Leben der Welt geht nicht darin auf, daß es ein Streit um die rechte Antizipation des bevorstehenden Weltzieles ist; bestimmt ist die Entwicklung des Geisteslebens daneben durch den immer wiederkehrenden Versuch, durch Sprachregelung die revolutionäre Kraft einer Zukunftsvision zu bannen und schließlich die Ersetzung einer kraftvollen Zukunfts-
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antizipation durch - Philosophie, die das Wirkliche in Systeme preßt, also durch 'Kompensationsprozesse'. Die Weltgeschichte und damit die Geschichte des Denkens läßt sich nach Heim schlechthin auf dem Grunde der Dialektik von Dynamik und Form, prophetischen Antizipationen und Kompensationsversuchen durch Vergegenständlichung der Antizipationen beschreiben. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich ein "Überblick über die bisherige Geschichte des Denkens" gewinnen.11 Heim verdeutlicht dies u.a. anhand der Analyse der Bedeutung der Kantischen Philosophie. Kants Philosophie ist für Heim der grandiose Versuch, die "Gedankenprozesse, in denen das bisherige Denken verlaufen war, zum erlösenden Abschluß zu bringen, in dem auf die Quelle allen Denkens überhaupt zurückgegangen wird".12 Dieser grandiose Versuch läßt uns aber nicht übersehen, daß Kant "den metaphysischen Subjektbegriff kritiklos stehen" läßt.13 Sinnliche Wahrnehmung und Kategorien werden von Kant zu einseitig im 'Ich' verankert; die Subjekt-Objekt-Spaltung wird bei Kant somit nicht überwunden. Die praktische Philosophie Kants aber deutet nach Heim im Gegensatz zur theoretischen die "Grundverhältnisse und Umtauschverhältnisse"14 des Lebens als entscheidbar und je schon entschieden. Im Handeln ist für Kant, so macht Heim deutlich, "ein Kleinstes und Größtes gesetzt".15 Mit dem Handeln des freien Subjektes also ist nach Kant "ein schöpferisches Ergreifen der Wirklichkeit gegeben".16 "Daraus ergibt sich dann als Weltprinzip das Prinzip der praktischen Entscheidung des theoretisch Unentschiedenen oder das Prinzip der Autonomie des Willens"17. Der Begriff der Autonomie aber ist bei Kant nach Heim abstrakt gefaßt, "alles Menschliche fällt von ihm ab".18 So wird der abstrakte Begriff der Autonomie, der allen möglichen Inhalten gemeinsam ist, bei Kant faktisch zur Bedingung der Erstarrung der Wirklichkeit des Lebens. Denn die Kantische Morallehre schließt "den lebendigen Inhalt, das Gefühl der Befriedigung, das ja eine positive Erscheinungsform jedes wirklichen Wollens ist, als unsittlich von sich aus."19 So wird das Weltprinzip der Autonomie in den Menschen als dessen Sondereigentum verlegt. "Aus dem abstrakten Allgemeinbegriff des Gesetzes, das auf jede Moral gleichermaßen anwendbar schien, wird mit Hilfe
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der Introjektion ... plötzlich eine ganz konkrete Einzelmoral hervorgezaubert."20 Damit ist eine umfassende Antizipation ersetzt durch die Idee einer allgemeinen Menschengattung, die allerdings nur in wenigen Exemplaren vorliegt, durch die Idee "eines kleinen internationalen Vereins von Menschen, die einander achten und bemitleiden wollen".21 Es besteht so für Heim die dringliche Aufgabe, Kants Weltbild weiter und besser zu bauen!22 Heim hat dabei die Vermittlung zwischen der praktischen und theoretischen Philosophie Kants vor Augen. Die theoretische Philosophie Kants nämlich unterscheidet die Funktionen des Verstandes und der Anschauung, die die Wirklichkeit auf den Begriff bringen, doch wieder von dieser Wirklichkeit selbst, während die praktische Philosophie Kants nach Heim die Autonomie des Willens als ein Letztes setzt. Eine Lebensanschauung aber setzt sich selbst unter den Anspruch, die Welt als Einheit von Erkennen und Handeln zu erklären. Hinter diesen Anspruch darf auch die Auslegung des christlichen Glaubens nicht zurückfallen. Die Aufgabe, eine neue 'Weltformel' zu finden, ist für Heim dringlich. Denn - so Heim - die alten Antworten tragen nicht mehr.23 Als das grundsätzliche Problem der Erklärung und Deutung der Wirklichkeit gilt Heim die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt. Deren Spaltung ist für Heim das Problem der Neuzeit schlechthin.24 Entsprechend beginnt Heim sein 'Weltbild der Zukunft' mit der Vorstellung einer Weltformel, die das Wirkliche insgesamt in Verhältnissen sieht. "Wir haben es überall in der Welt, soweit wir sehen können, immer nur mit Verhältnissen zu tun und niemals mit letzten Gegebenheiten, die sich nicht wieder in Verhältnisse auseinander falten ließen."25 Konkret läßt sich nach Heim die Wirklichkeit erklären unter Berücksichtigung folgender drei Verhältnisse. Das erste Verhältnis nennt Heim das Grundverhältnis. Dieses wird von ihm in vielfältiger Weise beschrieben. Zum einen ist damit angesprochen, daß wir "in einem System von Verhältnissen" leben und "selbst ein Teil davon" sind.26 An anderer Stelle faßt Heim unter der Kategorie des Grundverhältnisses die leicht aufzudeckende Erfahrung, daß wir "nie auf ein Letztes, auf
20 AaO. 238 21 Ebd. 22 Vgl. ebd. 23 AaO. 12ff.; es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, daß diese These von dem Verfall der überlieferten Weltanschauungen den Hintergrund der Heimschen Ausführungen darstellt. 24 Vgl. aaO. 29ff. 25 AaO. 32 26 AaO. 33
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dem wir ausruhen könnten, nie auf einen Boden, der sich nicht unter uns spaltet"27, kommen. Heim versucht nun, die allgemeine Geltung des Grundverhältnisses für die Beschreibung der Wirklichkeit sowohl im Blick auf die Naturwissenschaften als auch in Richtung auf die Geschichte der Geisteswissenschaften darzulegen. Im Bereich der Naturwissenschaften sieht Heim die entscheidende Revolution des Denkens in der Ablösung des mechanistischen Weltbildes, das die unbewegte Materie als letzte konstante Größe in Rechnung stellte, durch das 'energetische Weltbild'. Die Lösung der Energie von der Materie als ihrem Träger und ihr Kennzeichen als "Verhältnis zwischen Wirklichkeiten"28 verbietet die Annahme solcher letzter Einheiten der Materie. "Es gibt keine letzten Einheiten, die sich nicht wieder als Verhältnisse aufbauen ließen."29 Die aus der Entwicklung der Naturwissenschaften zu gewinnende Einsicht in die Verhältnisstruktur des Wirklichen wird auch ansichtig im Blick auf die Bestimmung des menschlichen Personseins. Auch der Geist des Menschen ist nicht anders denn relational zu bestimmen. Das Ich ist relational durch seine Beziehungen zur Welt und sein Verhältnis zum ihm begegnenden Du gekennzeichnet; diese Relationen, in denen das einzelne Ich steht, sind wiederum relational auf andere, höhere Verhältnisse zu beziehen. Ein Ich-Du-Verhältnis ist so z.B. bezogen und bestimmt durch das Verhältnis der beiden Relationsglieder zu einer höheren Einheit-z.B. die Familie. So bezeichnet das 'Grundverhältnis' mehr als die bloße Relation zwischen zwei Relaten, nämlich "das Verhältnis zwischen Relation und Relationsglied oder, was dasselbe ist, zwischen Unterscheidung und Unterschiedenem, zwischen Verhältnis und Einheit".30 Das Ich also setzt sich selbst als Relationsglied nochmals im Verhältnis zu seinen eigenen Relationen. Damit ist gewahrt, daß das Ich nicht in seinen einzelnen Relationen aufgeht. Ein Verhältnis zwischen zwei Relationsgliedem kann als Einheit gesehen werden, relativ zu einer "höheren Relation"; so ist z.B. die Ehe als Beziehung zwischen zwei Personen im Blick auf die Gesellschaft als Einheit zu sehen. Anders herum ist eine Einheit als Verhältnis zu sehen "relativ zu den niederen Einheiten".31 So wird, um im Bild zu bleiben, die Einheit der Ehepartner für ihre eigenen Kinder zu einem lebendigen Verhältnis zwischen Vater und Mutter. Kennzeichnet der Termi27 AaO. 32 28 AaO. 157 29 AaO. 43; die Tragfähigkeit der Argumentation Heims in Richtung auf die Entwicklung der Naturwissenschaften kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, dazu vgl. die Besprechung der einschlägigen Werice Heims durch A. Neuberg in ThLZ 77 (1952), 304ff. und in ThLZ 78 (1953), 303ff. 30 AaO. 44 31 AaO. 45
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nus 'Grundverhältnis' das Sein alles Wirklichen "in einem großen System von Verhältnissen"32, so ist damit nach Heim die Bewegung des Lebendigen zwischen Identität und Differenz, Selbstzentriertheit und Selbstüberschreitung thematisiert. Die zweite Form von Verhältnissen, in die sich alles Lebendige fügt, ist das Proportionsverhältnis. So läßt sich z.B. ein musikalisches Klangphänomen in bestimmten Verhältnissen ausdrücken, die ihm gesetzmäßig zukommen. Eine Veränderung der Verhältnisse der Töne bewirkt eine Veränderung des Klangphänomens, z.B. der Melodie insgesamt. Proportionsverhältnisse, so legt Heim dar, schließen die Möglichkeit eines Umtausches der Relate aus, wenn das Verhältnis gleich bleiben soll. Proportionsverhältnisse also sind so zu kennzeichnen, daß die Relationsglieder vollkommen in ihnen aufgehen. Die dritte Form von Verhältnissen, in denen sich das wirklich beschreiben läßt, nennt Heim Umtauschverhältnisse. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß die Relate vertauscht werden können, ohne daß sich das Verhältnis selbst ändern muß. So ist z.B. nicht ohne weiteres einzusehen, warum wir die vorliegende Richtung der Bewegung eines Körpers als Bewegung nach 'rechts' behaupten sollen und nicht als Bewegung nach 'links'. Die Bewegung eines Körper ist prinzipiell nur relativ, d.h. im Blick auf die Bewegung oder Ruhe eines anderen Körpers zu bestimmen. "Ruhe und Bewegung sind also Modifikationen des gegenwärtigen Verhältnisses von zumindestens zwei Körpern zueinander".33 Vom theoretischen Standpunkt ist es völlig gleichgültig, wohin man bei Betrachtung eines Bewegungsvorganges "den archimedischen Ruhepunkt verlegt, von dem aus der Vorgang betrachtet wird".34 Die Bestimmung der Richtung einer Bewegung vollzieht sich jeweils relational zum Standpunkt des Betrachters. So nimmt, so weist Heim nach, jeder Beobachter eines Bewegungsvorganges faktisch schon immer einen Standpunkt ein. "Wir müssen also Partei nehmen".35 Diese Bemerkung Heims macht deutlich, daß die Verhältnisse als Grundmöglichkeiten der Beschreibung von Wirklichkeit nicht auf die kategoriale Erfassung des Objektiven' beschränkt sind. Gerade die Umtauschverhältnisse nennt Heim auch 'lebendige Verhältnisse', in denen sich menschliches Handeln bewegt und beschreiben läßt. Der Begriff des Umtauschverhältnisses ist also angemessen für die Situation des Lebens in seiner Nichtfeststellbarkeit. Der Begriff des Umtauschverhältnisses drückt darin die Unentschiedenheit des Lebens in seiner jeweiligen Gegenwart aus. Die 32 33 34 35
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Proportionsverhältnisse dagegen bezeichnen die Erfahrung der Unumkehrbarkeit des Lebens in seiner Zeit, wonach ein der Vergangenheit überliefertes Erlebnis immer dem jetzigen Erleben vorgeordnet bleibt. Menschliches Leben, so legt Heim abschließend dar, ist, insofern es prinzipiell in Verhältnissen ist, ein Grundverhältnis im Sinne der Einheit von Umtausch- und Proportionsverhältnissen.36 An der Fähigkeit rechter Unterscheidung zwischen den Verhältnissen entscheidet sich nach Heim die adäquate Erfassung der Wirklichkeit. Das vornehmliche Verhältnis, in dem menschliches Leben und Handeln sich bewegen, ist das Umtauschverhältnis. "Alles Zeitliche und Räumliche beruht auf Umtauschverhältnisse".37 "Wir sahen, ein Umtauschverhältnis gibt gar kein theoretisches Motiv an die Hand, sich für die eine oder andere Seite desselben zu entscheiden. Und doch zwingt es zur Entscheidung. Es wird uns schwindlig bei dieser Erkenntnis."38 So verbietet es sich, Vergangenheit und Zukunft in einem proportionalen Verhältnis zueinander vorzustellen. Zukünftiges und Erwartetes ist nicht notwendig weniger gewiß als das eben Erlebte, also Vergangene. Es gibt keine inhaltlichen Merkmale, um Vergangenheit und Zukunft in dem Sinne fundamental zu unterscheiden, daß die Zukunft allein als bedingt durch Vergangenes angesehen wird. Zukünftiges und Vergangenes stehen vielmehr in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Man meinte immer, so legt Heim dar, daß "eine gebahnte Straße aus dem Land der Vergangenheit ins Land der Zukunft"39 führt und "verwechselte das lebendige Verhältnis zwischen zukünftigen und vergangenen Ereignissen mit"40 einem starren Proportionsverhältnis. Ist das erst einmal geschehen, so können auch die Versuche, vermittels der Vermögen des menschlichen Geistes wie z.B. Erinnerung und Antizipation die jeweilige Gegenwart von Vergangenem und Zukünftigem aufzudecken, das lebendige Verhältnis dieser Zeitformen nicht vollends erhellen. Das alles sind bloße "Verlegenheitskonstruktionen".41 "Nehmen wir die Sache, wie sie sich der unbefangenen Betrachtung aufdrängt"42 - so fordert Heim -. "Die Zeit ist ein Umtauschverhältnis zwischen zwei Gliedern und hat alle Eigenschaften eines Umtauschverhältnisses".43 Darin ist die Zeit das Umtauschverhältnis schlechthin, weil sie 36 37 38 39 40 41 42 43
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zwei umtauschbare Möglichkeiten darbietet, "die theoretisch gleichberechtigt sind, von denen aber in Praxis jederzeit immer nur eine gewählt werden kann".44 Das bedeutet für Heim: Jede Unterscheidung zwischen zwei Inhalten und zwei aktuellen Handlungsmöglichkeiten ist gar nicht anders denkbar als durch ihre zeitliche Differenzierung. Die Differenz zwischen zwei Ereignissen ist nur als zeitliche kenntlich zu machen. So hat zu gelten, daß die Zeit "das zweifache Umtauschverhältnis"45 schlechthin ist. Damit meint Heim nicht, daß zwei zeitlich differenzierte Ereignisse einfach austauschbar sind, sondern daß die Beurteilung ihrer Relation und deren Deutung willkürlich ist. "Unsere ganze Zeitrechnung ist ein solcher Wahlakt, durch den eine bestimmte Ordnung der Ereignisse als die vorherrschende Zeitrichtung gesetzt wird".46 Die Beurteilung z.B. der Relation zweier Glockenschläge als einer unumkehrbaren Folge ist nicht zwingend. Denn in lebendiger Erinnerung kann dem sich erinnernden Bewußtsein das zeitlich Spätere als Früheres erscheinen. Das läßt sich nicht nur auf eine mögliche bloße Täuschung zurückführen; denn dem Menschen überhaupt kann Vergangenes oder Zukünftiges, ohne daß es in strenger und unumkehrbarer zeitlicher Folge dem Bewußtsein vorliegt, unmittelbar gewiß werden. Ferner gilt, wenn denn die Zeit das Umtauschverhältnis schlechthin ist, daß sie auch den Bedingungen eines Grundverhältnisses überhaupt unterliegt. Das bedeutet, jedes Verhältnisglied kann sich selbst "in ein Verhältnis entfalten".47 Das Vergangene z.B. kann selbst als ein 'Jetzt' gesehen werden, das ein bestimmtes Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft vorstellig macht und zugleich kann ein Verhältnis, d.h. ein 'Jetzt', "als Glied in ein höheres Jetzt-Verhältnis"48 eintreten. Jedes 'Jetzt' kann als zukünftiges oder vergangenes Ereignis erwartet bzw. erinnert werden. "Eine Zeitstrecke ist ein Verwandlungsprozeß, in dem Jetztverhältnisse zu Gliedern innerhalb neuer Jetztverhältnisse werden und umgekehrt."49 So zeigt sich jedes Ereignis in einem geschichtlichen Kontext und insofern als ein Verhältnis von Erwartung und Erinnerung. Und jedes Jetzt, in dem Erwartung und Erinnerung in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, wird selbst zu einem Erinnerten, das je neu im Verhältnis zu anderem Erinnerten und Erwarteten treten wird. "Die Kinder werden immer wieder zu Vätern, und die Väter werden immer wieder zu Kindern".50 Die 44 45 46 47 48 49 50
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Ebd. Ebd. Ebd. AaO.52 Ebd. Ebd. Ebd.
Zeit ist das Bild für die Verhältnisstruktur der Wirklichkeit und als 'zweifache Umtauschrelation' das je neue Setzen des Wirklichen. So ergibt sich wohl, daß auch die Zeit Proportionsverhältnisse aus sich heraus setzt und durch sie bestimmt ist. Denn die Zeit kann gemessen werden und so in einer unumkehrbaren Bewegung aufgefaßt werden. "Aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß wir in der Tat keinen anderen Anhaltspunkt für die Abmessung einer Zeitstrecke haben als die Zahl der während derselben vollziehbaren inhaltlichen Unterscheidungen bzw. das Verhältnis, in dem diese Zahl zu der in einer anderen Zeitstrecke enthaltenen Unterscheidungszahl steht."51 Die Lebenszeit ist kein lebloses Proportionsverhältnis, sondern die je neu gesetzte Einheit der Verhältnisse des Lebens. "Dies läßt sich durch sehr einfache Experimente veranschaulichen".52 So ist die Zahl der inhaltlichen Unterscheidungen in der Zeit umgekehrt proportional zur Schnelligkeit einer Bewegung oder eines Prozesses. Von einem langsam fahrenden Zug aus sind die 'vorbeifliegenden Gegenstände' besser zu unterscheiden als von einem wesentlich schneller fahrenden Zug aus. Also je kürzer die Zeit ist, desto weniger Unterscheidungen sind in der Zeit möglich. Der Zeit entspricht also die in ihr mögliche Unterscheidungszahl. Die Zeitmaße beruhen, so versucht Heim deutlich zu machen, auf der Reduzierung der Zeitlängen auf "Summen inhaltlicher Unterscheidungen".53 So messen wir ja die Zeiten nach Planetenumläufen, Pendelschwingungen usw. - also anhand von Erscheinungen, "die inhaltlich annähernd gleichförmig verlaufen".54 "Der Schluß aus dem Zeitinhalt auf die Zeitlänge hat nur Sinn, wenn inhaltliche Mannigfaltigkeit und Zeitlänge im Grunde ein und dasselbe sind."55 Damit ist für Heim aufgewiesen, daß die Zeit nach inhaltlichen Unterscheidungen gemessen wird. Die Zeit ist damit nicht angemessen im Sinne "der herkömmlichen Zeitauffassung"56 als leere und ungefüllte Zeit zu denken, in die sich alles Zeitliche einordnen läßt. Aus der Einsicht in die Art und Weise der Zeitmessung ist vielmehr der Schluß zu ziehen, daß die Zeit das Verhältnis inhaltlicher Unterscheidungen ist. Zeit ist, so könnte anders formuliert werden, das je neue Setzen der Verhältnisse der Zeit. Wie wird z.B. verständlich, daß im Traum oder 51 Ebd.; die in einer unumkehrbaren Bewegung begriffene Zeit nennt Heim die physikalische Zeit (aaO. 40). Dieser Auffassung der Zeit, die für die Untersuchungen und Versuche der Physik notwendig sein mag, setzt Heim den Gedanken der wirklichen Zeit entgegen (vgl. L. Schiaich, Zur Theologie Karl Heims, in: ZZ7 (1929), 461ff„ hier 465). 52 Weltbild der Zukunft, 52 53 AaO. 53 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd.
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Halbschlaf in einem Augenblick vor den Augen eines Schlafenden sein ganzes Leben ablaufen kann? Dem Träumenden ist die Länge der Zeit, in der er vor sich sein vergangenes Leben 'ablaufen' sieht, nicht bewußt und kaum erinnerbar. "Es gibt keinen neutralen Gerichtshof, der über Wirklichkeit und Unwirklichkeit von Träumen und Wachen und über Richtigkeit und Unrichtigkeit der beiderseitigen Zeitmaße entscheiden könnte. Es gibt nur zwei Parteimeinungen, die theoretisch gleichberechtigt sind, von denen wir uns aber jederzeit notwendig einer anschließen müssen."57 Vom rein theoretischen Standpunkt aus lassen sich nach Heim Erlebnis und äußerer Zeitablauf überhaupt nicht gleichzeitig setzen, wenn denn gilt, daß sowohl das innere Erleben als auch der äußere Zeitablauf in ihrem Zeitmaß auf dem Grund der inhaltlichen Mannigfaltigkeit bestimmt werden. Infolge der faktischen "inhaltlichen Orientierung des Zeitmaßes"58 lassen sich die "verschiedenen Welten"59 nie in ein einheitliches Zeitmaß zwängen. Form und Inhalt lassen sich im Blick auf die Zeit nach Heim nicht auseinander halten. Insofern sind zeitliche Verhältnisse niemals auf Proportionsverhältnisse reduzierbar. Gewiß lassen sich Zeitverhältnisse "immer irgendwie in Zahlenverhältnissen"60 ausdrücken; aber die arithmetische Darstellbarkeit der Verhältnisse hat seine Grenze dort, wo wir auf Verhältnisse stoßen, "deren Summierung vielmehr das Dasein von Verhältnissummen erst möglich macht."61 Solche Verhältnisse sind die Verhältnisse zwischen zeitlichen Empfindungsinhalten, die äußerlich nicht mehr darstellbar sind. Diese Verhältnisse sind nur noch als zweifache Umtauschverhältnisse denkbar. Die impliziten Folgerungen aus den referierten Ausführungen Heims sind hinsichtlich der Bestimmung des Zeitbegriffs nun festzuhalten. - Der zeitliche Erlebnisinhalt hat hinsichtlich der Bestimmung der Zeit die Priorität. - Die Zeit ist nach Heim das lebendige Verhältnis, in dem sich gegenwärtiges menschliches Leben abspielt. - Das gegenwärtige Erleben ist die jeweilig gesetzte Einheit von Zukunft und Vergangenheit. - Die Auffassung der Zeit als einer ununterbrochenen Folge gleichgültiger Zeitinhalte entspringt der spezifischen Zeitlichkeit menschlichen Erlebens. Diese auch von Heim sogenannte vulgäre Auffassung der Zeit
57 58 59 60 61
386
AaO.54 AaO. 54f. AaO. 55 AaO. 56 AaO. 57
manifestiert den Widerstand des Menschen gegen die Entscheidungssituation seines Lebens. Damit beantwortet Heim die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Zeit als Umtauschverhältnis und als Proportionsverhältnis mit der Unterordnung der letzteren Auffassung unter die erste. - Zeit ist somit für Heim wesentlich das 'Zeit-haben-für' des in seiner Gegenwart geforderten Menschen. - Darin ist die Zeit unmittelbarer Ausdruck für die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens in seinem ständigen Zwang zur Entscheidung. Zeit kennzeichnet die Dialektik des Lebens zwischen Selbstverfügung und Unverfügbarkeit.
b) Die Verhältnisstruktur der Wirklichkeit und die Frage der religiösen Gewißheit Inwiefern klärt und erhält die Einsicht in das Wesen der Zeit die Situation der Religion und die Möglichkeit religiöser Gewißheit? Auf die Beantwortung dieser Frage zielt letztlich das Buch von Heim. In der Beantwortung dieser Frage richtet sich Heim zunächst auf eine Auseinandersetzung mit theologischen Versuchen des 19. Jahrhunderts, das Thema der Religion im Kontext philosophischer Weltdeutungen zu bestimmen und zu entfalten. Es geht nach Heim auf keinen Fall an, "der Religion eine Ausnahmestellung innerhalb des geistigen Lebens"1 dadurch zu wahren, daß man den Glaubensaussagen ein Sondergebiet reserviert, "auf dem eine Art des Behauptens und Schließens zu Recht besteht, die man auf jedem anderen Gebiet keinem wissenschaftlichen Forscher verzeihen würde".2 Die Glaubensgewißheit kann sich also nur im Kontext der Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein behaupten. Die die Theologie des 19. Jahrhunderts wesentlich bestimmenden Versuche Schleiermachers und Ritschis ordnet Heim gleichermaßen unter diese unstatthaften Bemühungen ein. In der Reservierung einer eigenständigen 'Seelenfunktion' für die Religion, nämlich für das Gefühl der Abhängigkeit bei Schleiermacher3, und in dem Ritschlschen Versuch, "den Anspruch der Religion auf Sonderrechte auf das Selbstbewußtsein der ethischen Persönlichkeit"4 zu gründen, sieht Heim ein fehlgeleitetes apologetisches Interes-
1 2 3 4
Weltbild der Zukunft, 242 Ebd. AaO. 243f. AaO. 248
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se am Werk. Auf die Gewißheit der Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur - so formuliert Heim im Blick auf Ritsehl - lassen sich weder eine natürliche Gotteserkenntnis noch religiöse Gewißheit überhaupt gründen.5 Die Theologie muß vielmehr alle ihre Aufgaben vor dasselbe "unerbittliche Forum der Erkenntniskritik" bringen, "vor dem die mathematischen, naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Behauptungen" ebenfalls Anerkennung finden müssen.6 Das ist nun einmal die Situation der Theologie in der Neuzeit und insofern ein Anspruch, dem sie selbst gerecht zu werden sich bemühen muß. "Subjektive Wünsche finden vor diesem Forum kein Gehör".7 Das persönliche Interesse des Theologen kann gewiß nicht einfach unterdrückt werden, ist aber bei der Begründung der Glaubensgewißheit nicht von Belang. Wie aber, wenn die Prinzipien, nach denen die Glaubensaussagen wie alle anderen Aussagen vor dem allgemeine Forum des Geistes beurteilt werden, atheistisch wären - also solche Prinzipien, vor denen Aussagen des Glaubens schlechthin nicht bestehen können? Diese Möglichkeit gesteht Heim durchaus zu, wenn die Theologie sich dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein aussetzt. Aber Heim ist sich sicher, daß nur eine unkritische Deutung und Rezeption der Prinzipien neuzeitlicher Welterkenntnis dazu führen würde, daß die Theologie auf dem Hintergrund des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins keinen Platz mehr hätte. Die Prinzipien der neuzeitlichen Welterkenntnis sind nach Heim genauer das Prinzip der 'Ich-Introjektion' 8 und die absolute Geltung des Kausalitätsprinzips. Die absolute und unkritische Geltung dieser Prinzipien sind allerdings mit dem Gottesglauben unvereinbar und ihre Akzeptanz würde das Ende von Religion und Theologie bedeuten müssen.9 Dabei weist Heim darauf hin, daß Schleiermacher und Ritsehl als die Exponenten einer solchen Theologie, die ein Reservat für die Religion erstellen wollen, diese Prinzipien implizit anerkennen. Das macht ihre Versuche der Rettung der Theologie und ihres Themas so verworren und als solche schwer durchschaubar. Denn sie erkennen diese Prinzipien der Welterkenntnis an und bauen auf sie, die sich doch dafür überhaupt nicht eignen, ein Reservat für Glaubensaussagen. In ihrem Festhalten an den beiden Prinzipien neuzeitlicher Welterkenntnis - Schleiermacher bezieht sich eher auf die Geltung des Kausalitätsprinzips, Ritsehl eher auf das Prinzip der 'Ich-Introjektion' - wollen 5 6 7 8 9
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Vgl. aaO. 245, 249 u.ö. AaO. 252 Ebd. AaO. Vgl. aaO. 261
die beiden Theologen die Apologie der christlichen Religion so betreiben, daß sie die Theologie auf dem Grunde allgemeiner Erkenntnisprinzipien fundamentieren. Die genannten Prinzipien neuzeitlicher Welterkenntnis aber will Heim fundamental kritisieren als die Formen, "in die die Religion schon zu lange eingezwängt war".10 Die Kritik an diesen Prinzipien richtet sich darauf, daß sie die natürliche Lebendigkeit des Daseins weder abbilden noch erklären können. Die natürliche Lebendigkeit meint nach Heim das 'Sein des Lebens in der ständigen Entscheidung'. Das 'Sein in der Entscheidung' kennzeichnet das Leben, das seine Zukunft je neu antizipiert und so seine Wirklichkeit setzt. Hinter dieser Beschreibung der Lebendigkeit des Daseins verbirgt sich Heims Situationsanalyse. Die geistige Situation der Zeit ist nach Heim bestimmt durch den Streit um den Sinn der Wirklichkeit, durch den Streit um die rechte Zukunftsantizipation. Jede Zukunftsantizipation vollzieht sich als geschichtliche Grundtat des Ich im Jetzt. Die Zeit ist die Wirklichkeit, in der sich das Ich in seinen Verhältnissen, in denen es steht, je und je entscheidet - für den Gottesglauben gegen die Skepsis, für die Annahme der Versöhnung gegen den Versuch unmittelbarer Selbstbehauptung. Darin setzt das sich entscheidende Ich je und je neue Wirklichkeit. Denn "alle Wirklichkeit ist die Entscheidung von Grundverhältnissen und Umtauschverhältnissen, also die Konstituierung von Endlichem".11 Durch die Aufdeckung der so bestimmten Zeitlichkeit des Lebens ist damit nicht nur verdeutlicht, daß das Leben die Wirklichkeit im Entscheidungsakt je neu setzt; darüber hinaus ist die religiöse Gewißheit - und darauf zielt die Argumentation Heims - als endlicher Willensakt, der sich ein göttliches Gegenüber setzt, als eine mögliche Zukunftsantizipation plausibel gemacht. Die religiöse Grundentscheidung ist auf dem Hintergrund der allgemeinen Charakterisierung des Lebens verständlich geworden und als eine Möglichkeit des Daseins verifiziert. Aus der formalen Analogie der religiösen Entscheidungstat mit anderen Zukunftsantizipationen folgert Heim, daß die religiöse Gewißheit ein phänomenologisch Letztes ist. "Auf die Frage nach dem Recht dieser Gewißheit verweigert die Theorie die Antwort".12 Die theoretische Unableitbarkeit aber verbindet die religiöse Gewißheit mit allen anderen Zukunftsantizipationen. Jeder Entscheidungsakt des Lebens ist als je jetziger theoretisch unableitbar; in ihrer Punktualität richtet sich jede Entscheidungstat des Glaubens zugleich auf ein einzelnes Gegenüber und setzt sich selbst ins Verhältnis zu einer die
10 AaO. 262 11 AaO. 269 12 AaO. 270
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gesamte Wirklichkeit konstituierenden Macht. So folgert Heim aus der spezifischen Zeitstruktur jeder Entscheidung, daß die monotheistisch geprägte Religion die höchste Form der Zukunftsantizipation darstellt. Der Monotheismus ist nicht nur die am höchsten entwickelte Form religiöser Gewißheit, sondern die höchste Stufe jeder Zukunftsantizipation überhaupt, weil in ihr die Wirklichkeit als Einheit gesetzt ist. Damit bringt der monotheistische Glaube zum Ausdruck, daß ich mich "in jedem Zeitpunkt .. nur auf einem Standpunkt befinden und nie auf mehreren zugleich" sein kann.13 Aus der Punktualität der Glaubensentscheidung und ihrer daraus folgenden Analogie mit allen anderen Willensentscheidungen folgt für Heim die theoretische Unableitbarkeit des Glaubens. Es gibt keinen theoretischen Grund für eine konkrete Entscheidung über das letzte Weltziel, "also ist schon das bloße Unternehmen einer Apologetik oder theoretischen Begründung des Glaubens verfehlt."14 13 AaO. 273f. 14 AaO. 275; in dieser Bemerkung Heims liegt der Haupteinwand gegen das Buch W. Ruttenbecks, Die apologetisch-theologische Methode Karl Heims, 192S. Heim selbst hat den Begriff der Apologetik zwecks der Kennzeichnung der Methode der Theologie 1904 und auch noch später mehrfach abgelehnt, obgleich Heim die Arbeit Ruttenbecks in seiner Einführung zu seinem Aufsatzband 'Glaube und Leben' positiv rezipiert hat (Heim, Glaube und Leben, 12). Die Gründe für die Ablehnung des Begriffs der Apologetik liegen bei Heim darin, daß die von Heim vorgenommenen Analysen der allgemeinen Erkenntnisprinzipien zwar die Plausibilität der religiösen Entscheidung als eine mögliche Gewißheitsform erhellen wollen; die Entscheidung des Glaubens aber wird nach Heim durch diese Analysen weder begünstigt noch ermöglicht Der Grund des Glaubens ist nach Heim das Innewerden der Gegenwart des göttlichen Geistes im menschliche Geist im Akt der Glaubensentscheidung. "Der Glaube kann durch eikenntnistheoretisches Nachdenken weder erschwert noch erleichtert, weder verhindert noch ermöglicht weiden" (K. Heim, Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, 19233, III). Die in seiner Schrift 'Das Weltbild der Zukunft' von Heim gestellte Frage, ob "die religiöse Gewißheit auf dem Wege religiösen Erlebens oder wissenschaftlicher Untersuchung" (Weltbild der Zukunft, 292) entsteht, beantwortet Heim immer mit dem Hinweis darauf, daß der Grund der Glaubensentscheidung in der Gewißheit der Gegenwart des göttlichen Geistes liegt. Die Berechtigung der Arbeit Ruttenbecks aber liegt trotz allem darin, daß Heim in der Tat die irrationale Entscheidung des Glaubens in ihrer Irrationalität plausibel machen will; als praktische Lebensentscheidung ist der Akt des Glaubens theoretisch unableitbar und gerade darin unwiderlegbar, weil die Analyse der Zeitstruktur menschlichen Lebens dieses in einer je neuen Setzung der Verhältnisse der Wirklichkeit erhellt hat. Das hat Ruttenbeck richtig gesehen (AaO. 34, 57, 77, u.ö.). Die Methode Heims in seiner Frühschrift kennzeichnet Ruttenbeck treffend als eine 'haimonisierende Methode', die darauf aus ist, die Glaubensgewißheit als fundamentale Zukunftsantizipation zu entwickeln. Fraglich ist allerdings, inwiefern sich die Methode Heims in seinem Gewißheitsbuch gegenüber seiner Frühschrift entscheidend geändert hat (so Ruttenbeck, aaO. 19ff.). Das Gefälle der Argumentation Heims in seiner Frühschrift kommt in dem Schlußsatz der Arbeit Ruttenbecks allerdings gut zur Geltung: "Heim ist Apologet, weil, ja indem ex Evangelist ist" (aaO. 82).
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Heim unterstreicht die theoretische Unableitbarkeit jeder Zukunftsantizipation dadurch, daß er auf die 'antinomische Struktur' des Lebens hinweist. Das Dasein ist die je und je erfolgende Entscheidung zwischen Möglichkeiten, deren jeweilige Präferenz gegenüber einander theoretisch nicht aufweisbar ist. Gerade darin ist die religiöse Entscheidung nach Heim "ein letzter Überrest der ursprünglichen Gesundheit des Denkens"15, weil nur in der religiösen Entscheidung "die geheimnisvolle Lebendigkeit alles Wirklichen" empfunden wird.16 Die Lebendigkeit des Daseins in der religiösen Entscheidung wird daraus ersichtlich, daß die religiöse Entscheidung als Entscheidung über Umtauschverhältnisse gedacht wird. Dieser Sachverhalt berücksichtigt, daß das Leben im Blick auf seine letzte Sinngebungen sich je neu versichern muß. Das Leben steht in sich selbst und von sich selbst her je neu auf dem Spiel. Anders formuliert: das Endliche muß je neu auf den Gedanken des Unendlichen hin bezogen werden. Die Gefahr der Ersetzung des lebendigen Umtauschverhältnisses durch ein Proportionsverhältnis ist die ständige Gefahr jeder Theologie oder Weltanschauung. Diese Gefahr liegt darin, daß die Theologie voraussetzt, die Entscheidung über die Zukunft der Welt sei bereits gefallen, "irgend etwas Diktatorisches, Unabänderliches" habe den Menschen bereits "auf die eine Seite hinübergerissen".17 "Man hat im Schlaf gesiegt."18 Das Leben steht aber von sich selbst her ständig neu auf dem Spiel. Die Auflösung seiner antinomischen Struktur bedeutet deshalb nichts anderes als die Erstarrung des Lebens. Die Behauptung einer möglichen Theologie, eine bestimmte Zeit der Vergangenheit habe über die Zukunft der Welt schon absolut entschieden, drückt so nach Heim wesentlich die Lebensferne dieser Theologie aus. Die unauffindbare Antinomie zwischen der "Relativität aller Verhältnisse und dem Bedürfnis nach Absolutheit"19 ist nun einmal die Grundantinomie, die alle Wirklichkeit bestimmt und so "die höchste Antinomie des Daseins"20. " Wir können uns schlechterdings keine Welt denken, die von dieser Antinomie frei wäre".21 Damit ist aber auch der Skeptizismus als eine sich absolut setzende Weltanschauung überwunden. Das Leben ist so verfaßt, daß es sich je neu auf seinen Sinn zu entwerfen hat. Das Leben ist die ständige Forderung zur
15 16 17 18 19 20 21
Weltbild der Zukunft, 256 Ebd. AaO. 284 AaO. 285 AaO. 293 AaO. 294 AaO. 295
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Entscheidung. Das macht seine Zeitlichkeit aus, daß es je neu Antizipationen seiner möglichen Zukunft zu vollziehen hat unter Berücksichtigung seiner Geschichte.22 "Der Glaube an das isolierte Dasein eines weltentrückten, rein theoretischen Standpunktes, von dem aus wir uns die ganze Welt behaglich aus der Vogelperspektive besehen können, ist in der Tat unser letztes und ältestes Vorurteil."23 Das Dasein hat das Moment seiner Unentschiedenheit, seines nur "theoretischen Standpunkts" "immer nur als Übergangspunkt zur Entscheidung".24 Das Programm dieser Frühschrift Karl Heims25 gibt einen guten Einblick in die sich durchhaltenden Prinzipien des Denkens des Tübinger Theologen. Es geht Heim nicht um die Entwicklung eines Systems des christlichen Glaubens.26 Heims Interesse richtet sich, wie gesehen, auf die Rechtfertigung des Glaubens als eine mögliche Lebenshaltung und Weltanschauung im Kontext des modernen Wahrheitsbewußtseins. Heim will die Zeitgenossenschaft des Theologen, des glaubenden Theologen. Die Wirkung der Theologie Heims ist denn auch nicht so sehr im Blick auf die kirchlichen und theologischen Kreise, sondern eher im Blick auf außerkirchliche Gruppen zu konstatieren. Ob Heim dies gefallen hat und heute gefallen würde, sei hier dahingestellt. Wegen der Defensive, in die die christliche Religion in der Neuzeit geraten ist, bleibt der Theologie aber nach Heim gar nichts anderes übrig, als die christliche Theologie als eine Lebensfrage zu entdecken und zu entwickeln. Deshalb gilt das entscheidende Interesse Heims zunächst der Analyse der religiösen Gewißheit als eine praktische Lebenshaltung. Die religiöse Entscheidung bleibt dem theologischen Denken vorgeordnet. Es gilt Heim als sicher - und damit ist er ganz der schwäbische Pietist, dem es auf die gläubige Annahme des lebendigen 22 Nach den Worten Heims ist das wesentliche Ziel, das ihn selbst in seiner Schrift 'Das Weltbild der Zukunft' am Herzen liegt, darin zu sehen, den Skeptizismus und die Tendenzen zum Nihilismus als mögliche und akzeptable Weltanschauungen zu widerlegen. Ihm kommt es darauf an, demgegenüber die Freude und die Lust am Leben zu wecken (Weltbild der Zukunft, 90f„ 325 u.ö.). Zu dieser Intention seines Buches vgl. A. Köberle, Karl Heim. Denker und Verkündiger aus evangelischem Glauben, 1973,15f., 32ff. 23 Weltbild der Zukunft, 297 24 Ebd. 25 Zu der sehr ambivalenten Rezeption dieser Frühschrift Heims vgl. besonders das Nachwort von K.H. Rengstorf, in: K. Heim. Das Weltbild der Zukunft, 1980, 321ff. 26 Heim hat verschiedentlich versichert, daß die systematische Darstellung der Lehrsätze des christlichen Glaubens nicht an der Zeit sei in einer Zeit, in der der christliche Glaube in radikale Fraglichkeit geraten ist (vgl. z.B. das Vorwort Heims zu seiner Schrift 'Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung ', 1931, V); mit der Versicherung, es mangele nicht an dogmatischen Lehrbüchern, die die Lehre der evangelischen Kirche umfassend darstellen, hat sich Heim dem 'grimmigen Gelächter' Karl Barths ausgesetzt, (vgl. Karl Barth an Karl Heim, in: ZZ9 (1931), 451)
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Christus als des Herrn ankommt27 -, daß die religiöse Gewißheit nur auf dem Wege religiösen Erlebens zustande kommt und sich bewähren kann. Aber die fides fragt nach Einsicht. Darin gewinnt sie für Heim erst ihre Weite als eine mit anderen konkurrierende Weltanschauung. Gerade weil Heim so stark vom südwestdeutschen Pietismus geprägt war, war er sozusagen unverdächtig, in der Reflexion des Glaubens dem theologischen Denken eine entscheidende Bedeutung auch für das Selbstverständnis des Glaubens zuzumessen. Der Glaube ist als Entscheidung im Sinne einer mit anderen Lebensentscheidungen konkurrierenden Zukunftsantizipation von sich aus darauf aus, sich selbst als eine zentrale Lebensdeutung im Lebensvollzug zu bewähren. Ja, noch besser, der Glaube stellt sich unter den Anspruch, eine sich angesichts der Lebenswirklichkeit zu bewährende Lebensdeutung zu sein. Damit geraten Glauben und Theologie notwendig in Widerstreit zu erkenntnistheoretischen Prinzipien der Zeit. Heim nennt zusammenfassend "fünf Hauptpunkte", "an denen die heutige Theologie mit ihren eigenen erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Voraussetzungen im Kampf auf Leben und Tod steht".28 Als diese fünf Hauptpunkte, in denen sich die Auseinandersetzung der christlichen Religion mit den Erkenntnisprinzipien der Zeit festmacht, nennt Heim zunächst das Prinzip der 'Ich-Introjektion', das nach Heim darin zu sehen ist, daß alle Willens- und Lebensäußerungen "rettungslos in eine innermenschliche Subjektivität eingeschlossen"29 sind; darin macht dieses Prinzip die Gewißheit über die Realität einer transsubjektiven Beziehungsgröße des Menschen unmöglich. Zweitens führt Heim als eine dem Glauben widerstreitende Auffassung des modernen Bewußtseins die These an, alle Gefühls- und Willensäußerungen seien bloße psychologische Funktionen.30 Die Anwendung der Ich-Du-Relation auf das Gottesverhältnis des Menschen müßte danach als Ausdruck bloßer Projektionswünsche gedeutet werden. Um dies zu vermeiden, muß Gott offenbar als ein bewußtloses Wesen gedacht werden, damit der Glaube der Gefahr, die Vorstellung des endlichen Ich in den Gedanken des Personseins Gottes einfach zu projizieren, entgeht. Es sei denn, man macht im Blick auf Gott eine Ausnahme und behauptet die völlige Andersheit seines Personseins. "Das ist aber eine Notannahme, der man die theologische Herkunft und das schlechte wissen-
27 Vgl. die Biographie Karl Heims, in der er mehrfach darauf hinweist, das persönliche Verhältnis zu Christus könne gar nicht anders gedacht werden als eine "bedingungslose Kapitulation" (49); vgl. Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten, 1957,49f., 92f. u.ö. 28 Weltbild der Zukunft, 261 29 AaO. 257 30 Vgl. ebd.
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schaftliche Gewissen schon von weitem ansieht"31. Ferner impliziert die Lokalisierung des Bewußtseins im Gehirn, verbunden mit dem Prinzip der Ich-Introjektion die relative Abgeschlossenheit jedes Subjekts. Unter der Herrschaft der absoluten 'Ich-Auffassung' ist von der Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist, von dem Ergriffenwerden des menschlichen Geistes nur schlecht und unzureichend zu reden. Schließlich schränkt die das Kausalitätsprinzip kennzeichnende "schrankenlose Herrschaft über die ganze Wirklichkeit"32 die Rede des Glaubens von der Weltregierung Gottes fundamental ein. Der Gottesgedanke, so erklärt Heim in scharfsichtiger und prophetischer Analyse, läßt sich mit der herrschenden naturwissenschaftlichen Welterklärung nur vermittels und bei Annahme der Kontingenz des Naturgeschehens bzw. der Einsicht in die Unmöglichkeit der lückenlosen Erklärung des Weltgeschehens im ganzen halten.33 Im Blick auf diese Hauptpunkte, in denen sich die Auseinandersetzung der Theologie mit der modernen Weltdeutung zusammenfaßt, entwikkelt Heim die Einsicht in die Polarität und dimensionale Gespaltenheit des Lebens. Diese Einsicht gewinnt nach Heim in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zunehmend an Einfluß.34 Heim sieht viele Versuche der Welterklärung von der Einsicht bestimmt, daß die Natur- und Kulturgeschichte jeweils durch lebendige Energieströme erfüllt und bewegt sind, die das Wirkliche in ständig neuen Möglichkeiten und Entscheidungen sehen. Insofern gibt das dem Buch vorausgestellte Motto aus den Upanischaden: 'Seele nur ist dieses Weltall' die Grundintention Heims wieder. Die Verhältnisstruktur alles Lebendigen bestimmt auch den Akt religiöser Gewißwerdung; die grundsätzliche Analogie mit allen anderen Willensentscheidungen, die den Akt religiöser Gewißwerdung nach Heim kennzeichnet, ist nicht überwindbar. Mit E. Troeltsch lehnt Heim alle Versuche der Theologie, den Absolutheitsanspruch der christlichen Religion im Zusammenhang des menschlichen Geisteslebens zu setzen, ab; wobei sich der Einwand Heims auch gegen den Versuch von Troeltsch richtet, das Christentum als Konvergenzpunkt aller Entwicklungsrichtungen der Religion zu erweisen.35
31 Ebd. 32 AaO. 259 33 Vgl. A.M.K. Müller/W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, 1970, bes. Pannenberg, aaO. 33ff. 34 Vgl. z.B. den Bezug Heims auf die Einsichten des Chemikers Ostwald, Weltbild der Zukunft, aaO. 15 Iff. 35 Vgl. Weltbild der Zukunft, 278f. Unter wahrscheinlicher Bezugnahme auf E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, 1969 (1929), 84ff.
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Was folgt nun aus der Deutung des Glaubens als eine unableitbare Entscheidungstat? - Das Verhältnis des endlichen Ich zum göttlichen Du ist ein "oszillierendes Wechselverhältnis zwischen Identität und gegenseitiger Unterscheidung".36 Damit wird die Einsicht in die Endlichkeit des Menschen und seiner Verhältnisse Rechnung getragen sowie die dimensionale Vielfältigkeit, in der sich menschliches Leben vorfindet, auch im Blick auf die Gottesbeziehung des Menschen berücksichtigt. - Die lebendige Beziehung von Identität und Unterschiedenheit im Blick auf das Gottesverhältnis des Menschen wird in der Trinitätslehre als Verfassung des göttlichen 'Ich' gedacht. "Das übergreifende göttliche Ich ist mit dem Ich seiner Selbstoffenbarung eins und doch wieder nicht eins"37. Die Trinitätslehre sichert nach Heim die Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit im Blick auf das menschliche Gottesverhältnis und damit dessen Lebendigkeit. Damit ist die Freiheit des Menschen als Selbstunterscheidung von Gott und Entscheidung für Gott gedanklich gesichert und in der Gotteslehre selbst berücksichtigt. Damit drückt die Trinitätslehre zugleich "das Geheimnis aller Willensverhältnisse" schlechthin aus.38 - Die menschliche Zeit kommt damit zu ihrer eigentlichen Bestimmung als Zeit für die Ewigkeit. Der Mensch in seiner Zeit - und das ist gerade die Garantie für die Freiheit des Menschen - kann sich auf die Ewigkeit Gottes als die Kraftquelle aller Zeit beziehen, insofern nämlich Gott die ständig bewegte Einheit von Identität und Selbstunterscheidung ist, oder aber sich dem Skeptizismus und der Resignation überlassen, indem er sich auf sich selbst stellt. Aber weder kann er damit leben noch entspricht er damit der Verfassung der Wirklichkeit in ihrer dimensionalen Gespaltenheit; der sich auf sich selbst stellende Mensch wird nach Heim einsam. Der von Heim in seinem Frühwerk durchgeführte und hier von uns kurz skizzierte Versuch, die christliche Gewißheit im Kontext modemer Weltdeutungen zu begründen und plausibel zu machen, ist von Heim selbst bald kritisiert worden. Nach seinen eigenen Worten brachte dieses Frühwerk "zwar die Majestät der aus keinem Denken ableitbaren Urentscheidung zum Ausdruck, mit der Christus ergriffen wird. Aber es entstand die Frage, warum wurde die Gemeinde bei ihrer Entscheidung für Christus nicht durch den naheliegenden relativistischen Einwand 36 Weltbild der Zukunft, 265 37 AaO. 267 38 AaO. 267
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erschüttert: Hätten wir uns nicht ebensogut für Buddha oder Mohammed entscheiden können? Ist es nicht Willkür, daß die Würfel gerade so fielen, wie sie gefallen sind?"39 Der Versuch Heims, die Plausibilität der Glaubensentscheidimg aufzudecken, wird in seinem Frühwerk erkauft mit der Inhaltslosigkeit der Glaubensentscheidung; die Inhaltslosigkeit der Glaubensentscheidung wiederum ist ein Implikat ihrer Punktualität. Die religiöse Entscheidung soll als umfassendste und allgemeinste Lebensentscheidung des Menschen so gedacht werden, daß sie alle anderen Entscheidungen des Lebens umgreift; aber diese Entscheidung ist wegen ihrer Leere gerade als ethische Entscheidung, wie sie von Heim gedacht wird, nicht zu entwickeln. Denn gerade als ethische Entscheidung ist die christliche Zukunftsantizipation bei Heim nicht angemessen gedacht, weil sie in ihrer Punktualität letztlich nur Imperativisch formuliert werden kann. Die Plausibilität der religiösen Entscheidung wird bei Heim gesichert mit der Aufdeckung ihrer prinzipiellen Irrationalität. Darin ist die Glaubensentscheidung ein anderen Willensakten des Menschen vergleichbarer Akt unmittelbarer Selbstvergewisserung. Die Zeit, gefaßt als die im Jetzt gesetzte Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, soll nach Heim geschichtlich gedacht werden; aber die These von der Unverfügbarkeit der Zukunft wird nach Heim doch abgeschwächt durch die absolute Irrationalität der Glaubensentscheidung, die die Zukunft sichert. "Die Eschatologie wird zur Apokalyptik".40 So bleibt das endliche Ich bei Heim unversöhnbar auf sich selbst geworfen, indem es sich ständig neu dem Anspruch der Ewigkeit ausgesetzt sieht und seinem eigenen Anspruch, die Ewigkeit zu ergreifen. Das um sich und sein Leben kämpfende Dasein ist unversöhnbar, insofern der Kampf nie entschieden wird. "Heims Kennzeichnung der Unentschiedenheit paßt nur auf die aktuelle Gegenwart des vor praktische Entscheidungen gestellten Menschen".41 Es ist deutlich, daß Heim durch die Kennzeichnung der Glaubensentscheidung als 'je jetzige Tat der Entscheidung' wesentliche Aspekte christlicher Anthropologie übergehen muß.
39 K. Heim, Glaube und Leben, Zur Einfuhrung 26 40 L. Schiaich, Zur Theologie Karl Heims, ZZ 7 (1929), 461ff„ hier: 470 41 Th. Steinmann, Zur Auseinandersetzung mit Karl Heims philosophischer Grundlegung, in: ZThK 13 (1932), 27ff.,45
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2. Die erkenntnistheoretische Absicherung der Bestimmung des Glaubens als Entscheidung - Bemerkungen zu Heims Schrift über die 'Glaubensgewißheit' Das Programm der Theologie Heims ist in nuce in seiner Frühschrift enthalten. Das berechtigte zu der relativ breiten Darstellung dieser Schrift Heims in einem ersten Abschnitt. Heim ist seinem Programm mit geringen Abweichungen treu geblieben. Heim kann geradezu als ein Theologe gelten, dessen Denken sich durch außerordentliche Kontinuität auszeichnet.1 Heim hat in seinem Gewißheitsbuch den eindrücklichen Versuch unternommen, sein in der Frühschrift entwickeltes Programm auf eine breitere Basis zu stellen. Dabei ist Heim nie von dem Bemühen abgewichen, die mögliche breitere Basis von Theologie und Glaube in der erfolgreichen Auseinandersetzung mit dem Denken der Gegenwart in Philosophie und Wissenschaft zu sehen. Die Schrift Heims über das Gewißheitsproblem setzt in ihren unterschiedlichen Auflagen2 bei dem Ergebnis der Frühschrift Heims ein, die wie gesehen - in letzter Hinsicht die Irrationalität des Lebensvollzugs und damit auch jeder ethischen Grundentscheidung aufdecken wollte. Die 'Geworfenheit' des Subjektes in sein 'Daß', in dem es sich selbst und seiner Welt einen Halt zu geben versucht, stand als Kennzeichnung der Situation menschlichen Lebens am Ende der Ausführungen Heims. Diese Situation des Menschen, so versuchte Heim in seiner Frühschrift zu verdeutlichen, ist auch die Situation des Menschen coram Deo. In der augenblicklichen Entscheidung für Gott kann das Ich der Bedrohung seiner Existenz, die gerade in der irrationalen sittlichen Entscheidung ausdrücklich wird, entrinnen. 1 Heim hat sich selbst mehrfach zu den geringen Abweichungen seiner Schriften von einander geäußert. Dabei sieht er selbst den entscheidenden Fortschritt seines Denkens gegenüber seiner Schrift 'Das Weltbild der Zukunft' in einer präzisen Bestimmung des dort unbestimmt gelassenen Begriffs der Entscheidung (Heim, Glaube und Leben, 27). Der genaueren inhaltlichen Kennzeichnung der Glaubensentscheidung gilt denn das Interesse Heims nach seiner Frühschrift. Auf das systematische Konzept seiner Theologie hat diese von Heim selbst betonte Veränderung seines Denkens aber nur einen geringen Einfluß, insofern die Fassung des Glaubens als Entscheidungstat bestimmend bleibt. Die im folgenden heranzuziehende Schrift 'Glaubensgewißheit' zeigt aber allerdings, daß die erkenntnistheoretischen Überlegungen Heims der inhaltlichen Bestimmung der Entscheidungstat eine dringend notwendige Füllung und Konkretheit kaum verleihen können. 2 Die nicht unerheblichen Abweichungen der einzelnen Auflagen der Gewißheitsschrift voneinander sind gut zusammengestellt bei W. Ruttenbeck, Die apologetisch-theologische Methode Karl Heims, 1925, 47ff. und bei L. Schiaich, Zur Theologie Karl Heims, in: ZZ 7 (1929), 473ff.
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Die Schrift über das Gewißheitsproblem macht sich zur Aufgabe, diese Einsichten in Auseinandersetzung mit der kritischen Erkenntnistheorie Kants, die Heim als die Geschichte der Neuzeit bestimmende Erkenntnislehre ansieht, in eine gleichsam erkenntnistheoretische Grundlegung des Glaubens als freie Tat der Entscheidung zu überführen. Aus der Not also soll dabei gleichsam eine Tugend gemacht werden. Gerade die Irrationalität der Glaubensentscheidung und Glaubensgewißheit soll auf dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen Ausführungen Heims die Denkmöglichkeit und Plausibilität des Glaubens als eine akzeptable Weltanschauung erweisen. Dieser Erweis gelingt nach Heim deshalb, weil die Überlegungen zur modernen Erkenntnistheorie zeigen, daß jeder Wahrnehmungs- und Denkakt sich der Annahme eines nichtgegenständlichen und unableitbaren 'Erkenntniselements' verdankt. Der irrationalen bzw. vorrationalen Setzung eines perspektivischen Zentralpunktes der Wirklichkeit verdankt sich jede menschliche Erfahrung. Denn in unseren Wahrnehmungsakten stehen wir, so meint Heim, vor der irrationalen Setzung eines perspektivischen Zentralpunktes, von dem aus wir das Bild der Wirklichkeit entwerfen und wahrnehmen. Das von Heim so genannte 'Gesetz der Perspektive' macht es unmöglich, ein gleichsam objektives Gesamtbild der Wirklichkeit zu entwerfen, das den Akt der irrationalen Setzung eines zentralen Punktes, von dem aus die Wirklichkeit wahrgenommen und entworfen wird, überspringt. Darin liegt nach Heim das begrenzte Recht des Prinzips der Ich-Introjektion, dessen absolute Geltung Heim abgelehnt hatte. Gerade die intellektuelle Redlichkeit aber verbietet es, der bestimmten Setzung und perspektivischen Deutung der Wirklichkeit, die der Glaube vornimmt, indem er die Wirklichkeit als Ort der Wirksamkeit Gottes versteht, minderen erkenntnistheoretischen Rang zuzumessen als anderen Deutungen der Wirklichkeit. Jede, auch die wissenschaftliche Deutung der Wirklichkeit, verdankt sich der Setzung eines nichtgegenständlichen Zentrums, von dem aus die gegenständliche Wirklichkeit im ganzen entworfen und interpretiert wird. Heim erkennt damit zugleich die Grenzen seiner früheren Ausführungen. Die Gewißheit der Glaubensentscheidung bleibt dann, wenn sie auf den jeweiligen und wiederholbaren Akt der Entscheidung beschränkt wird, unterbestimmt. Das Dasein bleibt so letztlich mit sich allein und ist verurteilt zur ständigen Entscheidung. Die Auflösung des Weltgeschehens "in lauter lebendige Verhältnisse"3 einer Bewußtseinswirklichkeit hat unweigerlich zur Folge, daß der Inhalt jeder Entscheidung völlig unbestimmt bleiben muß. Die Konstatierung der Unableitbarkeit auch der Entscheidung
3 Heim, Glaube und Leben, 26
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des Glaubens macht diese Entscheidung beliebig und läßt ihren Gegenstand leer und unbestimmt. Hinsichtlich der von Heim beschriebenen zeitlichen Struktur des Daseins haben die Ausführungen Heims die Überbetonung der Entscheidungszeit, der 'Zeit-fiir' zur Folge. Die Absolutsetzung der Entscheidungszeit überspringt die geschichtliche Bedeutung und Ausrichtung des Glaubens. Daß sich das Bewußtsein der Erlösung an die Geschichte Gottes mit den Menschen bindet, daß die Erinnerung die Quelle der Erlösung ist, wird auf dem Hintergrund der Ausführungen Heims kaum noch deutlich. Die Konzentration des menschlichen Selbstverständnisses auf das Verstehen des Augenblicks - so macht die Selbstkritik Heims deutlich - überbetont den appellativen und Imperativischen Charakter der christlichen Verkündigung. Die Schrift über die Glaubensgewißheit hebt nun die Kennzeichnung des Glaubens als eine unableitbare und irrationale Entscheidung nicht auf. Sie versucht allerdings durch Auseinandersetzung mit der allgemeinen Erkenntnistheorie aufzudecken, daß diese Bestimmimg des Glaubens seinen Status als eine mögliche Gewißheitsform menschlichen Lebens nicht einschränkt. Nach dem Maßstab möglicher menschlicher Gewißheit überhaupt, wie sie die allgemeine Erkenntnistheorie aufdeckt, ist die Glaubensgewißheit - so will Heim nun zeigen - den anderen Formen der Gewißheit analog. Es geht Heim also um den Aufweis der Denkmöglichkeit des Glaubens als eine mögliche Form der Selbstvergewisserung des Daseins. Heim unterscheidet in seinem Buch zwei grundsätzliche Formen möglicher Gewißheit, die sowohl im unmittelbaren Lebensvollzug als auch in der Erkenntnistheorie unterschieden werden.4 Die erste Form möglicher Gewißheit nennt Heim die Gewißheit über 'unmittelbar Gegebenes'.5 Diese Gewißheit hängt an der Gegenwart des für die sinnliche Wahrnehmung Gegebenen. Denn nur das den Sinnen unmittelbar Gegenwärtige ist wirklich gewiß. Diese Form der Gewißheit nimmt deshalb ab mit der zeitlichen Distanz zu dem Gegebenen. Darin aber erschöpft sich das menschliche Leben nicht. Jedes menschliche Leben vollzieht sich im Zusammenhang 'personaler Relationen'. Jedes Verhältnis eines Ich zu einem Du aber hängt an der Möglichkeit und
4 Daß sich seine Ausführungen gerade im Blick auf das Gewißheitsbuch wesentlich den Untersuchungen Rickerts verdanken, hat Heim mehrfach deutlich gemacht (vgl. K. Heim, GlaubensgewiSheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, 19233, IV; die Schrift Heims wird im folgenden ohne Voranstellung des Verfassemamens als 'Glaubensgewißheit' zitiert; aber auch in seiner Schrift 'Das Weltbild der Zukunft' hatte Heim schon darauf hingewiesen, daß er Rickert wesentliche Einsichten verdankt, aaO. 298 u.ö.; vgl. dazu auch L. Schiaich, aaO. 463). 5 Glaubensgewißheit, aaO. 15
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Fähigkeit des Subjekts, dieser Relation auch dann zu vertrauen und ihrer gewiß zu werden, wenn der andere zeitlich und räumlich entfernt ist. Jede personale Beziehung lebt von Glaube und Vertrauen.6 Vom Standpunkt und Anspruch der Aussagen über unmittelbar gegebene Tatbestände ist der Gewißheitsanspruch der Glaubensaussagen nicht akzeptabel. Jede Vertrauens- und Glaubensaussage bezieht ihre Gewißheit nur mittelbar, also vermittels des Vertrauens auf Nichtgegenständliches.7 Ebenso gilt für jede religiöse Überzeugung, daß sie "nur auf mittelbare Weise zugänglich" ist.8 Die religiöse Gewißheit beansprucht, einen Ruhepunkt zu setzen, der "außerhalb der ganzen ewig wiederkehrenden Erfahrungswelt liegt".9 Ist der Grad der Gewißheit vom Kriterium der Tatsachengewißheit aus auch durchaus eingeschränkt, so muß der Glaube doch "ein Maximum der Gewißheit für sich in Anspruch nehmen".10 Denn der Glaube macht universale Aussagen; er bezieht sich auf die Wirklichkeit im ganzen. Deshalb muß der Glaube einen anderen Gewißheitsmaßstab zugrunde legen, als es die Gewißheit über unmittelbar gegebene Tatsachen mit der Bedingung der Gegenwärtigkeit des Gegebenen tut. Mit der Möglichkeit, die Unvergleichbarkeit des religiösen Gewißheitsanspruchs gegenüber allen anderen Formen der Gewißwerdung "in unserem ganzen übrigen Leben"11 zu konstatieren, mag sich Heim auch hier nicht zufriedengeben. Der Glaube und die Theologie müssen sich der Auseinandersetzung mit den anderen im alltäglichen Leben präsenten Vergewisserungsformen stellen. "Der Satz von der Eigenart der Religion und ihrer Ausnahmestellung innerhalb des Geisteslebens,..., ist doch keine Lösung der grundsätzlichen Frage nach dem Recht des Gewißheitsanspruchs, den die Vertrauensurteile erheben."12 Besteht aber ein - so ist die Fragestellung des Buches zu kennzeichnen Gewißheitsanspruch des Glaubens in der Universalität seiner Aussagen und der Behauptung, sich auf "einen wirklichen Tatbestand"13 zu richten, angesichts möglicher Formen der Gewißwerdung zu Recht? Als die Formen möglicher Gewißheit nennt Heim neben der unmittelbaren Gewißheit der Erfahrungssätze, die sich aus der Gegenwart des Wahr-
6 7 8 9 10 11 12 13
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Glaubensgewißheit, 31 AaO. 32 AaO. 33 AaO. 37 AaO. 38 Ebd. AaO. 47 AaO. 32
genommenen speist, die Gewißheit des 'Denknotwendigen', die sich nach dem Kriterium der Widerspruchsfreiheit richtet.14 Heims Anliegen besteht nun darin, den Gewißheitsanspruch des Glaubens "auf dem Boden des Gegners"15 zu rechtfertigen - also auf dem Hintergrund der Behauptung, nur die Aussagen über Erfahrungstatsachen und widerspruchsfreie Denknotwendigkeiten könnten Gewißheit beanspruchen. Auf dem Boden des Gegners zu argumentieren, heißt für Heim, auch dem Zeitgenossen, der nur die beiden genannten Formen der Gewißheit akzeptiert und anerkennt, durch den Nachweis zu überzeugen, "daß auch er von seinem Standpunkt gar nicht umhin kann, den dritten Weg zur Gewißheit einzuschlagen."16 "Wir müssen den Nachweis führen, daß dieser dritte Weg zur Gewißheit immer schon vorausgesetzt werden muß, wenn es möglich sein soll, die beiden ersten Wege einzuschlagen".17 Die religiöse Gewißheit soll also als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Form von Gewißheit kenntlich gemacht werden. Wegen dieses Anspruches setzt Heim in seinem Buch über das Gewißheitsproblem mit der Analyse der Prinzipien der allgemeinen Erkenntnistheorie ein, um so die Plausibilität der Glaubensentscheidung zu durchleuchten. Dabei will Heim eigentlich keinen Zweifel daran lassen, daß der mögliche Erweis der erkenntnistheoretischen Absicherung der Glaubensentscheidung natürlich keinen Beweis für die Notwendigkeit des Glaubens bereithält. Die Vorordnung des Lebensvollzugs gegenüber der Reflexivität des Lebens bleibt für Heim unmittelbar evident. Denn eine "philosophische Überlegung kann ... nie etwas zur Entstehung des Glaubens beitragen."18 Alle Überlegungen, die den Nachweis führen wollen, daß auch religiöse Aussagen Gewißheit beanspruchen können, fußen auf der Voraussetzung des Glaubens. Es ist die fides quaerens intellectum, die nach der Möglichkeit religiöser Gewißheit auf dem Grunde des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins forscht. Mit diesen Bemerkungen aber geht es Heim um mehr als um die Selbstversicherung des Glaubens - nämlich durchaus um den Nachweis der "Denkmöglichkeit der Glaubensgewißheit"19: also um den Nachweis, daß jegliche Erfahrung und jeglicher Erkenntnisakt auf der Voraussetzung religiöser Gewißheit fußt. Diesen Nachweis führt Heim in einer doppelten Richtung. Beide Richtungen haben ihre Gemeinsamkeit darin, daß sie von der Entdeckung des 14 15 16 17 18 19
AaO. AaO. Ebd. Ebd. AaO. AaO.
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nichtgegenständlichen Ich als Bedingung jeglicher Erfahrung und Erkenntnis ausgehen.20 In dieser Entdeckung, daß die Setzung des 'nichtgegenständlichen Ich' als konstitutives Erkenntnissubjekt allererst die Einheit der Erfahrung möglich macht, liegt nach Heim der wesentliche "Ertrag des Kritizismus".21 Als 'Grundsatz des Kritizismus' nämlich gilt Heim mit Rickert, daß alles Gegebene "immer nur als Gegenstand des nicht-objektivierbaren Ich gegeben" ist.22 Damit ist für Heim seit Kant der erkenntnistheoretische Realismus theoretisch widerlegt. Die Schranke des Kritizismus aber liegt noch darin, daß er das erkenntnistheoretische Subjekt als bloß logisches Subjekt denkt - eine Einschätzung Heims, die durchaus dem Duktus der Kantischen Vernunftkritik entspricht - P Heim kommt es darauf an, gegen Kant und über ihn hinaus die erkenntnistheoretische Möglichkeit und ontologische Realität des Nichtgegenständlichen zu erklären.24 Heim intendiert also eine Kritik der Entwicklung des Begriffs der Subjektivität als bloß logisches Subjekt. Damit verbindet sich für Heim der gegenüber dem Kritizismus versuchte Nachweis, "daß die Region des nichtgegenständlichen Gegebenseins wirklich da ist, daß es keine Erfahrung und kein Denken gibt, bei dem diese Region nicht immer schon als gegeben vorausgesetzt ist".25 Nur so kann nach Heim die Glaubensgewißheit als denkmöglich erwiesen werden; denn der Glaube bezieht sich auf ein 'Nichtgegenständliches'. Den Nachweis für die Existenz des Nichtgegenständlichen überhaupt führt Heim, wie schon angedeutet, in einer doppelten Richtung. In einer ersten Hinsicht versucht Heim zu verdeutlichen, daß menschliche Erfahrung und menschliches Erkennen schlechthin antinomisch strukturiert sind. Die Antinomien der gegenständlichen Erfahrungswelt, so legt Heim dar, sind in der Geschichte der Philosophie von Zenon bis Kant immer wieder thematisiert worden. Die philosophische Reflexion nimmt dabei lediglich ein 'Gesetz des Lebens' auf. Das Leben schlechthin nämlich ist dadurch zu
20 AaO. 74 21 Ebd. 22 AaO. 67f. 23 AaO. 76f.; auch der Fichtsche und Hegeische Idealismus bleiben von Heim nicht unkritisiert. Heim führt überhaupt eine ständige und prinzipielle Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus. Die nachkantische Philosophie schießt nach Heim in ihrer berechtigen Kritik an der Kantischen Unterscheidung zwischen 'Ding an sich' und Erscheinung und der damit verbundenen Kritik an der These von der Unericennbaikeit des 'Ding an sich' darin übers Ziel hinaus, daß sie das nichtgegenständliche Ich wiederum "nur als eine metaphysische Wirklichkeit" (aaO. 76) vergegenständlicht und in der Theorie eines absoluten Geistes zum Weltprinzip erhebt. Es ist also die absolute Geltung des Prinzips der Ich-Introjektion, die Heim dem deutschen Idealismus zum Vorwurf macht. 24 AaO. 79
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kennzeichnen, daß es in der ständigen Bewegung zwischen Freiheit und Schicksal, Möglichkeit und Verwirklichung von Möglichkeiten ergriffen ist. Das Leben ist die Einheit und spannungsvolle Bezogenheit von Dynamik und Form. Die Polaritäten der Selbstzentriertheit und Selbstüberschreitung, irrationaler Setzung von Wirklichkeit und Erfahrung der Offenheit der Zukunft sind aus dem Leben nicht wegzudenken. Verdeutlicht wird die antinomische Struktur der Lebenswirklichkeit von Heim anhand einer Analyse der Zeit. Die spezifische Zeitstruktur des Lebens ist für Heim der beste Ausdruck für die antinomische Struktur menschlichen Lebens. Die Zeit ist bestimmt als die Einheit von Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit. Gegenständlich betrachtet ist die Zeit die Folge von ausdehnungslosen Jetztpunkten. Zenons Beweise gegen die Realität von Zeit und Bewegung, die von dieser Vorstellung ausgehen und sie gleichzeitig zu widerlegen suchen, zeigen die Aporie einer gegenständlichen Zeitvorstellung. Das Paradox von 'Achill und der Schildkröte' fußt auf der Behauptung der Unvereinbarkeit von Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit.26 Achill kann durch eine beliebig schnelle Bewegung eine räumlich gesehen vor ihm gestartete Schildkröte niemals einholen, selbst wenn er in die gleiche Richtung wie die vor ihm losgelaufene Schildkröte läuft. Denn Achill muß immer, ehe er die Schildkröte einholen kann, dort angekommen sein, von wo jene gerade aufgebrochen ist. Der Vorsprung der Schildkröte wird wohl immer kleiner, aber sie behält ihren Vorsprung. Denn Achill benötigt immer eine auch noch so kurz bemessene Zeit, um dorthin zu gelangen, wo die Schildkröte sich gerade befunden hat. In dieser Zeit aber kommt auch die Schildkröte wieder voran. Dieses Sophisma geht von der Vorstellung aus, daß Bewegung ein raumzeitlicher Vorgang ist, in dem die Bewegungsphasen immer nur in einem geregelten Nacheinander erfolgen können. Die Durchmessung jeder auch noch so kleinen Teilstrecke erfordert Zeit. Jede Teilstrecke aber läßt sich wieder in unendlich viele Teilstrecken teilen. Das räumliche Verhältnis zwischen Achill und der Schildkröte verändert sich mit ihrer fortschreitenden Bewegung zwar ständig, allerdings werden sie sich niemals am gleichen Ort befinden. "Der Abstand zwischen Achilleus und der Schildkröte wird in jedem Augenblick durch den Punkt, von dem die Schildkröte in diesem Augenblick aufbricht, in zwei Teile zerlegt, von denen der erste durchlaufen sein muß, ehe der zweite begonnen werden kann".27 Die 25 AaO. 80 26 Vgl. aaO. 86-88 27 AaO. 85
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zeitliche Folge zwischen der früher aufgebrochenen Schildkröte und Achill ist also nie umkehrbar. "Die Schwierigkeit wäre nicht vorhanden, wenn es möglich wäre, zwei Teile des Vorgangs, von denen der zweite nach dem ersten eintritt, gleichzeitig zu erleben."28 "Dann könnte Achilleus mit einem Sprung, ohne Zeit dazu zu gebrauchen, den Punkt erreichen, von dem die Schildkröte aufbricht."29 In Wirklichkeit aber holt der einer Schildkröte nachsetzende Achill natürlich noch jede Schildkröte ein, wenn er denn nicht ausgesprochen fußkrank ist. Mithin ist die logisch nicht zu denkende Gleichzeitigkeit zweier Zeitabschnitte wesentliches Moment menschlicher Zeiterfahrung. Ein einheitlicher Erlebnisakt wäre unmöglich ohne die Annahme eines 'Und-Verhältnisses'30 zwischen einzelnen Zeitabschnitten. Menschliches Leben ist nicht denk- und vorstellbar ohne die ursprüngliche Fähigkeit des Menschen zur Vergleichzeitigung des Nicht-Gleichzeitigen. Keine Melodie, keine Erzählung könnte weder gehört noch aufgenommen werden ohne diese Fähigkeit.31 Darin liegt ganz offensichtlich "der Widerstreit im Wesen der Zeit" selbst32; die Analyse der gegenständlich gedachten Zeit führt in Aponen. Logisch ist eine Gleichzeitigkeit zweier Zeitmomente nicht denkbar, die doch gleichwohl vorausgesetzt werden muß, wenn menschliches Leben sich überhaupt entfalten können soll. So folgert Heim schon hier aus der Analyse der Gedanken Zenons, daß ein widerspruchsfreies Denken über die Zeit, wenn es denn möglich sein sollte, ohne die Annahme eines 'Nichtgegenständlichen' nicht möglich ist; wird nicht ein 'Nichtgegenständliches' gesetzt, das die Antinomie zwischen 'Entweder-Oder-Verhältnissen' und 'Und-Verhältnissen' der Zeit33 erklärt und auflöst, ist nicht erkennbar, wie überhaupt die Möglichkeit von Erfahrung aufgewiesen werden könnte. Darin sieht Heim die wesentliche Leistung Immanuel Kants, daß er in dem Gedanken der 'Synthesis der Einbildungskraft' die Fähigkeit des nichtgegenständlichen Ich thematisiert hat, eine Folge von Eindrücken in eine Einheit zu überführen.34 Kants Fehler aber, so macht Heim deutlich, ist 28 AaO. 86 29 Ebd. 30 AaO. 88 31 An dieser Stelle also gelangt Heim durchaus über die Fassung der Gegenwart als ausdehnungslosen Jetztpunkt hinaus. (Gegen Th. Steinmann, Zur Auseinandersetzung mit Karl Heims philosophischer Grundlegung, in: ZThK 13 (1932), 27ff., hier43ff.) 32 Glaubensgewißheit, 90 33 Vgl. aaO. 87f. 34 Vgl. aaO. 90f.; die Nähe der Kantdeutung Heims zu der Heideggers ist an dieser Stelle überdeutlich.
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darin zu sehen, daß er mit seiner Unterscheidung der einzelnen Vermögen die Antinomie zwischen Gleichzeitigkeit und Folgezusammenhang in der Erfahrung abgeschwächt hat. Denn die Zuweisung des Folgezusammenhangs der Zeit an das Vermögen der Anschauung und der Gleichzeitigkeit an das Verstandesvermögen in der Synthesis der Einbildungskraft bedeutet, daß Kant die Widersprüchlichkeit nicht als Lebensgesetz des endlichen Subjekts überhaupt begreift. Sinnlichkeit und Verstand sind aber "nur symbolische Bezeichnungen für die beiden Seiten eines und desselben Bewußtseinserlebnisses".35 Gleichwohl bleibt es das Verdienst Kants, daß er die Erfahrungsantinomie von der Erkenntnis und Annahme des Nichtgegenständlichen her zu lösen versucht hat. Denn die Unterscheidung zwischen Erscheinung und 'Ding-an-sich' bedeutet nichts anderes als die Einsicht, daß die raumzeitliche Wirklichkeit nicht isolierbarer Gegenstand, sondern Erscheinung ist, also nur als durch das logische Subjekt gesetzte Einheit denkbar ist. Das "fortwährende Setzen und Wiederhinausrücken von Grenzen innerhalb des Grenzenlosen" ist die Bewegung, die "vom Ich fortwährend vollzogen wird".36 Damit ist von Kant, ohne daß dieser selbst dies ausdrücklich thematisiert hat, eine Lösung der Antinomien gefunden, die das "ganze raumzeitliche Erleben"37 betrifft. In dem Erleben der raumzeitlichen Wirklichkeit handelt es sich immer um "dieselbe eigenartige Verschmelzung von Elementen, die, wenn man sie gegenständlich betrachtet, untereinander unvereinbar sind".38 Die Antinome zwischen Gleichzeitigkeit und Folgezusammenhang ist unlösbar, solange wir "die Erfahrungswelt als einen in sich seienden Gegenstand ... auffassen". "Daß die Erfahrungswelt trotz dieses Widerspruchs da ist, ist also ein indirekter Beweis für das Gegebensein eines Nichtgegenständlichen, in welchem der Widerspruch auf eine nicht mehr objektivierbare Weise aufgehoben ist."39 Den zweiten Beleg für die Realität des 'Nichtgegenständlichen' sieht Heim in der Notwendigkeit der Annahme des 'Gesetzes der Perspektive' als Grundgesetz menschlicher Erfahrung. Dieses Gesetz läßt sich nach Heim leicht plausibel machen. So gehört es "zum Wesen jedes raumzeitlichen Erlebnisses, daß es von einem bestimmten Punkt aus erlebt wird, der den perspektivischen Mittelpunkt desselben bildet".40 Das Gemeinte erläutert Heim in einer Analyse musikalischer Phänomene. Eine gespielte Melodie 35 36 37 38 39 40
AaO. AaO. AaO. AaO. Ebd. AaO.
91 95 115 116 141; vgl. unten die Ausführungen zum Einstein-Aufsatz Heims, 410f.
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wird zunächst als Folge und in der Folge ihrer Töne gehört und erlebt. Die Folge der Töne entspricht die Folge der einzelnen Wahrnehmungsakte. Jeder erklingende Ton bildet zunächst "den perspektivischen Mittelpunkt des Ganzen".41 Gegenüber dem gerade gehörten Ton sind die zuvor wahrgenommenen Töne entsprechend ihrer Entfernung vom gerade erklingenden Ton 'vergessen'. "Nur die nächste Umgebung" des jeweiligen perspektivischen "Mittelpunkts wird deutlich gesehen. Das Übrige verschwindet in zunehmendem Maße im Hintergrund".42 Das Oder-Verhältnis' der einzelnen Töne, also der Folgezusammenhang der Zeit, erklärt für sich noch nicht die Wahrnehmung einer Melodie. "Wenn also das Oder-Verhältnis allein in Kraft träte, so würde das ganze Zeiterlebnis zu einem Punkt zusammenschrumpfen, der als ausdehnungsloser Punkt überhaupt nicht mehr erlebt werden könnte".43 Zum Gesetz der perspektivischen Wahrnehmung gehört über die Einsicht in die Funktion jedes unmittelbar Gegebenen als die perspektivische Mitte des Erlebens - also über die Einsicht der Gegenwärtigkeit des Zeiterlebens hinaus die Annahme des "logisch unauflösbare(n) Erlebnisses der perspektivischen Zusammenschau".44 Ähnliches behauptet Heim für die Raumanschauung; dabei verweist Heim auf die Betrachtung eines Bildes, die sich immer nach dem Standpunkt des Betrachters richtet.45 Das perspektivische Zentrum eines Raum-Zeitgebildes aber ist selbst nicht gegenständlich. Die "Jetzt-Mitte der Zeit" ist "unhörbar und unfühlbar".46 Das Erlebniszentrum der Erfahrungswelt ist jeweils unbedacht. Ein musikalisches Erlebnis besteht "offenbar darin, daß die perspektivische Mitte des Ganzen, der unhörbare Punkt, von dem aus der eben verklingende Ton ungehört wird, immer weiterrückt."47 Das perspektivische Zentrum jedes Erlebnisses also ist für Heim theoretisch nicht aufweisbar. Es hat keinen "Anhaltspunkt im gegenständlichen Inhalt".48 Das jeweilige Erlebniszentrum ist darum nicht ableitbar aus dem vorhergehenden Zeitablauf. Heim macht dies daran deutlich, daß das Faktische theoretische unableitbar ist. Warum ich jetzt hier sitze und schreibe, läßt sich nicht lückenlos erklären. Der Lebensvollzug ist primär gegenüber der reflexiven Durchleuchtung der Gründe für die Existenz des Faktischen;
41 42 43 44 45 46 47 48
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Glaubensgewißheit, 141 Ebd. AaO. 142 Ebd. Vgl. aaO. 142f. AaO. 144 Ebd. AaO. 151
Heim spricht vom unendlichen 'Vorrecht des Lebenden'49 gegenüber dem Vergangenen und Zukünftigen. "Fassen wir das Ganze der Erfahrungswelt ins Auge, so wie es abgesehen von irgend einem bestimmten perspektivischen Standpunkt an sich sein würde, so hat vom Standpunkt dieses Ganzen aus betrachtet von sämtlichen Raumpunkten, die es gibt, jeder genau so gut wie der andere das Recht, die Rolle des perspektivischen Zentralpunkts zu übernehmen. Femer hat von allen Zeitpunkten, die es gibt, jeder genau so viel Grund wie der andere, Jetztpunkt zu werden. Endlich hat von allen Subjekten, die es gibt, jedes gleichviel Grund wie das andere, das meinige zu werden, das im perspektivischen Mittelpunkt des Ganzen steht."50 Heim hält den Grundsatz der ratio sufficiens für ungeeignet zur Erklärung der Wirklichkeit.51 Die Dialektik des Lebens zwischen Dynamik und Form, Unentschiedenheit und Entscheidimg hat ein eindeutiges Gefalle von der Dynamik zur Form. Die Fassung der Entschiedenheit des Daseins als Entscheidungstat im Augenblick bedeutet, daß das Dasein in seiner Selbstentfaltung immer wieder neu, von der Erfahrung seines Gegebenseins herkommt und neu auf diese Erfahrung zuläuft. Das Dasein steht von sich selbst her immer wieder neu vor der Entscheidung über seinen Sinn. Die Unentschiedenheit ist die Situation des Ich in seiner Welt. Diese Situation bedroht das Dasein. Diese seine Verfassung, daß das Dasein im Vollzug seiner Selbstentfaltung seines Gegebenseins je neu inne wird, kann das Dasein als sein Schicksal oder als seine Gnade deuten. Ich habe "die Möglichkeit, das Schicksal, das mich bindet, zu bejahen oder zu verneinen".52 "Entweder ich beuge mich in Ehrfurcht unter das Unsagbare, von dem ich schlechthin abhängig bin, oder ich lehne mich dagegen auf'. 53 Das Ja zum Schicksal sagt Ja zum Sinn des Lebens und nennt es Gott.54 "Wenn wir das Unsichtbare Gott nennen oder wenn wir es Zufall nennen, so ist in beiden Fällen eine Entscheidung getroffen, die nicht mehr auf theoretischem Wege zustande gekommen sein kann."55 Eine solche Entscheidung macht den perspektivischen Zentralpunkt unseres Lebens zum 'nunc aeternum'. 56 Denn Gott ist der "Identitätspunkt im Wechsel der Zeit".57 In ihm
49 50 51 52 53 54 55 56
AaO. 152 AaO. 154 Vgl. aaO. 154f. AaO. 241 AaO. 242 Vgl. aaO. 244 Ebd. Vgl. aaO. 273
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erhält die antinomische Struktur meiner Existenz zwischen Selbstentfaltung und Gegebensein des Daseins "die Weihe der Ewigkeit".58 In einem Aufsatz von 1924 'Zu meinem Versuch einer neuen religionsphilosophischen Grundlegung der Dogmatik' verteidigt Heim seine Schrift 'Glaubensgewißheit' gegen Angriffe und stellt in diesem Zusammenhang das Programm dieser Schrift nochmals zusammenfassend heraus. Dabei bekräftigt Heim seine Bemerkung aus dem Vorwort der Gewißheitsschrift, daß es in der theologischen Dogmatik nicht darum gehen könne, "durch philosophische Überlegungen die Entstehung des Glaubens" zu begründen oder zu "ermöglichen". 59 "Die Entstehung des Glaubens ist ganz unabhängig von philosophischen Gedankengängen." 60 Vielmehr geht es Heim darum, die durch Offenbarung begründete Glaubensgewißheit "in Beziehung zu setzen zu der philosophischen Bewegung"61 der Moderne; völlig abwegig sei die Unterstellung, ihm ginge es darum, "den Glauben anzudemonstrieren"62 durch eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Theologie. Den Glauben in Beziehung zu setzen zur gegenwärtigen Philosophie bedeutet nach Heim lediglich eine Verifizierung des Wahrheitsanspruches, der dem christlichen Glauben von sich aus innewohnt. Der Glaube hat die unaufgebbare Eigenart, alle Phänomene dieser Welt 'sub ratione Dei' zu sehen und zu verstehen. Eine philosophische Grundlegung des Glaubens ist nur eine andere Form des Ausdrucks für "einen Kampf, den jeder glaubende Mensch im täglichen Leben praktisch durchkämpft." 63 Das Programm seiner Schrift 'Glaubensgewißheit' ist nach den erläuternden Bemerkungen Heims aus seinem Aufsatz über die philosophische Grundlegung der Dogmatik folgendermaßen zu bestimmen. Es liegt kurz gesagt in dem Versuch einer Verifizierung des fundamentalen Wahrheitsanspruches, den der Glaube erhebt. Der Glaube, der nach Einsicht fragt, drängt selbst auf dieses Unternehmen. Denn der Glaube impliziert als eine Weltanschauung ein Gesamtbild von Wirklichkeit. Der Glaube gibt sich nicht damit zufrieden, in einen Teilbereich der Wirklichkeit abgeschoben zu werden. So strebt der Glaube von sich aus danach, "ein neues Verständnis aller Grundbegriffe der Weltauffassung, aller Anschauungsformen und Denkkategorien zu gewinnen". 64 Die 57 AaO.274 58 AaO. 254; Heim spricht vom Glauben als dem 'Ja zur Ewigkeit'; vgl. auch die 2. Auflage der Schrift 'Glaubensgewißheit', 187 59 Glaubensgewißheit, Vorwort III. 60 Ebd.; darin liegt das entscheidende Motiv dafür, warum Heim sich selbst von aller Apologetik abzusetzen bemüht hat. Heim unterscheidet dabei zwischen tautologischer und empirisüscher Apologetik; erstere sieht er repräsentiert bei Tillich, die zweite bei Gogarten (Heim, Das Weltbild der Zukunft, 275-277). 61 Heim, Glaubensgewißheit, Vorwort III. 62 Ebd.; auf die Opponenten seiner Schrift weist Heim zu Beginn des Aufsatzes 'Zu meinem Versuch einer neuen religionsphilosophischen Grundlegung der Dogmatik', in: K. Heim, Glaube und Leben. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, 1926,438ff. hin. (Dieser Aufsatz wird im folgenden zitiert als Heim, Grundlegung). Dort nennt Heim vor allem S. Traub, R. Paulus, G. Wehrung und E. Schäder. 63 Heim, Glaubensgewißheit, Vorwort III. 64 Heim, Grundlegung, 450; die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.
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Theologie ist also nichts anderes als eine Sprachlehre des Glaubens. Das Fundament für die umfassende Deutung der Wirklichkeit, die der Glaube intendiert, hat nach Heims eigenem Bekunden die Schrift 'Glaubensgewißheit' gelegt. Den entscheidenden Durchbrach seiner Schrift sieht Heim selbst in der Aufdeckung eines Weltgesetzes, eines Prinzips, nach dem auch das Weltverständnis des Glaubens bestimmt werden muß. Dieses Prinzip nennt Heim das Gesetz der Perspektive. Danach ist menschliches Leben in seiner Tiefe wegen der Unmöglichkeit, einen theoretischen Beweis für die Absolutheit einer einzelnen Weltanschauung zu liefern, freie Tat der Entscheidung über seinen Sinn. "Ich habe also nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder ich bleibe neutral und tolerant gegenüber allen Lebensrichtungen, dann bekomme ich nur die Oberfläche und Außenseite des Daseins zu sehen. Oder ich will in die Tiefe und den inneren Gehalt eindringen, dann muß ich Stellung nehmen und auf die Neutralität und Toleranz verzichten" (451). Die These von der je neuen Entscheidungssituation, in die das Dasein gerät, korreliert der Auffassung, daß sich menschliches Leben in seinen Grenzsituationen niemals auf einen weltanschaulich neutralen Standpunkt zurückziehen kann. Das Leben entwirft sich in seinem Vollzug je neu auf einen Sinn, auf eine Idee, die das Ganze des Lebens unter ein Vorzeichen stellt. Aber dieser Standpunkt, den das Dasein in seinem Vollzug je und je einnimmt, ist kein absoluter. Das Dasein entscheidet sich selbst zu seinem konkreten Standpunkt. Jede Entscheidung für eine konkrete Weltanschauung ist nur die Kehrseite einer anderen möglichen Entscheidung, die genau so viele Gründe für sich vorbringen kann wie die entgegengesetzte Entscheidung. Allen Entscheidungen wiederum korreliert als Kehrseite der Standpunkt weltanschaulicher Neutralität, den das Dasein aufs Ganze gesehen aber nur scheinbar durchhalten kann. Einer konkreten Stellungnahme zum Leben im Ganzen kann sich das Dasein nie emsthaft entziehen. Denn in der Frage nach Wahrheit und sittlichem Verhalten fragt das Dasein schon immer nach absoluten Standpunkten, die die Möglichkeit weltanschaulicher Neutralität notwendigerweise hinter sich lassen müssen. Die Entscheidung für eine bestimmte Weltanschauung weiß das sich entscheidende Subjekt selbst als unableitbare Tat, die jeden "schmerzliche(n) Verzicht auf das Hochgefühl der wissenschaftlichen Objektivität" (451) impliziert. Das Leben ist der ständige Drang zur Entscheidung, der doch als schmerzlich empfunden wird, weil er den Verzicht auf andere Möglichkeiten bedeutet. So ist das Dasein "immer vor ein Doppelbild der Wirklichkeit gestellt" (452), deren beide Seiten nicht synthetisierbar sind. Das, so legt Heim in seinem Aufsatz von 1924 dar, habe er mit der grundsätzlich antinomischen Struktur der Wirklichkeit gemeint. Der Standpunkt der Neutralität und der Entscheidung für gegenwärtig sich auftuende Lebensmöglichkeiten stehen sich kontradiktorisch gegenüber. Und dennoch bleiben sie aufeinander angewiesen im Lebensvollzug. Denn der Mensch ist in seinem Lebensvollzug zu Entscheidungen gezwungen und dringt auf nachträgliche Begründung dieser Entscheidungen. In der religiösen Sprache ist dies der Zustand der gefallenen Welt, die Philosophie redet in bezug auf dasselbe Phänomen von der "Antinomie der Vernunft" (453). Alle Unternehmungen, dem "Fluch, unter dem unsere Erkenntnis steht, zu entgehen" (453), sind für Heim zum Scheitern verurteilt. Die einzige Möglichkeit, mit der schmerzlich empfundenen antinomischen Struktur der Erfahrungswelt und des Erkenntnisvermögens fertig zu werden, ist der Nachweis, daß "der Widerstreit zweier unvereinbarer Aspekte" "durch die ganze Erfahrungswelt hindurchgeht, daß er der Grundzug unseres ganzen Erfahrungswissens ist, dem wir auf keinem Gebiete entgehen können" (454). Diesen
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Nachweis meint Heim dadurch führen zu können, daß er das Gesetz der Perspektive "als Grundprinzip des ganzen Weltverständnisses" (454) verdeutlicht. Angeregt sieht sich Heim durch die Einsichten Spenglers und Einsteins, die jeweils zu verdeutlichen versuchten, daß menschliche Erfahrung und menschliche Erkenntnis sich jeweils der perspektivisch orientierten Wahrnehmung verdanken und so als Anwendung des Gesetzes der Perspektive deutbar sind. In mehreren Aufsätzen über Einstein und Spengler hat Heim dies erhärtet. In seinem Einstein-Aufsatz will Heim zeigen, daß die Erkenntnis Einstein, das Bild, "das wir von irgendeinem räum zeitlichen Ereignis gewinnen" 65 , hänge immer von dem Standpunkt des Betrachters ab, ein allgemeiner und unübersehbarer Paradigmenwechsel für die Erkenntnistheorie überhaupt darstellt. Die Einsicht in die Abhängigkeit der Zeitmessung von der zeitlichen Verfassung und Bewegtheit des messenden Beobachters relativiert die Auffassung, die Zeit sei als gleichmäßige, homogen und unverändert laufende Bewegung vorzustellen. Die Beurteilung der Geschichte von einem gleichsam außerzeitlichen Standpunkt ist unmöglich gemacht durch die Einsichten Einsteins. Die Entdeckung der Unmöglichkeit, "das Zeitmaß als etwas Absolutes und Konstantes" anzusehen66, verändert für Heim das Geistesleben insgesamt. "Zwei Systeme, die sich einander entgegenbewegen oder sich voneinander entfernen, haben also ein verschiedenes Zeitmaß."67 Die Revision des Weltbildes der Physik, die durch Einsteins Erkenntnisse notwendig geworden ist, bleibt nicht die einzige Folge, die die Einsicht in die Relativität der Zeitund Längenmaße hat. Die Einsichten Einsteins haben auch theologische Implikationen. Dies macht Heim folgendermaßen ausdrücklich: Zum einen ist der absolute Gegensatz zwischen Ich und Natur, Geist und Materie keine akzeptable erkenntnistheoretische Prämisse mehr; denn wir können "das sehende Ich mit seiner perspektivischen Einstellung überhaupt nicht mehr aus der Natur herausnehmen".68 Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist seit Einstein kein angemessener Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Erkenntnislehre, weshalb Heim diese Spaltung kritisiert und als dimensionale Beziehung entwirft. Zum zweiten ist festzuhalten, daß es kein anschauliches Bild von der Entwicklung und Geschichte des Weltganzen mehr gibt, "das dem perspektivischen Standpunkt gegenüber neutral wäre". 69 "Hinter dem erkennenden Beobachter steht ja immer das wollende und wertende Ich". 70 Damit kommt eine Einsicht zum Tragen, die innerhalb der Theologie schon lange Geltung hat und auf die "der Glaube sein Recht" gründen kann, nämlich "nicht bloß als subjektiver Stimmungsausdruck" gelten zu können.71 "Wenn also das erkennende Subjekt als unentbehrliches Element in die Gesamtwirklichkeit aufgenommen ist, so ist damit auch die wollende und wertende Persönlichkeit,
65 K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, in: Heim, Glaube und Leben, 119ff„ hier 121 66 AaO. 128 67 AaO. 128 68 AaO. 133 69 AaO. 134 70 AaO. 135 71 Ebd.
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also die Seele in ihre weltkonstituierende Stellung eingesetzt."72 Das aber ist der Gewinn, den Einsteins Einsichten auch der Theologie bringen - mit der Zerstörung eines falschen Begriffs von Objektivität. Die Kennzeichnung der Lebenszeit als Ruf zur Entscheidung ist für Heim mit den Einsichten Einsteins durchaus kompatibel.73 Deshalb bleibt die Forderung nach einem von jedem Werturteil freien Bild der Geschichte hinter der modernen Erkenntnistheorie zurück.74 Ohne die Setzung einer perspektivischen Mitte kommt überhaupt kein anschauliches Bild von Wirklichkeit und Geschichte zustande. Wie aber kommt es zur Wahl eines Standpunktes? Objektiv gesehen durch eine willkürliche Entscheidung, durch irrationale Setzung.75 Aber dieser Entscheidungsakt ist Merkmal der Lebendigkeit. Das Leben ist und vollzieht sich als ständiges Setzen neuer Wirklichkeit. "So führt das Nachdenken über die letzten Voraussetzungen der Physik auf einen Weltgrund, der das geschlossene raumzeitliche Kontinuum trägt, in dem die Ursetzungen wurzeln, die alles andere erst möglich machen." 76 So eröffnet die Auseinandersetzung mit der durch Einstein hervorgebrachten Relativierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden "ein neues Verständnis... für Empfänge aus der Sphäre des Absoluten, für die schlechthinnige Abhängigkeit der ganzen Bewußtseinswirklichkeit von Gott."77 Von diesen Einsichten in die perspektivische Bedingtheit jedes Weltbildes und auch der naturwissenschaftlichen Forschung kann das Selbstverständnis der Theologie nicht unberührt bleiben. Weder der Idealismus noch der platte Realismus sind auf ihre Weise nunmehr akzeptable Weltsichten. Weder die Setzung des Geistes als Weltprinzip noch die Setzung der außersubjektiven Wirklichkeit als Wirklichkeit schlechthin sind erkenntnistheoretisch akzeptable Positionen. Beide Positionen nämlich trennen Innenund Außenwelt fundamental.7* Vom religiösen Standpunkt aus sind beide Positionen Versuche, sich der Forderung der Gottesbeziehung zu entziehen. "Im ersten Fall wird der Zugang zum Gottesglauben auf unrechtmäßige Weise erschlichen. Im zweiten Fall wird die Flucht vor Gott auf unrechtmäßige Weise erleichtert" (457). Damit löst Heim sein Versprechen ein, alle Weltanschauungen auf die religiöse Entscheidung und Gewißheit zurückführbar zu machen. Denn im Idealismus wird das perspektivische Wirklichkeitsbild gänzlich der Innenwelt zugewiesen; der Realismus versteht "das perspektivische Wirklichkeitsbild des Menschengeistes" (457) als bloße Abstraktion von der äußere Wirklichkeit und weist es der bloß subjektiven Sphäre zu, die der Wirklichkeit der Dinge nicht zu entsprechen in der Lage ist.
72 AaO. 135 73 Daß Einstein sich durch die Deutung seiner Relativitätstheorie, wie Heim sie vorgenommen hat, durchaus verstanden gefühlt hat, hat A. Köberle, Karl Heim. Denker und Verkündiger aus evangelischem Glauben, 1973, 26, versichert. 74 Heim, Gedanken eines Theologen zu Einstein, aaO. 135; vgl. dazu auch den Aufsatz Heims 'Die religiöse Bedeutung des Schicksalsgedankens bei Oswald Spengler', in: Heim, Glaube und Üben, aaO. 348ff„ hier 351 f. 75 Heim, Gedanken eines Theologen zu Einstein, 137. 76 AaO. 137 77 Ebd. 78 Heim, Zu meinem Versuch einer neuen religionsphilosophischen Grundlegung der Dogmaük, aaO. 457; die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich wiederum auf diesen Aufsatz Heims.
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Das Gesetz der Perspektive im Heimschen Sinne aber betrifft die eine und ungeteilte Wirklichkeit, impliziert also ein Gesamtbild der Erfahrungswelt in der Einheit von Subjekt und Objekt, Identität und Unterschiedenheit. Als solches steht es in unüberwindbarer Konkurrenz nur zum neutralen "Bild der wissenschaftlichen Objektivität" (452), das in der Erforschung der Welt sich in deren Erklärung abarbeitet. Das Bild der Welt im Lichte wissenschaftlicher Objektivität ist das Bild eines unendlichen Feldes von Möglichkeiten, die gleichzeitig nebeneinander'stehen und nicht entscheidbar sind. Der wissenschaftlichen Weltauffassung, der alles Wirkliche gleichermaßen Gegenstand von Forschung und Erfahrung wird ohne Setzung eines weltanschaulichen und perspektivischen Zentrums, ist die "Verabsolutierung des einen Standpunkts" (453), wie sie in jeder geteilten Weltanschauung vollzogen wird, ein Ärgernis. So haben wir es mit zwei unvereinbaren Gesamtbildern der Wirklichkeit zu tun. Für das perspektivische Weltbild, welcher Couleur auch immer, ist das unperspektivische Weltbild eine Abstraktion; für das wissenschaftliche Weltbild das perspektivische eine unzulängliche Setzung. Gleichwohl ist der Widerstreit zwischen beiden Weltbildern nach Heim unaufhebbar, weil er zum Gesetz unseres Lebens gehört. Die wissenschaftliche Neutralität und jede perspektivische Deutung der Wirklichkeit können aber nicht in einem dritten Gesamtbild zusammengefaßt werden; sondern der Versuch einer Synthese vollzieht sich immer nur als Unter- bzw. Überordnung einer der beiden Weltsichten unter die andere. Solche Versuche sind letztlich als das Bemühen zu kennzeichnen, das Gegenüber des Menschen zu Gott, also die Situation coram Deo nicht wahrhaben zu wollen. Sowohl der idealistische als auch der naiv realistische Standpunkt halten die Distanz des Menschen zu Gott nicht aus und sind bestimmt durch den Versuch, diese Distanz aufzuheben; einmal durch die Vereinfachung der Gottesbeziehung des Menschen, zum anderen durch die Flucht vor Gott unter dem Vorwand seiner Unerreichbarkeit und Unerkennbarkeit. "Geben wir den Versuch auf, uns dem Emst der Lage zu entziehen, in der wir Menschen sind, wenn wir Gottes gewiß werden wollen" (457). Dem Emst der Situation des Menschen vor Gott ist nach Heim so zu entsprechen, daß wir das "Gesetz der Perspektive" (457) als "Grundgesetz jeder möglichen Erfahrung" (458) anerkennen. Die Annahme eines perspektivischen Zentrums der Wirklichkeit gehört zum Wesen des Christentums. Deshalb bekommt für Heim die christliche Deutung der Wirklichkeit durch die Einsichten Einsteins gleichsam Wohnrecht im Haus der wissenschaftlichen Erklärung der Wirklichkeit. Ist nämlich die perspektivische Deutung der Wirklichkeit als menschliches Lebensgesetz überhaupt erkannt, so lassen sich Theologie und Glaubensgewißheit auf eine breitere erkenntnistheoretische Basis stellen. Die Betrachtung alles Seienden sub ratione Dei, wie sie der Glaube vorlegt, ist erkenntnistheoretisch abgesichert als eine mögliche Gestalt, in der das endliche Subjekt die perspektivische Mitte seiner Welterkenntnis akzeptiert. So ergibt sich aus der Anerkennung des Prinzips der Perspektive "eine Weltanschauung, die den philosophischen Rahmen bilden kann für den Christusglauben des Neuen Testaments" (458). Es versteht sich, daß damit das objektive und unperspektivische, wissenschaftliche Weltbild aufgehoben ist. Diese Aufhebung ist aber nach Heim nicht im Sinne einer Beseitigung zu denken. Vielmehr bleibt bestehen, daß die perspektivische Weltsicht immer wieder neu erarbeitet und durchgesetzt werden muß gegen die Abstraktheit des distanzierenden Weltbildes der Wissenschaften. "Zum Weltbild des Glaubens können wir nur gelangen, wenn wir immer aufs neue über den Abgrund des Ärgernisses hinüberschreiten, den der Absolutheitsanspruch Jesu auf dem Boden des relativisti-
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sehen Gesamtbildes erregt. Sobald dieses Ärgernis gemildert wird, verliert auch der Glaube seine weltüberwindende Kraft" (459). Das Leben ist die Beziehung zwischen Entscheidung und Unentschiedenheit, zwischen perspektivischem Weltbild und wissenschaftlicher Distanziertheit. Darin liegt die gestaltende Kraft des Glaubens als eine perspektivische Weltanschauung, daß sie sich im Lebenszusammenhang je und je durchsetzt gegen die Tendenz des Lebens zur Unwahrheit, zur unwahren Distanz des Lebens zu sich selbst. Das ist das Charakteristikum der christlichen Weltanschauung, die das Ganze der Wirklichkeit in den Blick nimmt, daß sie auf letzten Voraussetzungen ruht, "die weder deduktiv abgeleitet noch induktiv aus der Erfahrung bewiesen" (468) werden können. Die Setzung und Geltung dieser Grundvoraussetzungen sind kontingent. "Wie es innerhalb des menschlichen Geisteslebens zu einer neuen philosophischen Grundvoraussetzung kommt, das ist das letzte unlösbare Problem der Kulturgeschichte" (469). Die Urannahme, die den "erkenntnistheoretischen Hintergrund des neutestamentlichen Glaubenszeugnisses bildet" (472), ist die Annahme eines 'nichtgegenständlichen Welthintergrundes'(474). Diese Annahme gewinnt nach Heim in der aktuellen erkenntnistheoretischen Diskussion an Plausibilität, insofern einsehbar ist, daß die Entdeckung der Kategorie des Nichtgegenständlichen für Erfahrung und Erkenntnis überhaupt den entscheidenden erkenntnistheoretischen Fortschritt über Idealismus und Realismus hinaus darstellt. Verdeutlicht wird dies von Heim auch hier in bezug auf das Zeitverständnis. Ein Verständnis der Zeit ohne Annahme eines nichtgegenständlichen Ich ist nicht zu erreichen. Als bloße Gegebenheit vorgestellt werde die Zeit in das Verhältnis zweier unvereinbarer Momente geteilt; nämlich das Verhältnis der Gleichzeitigkeit der einzelnen Zeitmomente zu dem Moment des Folgezusammenhangs. "Innerhalb der Zeitstrekke können zwei Ereignisse nur entweder nacheinander oder gleichzeitig sein" (475). Tertium non datur! "Wenn dieses Dritte trotzdem stattfindet, so ist das nur erklärlich, wenn etwas da ist, was außerhalb der gegebenen Zeitstrecke liegt" (475). Dieses Dritte im Blick auf die Zeitvorstellung ist die Einheit von Gleichzeitigkeit und Folgezusammenhang. Diese Einheit ist reflexiv erfahrbar. Das nichtgegenständliche Ich konstituiert sich in bezug auf die Zeit durch die Einheit von Gleichzeitigkeit und Folge; das endliche Subjekt weiß sich als Wesen, das in der Erfahrung einen Folgezusammenhang zu der Einheit eines Prozesses verbinden kann. "Damit sind wir auf ein außerzeidiches Datum gestoßen, das die Zeitstrecke allererst möglich macht" (475). Sobald man aber zu der Einsicht vorgedrungen ist, allein die Setzung eines Überzeitlichen könne der Zeit Einhalt geben, ist die antinomische Struktur der Zeit gleichsam festgeschrieben. Für Heim dient die Reflexion auf die Vorstellung der Zeit dem Versuch, "auf indirekte Weise den nichtgegenständlichen Ermöglichungsgrund der Erfahrungswelt zum Bewußtsein zu bringen" (478). Der nichtgegenständliche Grund der Erfahrungswelt ist das endliche Subjekt. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Annahme eines Nichtgegenständlichen, das die Einheit der Erfahrungswelt setzt, hebt das Wissen um die Willkürlichkeit jener Setzung nicht auf. "Die unverzichtbare Setzung des Jetztpunkts oder einer bestimmten Bewußtseinswelt befreit mich ja keinen Augenblick von dem Gefühl der Willkürlichkeit dieser Setzung" (479). Das Subjekt weiß in und wegen der Willkürlichkeit seiner weltanschaulichen Entscheidung den Relativismus, also das Wissen um die Gleichberechtigung aller perspektivischen Weltbilder, als sein ständiges Gegenüber. Relativismus und Skepsis bleiben die ständig neu zu überwindenden Gefahren des sich als nicht gegen413
ständliches Konstitutionssubjekt der Erfahrungswelt setzenden Ich. "Das wirkliche Ich weiß sich darum niemals als etwas Absolutes, sondern leidet unter der rätselhaften Willkürlichkeit seines räumlichen und zeitlichen Gebundenseins" (480f.). Das Prinzip der perspektivischen Weltdeutung führt so in letzter Konsequenz zu der Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade, daß seine Entscheidung sein Leben in seiner Ganzheit zu sichern vermag. Es ist unmöglich geworden, "zum Absoluten zu gelangen, wenn nicht das Absolute ganz von sich aus zu uns k o m m t " (481). 7 ' Wie kommt das Absolute beim Menschen an? Nicht als Durchbrechung des Naturund Geschichtszusammenhangs, in dem sich menschliches Leben abspielt. Die Ankunft des Absoluten " m u ß perspektivischen Charakter annehmen" (481). Die Ankunft ist so als Entscheidung f ü r theoretisch unentscheidbare Möglichkeiten des Lebens zu denken. Die "göttliche Entscheidung des kreatürlichen Entweder-Oder ist das große unbegreifliche Wunder, das, was supra rationem ist" (482). Auf eine besondere Zeit, die Zeit der Entscheidung des Lebens für seinen Lebenssinn fällt der 'Akzent der Ewigkeit'. Das ist die Gnade der Ankunft der Ewigkeit, daß uns ein plötzlicher Durchblick durch das Ganze der Wirklichkeit gegeben wird. Das Innewerden der perspektivischen Mitte unseres Lebens ist die Ewigkeitserfahrung. "Das Wunder der Gnade, durch welches die Alternative Willkür oder höhere Notwendigkeit, Zufall oder Gott zur Entscheidung kommt, ist nur für den da, der darin steht, und auch für diesen nur in dem Augenblick, da er darin steht und daraus heraus handelt und leidet" (482f.). Daß menschliches Leben immer auf die Entscheidung über die Ganzheit seines Lebens dringt, daß menschliches Leben sich auf einen seine Zeit bestimmenden Lebenssinn hin entwirft, ist der "einzige Gottesbeweis, den es gibt" (483).
Ist damit nun die Glaubensgewißheit gesichert als eine mögliche Form, die alle anderen Formen menschlicher Gewißheit begründet, wie es in der Intention des Buches von Heim liegt? Die Gleichwertigkeit der religiösen Gewißheit mit allen anderen Formen der Gewißheit überhaupt wird erwiesen. Der Preis dafür bleibt die Kennzeichnung der religiösen Gewißheit als 'Gewißheit im Augenblick'. Diese
79 An dieser Stelle erfahren die Ausführungen Steinmanns zu Heim ihre Berechtigung. Das Ziel Heims ist es nach Steinmann, "durch das Denken selbst die Gewißheit des menschlichen Denkens zu zersetzen und damit Raum zu schaffen für die Haltung eines einfachen Hinnehmens eines von Gott Hergegebenen" (Th. Steinmann, Zur Auseinandersetzung mit Karl Heims philosophischer Grundlegung, in: ZThK 13 (1932), 27ff., hier 27). Konkret geht es Heim dabei nach Steinmann um die Aufdeckung, daß die Reflexivität des Lebens für sich zum Skeptizismus führen muß, darin aber keine akzeptable Lebenshaltung ist. Denn, so setzt Heim nach Steinmann voraus, das Leben ist überforden ohne die Setzung eines absoluten Ruhepunktes, von dem aus die Zeit des Lebens ihre Einheit erfährt. Ohne diese Setzung eines Zentralpunktes ist das Leben seiner unendlichen Reflexivität preisgegeben (vgl. 28f.). Auch nach Steinmann verkürzt Heim durch seine Kennzeichnung des Lebens in der Entscheidung zwischen Verzweiflung und Gottesglaube den christlichen Glaubensbegriff. Die Kontinuität des Lebens ist unter dem Gedanken des Glaubens als augenblickliche Tat der Entscheidung nicht zu fassen (47f.).
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Kennzeichnung basiert auf der Beschreibung des Lebens als je neue Setzung von Wirklichkeit. Indem die religiöse Gewißheit als augenblickliche Entscheidung über den Sinn der Wirklichkeit im ganzen gedacht wird, genügt sie dem Kriterium unmittelbarer Gewißwerdung, nämlich dem Kriterium der Gegenwärtigkeit des in der Gewißheit Ergriffenen. Entsprechend wird die Ewigkeit von Heim als Tiefendimension des Augenblicks gedacht; die Ewigkeit ist damit nichts anderes als die unmittelbare Selbsterschließung des Daseins im Augenblick. Damit aber ist die geforderte Sicherstellung des Glaubens wohl kaum erreicht; denn das Nichtgegenständliche ist nach Heim zunächst das endliche Ich als Aktzentrum der konkreten Person. Der Durchbruch zum christlichen Gottesgedanken wird so bei Heim letztlich noch nicht erreicht. Die Bemühungen zur Entfaltung des christlichen Gottesgedankens bleiben so bei Heim marginal, nämlich beschränkt auf die Betonung der Transzendenz Gottes und seiner Nichtobjektivierbarkeit.80 Der Glaube bleibt auch in dieser Schrift über die Glaubensgewißheit beschränkt auf den Akt der Selbstvergewisserung des Daseins. Die von Heim intendierte Heraushebung der Ständigkeit der Heilstat Gottes wird in die Entscheidungszeit aufgehoben. Gewiß, Heim wehrt damit der Vergegenständlichung der Heilstat Gottes, auf die sich der christliche Glaube bezieht. Wie noch zu zeigen sein wird, kommt Heim darauf gegen Barth sehr viel an. Heim kann durch seine Kennzeichnung des Glaubens als freie Tat der Entscheidung in Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Überlegungen deutlich machen, daß es an der Zeit ist, daß Gott ankommt und in der Zeit für ihn angenommen wird. Aber faktisch verfügt der Glaube über Gottes Ankunft, indem das Sein Gottes in die Aktualität seines Ergriffenwerdens durch den Glauben verlegt wird. So bleibt der Glaube als Entscheidung für die Ewigkeit Gottes inhaltlich unterbestimmt.
80 Vgl. Glaubensgewißheit, 247
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Π. Die Wendung Heims zum Personalismus und ihre Bedeutung für die Bestimmung der Zeit - Bemerkungen zur Schrift Ontologie und Theologie' Der Aufsatz Ontologie und Theologie' steht nicht von ungefähr in derselben Nummer der Zeitschrift "Theologie und Kirche' von 1930, in der sich auch Bultmanns Aufsatz über 'Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube' befindet. Heims Aufsatz aus demselben Jahr bietet ebenso wie der Aufsatz Bultmanns den Versuch einer theologischen Auseinandersetzung mit der Heideggerschen Ontologie. Heim und Bultmann treffen sich in dem Bemühen einer philosophischen Rechtfertigung theologischer Dogmatik. Beide sehen in Heideggers Philosophie einen herausragenden Beitrag zur Analyse des modernen Bewußtseins und Selbstverständnisses. Und beide sehen die Möglichkeit einer positiven Aufnahme der Heideggerschen Philosophie von ' Sein und Zeit' ohne Verleugnung des ureigensten Themas der Theologie. Allerdings gehen Bultmann und Heim unterschiedliche Wege in der konkreten Formulierung des Themas der Theologie und damit auch der Bestimmung der Aufgabe theologischer Dogmatik. Nach Heim rückt das Problem der Existenz zu Recht in den Mittelpunkt der Überlegungen von Theologie und Philosophie.1 Dabei handelt es sich beim Problem der Existenz für Heim um eine bislang in der Geschichte der Philosophie nicht dagewesene Problematik; das 'Sein des Subjekts' nämlich ist schlechthin ungewiß geworden.2 Die äquivoke Bedeutung des Seinsbegriffs ist das entscheidende Problem der heutigen. Philosophie. Diese Erkenntnis formuliert zu haben, ist das Verdienst Martin Heideggers. Die grundlegende Einsicht Heideggers ist dabei für Heim, die Singularität des Seins des Daseins erwiesen zu haben. "Wir müssen alle Analogie dinglicher Verhältnisse, die sich uns hier fortwährend störend eindrängen, gänzlich beiseite lassen und uns vorurteilslos in die unvergleichliche Eigenart dieser unanschaulichen Existenzweise versenken."3 Diese Versenkung führt zu dem Ergebnis, daß das Dasein eine völlig andere Struktur als das Sein der Gegenstände hat, "die voneinander getrennt und gegeneinander isoliert werden können".4 Demgegenüber hat das Subjekt sein Sein nur in
1 Vgl. K.Heim, Ontologie und Theologie, in: ZThK 11 (1930), 325; dieser Aufsatz Heims wird im folgenden zitiert ohne Voranstellung des Verfassemamens als 'Ontologie und Theologie' 2 AaO. 326 3 AaO. 328 4 AaO. 327
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Beziehungen. Das Dasein ist von vornherein ein Sein "wozu und woraufhin".5 Die Theologie, so legt Heim dar, kann gar nicht anders als die Ergebnisse der phänomenologischen Philosophie, die diese in der Analyse des intentionalen Bewußtseins hervorbringt, zur Kenntnis zu nehmen und zustimmend zu rezipieren. Denn die Besinnung der phänomenologischen Philosophie geht "auf das Lebenszentrum des Menschen", mit dem sich auch die Theologie beschäftigt; so daß die Übertragung "dieser Analyse auf die Theologie, sobald wir ihre Richtigkeit anerkennen, eine unvermeidliche Konsequenz"6 ist. Die entscheidende Frage für Heim in der für notwendig erachteten Rezeption der phänomenologischen Philosophie aber ist nun, wie die Theologie die philosophische Analyse so aufzunehmen in der Lage ist, daß sie ihr ureigenstes Thema nicht verrät.7 Das ureigenste Thema der Theologie macht sich für Heim schon vordergründig nur dann geltend, wenn der Offenbarungsbegriff nicht zum Prädikat des Daseins wird. Es könnte nicht akzeptiert werden, wenn eine Rezeption der philosophischen Daseinsanalyse durch die Theologie dazu führen würde, daß "der Offenbarungsbegriff zu einer bloßen Mythologisierung der vom Philosophen schon im natürlichen Dasein entdeckten wesentlichen Dialektik von uneigentlicher und eigentlicher Existenz"8 führen müßte. So meint Heim mit Kuhlmann zu erkennen, daß Heideggers 'Metaphysik' 9 zutiefst "atheistische Metaphysik" ist und so ein "lediglich profanes Selbst- oder Daseinsverständnis"10 entwickelt. Es bleibt die Anfrage an Bultmann, ob er dies angemessen berücksichtigt hat und in seinem Glaubensbegriff nicht lediglich "einer Seinsmöglichkeit, die der Philosoph im Menschen (als humanuni) entdeckt hat, hinterher" bloß "die Weihe einer göttlichen Offenbarung" gibt.11 Der Theologie bleibt selbst dann, wenn sie die Profanität der philosophischen Daseinsanalyse voll erkennt, keineswegs nur die unbefriedigende Möglichkeit, der Analyse des 'natürlichen' und 'wirklichen' Menschen, wie sie die Philosophie für sich reklamiert, ihr Bild einer übernatürlichen Bestimmung des Menschen entgegenzusetzen. Vielmehr streitet die Theo-
5 AaO. 328 6 Ebd. 7 In dieser Frage sieht Heim die Berechtigung des Aufsatzes von Kuhlmann gegen Bultmann (329); der Aufsatz von Kuhlmann befindet sich in ZThK 10 (1929) 28ff. unter dem Titel 'Zum theologischen Problem der Existenz'. 8 Ontologie und Theologie, 329 9 So Heim in einer Kennzeichnung der Philosophie Heideggers, aaO. 329 10 AaO. 328 11 AaO. 329
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logie mit der Philosophie um das rechte Verständnis des wirklichen Menschen. Deshalb reicht es auch nicht, so legt Heim dar, die Analyse der Personalität des Menschen, wie sie die Philosophie vorlegt, in der Theologie einfach zu übernehmen. Diese Einsicht macht das Verfahren verdächtig, die Theologie schlechthin auf dem Grund einer unkritisierten philosophischen Analyse zu entwickeln, die allenfalls die Möglichkeit des Glaubens als eine von vielen Existenzverfassungen zuläßt.12 Der Streit mit der Philosophie um das rechte Verständnis des wirklichen Menschen manifestiert sich für Heim im Schöpfungsglauben. "Denn, wenn wir an den Schöpfer glauben, dann sehen wir in dem 'geschichtlichen Dasein', mit dem sich auch ein atheistischer Philosoph beschäftigt, eine Schöpfung Gottes".13 "Für den Glauben steht das humanuni von vornherein immer schon im Licht der Schöpfung und der eschatologischen Bestimmung".14 Damit beansprucht Heim gegen Heidegger und letztlich auch gegen Bultmann, daß die Geschichtlichkeit des Daseins theologisch gedeutet werden muß. Die Theologie kann die Philosophie also nicht aus der Verantwortung entlassen; sie vermag das Bild von einer profanen Existenz ohne Gott, das die Philosophie entwirft, nicht als das Bild des wirklichen Menschen zu akzeptieren. Diese Existenz, wie sie die philosophische Daseinsanalyse entwirft, ist für die Theologie immer nur auf Grund einer Abstraktion möglich - nämlich auf Grund der Abstraktion von der Sinnfrage menschlichen Lebens. Für die Theologie ist der wirkliche Mensch der um Gott wissende und sich vor ihm verantwortende Mensch.15
12 Hier wird der Ansatzpunkt der Kritik Heims an Bultmann deutlich. Heim vermißt bei Bultmann eine kritische Stellungnahme zu der Heideggerschen Daseinsanalyse. Daß Heim Bultmann darin nicht voll gerecht weiden kann, ist deutlich. Denn auch Bultmann macht gegenüber Heidegger den Anspruch geltend, daß der Glaube das Dasein besser versteht als dieses sich selbst je zu verstehen in der Lage ist. Bultmann seinerseits sieht den Übergang von der Analyse des natürlichen Daseins zum gläubigen Dasein bei Heim als einen 'Salto mortale' (R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, Hg. E. Jüngel/K.W. Müller, 1984,193,197). Der Glaube bei Heim ist für Bultmann bloßer Ausdruck menschlicher Selbstbehautpung. Der hier zu besprechende Aufsatz Heims könnte so interpretiert werden, daß Heim auf diesen Vorwurf Bultmanns reagiert mit der Entdeckung des grundsätzlichen Ich-Du-Verhältnisses, in dem menschliches Leben steht. 13 Ontotogie und Theologie, 330 14 Ebd. 15 Heim kommt damit in seiner Kritik an der Heideggerschen Daseinsanalyse und seiner Unterscheidung zwischen der wirklichen und physikalischen Zeit in erstaunliche Nähe zu Barths Lehre vom wirklichen Menschen, wie dieser sie in seiner Anthropologie entwirft. Barth sieht den wirklichen Menschen als den, der in der und durch die Offenbarung gesetzt ist. Der wirkliche Mensch ist, darauf wird noch zurückzukommen sein, nach Barth der Mensch Jesus. Heim will die These vom wirklichen Menschen als dem Menschen coram Deo anders als Barth
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Die Kritik an Heideggers Daseinsanalyse - nämlich, daß sie den wirklichen Menschen nicht zu erfassen vermag - verifiziert Heim folgendermaßen: Die Ausklammerung der Gottesfrage in der Existenzanalyse von 'Sein und Zeit' erklärt sich durch eine unzureichende Würdigung der personalen Relationen für das Verständnis des Daseins überhaupt.16 Dem "Du-Verhältnis und seiner eigenartigen Struktur"17 widmet Heidegger leider keine erschöpfende Untersuchung. Das macht den Mangel seiner Analysen aus. Für die Theologie ist die volle Durchleuchtung des 'Ich-Du-Verhältnisses' für das Verständnis der menschlichen Personalität nicht nur deshalb von Belang, weil "das Verhältnis zu Gott und zu Christus (...) nach christlicher Auffassung unter allen Umständen ein Verhältnis zwischen Personen"18ist; sondern die Theologie geht mit Recht davon aus, daß die personale Beziehung die Urbeziehung des Menschen schlechthin ist. Erst in dem 'Ich-DuVerhältnis' erfüllt sich die Einsicht, daß Menschsein heißt, in lebendigen Beziehungen zu stehen. Damit ist nach Heim gemeint, daß sich menschliches Leben durch Selbstunterscheidung von anderen entfaltet. In diesem Zusammenhang hat das Verfahren Bultmanns für Heim sein Recht, nämlich in der Forderung, die Theologie könne sich nur so rechtfertigen, daß sie auf eine Analyse des humanuni schlechthin aufbaue, um den Glauben als eine Seinsmöglichkeit des natürlichen Daseins zu entwickeln. Denn natürlich vollzieht sich auch die Entfaltung des menschlichen Gottesverhältnisses nach Analogie des Verhältnisses zwischen Personen, also durch eine Übertragung der das Leben konstituierenden zwischenmenschlichen Beziehungen auf das Gottesverhältnis des Menschen.19 Jede Theologie ist für Heim insofern gezwungen, weil sie menschliche Rede ist, sich der analogen Redeweise in der Entfaltung der Gottesbeziehung des Menschen zu bedienen. Alles andere wäre nach Heim Augenwischerei. Die Einsicht, Menschsein heiße, in lebendigen Beziehungen zu stehen, hat für Heim folgende Implikationen: erstens ist damit ein neues Verständschöpftingstheologisch begründet wissen (Ontotogie und Theologie, 330). Allerdings grenzt er diese schöpfungstheologische Begründung der Beschreibung des wirklichen Menschen nicht ab von einer eschatologischen Bestimmung des Menschen. Der wirkliche Mensch ist der, über dem die Verheißung der Gottesgemeinschaft liegt (aaO. 330). Der wirkliche Mensch ist für Heim der als Bundesgenosse Gottes gedachte und geglaubte Mensch. Insofern ließe sich Heims Position mit der Barths durchaus vermitteln. Beide greifen eine philosophische Anthropologie gerade darin an, daß sie das Wesen des Menschen unterbestimmt, indem sie den Gottesbezug ausblendet. Bultmann hingegen gedenkt, die theologische Anthropologie auf die philosophische aufzubauen als Realisierung einer bestimmten Möglichkeit, die als solche in der philosophischen Analyse aufgedeckt wird. 16 Vgl. Ontotogie und Theologie, 331 f. 17 AaO. 332 18 AaO. 331 19 Vgl. aaO. 331
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nis der Identität des Subjektes entdeckt. "Das Ich hat nicht eine von seinem Verhältnis zum Du unabhängige Existenz."20 Insofern ist der Versuch einer Selbstbegründung des Ich aus sich selbst eine Abstraktion von der ursprünglichen Verfassung des Ich und führt im aktuellen Lebensvollzug zum unglücklichen Selbstbewußtsein. "Das einsame Ich ist also eine negative Beziehung, in welcher das Ich sich von seinem ursprünglichen Beziehungspunkt gewaltsam und willkürlich abgewendet hat und durch den es seine eigene Existenzgrundlage zerstört."21 Zweitens gilt, daß die Selbsterkenntnis des Menschen an sein Ich-Du-Verhältnis gebunden ist; "der Mensch erkennt sich nur im Menschen".22 Diese Einsicht vermittelt drittens die Überzeugung, daß eine Entwicklung der Gottesbeziehung des Menschen nur auf der Grundlage des 'IchDu-Verhältaisses' des Menschen möglich ist. Das macht die notwendige Zeitgenossenschaft heutiger Theologie aus, daß sie diesen 'ontologischen Unterbau'23 der Theologie erkennt. Denn auf dem Grunde dieses Unterbaues - nämlich des Personalismus - läßt sich nicht nur der Gottesglaube begrifflich entwickeln, sondern zugleich die Notwendigkeit des Gottesglaubens für die Konstitution des Personseins. Denn gilt die Erkenntnis, daß das Ich im und durch das Verhältnis zum Du konstituiert ist, so bedeutet dies, daß wir ein "letztes Du"24 voraussetzen müssen, das "durch sich selbst ist und an dem alle anderen Ich werden".25 Gilt nämlich, daß jedes endliche Ich im und durch sein Verhältnis zum Du Identität gewinnt, so werden die Ich-Du-Verhältnisse in lauter Relationen aufgelöst. "Wir werden auf eine unendliche Reihe geführt"26, und das Ich wird seine Identität auf eine Illusion bauen - auf die Illusion, das andere Ich wäre ein Ich, das aus und durch sich selbst ist. Aber nur im Blick auf ein stehendes und beständiges Du, so die Voraussetzung Heims, läßt sich ein endliches Ich gründen. Die Geltung der phänomenologisch aufgewiesenen Ich-Du-Beziehung für die Bestimmung der Identität des Subjekts steht nach Heim nur dann nicht zur Disposition, wenn wir "ein letztes Du" voraussetzen, "das durch sich selbst" gegründet ist.27 Daraus aber folgt für Heim, daß jede endliche Ich-Du-Beziehung "eine Begegnung mit Gott" ist28, insofern die Gottesbeziehung des Menschen alle 20 21 22 23 24 25 26 27 28
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AaO. 333 AaO. 333f. AaO. 334 Vgl. aaO. 335 AaO. 338 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
endlichen Ich-Du-Beziehungen konstituiert. Denn nur Gott hat sein Ich an und für sich selbst. Insofern ist er Garant für die Gewinnung der Identität des Ich und für alle endlichen Ich-Du-Verhältnisse, die sich ohne das Gegenüber eines beständigen Ich in unzuverlässige Relationen auflösen. Unter der Prämisse aber, daß auch das mir begegnende Du ein von Gott gewolltes Ich ist, erreicht die Liebe zum Du für mich eine andere Dimension. "Der andere, der unserer Hingabe bedarf, fordert sie im Namen Gottes".29 Diese Argumentation will Heim gegen allen Anschein nicht als Gottesbeweis verstanden wissen. Vielmehr sieht er selbst die Einsicht, daß das Ich sich selbst in Relation zum anderen seiner selbst gewinnt, in Kontinuität zur Kennzeichnung des Lebens als ständige Entscheidung. Und zwar steht das Ich in seinen personalen Beziehungen vor der Entscheidung, alle seine Beziehungen auf eine Illusion zu gründen oder aber auf die Beziehimg zu einem stehenden und ständigen Ich. So steht das Dasein in jedem Moment vor der Entscheidung seiner Auflösung in Relationen oder seiner Gründung auf ein letztes und ewiges Du. "Jeder, der an einem Du ein Ich wird, etwa in der Freundschaft, im erotischen Verhältnis, in der Ehe, im Verhältnis von Jünger und Meister, handelt, als ob der andere ein Ich wäre, das an sich selbst wird".30 Das aber ist die Illusion, das Ich könne sich gewinnen in seinen personalen Relationen unabhängig von seiner Gottesbeziehung. Welche Konsequenzen hat nun dieser Aufsatz hinsichtlich der Entwicklung des Zeitverständnisses? Die Wendung zum Personalismus soll den Bann der Punktualität der gläubigen Existenz auflösen, insofern die personalen Relationen nun die Grundlage für die Bestimmung der Situation des Menschen darstellen. Das Ich in seiner Entscheidung steht nun nicht relationslos in seiner Zeit; vielmehr gilt, daß, wenn das Ich durch seine Relationen bestimmt ist, auch die Isolierung der Gegenwart des Ich von seiner Zukünftigkeit und Vergangenheit aufgehoben wird. Zugleich soll die Beziehung des Ich auf das ständige und ewige Du Gottes alle personalen Relationen konstituieren und sich in ihnen als deren Grund erweisen. Damit wird auch der Begriff des Glaubens als Sicherstellung der Existenz aufgehoben. Denn das Ich steht nun vor der Aufgabe, sich in seinen Relationen zu gewinnen. Sein Halt liegt nun in der Fähigkeit, seine Gegenwart in Kontinuität zu seiner Vergangenheit und Zukunft zu gewinnen. Das andere seiner selbst ist für das Subjekt nicht mehr die Bedrohung seiner Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung, sondern die Chance zur Vergewisserung über ein ewiges Gegenüber.
29 Ebd. 30 Ebd.
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ΠΙ. Der Entwurf einer christlichen Lebensanschauung auf dem Hintergrund einer theologischen Zeitlehre 1. Die Selbstvorgabe Heims für seinen Entwurf einer christlichen Lebensanschauung Die Entfaltung der 'christlichen Lebensanschauung' auf dem Grunde einer Interpretation des Zeitphänomens, wie Heim sie in seinem sechsbändigen Hauptwerk 'Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart' durchführt, muß sich messen lassen an dem Anspruch, den Heim selbst in seinem Aufsatz 'Zeit und Ewigkeit' von 1926 an eine theologische Zeitlehre gestellt hatte.1 In diesem Aufsatz hatte Heim mehrere Forderungen an eine theologische Zeitlehre gestellt, die zunächst von der Erledigung der gegenständlichen Vorstellung der Zeit als die "in sich ruhende Form des Weltgeschehens"2 ausgegangen waren. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Überwindung jener vulgären Zeitvorstellung sieht Heim immer wieder im Verlauf der Geschichte des Denkens begründet. Jene Einsicht fußt nämlich auf der Überzeugung, daß die Zeit die Verfassung des endlichen Subjekt ist, die es vor die ständige Entscheidung über den Sinn seines Lebens stellt. In der Wahrnehmung der eigenen Zeitlichkeit erwächst nach Heim immer wieder die Erkenntnis von der Hinfälligkeit der Zeitform. Die Hinfälligkeit der Zeitform des endlichen Seins wird bewußt in einer Zeit, die durch das Bewußtsein der Zeitenwende bestimmt ist. Die Suche nach einem neuen Verständnis der Zeit, ja die Frage nach dem Wesen der Zeit überhaupt, wird geboren aus dem Zeitgefühl, in einer Zeitenwende zu leben.3 Die Frage nach der Zeit ist also für Heim nichts anderes als die Frage danach, was in der Zeit an der Zeit ist. Damit ist die Vorstellung, die Zeitstrecke, auf der sich alles Geschehen dieser Welt gleichsam abspielt, sei eine in sich ruhende Form, unvereinbar. Die Einsicht in eine Neubestimmung der Zeit entspringt also auch und gerade im Bereich der Theologie dem drängenden Zeitgfühl, in der Periode des Unterganges einer Kultur zu leben - nämlich in der Periode, in der
1 Dieser Aufsatz von K. Heim, Zeit und Ewigkeit, die Hauptfrage der heutigen Eschatologie, 1926, ist abgedruckt in dem Band A. Köberle, Karl Heim. Denker und Verkündiger aus evangelischem Glauben, 1973,183ff.; dieser Aufsatz Heims wird im folgenden zitiert als 'Zeit und Ewigkeit' ohne Voranstellung des Verfassemamens. 2 Zeit und Ewigkeit, 184 3 Heim nennt die jüdische Apokalyptik, das Auftreten Luthers und die Thesen Bergsons als drei geschichtliche Einschnitte, in denen die Frage nach dem Wesen der Zeit aus dem Gefühl der bevorstehenden Zeitenwende in aller Dringlichkeit gestellt wurde. (AaO. 189)
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aufgeht, daß die gegenwärtige Zeit ihren Sinn nicht in sich selbst hat.5 In diesem Sinne kann Heim das Zeitverständnis der jüdischen Apokalyptik, Luthers und auch Bergsons gleichermaßen unter die Überschrift der Entstehung eines neuen Zeitgefühls bringen. Zugleich macht Heim deutlich, daß sowohl die Vorstellung, die Zeit laufe als in sich ruhende Form des Weltgeschehens auf ein wie auch immer zu bestimmendes Ende zu, als auch die Vorstellung, der Zeit stehe die Ewigkeit als überpolarer Raum in absoluter Differenz zur Zeit gegenüber, auf der Vorstellung der 'stabilen Zeitauffassung' fußen. 6 Die Frage nach dem Wesen der Zeit aber ist, wenn sie denn Ausdruck eines bestimmten Zeitgefühls ist, letztlich die Frage nach dem Sinn der Zeit in einer Zeit, der dieser Sinn verloren zu gehen droht. Insofern geht es auch und gerade für eine theologische Zeitlehre um die Neuentdekkung des Telosbegriffs für die Neubestimmung des Wesens der Zeit. "Wir suchen nach einem neuen Verständnis dessen, was im NT 'τέλος' genannt ist".7 Die Neuentdeckung des Telosbegriffs ermöglicht nach Heim eine Neuinterpretation des Zeitphänomens aus biblischer Sicht. Zum einen kann eine biblisch orientierte Zeitlehre die Zeit als Form des gefallenen, "d.h. der aus der Unmittelbarkeit zu Gott herausgefallenen Schöpfung"8, aber zugleich auch der auf Gott hin geschaffenen Kreatur entwickeln und durchsichtig machen. "Nur dann entsteht das eigenartige Gleichgewicht der biblischen Grundhaltung".9 Sichtbar und aktuell wird diese doppelte Orientierung einer biblischen Zeitlehre durch den Aufweis der unlösbaren Antinomie der Erfahrungswelt, ja der Wirklichkeit überhaupt. Die unlösbare Antinomie der Erfahrungswirklichkeit zeigt sich für den Glauben darin, daß er die Absolutheit Gottes voraussetzt, zugleich aber unter dem Eingeständnis lebt, daß die Absolutheit Gottes in der Wirklichkeit nicht unmittelbar erkennbar ist. So vermag eine Zeitlehre, die die Zeit als Verfassung des endlichen Daseins zwischen Gottesnähe und Gottesferne ausdrücklich macht, die Situation des Glaubens in der Welt angemessen zu kennzeichnen. Deshalb ist die dem Glauben eigene Einsicht in die verborgene und geheimnisvolle Beziehung der Zeit zur Ewigkeit zum anderen so zu entwikkeln, daß die Strittigkeit der Ewigkeitsdimension der Zeit nicht übergangen wird. Die Behauptung des Glaubens, daß jeder Zeitinhalt, jedes Element von Natur und Geschichte "bis zum Rand voll von Ewigkeit" ist10, muß sich 5 6 7 8 9 10
Vgl. ebd. AaO. 188 AaO. 194 Ebd. AaO. 195 AaO. 195
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gegen die ebenso vehement vorgetragene These, die Zeit habe ihre Sinn in und durch sich selbst, behaupten. "Der Schatz kann nicht gehoben werden; er bleibt verborgen und verhüllt".11 Die Zweideutigkeit der Zeit und damit zugleich die Strittigkeit ihres Bezuges auf eine ihren Lauf zurecht bringende Ewigkeit bleibe unaufhebbar. "Wir haben es nicht in der Hand, den verhüllten Ewigkeitsgehalt der Welt zu enthüllen. Das kann nur Gott selbst, der diese Zeitform für diese jetzige Lage geordnet hat".12 Daß die Zeit ihren Sinn nicht in sich selbst hat, sondern zur "Sinnerfüllung der ganzen Zeitform"13 strebt, - diese Behauptung bleibt unter der Bedingung dieser Zeit immer strittig. Eine mögliche Begründung findet diese Behauptung allein in bezug auf die Zeitwerdung des ewigen Gottes. Darin, daß die Theologie das Offenbarungsgeschehen als verborgenes Telos der gesamten Weltgeschichte entwickelt, kann sie die Behauptung des Glaubens, in Christus habe sich die Zeit erfüllt, mit Gehalt füllen. Die Pointe einer christologisch orientierten Zeitlehre liegt darin, daß sie das Ziel der Zeit dem Lauf der Zeit als nicht bloß äußerlich entgegensetzt. Vielmehr deckt eine theologische Zeitlehre den verborgenen Sinn aller Zeit in ihrer Mitte selbst auf. Darin kann die Theologie der Situation der Zeit entsprechen, die ihre Mitte verloren hat. Die Behauptung von Glaube und TTieologie, die Ewigkeit sei als verborgener Sinn der Zeit deren Mitte, läßt sich nach Heim verifizieren anhand der Analyse moderner Zeiterfahrung. Das Nachdenken über die Zeit in Philosophie und Wissenschaft zeigt insgesamt mögliche Wege, "auf denen wir von der heutigen Geisteslage aus von ganz verschiedenen Seiten her" an die neutestamentlich orientierte theologische Zeitlehre herangeführt werden.14 Folgende wesentliche Momente modemer Zeiterfahrung bieten für Heim einen Anknüpfungspunkt dafür, den neutestamentlich orientierten theologischen Zeitbegriff plausibel zu machen. - "Rein gefühlsmäßig" befinden wir uns, so Heim, in einer Lage, "in der die Menschen in zunehmendem Maße nicht nur am Inhalt des Weltgeschehens leiden, sondern an der Zeit selber".15 Die Zeit wird als Bedingung des Lebens erfahren, die das Leben an seiner Erfüllung hindert.
11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 AaO. 195; Heim ist also der Meinung, daß die Verifizierung der Entscheidungstat des Glaubens aus der Analyse der Bedingungen des menschlichen Lebens erfolgen kann. Es wird noch deutlich werden, daß an dieser Stelle die entscheidende Differenz zwischen Heim und Barth zu sehen ist. 15 AaO. 196
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"Wenn es Vollendung geben soll, so muß sie darin bestehen, daß diese Form selber überwunden wird, daß der Zeitstrom im Meer der Ewigkeit zur Ruhe kommt".16 Ihren vollendeten literarischen Ausdruck findet diese Zeiterfahrung für Heim im Hyperions Schicksalslied.17 - In ähnlicher Weise macht die Gewissenserfahrung die Not deutlich, die die zeitliche Struktur des Lebens dem Dasein aufbürdet. Das Gewissen ist für Heim der O r t ' im Menschen, an dem die letzte Gebundenheit des Menschen ausdrücklich wird. Die Gewissenserfahrimg sieht Heim dadurch bestimmt, daß sie in und wegen der spezifischen Zeiterfahrung des Menschen in notwendige Aporien führt. Denn die Gewissenserfahrung ist fundamental dadurch gekennzeichnet, daß in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens "mehrere Forderungen an uns herantraten, die zugleich erfüllt sein wollten und es doch nicht konnten, weil man an die Zeit gebunden ist".18 Die Einsicht, daß ich in meiner Zeit nicht alle erdenkliche Hilfe leisten und nicht allen sittlichen Forderungen entsprechen kann, läßt mich die Zeitform meines Lebens als Flucht erfahren. Das Gesetz der Perspektive läßt das handelnde Subjekt im 'Hier und Jetzt' lediglich an eine Möglichkeit und auch nur an eine einzelne ethische Forderung, der es zu entsprechen sucht, gewiesen sein. Damit werden im 'Jetzt' zugleich andere Möglichkeiten und andere sittliche Forderungen ausgeschlossen. Die Gewissenserfahrung führt also in der Gebundenheit menschlichen Lebens an seine besondere Zeit notwendig zur Schulderfahrung. - Weiterhin leidet der Mensch in seiner Zeit für Heim sichtbar unter der antinomischen Struktur der Zeit. Diese wird sichtbar in der Unmöglichkeit, "die Zeitstrecke ohne Widerspruch zu denken" - also in der Unmöglichkeit, einen Anfang und ein Ende der Zeit zu denken und damit die Ewigkeit als Begrenzung der Zeit vorstellig zu machen.19 Die Begrenzung der Zeit und ihre Grenzenlosigkeit können gleichermaßen nicht widerspruchsfrei gedacht werden. Die Kantische Lösung dieser Antinomie kann die Tiefe des menschlichen Leidens unter der Zeiterfah-
16 AaO. 197 17 Heim nimmt Bezug auf die dritte Strophe dieses Liedes, die lautet: "Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen, es schwinden, es fallen die leidenden Menschen blindlings von einer Stunde zur andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahr-lang ins Ungewisse hinab"; vgl. aaO. 196 18 AaO. 197; Heim verweist zum Exempel auf die Unmöglichkeit, daß ein Sanitäter im Kriegsfall nach der Explosion einer Granate allen Verwundeten zur gleichen Zeit erste Hilfe leisten kann. Aus diesem Beispiel wird deutlich, daß Heim Gewissenserfahrung auf Grenzerfahrung reduziert. 19 Vgl. aaO. 199
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rung nicht erfassen. Denn das Leiden des Menschen unter der Erfahrung, daß die Zeitform ihn an seiner Bestimmung hindert, läßt sich nur bezwingen, wenn es "eine Befreiung aus dem unendliche Gefängnis der Zeit"20 überhaupt gibt. Wir sind nun einmal zu einer existentiellen Stellungnahme hinsichtlich der Lebensfrage gezwungen und können uns nicht mit der Feststellung begnügen, das Rätsel der Zeit sei nicht zu lösen. Die antinomische Struktur der Zeit weist in Denken und Erfahrung darauf, daß die "Zeitform etwas Ungelöstes in sich trägt, daß sie etwas in sich Unvollendetes ist".21 So steht das Dasein vor der Entscheidung, Gott die Erfüllung der Zeit zuzutrauen oder die Zeitform in alle Ewigkeit festzuschreiben. Die beiden Seiten der Kantischen Antinomie - die Endlichkeit und Unendlichkeit der Zeit - werden so, wenn wir die Begrenzung und mögliche Erfüllung der Zeit durch die Ewigkeit denken, Ausdruck der Spannung, "in der der Glaube die Zeitform sieht".22 Die Endlichkeit der Zeit ist für den Glauben Ausdruck für die Begrenzung der Zeit durch die Ewigkeit; und ihre Unendlichkeit enthüllt dem Glauben den 'ewigen Gehalt' der Zeit.23 - Die neutestamentliche Zeitlehre kann den Glauben an die Begrenzung und damit Erfüllung der Zeit inhaltlich füllen, indem sie alle Zeit von der Zeitwerdung Gottes her betrachtet. Die Zeit empfängt so "von einem Endpunkt her ihre Richtung"24, wobei der Endpunkt in der Zeit vorweg dargestellt ist. "Erst von diesem biblischen Zeitgefühl aus, also vom telos her, geht uns der Sinn der Heilsgeschichte auf'. 25 So hat die biblische Zeitlehre erhellende Kraft für die Erfassung der Situation des Menschen in seiner Zeit. Denn die christliche Hoffnung erwartet nicht die Aufhebung der Zeit, sondern ihre Erfüllung. Damit sagt der Glaube ein 'Ja' zur Zeit in ihrer Widersprüchlichkeit und nimmt doch das Leiden unter der Zeit ernst in der Botschaft von der zukünftigen Erfüllung aller Zeit. Die Kraft dieser Hoffnung gewinnt sich aus der Fähigkeit der Erinnerung an die Zeitwerdung der Ewigkeit in der Menschwerdung Gottes. 20 AaO. 200 21 Ebd. 22 AaO. 201 23 Vgl. aaO. 201; damit durchschlägt Heim gleichsam den gordischen Knoten, den die Kantische Antinomie darstellt, indem er sie als Ausdruck der Entscheidungssituation des Daseins interpretiert. Allerdings will Heim die Entscheidung des Daseins für eine Begrenzung seiner Zeit durch die Ewigkeit Gottes so verstanden wissen, daß darin der Glaube eben nicht aus der Zeit flieht, sondern ihr eine Richtung verleiht, die sie sich selbst zu geben nicht in der Lage ist (aaO. 201). 24 AaO. 201 25 AaO. 203
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2. Die Entfaltung der Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung auf dem Hintergrund einer Neubestimmung der Zeit Den eigentlichen Durchbruch zu einer voll ausgebildeten 'Lehre von der Zeit' bringt das Hauptwerk Heims. In dem ersten Band seines breit angelegten Werkes 'Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart' geht es Heim ausdrücklich um die philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung. Dieses Programm kennzeichnet das Denken Heims, wie wir sahen, in hervorragender Weise schon seit seinem Frühwerk. Der Anspruch ist also gewaltig; es geht Heim um den Versuch, angesichts modemer philosophischer und naturwissenschaftlicher Entwicklungen die Verantwortlichkeit des Glaubens als eine Form der Wirklichkeitsdeutung aufzudecken. Das Anliegen Heims ist darin durchaus apologetisch - auch wenn Heim selbst sich mehrfach dagegen verwahrt hat, seinen Denkweg mit dem Begriff der Apologetik zu umschreiben. Heim ist mit dieser Meinung auch insofern im Recht, als er selbst immer wieder darauf verwiesen hat, daß die Versuche, den Glauben als das Thema der Theologie angesichts moderner Welterfahrung plausibel zu machen, keinen Glaubensbeweis zu liefern vermögen. Heim selbst geht es nach eigenem Bekunden in einem eher missionarisch zu nennenden Anliegen darum, "die Botschaft von der Erlösermacht Christi zu bezeugen einer Welt gegenüber, die diese Botschaft in weiten Kreisen ablehnt und bekämpft".1 Heim will "die Wohnungsnot für Gott"2 in dieser Welt beseitigen durch den Nachweis, was "als letzte Rettung der denkenden Menschheit noch übrig bleibt".3 Die Analyse der Existenz soll erweisen, daß die Verweigerung der Entscheidungstat des Glaubens die Verfehlung der eigentlichen Existenz des Menschen bedeuten muß. Dieser Erweis aber kann nach Heim die Tat des Glaubens nicht ersetzen oder gar begründen. Dem ersten Band seines voluminösen Werkes fallt die Aufgabe zu, auf dem Hintergrund "der heutigen theologischen und philosophischen Arbeit"4 eine "allgemein begriffliche Grundlage"5 für die Entfaltung der christlichen Botschaft zu legen.
1 K. Heim, Weltschöpfung und Weltende, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band VI, 1952,173 2 AaO. 174 3 AaO. 180 4 K. Heim, Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band 1,1931, VI 5 Heim, Weltschöpfung und Weltende, 173
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a) Die religiose Frage als Lebensfrage Dieser Versuch einer Grundlegung der christlichen Lebensanschauung fußt bei Heim auf einer dezidierten Zeitanalyse. Dieser Versuch Heims unterscheidet sich schon als Literaturform von allen dogmatischen Lehrbüchern im Bereich der evangelischen Theologie. Natürlich geht es Heim auch um eine Verantwortung des christlichen Glaubens angesichts modemer Welterfahrung. Aber insofern sich dieses Anliegen in den dogmatischen Lehrbüchern durch die "Berücksichtigung der Vorgeschichte" der christlichen "Zentraldogmen"6 vermittelt, wird dieses Anliegen nach Heim unnötig verdeckt. Heim findet es denn auch keineswegs verwunderlich, daß diese Versuche einer Rechtfertigung der christlichen Lebensanschauung außerhalb kirchlicher und theologischer Kreise keine Beachtung finden. Deshalb setzt Heim alles daran, keine historisch nach allen Seiten abgesicherte Fundamentaltheologie zu entwickeln, sondern in "dem Stil der neuen Sachlichkeit" das Ganze der christlichen Lebensauffassung zur Darstellung zu bringen.7 Unter diesem Stil versteht Heim den äußerst notwendigen Versuch der Theologie, die christliche Lebensanschauung als eine Lebenshaltung kenntlich zu machen, die angesichts der allgemeinen Zeitsituation höchste Plausibilität zu beanspruchen vermag.8 Denn die geistige Situation seiner Zeit sieht Heim dadurch bestimmt, daß es um die letzten Lebensfragen geht. Die letzten Lebensfragen implizieren die Frage danach, ob das Leben einen Sinn hat.9 Die Radikalität der Sinnfrage hängt nach Heim wesentlich an der wachsenden Einsicht, daß sie durch den Hinweis auf die Selbstgewißheit des endlichen Subjekts nicht mehr beantwortbar ist. "Der Mensch der Gegenwart" - so formuliert Heim im Anklang an ein Wort Tillichs - ist "der autonome Mensch, der in seiner Autonomie unsicher geworden ist"10 und nun nach letzten Bindungen sucht. Diese Sinnfrage ist im Lebensvollzug nicht wegzuschieben. Sie ist immer dann präsent in jedem Einzelleben, wenn es um Entscheidungen geht, in denen das Ganze des menschlichen Lebens in Frage steht. 6 Heim, Glaube und Denken V 7 AaO.VI 8 Auch hier zeigt sich wieder, daB das Interesse Heims im wesentlichen ein praktisches ist. Dem vor dem Nichts stehenden, weil auf sich selbst geworfenen Menschen seiner Zeit will Heim den christlichen Glauben als eine Möglichkeit vorstellig machen, die ihn bedrängende Sinnfrage zu beantworten. 9 Zu Beginn seines Buches 'Glaube und Denken' macht Heim deutlich, daß es ihm darum gehe, aufzudecken, "daß unser Leben kein Sturz ins Leere ist" (aaO. 2); und gegen Ende seines sechsbändigen Werkes über die christliche Lebensanschauung faßt Heim sein Programm unter dem Stichwort eines Kampfes gegen Nihilismus und Skeptizismus zusammen (Weltschöpfung und Weltende, 182). 10 Glaube und Denken, 8
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Nach Heim führt die absolute Autonomie des Menschen in die Irre, und darin sieht er eine wesentliche Aufgabe der Theologie, nicht nur das sich auf sich selbst stellende Bewußtsein als entfremdetes zu zeigen, sondern ihm in seiner Entfremdung die Möglichkeit der Rückkehr aufzudecken. Manifest wird die geistige Situation der Zeit, die zu kennzeichnen ist durch den Zusammenbruch des Ideals absoluter Selbstverwirklichung, in Philosophie und Wissenschaft. Die Lage der europäischen Philosophie sieht Heim im wesentlichen gekennzeichnet durch den "Zusammenbruch der Bewußtseinsphilosophie".11 Die Plausibilität der These, das Ich-Bewußtsein sei die letzte und gewisseste Gegebenheit, hat an Kraft verloren. Ersichtlich wird dies für Heim in dem Rückgang der 'neueren Ontologie'12 hinter das gegenständliche Bewußtsein "zurück auf das Dasein des Ich".13 Aber dieser Rückgang in die Analyse des alltäglichen Ich führt nach Heim entgegen den Absichten Heideggers zunächst nicht zum Aufbau einer neuen Ontotogie, sondern zu deren völliger Auflösung.14 Damit vollzieht die Philosophie nach, was das Leben kennzeichnet: das Dasein ist auf sich selbst zurückgeworfen und seiner letzten Sicherheiten beraubt. Das ist der Punkt, den das philosophische Denken erreicht hat; in dieser Lage ist die Theologie gefragt. Denn die Theologie hat in dieser Situation, da alles in Frage geraten ist, als Frage nach den letzten Bedingungen aller Wirklichkeit einen möglichen Ansatzpunkt. Denn die religiöse Frage ist nun einmal "die Frage, die bei allen Funktionen, die wir ausüben, den praktischen genau so wie den theoretischen, sofort auftaucht und wie eine Wunde aufbricht, sobald wir überhaupt radikal fragen".15 Die religiöse Frage als die radikalste Frage des menschlichen Lebens überhaupt entspricht also allein der Situation, in die das Denken in seiner Frage nach letzten Voraussetzungen und Gewißheiten gekommen ist. Die religiöse Frage führt das Leben konkret vor eine Entscheidung. Entweder nämlich führt unsere Frage nach letzten Gewißheiten "in eine bodenlose Leere" oder auf die Einsicht in einen
11 Heim, Glaube und Denken, 24 12 Vgl. aaO. 27 13 Ebd. 14 Es ist deutlich, daB Heim sich darin auf die Entwicklung Heideggers von 'Sein und Zeit' zu ' Was ist Metaphysik? ' beziehen kann. In dieser Entwicklung wird für Heim deutlich, daB die Philosophie "ihre Ohnmacht der Wirklichkeit gegenüber erklärt und ihre Truppen auf der ganzen Linie zurückgezogen" (Heim, Glaube und Denken, 31) hat. "Sie erkennt, daß sie unfähig ist, nicht nur, wie Kant schon sah, das Rätsel der Wirklichkeit zu lösen, auch irgend etwas zur Gestaltung des Lebens, zum Aufbau des Staats und der Erziehung beizutragen." (ebd.) 15 AaO. 32
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letzten Sinn; "die Macht, die uns davor schützt, wahnsinnig zu werden, nennen wir Gott".16 Vor der Entscheidung dieser Frage - Verzweiflung oder Gott - steht die Philosophie; bei der Herausbildung dieser Frage ist sie angelangt. Das Leben ist ein 'Spiegelbild' dieser Situation; die Situation der Zeit ist durch die Auflösung aller weltanschaulichen Systeme dadurch bestimmt, daß das Denken an dem Nullpunkt angekommen ist. Der vorherrschende 'Standpunkt' ist der "Standpunkt der radikalen Kritik"17 aller Lebensanschauungen.
b) Die Situationsanalyse und die Antwort der Theologie Die von Heim beschriebene Situation der radikalen Fraglichkeit, in die das menschliche Leben durch die Auflösung aller überlieferten Weltanschauungen gekommen ist, bedarf der genaueren Erhellung. Dies versucht Heim in einer Zeitanalyse; und zwar soll die Analyse der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens aufdecken, was an der Zeit ist. Ist das Denken den schweren Weg der radikalen Selbstkritik zu Ende gegangen, so steht das Denken damit doch nicht notwendig vor dem Nichts. Gerade die Behauptung von der Auflösung aller Weltanschauungen weist auf einen Sachverhalt, der das menschliche Leben, gerade in der Situation radikaler Fraglichkeit, unaufhebbar kennzeichnet: nämlich die dimensionale Gespaltenheit des Lebens. Damit ruht das vor dem Nichts stehende Denken auf positiven Voraussetzungen, die als solche namhaft zu machen sind. Als diese Voraussetzungen benennt Heim die Unterscheidungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Ich und Du. Denn das Bewußtsein von dem Ende aller überlieferten Weltanschauungen führt das Leben nach Heim in das Wissen um die Geworfenheit in sein 'Hier und Jetzt' und sein Gefordertsein durch
16 AaO. 33; Heim appelliert also - und das unterscheidet ihn in seinem Bemühen, den Glauben als eine Lebensanschauung des vor der Sinnfrage stehenden Menschen plausibel zu machen, radikal von Tillich - nicht an die Vernunft des Menschen, sondern an seinen Willen. 17 AaO. 35; ist der konsequente Relativismus wirklich der 'Standpunkt' des neuzeitlichen Menschen, ist die Appellation an den Willen des Menschen durchaus konsequent. Denn der konsequent gedachte Relativismus ist keineswegs ein sich rational begründender Standpunkt, sondern sich absolut setzender Irrationalismus. Insofern stellt der Appell an den Willen des sich so von jeder rationalen Begründung absetzenden Menschen den letzten Versuch dar, dem auf sich selbst zurückgeworfenen Dasein gleichsam beschwörend vor Augen zu stellen, daß es ohne die 'Setzung' eines Gegenüber seinen Boden völlig verliert. Es ist allerdings fraglich, ob Heim den Skeptizismus als Lebensanschauung nicht zu ernst nimmt (vgl. die scharfsichtigen Bemerkungen von Th. Steinmann, Zur Auseinandersetzung mit Karl Heims philosophischer Grundlegung, in: ZThK 13 (1932), 34f.).
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das ihm begegnende Du. So führt das Denken der Gegenwart implizit zu unhintergehbaren Unterscheidungen "zwischen der unentschiedenen Gegenwart und der entschiedenen Vergangenheit, zwischen Werden und Gewordensein, und es wird zweitens unterschieden zwischen mir selbst, meinem Anspruch und meiner Deutung und dem anderen, der mir begegnet und in einem unaufhebbaren Widerspruch zu mir selbst und allen meinen Ansprüchen und Deutungen steht".18 Jene Unterscheidung zwischen der unentschiedenen Gegenwart und der entschiedenen Vergangenheit, zwischen Werden und Gewordensein macht Heim zum Fundamentalunterschied in der Deutung der Wirklichkeit insgesamt. Diese Unterscheidung läßt sich nämlich sogar noch für den 'Standpunkt' absoluter und radikaler Kritik in Geltung bringen. Denn jede - auch als überholt und aufgehoben zu denkende - Weltanschauung ist Anschauung des Vergangenen. Denn jede Weltanschauung oder umfassende Theorie der Wirklichkeit ist im wahrsten Sinne des Wortes 'von gestern', weil sie gegenüber dem Lebensvollzug sekundär ist. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung. Das Ich aber im Hier und Jetzt ist, gerade, wenn es von der Erfahrung der Auflösung aller Weltanschauungen herkommt, im Zustand vollkommenster Unentschiedenheit. Hinter jene Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Unentschiedenheit und Entschiedenheit, kommen weder das Denken noch der aktuelle Lebensvollzug zurück - auch dann nicht, wenn sie von der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Gewißheit des Lebens über seinen Sinn geprägt sind. Der zweite Fundamentalunterschied zwischen Ich und Du folgt gleichsam aus dem ersten, der die Geworfenheit des Lebens in seinem Hier und Jetzt ausdrücklich machte. Der Rückzug des Ich aus seiner Gegenwart bedeutet zugleich seine fundamentale Unterschiedenheit von allen anderen, die nun in einem unaufhebbaren Widerspruch zu mir selbst und allen meinen Ansprüchen und Deutungen stehen. Die Unterscheidungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Ich und Du nennt Heim die Dimensionen des Lebens.19 Diese Dimensionen bilden für ihn den Deutungsrahmen für die Analyse der menschlichen Situation. Der Begriff der Dimension hat seinen Ort im Zusammenhang der Raumanschauung. Darauf weist Heim nicht nur selbst hin, sondern er entwikkelt das Bedeutungsfeld dieses Begriffs im Zusammenhang geometrischer Grundsachverhalte. Die Unterscheidung der drei Raumdimensionen stellt Heim als Unterscheidung zwischen völlig unvergleichbaren Sphären vor. Ein Punktwesen z.B. könnte niemals ein Flächenbild erfassen; einem
18 AaO. 36 19 Vgl. aaO. 38
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fiktiven Flächenwesen wiederum wären Einsicht und der Sinn für die Tiefe völlig verstellt.20 Dimensionen sind so für Heim umfassende Unterscheidungssphären, vermittels derer sich die einfachen Unterscheidungen zwischen zwei Möglichkeiten vollziehen - z.B. die Unterscheidungen zwischen zwei auf einer Fläche liegenden Punkten. Der Dimensionsbegriff allerdings soll von "seiner räumlichen Bedeutung losgelöst" werden.21 Der Hinweis Heims, der Begriff der Dimension habe den Begriff der Kategorien zu ersetzen, zeigt auf, in welche Funktion der Begriff der Dimension einrücken soll. Der Begriff der Dimension in der ihm zugedachten entscheidenden Funktion für die Gesamtdeutung der Wirklichkeit wird auf dem Hintergrund der Einsicht entwickelt, daß Denken sich durch Unterscheidungen vollzieht. Denken heißt für Heim nicht lediglich Begrenzen, sondern 'InRelation-Setzen'. "Wenn der Erkenntnisprozeß sein Ziel erreicht hat, müssen also immer letzte Elemente übrig bleiben, in die das Erkennen die Wirklichkeit zerlegt hat, die aber selbst nicht mehr erkannt werden können".22 Jeder beliebige Wahrnehmungsakt verdankt sich der Tatsache, daß wir uns in Unterscheidungssphären bewegen, die zumeist unausgesprochen und unreflektiert bleiben. So ist z.B. die Wahrnehmimg einer Melodie nicht denkbar ohne die jedem Wahmehmungsakt vorausgehende Unterscheidung innerhalb des zeitlichen Geschehens zwischen Folge und Gleichzeitigkeit. Wir können die Klänge einer Melodie nur als Einheit von Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit richtig erfassen. Diese Regel gilt für jeden zeitlichen Akt. Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit in bezug auf den zeitlichen Charakter eines Geschehens stehen aber in einem disjunktiven Verhältnis. In einem einzelnen Wahrnehmungsakt können wir nur einen einzigen Ton erfassen, den Folgezusammenhang der Töne als Melodie erschließt das begleitende und erinnernde Bewußtsein. Jene Unterscheidung zwischen Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit, die jedem zeitlichen Wahrnehmungsakt zugrunde liegt, ist von den dimensionalen Unterschieden des Lebens nochmals zu trennen. Dimensionen kennzeichnen Unterscheidungen zwischen "Sphären oder Mannigfaltigkeit, innerhalb deren das elementare Unterscheiden erst möglich wird".23 Beispielhaft nennt Heim die drei Dimensionen des Raumes, die einen Würfel in drei verschiedenen Hinsichten ansehbar machen. Ist also eine Dimension eine Unterscheidungssphäre, so wären im Blick auf einen Würfel die Dimensionen der Höhe, Breite und Tiefe die drei Dimensionen, 20 21 22 23
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Vgl. aaO. 54f. AaO. 38 AaO. 43 AaO. 54
hinsichtlich derer die mannigfaltigen Raumpunkte eines Würfels bestimmbar wären. Es gilt nun, daß jeder Punkt eines Würfels hinsichtlich der drei Dimensionen bestimmbar ist. Die Dimensionen aber wiederum stehen in einem disjunktiven Verhältnis zueinander. Die Dimension der Breite hat ihre Besonderheit in Unterschiedenheit von den anderen beiden Dimensionen. Und so steht es ebenfalls mit den beiden anderen Dimensionen. Der Würfel wird in seiner Gesamtheit aber nur durch die Zugrundelegung aller drei Dimensionen erfaßt. So gelangt Heim zu der Definition des Dimensionsbegriffs. "Eine Dimension ist eine Hinsicht, nach der jedes ens bestimmt werden muß, wenn die Frage, was es ist, vollständig beantwortet werden soll".24 Damit tritt der Begriff der Dimension in der Tat an die Stelle des Begriffs der Kategorie, der nach Heim in der Geschichte der Philosophie immer mehr eingeengt wurde.25 Der Begriff der Kategorie ist nicht mehr geeignet, um alle Hinsichten des Seienden, nach denen es bestimmt werden kann, anzusprechen. Denn der Begriff der Kategorie erfaßt, wie er in der Philosophie geläufig geworden ist, "nur die Welt der objektiven Gegenstände".26 Heim hält die Möglichkeit, den Begriff der Dimension "auch auf Unterscheidungssphären zu übertragen, deren Richtungssinn nicht mehr räumlich anschaulich gemacht werden kann"27, aus mehrere Gründen für gegeben. Erstens hat die Relativitätstheorie diese Einsicht selbst vorweggenommen mit der Behauptung der Zeit als der vierten Dimension räumlicher Wahrnehmung. Zweitens hat der Begriff der Dimension diese Weite bekommen, die ihm für die Beschreibung der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zukommen muß. Als die Dimensionen, in denen sich die Wirklichkeit vollständig beschreiben läßt, nennt Heim, wie gesehen, erstens die Gegenüberstellung von Ich und Welt, die er als dimensionale Gespaltenheit von Gegenwart und Vergangenheit, Unentschiedenheit und Entschiedenheit deutet, zweitens die Relation von Ich und Du. Wie kommt es aber zu der Einsicht in diese Dimensionen und der Behauptung, in diesen Dimensionen lasse sich die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erfassen? Beides entspringt einem "Innewerden", das ursprünglicher ist als Denken und Empfinden. "In Dimensionen kann man nur 24 AaO. 61 25 Unter dieser Einschränkung und Einengung des Begriffs der Kategorie versteht Heim durchaus in Analogie zu Heidegger - die schon mit Aristoteles einsetzende Reduzierung des Kategoriebegriffs auf die Erfassung des Gegenständlichen ."Das Denken des Subjekts, das diese Aussage macht, wird nicht davon erreicht" (aaO. 60). 26 AaO. 60 27 Ebd.
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existierend hineintreten und existierend darin stehen und daraus heraus wahrnehmen und denken".28 Die irrationale Setzung der Grunddimensionen des Lebens ist gewissermaßen eine Notwendigkeit, weil die Dimensionen das Leben in seinen letzten Fundamenten zeigen, hinter die der Lebensvollzug nicht zurückkommen kann. Diese Argumentation entspricht der absoluten Vorordnung des Lebensvollzugs vor die Reflexivität des Lebens. Die "Struktur dieses Dimensionsgerüstes" "muß sich aus der Wirklichkeit ergeben".29 Die Berechtigung also, jene beiden Dimensionen als allgemeinen Deutungsrahmen für die Deutung der Wirklichkeit zu behaupten, muß sich im Vollzug der Analyse der Wirklichkeit erweisen.
c) Die Funktion der Grunddimension 'Ich-Welt' und 'Ich-Du' Heim lehnte - wie gesehen - einen theoretischen Beweis hinsichtlich der behaupteten Geltung der Unterscheidungen zwischen Ich und Welt sowie Ich und Du für die Beschreibung der Wirklichkeit ab. Die Struktur dieses Dimensionsgerüstes muß sich, so stellte Heim lapidar fest, aus der Wirklichkeit und ihrer Beschreibung erweisen. Die Wirklichkeit, und d.h. nach Heim die Wirklichkeit in ihrer Unentschiedenheit, ist der Ort, an dem sich auch ihre rechte Interpretation und Deutung entscheiden muß. Natürlich beruht die Herausstellung der genannten Dimensionen auf einer wesentlichen Voraussetzung Heims. Diese Voraussetzung manifestiert sich in der Betonung der menschlichen Situation als Entscheidungssituation.30 Dem Menschen ist eine Zuschauerhaltung angesichts der Wirklichkeit nicht angemessen und auch gar nicht mehr möglich. Der Mensch steht ständig in der Entscheidung über den Sinn seines Lebens. Das hat zur Folge, daß auch die Gegenstandswelt, "die sich uns darbietet,... immer auf eine perspektivische Mitte bezogen" ist - nämlich auf das in der Entscheidung befindliche Ich.31
28 AaO. 74; dieser Satz ist bei Heim insgesamt hervorgehoben. 29 AaO. 76 30 Es ist also die Kennzeichnung der Situation der Zeit, die sich wiederum die Einschätzung verdankt, der neuzeitliche Mensch sehe sich selbst vor der Entscheidung über einen letzten Lebenssinn gestellt, die Heim auf die Herausstellung jener Dimensionen führt. Mit einem berühmt gewordenen Begriff könnte vielleicht im Sinne Heims gesagt weiden, daß erst ein Paradigmenwechsel auch neue Dimensionen als Gerüst für die Beschreibung der Wirklichkeit herauffuhren würde. Wir beziehen uns dabei auf Th.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, stw 25, 1967, besonders 104ff. 31 Heim, Glaube und Denken, 96; vgl. auch 100 u.ö.
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Das erste dimensionale Verhältnis, durch das die Wirklichkeit beschreibbar ist, nämlich das Verhältnis von Ich und Welt, verdeutlicht Heim durch dessen zeitliche Interpretation. Diese Interpretation des Verhältnisses von Ich und Welt nach Analogie der Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit hat letztlich den Sinn, sowohl die Weltlosigkeit der Subjektivität als auch die 'Geistlosigkeit' der Welt zu kritisieren. Als ständig in der Entscheidung befindlich ist das perspektivische Zentrum des Weltverständnisses ein "Punkt, der sich in Bewegung befindet".32 Dieses Zentrum ist das lebendige Ich. Das in Bewegung und vor Entscheidungen stehende Ich ist das je neue Setzen und Deuten der Wirklichkeit. So versteht sich die Identifizierung des Ich als je unentschiedene Gegenwart. Das sich entscheidende und darin seine Wirklichkeit deutende Ich verhält sich wesentlich zu seiner Welt. Die die Philosophiegeschichte der Neuzeit bestimmende Unterscheidung zwischen res cogitane und res extensa muß als dimensionale Unterscheidung, nicht als absolute Differenz zur Geltung gebracht werden. Das Ich ist nicht ohne seine Welt; und die Welt kann nicht gedacht werden ohne ein perspektivisches Zentrum. Die Dimensionen von Ich und Welt sind korrelativ aufeinander bezogen. Diese Bezogenheit von Ich und Welt wird deutlich durch die Aufdeckung der zeitlichen Struktur dieser Beziehung. Das Ich in der Entscheidung, das Ich in seiner je neuen Deutung der Welt, entspricht - zeitlich gesehen - der Gegenwart; denn das lebendige Ich versteht seine Welt je und je neu. Demgegenüber richtet sich der Verstehensakt auf die in der Entscheidimg des Ich gesetzte und gedeutete Wirklichkeit. Denn nur das Erinnerbare, Feststehende kann wirklich gewußt werden. Insofern versteht sich die Deutung der Welt als Vergangenheit. Die Gleichsetzung der Differenz von Ich und Welt mit der Bezogenheit von Gegenwart und Vergangenheit verdankt sich der Einsicht in die Bewegung der Zeit. "Den fortwährenden Übergang dessen, was ist, in das, was nicht mehr ist, also in das, was war, nennen wir Zeit".33 Auch das, was Zeit ist, kann nicht weiter definiert werden, sondern klärt sich durch die Aufhellung der Polarität von Gegenwart und Vergangenheit, Vorher und Jetzt. Denn die Zeit selbst ist ein fortwährendes Stürzen und Fallen des Seins in das Nichts.34 Die Wirklichkeit ist durch die Herausstellung einer Zeitdimension nicht angemessen beschreibbar. Keine der Zeitdimensionen ist gegen die andere absolut zu setzen. Heim hatte das verschiedentlich deutlich gemacht in 32 AaO. 100 33 AaO. 128; Heim ist offensichtlich der Überzeugung, mit dieser Interpretation einen Gedanken Heideggers aufzunehmen (vgl. aaO. 126,128 u.ö.). 34 AaO. 128
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bezug auf die Wahrnehmung einer Melodie, die nur als Einheit von Folgezusammenhang und Gleichzeitigkeit der Töne gedacht werden kann. Die Zeit ist der je neue Übergang von der Unentschiedenheit zur Entschiedenheit. Übertragen auf die dimensionale Spaltung von Ich und Welt bedeutet diese Einsicht, daß die Absolutheit der Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans an Tragfähigkeit verliert. Der die Philosophie seit Descarts bestimmende Glaube, so drückt sich Heim aus, an den 'IchMythos ', also an die Absolutheit des Ich - ist damit überwunden, weil er die Situation des Ich in der Welt nicht angemessen beschreibbar macht. Es ist das große Verdienst Martin Heideggers, die ursprüngliche 'Welthaftigkeit' des Ich kenntlich gemacht zu haben.35 Heideggers Einsicht führt darüber hinaus zu der Konsequenz, daß die Welt ohne die Annahme eines perspektivischen Zentrums nicht gedacht werden kann. "Wir gehen also von der grundlegenden Erkenntnis aus: Ich und Welt sind nicht zwei trennbare Gegenstände, auch nicht zwei Gebiete, die als Innenwelt und Außenwelt auf einer Ebene im selben Raum nebeneinander liegen. Mit diesen beiden Urworten sind vielmehr zwei Unterscheidungssphären oder Dimensionen gemeint, in denen die Wirklichkeit steht und die nur durch eine Abstraktion voneinander unterschieden werden können".36 So wie die dimensionale Polarität von Gegenwart und Vergangenheit das Verhältnis von Ich und Welt erhellt, so erhellt die Gleichsetzung jener Relationen das Verständnis der Zeit. - Die Einsicht in die dimensionale Gespaltenheit und Bezogenheit von Gegenwart und Vergangenheit macht deutlich, daß die als ein einheitlicher Folgezusammenhang erlebte Zeit - z.B. die Einheit einer Melodie - auf die Erfahrung der Diskontinuität der Zeit korrelativ bezogen ist. "Denn nun ist die Zeitstrecke als vorhandenes Kontinuum gar nicht da, ohne daß immer zugleich das Jetzt, also das Ich, mit da ist".37 Die Zeitstrecke ist nicht mehr nur die 'festliegende Chaussee', die als homogenes Medium vorgegeben ist und in der das Ich seinen Stand behaupten muß. Vielmehr ist das Ich als Jetzt als perspektivisches Zentrum jeder Zeitstrecke, die allererst dadurch in Erscheinung tritt, "wenn die Gegenwart immer schon da ist"38, gedacht. Das 'Stürzen und Fallen des Seins ins Nichts' ist nicht die Zeit selbst, sondern ein Moment menschlicher Zeiterfahrung.
35 36 37 38
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Vgl. aaO. 125 u.ö. AaO. 125 AaO. 142 Ebd.
- Die Situation des Ich, das die Zeit ordnend zusammenfaßt, ist so beschreibbar, daß es ständig in der Entscheidung ist. Das Ich als Gegenwart ist das je neue Setzen eines Bildes vergangener Zeiten - also die Interpretation des Erlebten. "Die Gegenwart auf der einen Seite, die vorhandene Zeitstrecke auf der anderen Seite - stehen einander als absolut geschiedene und doch unzertrennliche Dimension gegenüber".39 Die Situation des Ich in seiner Unentschiedenheit ist in einer doppelten Hinsicht denkbar; als Nullpunkt, als Zwang zur Entscheidung und als Zentrum der Zeitstrecke, die hinter ihm liegt. Das Ich gewinnt Identität nach Heim primär nicht durch das Vorlaufen zu seiner zukünftigen Bestimmimg, sondern durch seine aus der Kraft der Erinnerung gewonnene Einsicht in das, was jetzt an der Zeit ist. Die Zeit, die der Mensch in dieser seiner Situation erfährt, ist nach dem Schema 'Früher-Später', 'Vorher-Nachher' gedacht.40 - Die Deutung der Zeit als eine Zeitstrecke, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft läuft, entspringt der Grundsituation des Ich, das sich selbst in seiner Gegenwart unter Deutung seiner Vergangenheit auf einen Sinn hin entwirft. Das Erfahrene und Gewußte ist geronnene Entscheidung. "Das ganze kausale Deutungsverfahren der Naturwissenschaft kann also an die Gegenwart überhaupt gar nicht herankommen".41 Die Deutung der Zeit als eine lückenlose Kette aufeinander folgender Jetztpunkte entspringt faktisch der Verabsolutierung der Vergangenheit, die das Ich in der Tat so zusammenfaßt, daß es sich selbst und sein eigenes unaufhörliches Fortrücken von Entscheidung zu Entscheidung in die Vergangenheit projiziert. Durch diese Deutung allerdings wird die jeweilige Entscheidungszeit, die das Subjekt vor mehrere Möglichkeiten stellt, nicht erfaßt. Die Vorstellung der 'unendlichen Zeitstrecke'42, also die vulgäre Zeit, entspringt der ursprünglichen Zeit des Ich. Denn die vulgäre Zeitvorstellung stellt die Zeit unter die
39 AaO. 143 40 Vgl. J.E. McTaggart, The Nature of Existence, 19682; soll die sehr einflußreiche Differenzierung McTaggarts zwischen Α-Reihe (Gegenwart-Vergangenheit-Zukunft) und BReihe (Früher-Später) Anwendung ñnden auf den Zeitbegriff Heims, so kann betont werden, daß für Heim die ursprüngliche Zeiterfahrung des Menschen die Erfahrung nach dem Schema Früher-Später ist. Das jedenfalls läßt sich leicht aus der Orientierung des Zeitbegriffs an der dimensionalen Polarität von Gegenwart und Vergangenheit schließen. Erst auf diesem Erfahrungshintergrund entwickelt Heim die Vorstellung der Dreidimensionalität der Zeit, die allerdings, wie Heim deutlich zu machen versucht, dem Ausweichen vor der eigentlichen und wirklichen Zeit, in der die Entscheidung des Menschen gefordert ist, entspringt. 41 Heim, Glaube und Denken, 153 42 Vgl. aaO. 155
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"Alleinherrschaft des Erinnerungsraumes"43 und läßt die Entscheidungszeit unbedacht. - Das erhellte Zeitverständnis denkt den Folgezusammenhang der Zeit und ihre Diskontinuität als die beiden Dimensionen der einen Zeit. Die primäre Wirklichkeit der Zeit aber ist ihre unentschiedene Gegenwart. Gleichwohl sind der Gedanke eines geschichtslosen Ich und eines vom Subjekt unabhängigen Zeitlaufes gleichemiaßen überwunden.44 Die zweite dimensionale Unterscheidungssphäre, in der alles Wirkliche steht, ist die Ich-Du-Relation. Sie entspringt der ersten, dargestellten dimensionalen Spaltung der Wirklichkeit. Das ist nach Heim folgendermaßen zu denken. Das Ich erlebt die gegenwärtige Forderung und den Übergang der Gegenwart in die entschiedene Vergangenheit als Ermöglichung und Ort eigener Freiheit oder als Schicksalhaftigkeit seines Lebens. Das Ich wird sich seiner selbst bewußt in der Tat des Augenblicks oder leidet unter der Gerinnung seiner Entscheidung im Laufe der Zeit zur Vergangenheit. So spaltet sich jedes bewußte Erleben in ein relatives Freiheits- und relatives Abhängigkeitsgefühl.45 "Es ist entweder meine Tat oder mein Schicksal, das über mich kommt."46 Aber jede Entscheidung im Jetzt ist zumindest begleitet von einem relativen Abhängigkeitsgefühl, insofern nämlich bewußt ist, daß das Ich nicht alle Bedingungen selbst geschaffen hat, die zu seiner Entscheidung führen; und ebenso ist jedes Erleiden verbunden mit einem relativen Freiheitsgefiihl, insofern bewußt wird, daß ich mich auch immer selbst in die Situation gebracht habe, unter der ich leide.47 Jedes Geschehen "ist entweder eine Passion, bei der die Aktion zurücktritt, oder eine Aktion bei der die Passion verdrängt wird".48 Diese doppelte Seite jedes Erlebnisses ist in der Ich-Welt-Relation nicht enthalten. Sie spiegelt dagegen die Form wider, "in der ich der Wirklichkeit des Du inne werde".49 Tun und Erleiden weisen letztlich auf eine personale Relation, in der die Wirklichkeit schlechthin erfahren wird. "In der Widerstandserfahrung, die 43 AaO. 159 44 Dennoch ist fraglich, ob Heim die von ihm gewünschte Überwindung des Gedankens der Zeitlosigkeit des Ich wirklich erreicht Reduziert er doch den Begriff der Geschichtlichkeit des Subjekts auf die unhintergehbare und unableitbare Entscheidungstat des in der Gegenwart geforderten Ich. 45 Vgl.aaO. 215 46 AaO. 216 47 Die Anklänge an Schleienmachers Glaubenslehre (vgl. F. Schleieimacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, neu hg. von M. Redeker, 1960, bes. § 4) sind unüberhörbar. 48 Heim, Glaube und Denken, 218 49 Ebd.
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ich beim Handeln mache, begegnet mir das Nicht-Ich, der andere."50 Heim geht sogar so weit, alle Widerstandserfahrungen auf personale Relationen zu reduzieren.51 Es nimmt "alles Leiden unter etwas in dem Augenblick, da ich darunter leide, den Charakter der Ich-Du-Beziehung an"52, insofern sie eine nicht durch das Ich steuerbare und zu bewältigende Erfahrung impliziert. Die Ich-Du-Relation erhellt nun - darauf laufen die Ausführungen Heims hinaus - die Weltrelation, insofern sie bewußt macht, daß die Welt die Einheit der Weltdeutungen aller unterschiedlichen Subjekte ist. In ein und demselben Zeitpunkt, in dem ich gefordert bin zur Entscheidung, deuten alle anderen Subjekte die Wirklichkeit völlig anders. So ist die Gegenwart nicht nur die Forderung an das Ich, zu handeln, sondern darüber hinaus die Begegnung von Ich und Du.53 Die Begegnung von Ich und Du aber ist die einzige Möglichkeit, daß das Ich seiner selbst bewußt wird. Denn nur in der Begegnung mit dem Du wird das Ich seiner selbst als Person inne.54 Damit ist zugleich deutlich geworden, Heim bindet den Gedanken des Weltbewußtseins an die Dimension der Gegenwart, an die im Augenblick geforderte Tat der Entscheidung.
3. Die Implikationen der Identifikation von Zeit und Ich Zur Heidegger-Auseinandersetzung Heims Heim kennzeichnet die "Ineinssetzung von Dasein und Zeit" nicht nur als "die wichtigste Errungenschaft der Heideggerschen Ontologie"1, sondern als wichtigsten Fortschritt modemer Philosophie überhaupt. Diese Einsicht hat deshalb für Heim entscheidende Bedeutung, weil sie das Ich in seiner wahren Situation aufdeckt, in der Situation nämlich, über sein Sein entscheiden zu müssen. Das Ich ist auf sich selbst geworfen, es muß den Sinn seines Daseins selbst ergreifen.
50 AaO. 219 51 So sind auch Widerstandserfahrungen, die im Umgang des Menschen mit der 'Natur' auftreten, als personale Erfahrungen aufzufassen (vgl. aaO. 219ff.). 52 AaO. 220 53 Vgl. aaO. 261 54 "Solange die Du-Beziehung nicht als eigene Dimension des Seins aufgedeckt ist, solange wir also auf das Dasein der Personen nur in den Kategorien des Ich-Es-Verhältnisses sehen, ist" das Problem der Identität des Ich unlösbar (aaO. 275). 1 Heim, Glaube und Denken, 199 2 Vgl. aaO. 113 u.ö. 3 AaO. 113
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Insofern ist der Fortschritt, den jene Erkenntnis von der grundsätzlichen zeitlichen Struktur der Subjektivität bedeutet, für Heim unbestreitbar. Er liegt vor allem darin, daß er die Hybris der Behauptung der Zeitlosigkeit des transzendentalen Subjektes überwindet. Diese Vorstellung ist nach Heim auch noch bei Kant präsent, insofern Kant die grundsätzliche Weltbezogenheit des Ich nicht erkennt.2 "So wird das Ich doch wieder vom Akt der zeitlichen Handlung losgelöst. Es kann sich dem Zeitstrom gegenüber auf sich selbst zurückziehen".3 Dieses hat Heidegger nach Heim richtig erkannt, wenn er Kant die Trennung von 'transzendentalem Ich' und 'Ich der Einbildungskraft' vorwirft. Heidegger selbst ist mit der Einsicht in die grundsätzliche Weltlichkeit des Ich und mit der Erkenntnis der Bezogenheit von Ich und Welt in ihrer dimensionalen Unterschiedenheit einen entscheidenden Schritt vorangekommen in der Überwindung des Mythos vom zeitlosen Ich. Dieser Mythos verhindert nicht nur die Einsicht in die Verhältnisstruktur der Wirklichkeit, sondern darüber hinaus verdeckt er den Ernst der Situation des Menschen in seiner Welt. Aber auch die Heideggersche Daseinsanalyse ist noch keinesfalls vollständig gereinigt von dem Versuch des Idealismus, das Denken über seine entscheidende Funktion "der Dienststellung dem Leben gegenüber"4 herauszureißen. Denn auch Heidegger mißt dem zeitlichen Dasein die Möglichkeit zu, seine Ganzheit aus und durch sich selbst zu erzeugen und so die Sinnfrage durch sich selbst in seinem Daseinsvollzug zu beantworten. Heim meint in Heideggers Daseinsanalyse einen letzten Rest jenes hybriden Versuches zu sehen, dem Dasein restloses 'Sich-selbst-verstehen' und damit auch ein restloses Verstehen des Seins zumessen zu können. Der Geheimnischarakter des Lebens wird damit für Heim unrechtmäßig übersprungen; der Geheimnischarakter, der sichtbar wird in der Unverfügbarkeit der Zukunft und Unableitbarkeit der Entscheidungen des Lebens.5 Gewiß, die Heideggersche Daseinsanalyse besticht durch ihre Wahrhaftigkeit, insofern sie nämlich die Geworfenheit des Daseins in hervorragender Weise ausdrücklich macht und damit dem neuzeitlichen Lebensgefühl Ausdruck verleiht.6 Aber angesichts der Radikalität, in der die Wahrheits4 AaO. 116 5 Die Unverfügbarkeit der Zukunft wird nach Heim deutlich darin, daß der Tod kein Zeitpunkt meines Lebens ist. Ich sterbe nur für andere und in Gegenwart anderer (vgl. aaO. 272). Darin entspricht mein Tod meiner Geburt, die in gleicher Weise Symbol für die Unverfügbarkeit des Lebens bzw. für das Gegebensein des Lebens ist. So bleibt das Subjekt im Bewußtsein seiner selbst ein unabgeschlossenes Ganzes. Die These, das Dasein könne seine Ganzheit selbst erzeugen durch sein vorlaufendes Zurückkommen, erklärt sich für Heim allein aus dem Rest einer mythischen Ich-Vorstellung. 6 Vgl. aaO. 122
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frage bei Heidegger gestellt ist, bleiben die vielen "Gleichnisse viel zu unbestimmt und dichterisch."7 Gerade die Radikalität der Infragestellung des Seinssinnes, die es nicht erlaubt, eine letzte Sicherung im Gedanken des Subjektes einfach vorauszusetzen, ist bei Heidegger übergangen. Die Einsicht in die Zeitlichkeit des Ich trifft voll die Situation des Ich in der Welt. Das Ich ist der ständige "Übergang aus der unanschaulichen Gegenwart in das objektive Gewesensein".8 An die Stelle der Idee der möglichen Ganzheit des Daseins kraft seiner Zeitlichkeit tritt deshalb bei Heim die Unhintergehbarkeit der dimensionalen Spaltung, in der das Ich lebt und die seine Geworfenheit auf es selbst so aporetisch macht. Das Dasein braucht in der dimensionalen Gespaltenheit seines Seins das andere seiner selbst, das von ihm doch unendlich weit entfernt ist, zur Gewinnung seiner Identität. Die Dimensionen der Zeit liegen nicht in der Verfügung des Ich; das Ich bestimmt sich selbst in der Gegenwart zwar je neu kraft seiner Erinnerung an das Vergangene, aber die eben getroffene Entscheidung gerinnt wieder zur Vergangenheit, und das Dasein ist wiederum neu gefordert. Die Unverfügbarkeit der Dimensionen der Zeit bedeutet die Unmöglichkeit des Daseins, seine Kontinuität selbst hervorzubringen. An dieser Stelle wird nochmals deutlich, daß Heim die Erfahrung von 'Vorher-Nachher' als ursprüngliche Zeiterfahrung ansetzt, die durch die Fähigkeit des Daseins, kraft Erwartung und Erinnerung einen einheitlichen zeitlichen Akt zu 'bilden', nicht aufgehoben ist. Diese Einsicht Heims entspringt letztlich der Erfahrung der Unverfügbarkeit der Welt. Das Ich vermag, weil die Welt das andere seiner selbst bleibt, die Welt nur als Inbegriff des Vergangenen zu deuten. Die Einheit von relativem Freiheits- und relativem Abhängigkeitsgefühl in bezug auf die gegenwärtige Erfahrung bleibt für das Ich unaufhebbar. Bei Heidegger aber wird die Welt in die Verfügung des Subjektes hineingeholt. Zum anderen hat Heidegger die Bedeutung der Ich-DuRelation nicht gesehen und sie der gegenständlichen Erkenntnisfunktion einverleibt. Damit wird die Infragestellung des Ich in seiner Gegenwart durch das ihm begegnende Du nicht radikal genug gedacht. Mit der von Heim durchgeführten Identifizierung von Zeit und Ich ist die Situation des modernen, auf sich selbst geworfenen Ich nach Heim erst voll getroffen. "Ich besitze immer nur diesen Augenblick; die Zukunft schaue ich noch nicht. Auch die Vergangenheit kann entschwinden. Wir überschauen die Vergangenheit nur in einem begrenzten Umfang".9 7 AaO. 124 8 AaO. 280 9 K. Heim, Die christliche Ethik. Tübinger Vorlesungen, hg. und bearbeitet von W. Kreuzburg, 1955, 59; vgl. die Heidegger-Kritik in dieser Vorlesung, die in eine ähnliche Richtung geht wie in 'Glaube und Denken'.
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4. Die dimensionale Gespaltenheit der Wirklichkeit und die Gottesfrage Die dargestellte Situation des neuzeitlichen Subjekts und die Behauptung, die Philosophie sei bei der Einsicht in die dimensionale Gespaltenheit der Wirklichkeit angekommen, bilden den entscheidenden Ansatzpunkt für die Gottesfrage. Denn die Gottesfrage ist für Heim nichts anderes als die Frage nach den Bedingungen für die Polaritäten des Lebens und seine dimensionale Gespaltenheit. Genauer ist die Gottesfrage die Frage danach, ob die Gespaltenheit der Wirklichkeit die letzte Aussage über sie darstellt oder nicht. Für Heim versteht es sich von selbst, daß die Reflexion sich nicht mit der Konstatierung der Unhintergehbarkeit der 'Ich-Welt'- und 'Ich-Du'Beziehungen zufrieden gibt. Die Frage danach, ob es eine letzte dimensionale Beziehung gibt, die alle anderen Relationen des Daseins trägt, ist als Lebensfrage nicht zu unterdrücken. Insofern sie aber eine Lebensfrage ist so versucht Heim darzulegen - ist sie theoretisch nicht plausibel zu machen. "Was der Sinn dieser radikalen Frage ist und wie es zu dieser Frage kommt, darüber können deshalb nur die Auskunft geben, in denen sie bereits erwacht ist".1 Entsprechend zu dieser Behauptung, die Frage nach einer Tiefendimension der Wirklichkeit insgesamt sei eine theoretisch nicht plausibel zu machende Lebensfrage, weist Heim daraufhin, daß der Zusammenhang, in dem die radikale Frage aufbricht, ein praktisch-ethischer ist. In der Frage nach den letzten Maßstäben unseres Handelns hat die Frage nach einer alle anderen Relationen bestimmenden Dimension des Lebens ihren ursprünglichen Ort. Das Bewußtsein sieht sich in Gewissenserfahrung vor Gott gestellt, weil Gewissenserfahrung Schulderfahrung ist. Denn die Gewissenserfahrung geht niemals auf in den personalen Relationen, in denen das Dasein steht. Denn das Dasein fragt über die durchaus mögliche gesellschaftliche Akzeptanz seines Handelns hinaus nach einem unbedingten Maßstab seiner Handlungen, weil es selbst sich kritisch verhalten kann gegenüber den gesellschaftlich anerkannten Maßstäben des Handelns.2 Aber die Frage nach einem Unbedingten entsteht auch im Blick auf die Welterklärung. Angesichts der polaren Zeiterfahrung - nämlich der Erfahrung des ständigen Übergangs meiner Gegenwart in Vergangenheit, des Seins ins Nichts - stellt sich die Frage: Ist der Hinweis auf die Polarität der
1 2 3 4
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Heim, Glaube und Denken, 283 Vgl. die Argumentation Heims, aaO. 348ff. Vgl. aaO. 291f., 307ff. AaO. 279
Zeit und ihren ständigen Lauf ins Leere das Letzte, das der Mensch angesichts seiner Welterfahrung sagen kann?3 Weder die sittliche Frage noch die Frage nach dem Grund der Welt überhaupt gibt sich nach Heim wirklich zufrieden, bevor sie nicht eines unbedingten, überpolaren Beziehungspunktes gewiß geworden ist. Wie aber gewinnt das Dasein Gewißheit über diesen überpolaren Beziehungspunkt seiner selbst? Die Antwort Heims auf diese Frage ist so einfach wie logisch; hatte er doch immer wieder darauf verwiesen, daß die "primäre Wirklichkeit" "die unanschauliche Gegenwart, die wir uns noch gar nicht gegenüberstellen können", ist.4 Das Geheimnis des Lebens ist für Heim seine Entschiedenheit, seine freie Tat der Entscheidung im Augenblick. Entsprechend fällt seine Antwort auf die Frage nach der Gewißwerdung des Daseins über einen überpolaren Beziehungspunkt seiner selbst aus. Nämlich diese Gewißheit entspringt dem Akt unmittelbarer Gewißwerdung im Augenblick. Hier gilt für Heim, daß die Frage die Antwort ist. "Wir haben es nicht in unserer Gewalt, eine Frage aufzuwecken, die nicht von selber ohne unser Zutun in uns erwacht. Ist die schlummernde Frage aber einmal da, ist die neue Dimension aufgegangen, so können wir das nicht mehr rückgängig machen. Wir stehen dann ein für allemal in der Dimension, aus der die Frage kommt".5 Hier bewahrheitet sich also wiederum der Grundsatz Heims, daß der Lebensvollzug primär ist gegenüber der Reflexivität des Lebens. Die Reflexion hat lediglich ins Bewußtsein zu heben, was das Leben für sich schon vollzogen hat. Der unbedingte Beziehungspunkt des endlichen Lebens ist nicht aus der Reflexivität des Lebens beweisbar. In der ununterdrückbaren Frage des Lebens nach dem Unbedingten bringt sich das Unbedingte vielmehr selbst zur Geltung. Die Frage nach einem überpolaren Beziehungspunkt des Lebens wiederum, so machte Heim deutlich, entspringt dem Leiden unter der Polarität des Lebens, die seine Einheit zu verstellen scheint. "Das Leiden unter dem Dasein ist also, religiös gesprochen, ein Gnadengeschenk, das wir uns nicht selbst erwerben können, wenn es uns nicht ohne all unser Verdienst zufällt. Damit, daß dieses Leiden über uns kommt, ist uns das Tor zu einer ganz neuen Dimension des Seins aufgeschlossen worden, das wir aus eigener Kraft nicht hätten aufstoßen können".6 Wie ist nun das Unbedingte bestimmbar?
5 AaO. 282 6 AaO. 309
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- Zunächst muß es als absolut gegenwärtig gedacht werden. Für seine Gegenwart darf nicht gelten, daß sie ständig in Vergangenheit übergeht. Das Unbedingte ist zeitlich gesehen ein 'nunc aeternum'.7 - Das Unbedingte muß ferner so gedacht werden, daß es nie Objekt des Bedingten werden kann. Denn nur so kann es als konstitutiver Ermöglichungsgrund aller personalen Relationen des Endlichen gedacht werden. Deshalb muß das Unbedingte selbst als Person vorstellig gemacht werden können. So wird das Unbedingte als der personale Gott des christlichen Glaubens identifizierbar.8 - Der christliche Gottesbegriff muß so entwickelt werden, daß er das absolute Personsein Gottes ausdrücklich macht. Gott ist Person unabhängig von allen Relationen. Gott hat sein Ich in, durch und für sich selbst. Gott ist, der er ist. Alle anderen Wesen sind von da aus nur im gebrochenen Sinne Ich.9 Nur darin, daß Gott sein Personsein in einem absoluten und zeitlosen Sinne ist, kann er der ständige Beziehungspunkt aller endlichen Personen sein. "Das Verhältnis von Freund und Freund, Mann und Weib, Vater und Kind ist... entweder eine latente Verzweiflung, weil jeder im anderen vergeblich das Du sucht, an das er sich klammern und für das er leben darf. Oder es kommt in dieser menschlichen Beziehung zur Begegnung mit dem ewigen Du. Im anderen Menschen kommt Gott auf uns zu. Der andere darf im Namen Gottes von uns verlangen, daß wir uns für ihn opfern. Dann kommt die menschliche DuBeziehung in Gott zur Ruhe. Er ist das einzige wahre Du aller Menschen".10 - Gott muß als letzte Dimension des Lebens gedacht werden. Denn nur so kommt er im Lebensvollzug und dessen dimensionalen Spaltungen an. In der Beziehung zu Gott steht das Ich vor der Entscheidung, ob es die dimensionale Gespaltenheit, in der es sich und seine Wirklichkeit vorfindet, festschreiben oder auf eine tiefere Dimension hin entwerfen will. In der Gottesbeziehung steht das Subjekt so vor der Entscheidung der Verzweiflung oder der Behauptung eines ewigen Sinnes seines Lebens. 'Gott oder die Verzweiflung' - das ist die Lebensfrage jedes Menschen. In der Beantwortung dieser Frage entscheidet das Dasein über die Wirklichkeit im ganzen. Entweder es verläßt sich auf sich selbst und bleibt damit mit sich allein oder aber es verläßt sich auf Gott; beides ist theoretisch möglich. 7 Vgl. aaO. 314 8 Vgl. aaO. 316 9 Vgl. aaO. 316; es wird deutlich, daß Heim an dieser Stelle hinter seine Ausführungen aus seiner Frühschrift, die deutlich zu machen versuchten, daß Gott gerade darin absolut Person ist, daß er sich von sich selbst unterscheidet, zurückfällt (vgl. s.o. 395f) 10 AaO. 319
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- Die Kraft für das Leben gewinnt das Dasein aber allein aus der Entscheidung für Gott. Denn nur so ist der Lebensvollzug von der Gewißheit getragen, daß das Leben selbst "im höheren Sinn notwendig ist".11 Damit legt sich der 'Akzent der Ewigkeit' auf alle Handlungen des Menschen.12 Das Bewußtsein, im Gegenüber zu einem Unbedingten zu leben, vollzieht sich also im Akt unmittelbarer Gewißwerdung des Subjektes über sich selbst.13 5. Die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit Ist die Entscheidung des Glaubens theoretisch nicht ableitbar - bzw. hat sie theoretisch gesehen genauso gute Gründe für sich wie die Verzweiflung - , so muß diese Entscheidung doch so gedacht werden können, daß sie das Leben verändert. Die Beweise für die Tragfähigkeit der Entscheidung des Glaubens sind nach Heim als Nachfolgebeweise zu denken, also als Beweise, die den Glauben als einzige lebensbejahende Kraft des Daseins aufdekken. Diese Kraft des Glaubens hängt daran, wie Heim versuchte deutlich zu machen, daß der Glaube allen Dimensionen des Lebens eme letzte Tiefendimension entgegensetzt. Dieser Akt der Selbstinterpretation des Daseins bezieht sich nach Heim sowohl auf die Naturerklärung als auch auf die sittliche Frage. Die Argumentation für die Annahme einer überpolaren Dimension des Lebens, die alle anderen Dimensionen konstituiert, werden von Heim immer wieder neu vorgetragen und sind folgende.1
11 AaO. 330 12 Vgl. aaO. 333 13 In seiner frühen Vorlesung von 1924 über 'Das Wesen des evangelischen Christentums' hat Heim unseres Erachtens zum einzigen Mal in wirklich eindrücklicher Weise die Formalität seiner Behauptung, die Ewigkeit sei als Tiefendimension der Zeit die alle Zeiten zurechtbringende Dimension, überwunden. Heim macht in dieser Vorlesung deutlich, daß die Durchdringung der Welt "mit Kräften der Ewigkeit" (K. Heim, Das Wesen des evangelischen Christentums, 19262, 102) anhand der Wirkungsgeschichte der Vergebungsbotschaft des christlichen Glaubens leicht einsehbar ist. Denn die Botschaft von der Vergebung hat die Menschen, die sie ergriffen hat, immer wieder zum freien Umgang in und mit ihrer Zeit befreit. In der Annahme der Vergebungsbotschaft können wir nach Heim "schon jetzt mitten in der Welt in der Ewigkeit sein" (aaO. 109). Der freie Umgang des Menschen mit seiner Zeit ist für Heim ein Ausdruck für die Ankunft der Ewigkeit in der Zeit, durch die die permanente Zeitnot des Menschen ansatzweise überwunden wird. 1 Darin sehen wir eine der entscheidenden Schwächen der Theologie Heims, daß sie sich im Grunde auf Prolegomena beschränkt. Heims Denken fängt in dem Bemühen, die Selbstgewißheit des neuzeitlichen Ich zu kritisieren, um so dem Glauben Platz zu machen, ständig wieder von vorne an. Die Entfaltung der christlichen Lebensanschauung gelingt ihm so nur ansatzweise.
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Die Mehrdimensionalität von Raum und Zeit entdecken Mathematik und Physik; darin ist impliziert die Einsicht, daß die Wirklichkeit reicher ist als sie auf den ersten Blick erscheint. Die 'Entdeckung' neuer Dimensionen in Raum und Zeit vollzieht sich durch das Auftreten von Phänomenen, die sich aufgrund der Annahme einer einzelnen Dimension nicht erklären lassen. Ein 'Punktwesen' kann eine Fläche nicht anschaulich wahrnehmen. Einem Flächenwesen ist ein dreidimensionaler Raum nicht darstellbar. Und die Zeit als vierte Dimension des Raumes ist für das menschliche Sensorium nicht darstellbar.2 Der beschriebene Übergang von einer Dimension in eine andere kennzeichnet auch die Art und Weise des Überganges vom gegenständlichen Raum in den ungegenständlichen. Das ungegenständliche Ich geht in den Polaritäten, die das Gegenständliche kennzeichnen, nicht auf; gleichwohl ist einsehbar, daß die Einheit des Gegenständlichen konstituiert wird durch die Annahme eines Nichtgegenständlichen. Das Ich als perspektivisches Zentrum des Gegenständlichen bedeutet gegenüber diesem aber allemal die Setzung einer neuen Dimension. In ähnlicher Weise wie von dem Gegenständlichen zu dem Nichtgegenständlichen übergegangen wird, ist eine überpolare Dimension zu setzen, wenn erkannt wird, daß die Einheit der Wirklichkeit nicht anders gedacht werden kann denn als überpolarer Ermöglichungsgrund. Mit der Bestimmung des Unbedingten als 'überpolarer Raum' 3 will Heim sichern, daß der Bezug auf den jenseitigen Gott die Wirklichkeit erst voll erklärt, ohne daß Gott als in ihr aufgehend gedacht werden müßte. Für Heim hängt sehr viel an dieser Kennzeichnung Gottes als überpolarer Raum, weil sie deutlich machen kann, daß die religiöse Gewißheit Anspruch erhebt auf die Deutung der Wirklichkeit im ganzen. Verzichtet sie auf diesen Anspruch, dann fällt sie ganz unauffällig in den Geisteszustand zurück, "in dem sich die primitiven Stämme von Zentralafrika heute noch befinden."4 Im Blick auf die zeitliche Struktur der Welt ist die neue Dimension als Ewigkeit zu beschreiben. Entsprechend zu der dargestellten Argumentation ist die "Dimension der Ewigkeit"5 so zur Geltung zu bringen, daß sie 2 Vgl. z.B. die Argumentation Heims in: Heim, Glaube und Denken, 50ff. und in: Heim, Der christliche Gottesglaube und die Naturwissenschaft. Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart, Band IV, 1949,156ff. 3 Vgl. die Bezugnahme Heims auf P. Jordan in: Heim, Der christliche Glaube und die Naturwissenschaft, 182; dieses Verfahren Heims, von der Mehrdimensionalität der Welterfahrung unter Hinweis auf die religiöse Gewißheit auf eine Tiefendimension des Lebens zu schließen, ist kritisiert worden von A. Neuberg, ThLZ 77 (1952), 305 und von R. Bultmann, der Heim darin einen halbsrecherischen Salto mortale vollziehen sieht (Bultmann, Theologische Enzyklopädie, aaO. 193). 4 Heim, Der christliche Glaube und die Naturwissenschaft, 185 5 Heim, Glaube und Denken, 332
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bezogen ist auf die anderen Dimensionen des Lebens. Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit ist nicht als Zeitlosigkeit beschreibbar. Den Hang in der Theologie zur paradoxen Bestimmung des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit, die erwächst aus der Deutung der Ewigkeit als Zeitlosigkeit, sieht Heim bedingt durch die Beschränkung der Zeit als Anschauungsform des endlichen Subjektes bei Kant.6 Soll der Bezug zur Ewigkeit die Zeit erfüllen und zurecht bringen, so muß die Ewigkeit vielmehr als "Vollzeit"7 gedacht werden. Die Zeitlosigkeit der Ewigkeit würde die Hoffnung auf Erfüllung der Zeit zerstören, indem sie letztlich die Beziehungslosigkeit von Zeit und Ewigkeit behaupten müßte. Für Heim geht es aber darum, daß die Zeit als Daseinsform durch den Bezug zur Ewigkeit zumindest der Möglichkeit nach Erfüllung finden könnte. Allein durch die Kennzeichnung der Zeit als "Urzeit" oder als "Vollzeit" wird deutlicher als "durch die negativen Worte 'Überzeitlichkeit' oder 'Zeitlosigkeit', daß die Ewigkeit nicht ein Negativum ist, nicht eine gestaltlose Aufhebung aller Formen, sondern die allein wahrhaft positive Daseinsform, in der der unabgeschlossene Zustand, in dem wir jetzt leben, zur Erfüllung kommt".8 Mit den entwickelten Forderungen an einen theologischen Ewigkeitsbegriff verbindet sich bei Heim eine ausführliche Barth-Kritik. Barths grundlegende Einsicht ist für Heim die, daß vom "relativen Ich", als das ich mich vorfinde, "keine Brücke zum absoluten Ich, dessen ich bedarf", führt.9 Das ist der entscheidende Fortschritt Barths gegenüber einer Philosophie und Theologie, die die Glaubensgewißheit auf die Selbstmächtigkeit des der Zeit enthobenen Ich setzten.10 Die radikale Frage, "Relativismus oder Wirklichkeit Gottes", stellt Barth in ihrer ganzen Dringlichkeit.11 Die Einsicht Barths, daß alle Gotteserkenntnis nur durch Gott 'geschieht', ist durch seine eigene Theologie allerdings verfälscht worden. Barths Fehler liegen für Heim in folgenden Punkten: - Mit der diastatischen und eben nicht dimensionalen Fassung der Differenz von Zeit und Ewigkeit macht Barth ein einzelnes Moment des menschlichen Gottes Verhältnisses zum Prinzip. Die Ewigkeit wird schlechthin als Gericht über die Zeit gedacht.
6 Vgl. aaO. 381 7 AaO. 387 8 AaO. 387; die Anknüpfung Heims an das die frühe dialektische Theologie kritisierende Buch von H.W. Schmidt, Zeit und Ewigkeit, 1927 (vgl. bes. aaO. 269ff.) ist überdeutlich und wird nicht zuletzt in dem Begriff der Ewigkeit als Vollzeitlichkeit sichtbar (vgl. Schmidt, aaO. 299ff.). 9 Heim, Glaube und Denken, 405 10 Vgl. aaO. 405, 39Iff. u.ö. 11 AaO. 406
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- Barths Theologie ist so der unmittelbare Ausdruck für das Festhalten des gläubigen Bewußtseins an der Verzweiflung angesichts der eigenen Schulderfahrung.12 - Die Zeit bleibt so unerlöst. Es bleibt in dieser Welt kein Raum und keine Zeit mehr für eine Gottestat.13 Barth will es "Gott aus dogmatischen Gründen verbieten, konkret zu mir zu sprechen".14 So ist die Barthsche Theologie nach Heim letztlich in ihrer Konzentration auf die Herausstellung der unaufhebbaren Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit und in ihrer Theozentrik Ausdruck dafür, daß Gott zu wenig zugetraut wird. Die Barthsche Theologie ist das Spiegelbild eines unglücklichen religiösen Bewußtseins. - Barth betreibt also nicht zu viel Ontologie, sondern zu wenig.15 Denn er sieht in dem ontologischen Gegensatz zwischen Zeit und Ewigkeit nur die paradoxe Beziehung. Heim prophezeit deshalb der Barthschen Theologie, daß sie in ihrer Weiterentwicklung die paradoxe Fassung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit dadurch wird erkaufen müssen, daß sie eine zugespitzte Lehre von der Heilsaneignung entwerfen wird. "Barths Theologie müßte also etwa durch eine Heiligungslehre ergänzt werden, die den Riß, der zwischen Schöpfer und Geschöpf entstanden ist, hinterher wieder heilen und uns zu einem religiösen Besitz verhelfen könnte, bei dem wir Ruhe finden könnten".16 Darin sieht Heim in der Tat richtig voraus, daß Barth später in der Anthropologie seiner Kirchlichen Dogmatik die Zeit als Form menschlichen Lebens schlechthin als 'verewigte Zeit' entwickeln wird.17 Wie nun die Ewigkeit als Tiefendimension der Zeit zu entwickeln ist im Zusammenhang der Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, deutet Heim in den folgenden fünf Bänden seines Hauptwerkes an.18
12 Vgl. aaO. 409 13 Vgl. aaO. 417 14 AaO. 416 15 Vgl. aaO.424 16 AaO. 424 17 Vgl. s.u. 534ff. 18 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß ein entscheidendes Problem der Heimschen Theologie darin zu sehen ist, daß sie ihrem Selbstverständnis nach Prolegomena für eine künftige Dogmatik zur Ausführung bringen will. Die Argumentationsfigur im Blick auf unsere Frage ist in den einzelnen Bänden des Heimschen Hauptwerkes analog. Heim unternimmt je neu den Versuch, durch das Denken die Gewißheit menschlichen Denkens kritisch zu zersetzen und damit Raum zu schaffen für die Haltung des Hinnehmens der Gnade. Durch die Analyse von Philosophie und Naturwissenschaft je neu vor die Entscheidung des Glaubens zu führen - das ist die Heim durchgängig bestimmende Absicht seines Denkens.
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In dem zweiten Band seines Hauptwerkes 'Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart' entfaltet Heim die Voraussetzungen für das Verständnis des Herrseins Jesu. Die Voraussetzungen für dieses Verständnis liegen in der Einsicht in die Unmöglichkeit, daß das endliche Leben sich selbst sein eigenes Fundament legen kann. Sichtbar wird dies für Heim in der Reflexion der Endlichkeit in ihren Polaritäten. Diese Reflexion nämlich führt auf die Dialektik von Selbstsetzung des Lebens und Erfahrung der Gegebenheit des Lebens. In dem Vollzug seiner Selbstentfaltung wird das Leben, so versucht Heim zu zeigen, in die Erfahrung seiner Gegebenheit geführt. Die Christologie entfaltet die Erfahrung der Gegebenheit des Lebens von dem Gedanken der Forderung, unter der sich das Leben befindet. Gerade das sich auf sich selbst stellende Leben scheitert an seinen eigenen Forderungen.19 Die Schulderfahrung ist das Letzte, was dem Menschen angesichts der an ihn herantretenden sittlichen Forderungen bleibt. Gewissenserfahrung führt notwendig auf Schulderfahrung; und es bleibt zweierlei: diese Situation einem unbezwingbaren Schicksal zuzuschreiben oder aber uns ganz der Macht Gottes zu unterwerfen.20 Dieser Gedanke impliziert keinen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht und den Selbstbestimmungswillen des Menschen, wenn gezeigt werden kann, daß die Erfahrung, unter der Forderung und auch der Vergebung Gottes zu stehen, die Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen erst wahlhaft erhellt. Die Unmöglichkeit ungebrochener Selbstbestimmung des Menschen wird unausweislich ansichtig in der Todesangst, die aufdeckt, daß dem wirklichen Menschen ein positives Verhältnis zu seiner Endlichkeit verstellt ist.21 Sichtbar wird die Unmöglichkeit absoluter Selbstbestimmung zudem in der Gebrochenheit der Welterfahrung, die so zu kennzeichnen ist, daß sie die Welt als Kampf der Mächte erlebt. Die Welt wird so erfahren, daß ihr Sein auf dem Spiel steht.22 So führt die Welterfahrung im Blick auf den Gottesglauben zur Einsicht, daß die Spannung, in der wir leben, nur von Gott selbst her gelöst werden kann.23
19 Vgl. Heim, .Jesus der Herr. Die Herrschervollmacht Jesu und die Gottesoffenbarung in Christus, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band II, 19554, 85ff. 20 Vgl. aaO. 98ff. 21 Vgl. aaO. 90 22 Vgl. aaO. 147ff.; anders meint Heim vor allem die Widersprüchlichkeit zwischen Wollen und Tun, die den Menschen zumeist gerade das tun läßt, was er nicht will, nicht deuten zu können - nämlich nur als Ausdruck der Wirkung satanischer Mächte in der Welt. (aaO. 102ff.) 23 "Alle echten Gottesgläubigen konnten darum das Leben nur aushalten in der brennenden Erwartung eines Endzustandes, in dem Gott den Widerstreit löst, in dem Gott also 'alles in allem' sein wird" (aaO. 148)
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Die Selbstbestimmung des Menschen ist so zu entfalten als Hingabe an die Forderung Gottes. Heim drückt diesen Gedanken so aus, daß gerade die 'selbständige Führerwahl' die Selbstführung des menschlichen Lebens ermöglicht.24 Ansichtig wird die Hingabe als höchste Form menschlicher Selbstbestimmung im Leben Jesu. Insofern ist der Tod Jesu die höchste Form seiner Selbstbestimmung. Heim kann in diesem Zusammenhang den Gedanken Hegels rezipieren, daß in dem Tod Jesu die sich auf sich selbst stellende Endlichkeit ein für allemal getötet ist.25 Heim will dies aber gegen Hegel so verstanden wissen, daß die Gewißheit der Gottesbeziehung an dem persönlichen Verhältnis zu Christus hängt - an der augenblicklich erfahrbaren Gleichzeitigkeit mit ihm - und gerade deshalb immer wieder verlorengeht.26 Aus dem "dialektischen Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit"27 läßt sich bestenfalls schließen, daß die sich auf sich selbst stellende Zeit sich selbst verlieren wird. Aber das Geheimnis des menschlichen Lebens greift weiter und tiefer - dies zeigt gerade die Analyse der Sittlichkeit des Menschen - als die Reflexivität des Lebens. Die Gewißheit des Glaubens hängt so nach Heim nicht an der Einsicht, sondern an der Verheißung der Gegenwart Gottes im Geist und nicht an der reflexiv einsichtig gemachten Überzeugung, Ewigkeit sei das ständige Gegenüber der Zeit.28 Die Ewigkeit läßt sich nicht in die Zeit bannen.29 So bleibt uns nichts anderes übrig, so meint Heim, als die Appellation an die Offenheit der Zeit für die Ankunft der Ewigkeit. In Band ΠΙ entwickelt Heim im Rahmen der Versöhnungslehre das Versöhnungsgeschehen als Wende der Zeit. Auf dem Grund der Bestimmung des Versöhnungsgeschehens als "Machtergreifung Christi über die Welt"30 muß nun in der Welt und ihrer Zeit ansichtig werden können, inwiefern der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit diese gewendet hat. Die Weltgeschichte nach Christi Geburt läßt sich so fassen als Prolongation des Versöhnungsgeschehens. Ja, das Versöhnungsgeschehen schlechthin ist die Ausrichtung der Welt auf ihre Vollendung hin. An dieser Stelle erneuert Heim seinen Vorwurf gegen die dialektische Theologie, daß sie irrtümlicherweise die Ewigkeit Gottes bloß als das Gericht über die Zeit und damit
24 AaO. 183 25 Vgl. aaO. 180 26 Vgl. aaO. 19Iff. 27 AaO. 181 28 Vgl. aaO. 194ff. 29 Vgl. aaO. 206 30 K. Heim, Jesus der Weltvollender. Der Glaube an die Versöhnung und Weltverwandlung, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band III, 1952 3 ,44
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als das andere der Zeit geltend gemacht hat. Dabei meint Heim hier weniger die Position Barths als die Bultmanns zu treffen.31 Die strenge Eschatologisierung des Glaubens und auch der Botschaft Jesu selbst bedeutet, daß die Zeit vergleichgiiltigt wird in ihrer geschichtlichen Relation zur Ewigkeit. Bultmann hat nach Heim die geschichtliche Beziehung des Ewigen zur Zeit auf die Idee einer Dialektik von Zeit und Ewigkeit, die zu jeder Zeit möglich ist und gilt, reduziert. Damit ist nach Heim "die brennende Erwartung einer Weltwende, die der Christus der Evangelien seinen Jüngern mitgab, bis auf den letzten Rest in ein dialektisches Verhältnis aufgelöst, in dem wir immer standen und in dem die Menschen in alle Ewigkeit stehen werden".32 Inwieweit gedenkt Heim nun, diesem an Bultmann gerichteten Vorwurf in seiner eigenen Bestimmung der Zeit als je neue Entscheidimg für die Ewigkeit selbst zu entkommen? Heim betont gerade in diesem dritten Band die 'horizontale Dimension'33 im Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit. Die bloße Entgegensetzung der Ewigkeit zur Zeit überläßt die Zeit sich selbst. Der christliche Glaube aber ist als Endglaube34 bestimmt durch das Vertrauen in eine Zeitenwende, die die Offenbarung gebracht hat, und damit auf die Erfüllung aller Zeit ausgerichtet. Der in diesem Sinne geschichtlich orientierte Glaube bejaht die Zeit, die unter dem Vorzeichen ihrer Wende steht. Ausdrücklich wird die christliche Enderwartung in ihrer Kraft zur Veränderung der Welt im Glauben an die Auferstehung.35 Der Auferstehungsglaube antizipiert die Versöhnimg als Weltvollendung darin, daß er die Durchsetzung des Gotteswillens gegen die Gegenmächte der Welt leiblich - sichtbar manifest macht.36 Das uneingeschränkte Ja zur Zeit als der Lebensform des Endlichen wird in der Annahme der Auferstehungsbotschaft möglich, denn diese Botschaft verkündigt die Verwandlung dieser Welt. Diese Botschaft macht deutlich, daß es dem christlichen Glauben nicht um eine Vernichtung der Lebensform des Endlichen geht, sondern um deren Erfüllung. Die "Ruhelosigkeit der Zeitbewegung"37, die im menschlichen Leben ansichtig wird und leidvoll erfahrbar ist durch die Ständigkeit der Umtauschverhältnisse der Zeit, die die Bewegung der Zeit aus sich selbst heraus nie zum Abschluß bringen, wird nicht ersetzt durch die Indifferenz der Bewegungslosigkeit des Lebens, sondern durch die Verheißung der Erfüllung. Die Welt, so ist sich Heim sicher, braucht diese Botschaft. 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. aaO. AaO. 137 Vgl. aaO. Vgl. aaO. Vgl. aaO. Vgl. aaO. AaO. 210
136 150 144 u.ö. 175 ff. 179f.
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Die Bände IV-VI bringen die nochmalige ausführliche Auseinandersetzung Heims mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Heim sieht auch die Entwicklung der Naturwissenschaft auf die EntSicherung der menschlichen Existenz zulaufen. Auch im Blick auf die Wissenschaften wie im Blick auf die Lebenserfahrung des einzelnen Menschen angesichts der Grenzsituationen seines Lebens muß betont werden, daß "die Absoluta, die der Alleinherrschaft Gottes als Hindernisse im Wege stehen"38, zusammenbrechen. Das geschlossene Weltbild der klassischen Physik ist nach Heim zerbrochen. Ansichtig wird dies für Heim in der Widerlegung der Annahme einer absoluten Raum-Zeit und einer lückenlosen Geltung des Kausalprinzips. Auch die Erschütterung des Glaubens an das 'denkende Ich' als Zentrum der Welterklärung bedingt die von Heim konstatierte EntSicherung des Lebens in Wissenschaft und Philosophie. Heim sieht den Zusammenbruch der Absoluta letztlich nicht begründet in einem zufälligen Fortschritt der Naturwissenschaften, sondern in dem "Wesen unserer ganzen Existenz, nämlich in der Zeitlichkeit dieser Existenz".39 Diese nämlich schließt jede Gewißheit über die Zukunft aus und stellt uns in ein Nichts hinein, das auf uns zukommt. Gerade die Zeitlichkeit menschlicher Existenz macht die Entwicklung in Naturwissenschaft und Philosophie unumkehrbar. Die Thematisierung der Zeitlichkeit in der Philosophie ist ein beredter Ausdruck für die Situation der Zeit, in der alle überlieferten Weltanschauungen und Gewißheiten zu entgleiten drohen. Damit steht das Leben nach Heim vor der Entscheidung: entweder es setzt seine Zeitform als die einzige Wirklichkeit; dann "ist das Leben nicht lebenswert".40 Denn dann bleibt die polare Struktur der Zeit - die Dialektik des Lebens zwischen Selbstsetzung und Selbstüberschreitung - das Letzte, was über dieses Leben zu sagen ist, - oder aber das Dasein entdeckt die begründete Hoffnung, daß die Zeit nicht ein ewiger Kreislauf ist und bleibt. Als begründete Hoffnung kann die neutestamentliche Lehre von der Wende der Zeit durch den Einbruch der Ewigkeit gelten. Denn diese Lehre hebt die Zeit als Form der Welt nicht einfach auf, sondern zeigt die 'Heimkehr' der Zeitlichkeit in die Ewigkeit als ihre Erfüllung.41 Die christliche Hoffnung ist getragen von der Gewißheit: "die ganze Kreatur wird aus der ruhelosen
38 K. Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band V, 19543, 21 39 AaO. 157 40 AaO. 127 41 Vgl. K. Heim, Weltschöpfung und Weltende, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Band VI, 1952,133
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Flucht der Zeit erlöst werden und heimkehren in die Sabbatruhe Gottes".42 Wo aber wird die 'Richtung' der Zeit erkennbar und erlebbar? Im Gewissen, als dem Ort der Entscheidung, wo der Mensch ergriffen ist von dem ewigen Ziel seines Lebens.43 So ist hier nochmals deutlich geworden: Es geht Heim um die Überwindung des neuzeitlichen Subjektivismus, um die Überwindung unmittelbarer Selbstbehauptung, deren Aporie Heim aufdekken will. Das sich auf sich selbst gründende zeitliche Ich kann sich nicht gewinnen ohne die Entscheidung für Gott, ohne sich Zeit zu nehmen für die Ewigkeit. Die Entfaltung der Zeitlichkeit des Ich als entschlossene Tat des Augenblicks, die bei Heim erfolgt im Zusammenhang erkenntnistheoretischer Überlegungen - nämlich im Zusammenhang des Versuches einer erkenntnistheoretischen Absicherung des Glaubens - aber verhindert das bei Heim ohne Frage vorhandene Bemühen, die geschichtliche Ausrichtung der Zeit auf die Ewigkeit wirklich durchsichtig zu machen. Die von Heim geforderte Hinnahme der Ankunft der Ewigkeit in der Zeit ist immer identisch mit der Appellation an die Tat der Entscheidung. Damit bringt sich Heim in anderer Weise als Bultmann, aber genauso wie jener, in die Gefahr, "den indikativischen Charakter der christlichen Verkündigung zugunsten des appellativen Moments zu vernachlässigen".44
42 AaO. 135; vgl. die Nähe dieser Äußerung zu Augustin (Conf. XIII, 37,52). Allerdings redet Heim anders als Augustin ausdrücklich von der Heimkehr der Zeit in die Ewigkeit. "Der Zeitstrom, der vorwärts drängt, wird einmünden in das tiefe Meer der Ewigkeit" (Heim, Weltschöpfung und Weltende, 135). 43 Vgl. aaO. 140 und Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 167,175 u.ö.
44 E. Jiingel, Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns, 1985,71
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Β . D E R PROTEST GEGEN DIE SELBSTABSCHLIESSUNG DER ENDLICHKEIT DURCH DEN N A C H W E I S DER GESCHICHTLICHEN RELATION V O N Z E I T U N D EWIGKEIT
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Z U R THEOLOGIE P A U L TILLICHS
Paul Tillich sieht in der "Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen" nicht weniger als ein grundlegendes Thema einer 'Systematischen Theologie' "in allen Teilen" ihres Systems.1 Dementsprechend kommt der Behandlung der Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen nicht nur im Zusammenhang der Eschatologie, in der es per definitionem um den "Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen"2 geht, konstitutive Bedeutung zu, vielmehr wird diese Beziehung als solche an Nahtstellen des theologischen Systems überhaupt thematisch. Die Gründe für diese fundamentale Bedeutung der Thematik von Zeit und Ewigkeit bei Tillich liegen letztlich darin, daß die Kategorie der Zeit sowohl das Sein des einzelnen Subjekts als auch der Welt insgesamt zwischen Essentifikation und Existenz, zwischen Möglichkeit und Verwirklichung als geschichtliches beschreibbar macht. Die Erhebung der Dimension der Geschichte zur zentralen und höchsten Dimension des Lebens überhaupt 3 setzt insofern nicht nur die Erhebung der Zeitkategorie zur zentralen Kategorie der Endlichkeit voraus, sondern auch die Interpretation der Zeit in ihrer grundsätzlichen Offenheit zum Gedanken der Ewigkeit. Anders gesagt: Die Kategorie der Zeit rückt deswegen bei Tillich in entscheidende Funktion ein, weil sie die Situation des Menschen zwischen Angst und Mut, Schicksal und Freiheit in umfassendster Weise zur Geltung zu bringen vermag. Tillich will seine Systematische Theologie insgesamt als eine Zeitlehre verstanden wissen. Dabei tritt Tillich mit der These auf, daß erst die christliche Theologie das Wesen der Zeit, indem sie es aus der Beziehung der Zeit zur Ewigkeit und damit im Blick auf den Gedanken der geschichtlichen Erfüllung der Zeit beschreibt, voll erfaßt. Die Zeit läuft nach Tillich "vom Vergangenen zum Zukünftigen"4. Indem die christliche Theologie diesen Lauf der Zeit erklärt und auf einen Sinn hin deutet, entwickelt sie für Tillich die umfassendste Lehre der Zeit. 1 P. Tillich, Systematische Theologie, Band III, 19813, 342; die Systematische Theologie Tillichs in ihren drei Bänden wird im folgenden zitiert under der Abkürzung STH. 2 Tillich, STH III, 447 3 Vgl. aaO. 29 und 341 ff. 4 Tillich, STH III, 343; darin, daß Tillich die Zeit als gleichmäßigen Lauf von der Vergangenheit in die Zukunft denkt, bleibt er nach K.-D. Nörenberg "im Bereich traditionellen Denkens" (K.-D. Nörenberg, Analogía Imaginis, 1966, 217).
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Mit der Forderung und dem Versuch, im Vollzug seines Systems die Beziehung von Zeit und Ewigkeit als geschichtliche deutlich zu machen, geht Tillich über Heim hinaus bzw. erfüllt er dessen Programm. Die Wende der Zeit durch die Ewigkeit hatte Heim ausdrücklich zu machen versucht. Dies, so mußten wir urteilen, war ihm in seiner Konzentration auf die Zeit als ein 'Jetzt' darum nicht gelungen, weil er sich in der Kennzeichnung der Geschichtlichkeit des Glaubens auf dessen aktuelle Gewißwerdung beschränkte. So trat Heim nur mit dem Postulat der Rückkehr der Zeit in die Ewigkeit durch deren Einbruch in die Zeit auf. Heim beschränkte sich notgedrungen darauf, weil er den Glauben als irrationale Tat des Augenblicks kennzeichnen zu müssen meinte, um so gerade die Plausibilität und Rationalität des Glaubens zu retten. Bei Tillich tritt nun die Idee der geschichtlichen Vermittlung von Zeit und Ewigkeit vermittels des Gedankens der Ganzheit der Zeit auf.5 Diese Idee verlangt es, die Dimension der Zukünftigkeit hinsichtlich der Kennzeichnung der Zeit genauer in den Blick zu nehmen und darüber hinaus die Ewigkeit als Eigenschaft Gottes temporal zu interpretieren. Die Zukunft wird bei Tillich zum eigentlichen Wesen der Zeit, weil sie die vermittelte Beziehung der Zeitlichen zum Ewigen aufdeckt. Der Gedanke der Ewigkeit als Tiefe der Zeit wird bei Tillich anders als bei Heim nicht als unableitbare Entscheidungstat des endlichen Subjekts gedacht, sondern als ständige Möglichkeit der Endlichkeit. Das macht es allerdings fraglich, ob Tillich die Vermittlung zwischen Zeit und Ewigkeit wirklich geschichtlich zu denken vermag. Tillich thematisiert zwar die Beziehung von Zeit und Ewigkeit vollends erst in der Eschatologie, aber redet von einer Ständigkeit der Bewegung des Zeitlichen zum Ewigen. Jeder Moment der erlebten Zeit steht unter der Möglichkeit der Rückkehr zum Ewigen und somit unter der Möglichkeit, die zukünftige Bestimmung aller Zeiten vorwegzunehmen. In diesem Sinne macht Tillich die Zeit als eine Parabel vorstellig. Die Zeit ist darin der ständig mögliche Prozeß der Selbsttranszendierung des Endlichen zum Unendlichen und damit der Verewigung des zeitlichen Lebens.6 Darin sehen wir eine wesentliche Problematik der Tillichschen Theologie, daß Tillich nämlich die Tendenz des Endlichen zur Verselbständigung gegenüber dem Unendlichen - oder anders: die Entfernung des Menschen
5 Es soll hier nochmals betont werden, daß auch Heims Theologie diese Idee zu entfalten versuchte. Allerdings mußten wir zu dem Urteil kommen, daß sie bei Heim nur dezifitär zur Ausführung kommen muß, weil Heim aus verschiedenen Gründen das Wesen der Zeit in der entschlossenen Tat des erfüllten Augenblicks sieht. 6 Vgl. Tillich, STH III, 474
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von Gott unterschätzt. Warum der Mensch in Gottesferne verharren kann und will, warum das Endliche sich selbst vom wahlhaft Unendlichen abschließen kann, vermag Tïllich letztlich nicht zu erklären. Die Gottesferne des Menschen ist für Tillich ein unerklärbares Rätsel. Systematisch gesehen bleibt für die Pneumatologie im Bereich der Theologie Tillichs kein eigenes Thema mehr, denn die Zeit für die Ewigkeit ist die ständige Möglichkeit der zeitlich verfaßten Endlichkeit. In diesem Sinne ist es zu deuten, daß Tillich entgegen seiner eigentlichen Absicht und Systematik den Gedanken der Ewigkeit Gottes als ein 'nunc aeternum' entwickeln wird.7
I. Die Zeit als zentrale Kategorie der Endlichkeit Die Zeitlehre Paul Tillichs in seiner Systematischen Theologie will ohne Zweifel so gelesen werden, daß sie den Protest gegen eine Selbstbeschränkung der Zeit bzw. der Endlichkeit zu Gehör bringt. Diese Grundabsicht kennzeichnet die Ausführungen Tillichs zum Zeitbegriff durch den Gang seiner Systematischen Theologie. Die "Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen"1 steht nach dem Eingeständnis Tillichs im Zentrum aller Aussagen der Systematischen Theologie. Diese Beziehung ist ein ständiges Thema in allen Teilen des theologischen Systems. Denn der Zeitbegriff ist der entscheidende Begriff für die Endlichkeit des Seienden. Schon die Kennzeichnung der Funktion der Kategorien macht deutlich, daß der Begriff der Zeit als eine Kategorie nicht unabhängig vom Gedanken der Ewigkeit entwickelt werden kann. "Kategorien sind die Formen, in denen der Geist die Wirklichkeit ergreift und umgestaltet".2 So sind die Kategorien nach Tillich nicht nur Formen des Urteils, sondern auch des Seins. "Der Geist kann die Wirklichkeit durch die kategorialen Formen
7 Indem es uns in der Darstellung der Ullichschen Zeitlehre wesentlich um die in ihr vorgestellte Relation von Zeit und Ewigkeit geht, beruht unsere Darstellung auf mehreren Einschränkungen, die ihren vorweg eingestandenen Mangel bedingen. Zum einen beschränken wir uns fast ausschließlich auf die Systematische Theologie Tillichs. Zum anderen wird eine Diskussion der gegenüber der Theologie Heims enorm umfangreichen Literatur zu Tillich nur am Rande eine Rolle spielen. Die Bezugnahmen auf diese Literatur zu Tillich werden nur sporadisch ausdrücklich gemacht. Und schließlich bleiben auch die Fragen nach der Genese und historischen Herkunft der Theologie Paul Tillichs unthematisiert. 1 Tillich, STH III, 342 2 Tillich, STH I, 225 3 Ebd.
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erfahren".3 Darin müssen die Kategorien die Bedingung erfüllen, die Spannung, unter der die Wirklichkeit steht und erfahren wird, auszudrücken.4 In den Kategorien muß die Verfassung des Endlichen zwischen Sein und Nichtsein, Mut und Angst zum Ausdruck kommen können. Deshalb enthüllen die Kategorien in sich eine "doppelte Beziehung zum Sein und zum Nichtsein".5 Darin bringen die Kategorien zum Ausdruck, daß das Gewahrwerden der Endlichkeit die Selbsttranszendenz des Endlichen mit umgreift. So müssen die Kategorien ferner so ausgewählt werden, daß sie nicht nur die Formen der profanen Rede sind, sondern darüber hinaus auch die religiöse Sprache mit umfassen.6 Wenn die Beziehung von Zeitlichem und Ewigem aber von Tillich in Besonderheit erst im Zusammenhang der Eschatologie entwickelt wird, so hat das seinen Grund darin, daß erst im Zusammenhang der Eschatologie diese Beziehung im Blick auf die Dimension der Geschichte entwickelt wird. Der Beziehung von Zeitlichem und Ewigem als ständiges Thema theologischer Dogmatik kommt nach dem Bekunden Tillichs erst dann zur Erfüllung, wenn diese Beziehung als geschichtliche und damit so als wahrhaft vermittelte aufgedeckt ist. Das jedenfalls ist das Programm der Tillichschen Systematischen Theologie. Die christliche Theologie genießt darin in ihrer Zeitlehre Vorrang vor allen anderen Ausprägungen des Zeitbegriffs, daß sie die "Zeit in bezug zur Ewigkeit"7 thematisiert und so erst das wahre Wesen der Zeit aufdeckt. Die Zeit wird in der christlichen Theologie erst voll erfaßt. Die Darstellung der Tillichschen Zeitlehre allerdings wird ergeben, daß die angestrebte vermittelte Beziehung von Zeitlichem und Ewigem von Tillich nicht über den Begriff der Geschichte erreicht wird, sondern über die Ontologie - über die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, Bedingtem und Unbedingtem. Das faktische Konzept einer Beziehung von Zeit und Ewigkeit als ständiges Thema der Theologie ist bei Tillich gerade kein geschichtliches, sondern ein zeitloses. Das wird schon deutlich in der Herausarbeitung der Kategorie der Zeit als zentrale Kategorie der Endlichkeit.
4 Als die ontologischen Elemente, die die Spannung der Wirklichkeit ausdrücken und kenntlich machen, nennt Tillich die Spannung von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal (aaO. 206ff.) 5 AaO. 226 6 Vgl. aaO. 225 und Tillich, STH III, 360 7 Tillich, STH I, 33
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1. Die Kategorie der Zeit Dem Gedanken der Endlichkeit des Seienden kommt im Zusammenhang der Herausarbeitung der Gottesfrage bei Tillich entscheidende Bedeutung zu. Denn die Entdeckung der grundsätzlichen Endlichkeit des Seienden führt nach Tillich zur Gottesfrage. Es ist "die Endlichkeit, die uns zu der Frage nach Gott treibt" und die damit aufdeckt, daß die Gottesfrage "im Sein eingeschlossen liegt".1 Die Endlichkeit entspringt der spezifischen Verfassung des Menschen, für den "das Sein durch Nichtsein begrenzt ist".2 Sichtbar wird die Endlichkeit in der "allgemeinen Subjekt-Objekt-Struktur" des Lebens.3 Das zentrierte Selbst wird begrenzt durch die Welt, die Freiheit des Menschen durch sein Schicksal, seine Selbstbewahrung durch Selbstüberschreitung.4 Um die Begrenzung des Seins durch das Nichtsein weiß aber nur dasjenige Wesen, das die Seinsfrage stellt. Der Mensch ist das Wesen, das die ontologische Frage, warum Seiendes ist und nicht Nichts, überhaupt zu stellen vermag. "Vom Standpunkt des möglichen Nichtseins betrachtet ist Sein ein Mysterium".5 Diese ständige Bedrohung des Seins durch das Nichtsein bestimmt die Verfassung des Menschen, weil nur er über die Grenzen seines eigenen Seins hinaussehen kann. Insofern impliziert das Gewahrwerden der Endlichkeit den Gedanken der Unendlichkeit. Um seiner Endlichkeit gewahr zu werden, "muß der Mensch vom Standpunkt einer potentiellen Unendlichkeit auf sich selbst blicken".6 Die Kategorien als die Formen, in denen der Geist die Wirklichkeit ergreift und gestaltet, müssen die Verfassung des Menschen zwischen Sein und Nichtsein, Mut und Angst zum Ausdruck bringen. Als solche müssen sie ein positives und ein negatives Element in sich vereinen. Nur so können sie die Fähigkeit des Menschen zur Selbsttranszendierung in der Selbstzentrierung, zur Gemeinschaft im Versuch seiner Selbstbewahrung, zur Freiheit in seiner Schicksalhaftigkeit aufdecken. Die Kategorien also entfalten das Wissen um die Endlichkeit in Gebundenheit an den Gedanken "einer potentiellen Unendlichkeit"7; denn nur so ist berücksichtigt, daß Sein und Nichtsein dialektisch aufeinander bezogen sind. Die Endlichkeit ist also unvollständig gedacht, wenn sie auf sich 1 Tillich, STH I, 196 2 AaO. 222 3 F. Wagner, Absolute Positivität. Das G rundthem a der Theologie Paul Tillichs, in: NZSTh 15 (1973), 172ff„ 186 4 Vgl. aaO. 186 5 Tillich, STH 1,218f. 6 Vgl. aaO. 222f. 7 Tillich, STH I, 223
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beschränkt bleibt oder vorgestellt wird. Schon um der Bewegung seines Lebens auf den Tod hin gewahr zu werden als den unmittelbaren Ausdruck seiner Endlichkeit, "muß der Mensch sein endliches Sein als Ganzes überblicken, er muß auf gewisse Weise darüber hinaus sein".8 Das auf sich selbst beschränkte Endliche im Sinne einer abgeschlossenen Ganzheit ist jedenfalls ein unmöglicher Begriff. Als Gegenüber zur Wahrnehmimg der Endlichkeit aber ist der Begriff der Unendlichkeit "ein Leitbegriff, kein konstitutiver".9 "Er leitet den Geist an, seine eigenen unbegrenzten Möglichkeiten zu erfahren, aber er begründet nicht die Existenz eines unendlichen Seins".10 Der Begriff der Unendlichkeit kennzeichnet so das Geschehen der unbegrenzten Selbsttranszendierung des Endlichen, das sich darin gerade als Endliches entdeckt.11 Die Zeit gilt Tillich nun als die "zentrale Kategorie der Endlichkeit"12, weil sie "ein Gleichgewicht zwischen dem positiven und dem negativen Charakter"13 des Endlichen in exzeptioneller Weise zum Ausdruck bringt. Die Analyse nämlich zeigt, daß eine Entscheidung im Blick auf die Zeit ob sie nämlich eher das Sein repräsentiert oder eher das Nichtsein - aus dem Wesen der Zeit nicht getroffen werden kann. "Eine Entscheidung hinsichtlich des Sinnes der Zeit kann aus einer Analyse der Zeit nicht abgeleitet werden".14 Dieser Charakter des Zeitbegriffs, daß er nämlich per definitionem die Zeit auf die Dialektik von Bedingtheit und Unbedingtheit, Endlichkeit und Unendlichkeit verweist wird für Tillich darin ansichtig, daß die einen auf "die Vergänglichkeit alles Zeitlichen" und auf die Unmöglichkeit verweisen, "den gegenwärtigen Augenblick festzulegen innerhalb eines Zeitflusses".15 Diese Hervorhebung der negativen Form der Zeit ruht bekanntlich auf der Vorstellung, Sein heiße gegenwärtig sein, Gegenwärtigkeit sei aber eine 'unmögliche' Dimension der Zeit. Dagegen verweisen andere, "die das positive Element in der Zeit betonen", auf den "schöpferischen Charakter des Zeitprozesses".16 Beide Aspekte haben nach Tillich
8 AaO. 223 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Daß das als Gegenüber zur Endlichkeit gedachte Unendliche noch nicht den Begriff der wahren Unendlichkeit freilegt, wird Tillich später so zeigen, daß er den Gottesgedanken als das Sein-Selbst entwickelt, das jenseits der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, Begrenzung und Überschreitung liegt. 12 Tillich, STH I, 226 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd.
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einen Wahrheitsgehalt. Aber keine der beiden Gruppen können ihre je eigene Deutung der Zeit gegen die andere absolut setzen. Es ist auf der einen Seite unmöglich, die Dimension der Gegenwart als eine bloße Illusion zu verabschieden, ist sie doch der Ort der Erfahrung. Andererseits eignet allem Endlichen das bedrohliche Wissen um die Unaufhaltsamkeit seines Seins zum Tode. Die Ontologie kann so "nur ein Gleichgewicht zwischen dem positiven und dem negativen Charakter der Zeit feststellen".17 Darin spiegelt die Kategorie der Zeit die Situation des endlichen Seienden zwischen Angst (vor dem Nichtsein) und dem Mut (zum Sein) wieder. Die Angst, sterben zu müssen, drückt die Sorge um das ständig drohende Nichtsein aus und "durchdringt das Ganze des menschlichen Seins".18 Diese Angst gehört zum geschöpflichen Charakter des Seins und ist keine unmittelbare Folge der Entfremdung menschlichen Lebens von seiner eigentlichen Bestimmung in seiner Selbstentfaltung. Diese Angst "ist aktuell in 'Adam' (d.h. der essentiellen Natur des Menschen) wie in 'Christus' (d.h. der neuen Wirklichkeit des Menschen)".19 In diesem Zusammenhang begründet Tillich die Differenz zwischen der 'natürlichen Endlichkeit' des Lebens und der 'verfallenen' und uneigentlichen Endlichkeit ausdrücklich christologisch. Denn der christliche Glaube hat in dem Bild Jesu ein menschliches Leben vor sich, das in Angst ist, ohne zu verzweifeln.20 Die Entfremdung der menschlichen Existenz gegenüber der essentiellen Natur macht sich vielmehr, so wird sich später zeigen, als 'Herrschaft' des negativen Aspektes der Zeit gegenüber dem positiven geltend. Entfremdung im Blick auf die Kategorie der Zeit bedeutet, das Sein tritt unter die Herrschaft der Endlichkeit - das Endliche verschließt sich gegenüber dem Unendlichen. In seiner Essenz aber verliert der Mensch - das Wesen also, das um seine Endlichkeit weiß - vermöge seiner Fähigkeit der Selbsttranszendenz niemals das Wissen um die Ambivalenz der Zeit. Der Mensch "bejaht die Gegenwart durch einen ontologischen Mut, der ebenso echt ist wie seine Angst über den Zeitprozeß".21 Obwohl dieser Mut in allen Lebewesen vorhanden ist, so ist er radikal und bewußt präsent nur im Menschen. In der Fähigkeit des Menschen, sein Ende zu denken und zu ihm vorzulaufen, kommen Angst und Mut als die beiden ontologischen Grundhaltungen angesichts der Polarität von Sein und Nichtsein gleichermaßen zur Geltung. So vereint also das Gewahrwerden der Endlichkeit sowohl die Grundhal17 18 19 20 21
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Ebd. AaO. 227 Ebd. Vgl. aaO. 235 AaO. 227
tung der Angst als auch den Mut, der aus der Fähigkeit erwächst, die Angst vor dem Nichtsein zu überwinden. Der Mensch "ist das mutigste aller Wesen, weil er die tiefste Angst zu besiegen hat".22 Die fundamentale Zweideutigkeit der Zeit "hat einen direkten Bezug auf die religiöse Symbolik und auch die theologische Interpretation" der Zeit.23 Denn das Bewußtsein von der Zeitlichkeit des Lebens ist gebunden an das allerdings zunächst unbestimmt bleibende Wissen um eine potentielle Unendlichkeit. Der Mensch weiß, daß er endlich ist und wird darinseiner Endlichkeit so inne, daß er sich darin ausgeschlossen erfährt von einer Unendlichkeit. "Der Mensch muß nach dem Unendlichen fragen, von dem er entfremdet ist, obgleich es zu ihm gehört; er muß fragen nach dem, was ihm den Mut gibt, seine Angst auf sich zu nehmen."24 In der Fähigkeit, seine Angst zu überwinden, wird der Mensch dessen eingedenk, daß er in der Frage nach dem Unendlichen an diesem teil hat. Die Verfassung der Endlichkeit wird von Tillich immer wieder so gekennzeichnet, daß die Endlichkeit in der Gewahrwerdung ihrer selbst über sich hinaus ist. Logisch und ontologisch impliziert der Gedanke der Endlichkeit den Gedanken der Unendlichkeit als Möglichkeit. Der Mensch kann seiner Endlichkeit nach Tillich nicht gewahr werden, ohne daß er gleichzeitig der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten gewahr wird. Gewiß kann daraus auch nach Tillich nicht abgeleitet werden die Unendlichkeit "als Objekt".25 Die Unendlichkeit ist zunächst nur der Ausdruck für die unendliche Selbsttranszendenz des Endlichen. Aber die Dialektik von Angst und Mut impliziert für Tillich doch den Gedanken einer gegebenen, aktualen Unendlichkeit. Der Mut zum Sein, der das Endliche kennzeichnet, insofern es ist und nicht dem Nichtsein sich ergibt, setzt den Gedanken einer Unendlichkeit, an der das Endliche im Akt des Mutes teil hat, voraus. Die Fähigkeit, die Angst zu überwinden, zeigt nach Tillich, daß das Endliche "zu dem gehört", was jenseits der Dialektik von Sein und Nichtsein, Angst und Mut liegt - "nämlich zum Sein-Selbst".26 Im Blick auf die Kategorie der Zeit bedeutet diese Argumentation, daß die Zeit nicht zu denken ist ohne die Relation zur Ewigkeit - und zwar die Zeit in ihrer 'essentiellen Struktur'. "Das endliche Sein ist ein Fragezeichen. Es stellt die Frage nach dem 'ewigen Jetzt', in dem das Zeitliche ... gleichzeitig bejaht und überwunden" wird.27 22 23 24 25 26 27
Ebd. Vgl. aaO. 229 AaO. 240 AaO. 223 AaO. 223 AaO. 244
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2. Die Relation von Zeit und Ewigkeit als kategoriale Entfaltung der Relation von Endlichkeit und Unendlichkeit Der vorige Abschnitt hatte in groben Zügen die Argumentation Tillichs nachgezeichnet, in der dieser anhand der Kategorie der Zeit die Zweideutigkeit menschlichen Lebens ausdrücklich machte. Diese Zweideutigkeit macht sich in dem Versuch einer Bestimmung der Zeit so geltend, daß die Zeit aus sich selbst nicht bestimmbar ist. Die Kategorie der Zeit kennzeichnet die Verfassung des Endlichen zwischen Sein und Nichtsein, Selbstzentriertheit und Exzentrizität. Die Kategorie der Zeit bringt zum Ausdruck, daß das Endliche in der Gewahrwerdimg seiner Endlichkeit die Frage nach der Unendlichkeit stellt, ohne sie selbst beantworten zu können. Das Endliche kommt von sich selbst her nicht über die Dialektik zwischen Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit als das mögliche andere ihrer selbst hinaus. Die Frage des Menschen nach einer möglichen Unendlichkeit, die mitbedingt ist durch das Gewahrwerden der Endlichkeit, wird aber erst dann angemessen gedacht, wenn das Unendliche nicht lediglich als das bloße Gegenüber zum Endlichen entfaltet wird. Mit diesem Begriff der schlechten Unendlichkeit, die lediglich das andere des Endlichen ist, kann sich Tillich nicht zufrieden geben. Gerade weil das Endliche in derGewahrwerdung seiner Endlichkeit die Frage nach der Begrenzung seiner selbst stellt, diese Frage aber die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz mit einschließt, muß das die Endlichkeit Begrenzende jenseits der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit angesetzt werden. Der eigentliche Grund für die Endlichkeit liegt so außerhalb der SubjektObjekt-Struktur, in der sich das Endliche vorfindet. So kommt Tillich auf den Begriff des 'Sein-Selbst' als absolute Positivität, uneingeschränkte Seinsmächtigkeit, die als das die Endlichkeit Begrenzende die Fähigkeit des Endlichen zur unendlichen Selbsttranszendenz bedingt.1 Eine theologische Schöpfungslehre muß sich den Kriterien einer wahrhaften Entwicklung der Dialektik von Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit unterwerfen, die das die Endlichkeit Begrenzende nicht nur als sein bloßes Gegenüber entwickelt. Die Schöpfungslehre muß die Frage, die in der Analyse der Endlichkeit des Menschen auftritt, als Frage zur Geltung bringen unter Berücksichtigung ihrer möglichen Beantwortung. Die Lehre von der Schöpfung ist "die grundlegende Aussage über die Beziehung
1 Vgl. Tillich, STH I, 223; den Begriff des Sein-Selbst als Seinsmächtigkeit entwickelt Tillich aaO. 273ff.
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zwischen Gott und der Welt" und darin "das Korrelat zur Analyse der Endlichkeit des Menschen".2 Anders also als Heim und später auch als Barth entwickelt Tillich die Beziehung zwischen Ewigkeit und Zeit in einem ersten Versuch im Zusammenhang der Schöpfungslehre, die unabhängig von der Christologie schon für sich die essentielle Beziehung zwischen Ewigkeit und Zeit als solche zur Geltung bringt. Die Schöpfungslehre nämlich beantwortet die Frage nach Sinn und Ziel der Endlichkeit mit dem Gedanken, daß der Sinn der Endlichkeit in der durch das Unendliche selbst gestifteten Beziehung zur Unendlichkeit liegt.3 Darin kennzeichnet die Schöpfungslehre nicht etwa ein einzelnes Ereignis im Leben Gottes mit den Menschen oder gar "die Geschichte eines Ereignisses, das irgendwann einmal stattgefunden hat", sondern "die Situation der Geschöpflichkeit und ihr Korrelat, das göttliche Schaffen".4 Ihren angedeuteten Sinn als Versuch einer Beantwortung der Frage, die in der Endlichkeit liegt, erfüllt die theologische Schöpfungslehre dann und nur dann, wenn sie so entwickelt wird, daß sie das ständige Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf zu kennzeichnen vermag. So ist die Forderung Tillichs verständlich, die Forderung nämlich, daß "alle drei Modi der Zeit" herangezogen werden müssen, um das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf "zu symbolisieren".5 So entwickelt Tillich den Begriff der Schöpfung unter dem Aspekt des ursprünglichen, erhaltenden und lenkenden Schaffens Gottes. Das Symbol der 'creatio ex nihilo' erfüllt trotz aller Schwächen, die darin liegen, daß dieses Symbol den Dualismus zwischen Sein und Nichts gerade nicht überzeugend abwehren kann6 - die Funktion, daß es die Situation des Endlichen zwischen Sein und Nichtsein adäquat zum Ausdruck bringt. "Geschöpflichkeit schließt Nichtsein ein, aber Geschöpflichkeit ist mehr als Nichtsein".7 Die geschöpfliche Endlichkeit als essentielle Verfassung des Menschen hat keine tragischen Züge - das Sein ist ontologisch und logisch früher als das Nichtsein. Aber - das Symbol der creatio ex nihilo gibt zugleich zu bedenken, "daß es ein Element des Nichtseins in der Geschöpflichkeit gibt"8, das der Entfaltung des Geschaffenen entspringt, aber nicht natürlich zu ihm gehört. Darin bringt dieses Symbol zum Aus2 Tillich, STH I, 291 3 Damit bildet der Begriff der Schöpfung das Korrelat zur Eschatologie. Die Schöpfung entfaltet den Übergang vom Ewigen zum Zeitlichen, die Eschatologie die Rückkehr des Zeitlichen zum Ewigen (vgl. Tillich, STH III, 447) 4 Tillich, STH I, 291 5 Ebd. 6 Vgl. aaO. 292 7 Ebd. 8 Ebd.
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druck, daß der Mensch in seiner Wirklichkeit sich von seinem essentiellen Grund entfernt. "Vollkommen entfaltete Geschöpflichkeit ist gefallene Geschöpflichkeit".9 Geschöpflichkeit heißt beides: "Wurzeln im schöpferischen Grund des göttlichen Lebens und sich selbst verwirklichen in Freiheit".10 Das klassische Problem der Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Zeit ist nach Tillich leicht zu lösen, wenn die Einsicht in den 'schöpferischen Charakter' des göttlichen Lebens und damit die Einsicht in das Symbol der Schöpfung als Symbol für die ständige Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf Beachtung findet. Wenn nämlich bedacht wird, daß das Sein Gottes jenseits der ontologischen Polaritäten, jenseits der in der menschlichen Wirklichkeit auftretenden Differenz von Essenz und Existenz 'anzusiedeln' ist, so wird Gott als das Sein-Selbst derart gedacht, daß er alles Endliche in sich begreift und zugleich über es hinausgeht. "Die göttliche Ewigkeit enthält die Zeit und geht zugleich über sie hinaus".11 So gehört die Zeit einerseits zum unaufhörlich schöpferischen Prozeß göttlichen Lebens, andererseits ist sie als Bedingung der Endlichkeit die Form der Entfaltung der Existenz, die im Prozeß ihrer Entfaltung, und damit auch ihrer Entfernung von Gott, nie absolut von der Unendlichkeit ausgeschlossen ist. Die Zeit als Kategorie der geschöpflichen Endlichkeit weist so einerseits auf den schöpferischen Grund hin, andererseits ist sie Gestalt der Entfernung des Endlichen von diesem Grund. "Die Zeit hat Anteil am Schicksal alles Geschaffenen: nämlich gegründet zu sein im göttlichen Grunde, jenseits von Essenz und Existenz und getrennt zu sein vom göttlichen Grunde durch die Freiheit und das Schicksal der Kreatürlichkeit".12 Die Beantwortung der Frage, ob die creatio 'in tempore' oder 'cum tempore' erfolgt, kann sich auf keine der beiden in der Tradition vorgestellten Möglichkeiten, den Akt der Schöpfung zu denken, beziehen; denn beide Alternativen denken letztlich nicht die ambivalente Struktur der Zeit und damit nicht die Ständigkeit des Verhältnisses vom Schöpfer und Geschöpf. Wird der schöpferische Charakter des göttlichen Lebens berücksichtigt, so ist die Sorge davor, das Leben Gottes auf keinen Fall mit Prädikaten der Zeitlichkeit zu belegen, unbegründet. Denn das göttliche Leben schließt Zeitlichkeit ein, ohne ihr selbst unterworfen zu sein. Nur so nämlich bleibt gewahrt, daß die Zeit per se nicht die unaufhebbare Entfernung des Endlichen vom Unendlichen bedeutet. Vielmehr wird die Ewigkeit Gottes nur so 9 10 11 12
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AaO. AaO. AaO. AaO.
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wahrhaft bestimmt, wenn sie die Zeit gerade in dem Prozeß ihrer Selbstentfaltung in sich fassen kann. Es ist also nicht nötig, gegen Augustin von der 'creatio in tempore' zu reden unter der Beteuerung, es habe vor der Schöpfung keine Zeit gegeben - eine Beteuerung, die im Anschluß an jene Behauptung nur schwerlich einsichtig gemacht werden kann.13 Der schöpferische Charakter des göttlichen Lebens wird am besten betont, wenn "von der Schöpfung mit der Zeit" gesprochen wird; "denn die Zeit ist die Form der Endlichkeit im schöpferischen Grund des göttlichen Lebens ebenso wie in der kreatürlichen Existenz".14 Der Gedanke der Erhaltung der Welt drückt streng genommen nur den im Begriff der Schöpfung gedachten Übergang vom Ewigen zum Zeitlichen als einen ständigen aus. "Erhaltung ist dauerndes Schaffen, in dem Gott von Ewigkeit her Dinge und Zeit miteinander schafft".15 Das Symbol der Erhaltung drückt damit aus, daß Gott nicht nur wesensmäßig schöpferisch ist, sondern in jedem Augenblick zeitlicher Existenz als seinsmächtiger Grund alles Endlichen gegenwärtig ist. Die Unterscheidung zwischen ursprünglichem und erhaltendem Schaffen hat ihr einziges Recht darin, daß letzteres "die vorhandenen Strukturen der Wirklichkeit" meint, sich also auf das, "was innerhalb des Wechsels dauert, auf das Regelmäßige und Berechenbare in den Dingen"16 bezieht. Allerdings erfährt dieses Symbol der Erhaltung der Welt durch Gott trotz seiner kaum systematisch sichtbaren Differenz zum ursprünglichen Schaffen Gottes neue Relevanz im Zusammenhang der "Katastrophen des 20. Jahrhunderts".17 Gottes lenkendes Schaffen meint die Bestimmung des Seienden auf Erfüllung hin. Darin ist das lenkende Schaffen Gottes "die Seite des göttlichen Schaffens, die auf die Zukunft bezogen ist".18 13 Vgl. aaO. 296 14 AaO. 297; die implizite Barth-Kritik Tillichs kann die Position Barths insofern nicht voll treffen, da jener durch die Betonung der 'creatio in tempore' die Relationalität des göttlichen Handelns, die Tillich mit dem Hinweis auf den schöpferischen Prozeß göttlichen Lebens ebenfalls im Auge hat, herausheben möchte (vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik, III/l, 72ff., bes. 77). Allerdings ist der Unterschied zwischen Barth und Tillich gewiß darin zu sehen, daß Barth den Schöpfungsakt in seiner Temporalità als Selbstentsprechung zur lebendige Ewigkeit Gottes deuten möchte, während Tillich in dem Symbol der Schöpfung das göttliche Leben unmittelbar entfaltet sieht. 15 Tillich, STH I, 301 16 AaO. 302 17 Vgl. ebd. 18 AaO. 303; damit rezipiert Tillich aus dem Lehrstück der 'Providentia Dei' nur die conservado und gubematio. Den Begriff des concursus rezipiert Tillich deshalb nicht, weil ihm die Entfaltung der Geschöpflichkeit die Entfernung des Menschen und des Endlichen überhaupt von Gott bedeutet. Der Gedanke der Koinzidenz von Schöpfung und Fall schließt die Gegenwart Gottes in der Welt zwar nicht aus, macht aber den Gedanken unmöglich Gott sei in jeder Handlung des Menschenmittätig und mitwirkend gewesen.
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Die Einheit des schöpferischen Handelns insgesamt ist nach Tillich darin zu sehen, daß Gott "der Welt immanent" ist "als ihr dauernder schöpferischer Grund" und zugleich transzendent ist "durch Freiheit".19 Eine christliche Lehre von der Schöpfung hat also zu berücksichtigen, daß das schöpferische Sein Gottes die relationale Bestimmtheit seines Seins schlechthin ausdrücklich macht. "Das Unendliche ist in jedem Endlichen gegenwärtig, sowohl im Stein als auch im Genius".20 Gleichwohl kann das Sein Gottes nicht so vorgestellt werden, daß es in dieser Relation zum Endlichen aufgeht. Darum entwickelt Tillich seine Gotteslehre unter dem Gedanken des 'Sein-Selbst' - jenseits der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit.21 "Die Macht des Seins muß jedes Seiende, das an ihm partizipiert, transzendieren".22 Die Spannung der menschlichen Situation, daß er endlich ist und zugleich seine Endlichkeit im Gedanken einer potentiellen Unendlichkeit transzendieren kann, führt zwar zur Gottesfrage, läßt aber nicht den Schluß zu, Gott leite sich aus dieser Dialektik ab. "Das Sein Gottes ist das SeinSelbst"23 - u n d so jenseits der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit.
19 Tillich, STH I, 303 20 Ebd. 21 Den anderen wesentlichen Grund für die Bestimmung Gottes als ' Sein-Selbst' neben der Bedeutung dieses Begriffs für die Wahrung des Gedankens der Transzendenz Gottes ist so umschrieben worden, daß diese Bestimmung Gottes die Erfahrung der Gegebenheit des Endlichen im Vollzug seiner Selbstentfaltung erst angemessen zum Ausdruck bringt (vgl. Wagner, Absolute Positivität, 186). 22 Tillich, STH I, 268 23 AaO. 273; die Dialektik von Frage und Antwort spielt bekanntlich eine entscheidende Rolle für die Grundlegung der Tillichschen Theologie und die Kennzeichnung ihrer Methode (vgl. Tillich, STH I, 12ff„ 15ff„ 74ff. u.ö.). Tillich will in seiner Theologie durch die theologische Methode eine reale Korrelation zwischen "dem Zustand des religiösen Ergriffenseins des Menschen und dem, was ihn ergreift" (aaO. 74). Tillich will die Relation zwischen Gott und Mensch als eine reale Korrelation und nicht nur als eine Korrelation im logischen Sinne entwickeln. Der Rang der Methode der Korrelation wird darin sichtbar, daß Tillich selbst betont, seine Methode sei eine theologische Aussage (aaO. 15). Seine Methode, so Tillich, sei die Entfaltung der Systematischen Theologie in nuce. Darin spiegelt die Methode die Funktion der Systematischen Theologie wider, die Wahrheit der christlichen Botschaftfür die Zeit zu sagen. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird bei Tillich nach dem Schema von Frage und Antwort interpretiert. 'Gott erkennen' ist die Antwort auf die Existenzfrage des Menschen. Das thematisiert allein die Theologie. Die Begriffe von Frage und Antwort bringen dabei die beiden Pole der Tillichschen Theologie, die als Situation und ewige Wahrheit bestimmt werden können, zur Geltung. Die Korrelation ist dabei ein Verhältnis zwischen den beiden Polen bzw. zwischen Frage und Antwort in der Einheit von Bezogenheit und Unabhängigkeit der Korrelate. Die Antworten auf die Fragen der Endlichkeit sind einerseits nicht in den Fragen selbst schon enthalten, andererseits müssen die Antworten auf die Fragen der Endlickeit so gedacht werden können, daß sie nicht nur auf die Fragen beziehbar sind, sondern diese selbst hervorrufen (vgl. aaO. 75 u.ö.). "Dieser Zirkel von
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Als das Sein-Selbst ist das Sein Gottes für Tillich bestimmt durch absolute Seinsmächtigkeit. Die Allmacht wird so zum umfassenden Gottesattribut. "Das Symbol der Allmacht gibt die erste und grundlegende Antwort auf die in der Endlichkeit enthaltene Frage".24 In der Allmacht wird die Seinsmächtigkeit Gottes symbolisiert. Die Seinsmächtigkeit Gottes manifestiert sich für das christliche Bewußtsein in der Gewißheit, daß das Sein Gottes "dem Nichtsein in all seinen Formen Widerstand leistet".25 Das christliche Bewußtsein macht sich in dem Symbol der Allmacht selbst Mut, daß es an der Seinsmächtigkeit Gottes Anteil gewinnt und damit an der Überwindung der Angst vor dem Nichtsein.26 Dies hat für die Entfaltung des Symbols der Allmacht die Konsequenz, daß die in ihm ausgedrückte Seinsmächtigkeit Gottes auch in Raum und Zeit sichtbar werden muß. Allmacht in Beziehung zur Zeit ist Ewigkeit. Soll die Seinsmächtigkeit Gottes in bezug auf die Zeit als die hervorragendste Form der Endlichkeit gedacht werden, so muß die Ewigkeit Gottes so entfaltet werden, daß sie den Einfluß Gottes auf die Zeit ausdrücklich macht. So ist Ewigkeit "weder Zeitlosigkeit noch Endlosigkeit der Zeit".27 Der Sinn der Ewigkeit als eine Form der Seinsmächtigkeit Gottes ist als seine Kraft vorzustellen, "alle Zeitmomente zu umgreifen".28
Antwort und Frage spricht Korrelation als wechselseitige Abhängigkeit aus. Es besagt, daß die göttlichen Antworten selber die Fragen initiieren, auf die sie antworten, so daß die Fragen des Menschen selber Antworten auf göttliche Antworten sind" (J. Ringleben, Paul Tillichs Theologie der Methode, in: NZSTh 17 (1975), 246ff„ hier 261). Nach Ringleben und anderen setzt die Kennzeichnung dieser Korrelation zwischen Frage und Antwort, Mensch und Gott, Endlichkeit und Unendlichkeit, den Gedanken der Selbsterschließung des Unendlichen, der Wahrheit, voraus (vgl. Ringleben, aaO. 261 u.ö.). Nach Ringleben ist die unausgesprochene Voraussetzung der Tillichschen Theologie der Methode der Gedanke des 'Sich-sich-selbst-Gebens' des Unbedingten (aaO. 251, 262 u.ö.). Ringleben hat darauf hingewiesen, daß diese unausgesprochene Voraussetzung der Tillichschen Theologie die Schärfe des Gegensatzes zwischen Tillich und Barth dahingehend mindert, daß beide Theologen offenbar den Gedanken der Selbstvermittlung der Wahrheit in das Zentrum ihrer Theologie stellen. Allerdings wird noch deutlich werden, daß die Art und Weise, wie Barth und Tillich diesen Gedanken der Selbstvermittlung der Wahrheit zur Geltung bringen, die beiden Theologen in der Tat fundamental voneinander unterscheidet. 24 Tillich, STH I, 314 25 Ebd. 26 Deshalb legt Tillich Wert darauf, daß der Begriff der Allmacht nicht zu einem vordergründigen Attribut des göttlichen Wesens degeneriert. So miißte nämlich die Allmacht als die absurde Fähigkeit Gottes gedacht werden, alles das zu tun, was er will. Dagegen verleiht das religiöse Bewußtsein in dem Symbol der Allmacht seiner Gewißheit Ausdruck, daß sein Leben selbst unter dem Vorzeichen der Überwindung des Nichtseins steht. 27 AaO. 315 28 Ebd.
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Kennzeichnet die Kategorie der Zeit das Sein des Endlichen zwischen Aktualität und Potentialität, Freiheit und Schicksal, Existenz und Essenz, so ist natürlich überdeutlich, daß das Prädikat der Zeitlichkeit nicht auf Gott angewendet werden darf. Denn für das Sein Gottes gilt, daß für ihn Essenz und Existenz, Möglichkeit und Wirklichkeit nicht unterschieden sind. Gott ist seine Bestimmung in jedem Augenblick seines Seins. Wenn dem Sein Gottes also Ewigkeit als "ein echt religiöses Wort"30 zugesprochen wird, so heißt das nicht, daß Gottes Sem dem Endlichen in seiner zeitlichen Verfaßtheit einfach nur gegenüber gestellt wird. Denn schon der Gedanke der Schöpfung impliziert ja den Gedanken einer grundlegenden und ursprünglichen Beziehung Gottes zu allem Seienden. Insofern also gilt: "das göttliche Leben schließt Zeitlichkeit ein, ist ihr aber nicht unterworfen".31 Tillich bestimmt die Ewigkeit Gottes so im Rückgriff auf den 'biblischen Sprachgebrauch'32 als die Kraft zur Zeitbezogenheit Gottes. Diese Absicht Tillichs, auch vom Begriff der Ewigkeit her die essentielle Beziehung von Zeit und Ewigkeit aufzudecken, korresponiert der oben beschriebenen Kennzeichnung der Zeit in ihrer Offenheit zum Gedanken der Ewigkeit und Unendlichkeit. Die bloß diastatische Fassung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit ersetzt vollständig den Gedanken der Schöpfung durch den Gedanken der Entfremdung und eliminiert die in dem Gedanken der Schöpfung ausgedrückte Beziehung Gottes zu allem Seienden. Wenn denn also gilt, daß die Beziehimg Gottes zur Zeit dem Sein Gottes selbst eignet, so ist dieses Sein Gottes temporal zu beschreiben. Tillich unternimmt dies zum einen darin, daß er Gottes Sein als Leben bestimmt33, zum anderen durch den Begriff der Ewigkeit als Gottesattribut. Danach ist die Ewigkeit Gottes so zu denken, daß in Gott "die Momente der Zeit nicht voneinander getrennt"34 vorzustellen sind. "Die Gegenwart wird nicht von Vergangenheit und Zukunft getrennt".35 Gott hat seine Vergangenheit und Zukunft stets ungeteilt gegenwärtig. Doch will Tillich die Ewigkeit Gottes so denken können, daß sie als Selbstbesitz Gottes gleichwohl den Bezug Gottes zum Zeitlichen ausdrücken kann. Deshalb
30 Tülich, STH I, 315 31 AaO. 296 32 Vgl. aaO. 315; Tillich verweist an dieser Stelle ganz allgemein auf die Kritik der zeitlosen Interpretation des Gedankens der Ewigkeit in der griechischen Philosophie und im hebräischen Denken. 33 Vgl. aaO. 280ff. 34 AaO. 315 35 Ebd.
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spricht er davon, daß das Ewige das Zeitliche in sich einschließt und über es hinausgeht. In der genaueren Skizzierung der konkreten Zeitmächtigkeit Gottes kraft seiner Ewigkeit greift Tillich auf den Begriff der 'stehenden Gegenwart'36 zurück, der seit Piaton immer wieder zur Umschreibung des Begriffs der Ewigkeit herangezogen wurde.37 Als 'nunc aeternum' - so lautet also die These Tillichs - ist das Ewige im Zeitlichen gegenwärtig; "die ewige Gegenwart bewegt sich von der Vergangenheit zur Zukunft, hört dabei aber nie auf, Gegenwart zu sein".38 Die Symbolisierung der Ewigkeit durch den Gedanken der 'stehenden Gegenwart' bedeutet aber nicht, daß das Sein Gottes seine völlige Beziehungslosigkeit zur Zeit meint. "Dieses nunc aeternum ist aber nicht Gleichzeitigkeit oder die Ablehnung der selbständigen Bedeutung von Vergangenheit und Zukunft."39 Sondern die ewige Gegenwart als Modus der Ewigkeit Gottes meint, daß Gott nie aufhört, Gegenwart zu sein. Gott bleibt immer auf der Höhe der Zeit. Wenn die Ewigkeit Gottes im Sinne der temporalen Interpretation aber die Beziehung Gottes zu aller Zeit einschließt, so muß diese Beziehung der Ewigkeit zur Zeit auch im Blick auf die anderen Modi der Zeit gezeigt werden können. Im Blick auf den Modus der Zukunft kommt Gott "ein relatives, nicht ein absolutes Offensein für die Zukunft" zu.40 Denn Gott kann in seiner Gegenwart alles Zukünftige vorwegnehmend überblicken. "Das Neue liegt jenseits von Potentialität und Aktualität im göttlichen Leben".41 Allerdings hebt die stehende Gegenwart Gottes das Neue, das die Zukunft bringt, nicht einfach auf. Gott läßt das von ihm Vorausgesehene und Zukünftige für den Menschen "als Neues in Zeit und Geschichte" aktuell werden.42 Die Gerichtetheit des zeitlichen Geschehens aber wird gewahrt durch die Ewigkeit Gottes, die als stehende Gegenwart auch noch jenseits alles Zukünftigen liegt. Ähnlich argumentiert Tillich im Blick auf den Modus der Vergangenheit. "Gottes Ewigkeit ist auch nicht abhängig von der Vollendung der Vergangenheit".43 Die Vergangenheit wird im Prozeß der geschichtlichen Entwick-
36 37 Band 38 39 40 41 42 43
Vgl. aaO. 316f. Vgl. H. Schnarr, Nunc stans, Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von G. Ritter, 6,1984, Sp. 989ff. Tillich, STH 1,316 AaO. 316 AaO. 317 Ebd. Ebd. Ebd.
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lung je und je "etwas anderes".44 Die Deutung der Vergangenheit und damit auch deren Potentialitäten vollzieht sich im Prozeß der Geschichte je neu. Das Ziel des Vergangenen aber wird letztlich nicht bestimmbar ohne das Eintreten der letzten Zukunft. Der Lauf der Zeit läßt auch das Verständnis der Vergangenheit noch unabgeschlossen. Die schaffende Kraft Gottes, die der Zeit eine Richtung gibt, ermöglicht auch die Freiheit des Umgang mit dem Vergangenen. "Von der Ewigkeit her gesehen sind sowohl Vergangenheit als auch Zukunft offen".45 So wird der Glaube an den ewigen Gott für Tillich Grundlage des Mutes, die Negativitäten des Zeitprozesses zu überwinden. Dieser Mut speist sich also aus der Einsicht in die dialektische Bezogenheit von Zeit und Ewigkeit, die es einerseits unmöglich macht, die Ewigkeit als Zeitlosigkeit und so nur als Gericht über die Zeit zu denken, andererseits verbietet, die Zeit nur als Ausdruck der Gottesferne des Endlichen zu interpretieren.
3. Die Ewigkeit Gottes als seine ständige und unveränderliche Gegenwart in der Zeit Das Programm Tillichs hinsichtlich der Bestimmung der Zeit liegt darin, anhand dieser zentralen Kategorie der Endlichkeit die polare Struktur der Wirklichkeit deutlich zu machen in ihrem Hinweischarakter auf die Gottesfrage. Die Theologie thematisiert die Zeit "in bezug zur Ewigkeit",1 baut darin wohl auf die Begrifflichkeit der Philosophie auf, aber erhebt den Anspruch, die Wirklichkeit tiefer und besser zu verstehen als die Philosophie in ihrer Beschäftigung mit der Seinsfrage. Die Philosophie nämlich läßt den Bezug der Zeit zur Ewigkeit offen, weil sie nur nach den Strukturen des Seins fragt, nicht aber nach dem "Sinn des Seins für uns".2 Die Existentialität in der Fragehaltung nach dem Sein macht den Unterschied des Theologen zum Philosophen aus.3 Die Philosophie "analysiert die 44 Ebd. 45 Tillich, STH 1,317 1 Tillich, STH I, 33 2 AaO. 30; die Bedeutung dieser Differenz zwischen Philosophie und Theologie wird für die weitere Entwicklung des Zeitbegriffs die Folge haben, daß Tillich gegenüber Philosophie und Wissenschaft mit dem Anspruch auftreten wird, erst die Herausstellung der Relation von Zeit und Ewigkeit als geschichtliche im Zusammenhang christlicher Theologie könne das Wesen der Zeit als Verfassung des Endlichen völlig aufhellen (vgl. Tillich, STH III, 358ff.) 3 Es ist also der 'theologische Zirkel', der darin besteht, daß die christliche Botschaft den nach dem Sein fragenden Theologen 'unbedingt angeht', der den Theologen in aller Gemeinsamkeit von dem Philosophen unterscheidet (vgl. Tillich, STH 1,18 u.ö.). Aus der Existentialität der Fragehaltung des Theologen leitet Tillich einen Überbietungsanspruch der Theologie gegenüber der Philosophie ab (vgl. aaO. 30ff.); ein leidenschaftlicher Protest gegen den darin
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biologische und historische Zeit"4 als Kategorie der Endlichkeit, fragt aber nicht nach der soteriologischen Bedeutung der Zeit in ihrem Bezug zur Ewigkeit. Dem Philosophen fehlt kurz gesagt das letzte Betroffensein von der Seinsfrage. Die Theologie thematisiert den soteriologischen Aspekt der Relation von Zeit und Ewigkeit als geschichtlichen. Die christliche Religion bringt somit den Widerspruch gegen die Behauptung zu Gehör, das Ewige sei allen Zeiten gleich gegenwärtig. Dieses Programm einer geschichtlichen Relation von Zeit und Ewigkeit, das die Selbständigkeit der Endlichkeit gegenüber dem Unendlichen wahrt und gleichzeitig den möglichen Bezug des Endlichen zum Unendlichen im Prozeß seiner Selbstentfaltung aufdeckt, wird von Tillich selbst nicht angemessen durchgeführt. Das weist auf das Grundproblem derTillichschen Theologie, die eine geschichtlich vermittelte Beziehung von Bedingtem und Unbedingtem sein will, aber faktisch auf eine unvermittelte Beziehung hinausläuft. Entsprechend nämlich dazu, daß Tillich den Gedanken der Ewigkeit als ständige Präsenz in der Zeit entwikkelt, wird er später die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen als die ständige Möglichkeit des Endlichen ausdrücklich machen. Unsere Kritik an Tillich konnte zunächst nur im Blick auf den Begriff der Ewigkeit ansatzweise deutlich werden. Der zentrale Gedanke der Ewigkeit Gottes als Ausdruck seiner konkreten Seinsmächtigkeit wird von Tillich faktisch entwickelt unter dem Begriff der ständigen Gegenwart Gottes. Als 'nunc aeternum' wird die Ewigkeit Gottes deshalb von Tillich entworfen, weil nur so gewahrt bleibt, daß Gott jederzeit gegenwärtig sein kann. Der Bezug Gottes zur Vergangenheit und Zukunft wird aus diesem Gedanken der ständigen Gegenwart entfaltet. Als 'nunc aeternum' ist der ewige Gott in allen Zeiten präsent, weil er nach Tillich nur so als alle Zeiten umgreifend immer schon über sie hinaus ist.
implizierten Versuch, die Philosophie durch die Theologie gleichsam zu überholen, findet sich bei W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 1972, Band 2,1 lOff. u.ö. 4 Tillich, STO I, 32
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Π. Die Verkehrung der geschöpflichen Zeit im Vollzug der Existenz als Ausdruck der Selbstentfremdung des Menschen Das endliche Leben vollzieht sich in den Polaritäten von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Aufgrund dieser Polaritäten des Seins ist das Leben die Bewegung zwischen Selbstzentriertheit und Exzentrizität, Selbstentfaltung der Subjektivität und Erfahrung ihrer Gegebenheit. Tillich wies in diesem Zusammenhang daraufhin, daß der Mensch zwischen Angst vor dem Nichtsein und Mut zum Sein hinund hergerissen ist; dabei wurde deutlich, daß Tillich diese Situation des Menschen in einem Gefalle vom Mut zum Sein zur Angst vor dem Nichtsein deutete. Denn in der Fähigkeit des Menschen, die Angst vor dem Nichtsein zu überwinden, wird der Mensch dessen eingedenk, daß er teil hat am Sein-Selbst, das jenseits der Dialektik von Sein und Nichtsein, Mut und Angst 'anzusiedeln' ist. Die Spannung des Lebens führt also nach Tillich nicht notwendig zum Scheitern des Lebens, zu seinem Bruch. Das Leben muß nicht notwendig in der Angst vergehen, sondern kommt von der Erfahrung her und geht auf die neue Erfahrung zu, die Angst vor dem Nichtsein immer schon überwunden zu haben. Diese Einsicht Tillichs kommt in der Bestimmung der Differenz von Essenz und Existenz, wie sie dann im zweiten Band der Systematischen Theologie zur Ausführung kommt, zum Ausdruck. Essenz kennzeichnet in einem 'empirischen Sinne' zunächst das, "was ein Ding zu dem macht, was es ist".1 So hat der Begriff Essenz eine rein logische Bedeutung und ist orientiert am Begriff der Substanz. In einem 'wertenden Sinne' kennzeichnet Essenz dasjenige, "was in einer unvollkommenen und verzerrten Weise in einem Ding erscheint".2 So verstanden gibt Essenz dem Existierenden Sein und Richtung. Der Begriff Existenz wird von Tillich entsprechend zunächst als Aktualisierung einer Essenz gedacht, zum anderen als Verselbständigung und damit Entfernung eines Seienden von der Essenz. "Der Übergang von der Essenz zur Existenz ist das ursprüngliche Faktum"3, dessen wir in der Welt ansichtig werden. Der Mensch erfährt sich faktisch schon immer so, daß er von seiner essentiellen Bestimmung entfernt ist. Entfremdung ist die ursprüngliche Erfahrung menschlichen Lebens. Dabei liegt für Tillich die Tiefe des 1 Tillich, STH I, 237 2 Ebd. 3 Tillich, STH II, 43
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Entfremdungsbegriffs darin, ausdrücklich zu machen, daß man in der Entfremdung "zu dem gehört, wovon man entfremdet ist".4 Der Mensch ist also in seiner Existenz nie in einem absoluten Sinne von seiner Essenz entfernt. Damit bleibt gewahrt, daß auch eine theologische Hamartiologie in der Berücksichtigung der radikalen Entfremdung des Menschen in seiner Wirklichkeit von seiner Essenz die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, Selbstentfaltung und Gegebenheit des Seins oder Selbstzentrierung und Exzentrizität nicht aufgehoben wird in ein paradoxes Verhältnis. Die Radikalität der Entfernung des Menschen von seiner essentiellen Bestimmung im Vollzug seine Existenz will Tillich so wahren, daß er die verwirklichte Schöpfung schon immer als entfremdete Geschöpflichkeit deutet. "Verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz sind materialiter identisch".5 Die 'Koinzidenz von Schöpfung und Fall' umschreibt diesen Sachverhalt.6 Die Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz wird im Zusammenhang der Theologie Tillichs zur Fundamentalunterscheidung. "Die Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz, religiös gesprochen: die Unterscheidung zwischen der geschaffenen und der wirklichen Welt ist das Rückgrat des ganzen theologischen Denkgebäudes".7 Der Übergang von der Essenz zur Existenz in seiner Kontingenz wird nun, wie gesagt, von Tillich im zweiten Band seiner Systematischen Theologie entfaltet. In Entsprechung zu der These, daß der Gedanke der Schöpfung den Übergang von der Essenz zur Existenz, von der geschaffenen zur wirklichen Welt immer schon mitthematisiert8, entwickelt Tillich nun seine atemberaubende These von der spezifischen Koinzidenz von Schöpfung und Fall. Dabei liegt Tillich viel daran, die Entfremdung des Menschen von seiner Essenz und damit von Gott als Selbstentfremdung ausdrücklich zu machen.9 In Entsprechung zu der Bestimmung des Men4 AaO. 53 5 AaO. 52 6 Die Folgeprobleme dieser berühmten These Tillichs, der darauf hinweist, daß diese Koinzidenz die materiale, nicht aber die formale Entsprechung von Schöpfung und Fall impliziert (Tillich, STH II, 52), sind vielfach dargestellt worden. Begründet wird die These bei Tillich mit dem Hinweis, daß es "keinen Moment in Raum und Zeit gibt, an dem das Potentielle der ursprünglichen Schöpfung als solches aktuell wird" (aaO. 51). Entsprechend wird die Schöpfung als "reine Pötentialität" (aaO. 52) gedacht. Der Fall als die Selbstverwiriclichung des Menschen und implizit auch Gottes, der nach Tillich ein starkes Gegenüber will, ist damit notwendig (vgl. zu diesem Problem z.B. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983, 274f.). Die Betonung der Kontingenz des Überganges von der Essenz zur Existenz, von der Schöpfung zum Fall, die bei Tillich natürlich vorliegt (vgl. z.B. Tillich, STH II, 52), soll dieser Folgerung wehren. 7 Tillich, STH I, 238 8 Vgl. Tillich, STH I, 294f. 9 Vgl. Tillich, STH II, 52ff.
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sehen als Einheit von Selbstzentriertheit und Exzentrizität wird nun aufgedeckt, daß im Vollzug der Existenz das Gefälle zwischen Selbsttranszendenz und Exzentrizität des Lebens zu Ungunsten der Fähigkeit der Selbsttranszendenz des Menschen 'verändert' ist.10 Tillich entwirft den Begriff der Sünde bzw. der Entfremdung des Menschen als Gedanken der Selbstzentrierung des Menschen in Abschließung von seiner natürlichen Selbsttranszendenz. Durch die Sünde macht sich der Mensch "existentiell zum Zentrum seiner selbst und seiner Welt."11 Die These von der materialen Koinzidenz von Schöpfung und Fall ist als Konsequenz der Entwicklung der Endlichkeit in ihrer Polarität nur unschwer zu erkennen. So kann Tillich einerseits davon sprechen, daß "entfaltete Geschöpflichkeit" per definitionem "gefallene Geschöpflichkeit" ist.12 Andererseits impliziert die Kennzeichnung des Falls als Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst, "daß man essentiell zu dem gehört, wovon man entfremdet ist. Der Mensch ist seinem wahren Wesen nicht fremd. Es ist sein Sein, von dem er nicht loskommen kann, auch wenn er es möchte - wie er sich auch von Gott nicht losmachen kann, da er zu Gott gehört".13 Die Entfernung der Existenz von der Essenz wirkt sich nun so aus, daß das Endliche der "Herrschaft der Endlichkeit"14 verfällt und ausgeliefert ist. Die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit wird in der Existenz ersetzt durch ein undialektisches Verhältnis. Die in der natürlichen Endlichkeit ansichtig werdende Relation zum Unendlichen wird nun so gedeutet, daß das Unendliche das unerreichbare andere des Endlichen ist. Die "Loslösung vom Ewigen überläßt" den Menschen "seiner natürlichen Endlichkeit".15 Die in jedem Endlichen gegenwärtige, allerdings überwindbare Angst vor dem Nichtsein wird in der von der Essenz entfernten Existenz zur unbezwingbaren Furcht. Unter den Bedingungen der Entfremdung der Existenz erhält die Angst vor dem Nichtsein neue Züge. Sie wird zur Angst vor der völligen Lösung vom Sein, die doch gleichwohl
10 Vgl. aaO. 58 11 Tillich, STH II, 57; auch auf die Problematik dieser Bestimmung ist mehrfach verwiesen worden. Sie liegt darin, daß Tillich einerseits das essentielle Sein des Menschen als vollkommene Zentrierung seines Wesens bestimmt (vgl. aaO. 57, 71), das 'Ergebnis' der Entfremdung aber gerade in Richtung der unangemessenen Zentriertheit des Menschen sieht. Es ist deutlich, daß Tillich die ' uneigentliche ' Selbstzentrierung des Menschen in seiner Entfremdung von sich selbst und Gott in Differenz zu der 'natürlichen' Zentriertheit menschlichen Lebens so auffassen will, daß die entfremdete Existenz ihre Zentriertheit auf sich selbst in Absehung von der natürlichen Selbsttranszendenz des Menschen vollzieht. 12 Tillich, STH I, 294 13 Tillich, STH II, 53 14 AaO. 76 15 Ebd.
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unmöglich ist. Die Angst vor dem Nichtsein als die andere Seite des Mutes zum Sein wird zur Angst vor der völligen Vernichtung. Auch die Kategorien der Endlichkeit verwandeln sich "unter den Bedingungen der Existenz".16 Gewiß, die Kategorien spiegeln auch nun die Verfassung des Endlichen in der Einheit und Bezogenheit von Endlichkeit und Unendlichkeit, nun aber in einem neuen Gefalle. Das negative Moment der Zeit gelangt unter den Bedingungen der Existenz zur Herrschaft. Das 'Prae' der absoluten Positivität des Seins wird verkehrt in das 'Prae' der Angst vor dem Nichtsein und damit der Negativität des Seins. Die Angst vor dem ständigen Verlust an Zeit kann nun nicht mehr durch den Mut bezwungen werden, "der 'Ja' zum endlichen Sein sagt in der Gewißheit, daß die Macht des Sein-Selbst dem Nichtsein überlegen ist".17 Im Zustand der Entfremdung geht die Gewißheit über "die Teilnahme an der Macht des Sein-Selbst verloren".18 Die Zeit wird nun "ohne das 'ewige Jetzt' erfahren" und so nur "als Vergänglichkeit erlebt, die jede wirkliche Gegenwart ausschließt".19 Die Zeit wird so zu einer dämonischen Macht erhoben, die wie einst Kronos ihre Kinder frißt. Darauf reagiert der Mensch mit Verzweiflung oder mit dem verzweifelten Bemühen, die Zeit auszukaufen. Er 'entdeckt' die von der Verzweiflung gezeichnete Idee einer Endlosigkeit der Zeit ohne Ewigkeit. Verzweiflung und geschäftige Betriebsamkeit "sind Formen des menschlichen Widerstandes gegen die letzte Bedrohung des Nichtseins, die mit der Zeitkategorie gegeben ist".20 Die Verzweiflung erwächst aber nicht aus der Zeitkategorie selbst, sondern aus der "Niederlage, die der Mensch in seinem Widerstand gegen die Zeit erlebt".21 "Dieser Widerstand (s.c. des Menschen) stammt aus seinem essentiellen Zugehörigseins zum Ewigen, seinem davon Ausgeschlossensein im Zustand der Entfremdung und seinem Wunsch, die vergänglichen Zeitmomente seiner Zeit in dauernde Gegenwart zu verwandeln".22 Dieser verzweifelte Versuch ist die ständige 'Erfahrung' des Menschen mit der, mit seiner Zeit. Die Unwilligkeit des Menschen, seine Zeitlichkeit zu bejahen, ist das eigentliche Datum, das die Entfremdung des Menschen im Umgang mit seiner Zeit aufdeckt. Darin, daß die Bewegung der Zeit als Bedrohung erlebt wird, zeigt sich die Existenz als entfremdete. Dabei 16 17 18 19 20 21 22
AaO. 78 Ebd. Ebd. Ebd. AaO. 79 Ebd. Ebd.
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könnte der Mensch, der sich von der Ewigkeit entfernt, wissen, daß die Zeit auf die ständige Ewigkeit Gottes bezogen bleibt. Auch hier also zeigt sich, daß das Konzept der Relation von Zeit und Ewigkeit bei Tillich ein geschichtliches ist, in seiner Durchführung aber faktisch auf eine leichtfüßige 'Begriffsdialektik' von Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit hinausgeht.23 Deutlich wird dieser Zusammenhang auch in der Christologie. Das kann hier nur kurz angedeutet werden. Die personhafte Verwirklichung des Neuen Seins ist als solche notwendig und insofern auch geschichtlich vermittelt; das neue Sein aber, so weist Tillich immer wieder nach, steht 'hinter und über' allen Verwirklichungen in der Zeit. Die Christologie wird zur Funktion der Soteriologie.24 "Das Christentum als Christentum ist weder letztgültig noch normgebend. Aber das, wovon es Zeugnis ablegt, ist letztgültig und normgebend".25 Als personhafte Verwirklichung des Neuen Seins - die Verwirklichung der Essenz in einer Existenz - aber ist das Leben Jesu als sein Sein für Christus schlechthin folgenreich für das Sein. "Qualitativ ist die Veränderung einer Seinsform an einem Ort des Universums unendlich bedeutungsvoll für das Universum als Ganzes".26 Die Negativität des Lebens wird im Vollzug seiner Existenz, die allen Bedingungen des Existierens unterworfen ist, in die ungebrochene Einheit mit Gott hineingenommen. Vor die entfremdete Endlichkeit tritt wieder ein anderes Vorzeichen, das als solches in der entfremdeten Existenz verdeckt war. Das Bild Jesu als des Christus ist "das Bild eines personhaften Wesens, das allen Konsequenzen der existentiellen Entfremdung unterworfen ist, worin aber Entfremdung überwunden ist und die ungebrochene Einheit mit Gott erhalten bleibt".27 23 So z.B. die Kritik von C.H. Ratschow, Tillichs Leben und Werk, Einführung in die Weikausgabe GTB, Siebenstern, 1980,14ff„ 19f. und 85f. 24 Vgl. Tillich, STH II, 163. Dem entspricht die schon früh entwickelte und sich durchhaltende These Tillichs, daß eine Christologie völlig unabhängig von der Frage nach der historischen Existenz Jesu zu entwickeln ist. Tillich "konnte durchaus ins Auge fassen, daB die Existenz Jesu historisch nicht erweisbar sei und trotzdem seine Christologie machen" (Ratschow, aaO. 27); und in seiner Systematischen Theologie versichert Tillich, daß "der Versuch der historischen Forschung, das Fundament für den christlichen Glauben und die Theologie zu finden, ein Fehlschlag" war (Tillich, STH II, 118). Die Frage nach dem Leben des historischen Jesus eignet sich nicht für den Entwurf einer Christologie. (Zur Kritik an diesem Grundsatz Tillichs vgl. G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, 1979, bes. 176ff„ 215ff.; vgl. auch R. Fröhlich, Die Stellung des historischen Jesus in der Theologie Paul Tillichs, in: ZKTh 96 (1974), 385ff., Fröhlich spricht in diesem Zusammenhang von einem 'platonischen Idealismus' Tillichs). 25 Tillich, STH I, 161 26 Tillich, STH II, 132 27 AaO. 146
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Die These von der Überwindung der Entfremdung in Gestalt einer Person ruht auf folgenden Voraussetzungen. Das Neue Sein muß personhaft sein, denn "nur in einem personhaften Leben ist die Macht des Seins verwirklicht".28 Denn nur in Gestalt einer Person sind die Polaritäten des Seins vollkommen gegenwärtig und als solche gewußt. Das Neue Sein in Person kann die Vorzeichenänderung der existentiellen Entfremdung wieder rückgängig machen. Denn in Gestalt einer Person sind alle Dimensionen des Lebens gegenwärtig.29 Insofern gilt das, was an und mit dem Menschen passiert, dem gesamten Universum. Die einmalige Verwirklichung des Neuen Seins in Person, die durch die Hingabe Jesu an den Christus sich vollzieht30, hebt die verkehrten Strukturen des Seins in der Existenz überhaupt auf. Tillich "ist die Überwindung der Entfremdung nur so denkbar, daß der Grund als Ausdruck des Sich-Gegebenseins der Freiheit unter der Bedingung des sich selbstbehauptenden und so von seinem Grund entfremdeten Selbstbewußtseins erscheint".31 Tillich macht das Neue Sein als eine neue Form der Selbstentfaltung des Subjekts geltend. Die Selbstentfaltung des Subjekts als Hingabe, wie Jesus sie durch seine Hingabe an den Willen des Vaters vorgelebt hat, impliziert die Verwirklichung der Bestimmung des Menschen; denn nur so - als Hingabe - wird das sich entfaltende Bewußtsein der Erfahrung seiner Gegebenheit, d.h. der Erfahrung, daß es sich nicht selbst setzen kann, wirklich gerecht. Jesus ist die Verwirklichung der das Leben wahr machenden Selbsttranszendenz des Lebens, das sich so gewinnt.32 Damit ist der Bann der Entfremdung gebrochen. Entsprechend zu der aus seinem Schöpfungsbegriff folgenden Deutung des Falls als Ermöglichung der Selbstverwirklichung des Geschöpfes gerät die Christologie Tillichs in die Gefahr, als Exemplar der Anthropologie zu verkümmern. Es ist fraglich, ob die von Tillich in der Existenz ausgemachte Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst eine wirkliche Entfremdung von der Essenz bedeutet, oder ob diese sogenannte Entfremdung nicht lediglich die andere Seite der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit ist.
28 29 30 31 32
AaO. 131 Vgl. Tillich, STH III, 358ff. Vgl. z.B. Tillich, STH II, 134f. u.ö. Wagner, Absolute Positivität, 189 Vgl. Tillich, STH II, 146 u.ö.
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m. Die Gestalt der Zeit als Parabel Den Ausführungen über die Rückkehr der Zeit in die Ewigkeit, wie Tillich sie in der Eschatologie entfaltet, werden kurze Bemerkungen über eine sehr einflußreiche Tillich-Interpretation vorausgeschickt.1 Unter dem Titel 'Absolute Positivität' entwickelt F. Wagner 'Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs'. Die Entfaltung dieses Themas vollzieht sich bei Wagner auf dem Hintergrund der auch andernorts kenntlich gemachten These, daß sich das Thema der Theologie als Einheit auf dem Grunde der Tätigkeit des Selbstbewußtseins aufbaut. "Das nach seiner inhaltlichen Bestimmtheit wechselnde, also positionell auftretende Selbstbewußtsein ist es, das Theologie konstituiert".2 Die Entwicklung der Einheit der Theologie auf dem Grunde des konkreten Vollzugs des Selbstbewußtseins - das ist das Konstruktionsprinzip auch der Tillichschen Theologie, wie Wagner sie interpretiert. Wagner geht aus in seiner Tillich-Analyse von der Tillichschen Definition der Theologie von 1923 als einer "theonomen Sinnormlehre".3 Diese Definition versteht die Theologie als eine tätige Schöpfung von Sinn, die sich im Vollzug der Sinnschöpfung als auf einen unbedingten Sinn gegründet erfährt. Schon die frühe Theologie Tillichs entfaltet sich so nach Wagner als eine 'unbedingte Theorie des Sich-Gegebenseins' der Subjektivität.4 "Nur indem Sinn gegeben ist, ist der Vollzug von Sinnleistungen sinnvoll und nicht nur leerer Formalismus".5 Die Gegebenheit von Sinn aber wird allein im Akt der konkreten Sinnstiftung und Sinnschöpfung gewußt - nur so ist die Theologie als wahrhafte Theorie, nämlich als Entfaltung auf dem Grund der Tätigkeit des freien Selbstbewußtseins gedacht. Theologie ist also das Bewußtsein der Gegebenheit eines Unbedingten im Akt der Suche nach einer Bedingung des Bedingten - also die Erfahrung von Unbedingtheit im Akt der Setzung von Bedingtheiten. Diese Einheit von unbedingtem Sinngehalt und bedingter Sinnform (je entfaltetem Sinn) ist als Einheit von Religion und Kultur nach Tillich Theonomie.
1 Vgl. F. Wagner, Absolute Positivität. Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, NZSTh 15 (1973), 172ff.; die Wirkungen dieser Tillich-Deutung sind z.B. zu erkennen bei J. Ringleben und G. Wenz 2 Wagner, aaO. 173 3 Ebd. 4 Vgl. aaO. 180 5 AaO. 175
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Die Dialektik von 'Gegebenheit des Sinns' und selbsttätiger Sinnschöpfung ist das Thema der Theologie. Indem sie nämlich das Gegebensein von Sinn im Akt der selbsttätigen Sinnschöpfung aufdeckt, überwindet die Theologie die scheinbar uniiberwindbare Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie.6 Unter Autonomie versteht Tillich nach Wagner die Form sich absolut setzender Sinnschöpfung, unter Heteronomie die Hypostasierung eines gesetzten Sinnes zum absoluten. Indem die Theologie den Zusammenhang von Gegebensein des Sinns und selbstbestimmter Sinnschöpfung aufdeckt, wird sie zur "Realisierung der Selbsttätigkeit"7 der Subjektivität beitragen. Das besondere Interesse der neuzeitlichen Theologie liegt nach Tillich also darin, die Wahrheit der Selbsttätigkeit des Selbstbewußtseins aufzuhellen. Setzt sich nämlich diese Selbsttätigkeit als solche absolut, so ist sie von der Erfahrung der Gegebenheit des Sinns entfremdet. Es ist die fundamentale Einsicht Tillichs nach Wagner, daß das sich produzierende Selbstbewußtsein im Vollzug seiner Selbstverwirklichung entfremdet ist, indem es sich absolut setzt gegen die Erfahrung der Gegebenheit des Sinns.8 Tillich kritisiert also mit Barth "die sich unmittelbar selbst haben und verwirklichen wollende Subjektivität".9 Nur setze Tillich - so Wagner - an die Stelle der entfremdeten, autonomen Subjektivität nicht wie Barth die unvermittelte und absolute Subjektivität Gottes, die alles Endliche verdrängt. Vielmehr erfolge die Kritik an der sich selbst behauptenden Subjektivität bei Tillich "im Namen derjenigen Autonomie, die ihre abstraktunmittelbare Selbstbehauptung auf die Gestaltung der Wirklichkeit hin überschreitet".10 Tillich hebt die 'absolute Selbstbehauptung' und darin gerade entfremdete Verfassung der Subjektivität auf durch die Thematisierung der "Selbstgegebenheit alles Seins und Sinns".11 "Aufgrund der Selbstgegebenheit findet sich die Autonomie als sich gegeben vor. Damit ist die Autonomie nicht länger genötigt, ihre Aktivität an die Bewahrung ihrer Selbstbehauptung zu binden; indem sie sich als sich gegeben weiß, ist mit der Befreiung vom Zwang ihrer Selbstbestätigung ihre Selbsttätigkeit frei gesetzt".12
6 7 8 9 10 11 12
Vgl. aaO. 176 AaO. 177 Vgl. aaO. 188 AaO. 179 Ebd. AaO. 180 Ebd.
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Wie kommt das tätige Selbstbewußtsein nun zur Einsicht in das Gegebensein von Sinn? Nach Wagner vollzieht sich diese Einsicht durch das Innewerden des sich entfaltenden Subjekts in das Gegebensein von Sinn. Bei Wagner lassen sich zwei Formen, in denen sich dieses Innewerden vollzieht, unterscheiden. Zum einen vollzieht sich dieses Innewerden der Subjektivität in die Gegebenheit des Sinns durch die schlichte Thematisierung des Unbedingten in Religion und Theologie.13 Zweitens vollzieht sich das Innewerden des Subjekts in die Gegebenheit von Sinn im Akt der Selbstreflektion. Im Vollzug nämlich seiner Selbstreflektion erfährt das endliche Subjekt die Vorgegebenheit seines Lebens. Der Mensch kann sich sein Leben nicht selbst geben. Diese Einsicht bedingt nach Wagner die besondere Gestalt der Tillichschen Theologie. "Tillichs Systematische Theologie ist durchgängig eine Analyse des Menschen, wie er sich als sich gegeben vorfindet".14 Der seiner Endlichkeit gewahr werdende Mensch erfährt darin zugleich sein 'SichGegebensein'. Darin erfährt sich der Mensch als Einheit und Bezogenheit von Selbstzentriertheit und Selbstiiberschreitung. Die Erfahrung des Sich-Gegebenseins aber ist für den Menschen auf keine Instanz der Weltwirklichkeit zurückfuhrbar. "Denn jede Instanz der Welt wird aufgrund der Polarität von Subjekt und Objekt als eine solche sichtbar, die von anderem her ist."15 Deshalb führt Tillich den Grund für die Begrenzung und Endlichkeit des Menschen auf das jenseits der Dialektik des Lebens liegende Sein-Selbst zurück, dessen symbolischer Ausdruck Gott ist. Das Sein Gottes jenseits der Dialektik von Selbstzentrierung und Selbsttranszendenz wird Tillich im Fortgang seiner Theologie zur Bedingung für die unendliche Selbstentfaltung menschlicher Subjektivität angesichts der Erfahrung des 'Sich-Gegebenseins'. Wir sehen in der These Wagners, das "freie und selbsttätige Selbstbewußtsein" sei bei Tillich "als Prinzip der Wirklichkeit"16 gedacht, eine Bestätigung für unsere Interpretation, die Dialektik von Zeit und Ewigkeit sei bei Tillich gegen seine Absicht nicht geschichtlich, sondern zeitlos gedacht. Die Analogie der Struktur von Zeit und Ewigkeit zu der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit ermöglicht die Interpretation, daß für
13 Vgl. aaO. 174,177,180 u.ö.; Kultur und Religion fragen nun einmal faktisch nach dem Unbedingten und d.h. nach dem unbedingten Sinn alles Seins. 14 AaO. 185 15 AaO. 186 16 AaO. 188
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Tillich der Mensch in der Bewußtwerdung seiner Zeitlichkeit sich immer schon in Beziehung weiß zur Ewigkeit Gottes. Die Gotteslehre Tillichs kann auf dem Grunde dieser Interpretation so gelesen werden, daß sie den Grund legt für die allgemeine Relation von Zeit und Ewigkeit. Die Christologie wiederum hat aufzudecken, daß die faktische, nämlich im Lebensvollzug des Menschen ansichtig werdende, Reduzierung derZeit des Menschen auf sich selbst in die Irre geht. "Tillich spielt also die Selbstverwirklichung des Sebstbewußtseins so durch, daß er sie als in sich selber aporetisch erweisen kann".17 In der Christologie wird zugleich ein Subjekt gesetzt, das sich selbst so konstituiert, daß es sich aus seinem eigentlichen Grund versteht. Die Subjektivität vollzieht sich in 'Gestalt Jesu' in Unterschiedenheit von der Existenz aller anderen Menschen durch Selbsthingabe an seinen Grund. Damit wird in der Christologie vorgeführt, daß das Prinzip des freien und selbsttätigen Selbstbewußtseins für die theologische Entfaltung der absoluten Positivität Gottes nicht aufzugeben ist. Die Theologie muß, so Wagner, in allen ihren Teilen eine Theorie des Selbstbewußtseins bleiben; denn nur so bleibt sie gesprächsbereit und gesprächsfähig. "Die Christologie ist daher die Darstellung des Selbstbewußtseins, das sich in Transzendierung seines abstrakten Selbstseins auf die Realisierung der sich gegebenen Freiheit einläßt."18 Entsprechend übernimmt die Religion bei Tillich die Funktion, die 'Selbsttranszendierung' als das Existenzideal vorstellig zu machen.19 Legt man die Interpretation Tillichs durch Wagner zugrunde, so bleibt Tillich nichts als der Appell, das endliche Subjekt möge sich nicht weiter unmittelbar selbst behaupten, sondern im Vollzug seiner Selbstreflektion seines Gegebenseins inne werden und so die Fähigkeit gewinnen, sich selbst zu transzendieren. Eine Pneumatologie ist so gedacht gar nicht mehr notwendig, denn die Entfremdung der Existenz von der Essenz ist so gedacht, daß sie als stets wieder aufhebbare 'Einseitigkeit' des Lebensvollzugs namhaft zu machen ist und auch bewußt wird. Was soll dieser Appell erreichen, wenn denn wirklich gleichzeitig gilt, daß das sich entfaltende endliche Bewußtsein per se entfremdetes Bewußtsein ist? Gilt die These von der Koinzidenz von Schöpfung und Fall auch nach dieser Seite, so läßt sich der Selbstbehauptung der endlichen Subjektivität lediglich die Behauptung ihrer Möglichkeit, sich trotz allem selbst zu transzendieren, entgegensetzen und appellativ unterstreichen.
17 AaO. 188 18 AaO. 190 19 Vgl. Tillich, STH III, 130, 270ff. u.ö.
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Natürlich entwickelt Tillich in seiner Pneumatologie in durchaus eindrücklicher Weise die These, daß der göttliche Geist die Zweideutigkeiten menschlichen Lebens zu überwinden vermag. Aber das zeigte im Grunde auch schon der erste Band der Systematischen Theologie in der Entfaltung der Gewißheit, daß das Endliche in der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz schon immer teilhat am Sein-Selbst. Dort wurde Tillich dies deutlich in der Fähigkeit des Endlichen, die Angst vor dem Nichtsein zu überwinden. So ist auf dem Grunde der Tillichschen Systematik schwerlich einsichtig zu machen, inwiefern die Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist in dessen Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, wodurch die Zweideutigkeiten des Lebens überwunden werden, über die unaufhebbare Teilhabe des Endlichen am Unendlichen hinausgeht. Wenn denn wirklich mit Tillich gelten soll, daß menschliche Freiheit immer zur Selbstbehauptung verkommt, dann ist es mit dem Appell an die Selbsttranszendierung nicht getan. Die Abschwächung der Entfremdung des Menschen von seiner Bestimmung, so kann im Rückblick formuliert werden, kann in der Systematischen Theologie Paul Tillichs auch nicht beseitigt werden durch die These von der Koinzidenz von Schöpfung und Fall, die sich entfaltende Freiheit als entfremdete ausdrücklich macht. Diese These nämlich führt in die Schwierigkeit - ganz zu schweigen von der Problematik des mit dieser These verbundenen Schöpfungsbegriffs -, daß nicht mehr deutlich gemacht werden kann, inwiefern die sich von ihrer Bestimmung entfernende Welt der Ort des Wirkens und der Ankunft Gottes - und d.h. damit auch seines Geistes sein kann. Die angedeutete Problematik der Tillichschen Theologie, die wir darin sehen, daß sie die Entfremdung des Menschen von seiner Bestimmung nicht als solche kenntlich machen kann, wirkt sich im Blick auf den ZeitBegriff, wie er nun in der Eschatologie von Tillich voll entfaltet wird, aus. Im dritten Band seiner Systematischen Theologie also thematisiert Tillich die in allen Teilen des theologischen Systems präsente Frage nach der Beziehung der Zeit zur Ewigkeit explizit. Die Gründe dafür liegen einmal darin, daß die Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit geschichtlich gedacht werden muß, zum anderen im Phänomen der Zeit selbst. Letzterer Grund wird von Tillich folgendermaßen entwickelt: "Die Zeit läuft vom Vergangenen zum Zukünftigen".20 So wird die Zeit erfahren und gewußt. Die Eschatologie nun bringt die Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit "durch den Modus der Zukunft" zum Ausdruck21 und entspricht damit dem Lauf der Zeit selbst. Denn die Zeit ist in ihrem 'Lauf zur 20 Tillich, STH III, 343 21 A a O . 3 4 3
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Zukunft' so kenntlich zu machen, daß sie ihr Wesen in der Zukunft hat. Die Eschatologie entfaltet insofern auch das wahre Wesen der Relation von Zeit und Ewigkeit, weil sie deren Koinzidenz über den Gedanken der Ganzheit der Zeit zu begreifen sucht. Damit erst nämlich wird voll erfaßt, daß die Ewigkeit nicht als Gericht der Zeit geltend zu machen ist. In der Eschatologie hat die Beziehung von Ewigkeit und Zeit also deshalb ihren endgültigen Platz, weil sie nur so als vermittelte gefaßt ist. In den letzten beiden Teilen der Systematischen Theologie Tillichs kommt die volle Gestalt seiner Zeitlehre zur Ausführung. Das Ziel der Pneumatologie liegt bei Tillich zunächst ganz allgemein darin, den göttlichen Geist als die Instanz einzuführen, die die Zweideutigkeiten des Lebens, mit denen der Mensch, solange er ist, lebenslänglich konfrontiert wird, überwindet bzw. den Prozeß der Überwindung dieser Zweideutigkeit in Gang setzt.22 Insofern der Geist als die das Leben zurecht bringende Kraft gedacht ist, entwickelt Tillich den Geistbegriff vom Begriff des Lebens her. Danach gilt der Geist als eine Dimension des Lebens, also als eine bestimmte Weise, in der sich menschliches Leben verwirklicht und darstellt. "Man ist berechtigt, von einer besonderen Dimension zu sprechen, wenn die phänomenologische Beschreibung irgendeines Gebietes der begegnenden Wirklichkeit einheitliche kategoriale und andere Strukturen aufweist".23 So setzt Tillich die Dimension des Geistes von den Dimensionen des Anorganischen, Organischen, Psychischen und Geschichtlichen ab.24 Es kommt Tillich dabei aber darauf an - und das ist der letztliche Grund für die Einführung des Begriffs der Dimensionen gegenüber dem Begriff der Schicht25 -, die Bezogenheit der Dimensionen aufeinander und d.h. die "vieldimensionale Einheit des Lebens"26 zu zeigen. So bauen die Dimensionen des Organischen, Psychischen, Geistigen und Geschichtlichen auf der Dimension des Anorganischen auf27, denn alles Leben geht aus Materie hervor bzw. setzt sie voraus und ist auf ihren Bestand angewiesen. Alles Lebendige nimmt Raum ein. So stellen sich die Dimensionen als aufeinander aufbauende, selbständig beschreibbare Weisen dar, in denen sich das Leben überhaupt darstellt. Die Vieldimensionalität und Einheit des Lebens zugleich zeigt sich konkret darin, daß die kategoriale Beschreibung des Lebens in den einzelnen Dimensionen jeweils 'vollständig' ist, allerdings
22 23 24 25 26 27
Vgl. Tillich, STH III, 315ff. AaO. 28 Vgl. aaO. 28ff. Vgl. aaO. 23ff. AaO. 28 Vgl. aaO. 30f.
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"eine" je "besondere Prägung"28 erhält. Die vier Kategorien: Zeit, Raum, Substanz und Kausalität haben universale Gültigkeit für die Beschreibung der Wirklichkeit; und so sind die einzelnen Dimensionen dadurch gekennzeichnet, daß alle Kategorien in ihnen eine unterschiedliche und besondere Prägung erhalten. In diesem Zusammenhang nun entwickelt Tillich auch die besondere Prägung der Zeit - Kategorie als die entscheidende Kategorie der Endlichkeit in den einzelnen Lebensdimensionen. "Es gibt... nicht eine Zeit für alle Dimensionen, die anorganische, die organische, die psychologische, die geschichtliche; und doch gibt es Zeitlichkeit in jeder von ihnen".29 Die Zeit der unbeseelten Substanzen ist nicht die Zeit der Menschen; "die Zeit der Amöbe ist eine andere als die Zeit des geschichtlichen Menschen".30 Gleichwohl hebt diese Unterschiedlichkeit in der Prägung der Zeit im Zusammenhang der einzelnen Dimensionen des Lebens die einheitliche Struktur der Zeit nicht auf. Die Zeit bleibt in allem Endlichen das, "was sie ist" - nämlich das "Element des 'Nacheinander'". 31 Diese Bestimmung der Zeit als Sukzession der Zeitmomente bleibt nach Tillich die letzte und allgemeinste Bestimmtheit der Zeit, auf die alle 'Zeiten' zurückgeführt werden können. Die unterschiedliche konkrete Gestalt der Zeit in den einzelnen Dimensionen des Lebens wird nun von Tillich folgendermaßen entfaltet. Die Dimension des Anorganischen ist bestimmt durch die 'physikalische Zeit'.32 Diese wiederum 'versteht' die Zeit als eine Folge unausgedehnter Jetztpunkte, die sich gegenseitig ablösen und begrenzen. Nichts vereinigt zwei aufeinanderfolgende Augenblicke. Der Gedanke des 'kontinuierlichen Zeitablaufes' bedingt die Vorstellung von der unendlichen Teilbarkeit der Zeit, die den Begriff der Zeit als ein unausgedehnter Jetztpunkt geradezu erzwingt. Dieses 'Bild' der Zeit als eine endlose Folge von Augenblikken eignet sich nicht als 'vestigium aeternitatis', weil es die Zeit als in sich abgeschlossen, als 'transzendenzlos' begreifen läßt. Die Dimension des Organischen kennt schon die Aufhebung der Gesetzmäßigkeit des bloßen 'Nacheinander' der Zeitmomente. Die Ausschließlichkeit des Nacheinander ist deshalb hier durchbrochen, weil die verschiedenen Stadien des Lebens z.B. einer Pflanze als aufeinander bezogen und "ineinander verwoben"33 vorgestellt werden. Im Samen ist das Gewächs 28 29 30 31 32 33
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AaO. 29 AaO. 358 Ebd. Ebd. Vgl. aaO. 361 Tillich, STH III, 361
potentiell enthalten, und die entwickelte Pflanze wird als aktuelle Verwirklichung dieser Potentialität gewußt. Schon im Bereich des Organischen also gilt, daß "im Gegenwärtigen ... Vergangenes und Zukünftiges"34präsent sind. In der Dimension des Psychischen wird diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Einheit von Erinnerung und Antizipation im gegenwärtigen Augenblick der Wahrnehmung sogar erlebbar?5 "Hier ist die Immanenz der Zeitmodi nicht nur wirklich, sondern sie wird auch als wirklich gewußt".36 Zeit in dieser Dimension ist erlebte Zeit, nicht mehr reduziert auf die Vorstellung einer unendlichen Folge von Jetztpunkten, der sich das Subjekt als ausgeliefert erfahren müßte, weil sie keine Gegenwart gewährt. An anderer und früherer Stelle hat Tillich davon gesprochen, daß sich mit der Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem die Befreiung der Zeit vom Raum ereignet. Denn die als bloße Folge unausgedehnter und neben einander stehender Augenblicke gedachte Zeit ist verräumlichte Zeit, insofern sie das bloße Nebeneinander der Zeitmomente aus der Idee des Raumes übernimmt. Durch die Entwicklung der psychologischen Dimension der Zeit - Tillich spricht auch von der Entdeckung des 'dynamischen Charakters' der Zeit37 - vermag sich aber die Zeit von der Herrschaft des Raumes zu befreien. Tillich kann die Geschichte der Moderne als Geschichte der Befreiung der Zeit vom Neben- und Gegeneinander des Raumes deuten.38 Durch die Befreiung der Zeit vom Raum aber wird der Gedanke eines Zieles der Zeit, einer Erfüllung der Geschichte, der den neuzeitlichen Menschen wesentlich bestimmt, für Tillich überhaupt erst möglich. In der Entdeckung des dynamischen Charakters der Zeit und mit der Einsicht in die "Gerichtetheit des Werdens alles Lebendigen"39 bereitet sich also nach Tillich in der Dimension des Psychischen die Befreiung der Zeit vom Raum vor. Weil die Zeit als Einheit der Zeitmodi erlebbar wird, ist das 'Gesetz' der Zeit als eine Folge von Jetztpunkten, die alles Lebendige dem Verfall übergibt, durchbrochen. In der Dimension des Geistes nun wird die Kategorie der Zeit nochmals in gänzlich anderer Weise vorgestellt. Die Fähigkeit des Geistes zur Abstraktion läßt hier das Zeitliche als solches als Endliches bewußt werden. 34 35 36 37 38 39
Ebd. Vgl. aaO. 361f. AaO. 362 Vgl. P. Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, Schriften VI, 1963,140ff.,hier: 143 Vgl. aaO. 142f. Tillich, STH III, 362
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Erst der Geist transzendiert die Zeit und bildet damit das Postulat der Ewigkeit. "Der Geist erfährt Grenzen dadurch, daß er sie transzendiert".40 Der Akt dieser Transzendierung wird von Tillich als wahrhaft schöpferisch bezeichnet; in diesem Akt der Transzendierung alles Zeitlichen wird dem Endlichen Unbegrenztes, Unendliches gegenüber gestellt. "Die Zeit des schöpferischen Geistes vereint ein Element abstrakter Unbegrenztheit mit einem Element konkreter Begrenztheit".41 Diese Bemerkung Tillichs ist so zu deuten, daß das Begrenzte als solches im menschlichen Geist zwar transzendiert wird, daß dem so geprägten Begriff der Unbegrenztheit aber noch keine konkrete Bestimmung eignet. Aber die Zeit des schöpferischen Geistes, der den Gedanken des Unendlichen bildet, kann nicht mehr "durch die physikalische Zeit gemessen werden, obwohl sie innerhalb der Zeit liegt".42 Erst die Gestalt der Zeit in der Dimension der Geschichte bringt die volle Entfaltung des Wesens der Zeit. In der geschichtlichen Zeit erfährt das in der Dimension des Geistes bloß gesetzte Unendliche konkrete Bestimmung, bleibt nicht mehr nur das andere und jenseitige des Endlichen. Physikalische Zeit und Zeit des Geistes werden in der geschichtlichen Zeit in ein konkretes Verhältnis zueinander gesetzt. In der Dimension der Geschichte als der "umfassendsten von allen Dimensionen"43 kommt die Kategorie der Zeit damit zur Erfüllung. Insofern wiederum die Dimension des Geschichtlichen im menschlichen Wesen als dem Wesen, das Geschichtsbewußtsein hat, zur vollen Entfaltung kommt, kann Tillich auch sagen, daß sich die Zeit "im geschichtlichen Menschen als Träger des Geistes ... ihres eigenen Wesens bewußt" wird.44 Inwiefern aber bringt nun die geschichtliche Zeit das Wesen der Zeit überhaupt zur Erfüllung? In der Geschichte hat die Zeit endgültig die Vorherrschaft über den Raum angetreten. Denn die Geschichte ist die Aktualisierung aller Potentialitäten des Seienden. Möglichkeit und Verwirklichung sind in der Dimension der Geschichte letztgültig aufeinander bezogen und miteinander vermittelt. Ein unvermitteltes Nebeneinander der Zeiten ist in der Dimension der Geschichte völlig ausgeschlossen.
40 41 42 43 44
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Ebd. Ebd. AaO. 363 AaO. 341 AaO. 365
- In der Dimension der Geschichte erscheint die Zeit als eine solche, "die auf Erfüllung zugeht".45 Der zeitliche Verlauf in seiner Gerichtetheit strebt über alle aktuelle Erfüllung hinaus auf das letzte Ziel der Geschichte zu. Insofern hat alles Seiende teil an der Erfüllung des Universums. "In bezug auf die geschichtliche Zeit bedeutet das, daß die Erfüllung auf die die geschichtliche Zeit zugeht, die Erfüllung ist, auf die die Zeit in allen Dimensionen zugeht".46 Nur macht die geschichtliche Zeit diese Ausrichtung aller Zeiten auf ihre Erfüllung bewußt. Erst in der Dimension der Geschichte also wird ein Begriff von der Ganzheit der Zeit möglich. - In der geschichtlichen Dimension wird die Erfüllung aller Zeiten als eine zeitliche gewußt. Das Ziel aller Zeiten wird so dem Prozeß der Geschichte selbst als nicht bloß jenseitig, sondern als die Geschichte wirklich bestimmend gedacht. Das Ziel aller Geschichte ist im Bewußtsein, daß alles Zeitliche auf dieses Ziel zuläuft, antizipiert. "Anfang und Ende sind in jedem Augenblick der geschichtlichen Zeit gegenwärtig".47 Diese Gegenwärtigkeit der Erfüllung der Geschichte in ihrem Prozeß wird aber als solche nur von dem Wesen gewußt, das sich auch seiner selbst bewußt zu werden vermag. Nur insofern gilt, daß "die geschichtliche Dimension erst in der menschlichen Geschichte Eigenständigkeit"48 erlangen kann. Wenn aber nun gilt, daß sich die Zeit nach Tillich im geschichtlichen Menschen als Träger des Geistes 'ihres eigenen Wesens bewußt wird', so hat das für die besondere Fassung des Zeitbegriffs Konsequenzen. Der Begriff der Zeit ist damit nicht der Begriff irgendeines Inhaltes, sondern das Begreifen der Wirklichkeit selbst in der Spannung von Endlichkeit und Unendlichkeit. Oder anders gesagt: Kommt das Wesen der Zeit in der Dimension der Geschichte zur Erfüllung - in der Dimension also, in der die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen bestimmend ist -, so ist die Zeit selbst gedacht als dasjenige, in dem die Spannung zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit zum Austrag kommt. Kraft seiner Zeitlichkeit vermag der Mensch sich seiner selbst als eines Wesens bewußt zu werden, das im Vollzug seines Lebens der Erfüllung entgegensieht und sich der Bestimmung seiner Existenz antizipativ gewiß werden kann. Kraft seiner Zeitlichkeit also ist der Mensch frei, seine Bestimmung je und je zu ergreifen. Der
45 46 47 48
Ebd. Ebd. AaO. 366 AaO. 341
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Begriff der Zeit ist bei Tillich in diesem Sinne der grundlegende Begriff einer 'Systematischen Theologie'. Eschatologie als die Lehre von den letzten Dingen behandelt den "'Übergang' vom Zeitlichen zum Ewigen".49 Dieser Übergang muß geschichtlich, nicht chronologisch gedacht werden, wenn denn gilt, daß die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen das Thema der Theologie in ihrer Gesamtheit ist. "Der Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen... ist selbst kein zeitliches Ereignis".50 Darin entspricht die Eschatologie der Lehre von der Schöpfung, die den Übergang vom Ewigen zum Zeitlichen nicht als historisches Ereignis kenntlich zu machen trachtete. Wird der Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen geschichtlich gedacht, so ist damit die Präsenz des Ewigen im Zeitlichen als seine potentielle und je aktuelle Bestimmung ausgedrückt. Das Ewige "transzendiert jeden Moment des zeitlichen Prozesses; es ist das Ende der Zeit im Sinne des Ziels der Geschichte".51 Insofern ist der Übergang zum Ewigen die dauernde Möglichkeit des Endlichen, um auf diese Weise seine Bestimmung zu verwirklichen. "Nichts, was ist, kann, insofern es ist, von der Ewigkeit ausgeschlossen sein".52 Denn seine Bestimmung als Seiendes liegt darin, seine Teilhabe an der Ewigkeit zu verwirklichen. Im Blick auf das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit bedeutet dies, daß die Zeit "in jedem Augenblick auch etwas zur Ewigkeit"53 beiträgt. Tillich beschreibt die ständige Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen durch die Figur einer Parabel54, also als eine ursprüngliche und unverlierbare Beziehung. Das Ewige ist und bleibt die Bestimmung der Zeit. Wir stehen "in jedem Augenblick vor dem Angesicht der Ewigkeit"55, und zwar so, daß wir in jedem Augenblick Anteil gewinnen können an der Ewigkeit. Die Zeit als Parabel "schließt die Schöpfung des Zeitlichen, den Beginn der Zeit, und die Rückkehr des Zeitlichen zum Ewigen, das Ende der Zeit, ein".56 Damit ist die Ankündigung Tillichs eingelöst, das Ende des Systems führe zu seinem Anfang zurück.57
49 50 51 52 53 54 55 56 57
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AaO.447 AaO.552 AaO.446 AaO.451 AaO.474 Vgl. aaO.474 AaO.447 AaO.474 Vgl. aaO. 343
In dem Symbol des 'Ewigen Lebens' denkt die Theologie die Rückkehr der Zeit in die Ewigkeit als endgültig. Darin begreift sie die Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit als Ziel und Sinn der Geschichte.58 Der Weg über die Entfremdung zur Essentifikation ist die Zeit als Ganzes und in jedem Augenblick. "Diese Kurve (sc. Parabel) beschreibt sowohl jeden Moment der erlebten Zeit wie die Zeitlichkeit als ganze".59 Damit wird von Tillich die geschichtliche Beziehung von Zeit und Ewigkeit faktisch eingeebnet. Die Ewigkeit als das 'nunc aetemum' Gottes hat die Zeit als ihr ständiges Gegenüber. Die Gleichsetzung dessen, was jeder Zeitpunkt seinem Wesen nach ist, mit der Ganzheit der Zeit ist das eigentliche Problem der Zeitlehre Tillichs. So nämlich kann der Eindruck auftreten, die Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen liege in der ständigen Möglichkeit des Endlichen. Es ist fraglich, ob dieses Modell die Erfahrung des angefochtenen Glaubens mit Gott angemessen beschreiben kann.
58 Vgl. aaO. 474-477 59 AaO. 474
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C ) D I E WIRKLICHE ZEIT ALS DIE ZEIT GOTTES FÜR DEN MENSCHEN
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Z U R THEOLOGIE K A R L BARTHS
I. Die Unmöglichkeit einer Bestimmung der Zeit ohne Relation zur Ewigkeit Im Verlaufe seiner Dogmatik setzt sich Karl Barth an entscheidenden Stellen mit der Thematik der Zeit auseinander. Die Relation von Zeit und Ewigkeit ist für Barth ein wesentliches Mittel, um das Thema der Theologie insgesamt zur Ausführung zu bringen. Das kennzeichnet nicht erst den Barth der Kirchlichen Dogmatik. Schon eine sehr frühe Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie entfaltet sich zu Recht als Auseinandersetzung unter dem Stichwort 'Zeit und Ewigkeit' und trifft damit insbesondere die Barthsche Theologie. 1 Für uns kann es hier nicht darum gehen, die Entwicklung des Zeitbegriffs und seiner Funktion für die Barthsche Theologie von deren Beginn an zu verfolgen. 2 Das Zeitverständnis Barths ist von der Entwicklung seines Denkens freilich betroffen und spiegelt dieses wider. Insofern ist die Frage der Entwicklung des Barthschen Denkens auch nicht völlig übergangen. Allerdings beziehen wir uns auf diese Frage nur am Rande. Die 'Wendung' Barths von der Dialektik zur Analogie wird sich konkret auch im Blick auf die Fassung der Relation von Zeit und Ewigkeit auswirken. 3 1 Vgl. das Buch von H.W. Schmidt, Zeit und Ewigkeit. Die letzten Voraussetzungen der dialektischen Theologie, 1927; Schmidt konzentriert sich in seiner Kritik an Barth auf den Vorwurf, Barth belasse es bei der unmittelbaren Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit, was Schmidt zu dem Urteil kommen läßt, die "Barthsche Dialektik" habe "unmittelbar mit dem Christentum gar nichts zu tun" (aaO. 173). 2 Im Blick auf die Theologie Barths vor dem Unternehmen seiner Dogmatik ist die Untersuchung der Bedeutung des Zeitbegriffs geschehen bei H. Biirkle, Dialektisches Zeitverständnis und existentialer Zeitbegriff, 1957 (Masch. Diss.) und F. Seven, Die Ewigkeit Gottes und die Zeitlichkeit des Menschen, 1979; die von Seven in seinem Buch für den Vergleich zwischen dem frühen Barth und Heidegger geltend gemachte gemeinsame Basis der beiden Denker, die Seven in der 'Metaphysik-Kritik' sieht, mutet allerdings merkwürdig an. Seven tut so, als habe es das Buch von v. Balthasar nicht gegeben. 3 Diese berühmte Wendung Barths im Zusammenhang seiner Kirchlichen Dogmatik ist nach wie vor unvergleichlich beschrieben bei H.U. v. Balthasar, Karl Barth. Darstellung und
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Des weiteren müßte es den Rahmen der hier vorgelegten Arbeit sprengen, wollten wir ein Referat der entsprechenden Teile der KD vorlegen. Gleichwohl vertreten wir hier nicht die Ansicht, die Barthsche Theologie ließe sich auf wenige und dürre Konstruktionsprinzipien reduzieren, die ein Referat sowieso erübrigen würden, weil sich die Barthsche Theologie leicht rekonstruieren ließe. Vielmehr werden unsere knappen Ausführungen zu zeigen versuchen, daß - bei aller Eigentümlichkeit der Sprache Karl Barths - die Ausführungen Barths eine ungeahnte phänomenologische Breite kennzeichnet, die sich in ein dürres Rekonstruktionsschema nicht einfügen läßt. Allerdings werden wir zu konstatieren haben, daß der Versuch Karl Barths, die phänomenologisch aufweisbare Vielfältigkeit des Zeitphänomens streng christologisch zu deuten, letztlich dazu führt, daß die Phänomene in ein Schema gepreßt werden, dem sie sich nicht völlig einfügen. Ein ontologisch zu nennendes und ein 'geschichtlich' orientiertes Konzept stehen sich im Blick auf die Ausführungen Barths zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit letztlich gegenüber und bleiben unvermittelt nebeneinander stehen. Oder anders gesagt: Die Selbständigkeit der Schöpfungszeit, im Blick auf die Ewigkeit Gottes als Verheißung für die Zeit geltend zu machen, ist gegenüber der christologisch bekundeten 'Gnadenzeit', die von Barth immer wieder ins Spiel gebracht wird, letztlich wegen des theologischen Programmes der KD nicht entfaltet.4 So werden auch die Ausführungen Barths zum Begriff 'Zeit' in die Probleme weisen, die im Blick auf die KD vielfach thematisiert und besprochen wurden. Für uns muß im Vordergrund die Frage stehen, inwieweit die Theologie Barths im Blick auf unsere Thematik die philosophische Kritik an einem 'theologischen' Zeitverständnis aufnimmt oder wenigstens aufzunehmen in der Lage ist. Kann die Barthsche Theologie der - an Kant und Heidegger explizit gemachten - philosophischen Kritik an einem theologischen Ewigkeitsbe-
Deutung seiner Theologie, 1951, besonders 116ff. ; vgl. auch den Aufsatz von E. Jüngel, Von der Dialektik zur Analogie, in: ders., Barth - Studien, Ökumenische Theologie 9,1982,127ff. 4 Mit der These, Barth könne seine gleichwohl geltend gemachte Behauptung, die Ewigkeit Gottes sei die Verheißung für die Zeit, gegenüber seiner Konzeption, die die wirkliche Zeit als die durch die Ankunft der Ewigkeit Gottes bestimmte Zeit - also die Zeit Jesu - denkt, nicht wirklich durchsetzen, beziehen wir uns auf eine Fülle von Veröffentlichungen, die die christologische 'Überfremdung' der Barthschen Schöpfungslehre kritisiert haben. Besonders hervorzuheben sind hier die für unseren Zusammenhang wesentlichen Arbeiten von K. Stock, Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, BEvTH 86,1980 und Chr. Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: Anthropologie als Thema der Theologie, hg. von H. Fischer, 1978,39ff.; wir weisen im übrigen schon hier darauf hin, daß die Bezugnahme auf die Barth-Literatur nur sporadisch kenntlich gemacht wird.
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griff - die Kritik Kants ließ der Theologie keine verantwortbare Möglichkeit mehr, von der die Zeit tragenden und umgreifenden Ewigkeit Gottes zu reden, Heidegger behauptete die notwendige Selbstbehauptung des endlichen Subjektes für und in sich selbst, die dem Gedanken einer die Zeit des Menschen konstituierenden und zu ihrer Ganzheit bringenden Ewigkeit schlechthin überflüssig macht - in einer theologischen Zeitlehre etwas entgegensetzen? Spiegelt die Barthsche Theologie überhaupt das Problembewußtsein wider - das Bewußtsein von der Problematik, in die der Gedanke der Ewigkeit Gottes geraten ist? Unseres Erachtens läßt sich die KD Barths in der Tat als eine stille Auseinandersetzung mit der philosophischen Kritik an der Theologie lesen. Diese Feststellung ist nicht unbedingt neu.5 Aber bei der genaueren Beschreibung und Beurteilung der Richtung und auch der Differenziertheit dieser Auseinandersetzung trennen sich die Barth-Interpreten. Ist im Zusammenhang der Anthropologie Barths die Auseinandersetzung mit Jaspers ausdrücklich gemacht6, so scheint eine regelrechte 'Auseinandersetzung' Barths mit Heidegger nur im Blick auf den Gedanken des 'Nichts' - und da auch nur sehr pauschal - stattgefunden zu haben. Man wird aber davon ausgehen müssen, daß auch die Ausführungen von 'Sein und Zeit' das gleiche Urteil treffen wie die Existenz-Philosophie von Karl Jaspers: nämlich daß sie zur Erkenntnis des 'wirklichen Menschen' nichts aber auch gar nichts beizutragen vermögen.7 Trotz der Schroffheit dieser These - in die sich auch das Urteil von KD ΠΙ/3 fügt, Heidegger habe nichts als ein wenig blinden Lärm erzeugt mit seiner These von dem 'Nichts', vor das das Dasein gestellt ist - werden wir darauf stoßen, daß Barth gerade hinsichtlich der Interpretation der Zeitlichkeit eine implizite Auseinandersetzung mit Heidegger geführt hat. Diese Auseinandersetzung hat ihre Pointe in der Behauptung Barths, die 'endliche Zeit' als eine Zeit zu entwickeln, die in der Selbstverfügung des Menschen liegt und seine Ganzheit ermöglicht, 5 Vor einigen Jahren ist ein lebhafter Streit um die Frage gefuhrt worden, inwiefern die Theologie Barths 'neuzeitliche Theologie' genannt werden kann und welche Prinzipien neuzeitlichen Denkens diese Theologie aufnimmt. Der Streit geht, wenn wir recht sehen, wohl nur noch um die Frage der Adäquatheit der Mittel, mit denen Barth das 'neuzeitliche Denken', insofern es dem Christentum widerspricht, begegnet; vgl. hinsichtlich der Literatur zu diesem Thema besonders K.G. Steck/D. Schellong, Karl Barth und die Neuzeit, ThEx 173, 1973; T. Rendtorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit, Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, 1975 und auch schon das Buch von Balthasar, besonders 210ff. 6 Vgl. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatìk, BandIII/2, 19794, 133, 141, 549ff.; zur Antwort auf die Kritik Barths vgl. K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 19843,485ff. (Die Bände der Dogmatik Karl Barths werden im folgenden ohne Voranstellung des Verfassemamens nach der üblichen Weise zitiert; z.B. der hier angegebene Band als III/2) 7 Vgl. Barth, KD III/2,134
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entspringe bei Heidegger aus einer Veikennung der wirklichen Zeit. Allerdings ist diese implizite Auseinandersetzung Barths mit Heidegger überschattet von der lapidaren und etwas schnöden Feststellung, Heideggers Zeitbegriff sei gänzlich ungeeignet, die Offenbarung als Geschehen in der Zeit zu verstehen und zu deuten.8 Schon vorweg soll die Auseinandersetzimg Barths mit dem Heideggerschen Begriff der Zeitlichkeit auf einen Nenner gebracht werden: Barth setzt dem Zeitverständnis von 'Sein und Zeit', das in der zeitlichen Verfassung des Daseins die Möglichkeit seiner Ganzheit sieht, die These entgegen, daß die als Endlichkeit zu denkende Zeit ihren Sinn nicht in sich selbst hat. Zeit ist als Verfassung des endlichen und sich selbst behauptenden Daseins unterbestimmt. Diese These zeigt, daß Barth durchaus auf der Höhe der Diskussion ist. Denn die Einwände Barths gegen Heidegger entfalten sich auf der gemeinsamen Grundlage der Identifizierung von Endlichkeit und Zeitlichkeit. Wir werden nun im folgenden zum einen die Begründungen aufzudecken haben, die Barth zu der These führen, die Zeit habe ihren Sinn nicht in sich selbst. Die Beantwortung dieser Frage wird uns auf eine merkwürdige Unausgeglichenheit der Barthschen Theologie führen - eine Unausgeglichenheit, die als fehlende Vermittlung von phänomenologischer Analyse und christologischer Begründungsstruktur gedacht und bezeichnet werden kann. Die Behauptung Barths, die Zeit habe ihren Sinn nicht in sich selbst, wird positiv gewendet zu der Behauptung führen, die Ewigkeit Gottes konstituiere die Zeit. Barths Theologie hebt sich darin von der Heims und Tillichs ab, daß sie die Ewigkeit Gottes in allen Teilen der Dogmatik als konstitutiven Grund der Zeit einsichtig zu machen versucht. So werden wir uns zum zweiten der Frage widmen, wie diese Konstitution der Zeit durch die Ewigkeit konzeptionell entworfen ist.
1. Die christologische Begründung der Relation von Zeit und Ewigkeit Eine rechte Theologie erweist sich in den rechten Unterscheidungen. Der Theologie sind nicht alle Zeiten gleich. Das ist ein unausgesprochener Grundsatz Barths. Barth eröffnet diejenigen Äußerungen, in denen er sich erstmals ausführlich zum Zeitphänomen äußert1, mit der Einführung einer Unterscheidung. Diese Unterscheidung hält sich durch die gesamte KD hindurch und bildet 8 Vgl. Barth, KD 1/2,51 ; als ob dies Kriterium einer Entwicklung des Zeitbegriffs zu sein hat. 1 Vgl. Barth, KD 1/2, 50ff.
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den Schlüssel zum Verständnis der Barthschen Zeitlehre. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Offenbarungszeit, Schöpfungszeit und der Zeit des gefallenen Menschen.2 Der Erkenntnisgrund aller Aussagen über die Zeit und ihr Wesen liegt in der Offenbarung. Es gilt Barth als Prämisse, daß 'wir keine andere Zeit kennen als die, die Gott für uns hat'. 3 Barth geht sogar noch weiter. Bleibt die Theologie ihrem Thema treu, so gilt das Axiom: nicht nur die Erkenntnis der Zeit, sondern auch die Gewißheit ihrer Realität hängt an der Zeit der Offenbarung. Aber doch erschöpft sich in dieser Klärung der spezifischen Abkünftigkeit und Begründung aller theologischen Aussagen über die Zeit doch nicht eine theologische Dogmatik. Deutlich ist gleichwohl das Programm Barths: Die Zeit ist bestimmt durch ihren Bezug zur Ewigkeit bzw. durch die Ankunft der Ewigkeit in der Zeit. Gilt also die Unterscheidung der drei verschiedenen Zeiten - in diesen drei verschiedenen Zeiten thematisiert Barth unterschiedliche Elemente menschlicher Zeiterfahrung - so gilt ganz offensichtlich, daß die Bestimmung der Zeit durch die Ewigkeit unterschiedlich ausfällt bzw. einem geschichtlichen Wechsel unterliegt. Die Bestimmung der Zeit durch die Ewigkeit im Sinne der Offenbarungszeit ist dabei folgendermaßen vorzustellen. Die Offenbarungszeit ist die Zeit Gottes. In ihr erwählt sich Gott von Ewigkeit her dreißig Jahre, in denen er in verborgener Weise in der Welt gegenwärtig ist. Das bedeutet nach Barth nicht die volle Gegenständlichkeit des göttlichen Wesens in der Zeit. Als Herrschaftsakt und Inbesitznahme der Zeit ist die Offenbarungszeit als solche verhüllt.4 Die Rede von der wunderbaren Ankunft der Ewigkeit in der Zeit muß Behauptung bleiben und ist so der Strittigkeit aller menschlichen Behauptungen 'ausgeliefert'. 5 Deshalb sprechen Theologie und Glaube von dem Wunder der Menschwerdung Gottes, womit der Sachverhalt gemeint ist, daß die Offenbarungszeit sich eine bestimmte und begrenzte Zeit auswählt, in der sie unsere Zeit erfüllt. Gilt aber, daß es sich bei der Zeit Jesu um die Zeit Gottes für uns handelt, so gilt die uneingeschränkte Behauptung: in der Offenbarungszeit tritt die eigentliche Zeit an die Stelle der uneigentlichen Zeit.6 Denn als Herrschaftsakt Gottes über die Zeit duldet die Offenbarungszeit keine Zeit neben sich. 2 AaO. 52 u.ö.; vgl. die Aufnahme dieser Unterscheidung in KD III/l, 77ff. und KD III/2, 524ff. 3 Vgl. KD 1/2, 50 4 Vgl. aaO. 65ff. 5 Vgl. aaO. 70 6 Vgl. aaO. 61, 73 u.ö.
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Damit deckt die Offenbarungszeit zugleich das Wesen bzw. die Gestalt 'unserer Lebenszeit' allererst auf. Unsere Lebenszeit ist bestimmt durch Verlust an Gegenwart. Die Realität der Zeit ist ein ständiges Rätsel im Laufe der Zeit, und ihr Bezug zu einer stehenden Ewigkeit, die dem Lauf der Zeit Einhalt zu gebieten vermag, ist unklar und strittig. So erleben wir nun einmal die Zeit. Diese Zeit ist durch das Erscheinen der Offenbarungszeit negiert. Ja, Barth geht sogar noch weiter, indem er behauptet, daß die Offenbarungszeit 'uns unsere Zeit nimmt'. 7 Das ist die eigentliche Krisis, die die Offenbarungszeit für 'unsere Lebenszeit' bedeutet. Es ist uns benommen, an der Rätselhaftigkeit der Zeit und der Behauptung, sie sei unzugänglich für den Gedanken der Erfüllung, festzuhalten. Gottes "echte Zeit tritt an die Stelle der problematischen, uneigentlichen Zeit, die wir kennen und haben".8 Darin sieht Barth die Wende, die das Erscheinen der Offenbarungszeit in unserer Lebenszeit für diese gebracht hat. Als Zeitenwende deckt die Offenbarungszeit zugleich die eigentliche Bestimmung der geschaffenen Zeit auf.9 Konkret wird dies darin, daß sich die Offenbarungszeit sowohl als das Telos - nämlich in der Erwartung der Offenbarung - wie auch als unüberholbare Erfüllung der Zeit - nämlich im Blick der Erinnerung erweist. Die Ganzheit der Zeit wird nun bestimmbar durch die Beziehbarkeit aller Zeiten auf das Geschehen der Erfüllung der Zeit. Es ist der Zeit nun die Möglichkeit genommen, aus der Beziehung zur Ewigkeit, zur Zeitwerdung Gottes, herauszufallen. Diese Argumentation von KD 1/2 erwächst aus der Konzentration Barths auf den Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes. Eine den Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes in das Zentrum ihres Denkens stellende Theologie hat sich nach Barth so treu zu bleiben, daß sie auch die Zeit von diesem Gedanken her begreift. Die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn impliziert die Beanspruchung einer bestimmten Zeit durch Gott. Diese bestimmte Zeit (des Menschen Jesus) bekommt Ewigkeitsbedeutung und qualifiziert damit alle und jede Zeit. "Ist es doch der Deus praesens, der immer schon war und immer noch sein wird und gerade so auch ein echtes Vorher und Nachher hat: der handelnde und in seinem Handeln aus einer elenden Spanne dieser unserer verlorenen Zeit sich selbst seine Zeit schaffende und erhaltende Herr der Zeit, dem gegenüber die Zeit keine eigene Gesetzlichkeit haben kann, dem gegenüber längste Zeit die kürzeste, kiirze-
7 Vgl. aaO. 74 8 AaO. 61 9 Vgl. aaO. 54, 58 u.ö.
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ste wie längste Zeit ist, dem gegenüber nicht einmal die Unumkehrbarkeit der Zeit von unzerstörbarem Bestände ist".10 Die Zeit schlechthin ist ohne ihre Bezugnahme zur Ewigkeit Gottes, die durch die Zeitwerdung der Ewigkeit bedingt ist, nicht mehr denkbar; soll nicht die Selbstoffenbarung Gottes als eine der Geschichte äußerliche und unwesentliche 'Begebenheit' behauptet werden. Die Beanspruchung einer bestimmten Zeit durch Gott bedeutet also die Beanspruchung aller Zeit überhaupt durch den ewigen Gott. Die Zeitwerdung der Ewigkeit ist ontologischer und noetischer Grund dessen, was wir Zeit nennen. So zeigt sich die Beanspruchung einer bestimmten Zeit durch die Ewigkeit als Wende der Zeit überhaupt. In diesem Sinne entwirft Barth auch in KD 1/2 das Bild einer geschichtlich zu denkenden Beziehung der Ewigkeit auf die Zeit. Am sichtbarsten wird dies in der Anwendung des 'Verheißungsbegriffs'.11 Danach tritt an die Stelle der uneigentlichen Zeit die Zeit Gottes, "indem nun inmitten der Jahre und Jahrtausende dieser unserer Zeit die Zeit Jesu Christi tritt als unsere, als frohe Botschaft auch zu uns kommende, als Verheißung auch uns zugedachte und auch von uns zu ergreifende und zu lebende Zeit".12 In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß die Ausführungen schon von KD 1/2 gleichsam sekundär sind - auf einer unausgeführten Voraussetzung ruhen. Sie stützen sich notwendig auf die unausgeführte These, die Zeit erweise sich in der Reflexion als solche, die auf ihre Bestimmung durch die Ewigkeit angewiesen ist - also als solche, die ihre Bestimmung nicht aus sich selbst gewinnen kann. Denn auf der einen Seite will Barth betont wissen, daß die Offenbarungszeit das Wesen der Zeit nicht nur aufdeckt, sondern die wirkliche Zeit ist. Die wirkliche Zeit ist die durch die Ewigkeit Gottes bestimmte und geprägte Zeit - die Zeit Jesu. "Das ist aber das Besondere der Zeit Jesu Christi: sie ist die Zeit des Herrn der Zeit. Sie ist im Unterschied zu unserer Zeit beherrschte und gerade darin wirkliche, erfüllte Zeit".13 In diesem Sinne gilt für Barth die Unmöglichkeit, eine Bestimmung der Zeit unabhängig von dem Gedanken und dem Geschehen der Offenbarung zu erreichen. Andererseits betont Barth, daß die Offenbarungszeit die Wende der Zeit darstellt. Das impliziert nicht nur die These einer geschichtlichen - also differenzierten - Beziehung von Zeit und Ewigkeit, sondern auch die Behauptung, die Zeit sei so zu deuten und zu analysieren, daß ihre Wende überhaupt als solche phänomenologisch aufgewiesen werden kann. Nach 10 11 12 13
496
AaO. 58 Vgl. aaO. 61 Ebd. AaO. 57
diesem 'Modell' wäre Ewigkeit als Telos und als die Erfüllung der Zeit in ihrem Prozeß zu denken. Diese beiden Argumentationsstrukturen bleiben im Verlaufe der KD nebeneinander stehen und weisen in ein Grundproblem der Theologie Barths. Auf der einen Seite gilt für Barth, daß die Zeit durch ihre Bestimmung von seiten der Ewigkeit Gottes her schlechthin 'verewigte Zeit' ist; andererseits weiß Barth natürlich auch darum, daß 'unsere Zeit' noch nicht identisch ist mit der Offenbarungszeit, die dadurch bestimmt ist, daß sie schlechthin die Zeit für Gott ist.14 In diesem Zusammenhang redet Barth von der Verheißung, die die Offenbarungszeit für unsere verlorene Zeit bedeutet. Wie werden diese beiden unterschiedlichen Argumentationsstrukturen nun in KD 1/2 sichtbar? Barth argumentiert durchgehend auf dem Grunde der Voraussetzung, daß die Offenbarungszeit die Zeitenwende im Blick auf unsere Zeit darstellt. Daß die Zeit gewendet werden muß und kann, das läßt Barth weitgehend unausgeführt. Allenfalls der Hinweis auf die Unbrauchbarkeit eines solchen Zeitbegriffs, der die Zeit als bloße Verfassung des endlichen Subjektes denkt15, kann als Versuch Barths gelten, in explizit kritischer Auseinandersetzung sichtbar werden zu lassen, daß die Zeit ohne Ewigkeit gar nicht verstanden werden kann. Daß die Offenbarung als ein 'Herrschaftsakt' der Ewigkeit in bezug auf die Zeit darzustellen ist, wird von Barth vorausgesetzt, aber nicht begründet bzw. nur in seinen Konsequenzen entwickelt. Die Kennzeichnung 'unserer Zeit' als 'Zeit der Sünde' soll zwar sichern, daß die Zeit in sich nicht die Möglichkeit zu ihrer Erfüllung enthält. Das impliziert aber nicht die These, die Zeit enthalte in sich den Zwang zur Erfüllung, den sie selbst aus sich nicht erzeugen kann. Die Zeit könnte ja auch unerfüllt bleiben. Deutlich zu machen ist das Gemeinte im Blick auf die Unterscheidung Barths zwischen der Form der Zeit und ihrem Inhalt. Die Form der Zeit, die wir kennen und in der wir leben, ist bestimmt durch den Mangel an Dauer, durch die Ausdehnungslosigkeit der Gegenwart.16 Es ist und bleibt nach Barth die ständige Anfrage unseres Zeiterlebens an einen Begriff der Zeit, inwieweit er wirklich Gegenwart, Dauer zu begreifen vermag. Ein Zeitbegriff, der das Zeiterleben, also die wie auch immer zu benennende Erfahrung von Gegenwart nur als Ausdehnungslosigkeit des 'Jetzt' begreifen kann, ist ungeeignet für die Entfaltung eines 14 Vgl. aaO. 62 15 Barth führt seine Kritik an einem Zeitbegriff, der die Zeit auf die Verfassung des endlichen Subjektes beschränkt, im Blick auf Augustin und Heidegger aus (vgl. aaO. 52ff.). 16 Vgl. aaO. 53
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theologischen Zeitverständnisses, das nicht umhin kann, von der Zeitwerdung Gottes zu reden. Eine dem Offenbarungsgeschehen verpflichtete Theologie findet die Wirklichkeit der Zeit als Ausdehnung, als Dauer, manifestiert in der Offenbarungszeit. Die Offenbarungszeit ist die Zeit, die einzige Zeit, die wir kennen, deren Gegenwart voll von Erwartung und Erinnerung ist. Diese Zeit ist deshalb allein 'wirkliche Zeit'.17 Die Offenbarungszeit ist mithin allein mit einem Inhalt gefüllte Zeit. Der Zeitbegriff Augustins und Heideggers vermag für Barth die Zeitwerdung Gottes nicht zu erfassen. Augustin wie Heidegger können keine Zeit denken, die Offenbarungszeit ist; weil sie keine Zeit denken können, für die die Aporien menschlicher Zeiterfahrung nicht gelten. Der Zeitbegriff ist deshalb für Barth untauglich, die Ewigkeit als Inhalt der menschlichen Zeit zu denken. So versteht sich das Urteil Barths: "Augustin sowohl wie Heidegger verstehen die Zeit abschließend und eindeutig als eine Selbstbestimmung der kreatürlich menschlichen Existenz".18 Damit macht Augustin wie Heidegger in letzter Konsequenz die Offenbarungszeit zum Prädikat der menschlichen Zeit. Daß Zeit schlechthin die Zeit ist, die Gott sich für den Menschen nimmt - dieser Gedanke ist beiden Denkern fremd. Denn dieser Gedanke ist damit ausgeschlossen, daß sie die Wirklichkeit der Zeit im Subjekt verankern. Bei Augustin wie bei Heidegger gilt nach Barth, daß der Mensch Zeit hat, "indem er sich selbst verwirklicht".19 "Wollen wir aber die Zeit der Offenbarung Gottes verstehen, dann muß unser Zeithaben verständlich gemacht werden als das die Problematik (!) unseres eigenen Zeithabens überwindende Zeithaben Gottes für uns".20 Dieses Urteil Barths ist erstaunlich. Liegt doch die Intention Augustins gerade darin, die 'Problematik unseres eigenen Zeithabens' als solche deutlich zu machen, um von dort aus zu zeigen, daß diese Problematik nur durch die Ankunft des ewigen Gottes in der Zeit überwindbar ist. Die Ewigkeit Gottes als Sinn unserer Zeit - das ist gerade das Thema Augustins. Allerdings liegt sein ganzes Bemühen darauf, die Möglichkeit einer 'Heilung' der Zeit durch die Ewigkeit aufzuweisen. Die Strittigkeit menschlicher Zeiterfahrung - also der den Menschen gegebenen Zeit - läßt es nach Augustin, wie gesehen, auch immer als möglich erscheinen, daß sich der Mensch in seiner Zeit auf die Beziehung zur Ewigkeit Gottes gründet. Die Konzentration auf das Christusereignis allerdings ist Augustin in der Tat fremd. Nur kann dies schwerlich zum Kriterium der Beurteilung seiner Zeitlehre gemacht werden. 17 18 19 20
498
Vgl. aaO. 54 AaO. 51 Ebd. Ebd.; Hervorhebung von mir
Ein weiterer Einwand Barths gegenüber Augustin und Heidegger versucht, bei dem Sachverhalt anzusetzen, daß beide Denker die Zeit als Form menschlichen Lebensvollzuges ausdrücklich machen. Barth deutet dies in der Wendung an, Heidegger wie Augustin brächten "die Zeit abschließend und eindeutig als eine bedingte Wirklichkeit" zur Geltung.21 Barth moniert also den Sachverhalt, daß Augustin und Heidegger die Zeit als Medium der Bestimmung und Selbstentfaltung des endlichen Subjektes denken. Barth sieht darin eine Einschränkung der Einsicht in die Geschöpflichkeit der Zeit. Mit dieser Einsicht nämlich verbindet Barth die Überzeugung, daß, wenn der Seins- und Erkenntnisgrund der Zeit in der Offenbarungszeit liegt, zu gelten hat, daß die Zeit unmittelbar zu Gott ist, eben nicht als Verfassung des Menschen im Blick auf Gott vermittelt werden muß. "Wollen wir aber die Zeit der Offenbarung verstehen, dann kann die Zeit nicht bloß als das Produkt der als distentio interpretierten menschlichen Existenz, dann muß sie als eine eigentliche Wirklichkeit, unmittelbar zu Gott wie die menschliche Existenz selber verstanden werden".22 Der Zeitbegriff Augustine wie der Heideggers ist also ungeeignet für die Entfaltung eines theologischen Zeitverständnisses, weil er die Konstitution der Wirklichkeit der Zeit in der 'Zeit Gottes für uns' nicht denken kann. "Ein Zeitbegriff, der das leugnet (sc. die Konstitution der Zeit durch die Ewigkeit) kann uns dann also nicht dienlich sein".23 Diese letzte Bemerkung Barths kann den Einwand gegen sein erstes Argument, das er gegen Augustin vorzubringen hatte, entschärfen. In der Tat - gerade als distentio ist die Zeit für Barth, auch wenn ihre Widersprüchlichkeit darin deutlich wird - unterbestimmt. Die Zeit, so Barth, ist 'unmittelbar zu Gott wie die menschliche Existenz selbst'. Damit will Barth die Gebrochenheit der Bestimmung der Zeit als distentio - distentio bedeutete auf der einen Seite Dauer und zeitliche Ausdehnung der Zeit, andererseits die Zerstreutheit - treffen. Die Gebrochenheit der menschlichen Zeiterfahrung als Zugang zur Ewigkeit Gottes geltend zu machen, ist gerade der Fehler Augustine. Zeit ist gänzlich verlorene Zeit oder ganz und gar die Zeit Gottes für den Menschen. Das meint: die Zeit ist nicht der Ort der Strittigkeit Gottes, sondern der Ort seiner Ankunft in der Welt. Die wirklich Zeit ist die Zeit, die Gott für uns hat. So zeigt sich an dieser Stelle, daß Barth es ablehnt, den Ewigkeitsbezug der Zeit aus der Zeit zu begründen oder plausibel zu machen.
21 AaO. 51 22 Ebd. 23 Ebd.
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Zu den weiteren Folgen dieser die Barthsche Theologie kennzeichnenden Eigentümlichkeit werden wir uns noch später zu äußern haben. Hier sollte nur exemplarisch deutlich gemacht werden, daß die Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung Barths mit überlieferten Zeittheorien, die durch das Bemühen gekennzeichnet sind, den verborgenen Ewigkeitsbezug der Zeit und damit ihre Erlösungsbedürftigkeit zu zeigen, in die axiomatische Feststellung münden, die Wirklichkeit der Zeit außerhalb der Offenbarung zu suchen, bedeutet, die Aufgabe der Theologie zu verleugnen. Die beiden oben so bezeichneten 'Modelle' der Barthschen Zeitlehre stehen also streng genommen nicht nebeneinander, sondern die Konstitution der Zeit durch die Ewigkeit in der Offenbarungszeit wird gesetzt. In der Folge dieser Setzung wird die Beziehung der Ewigkeit zur Zeit als geschichtliche Beziehung entwickelt. Dabei bleibt immer vorausgesetzt, aber unentwickelt, daß die Form der Zeit ihrer Erfüllung durch die Ewigkeit entgegensieht und dieser Erfüllung kompatibel ist - insofern nämlich, daß die menschliche Zeit die inhaltsleere Zeit ist. Die christologische Begründung der Bestimmung der Zeit durch die Offenbarungszeit hat also zur Folge, daß die Entwicklung der Ewigkeit als geschichtlich vermittelte bzw.. sich selbst als geschichtlich vermittelnde Verheißung für die Zeit ein sekundäres Konstrukt bleibt.
2. Die Funktion der Unterscheidung zwischen Schöpfungszeit, Offenbarungszeit und der Zeit des gefallenen Menschen Das 'Problem der Zeit' ist dem ihr Wesen erforschenden Denken die Strittigkeit ihrer Wirklichkeit. "Die Wirklichkeit der Zeit zu behaupten" das ist "tatsächlich nur der Theologie" möglich.1 Dieser Satz kann das im vorigen Abschnitt Entwickelte sehr gut zusammenfassen. Damit macht dieser Satz Barths zugleich den vielfach als ärgerlich empfundenen Anspruch Barths deutlich. Jene Behauptung, die Wirklichkeit der Zeit könne allein die Theologie ausdrücklich machen, gewinnt sich nach Barth aus dem Satz 'Gott offenbart sich'. Denn dieser Satz impliziert: "Gott nimmt sich Zeit".2 Außerhalb dieser Selbstversicherung über die Wirklichkeit der Zeit ist die Zeit für den Menschen das größte Rätsel seines Lebens. Darin hat Augustin nach Barth Recht. Die Rätselhaftigkeit der Zeit wird sichtbar zum einen darin, daß die Gegenwart ungewiß ist. Die Ungewißheit der Gegenwart zeigt sich nicht nur dem die Bedingung der Zeit reflektierenden
1 KD 1/2, 54 2 AaO. 50
500
Bewußtsein, sondern sie wird ebenso in dem alltäglichen Umgang mit der Zeit erfahrbar. Unsere Zeiterfahrung ist dadurch bestimmt, daß uns Dauer fehlt und abgeht.3 Das Rätsel der Zeit wird zweitens deutlich in der antinomischen Struktur der Frage nach einer Begrenzung der Zeit. Kants Antinomien decken die alltägliche Erfahrung auf, daß weder die Begrenzung der Zeit noch ihre Unbegrenzbarkeit gewiß ist. Schließlich gilt die Rätselhaftigkeit der Zeit noch in einer letzten Hinsicht. Hat die Zeit ihren Sinn in sich selbst, oder liegen Zweck und Ziel der Zeit in dieser Beziehung zur Ewigkeit? Der Ewigkeitsbezug der Zeit bleibt ein unlösbares, aber dem Denken ständig neu aufgegebenes Rätsel.4 Der Schluß aus diesen Einsichten wird von Barth schnell gezogen. Die Zeit ist hinsichtlich ihrer Realität ungewiß. "Alle diese Aporien sprechen jedenfalls nicht dafür, daß wir wissen, was wir sagen, wenn wir im Blick auf 'unsere Zeit'... von einer Zeit reden, die uns auch ohne und vor Gottes Offenbarung bekannt und zu eigen sei".5 Demgegenüber kann nach Barth der Satz 'Gott offenbart sich' die Gewißheit der Realität der Zeit, ihrer konkreten Begrenztheit und ihrer unaufhebbaren Ewigkeitsrelation hervorragend explizieren.6 a) Die biblische Rede von der Offenbarung Gottes als einer Selbstoffenbarung ist die "Aussage über das Geschehen eines Ereignisses".1 Gott nimmt sich Zeit, wenn er sich offenbart. Diese Zeit, die Gott sich in seiner Offenbarung nimmt, ist die "Offenbarungszeit".8 Damit ist gemeint, daß die Selbstoffenbarung Gottes einen bestimmten Zeitraum einnimmt. Diese konkrete Zeit wird gefüllt durch die Gegenwart Gottes - durch das "Deus praesens".9 Die Zeit der Offenbarung ist ein Ausschnitt aus der Weltzeit. Die genaue historische Markierung der Offenbarungszeit sichert nicht nur die 'Zeitlichkeit' der Offenbarung, sondern begründet auch die Unterschiedenheit der Offenbarungszeit von allen anderen Zeiten. Die historische Markierung der Offenbarungszeit macht gewiß: "Die Zeit, die wir immer 3 Vgl.aaO.53 4 Vgl. aaO. 53f. 5 AaO. 54 6 Unter Berücksichtigung der Funktion dieses Satzes 'Gott offenbart sich als der Herr' für die Entfaltung der Trinitätslehre (vgl. KD 1/1, 31 Iff.) kann pointiert formuliert werden, daß nach Barth allein der Gottesgedanke die Realität der Zeit in ihrer Unterschiedenheit und Bezogenheit auf die Ewigkeit zu sichern vermag. Die Bedeutung dieser These wird unten noch näher auszuführen sein. 7 KD 1/2,50 8 Ebd. 9 AaO. 55
501
mitmeinen, wenn wir Jesus Christus sagen, ist mit keiner anderen Zeit zu verwechseln".10 Wodurch ist die Lebenszeit Jesu gekennzeichnet? Sie ist "wirkliche, erfällte Zeit", weil sie die Zeit des Herrn derZeit ist.11 'Erfüllte Zeit' - das meint, die Zeit Jesu ist wahre, dauerhafte Gegenwart. "Hier gibt es echte Gegenwart".12 Die Wirklichkeit der Lebenszeit Jesu ist gewiß, weil er der Herr der Zeit ist. Der Herr der Zeit aber ist der 'Deus praesens'. Die Lebenszeit Jesu also wird zum Prädikat der stehenden Ewigkeit Gottes. Die Offenbarungszeit begrenzt zugleich die Zeit vor der Offenbarung und die Zeit, die nach ihr folgt. Darin ist die Offenbarungszeit ein Herrschaftsakt über die Zeit.13 Die Begrenzung der Zeit durch die Offenbarungszeit ist dabei folgendermaßen zu denken: Die erfüllte Zeit ist die wirkliche Zeit; darin geschieht etwas mit der Zeit selbst, das nicht wieder rückgängig zu machen ist. Der wirklichen Zeit gegenüber ist die Zeit des verlorenen Menschen zur unwirklichen Zeit geworden. Daraus folgt zweitens, daß die erfüllte Zeit 'unsere Zeit vernichtet'. Diese Vernichtung ist aber, so versucht Barth drittens zu zeigen, nicht als Beseitigung zu denken, sondern als die Verunmöglichung, in unserer Zeit weiterhin so zu leben, als habe es die erfüllte Zeit nie gegeben. Darin begrenzt die erfüllte als die wirkliche Zeit unsere verlorene Zeit, indem sie ein Ende macht mit dem Mythos "von der unendlichen Zeit".14 Darin erhellt die Offenbarungszeit die Bestimmung der Zeit in der Relation zur Ewigkeit Gottes. "In der Offenbarung hat die Zeit ihren Ursprung und ihr Ziel gefunden".15 So gedenkt Barth zu zeigen, daß und wie die Offenbarungszeit die Rätsel der Zeit zu lösen vermag und so die Ewigkeit Gottes als Geheimnis aller Zeit aufdeckt. Die Wirklichkeit der Zeit, ihre Begrenzung (Endlichkeit) und ihre verborgene Ewigkeitsrelation erhellt allein aus dem Satz 'Gott offenbart sich als der Herr'. So gibt für Barth allein die Theologie eine Lösung für die Rätselhaftigkeit der Zeit, indem sie Gottes Ewigkeit als das Geheimnis aller Zeiten zur Geltung bringt.
10 AaO. 57 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl. aaO. 65 14 AaO. 76; vgl. zu den vorausgegangenen Ausführungen die Argumentation Barths in KD 1/2, 65ff. 15 AaO. 65
502
b) Nun betont aber Barth, daß es sich bei der Offenbarungszeit - also bei der Zeit, die die Offenbarung Gottes 'einnimmt' - um eine "dritte Zeit" handelt.16 Die Einsicht darin, daß die Suche nach dem Wesen der Zeit allein in der Offenbarung 'Erfolg' haben kann, fußt also auf der Überzeugung, die Zeit sei im 'täglichen Umgang' wohl bekannt, aber nicht bestimmbar. Wird das Wesen der Zeit "in und mit der Offenbarung... gesetzt"17, so gilt es nicht nur, diese Setzung zu rechtfertigen, sondern ihre Berechtigung an der alltäglichen Zeiterfahrung plausibel zu machen. Diesem 'Begehren' kommt Barth darin durchaus nach, daß er die Wirklichkeit der Zeit nicht bloß in der Offenbarungszeit setzt, sondern mit dieser Setzung die Unterscheidung 'dreier Zeiten' verbindet. "Indem Gott" in seiner Offenbarung "wirkliche Zeit für uns hat, dürfen wir mitten in unserer, der verlorenen Zeit, glauben, daß er die Zeit geschaffen, und zwar wie alle seine Werke ohne daß wir darum wissen können, gut geschaffen hat".18 Die Setzung der Wirklichkeit der Zeit in der Offenbarung hat sich demnach auch für Barth allererst zu bewähren in der durch die Offenbarung 'freigesetzten' Unterscheidung der drei Zeiten. Offenbarung klärt die Verhältnisse. Diese Setzung der Wirklichkeit der Zeit in der Offenbarung impliziert also den Streit um das Wesen der Zeit als wesentliches Moment ihrer Wirklichkeit. 'Zeithaben' bzw. 'Sein in der Zeit' - das ist in der Einführung der Offenbarungszeit als der 'dritten Zeit' vorausgesetzt - bedeutet unausgesprochen zugleich und vor allem: die Zeit als ambivalentes Phänomen bzw. als Streit um die Wirklichkeit der Zeit. In diesen Zusammenhang fügen sich die Ausführungen Barths ein, die von der "Aufrechterhaltung des Nebeneinander von erfüllter und allgemeiner Zeit" sprechen.19 Die Schroffheit der These, die wirkliche Zeit sei die Zeit der Offenbarung, wird also formell gemildert durch die Einführung der Differenz zwischen Schöpfungszeit und 'verlorener Zeit', die die Zeit schlechthin als den Ort vorstellig machen soll, in dem der Streit um das wahre Wesen und Ziel der Zeit ausgetragen wird. c) Wie wird nun die Differenz zwischen 'Schöpfungszeit' und der 'verlorenen Zeit' charakterisiert? 'Unsere Zeit' ist - Barth selbst setzt die so prädizierte Zeit zunächst in Anführungszeichen20 - die "von uns, das heißt von dem gefallenen Men16 17 18 19 20
AaO. 52 AaO. 58 Ebd. AaO. 75 Vgl. aaO. 52
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sehen, bewirkte Zeit".21 Damit ist gemeint, wie die kritische und sehr kurze Auseinandersetzung Barths mit Augustin und Heidegger zu zeigen vermocht hat, die als Bestimmtheit des Subjekts ('distendo animi') gedachte Zeit. Die Zeit, als 'Geschöpf des endlichen Subjektes'22 gedacht, kann nicht zum Ausdruck bringen, inwiefern von unserer Zeit als der verlorenen Zeit zu reden ist. Was macht nach Barth die Verlorenheit der menschlichen Zeit aus? Der Band KD 1/2 gibt darüber nur spärlich Auskunft. Das kommt nicht von ungefähr, weil dieser Band die Offenbarungszeit als wirkliche Zeit zur Geltung bringen will. Nur in negativer Absetzung von dieser These wird die 'allgemeine Zeit', die unsere verlorene Zeit ist, als die Zeit vorgestellt, der die wahre und erfüllte Gegenwart Gottes fehlt.23 Im Zusammenhang seiner Schöpfungslehre und Anthropologie erklärt sich Barth zu dieser Frage genauer. Die Zeit des "in Sünde gefallenen Menschen" ist die Zeit, "deren Fluß zu einer Flucht geworden ist".24 Es ist die Zeit, die keinen Halt hat, der die Gegenwart und damit auch Vergangenheit und Zukunft mangelt, und - so formuliert Barth in Anspielung auf seine Ausführungen aus KD 1/2 - die Zeit des in Sünde gefallenen Menschen ist die Zeit, deren Endlichkeit und Begrenztheit ungewiß ist. Und schließlich gilt von dieser verlorenen Zeit, daß sie "die Zeit ohne erkennbaren Grund und Sinn in der Ewigkeit" ist.25 So ist die verlorene Zeit die Zeit, in der der Mensch sich selbst überlassen bleibt. Wie aber kommt es zu dem Verlust an wirklicher Zeit im Lebensvollzug des Menschen? Hatte doch Barth erwiesen, daß die 'Zeit Jesu' die eigentliche und wirkliche Zeit von Beginn der Schöpfung an 'gewesen' ist. Barth äußert sich zu dieser Frage eher beiläufig, aber um so erstaunlicher. "Es gab und gibt wohl 'unsere' leere Zeit. Es ist aber nicht so, als ob es jemals nur (!) diese leere Zeit gegeben hätte".26 Barth hält also auch hier an seiner These fest, die Zeit, die er die Zeit des verlorenen Menschen nennt, sei wohl die täglich erfahrbare Zeit, aber nicht desto trotz die 'unwirkliche' Zeit. Des Menschen "verlorene Zeit war von Anfang an umgeben und umschlossen von der die Zeit der Schöpfung unmittelbar fortsetzenden Zeit des göttlichen Gnadenbundes".27 21 Ebd. 22 Barth verweist in diesem Zusammenhang auf die These Bergsons, der Mensch sei der Schöpfer' der Zeit (vgl. aaO. 51) 23 Vgl. aaO. 57, 74 u.ö. 24 KD III/l, 77f. 25 KD III/l, 78 26 KD III/l, 81 (Hervorhebung von mir) 27 Ebd.
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Hier bestätigt sich erneut: Barths Zeittheorie ist entworfen als ständig neu auszutragender Streit, aber faktisch schon immer entschiedener Streit um die wirkliche Zeit. Nur - Barth läßt diesen Streit nicht zum Zuge kommen, weil er ihn zwischen 'verlorener' Zeit und Gnadenzeit austrägt. Damit ist aber die 'unwirkliche' Zeit schon immer überwunden. "So war die Zeit von Gott her... von Anfang an... erfüllte Zeit".28 Im Zusammenhang seiner Anthropologie geht Barth über die in seiner Schöpfungslehre gegebene Kennzeichnung der allgemeinen Zeit als der Zeit, die der Mensch alltäglich hat, hinaus. Allerdings macht die erkenntnistheoretische Entscheidung Barths, es handle sich bei der 'allgemeinen' Zeit um die von der Zeit Jesu her kritisierte unwirklich Zeit, das Gefalle der Aussagen auch in der Anthropologie aus. Es muß nach Barth gewahrt bleiben, daß die 'Fülle der Zeit' Erkenntnisgrund der verlorenen Zeit ist.29 Woran macht sich nun die "Andersheit, in der der Mensch an sich und im allgemeinen, der Mensch, der nun eben nicht der Mensch Jesus ist, in der Zeit ist", deutlich?30 Aussagbar muß diese Andersheit sein, da die Anthropologie nach Barths eigenen Bekundungen nicht ableitbar aus, sondern bloß orientiert ist an der Christologie. Die Andersheit unserer Zeit gegenüber der Zeit Jesu ist - zusammengefaßt gesagt - darin sichtbar, daß uns die Zeit zur Gefährdung unserer Identität wird. 'In der Zeit sein' - das heißt für uns "in diesem Rätsel der Zeit sein".31 Das wird zum einen darin deutlich, daß der Mensch in seinem unaufhaltsamen Lauf zu seinem Ende nicht Herr seiner Vergangenheit ist. Das Vergangene ist erinnerbar - gewiß; aber das vornehmliche Verhältnis des Menschen zu seiner vergangenen Zeit scheint doch das Vergessen zu sein. Und im Vergessen kommt das Vergangene dann zuweilen über ihn.32 Zweitens ist die Zukunft für den Menschen noch mehr "im dunkeln als die Vergangenheit".33 Gerade die Zukunft liegt, je mehr sie verplant wird, außerhalb der menschlichen Möglichkeiten. Und schließlich wird die Rätselhaftigkeit der Zeit des Menschen offensichtlich in bezug auf die "Zeit zwischen den Zeiten"34, in bezug auf die Zeit seiner Gegenwart. Gerade im Blick auf die Gegenwart scheint unser Sein in der Zeit am ungewissensten zu sein. Die Zeit zwischen den Zeiten reduziert sich auf den Augenblick, "in dem niemand mit keiner Macht der Welt sagen kann, daß er verweilen möchte, weil gerade er immer nicht mehr, immer
28 29 30 31 32 33 34
Ebd. Vgl. KDIII/2,616u.ö. KD III/2, 616 AaO. 620 Vgl. aaO. 617f. AaO. 618 AaO. 619
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noch nicht da ist".35 Die menschliche Zeit ist also so beschaffen, daß sie per definitionem die Identität des Ich gefährdet. Der Mensch ist das Wesen, das nie Zeit hat. "Man kann als Mensch - wir reden jetzt vom Menschen an sich und im Allgemeinen - nicht anders als so, in diesem Rätsel der Zeit sein."36 Mit einer Gegenüberstellung unserer Zeit in ihrer beschriebenen Form zu der Zeit Jesu, die in Absetzung von der allgemeinen Zeit so zu entwickeln sein wird, daß sie das Rätsel, das uns unser Sein in der Zeit aufgibt, 'löst', ist es aber auch nach Barth nicht getan. Aus der bloßen Gegenüberstellung "von Mensch und Gott, Geschöpf und Schöpfer, Zeit und Ewigkeit, läßt sich"37 nicht erklären, wie es zu der Situation kommt, daß wir faktisch nie Zeit haben und daß uns unser Sein in der Zeit zu einer Bedrohung unserer Identität wird. Gewiß, so Barth, gebe es Versuche, die dimensionale Gespaltenheit des Lebens und "das beunruhigende Bild des menschlichen Seins in der Zeit so oder so umzudeuten"38 - Versuche, unter die sich für Barth, wie seine andeutenden Bemerkungen zeigen, die platonische Wiedererinnerungslehre, der Heideggersche Begriff der Zeitlichkeit und der Gedanke Schleiermachers von dem erfüllten Augenblick gleichermaßen einfügen lassen. Vielmehr ist die Gegenüberstellung der Zeit Jesu zu unserer Zeit aber so zu denken, daß sie die Kontingenz und das Ungenügen unsere Zeit und unseres Seins in der Zeit verdeutlicht.39 Die Andersheit, in der der Mensch faktisch seine Zeit hat, zu der Zeit Jesu, die die wirkliche und von Gott gewollte Zeit ist, bringt "Gottes Anklage gegen den Menschen, Gottes Urteil und Strafe, des Menschen Existenz unter dem Zorne Gottes" zum Ausdruck.40 Das Sein Jesu ist der personifizierte Einspruch gegen das Sein des Menschen in der Zeit. Im Sein Jesu kommt zum Ausdruck, daß Gott unser Sein in der Zeit anders will, als wir es täglich und allgemein vollziehen. Ist es mit einer bloßen Gegenüberstellung unserer Zeit zur Zeit Jesu also nach Barths eigenem Bekunden nicht getan, will man sich nicht mit der bloßen Behauptung der Andersheit der Offenbarungszeit gegenüber der Zeit des Menschen begnügen, so muß die Herausarbeitung der drei verschiedenen Zeiten - der Offenbarungszeit, Schöpfungszeit und Zeit des verlorenen Menschen - offenbar ein anderes Modell ihrer Beziehung frei setzen. Die Konzentration der KD auf die 'Selbstoffenbarung' Gottes, die in der Funktion, die der Satz 'Gott offenbart sich als der Herr' für die 35 36 37 38 39 40
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Ebd. AaO. 620 AaO. 622 AaO. 622 Vgl. aaO. 623f. AaO. 623
gesamte KD hat, gut zum Ausdruck kommt, läßt das Modell einer paradoxen Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit, Zeit des Menschen und Zeit Gottes als ungenügend erscheinen.41 Dieses Barthsche Modell ist so zu bestimmen, daß die Offenbarungszeit die Dialektik des Gegensatzes von Welt und Gott, Zeit und Ewigkeit im Sinne einer Analogie aller Zeiten mit der 'bewegten Ewigkeit' Gottes sprengt, wobei Barth bemüht ist, diese Analogie in einem unumkehrbaren Gefalle von dem Sein Gottes zu dem Sein der Geschöpfe auszudrücken. 'Analogia fidei' heißt für Barth: "Ähnlichkeit von Gott zum Geschöpf hin, in einer unumkehrbaren Richtung, in einer Herstellung von oben, im Ergriffenwerden des Geschöpfs durch das Wort".42
41 E. Jüngel hat im Anschluß an v. Balthasar (v. Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, 1951,93ff.) die Barthsche Wendung von der Dialektik zur Analogie ausführlich beschrieben. Jüngel zeigt, daß die Abwendung Barths von der 'steilen' Dialektik der frühen Jahre, die im Römerbrief-Kommentar Barths Triumphe feiert, mit initiiert worden ist durch die Anerkennung der zutreffenden Kritik Petersons (E. Jüngel, Von der Dialektik zur Analogie, in: ders., Barth-Studien, Ökumenische Theologie 9,1982, 127ff„ hier 131ff.)· Die Kritik Petersons zeigte für Barth, daß die noch so starke Hervorhebung der 'Transzendenz Gottes ' die Freiheit Gottes gerade einzuschränken droht, wenn sie es bei der Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit, Mensch und Gott beläßt und darin die Theologie gerade nicht theologisch begründet. Die Konzentration der KD auf das 'Deux dixit' ist so als Versuch zu denken, die Begründung der Theologie wirklich theologisch und nicht anthropologisch durchzuführen. An dieser Stelle macht Jüngel in seinem Aufsatz die Differenz zwischen Bultmann/Gogarten auf der einen und Barth auf der anderen Seite hinsichtlich der Kierkegaard-Rezeption deutlich (aaO. 152ff.). Jüngel sieht dabei die Differenz Barths zu seinen früheren Weggefährten darin, daß Barth eine "Existenzdialektik als Verifikationshorizont der Offenbarung Gottes" (173) ablehnt. "Barth bestreitet, daß eine theologisch relevante vortheologische existentiale Interpretation menschlichen Daseins möglich ist, innerhalb deren dann auch der Glaube als Möglichkeit oder gar Notwendigkeit menschlichen Existierens aufgewiesen wird" (176). So gelangt Barth nach Jüngel zu dem 'Modell der Entsprechung'. Zeit wird in Anwendung dieses Modells auf unsere Thematik der Ort der Selbstentsprechung und damit Durchsetzung Gottes. "Konsequenterweise tritt für Barth... an die Stelle der Denk- und Redefigur des Paradoxes immer stärker das hermeneutische Modell der Entsprechung: die Analogie" (179). 42v. Balthasar, Karl Barth 117f.; es versteht sich, daß die Implikationen und Probleme der Analogie-Lehre Barths hier nicht zur Darstellung kommen können. Dazu muß auf die einschlägige und umfangreiche Literatur verwiesen werden.
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3. Die Durchsetzung der Ewigkeit in der Zeit Zur Durchführung kommt die These Barths, die Zeit sei der O r t ' der Selbstentsprechung des ewigen Gottes und damit der Ort, an dem Gott den Menschen dazu überredet, sich selbst in Entsprechung zu Gott zu bringen, in der Schöpfungslehre und Anthropologie.1 In KD ΙΠ/1 spricht Barth zunächst scheinbar ganz vordergründig von der Zeit als der "Existenzform des Geschöpfs".2 Das Bewußtsein der Differenz von Zeit und Ewigkeit gehört dabei ganz offensichtlich zu der Geschöpflichkeit, denn das Geschöpf kann sich selbst negieren. Das zeitlich Seiende kann den Gedanken der Zeitlosigkeit und Zeitenthobenheit denken, aber nicht - leben. Denn der Gedanke der Zeitenthobenheit stellt die 'Form' der Ewigkeit als Einheit und lebendige Bezogenheit der 'Zeitdimensionen' vor, die das zeitlich Seiende nur als getrennte erfahren und haben kann. Die Form der Zeit ist das 'Auseinander' und 'Nacheinander' der Dimensionen. Die Form der Ewigkeit ist in negativer Absetzung davon bestimmt durch Gleichzeitigkeit bzw. 'ewige Gegenwart' 3 . In KD 1/2 sprach Barth von dem 'Deus praesens', also davon, daß Gott in ständiger Gegenwart bei sich selbst ist. So weist die Zeit, die sich als verlorene Zeit in der Unmöglichkeit erweist, das 'Auseinander' der Dimensionen aufzuheben, auf die erfüllte Zeit, auf die Zeitform der Ewigkeit hin.4 Auch für Barth gilt, daß gerade unsere Zeit in ihrer verworrenen Struktur Zeugnis ablegt für eine andere Zeit, "die, anders als sie, als Gottes dem Geschöpf verliehene Zeit keine für dieses verlorene Zeit, sondern reale Form seines wirklichen Lebens sein könnte".5 An dieser Stelle also deutet sich die Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Zeit, 'wirklicher' Zeit der Schöpfung und verlorener Zeit an. Der Mensch müßte nach Barth die Zeit nicht als Bedrohung seiner Identität und als Zeichen der Gewißheit seines Endes erfahren. Allerdings gilt, so betont Barth, diese Unterscheidung nicht außerhalb des Offenbarungsglaubens - oder anders: nicht abseits von der durch die Offenbarung gesetzten Relation von Zeit und Ewigkeit. Die in der Christusoffenbarung gesetzte Annahme der Zeit für die Selbstentfaltung der Ewigkeit Gottes ist Erkenntnis- und Realgrund der Wirklichkeit der Zeit und ihrer Erkenntnis. Die Interpretation der Bedeutung der Gnadenzeit im Blick auf die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Zeit fällt nun aber im 1 2 3 4 5
508
Vgl. V. Balthasar, Karl Barth, 116f. KD III/l, 72 Vgl. aaO. 76 Vgl. aaO. 78 Ebd.
Zusammenhang von KD ΙΠ/1 unterschiedlich aus: einerseits bringt die Gnadenzeit die Wiederherstellung der Schöpfungszeit6 - andererseits wird die Gnadenzeit identifiziert mit der Schöpfungszeit, denn Gottes 'Konzept' ist "durch keinen Fehler des Geschöpfes zu verwirren"7. Drittens gilt, daß Gott "aus unserer verlorenen Zeit seine, die Gnadenzeit" sich selbst "schafft". 8 Danach gilt, daß unsere Zeit vermittels der Zeitwerdung Gottes zur wirklichen Zeit erhoben wird. Viertens wird betont, daß die Offenbarungszeit als die Gnadenzeit das Wesen der Zeit erfüllt, Gott "normalisiert die Zeit". Gott gibt uns damit "unsere Zeit zurück".9 Fünftens schließlich deutet Barth die Beziehung von Gnadenzeit und allgemeiner Zeit als Wende für die Zeit in der Zeit.10 Diese unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses von Gnadenzeit und Schöpfungszeit bzw. Zeit des verlorenen Menschen werden von Barth zusammengefaßt in der Behauptung, die Gnadenzeit sei "Urbild aller Zeiten", dem alle Zeiten zu entsprechen haben.11 Denn schon die Schöpfungszeit muß in Entsprechung zur Gnadenzeit gedacht werden als Entschluß Gottes zur Zeit, die Zeit zur Form auch seiner Ewigkeit zu machen.12 Die "Zeitlichkeit der Schöpfung ist ... die notwendige Entsprechung der Gnade des Schöpfers, sofern diese zwar göttlich und also ewig ist und nun doch zu einem Anderen als Gott, nämlich zum Geschöpf herniedersteigt, um den Verkehr mit ihm, dem Nicht-Göttlichen und also Nicht-Ewigen, in der diesem angemessenen Weise aufzunehmen"13. Die Gnadenzeit bildet sich selbst also in der Schöpfungszeit insofern ab, als die Schöpfung den schlechthinnigen Willen Gottes zur Zeit aufdeckt. Und auch unsere durch die Gnadenzeit 'gewendete' Zeit muß und kann in Entsprechung zur Gnadenzeit gedacht und belegt werden als Zeit für die Ewigkeit - als Zeit, die ihren Sinn nicht in und bei sich selbst sieht, sondern in Beziehung zu Gott. Schöpfungszeit und die Überwindung der verlorenen Zeit können darin in Entsprechung zur Gnadenzeit gedacht werden. "Dann ist aber auch die erste, die eigentliche, die urbildliche Zeit nicht die der Schöpfung, sondern die der Versöhnung, auf die hin die Welt und der Mensch nach dem Willen und durch die Tat Gottes geschaffen sind. Die
6 7 8 9 10 11 12 13
Vgl. aaO. 79f. AaO. 79 Ebd. AaO. 80 Vgl. aaO. 80 AaO. 82 Vgl. aaO. 77 Ebd.
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wirkliche Zeit ist dann primär die Lebenszeit Jesu Christi, die Wende, der Übergang, die Entscheidung, die in seinem Tod und in seiner Auferstehung vollzogen sind, samt der Vorzeit und Nachzeit dieses Geschehens in der Geschichte Israels und in der Existenz der christlichen Kirche".14 Dieses Konzept der Beziehung von Gnadenzeit und Schöpfung bzw. verlorener Zeit bleibt nun bestimmend für die Theologie Barths. Der berühmte Paragraph 47 in K D i n / 2 über den 'Menschen in seiner Zeit' beginnt mit einer die Anthropologie Barths insgesamt charakterisierenden Wendung. Barth stellt sich in diesem Paragraphen die Aufgabe, die spezifisch zeitliche Verfassung des menschlichen Lebens zu analysieren. Gesetzt ist diese zeitliche Verfassung des menschlichen Lebens mit seiner Lebendigkeit. "Als Seele seines Leibes lebt der Mensch" - d.h. findet er sich in Lebensakten und Lebensvollzügen, die Zeit einnehmen, vor.15 Menschliches Leben sieht sich in der Möglichkeit der Einheit der Lebensakte; die Einheit der Lebensakte ist zugleich Bedingung der Möglichkeit von Identität. Die Einheit des Lebens aber vollzieht sich nur in und vermittels der Zeit. Anders als im Nacheinander der Lebensakte ist Identität im menschlichen Leben nicht zu haben. Und so hat der Mensch Zeit als und im Nacheinander seiner Lebensvollzüge. In diesem Sinne ist der Mensch ein zeitliches Wesen. Eine 'theologische Anthropologie' hat diese Verfassung der Zeitlichkeit des Lebens in Rekurs auf die Zeitwerdung Gottes zu analysieren.16 "Der Mensch, über dessen Zeitlichkeit wir uns zu veständigen haben, ist das Geschöpf, dessen Verhältnis zu Gott uns in Gottes Wort offenbar ist".17 So beginnt Barth diesen Abschnitt seiner theologischen Anthropologie mit der Analyse der Zeit Jesu, "um von da aus zu den Sätzen vorzustoßen, in denen das allgemeine christliche Menschenverständnis nun gerade im Lichte des Zeitproblems seinen Ausdruck finden mag".18 Die Lebenszeit des Menschen Jesu deckt dabei auf, wie sich menschliches Leben wirklich vollzieht und zu vollziehen hat coram Deo und coram homine. Die Lebenszeit Jesu wird dabei von Barth unter folgenden drei Gesichtspunkten gedeutet. Zunächst wird die Zeit Jesu als Zeit des Menschen Jesus für Gott interpretiert. Zweitens wird seine Zeit unter dem Aspekt seiner
14 AaO. 82 15 KD III/2, 524 16 Es ist gewiß nicht zufällig, daß Barth gerade in diesem Paragraphen diesen Begriff der Zeitlichkeit vorzugsweise verwendet. Wir sehen darin ein äußeres Zeichen für den Versuch Barths, in diesem Paragraphen eine stille und kritische Auseinandersetzung mit Heidegger zu fuhren. 17 KD III/2, 526 18 Ebd.
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Mitmenschlichkeit entfaltet. Drittens schließlich wird die konstitutive Bedeutung der Zeit Jesu für die Kennzeichnung aller Zeit beleuchtet. Dabei stehen die Ausführungen Barths unter dem Vorzeichen, die Zeit des Menschen Jesus als Zeit Gottes ausdrücklich zu machen. Indem der Mensch Jesus "in seiner Zeit ist, bekommt diese ... im Verhältnis" zu der Zeit des Menschen "den Charakter der Zeit Gottes, den Charakter der Ewigkeit, in dem das Jetzt, das Damals, das Dereinst ineinander sind".19 Anders ist ein Verständnis der Lebenszeit Jesu nicht zu haben.
a) Jesu Zeit als seine Zeit für Gott Mit dieser Wendung versucht Barth nicht etwa den Gedanken zur Ausführung zu bringen, der Mensch Jesus habe ein vollkommenes Gottesbewußtsein gehabt. Jesus ist kein Ideal der Frömmigkeit; sondern diese Wendung 'Jesu Zeit als seine Zeit für Gott' will den Sachverhalt ausdrücken, daß der Mensch Jesus seine Zeit Gott ganz zur Verfügung stellt. Die Lebenszeit Jesu ist die Form, in die Gott den Inhalt seiner ewigen Gegenwart gießt. Der Form nach nämlich ist die Zeit Jesu das, was auch unsere Zeit ist - die Form seines Lebens; "der Mensch Jesus hat wie alle Menschen seine Lebenszeit".20 Die Form des Lebens Jesu ist die Zeitlichkeit. Auch das Leben Jesu unterlag dem 'Gesetz' der Sterblichkeit. Später wird Barth mehrfach darauf hinweisen, daß die 'natürliche' Sterblichkeit des Menschen Jesus Bedingung des Erlösungswerkes ist.21 Auch ihm, dem Herrn der Zeit, ist seine Zeit als begrenzte Dauer seines Lebens gegeben. Nur so können sein Leben und seine Zeit überhaupt Heilsbedeutung gewinnen, daß die Form seines Lebens die allgemeine ist. So eignet auch dem Menschen Jesus als Person die Eigenschaft, die unserem zeitlichen Wesen schlechthin eignet - sein Leben ist bloße Form, es bezieht seinen Inhalt nicht aus sich selbst. Die Zeit, in der wir alle leben, ist nicht nur die reale Bedrohung unserer Identität, sondern vermittelt die Erfahrung des faktischen Identitätsverlustes. Unsere Identität, soweit geht Barth, ist uns mit der Zeitlichkeit als der Form unseres Lebens schlechthin versagt, denn wir haben die Zeit nur als inhaltsleere Form unseres Lebens.22 So liegt der Inhalt unseres Lebens nicht in ihm selbst. Der Inhalt des Lebens Jesu ist die göttliche Gegenwart. Daß dieser Inhalt aber in diesem konkreten Leben zur Darstellung und Erscheinung kommt 19 20 21 22
AaO. 528 Ebd. Vgl. KD III/2, 729ff„ 762f. Vgl. KD 1/2, 55; III/l, 73; III/2, 554f„ 619 u.ö.
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daran hängt nicht weniger als die Möglichkeit der Erfüllung der Zeit überhaupt. "Man abstrahiere von seiner Zeit (sc. der Lebenszeit Jesu), so verliert man auch diesen Inhalt seines Lebens."23 Worin aber nun wird dieser Inhalt des Lebens Jesu, der "den Charakter der Ewigkeit"24 trägt, sichtbar? Nach Barth keineswegs in der Hingabe oder der Demut des 'historischen' Jesus. Vielmehr hängt für Barth alles an der gläubigen Annahme der Ostergeschichte', der "Geschichte der 40 Tage zwischen Jesu Auferstehung und Himmelfahrt".25 Es ist diese Geschichte, die allein die in der Person Jesu offenbar werdende Einheit von zeitlicher Form und ewigem Inhalt gewährleistet und darstellt. Es hängt das gesamte Verständnis des Neuen Testamentes an der Annahme dieses Glaubens, daß "der Mensch Jesus in dieser Zeit offenkundig in der Weise Gottes unter ihnen (sc. den Jüngern) gewesen war".26 Es versteht sich von selbst, daß diese These eine fundamentale Kritik an dem Programm der Entmythologisierung impliziert. Diese Kritik trägt Barth in diesem Zusammenhang vor.27 Die Einwände Barths gegen die Interpretation des Ostergeschehens als 'Deutung des Lebens Jesu' und Entstehung des Glaubens an den Auferstandenen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: - Sätze christlicher Theologie sind für Barth nicht bloße Aussagen über das sich darin ausdrückende und sich selbst verstehende gläubige Bewußtsein, sondern sie bestimmen das Sein des "vom Menschen verschiedenen ... Gottes".28 - Das Kriterium der 'historischen Analogie' entscheidet nicht über die Möglichkeit eines geschichtlichen Ereignisses. Denn andernfalls würde sich die Theologie in Abhängigkeit von unreflektierten Voraussetzungen 'moderner historischer Wissenschaft' begeben.29 - Das 'moderne Weltbild' kann nicht oberstes Kriterium für die Akzeptanz christlicher Aussagen sein. In Anspielung an eine Äußerung Bultmanns formuliert Barth mit spitzer Feder, man könne durchaus Radio hören und zugleich an den vom Tode auferweckenden Gott glauben.30 An der Behauptung, die Osterzeit sei die Zeit unmittelbarer und ungebrochener Einheit von Ewigkeit - ewigem Inhalt - und menschlicher Zeit, 23 24 25 26 27 28 29 30
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KD III/2, 528 Ebd. AaO.529 AaO.537 Vgl. aa0.531ff. AaO.534 Vgl. aaO. 535 Vgl. aaO. 536
hängt für Barth die Möglichkeit nicht nur der Analyse menschlicher Zeit, sondern auch die Möglichkeit theologischer Anthropologie überhaupt. Schon die Jünger und alle, denen der Auferstandene erschien, gingen davon aus, daß "der Mensch Jesus in diesen Tagen offenkundig in der Weise Gottes unter ihnen war".31 "Hier, in diesem Geschöpf, in diesem Menschen, indem dieser Mensch seine Lebens- und Sterbenszeit und darüber hinaus seine Offenbarungszeit hatte, hat Gott, der Schöpfer, der Herr, jetzt schon Zeit von seiner Zeit, ewige Zeit, gehabt".32 Aufgrund dieser Einsicht kann nun auch die Lebenszeit Jesu 'vor Ostern' nicht mehr so betrachtet werden, als sei sie als Lebenszeit des Menschen Jesus unabhängig von dem Ostergeschehen. Die Einsicht darin, daß das Ostergeschehen die Einheit von ewigem Inhalt und zeitlicher Form in Gestalt eines einzelnen Lebens vorstellig macht, muß fruchtbar gemacht werden für eine Deutung der Zeit schlechthin, denn es ist der ' Herr der Zeit' - der Deus praesens, der sich selbst in der Zeit für die Zeit entscheidet. Diese Zeit, die sich Gott für den Menschen Jesus genommen hat, kann der Zeit schlechthin nicht mehr verloren gehen. Im Blick auf das Leben des Menschen Jesus bedeutet dies, daß sein gesamtes Leben unter dem Vorzeichen der Ewigkeit steht. "Gerade die Glorie des Auferstandenen war ja die Glorie des von Galiläa hinauf nach Jerusalem ziehenden und in Jerusalem gekreuzigten Jesus von Nazareth: Die Glorie seiner menschlichen Person, seiner menschlichen Worte und Werk."33 In diesem Zusammenhang - so macht Barth geltend - fällt das erhellende Licht auf das Verständnis des Lebens Jesu wirklich von Ostern her. Die Osterzeit ist "die Zeit der Offenbarung des Geheimnisses der ihr vorangehenden Zeit des Lebens und Sterbens des Menschen Jesus".34 Die Bestimmung der Zeit Jesu von der in den Erscheinungen des Auferstandenen für Barth ansichtig werdenden unaufhebbaren Einheit von Ewigkeit und Zeit her bedeutet nur eine Qualifizierung der Zeit überhaupt. Daß eine bestimmte Lebenszeit eines bestimmten Menschen den 'Stempel' der 31 AaO.538 32 AaO. 546 33 KD III/2, 546 34 Ebd.; an dieser Stelle ist auffällig, daB Barth nun doch in scheinbarer Übereinstimmung mit Bultmann das Leben Jesu beendet sieht mit seinem Tod. Die Nähe der Deutung der Osterzeit als Offenbarung des Geheimnisses der Lebenszeit Jesu zur Bultmannschen Deutung ist greifbar. Wenig später spricht Barth sogar von dem Leben Jesu bis zu seinem Tod als dem 'ersten Leben Jesu' (!) in Unterschiedenheit von seiner Erscheinung als Auferstandener (vgl. aaO. 567). Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Barthschen Theologie, daß zuvor radikal abgelehnte Positionen an späterer Stelle implizit wieder auftauchen. Barth differenziert selbst zwischen Lebenszeit Jesu und Offenbarungszeit, die streng genommen seine Erscheinung als Auferstandener meint; eine Differenzierung, die im Blick auf Bultmann radikal kritisiert worden war.
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Ewigkeit bekam, das betrifft nun alle Zeiten. "Indem es geschah, daß Gott in seinem Wort Zeit für uns hatte, indem inmitten aller anderen Zeiten einmal auch diese, Gottes ewige Zeit war, sind alle anderen Zeiten zu konkret beherrschten, nämlich durch ihre Nachbarschaft mit dieser besonderen Zeit beherrschten, begrenzten und bestimmten Zeiten geworden".35 Daß die Zeitlichkeit des Lebens Kennzeichen seiner Entfernung und unaufhebbaren Unterschiedenheit von der Ewigkeit sein soll, ist nun schlechthin nicht mehr zu behaupten. Durch die Erwählung einer bestimmten Zeit ist nicht nur die Wirklichkeit der Zeit überhaupt gesichert, sondern darüber hinaus ihre Relativität. Nun steht es fest: "Es gibt keine absolute Zeit". "Es gibt keine mit Gott rivalisierende, Gott gewissermaßen Bedingungen stellende Zeit an sich".36 Das Ganze, "was wir als Zeit zu kennen meinen", ist nun im Blick auf die Lebenszeit Jesu neu zu bestimmen. Die Zeit "hat ihren Sinn schon jetzt nicht in sich selber", sondern in der besonderen Zeit, die sich Gott für sie genommen hat.37 Es gibt keine Zeit mehr, die nicht in Analogie zur Zeit Jesu "die Spuren dieser ewigen Zeit"38 in sich trägt.
b) Jesu Zeit als Zeit für den Menschen In und mit ihrem ewigen Inhalt ist die Zeit Jesu - Jesu Lebenszeit - Zeit für alle Menschen. Indem Jesus Gott in seinem Leben Raum gibt, hört seine Zeit auf, "exklusiv seine Zeit zu sein: wird seine Zeit zur Zeit für Gott und eben damit zur Zeit für alle Menschen".39 Auch in diesem Zusammenhang verzichtet Barth auf den an der Darstellung des Lebens Jesu orientierten Nachweis, daß Jesu Zeit gänzlich unter dem Motto seiner Mitmenschlichkeit, seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen steht. Vielmehr gilt auch gerade hier: Jesu Zeit ist qualifiziert dadurch, daß sie Gott für sich in Anspruch nimmt. So ist die Zeit Jesu insofern Zeit für die Menschen, als sie als Zeit des 'Deus praesens' qualifiziert ist. Barth deutet dies unter Anwendung der "bekannten drei Dimensionen jedes Zeitbegriffs"40 auf die Lebenszeit Jesu an. Dabei ergibt sich, daß die Schranken der Zeit für die Lebenszeit Jesu nicht in Geltung stehen. Daran wird Barth dann einsichtig, daß die Qualifizierung der Lebenszeit Jesu durch die Gegenwart des 'Deus praesens' in ihr unbedingt gilt. Gewiß - auch das Leben Jesu hat seinen
35 36 37 38 39 40
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AaO.547 Ebd. Ebd. Ebd. AaO. 527 AaO. 556
Anfang, seine bestimmte Dauer und sein Ende. Aber die Schranke seines Lebens macht nicht dessen Begrenzung aus, sondern erweist sich darin, daß sein Leben und seine Zeit das "Tor" zur Ewigkeit sind.41 Die Zeit Jesu war trotz ihres konkreten Anfanges niemals bloß 'noch-nicht'! "Es war also schon die Zeit vor seiner Zeit... auch seine Zeit, die Zeit seines Gewesenseins".42 Die Dauer seines Lebens ist nicht beschränkt auf seine leibliche Gegenwart. Bestimmt durch das 'Deus praesens' ist seine Lebenszeit allen Zeiten gegenwärtig. Und schließlich ist seine Lebenszeit niemals bloße Vergangenheit und 'Gegenstand' des Vergessens. Seine konkrete, ihm bemessene Zeit ist qualifiziert durch die Gegenwart Gottes in ihm und so auch im Blick darauf, daß seine leibliche Gegenwart beendet ist, zu denken als Gottes Zeit43. Worin liegt nun die Besonderheit des Lebens Jesu in seiner Bedeutung für alle Menschen? In nichts anderem als darin, daß nun mit keiner anderen Ewigkeit Gottes mehr gerechnet werden kann als mit derjenigen, in der das Leben Jesu - seine Zeit - eingeschlossen ist. Es gibt nun keine zeitlose Ewigkeit mehr.44
c) Jesu Zeit als Bezeugung der Bestimmung aller Zeiten In ihrer Qualifizierung als Gottes Zeit in der Zeit eines besonderen Menschen wird Jesu Zeit zur Zeitwende, in dem Sinne, daß die Zeit schlechthin neu qualifiziert wird. Er ist die Einheit von Gottes Gnade und des Menschen Dankbarkeit.45 "Die Frage Gottes an alle Menschen und die Frage aller Menschen an Gott ist es ja, die Jesus in seinem Leben (im Dienste Gottes und darum auch im Dienste der Menschen) beantwortet und entscheidet. ,"46 Die Argumentation Barths läßt sich auf einen prägnanten Satz zusammenfassen: "Der ewige Inhalt Jesu Leben wird zum Inhalt aller Zeit wegen des ewigen Inhaltes. Der Mensch ohne Gott - die Zeit ohne Ewigkeit - sind
41 Vgl. aaO. 557 42 Ebd. 43 Barth versucht diese Äußerungen zu begründen durch eine 'gewagte' oder - 'genial unabhängige' Exegese von Apk. 1,8; diese Stelle wird für Barth zum entscheidenden biblischen Beleg für seine Deutung der Lebenszeit Jesu vom 'Osteraxiom' her (aaO. 558ff.). Der Begriff 'Osteraxiom' als Hinweis auf die Voraussetzungen der Barthschen Deutung der Lebenszeit Jesu taucht explizit auf Seite 573 (aaO.) auf. 44 Vgl. aaO. 573 45 Vgl. aaO. 527 46 Ebd.; Hervorhebung von mir
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Abstraktionen, weil die Ewigkeit nicht ohne Zeit ist. "Wie kann also irgendwo ein weiterer Zeitteil, in welchem er noch nicht wiedergekommen ist, etwas Anderes sein als wiederum ein Teil seiner Zeit und insofern wiederum erfüllte Zeit?"47 Es gibt nun schlechthin keine Zeit mehr, die nicht erfüllte Zeit, also Zeit Jesu wäre. Unsere Zeit nun in Unabhängigkeit von der Zeit Jesu als Zeit gegen und ohne Gott zu leben, so betont Barth, ist uns nun unmöglich geworden. Gewiß betont Barth auch in diesem Zusammenhang - allerdings eher beiläufig - den Verheißungscharakter, den die Zeit Jesu für die Zeit aller Menschen hat.48 Aber diese Passagen stehen doch selbst unter dem Zeichen, daß mit Jesu Lebenszeit die Entscheidung für alle Zeit gefallen ist. In diesem Sinne betont Barth auch dort, wo er die Verheißung des Lebens Jesu für alle Menschen hervorhebt, die Unmöglichkeit, die Zeit nur noch als einen Streit um ihren Ewigkeitsbezug zu verstehen. Allenfalls mag er die Zeit zwischen dem Leben Jesu bzw. seiner Auferstehung und seiner Wiederkunft als Unterbrechung seiner unmittelbaren Gegenwart denken.49 Die so durch das Leben und die Zeit Jesu qualifizierte Zeit des Menschen gilt es nun als solche zu analysieren. Dies unternimmt Barth in seinem Abschnitt über die 'gegebene Zeit'50. Dieser Abschnitt wird zum Exemplar der Deutung der Wirklichkeit vom Christusereignis her. Die Analyse der menschlichen Zeit darf nicht hinter die Erkenntnis zurückfallen, daß die gegebene Zeit des Menschen unter der Herrschaft der Zeit Jesu steht. So muß die Anthropologie auch in diesem Zusammenhang "an der Christologie orientiert" sein; aber dennoch kann sie "nicht aus der Christologie abgeschrieben werden".51 Deshalb geht es Barth zunächst einmal darum, die Andersheit unserer Zeit gegenüber der Zeit Jesu kenntlich zu machen. Diese Andersheit wird deutlich in folgenden Hinsichten. Zum einen vollzieht sich unser Leben in der unaufhaltsamen Bewegung von der Vergangenheit zur Zukunft, von dem 'Noch-nicht' zum 'Nicht-mehr'. 52 Unsere Vergangenheit können wir nicht festhalten, unsere Zukunft nicht vorwegnehmen; und unsere Gegenwart wird uns zur Erfahrung der unaufhaltsamen Fluchtbewegung unseres Lebens. Wir erleben, so stellt Barth zweitens fest, unser Sein in der Zeit als
47 48 49 50 51 52
516
Aa0.590 Vgl. aaO. 586f. Vgl. aaO. 587 Vgl. aaO. 616ff. AaO. 616 Vgl. aaO. 617
Gefährdung unseres Lebens. "Man kann als Mensch... nicht anders als so, in diesem Rätsel der Zeit sein".53 Nun sind wir uns, so stellt Barth fest, im Blick auf unsere eigene Zeit aber nicht nur der Andersheit dieser Zeit im Vergleich zur Zeit Jesu bewußt, sondern wir wissen um den Einspruch, der von der Zeit Jesu her gegen unser Sein in der Zeit erhoben ist. Gerade in der Analyse der menschlichen Zeit ist einsichtig zu machen, was es bedeutet, daß die Wirklichkeit der Zeit für eine christliche Theologie ihr 'Bestimmtsein' durch die Ewigkeit Gottes ist. Die Analyse der menschlichen Zeit gelangt erst so zu ihrer wahren Tiefe, wenn sie die Erkenntnisse der Christologie fruchtbar macht. Es hat sich so zu bewähren, daß in Jesu Lebenszeit die Aufdeckung des "wirklichen Seins des Menschen in der wirklich von Gott geschaffenen... Zeit"54 stattfindet. Die Anthropologie hat als eine 'theologische Anthropologie' in ihren sämtlichen Analysen einzulösen, daß die Christologie das wahre Menschsein aufdeckt. Zweierlei deckt die Christologie ohne Frage auf. Erstens ist die Zeit den Menschen gegeben. Zeit ist keine Verfassung, kein Geschöpf des Subjektes durch sich selbst.55 Zweitens ist die Zeit dem Menschen vorgegeben. 'In der Zeit zu sein' ist die Verfassung, in der sich der Mensch vorfindet.56 Des Menschen Zeit verweist auf das Gegebensein des Lebens und so real auf den Schöpfer des Lebens. Mit Heidegger meint Barth feststellen zu können, daß der Mensch seine Zeit nur in engster Verbindung mit sich selbst und seinem "Sein und Tun" sehen kann; "denn wir sind und wirken nicht anders als in dieser Verbindung. Wir können uns aber unmöglich einreden, daß wir selbst es sind, die diese Existenzform schaffen oder irgendwoher uns nehmen oder daß wir selbst uns auch nur in diese enge Verbindung mit ihr versetzen und uns in ihr erhalten könnten".57 Die Grundeinsicht in die Gegebenheit und Vorgegebenheit der Zeit als Existenzform des menschlichen Lebens beschreibt das Leben des von Gott gesetzten Menschen, nicht eine vermeintliche 'Natur' des Menschen ohne Gott.58 "Es ist in aller Verborgenheit schon das Brausen des Heiligen Geistes, von dem wir, wie taub wir dafür sein mögen, einfach damit umgeben sind, daß wir uns mitten in der Bewegung der Zeit befinden oder in und mit unserem Leben, solange wir es haben, auch diese Bewegung
53 54 55 56 57 ab. 58
Aa0.620 AaO. 625 Vgl. aaO. 628 Vgl. aaO. 633 AaO. 633; mit dem letzten Satz dieses Zitates hebt sich Barth wiederum von Heidegger Vgl. aaO. 635
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selbst vollziehen müssen".59 Wenn also Barth 'Menschlichkeit' mit 'Zeitlichkeit' schlechthin identifiziert60, so ist damit nicht eine gleichsam neutrale Bestimmtheit menschlichen Lebens angesprochen; es handelt sich dabei nicht um eine bloße anthropologische 'Tatsache', sondern die Aussage über die Zeitlichkeit des Menschen ist auf dem Hintergrund der Erkenntnis entworfen, daß "der Mensch ist, indem er Geist hat, d.h. indem er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird".61 Die Aussage von der Gegebenheit und Vorgegebenheit der Zeit ist also auf dem Hintergrund einer grundsätzlichen pneumatologischen Anthropologie entworfen.62 Der Mensch hat nicht von sich aus Zeit, sondern er hat Zeit, "indem er sie bekommt".63 Nur so ist für Barth auch im Blick auf die Analyse der Zeitlichkeit des Menschen das Gefalle aller anthropologischen Aussagen von der Christologie her berücksichtigt. Allerdings beruht diese die Barthsche Anthropologie bestimmende Prämisse auf dem von Barth verschiedentlich thematisierten 'Rätsel unserer Zeit'. Oder anders gesagt: die christologische Begründung der Anthropologie baut auch im Blick auf die Zeitanalyse auf eine Interpretation der 'natürlichen Zeit' auf, die die Zeit in völliger Beziehungslosigkeit zur Ewigkeit Gottes sieht. Auch hier bewährt sich, daß die Theologie der Offenbarung Barths "einen sozusagen natürlichen Atheismus zur Voraussetzung hat".64
59 Ebd. 60 Vgl. z.B. aaO. 629 61 AaO. 633 62 Darauf hat besonders K. Stock, Anthropologie der Verheißung. Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, BEvTH 86, 1980, besonders 147ff. und 175 hingewiesen. Stock sieht Barth in dem großartigen und einzigartigen Bemühen, die Anthropologie auf die Christologie zu begründen und damit eine wirklich theologische Definition des Menschen zu erreichen, ständig neu vor das Problem einer Unterscheidung zwischen Christologie und Anthropologie, Versöhnung und Schöpfung gestellt. Um diese notwendigen Unterscheidungen durchzuhalten, sieht Stock bei Barth das Konzept einer 'Anthropologie der Verheißung'. Die Durchführung dieser Anthropologie der Verheißung bei Barth beurteilt Stock als aporetisch, weil sie die Gnade zum Prinzip erhebt. Mit Barth sieht Stock die Notwendigkeit und Richtigkeit des Unternehmens einer christologischen Begründung der Anthropologie. Nicht notwendig ist für Stock die damit bei Barth verbundene Umwandlung aller schöpfungstheologischen Aussagen in christologische Aussagen (Stock, aaO. 236 u.ö.). Daß alle Aussagen über den Menschen per se christologische Züge haben, ist für Stock das "Grundproblem der christologischen Anthropologie" (236). Gerade die Versöhnung des Menschen ist darin nicht angemessen gedacht, weil nicht gezeigt werden kann, wie der mit sich und seiner Welt praktisch unversöhnte Mensch durch das Christusgeschehen versöhnt zu werden vermag. So ertiebt Stock anschließend an seine Analyse der Barthschen Texte die Forderung nach einer geschichtlichen Anthropologie, die auch einer Urstands- und Schöpfungslehre zu ihrem Recht verhelfen kann. (239f.). 63 KDIII/2, 633 64 Stock, Anthropologie der Verheißung, 240
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Die These von der Rätselhaftigkeit unserer Zeit ist also die negative Folie für die grundlegende Behauptung Barths, Zeit sei schlechthin nicht ohne Ewigkeit zu denken. "Wer 'Mensch' sagt, sagt 'Zeit' und hat eben damit, ob er es weiß und will oder nicht, zuerst grundlegend 'Gott' gesagt".65 Diese Aussage gilt für eine christologisch begründete Analyse der Zeit des Menschen, die wiederum profiliert wird auf dem Hintergrund derjenigen Interpretation der Zeit, in der diese als gleichsam 'natürliche Verfassung' des Lebens gesehen wird, die durch sich selbst schlechthin unbestimmbar ist. Die These von der Rätselhaftigkeit der Zeit wiederum profiliert Barth ausschließlich ( ! ) auf dem Hintergrund einer knappen Analyse der vulgären Zeit bzw. des vulgären Zeitbegriffs.66 Die Behauptung Barths also, die unabhängig von der Relation zur Ewigkeit gedachte Zeit sei schlechthin nichts anderes als die unendliche Folge unausgedehnter Augenblicke, die für den Menschen sein Sein in der Zeit zum Rätsel machen, bedingt die Barthsche These, die wirkliche Zeit als die Einheit der Zeitdimensionen sei exklusiv die Zeit Gottes. So zeigt sich, daß die christologisch begründete Analyse der Zeitlichkeit des Menschen bei Barth auf der 'Absolutsetzung' der vulgären Zeit als natürliche Verfassung des Menschen aufbaut. Das entspricht dem Sachverhalt, daß Barth an einer ausschließlich christologischen Begründung derjenigen Verfassung des Menschen interessiert ist, die den Menschen in der Möglichkeit und Fähigkeit seiner selbst sieht, seiner Zeit und ihrem Lauf Einhalt zu gebieten. Kann es nämlich aufgedeckt werden, wie Barth es möchte, daß menschliche Zeit faktisch gar nichts anderes ist als die Flucht und der Verfall der Zeit, so läßt sich auf diesem Hintergrund leicht die Zeit Jesu als Zeitenwende profilieren. Müßte und könnte aber einsichtig gemacht werden, daß auch menschliche Zeiterfahrung nicht auf die Erfahrung des Verlustes an Zeit reduzierbar ist, so müßte der mögliche 'Ewigkeitsbezug' der Zeit differenzierter entwickelt werden, als Barth dies selbst tut. Gewiß will Barth die Zeit Jesu als Verheißung für menschliche Zeiterfahrung entwerfen.67 Aber Barth dringt mit diesem Anliegen doch nicht durch, weil er die Schöpfungszeit faktisch als Versöhnungszeit faßt - wodurch menschliche Zeit schlechthin die Zeit der Sünde und des Verfalls ist und bleibt und eben nur als Zeit Gottes für ihn gewendete Zeit ist. Aus der Identifizierung von Schöpfungszeit und Versöhnungszeit werden die Widersprüchlichkeiten des Barthschen Textes verstehbar. Diese Wider-
65 KDIII/2, 634 66 Vgl. aaO. 619ff. 67 Vgl. z.B. aaO. 626 u.ö.
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spriichlichkeiten spiegeln sich am deutlichsten in dem doppelten Gebrauch des Begriffes des 'wirklichen Menschen', der einerseits der Mensch Jesu und damit der ganz von Gott her gedachte Mensch ist, andererseits der radikal von Gott entfernte Mensch.68 Einerseits betont Barth in Rekurs auf die Offenbarungszeit, daß die Zeit als Lebensform des Menschen in sich Hinweis auf Gott ist, auf das "Lob Gottes".69 "Gottes Wille und Tat ist ihr Geheimnis; der Schöpfer, der sich durch unsere Sünde nicht zum Narren halten, nicht irre machen läßt ...".70 Schon diese letzte Wendung zeigt die Deutung der Schöpfungszeit von der Offenbarungszeit her an. Zum anderen gilt: des Menschen Sein in der Zeit steht schlechthin unter dem Bann und Fluch der verfallenen Zeit, die ihm den Lebensraum nimmt.71 Diese Widersprüchlichkeit aber gilt für Barth nur scheinbar. Sie liegt im Gefalle der Barthschen Anthropologie überhaupt. Sie ist bedingt durch den Entwurf der theologischen Anthropologie von der Christologie her - und zwar in der spezifischen Durchführung dieses Entwurfes, der die Schöpfungslehre aus der Christologie entfaltet. So wird die Zeit als Existenzform des geschaffenen Menschen - und das heißt als Existenzform des zum Bündnispartner Gottes geschaffenen Menschen - schlechthin zur Zeit Christi. Die Zeit des dieser Bestimmung widersprechenden Menschen wird anthropologisch als unmögliche Möglichkeit qualifiziert. Die Berechtigung für diese Vorgehen versucht Barth, wie angedeutet, erstens dadurch zu erweisen, daß er alle menschliche Zeiterfahrung überhaupt unter den Begriff der 'vulgären Zeit' subsumiert. Zweitens schließlich versucht Barth in einer Auseinandersetzung mit Heidegger aufzudekken, daß die Behauptung, der zeitlich verfaßte Mensch könnte kraft seiner Zeitlichkeit die Identität seiner selbst in der Zeit hervorbringen, falsch ist und an der Verfassung des wirklichen Menschen vorbeigeht. Dieser gleichsam negative Beweis für die Berechtigung seines Vorgehens in seiner Anthropologie soll nun im folgenden nachgezeichnet werden.
68 Dies ist besonders von Chr. Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: Anthropologie als Thema der Theologie, hg. von H. Fischer, 1978, 39ff., besonders 49f. hervorgehoben worden; Frey konnte sich dabei schon auf Brunner beziehen. 69 KD III/2, 636 70 Ebd. 71 Vgl. aaO. 620f.
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4. Die Unmöglichkeit der Identität des Menschen in seiner Zeit Zur Heidegger-Auseinandersetzung Karl Barths Der Zusammenhang der nun folgenden Ausführungen ist kurz zu resümieren. Barth hatte den Abschnitt über die Zeit, die dem Menschen gegeben ist - dieser Abschnitt selbst steht wiederum in der Folge der Ausführungen über die Zeit der Offenbarung - begonnen mit der These, der Mensch sei so in der Zeit, daß er in ihr keinen Halt gewinnen könne. Der Mensch wird des Rätsels seiner Zeit nie Herr. In diesem Sinne ist die Ze jt des Menschen seine verlorene Zeit. "Das ist unser Sein in der Zeit".1 Femer hatte Barth im Gefolge dieses Paragraphen 47 seiner KD aufgedeckt - im Rekurs auf die Analyse der Zeit des Menschen Jesus -, daß die Zeit Jesu als die Zeit eines konkreten Menschen nicht nur das Geheimnis aller menschlichen Zeit, sondern darüber hinaus auch die Wirklichkeit der menschlichen Zeit aufdeckt. In der Zeit Jesu wird ansichtig, daß die wirkliche und von Gott geschaffene Zeit in sich selbst auf die schöpferische Ewigkeit Gottes verweist. So wird die Weise, in der der Mensch Jesus in seiner Zeit ist, dem unter Zeitverlust klagenden Menschen zur Anklage. "Das Sein des Menschen Jesus in der Zeit hat aber diese aufdeckende ... Kraft darum, weil die Ungeheuerlichkeit des allgemeinen menschlichen Seins in der Zeit in ihm überwunden ist".2 Insofern das Leben Jesu den Stempel der Ewigkeit Gottes hat, bringt es nicht etwa die Idee wahren Menschseins zur Geltung, sondern manifestiert die von Gott gewollte Zeit. Somit ist das Leben Jesu in seiner Zeit nichts anderes als "Gottes Gericht über den Menschen".3 "Die Existenz des Menschen Jesus in der Zeit verbürgt uns, daß die Zeit als Existenzform jedenfalls des Menschen von Gott gewollt und geschaffen, von Gott den Menschen gegeben und also wirklich ist".4 In diesem Zusammenhang gelangt Barth, wie wir sahen, zu der Behauptung, die Zeit als Existenzform sei Hinweis auf den Ewigkeitsbezug der Zeit.5 In diesem Sinne also bedeutet für Barth die Zeit als Existenzform des Menschen seine unverlierbare Beziehung zu Gott, deren Unverlierbarkeit die Einheit Gottes mit dem Menschen Jesus verbürgt. Soweit - so gut. Deutlich wird aus diesen Ausführungen die Gegenüberstellung von menschlicher Zeit und Zeit Jesu, wobei diese Gegenüberstel1 KDIII/2, 619 2 AaO. 625 3 AaO. 623 4 AaO. 628 5 Vgl. aaO. 634, wo Barth davon spricht, daß mit der Nennung des Begriffs 'Zeit' 'Gott' immer mitgesagt sei. Vgl. zu dieser Aussage Stock, Anthropologie der Verheißung, 206; Stock weist im übrigen darauf hin, daß der Begriff der Existenzform von Barth aus der lutherischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts entlehnt ist (ebd.).
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lung von Barth nicht im Sinne einer 'natürlichen' Dialektik von Schöpfer und Geschöpf, Zeit und Ewigkeit gedacht wird. Vielmehr schärft Barth ein, daß die Zeit Jesu als ratio essendi und cognoscendi aller Zeit zu denken ist und so die menschliche Zeit als eine Form der Zeit aufdeckt, die den wirklichen Sinn der Zeit nicht außer Kraft zu setzen vermag. Die Zeitlehre Barths entpuppte sich darin als hervorragendes Exemplar der konsequenten christologischen Deutung der Wirklichkeit. Des Menschen verfallendes Sein in der Zeit kann die Ausrichtung aller Zeiten auf die schöpferische Ewigkeit Gottes "nicht durchkreuzen" "und seine (sc. Gottes) Schôpfertat nicht rückgängig machen".6 Es bedarf nun nach Barth einer wiederholenden Interpretation des menschlichen Seins in der Zeit, weil die Anthropologie noch unterschieden bleibt von der Christologie. Kann von der gewonnenen Einsicht her, daß Jesu Zeit die natürliche Zeit aufdeckt und ist, daran festgehalten werden, daß unser Sein in der Zeit verfallendes Sein ist? Die von Barth unternommene wiederholende Interpretation der 'vulgären Zeit' enthält eine stille Auseinandersetzung mit Heideggers 'Sein und Zeit'.7 Der impliziten Heidegger-Auseinandersetzung kommt u.E. fundamentale Bedeutung für die Begründung der christologischen Zeitlehre Barths zu; denn dieser Abschnitt begründet negativ, warum im Rahmen einer theologischen Anthropologie eine Zeitlehre allein christologisch begründbar ist. Denn eine allgemeine Anthropologie kann eine Zeitlehre nur immer so entwickeln, daß sie über die Probleme und Aponen der vulgären Zeit nicht hinauskommen kann. Die Identität des Menschen in seiner Zeit kann somit nach Barth nicht gedacht werden, wenn das endliche Subjekt als Konstituens der Zeit gedacht wird. Dies zeigt Barth nun folgendermaßen: a) Das Sein des Menschen in der Zeit "heißt ja zunächst einfach"8, daß er seine Gegenwart je und je zwischen seiner Vergangenheit und Zukunft
6 AaO. 636 7 Mit dieser Feststellung nehmen wir eine Anregung von Ch. Frey, Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: Anthropologie als Thema der Theologie, hg. von H. Fischer, 1978, 39ff., 47f. auf. Frey sieht in der Zeitanalyse Barths den schlagenden Beweis dafür, daß Barth gegen manchen Anschein im ständigen "Gespräch mit der neuzeitlichen Subjektivität" stand (aaO. 46), indem er die christologisch begründete Zeitlehre entwickelte. Frey gibt die Position Barths, auf deren Hintergrund er seine 'Zeitlehre' entwickelt, folgendermaßen wieder: "Zeithaftes Ich ist wirkliches Ich, es kennt nicht die ewige Präsenz des sich selbst gleichen transzendentalen Ich, die es erlaubte, Strukturen von Erkenntnis und Sein zu begründen" (aaO. 48). Frey weist selbst nicht ausdrücklich daraufhin, aber es ist deutlich, daß in dieser Position die Heideggersche Kritik an Kant erkennbar ist. 8 KDIII/2, 636
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suchen und finden muß. Die Gegenwart als das 'Jetzt' zwischen 'Nochnicht' und 'Nicht-mehr' will von dem Menschen immer wieder neu erkämpft werden. "Je jetzt bin ich oder bin ich nicht, habe ich oder habe ich nicht, ... bin ich froh oder traurig".9 In der Gegenwart entscheidet das Dasein über sich selbst, aber steht es auch durch sich selbst auf dem Spiel. Denn in der jeweiligen Gegenwart wirft das Dasein ein Licht auf seine Vergangenheit und Zukunft; "je von meiner Gegenwart her sehe und verstehe ich mein Sein in der Zeit als das Ganze des von mir eben jetzt unterschiedenen, in meinem Jetzt sich eben berührende Vorher und Nachher."10 Kurz: In der Gegenwart ist das Dasein je neu vor die Frage seiner möglichen Selbstgewißheit gestellt. Ob das Dasein wirklich ist oder immer schon ins Nichts gefallen ist - das entscheidet sich in der Gegenwart. So ist die Gegenwart "so etwas wie die Grundform unserer Zeit überhaupt".11 "Die Bedrohung unseres Seins gerade in der Gegenwart ist... eindrucksvoll und greifbar".12 In der jeweiligen Gegenwart wird über das Ganze unseres Seins in der Zeit entschieden. Nun wird sich aber das Dasein, das sich selbst in der Zeit seiner 'Ständigkeit' vergewissern muß, seines 'Selbst' doch nie in einem absoluten Sinn gewiß werden können. Das ist nun einmal die menschliche Situation: sein Sein unter dem ständigen Zwang der Selbstvergewisserung und der gleichzeitigen Erfahrung des Scheiterns darin, sich seiner selbst unmittelbar und völlig gewiß werden zu können. Mit und in seinem Lebensvollzug steht dem Menschen das Ganze seines Seins in der Zeit ständig neu auf dem Spiel. Das ist die Weise, in der der Mensch Gegenwart erfährt. Diese Erfahrung nimmt die Theologie auf. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung ist es nämlich nach Barth plausibel, wenn sie eigentliche Gegenwart - und das bedeutet: Gegenwart, "in der ... auch das Jetzt Dauer und Ausdehnung hat"13 - als Gottesprädikat denkt. Diese Einsicht aber verdankt sich nicht der Analyse menschlicher Zeit, sondern dem Hinblick auf das offenbare Sein Gottes. Dieser Blick auf das Sein Gottes in dem Leben des Menschen Jesus erhellt, daß Gott seine Gegenwart nicht als 'abstrakte Ewigkeit' hat, sondern als "Ewigkeit seiner freien Liebe".14 Auf dem Grunde dieser Erkenntnis ist die Art, in der wir Gegenwart haben, kein bloßer Mangel an Dauer mehr, sondern jener "dauer- und ausdehnungslose
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Ebd. AaO. AaO. AaO. AaO. Ebd.
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Moment zwischen den Zeiten"15 ist wegen seiner 'Inhaltsleere' offen für die Fülle göttlicher Gegenwart. Die Weise, in der wir Menschen Gegenwart haben - nämlich als Moment zwischen den Zeiten, die vergangen oder noch nicht sind -, wird so zur gleichsam 'schöpfungsmäßigen Bedingung' für die Ankunft Gottes in unserer Zeit. "Daß ich jetzt bin - . . . - das bedeutet, daß ich, je indem ich von meinem Vorher aus in mein Nachher hinein wieder einmal da bin, ganz auf Gott angewiesen und geworfen bin: ganz auf sein mir zugewendetes Sein in der Zeit".16 Daraus schließt Barth: Ohne Gottes Ewigkeit hätten wir keine Zeit, das meint - keine Dauer.17 Weil Gott allein Gewißheit seines Seins haben kann, er diese Gewißheit aber nur mit und in Beziehung zu dem Menschen haben will, deshalb gewinnt auch der Mensch die Möglichkeit der Selbstvergewisserung. "Ich bin jetzt aber wirklich, weil Gott ist, und zwar zuerst ist und nicht nur für sich, sondern auch für mich ist".18 Die scheinbare Ausweglosigkeit des ständigen 'Ich bin'-Sagens des Menschen, der in seinem Bemühen der Selbstvergewisserung seines Lebens immer nur scheitern kann, ist so überwunden. So ist Gott das "Geheimnis unserer Gegenwart".19 "So also erfüllt sich unsere Gegenwart."20 Der scheinbare Mangel unserer ausdehnungslosen Gegenwart wird zur Bedingung der Gnade der göttlichen Gegenwart. b) Zu analogen Aussagen gelangt die Reflexion auf das Sein des Menschen in der Zeit in bezug auf den 'Modus der Vergangenheit'. Auch hier ist deutlich, daß sich die Barthschen Ausführungen auf eine Theorie der 'Subjektivität' beziehen, die aufzudecken versucht, daß die Zeitlichkeit die Möglichkeit des Menschen zu seiner Identität bereit hält. Barths Ausführungen richten sich auch hier darauf, die Aponen einer Theorie des Selbstbewußtseins aufzuzeigen, die das endliche Subjekt in der Möglichkeit absoluter Selbstbestimmung sieht. Diese Theorie muß die Zeit nach Barth als Geschöpf des endlichen Subjekts denken. Richtete sich die eben rekonstruierte Argumentation gegen den - im ständigen 'Ich bin'-Sagen des Subjektes zum Ausdruck kommenden Drang zur unmittelbaren Selbstver-
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Ebd. AaO. 640 Ebd. Ebd. AaO. 641 AaO. 643
gewisserung, so geht es nun um das im 'Ich bin gewesen'-Sagen geltend gemachte Bemühen des Subjekts um seine Selbstbehauptung. Selbstbehauptung ist nach Barth die auf die Vergangenheit gerichtete Lebenshaltung des natürlichen Menschen. Die Selbstbehauptung - d.h. die Behauptung, "Ich bin jetzt der, der ich gewesen bin"22 - ist dem menschlichen Sein in der Zeit ein unlösbares Problem. Der Mensch bedarf um seiner Identität in der Zeit willen der ständigen Selbstversicherung, er sei der, als der er sich weiß. Er ist gewiß im Akt der Selbstreflexion sich selbst kein unbeschriebenes Blatt - das scheint unzweifelbar zu sein, aber, so fragt Barth: "Wer bürgt dafür, daß ich wirklich der, der ich gewesen bin, noch heute bin!"23 Darüber hinaus scheint die Unwiderruflichkeit des Vergangenen die Identität des Menschen zu gefährden; gegen die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen muß sich der Mensch selbst behaupten. Er muß sein Selbst im Fluß der Zeit als identisches setzen. Dieser Zwang aber wird nicht nur durch das Vergehen der jeweiligen Gegenwart gefährdet; vielmehr kann der Mensch im Vorlaufen zu seinem Tode dessen gewiß werden, daß sein Sein in der Zeit schlechthin einmal vergangen sein wird. Wohl mag man sich eines Menschen auch dann, wenn der Mensch bei den Toten ist, erinnern und so lebt der Mensch in der dankbaren Erinnerung seiner Mitmenschen gleichsam weiter. Aber - es droht auch das Vergessen. Ja - das Vergessen scheint die primäre Form der Gegenwart des Vergangenen zu sein.24 Aber Erinnerung und Vergessen können uns "beide die Beruhigung, daß wir wirklich Zeit haben, nicht verschaffen".25 Auch diese Situation des menschlichen Seins in der Zeit verändert sich, "wenn wir damit rechnen", "daß der Wille und die Tat Gottes der Sinn und Grund unseres Seins in der Zeit und so auch unseres Seins in der hinter uns liegenden Zeit ist".26 Die Ewigkeit Gottes nämlich wird gewußt aus der Tat der Offenbarung als das Ineinander seiner Zeit. Auch hier "haben wir es ja nicht mit einer abstrakten Ewigkeit zu tun, sondern mit der Ewigkeit, in der Gott wollte, will und wollen wird, daß wir als seine Geschöpfe seien und also nicht nicht seien, nicht verlorengingen".27 Die konkrete Selbstbehauptung Gottes, indem er sich nämlich in der Geschichte mit dem Menschen auch gegen dessen Widerstreben als der Schöpfer behauptet, ist so "auch der Garant und Bürge der Wirklichkeit unserer, der geschaffenen Zeit und unseres wirklichen
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AaO. 643 AaO. 644 Vgl. aaO. 645 Ebd. AaO. 647 Ebd.
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Seins in ihr".28 Gottes Sein war und ist in der konkreten Einheit seiner zeitlichen Ewigkeit gefüllte Zeit und so auch Bedingung unserer vergangenen Zeit. Die Form der göttlichen Ewigkeit - als Deus praesens in der Einheit der Dimensionen - sichert auch unser Sein in der Zeit. Von der Selbstbehauptung des Menschen kann wirklich nur im Blick auf die göttliche Zeit geredet werden. Die Inhaltsleere auch unserer vergangenen Zeit ist so die Bedingung ihrer Erfüllung durch die Zeit Gottes. Die Leere und Bedrohung unseres Seins in der Zeit wird so erneut zur Bedingung der Gnade - der erfüllten Gegenwart Gottes in unserer Zeit. "Ist unser Leben in seiner Ganzheit Gottes Gabe, dann ist es auch unsere ganze Zeit".29 So und nur so kann der Mensch seiner Vergangenheit ins Auge sehen und sie auch im Modus des Vergessens der Gegenwart Gottes überlassen. c) Und noch in einer dritten Hinsicht ist deutlich zu machen, daß die Identität des Menschen in seiner Zeit nicht aus dem Lebensvollzug des menschlichen Lebens selbst herzustellen ist. Vielmehr scheitern, so Barth, alle Bemühungen des Menschen um Identität, wenn sie auf den "sich selbst über sich belehrenden" Menschen beschränkt bleiben.30 Denn der Mensch in seiner Zeit - und darin liegt die Pointe der Argumentation Barths in seiner Auseinandersetzung mit der 'neuzeitlichen Subjektivität' - verstrickt sich in die Aporien seiner Geschichtlichkeit und Endlichkeit. In dieser Einsicht sieht Barth eine Verifikation des Vorgehens der Theologie, die die wirkliche Zeit des Menschen, die ihm Halt in seiner Zeit zu verleihen vermag, in der Ewigkeit Gottes konstituiert sieht. Die Aufdeckung der Unmöglichkeit einer Selbstvergewisserung des Subjekts in seiner Zeitlichkeit macht die Barthsche Setzung derZeit Gottes als wirkliche Zeit plausibel. Der Aufruf zur Selbstaufgabe des Versuches einer 'Selbstsetzung' wird also bei Barth begründet mit einer Kritik des Versuches der Selbstvergewisserung des Subjekts in seiner Zeitlichkeit. Erreicht wird diese Kritik allerdings mit einer Identifizierung von Zeitlichkeit und vulgärem Zeitbegriff. Das ist nun noch zu zeigen im Blick auf die dritte Dimension der menschlichen Zeit - im Blick auf die Zukunft.31 Die Zukunft ist für den Menschen nicht bloß das in der jeweiligen Gegenwart noch Ausstehende. Als bloßes 'Noch-nicht' ist die dritte Dimension der Zeit gewiß unterbestimmt. Denn, indem wir sind, "antizipieren wir
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Ebd. AaO. 649 Frey, Zur Anthropologie Karl Barths, 42 Vgl. die Argumentation in: KD III/2, 654ff.
uns selbst in der Zukunft, projizieren wir uns selbst in die Zukunft hinein".32 Der lebendige Mensch vermag durchaus zu seinem Ende hin vorzulaufen. Aber die Behauptung, diese Fähigkeit ermögliche zugleich die Ganzheit des Daseins als seine ureigenste Möglichkeit ist in dieser Unmittelbarkeit zu kritisieren. "Die Zukunft, von der ich voll bin, könnte eine Vorbereitung sein, die zu nichts führt, ein Hinweis, der nirgendwohin zeigt".33 Die Ungewißheit meiner Zukunft schränkt die Gewißheit meiner möglichen Ganzheit in der Antizipation meines Endes ein. Das ist das Problem der menschlichen Zukunft - nämlich das Problem der Selbsterhaltung. Weder die Haltung fatalistischer Unbedenklichkeit im Blick auf die völlige Ungewißheit des Kommenden noch die verzehrende Sorge angesichts dessen, was uns noch erwartet, kann sich der Zukunft bemächtigen. Die mögliche Sicherung der Selbsterhaltung des Subjekts liegt auch hier, so zeigt Barth, wie im Blick auf die Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung supra nos. Die Selbsterhaltung ist nur supra nos durchaus gewiß. Denn Selbsterhaltung in der Zeit 'ist zunächst ein Gottesprädikaf. Indem Gott "ohne Grenzen und Zertrennung zugleich war, ist und sein wird, ist seine Ewigkeit, die ursprüngliche, die eigentliche, die schöpferische Zeit".34 Die Fähigkeit Gottes, alle Momente der Zeit gleichzeitig präsent und bei sich zu haben, impliziert nicht zuletzt auch die so nur für ihn bestehende Möglichkeit, seine Zukunft vorweg voll und ganz gegenwärtig zu haben. Deutlich wird dies daran, daß die Selbstkundgabe Gottes seine versöhnende Tat in Christus als Zeit schon der schöpferischen Tätigkeit Gottes ausdrücklich macht. Gott, so gibt er selbst in seiner Offenbarung zu verstehen, "war... nie noch nicht unser Schöpfer, Vater und Erlöser".35 Wie sollte dann eine Zeit zu denken sein, deren Zukünftigkeit eine Bedrohung des ewigen Heilsplanes mit sich bringt. "Eben der Gott, der uns liebte und liebt, wird uns, so wahr er ewig ist, wieder lieben".36 So erweist sich die Ewigkeit Gottes als das 'Jenseits' noch jeder Zukunft. Und so erweist sich auch das Sein des Menschen als 'Sein zu seinem Ende' keineswegs als eine das Leben bedrohende Verfassung, sondern als die das Leben 'erwartende' Erfüllung. So nämlich erweist sich, daß wir unsere Zeit "auch im Modus der Zukunft als von Gott gegebene haben dürften: ihr Ende nicht als ein Ende mit Schrecken, sondern als das Ziel, das er uns gesteckt hat"37, erleben dürfen.
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AaO. AaO. AaO. AaO. AaO. Ebd.
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Der die kurz dargelegten Überlegungen abschließende Abschnitt thematisiert die methodische Funktion der referierten Argumentationsgänge. Der vulgäre Zeitbegriff, der aus der unmittelbaren Erfahrung der 'verfallenden Zeitlichkeit' menschlichen Lebens zu erwachsen scheint, ist darin, daß er die alltägliche Zeiterfahrung auf den Begriff bringt, gewiß der "naheliegende ... Zeitbegriff".38 So ist er der Begriff, der unsere Zeit und unsere Zeiterfahrung kenntlich macht. Denn er expliziert die Erfahrung, daß der Mensch in den Dimensionen der Zeit nie wirklich Zeit hat bzw. unter der ständigen Erfahrung des Zeitverlustes klagt. Diese Erfahrung ist von sich aus unbezweifelbar, und die zeitliche Verfassung des Menschen hält keine Möglichkeit bereit, dem der Zeit ausgelieferten Menschen seine Ganzheit zu ermöglichen. Das ist der Ansatzpunkt für eine systematische Theologie in der Entfaltung ihrer Zeitlehre, daß sie die Unmöglichkeit des Menschen, die Einheit seiner Zeit selbst zu erzeugen, aufdeckt und daraus die Konsequenzen zieht. Die Theologie hat in diesem Zusammenhang die Implikationen einer Bestimmung der Zeit aus der Relation zur Ewigkeit Gottes zu entwickeln. Nun weist aber Barth immer wieder darauf hin, daß - so plausibel dieser Versuch der Theologie ist - er doch ohne Kautelen nicht zu haben ist. Gewiß läßt sich für Barth aufdecken, daß Selbstvergewisserung, Selbstbehauptung und Selbsterhaltung als Versuche der autonom sein wollenden Subjektivität, sich selbst die Einheit seiner Zeit zu erzeugen, zum Scheitern verurteilt sind. Barth setzt damit der neuzeitlichen Subjektivität mit und in der Zeitthematik die These entgegen, daß die Selbstgewißheit des Ich keine selbständige und vollgültige Erkenntnis seines Seins in der Zeit gibt. Aber Barth ist ganz offenbar der Meinung, daß diese Einsicht die Forderung der Offenbarung und die Situation des Menschen vor Gott keineswegs zu verifizieren und zu verändern vermag. "Kein bloßer Begriff ist genügend, um die Umkehrung, die wir nun dargestellt haben, wirklich zu vollziehen oder auch nur einleuchtend anzuzeigen".39 Mit der Umkehrung meint Barth an dieser Stelle die Deutung der menschlichen Zeit von der Ewigkeit Gottes her. Wenn also Barth davon spricht, daß die von Gott geschaffene Zeit ihren Bezug zur Ewigkeit in sich enthalte und diesen Bezug erkennen lasse, so ist diese Behauptung allein verbürgt in seiner gegebenen Analyse der Zeit Jesu. "Die Existenz des Menschen Jesus in der Zeit verbürgt uns, daß die Zeit als Existenzform des Menschen von Gott gewollt und geschaffen, von
38 AaO. 668 39 Ebd.
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Gott dem Menschen gegeben und also wirklich ist".40 "Unsere ganze Darstellung ist letztlich nicht in sich selbst, sondern auf diese Bürgschaft begründet".41 Die Behauptung der unmittelbaren Gegenwart Gottes in der Zeit des Menschen Jesus ist die Prämisse, der sich die Kritik an dem vulgären Zeitbegriff und damit zugleich die These von der Unmöglichkeit des Menschen, die Erfahrung seines ständigen Zeitverlustes zu überwinden, verdankt. In Christus "ist nämlich Gottes gnädiger und errettender Widerspruch eingelegt gegen den Menschen ohne Gott und damit auch gegen einen Zeitbegriff ohne Gott".42 Barths 'Auseinandersetzung' mit einer durchaus möglichen und in Heideggers 'Sein und Zeit' auch faktisch durchgeführten philosophischen Analyse der vulgären Zeit gibt sich selbst nicht als immanente Kritik, sondern als nicht plausibel zu machende Entgegensetzung eines christologisch begründeten Zeitbegriffs. Barths Auseinandersetzung mit Heidegger will sich selbst als Verzicht auf eine Auseinandersetzung verstehen, um einer angestrebten ausschließlich christologischen Begründung aller theologischen Aussagen willen. So beruht diese Auseinandersetzung auf der Voraussetzung, philosophische Analyse komme über die Reflexion des vulgären Zeitbegriffs nicht wesentlich hinaus. Diese These Barths wird ansatzweise wohl begründet - nämlich in der Behauptung, eine Lösung des Zeitproblems aus und durch die zeitliche Verfassung des Menschen könne nicht dem 'sündigen' Wunsch des Menschen nach unmittelbarer Selbstverwirklichung ohne Gott entkommen -, aber nicht ausgeführt. So steht am Ende auch hier allenfalls an, zu konstatieren, daß Barth der Auseinandersetzung mit 'philosophischen Konzepten' wohl Raum gegeben hat, diese Auseinandersetzung aber immer wieder selbst 'überholt' und einschränkt, indem er die Aufgabe der Theologie darin sieht, die Selbstoffenbarung Gottes und sonst nichts zu explizieren. Der mögliche Nachweis eines Ungenügens philosophischer Bemühungen um die Zeit vermag für die Theologie und ihre Aufgabe nichts, aber auch gar nichts zu leisten, weil sie die Explikation des eigenen Themas der Theologie nicht plausibler machen könnte. Die Relation von Zeit und Ewigkeit ist kein absolutes Prinzip, durch das das Zeitproblem zu lösen wäre, sondern in Jesus "Wirklichkeit und prima veritas, die sich als solche von selbst als erster Gedanke an die Spitze aller anderen stellt und eben damit allen unseren anderen Gedanken eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Inhalt gibt".43 Der
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AaO. 669 Ebd. Ebd. KDIII/2, 669
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Herr der Zeit "also steht regierend und begründend, erleuchtend und beweisend am Anfang des Nachdenkens über unsere Zeit".44 Um diesen Gedanken zu wahren und zur Durchsetzung zu bringen, verzichtet Barth auf den Versuch, eine theologische Zeitlehre in Rücksicht auf philosophische Bemühungen ausdrücklich zu begründen.45 Die 'Setzung' der Offenbarungszeit als Sein- und Erkenntnisgrund aller Zeiten will nach Barth nicht anders als eine gehorsame Entsprechung zu dem Geschehen der Selbstentsprechung Gottes in seiner Offenbarung verstanden werden. 5. Die 'Umkehrung des Zeitbegriffs' durch die 'Zeitenwende'Die Gnade der Endlichkeit Die Folgen der angedeuteten konsequenten Deutung der Zeitlichkeit des Menschen von der Zeit Gottes in dem Menschen Jesus her bewirken nun, daß auch die Befristung der menschlichen Zeit ihre unaufhebbare Relation zur Ewigkeit nicht aufzulösen vermag, vielmehr widerspiegelt. Das wird im folgenden nur noch angedeutet werden müssen. - Die von Barth eingeklagte 'Umkehrung des Zeitverständnisses'1 durch die Offenbarungszeit wird von Barth zunächst verdeutlicht im Blick auf die Endlichkeit des Menschen. Die 'befristete' Zeit des Menschen, sein Wissen um sein ihm bevorstehendes Ende zwingen den unter der Verheißung der Gegenwart Gottes lebenden Menschen nun nicht mehr zu der 'Gier', die Zeit um jeden Preis auszukaufen. Die Befristung der Zeit des Menschen wird vielmehr als Gnade erkannt.2 Denn der Mensch hat nun die Zeit, seine Zeit in Unterschiedenheit von der Ewigkeit Gottes zu leben, weil Gott die Zeit des Menschen Jesus zu einer Bestimmtheit seiner Ewigkeit gemacht hat. - Der Anfang der Zeit, die Erfahrung der 'Geworfenheit' in unser Leben, wird uns nun zur Gewißheit unserer wahren und eigentlichen Herkunft.3 - Der Tod als das Ende unseres Lebens wird von uns faktisch gewiß als der drohende Abbruch unserer Zeit, nicht als Bedingung ihrer möglichen
44 Ebd. 45 In diesem Zusammenhang hat selbst Frey, der ansonsten auch die Baithsche Anthropologie als Rahmen einer Auseinandersetzung der Theologie mit der neuzeitlichen Philosophie durchaus würdigt, von der Zumutung gesprochen, die die These Barths, der wirkliche Mench sei Jesus, darstellt (Frey, Zur Anthropologie Barths 65f. u.ö.). 1 Vgl. KD III/2, 671 2 Vgl. aaO. 687ff„ 694 u.ö. 3 Vgl. aaO. 701
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Ganzheit erlebt.4 Aber durch die Weise, in der der Mensch Jesus in seinen Tod ging, ist auch der Tod als das natürliche Ende unseres Lebens als Gnadenakt Gottes erkennbar.5 - Die Erfüllung aller befristeten Zeiten am Ende der Zeit kann Barth so nicht anders denken als 'Verewigung' dieser unserer von Gott gegebenen Zeit. Insofern bringt das Ende der Zeit nicht mehr und nicht weniger als die "Offenbarung ihrer in Jesus Christus schon vollendeten Erlösung".6
Π. Die Durchsetzung der Ewigkeit Gottes in der Zeit als Realisierung des Wesens der Zeit Eine wiederholende Interpretation Die folgenden Ausführungen sollen die in der Herausarbeitung der unterschiedlichen Bezugspunkte der Barthschen Zeitlehre gewonnenen Ergebnisse in ein kurzes systematisches Gerüst bringen.1 Unsere nachstehenden Bemerkungen verstehen sich insofern als wiedelholende Interpretation, die darin bewußt gewaltsam ist, daß sie das Schema von 'Verheißung und Erfüllung', das Barth in der Herausarbeitung der Relation von Zeit und Ewigkeit immer wieder geltend macht, bewußt beiseite läßt. Wir sahen, daß Barth in seiner Anthropologie dieses Schema nicht zur Durchsetzung bringen konnte in seinem Versuch einer konsequenten christologischen
4 Vgl. aaO 730f„ 734, 739 5 Vgl. aaO. 762ff.; diese Unterscheidung zwischen der 'natürlichen Endlichkeit' des Menschen und der faktischen Erfahrung des Todes als Bedrohung seines Lebens - eine Erfahrung, die die Sündhaftigkeit des menschlichen Lebens ausdrücklich macht - ist vielfach kritisiert worden. So hat auch H. Vogel darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung die 'natürliche Endlichkeit' unversöhnt läßt (H. Vogel, Ecce Homo, in: VF 1951/52,102ff„ 123f.) Wie ist der Verheißungscharakter Jesu Leben und Sterben für uns noch geltend zu machen, wenn es in Entsprechung zu jener Unterscheidung lediglich um eine 'Erlösung der Zeit', nicht um eine Erlösung aus der Zeit geht? Vogel will gegen Barth geltend machen, daß das NT auf die Neuschöpfung des Menschen hofft. Es ist nach Vogel vehement "zu bestreiten, daß im Neuen Testament das neue Sein, zu dem wir in Christus als in dem von Gott mit uns gemachten Anfang wiedergeboren sind, und in dem wir durch eine Neuschöpfung in und mit seiner letzten Herrlichkeitserscheinung offenbar werden sollen als die vom Scheitel bis zur Sohle, seelisch und leiblich, neu geschaffenen Menschen Gottes, - im Modus des Gewesenseins verkündigt wird" (Vogel, aaO. 126). 6 KD III/2, 771 1 Auf einen Anspruch auf eine vollständige Ausleuchtung der 'Zeitlehre' Barths mußte in dem vorangegangenen Abschnitt verzichtet werden; dieser Verzicht kennzeichnet auch die folgenden Ausführungen.
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Deutung auch des Phänomens der Zeit. Die folgenden Ausführungen werden um der Kürze und Prägnanz willen in thetischer Form vorgetragen.2
1. Ewigkeit als Bestimmung der Freiheit Gottes Barth entwickelt seine Lehre von den Attributen Gottes vom Begriff der Selbstoffenbarung her. Die logischen Implikationen dieses Begriffs der Selbstoffenbarung setzt Barth in die doppelte Bestimmung Gottes als Liebe und Freiheit um. Der Gedanke der Liebe Gottes wahrt die Offenbarung des göttlichen Lebens in der Zeit, der Gedanke der Freiheit kennzeichnet die schlechthinnige Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung. Die Ewigkeit wird zum entscheidenden Attribut der freien Subjektivität Gottes. Begründet wird dies von Barth mit dem biblische Sprachgebrauch3, entfaltet in Anlehnung an Boethius4. Wenn die Ewigkeit als Attribut der Freiheit Gottes in seiner Offenbarung entwickelt wird, so ist damit die Freiheit Gottes in sich selbst, die seinem Entschluß zur Erschaffung und Erhaltung der Welt vorausgeht, gemeint. Die Ewigkeit wird nach Barth zum "Prinzip" der göttlichen "Freiheit nach innen".5 Das Wesen Gottes in sich selbst ist bestimmt durch den Entschluß zur Selbstunterscheidung. Dieser Entschluß vollzieht sich innertrinitarisch in der Form der Zeitlosigkeit.6 Die Zeitenthobenheit, in der Gott sich von sich selbst unterscheidet, impliziert aber nicht die Leblosigkeit Gottes. Vielmehr verwirklicht sich das göttliche Wesen in der Unterscheidung der drei Seinsweisen und somit als sich differenzierende Identität. Gott hat sich selbst nicht als leblose Freiheit, sondern er ist er selbst in lebendiger Selbstunterscheidung. So entwickelt Barth mit Boethius den Begriff der Ewigkeit in der Nähe des Lebensbegriffs. Nur so ist der Begriff der Ewigkeit biblisch und eben nicht griechisch gedacht. Nur so kann es gelingen, den Ewigkeitsbegriff aus "der babylonischen Gefangenschaft des abstrakten Gegensatzes zum Zeitbegriff"7 herauszuholen. Allein so nämlich vermag die Theologie dazu vorzudringen, die Offenbarung Gottes als seine Selbstoffenbarung in Entsprechung zu dem Gedanken seiner Ewigkeit und damit seiner freien Subjektivität zu bringen.
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Die Quellen der einzelnen Ausführungen werden unkommentiert angegeben. KDIII/1,689, 697f. Vgl. aaO. 688f. AaO. 678 Vgl. KDIII/1,73 KD 11/1,689
2. Die Offenbarungszeit als Akt der Selbstentsprechung Gottes Die andere Seite des Gedankens der Selbstoffenbarung Gottes, die nämlich nicht den Gedanken der Freiheit, sondern der Liebe Gottes betont, hat zur Geltung zu bringen, daß die Offenbarung das Wesen Gottes zu erkennen gibt - so wie es sich von sich selbst her zeigt. Gott offenbart sich selbst. So wie also von der Offenbarung auf das Wesen Gottes zurückgeschlossen werden kann, so kann weiter gefolgert werden, daß Gott sich in seiner Offenbarung selbst treu bleibt oder anders: Gott entspricht sich selbst in seiner Zeitwerdung. Die Zeit Gottes als das Prinzip seiner Freiheit nach außen entspricht der Ewigkeit als dem Prinzip seiner Freiheit nach innen.8 So deckt Barth auf, daß auch die Zeit Jesu in ihrem konkreten Ineinander der drei Zeitdimensionen in Entsprechung zur Ewigkeit Gottes gedacht werden kann.9 So wie Gott in zeitloser Weise sich von sich selbst unterscheidet und darin seine Einheit ist, so ist Jesu Zeit die Einheit seiner faktischen Lebenszeit mit der Zeit, in der man ihn erwartete und der Zeit, in der man sich seiner erinnert. So kommt Barth zu dem abschließenden Urteil, daß keine Zeit vor und nach dem Leben Jesu denkbar ist, die nicht "seine Zeit wäre".10 Darin wird zur Geltung gebracht, daß Jesus wahrhaft der Herr der Zeit ist.
3. Die Schöpfungszeit als 'Entsprechung zur Selbstentsprechung der Offenbarungszeit' Die Zeit der Offenbarung macht deutlich, daß Gott sich in seiner Ewigkeit zur Zeit hin bestimmt. Gott will seine Freiheit nur in Liebe zum Menschen. So wird die Zeit überhaupt zum 'signum aeternitatis'. Daß es für den Menschen überhaupt Zeit gibt, ist ein Zeichen der Gnade Gottes. Darin wird die Ewigkeit Gottes in der Tat als seine Lebendigkeit das Konstituens der Zeit. Die Zeit schlechthin ist so gewendete Zeit; Gott hat in seinem ewigen Ratschluß den Widerstand der Zeit gegen die Ewigkeit vorweggenommen und darin schon überwunden.11 Das Faktum der Zeit für den Menschen ist von daher Ausdruck für die Geduld Gottes mit dem Menschen. In der Schöpfungszeit, die darin Hinweis auf Gott ist, daß sie
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KD 11/1,687 Vgl. KD HI/2, 557ff. KD III/2, 590 Vgl. KD II/l, 471
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gewendete und eben darin wirkliche Zeit ist, entspricht sich Gott.12 Die Zeit erweist so die Form der Schöpfung als Bundesschluß Gottes mit den Menschen.13 Als Entsprechung zur Selbstentsprechung Gottes ist - und nur so! - die Zeit schlechthin und allgemein gewendete Zeit, hat sie unverlierbar den Stempel der Ewigkeit. Die Schöpfungszeit ist für Barth der Anfang und darin auch schon das Ende der erfüllten Zeit.14 So ist es angemessen, die Schöpfungszeit in Identität mit der Offenbarungszeit die wirkliche Zeit zu nennen. 4. Die menschliche Zeit für die Ewigkeit als Entsprechung zur Gnadenzeit Die Zeit als Existenzform des Menschen ist endgültig gewendet durch Gott und damit befreit von dem Fluch des Verfalls. Sich dies nicht gefallen zu lassen - ist sündhafte Trägheit15. Des Menschen Trägheit bedeutet, auf der Verfallstruktur der Zeit zu bestehen und damit die Zeitenwende zu leugnen. Gott hat aber die Wende der Zeit für sich schon ein für allemal vollzogen. Es gibt keine wirkliche Zeit mehr, die gegen und ohne die Ewigkeit Gottes sein kann.16 So ist die Trägheit des Menschen Ausdruck einer der größten seiner Verfehlungen, weil sie die Versöhnungstat Gottes leugnet. Die andere Zeit, die Zeit des Menschen ohne Gott, ist unwirklich geworden.17 Die Zeit schlechthin ist verewigte Zeit. Gewiß, das gilt zunächst nur für die Zeit Jesu. Aber es ist mit unserer Zeit auch schon alles geschçhen, was geschehen kann. Gott wartet nur noch auf unsere Entsprechung. Unsere Entsprechung geschieht darin, daß wir uns Zeit nehmen für die Ewigkeit. Das geschieht im Gottesdienst18 und als Annahme unserer Berufung, in der unser Leben in seiner Zeitlichkeit verewigt wird durch das Wirken des Auferstandenen in uns.19 In der Annahme der Berufung und im Gottesdienst erfüllt sich die Bestimmung des zeitlichen Menschen für die Ewigkeit, und damit vollzieht sich die Aufhebung des Todesverhängnisses, unter dem sein befristetes Leben liegt.
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
KD III/2, 547, 625, 627 u.ö. KD 11/1,523, 686, 690 KD III/l, 81 KD IV/2, 428,476f. KD II/l, 471, 523f. und KD III/2, 547 KD IV/3, 364f. KD IV/1, 124ff. KD IV/3, 363,416
LITERATURVERZEICHNIS
Im folgenden Literaturverzeichnis werden nur diejenigen Titel aufgeführt, die im Text der Arbeit zitiert werden oder auf die wir uns implizit beziehen. Achilles, H.: Der Augustinische Gang zum Grund von Person, Zeitlichkeit und Wahrheit, 1965 Adam, K.: Die geistige Entwicklung Augustins, 1931 Adickes, E.: Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich, 1929 Alexander, H.G. (Ed.): The Leibniz-Clarke Correspondence, 1956 Althaus, P.: Die letzten Dinge, 19618 - Die Theologie Martin Luthers, 19805 - Die christliche Wahrheit, 19523 Andresen, C.: Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart 1,1962 Augustinus, Α.: Confessiones, hg. und übersetzt von J. Bernhart, 1987 (it) - De civitate Dei, Nachdruck der Teubner-Ausgabe, 2 Bände, 1981 (WB) - De genesi contra Manichaeos, Migne PL 34,173ff. - De genesi ad litteram. imperfectus liber, CSEL 28,1 - De genesi ad litteram, CSEL 28,1 - De musica, Buch VI, Migne PL 32,1161ff. - De immortalitate animae, Migne PL 32,1021ff. - De quantitate animae, Migne PL 32,1035ff. - Retractationes, Migne PL 32,583ff. Bachschmidt, H.: Der Zeitbegriff bei Augustinus und die Orientierung eines modernen Zeitbegriffs an seinen Gedanken, PhJ 60 (1950), 438ff. Balthasar, H.U. v.: Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, 1951 Barion, J.: Plotin und Augustinus, 1935 Barth, K.: Die Kirchliche Dogmatik, Band 1/1 bis Band IV/4,1942ff. Bartsch, H.W. (Hg.): Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, 19543 Beierwaltes, W.: Denken des Einen, 1985 - Identität und Differenz, 1980 - Piatonismus und Idealismus, 1972 - (Hg.), Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, 19813 - Regio beatitudinis: zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-histor. Klasse (Jg. 1981/6), 1981 Berlinger, R.: Augustins dialogische Metaphysik, 1962 - Zeit und Zeitlichkeit bei Aurelius Augustinus.,in: ZPhF 7 (1953), 493ff. Böhme, G.: Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Piaton, Aristoteles, Leibniz und Kant, 1974 Boethius: De consolatione philosophiae, CC SL 94,1957 Boman, T.: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 19593 Boros, L.: Das Problem der Zeitlichkeit bei Augustinus, 1954 Brunner, E.: Dogmatik, Band I und II, 1946 und 1950 - Das Ewige als Zukunft und Gegenwart, 1953
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Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich
Heimo Hofmeister Philosophisch denken (UTB 1652). 1991.450 Seiten, Kunststoff. ISBN 3-525-03275-7 Dieses Buch will den Leser hineinnehmen in den Vollzug philosophischen Denkens. Es greift zurück auf Texte und deren Interpretation. Dadurch bietet es viel Information, aber stets mit dem Ziel, Philosophie begreiflich zu machen. Indem es auf Problembereiche eingeht und die wichtigsten Disziplinen der Philosophie jeweils an Schriften von Philosophen seit Thaies und Parmenides bis in die Gegenwart exemplarisch veranschaulicht, gibt es Einblick in das philosophische Denken. Auseinandersetzungen, subtile Erörterungen, oft Kritik, sollen den Leser herausfordern, bestimmte Positionen in ihrer Konsequenz zu durchdenken und sich ein selbständiges Bild zu machen. Besondere Aufmerksamkeit ist den Grenzfragen zwischen Philosophie und Theologie gewidmet.
Luc Ciompi Außenwelt - Innenwelt Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. (Sammlung Vandenhoeck) 1988. 397 Seiten mit 9 Abbildungen, Paperback. ISBN 3-525-01411-2 Der durch sein Buch »Affektlogik« bekannt gewordene Autor erschließt in diesem Werk anhand der Frage nach dem Wesen von Zeit und Raum neue überraschende Zusammenhänge zwischen Psyche und Physis. Seine zentrale These ist, daß Zeit und Raum sowohl in der Physik als auch in der Psychologie nicht von vornherein bestehen, sondern abstrakte Begriffe höherer Ordnung darstellen, die im Lauf der Entwicklung des Geistes aus konkreten Beobachtungen und Erlebnissen hervorgehen. Die Vertiefung des in seiner früheren Publikation entwickelten, auf Piaget, Freud und modernen systemtheoretischen Erkenntnissen beruhenden Modells der Psyche führt zu weiteren Analogien zwischen physischen, psychischen und sozialen Prozessen und Strukturen. In einem Schlußkapitel werden praktische Konsequenzen für den therapeutischen Umgang mit Zeit und Raum vor allem bei psychiatrischen Patienten und insbesondere für das Verständnis der Schizophrenie aufgezeigt. Eingeschobene »Werknotizen«, die sich wie Tagebucheintragungen lesen, lassen im Sinn der »Affektlogik« auch einige persönliche und affektive Hintergründe der vorgebrachten Thesen sichtbar werden.
Reinhard Deichgräber Von der Zeit, die mir gehört 3. Auflage 1990.125 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62325-9 Die Kunst, Zeit zu haben, das Glück des Augenblicks und die ruhigen großen Rhythmen des Lebens möchte dieses Buch finden helfen. Es ist so geschrieben, daß man es gerade auch in seinen Ferien lesen kann. Die Übungen, die in einigen Kapiteln vorgestellt werden, zeigen, wie das Gelesene angeeignet sein möchte.
Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich