Die Stilistik Theodor Fontanes: Untersuchungen zur Erhellung des Begriffes "Realismus" in der Literatur 9783111698809, 9783111310527


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German Pages 160 Year 1967

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Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung
I. Das Realismus-Problem in der Forschung
A. Der Begriff „Realismus“
B. „Poetischer Realismus“ (Merker-Stammler)
C. Der „Wille zur Wirklichkeit“ (H. O. Burger)
D. Der sozialistische Realismus (Georg Lukacs)
E. Das Realismus-Problem als „Wirklichkeit und Illusion“ (Richard Brinkmann)
F. Das Realismus-Problem und die logische Struktur der Dichtung (Käte Hamburger)
G. Der Begriff „Realismus“ als Bezeichnung einer literarischen Periode
II. Theodor Fontanes theoretische Auseinandersetzung mit dem Realismus-Problem
A. Fontanes Essay „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“ (1853)
B. Fontanes Realismus und die sich entwickelnden Modifikationen
1. Wirklichkeit und Hässlichkeit
2. Pessimismus und Humor
3. Die Bedeutung des Psychologischen und das Künstler-Ich
4. Zur Erkenntnis logisch-struktureller Verhältnisse
5. „Poetische Verklärung“. Bedeutung und Wandel
III. Exkurs: Zur realistischen Darstellungstechnik Theodor Fontanes
A. Die psychologische Durchdringung des Dialogs (Effi Briest)
B. Symbol und Funktion des Symbols in Effi Briest
IV. Zusammenfassung
Bibliographie
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Die Stilistik Theodor Fontanes: Untersuchungen zur Erhellung des Begriffes "Realismus" in der Literatur
 9783111698809, 9783111310527

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STUDIES IN GERMAN LITERATURE Volume IX

••••••••••••••••••••••••••••••••••

DIE STILISTIK THEODOR FONTANES Untersuchungen zur Erhellung des Begriffes „Realismus" in der Literatur

von

JOSEF T H A N N E R Rutgers, The State University of New Jersey

1967

M O U T O N & CO. THE HAGUE · PARIS

© Copyright 1967 Mouton & Co., Publishers, The Hague, The Netherlands. No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publishers.

Printed in The Netherlands by Mouton & Co., Printers, The Hague

VORBEMERKUNG

Die ursprüngliche Anregung für die vorliegende Arbeit ging von Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur aus. Grundlegend waren dann die Arbeiten von Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion, Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung und Ian Watt, The Rise of the Novel. Diesen Arbeiten bin ich dankbar verpflichtet. Auch möchte ich hier dem Research Council der Universität Rutgers (The State University of New Jersey, New Brunswick, N. J.) danken, das die Publikation dieser Arbeit durch die Bewilligung einer Beihilfe mit ermöglichte.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung

5

Einleitung

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I.

II.

Das Realismus-Problem in der Forschung . . . . A. Der Begriff „Realismus" B. „Poetischer Realismus" (Merker-Stammler) . . C. Der „Wille zur Wirklichkeit" (H. O. Burger) . D. Der sozialistische Realismus (Georg Lukacs) . . E. Das Realismus-Problem als „Wirklichkeit und Illusion" (Richard Brinkmann) . . . . . F. Das Realismus-Problem und die logische Struktur der Dichtung (Käte Hamburger) G. Der Begriff „Realismus" als Bezeichnung einer literarischen Periode

Theodor Fontanes theoretische Auseinandersetzung mit dem Realismus-Problem A. Fontanes Essay „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848" (1853) B. Fontanes Realismus und die sich entwickelnden Modifikationen 1. Wirklichkeit und Hässlichkeit 2. Pessimismus und Humor 3. Die Bedeutung des Psychologischen und das Künstler-Ich

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69 69 79 88 95 102

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INHALTSVERZEICHNIS

4. Zur Erkenntnis logisch-struktureller Verhältnisse 5. „Poetische Verklärung". Bedeutung und Wandel III.

IV.

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Exkurs: Zur realistischen Darstellungstechnik Theodor Fontanes A. Die psychologische Durchdringung des Dialogs (Effi Briest) B. Symbol und Funktion des Symbols in Effi Briest

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Zusammenfassung

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Bibliographie

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EINLEITUNG

Auf eine zweifelnde Anfrage hin, ob er denn den Dialekt in einigen seiner Dialoge in seinem Roman Petöfy als echten Wiener Dialekt ansehe und ob er denn tatsächlich glaube, dass die in seinem Roman dargestellte Wirklichkeit der historischen Wirklichkeit entspräche, antwortete Theodor Fontane mit einem langen, ausführlichen und seinem Verantwortungsgefühl entsprechend abgefassten Brief u.a. folgendermassen: Und nun zur Dialektfrage! Gewiss wäre es gut, wenn das alles besser klappte, und die realistische Darstellung würde neue Kraft und neue Erfolge daraus ziehn. Aber — und indem ich das ausspreche, spreche ich aus einer vieljährigen Erfahrung — es ist sehr schwer, dies zu erreichen, und hat eine wirkliche Vertrautheit des Schriftstellers mit allen möglichen Dialekten seines Landes zur Voraussetzung. Ich griff früher . . . zu dem auch von Ihnen angeratenen Hilfsmittel und liess durch Eingeweihte . . . das von mir Geschriebene ins Koloniefranzösische oder Schwäbische oder Schlesische oder Plattdeutsche transponieren. Aber ich habe dabei ganz erbärmliche Geschäfte gemacht. Alles wirkte tot oder ungeschickt, so dass ich vielfach mein Falsches wiederherstellte. Es war immer noch besser als das „Richtige". Kurzum, so gewiss Sie im Prinzip recht haben, tatsächlich danach zu verfahren, wird sich nur selten ermöglichen lassen. Es bleibt auch hier bei den Andeutungen der Dinge, bei der bekannten Kinderunterschrift: „Dies soll ein Baum sein."1 Welches Problem ist in diesem Brief angeschnitten? Der Vorwurf, nicht den vollen Wirklichkeits-Gleichlaut gegeben zu haben, wird von Fontane sehr ernst genommen und mit Hilfe 1

Brief, 15. 2. 1888 (Werke, II, Bd. 11, S. 147). Die These, dass diesem Zitat naturalistische Tendenzen zugrunde lägen, soll hier nicht erörtert werden.

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EINLEITUNG

eines knappgehaltenen Einblicks in die Werkstätte des Romanciers widerlegt — widerlegt allerdings in einer nicht theoretischlogischen Abhandlung, sondern mittels einer Erfahrungstatsache: Fontanes Erfahrung nach ist die volle Imitation der Wirklichkeit, in diesem Falle die genaue Wiedergabe des Wiener Dialekts, nicht möglich. Er gibt zwei Gründe dafür: der erste, dass ein Schriftsteller nach menschlichem Ermessen nicht imstande sei, alle stammlich verschiedenen Dialekte zu beherrschen; der zweite, bedeutendere, dass die Einverleibung des exakten Wortlautes eines tatsächlich gesprochenen Dialektsatzes in bestimmte Stellen eines sprachlichen Kunstwerkes von Übel ist, weil dieser Satz sich da als Totgeburt ausweist, d.h. dass er im Bereich der Fiktion ein Fremdkörper bleibt. Zugleich führt Fontane an, dass das von ihm Erfundene viel besser sei als das der Wirklichkeit Entsprechende; deshalb muss das „Richtige" dem „Nichtrichtigen" den Platz abtreten. Und dennoch spricht Fontane von „realistischer Darstellung". Interessanterweise führt Fontane im selben Brief noch weitere Diskrepanzen an zwischen der Wirklichkeit die wir selbst leben und erleben, und der Wirklichkeit die die Fiktion erstellt, also zwischen der historischen und der sogenannten „dargestellten Wirklichkeit": 2 Mit gewiss nur zu gutem Rechte sagen Sie: „Das ist kein Wienerisch", aber mit gleichem Rechte würde ein Ortskundiger sagen (und ist gesagt): „Wenn man vom Anhaltischen Bahnhof nach dem Zoologischen fährt, kommt man bei der und der Tabagie nicht vorbei." Es ist mir selber fraglich, ob man von einem Balkon der Landgrafenstrasse aus den Wilmersdorfer Turm oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht . . . Kalendermacher würden gewiss leicht herausrechnen, dass in der und der Woche in dem und dem Jahre Neumond gewesen sei, mithin kein Halbmond über dem Elefantenhause gestanden haben könne. Gärtner würden sich vielleicht wun2

Der Ausdruck „dargestellte Wirklichkeit" wurde von E. Auerbachs Mimesis übernommen. Dieser Ausdruck ist aber nicht genau, denn er beruht auf der Anschauung vom Spiegelbild der Wirklichkeit, das die Literatur darstelle. Tatsächlich entsteht in der Fiktion eine neue Wirklichkeit, die nicht mehr Spiegelbild, sondern Interpretation der historischen Wirklichkeit ist. Es wäre wohl richtiger, sich deshalb an den Ausdruck „fiktive Wirklichkeit" oder einfach „Fiktion" zu gewöhnen.

EINLEITUNG

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dem, was ich alles im Dörnchen Garten a tempo blühen und reifen lasse: Fischzüchter, dass ich — vielleicht — Muränen und Maränen verwechselt habe; Militärs, dass ich ein Gardebataillon mit voller Musik vom Exerzierplatz kommen lasse; . . . Und doch bin ich ehrlich bestrebt gewesen, das wirkliche Leben zu schildern. Es geht halt nit. Man muss schon zufrieden sein, wenn wenigstens der Totaleindruck der ist: „Ja, das ist Leben."3 Diese angeführten Unstimmigkeiten lassen nun das aufgeworfene Problem schon deutlicher erkennen. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass Fontane mit dieser Aufzählung ganz eindeutig klarstellt, welch im Grunde genommen sekundäre Bedeutung die der historischen Wirklichkeit entsprechende Schilderung stofflicher Einzelheiten in der Fiktion hat. Von einzigartiger Bedeutsamkeit aber ist, dass der Totaleindruck des Produzierten etwas erkennen lassen muss, das Leben hat, und zwar „neues" Leben, und „neues" deshalb, weil zuerst einmal Fontane davon ausgeht, dass das „wirkliche Leben" sich nicht schildern lässt, zumindest nicht in allen Einzelheiten. Fontane ist also gezwungen, etwas Neues zu schaffen, das die historische Wirklichkeit nicht in allen Einzelheiten repräsentiert. Wichtig für ihn aber ist, dass das, was neu geschaffen ist, den Eindruck des Lebendigen hinterlässt Fontanes Problem war nun nicht, die phänomenologischen Verhältnisse der Fiktion theoretisch zu erkennen. Er war Praktiker, und sein Bestreben musste sein, dem lieben Gott „ein wenig nachzuschaffen", wie es in Georg Büchners Erzählung „Lenz" heisst.4 Dieses Nachschaffen sollte aber (auch schon bei Büchner) als Endprodukt etwas „Realistisches" ergeben. Fontane weist in seinem Brief darauf hin. Das bisher Angeführte lässt nun die Frage zu, wie etwas, das nach ganz bestimmten Erfahrungstatsachen gar nicht mit der historischen Wirklichkeit identisch ist, als „realistisch" angesprochen werden kann. Und zugleich müssen wir anerkennen, dass jeder Schriftsteller, gleich welcher Periode er angehört, für seine Produktion sich seiner realen Umgebung bzw. Umwelt Brief, 15. 2. 1888 (Werke, II, Bd. 11, S. 148). Georg Büchner, Gesammelte Werke. Hrg. von Kasimir Edschmid (München, 1948), S. 153.

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EINLEITUNG

bedient. Ja wir können nicht umhin anzuerkennen, dass selbst der abstrakteste Gedanke oder ein ideal-philosophisches System dem Bereich der Wirklichkeit zuzuzählen sind, da sie ja nichts anderes als ein geschichtliches und damit reales Phänomen darstellen und als solches einem sprachlichen Kunstwerk als etwas Wirkliches einverleibt oder ihm sogar zugrundegelegt werden können.5 Demnach gälte also, was E. Auerbach mit dem Titel seines Buches Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit des Abendlandes suggestiv referiert: dass nämlich alle Mimesis „dargestellte Wirklichkeit" sei. Dennoch wählt Auerbach Ausschnitte aus Texten der Weltliteratur zur Analyse aus, die mehr oder minder mit dem herkömmlichen Adjektiv „realistisch" bezeichnet werden könnten. Und damit bestätigt er zunächst einmal eines: dass (man ist versucht zu sagen) zu allen Zeiten „realistische" Züge in fiktiven Texten auftauchen, auch wenn sich diese Texte als Ganzes nach unserem bisherigen Gebrauch des Wortes nicht dem Ausdruck „realistisch" unterordnen. Sehen wir uns ferner die Auerbachschen Analysen an, so erkennen wir ganz eindeutig, dass dem als „dargestellte Wirklichkeit", als Fiktion auftauchenden Gegenstand eine jeweils ganz andersartige stilistische Behandlung zuteil wird. So ergibt sich, dass zwar immer wieder Gleiches — nämlich Geschehenes, Gesehenes, Erfahrenes, Erdachtes — Gegenstand der Fiktion ist, dass aber die basische literarische Verarbeitung grosse, ja grundsätzliche Unterschiede unter den Texten aufweist. Und unter anderem auch dieser Unterschiede wegen teilen wir die Geschichte der Literatur in Perioden ein, von denen eine die „realistische" genannt wird, die ins 19. Jahrhundert fällt. Das grundsätzliche Problem, mit dem wir nun konfrontiert sind, ist die sich verflechtende Zweischichtigkeit der Fiktion, Sätze wie „Die Quelle aller schöpferischen Kunst liegt für Fontane ausschliesslich im Leben und in der Wirklichkeit", bzw. „Die Literatur kann nicht nur die Realität spiegeln, sie soll und muss sie sogar wiedergeben" wirken deshalb als rein rhetorisch, wenn nicht gar als unsinnig (Joachim Biener, Fontane als Literaturkritiker, Rudolstadt, 1956, S. 15 u. 16). Biener kommt zu diesem Schluss auf folgendes, von Fontane recht vorsichtig formuliertes Zitat hin: „ . . . weil wir's im Leben haben, können wir's auch auf der Bühne haben, so sollen wir's vielleicht auf der Bühne haben". 4

EINLEITUNG

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ähnlich dem unbeliebten „Gehalt und Gestalt", wie Oskar Walzel es für die Literaturwissenschaft formuliert hat.® Diese Zweischichtigkeit des literarischen Textes, die ja bei der Analyse und ästhetischen Bewertung solche Schwierigkeiten bereitet, führt bei einer theoretischen Auseinandersetzung notwendigerweise zur Frage nach dem Woher, Warum und Wie von Gehalt und Gestalt. Besonders im Falle der sogenannten realistischen Literatur trifft das zu, denn realistische Literatur soll ja bedeuten, dass in solchen Texten „objektive Aufnahme" des Realen, der historischen Wirklichkeit, angestrebt sei, also der Autor Eindrücke empirischer Art zu verarbeiten hat. Da nun auch noch nach dem psychologischen Vorgang das Bild (der Gehalt) vor dem Ausdruck (der Gestalt) entsteht, müssen wir dem Gehalt eine primäre Bedeutung zumessen, und die Frage nach dem Woher und dem Warum des Gehaltes erscheint nur allzu berechtigt. Das bedingt aber auch, die von Fontane aufgezeigte Diskrepanz zwischen historischer Wirklichkeit und Fiktion zu untersuchen, welche Unterschiede zwischen diesen beiden Phänomenen bestehen; denn offenbar soll ja „Realismus" als Periodenbezeichnung andeuten, dass besonders starke Beziehungen zwischen den Realitäten und dem Dargestellten bestehen. Dabei ist aber immer noch nicht geklärt, was denn ein Ausdruck wie „realistisch" oder ein Begriff wie „Realismus" unvoreingenommen angeben soll. Darüber sei nun die Epistemologie befragt.

• Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (Darmstadt, 1957).

I DAS REALISMUS-PROBLEM IN DER FORSCHUNG

A. DER BEGRIFF „REALISMUS"

Jeder der verschiedenen philosophischen Strömungen, die unter der Bezeichnung „Realismus" zusammengefasst werden müssen, liegt die einheitliche Lehre zugrunde, dass die Gegenstände ein Wesen besitzen, das vom menschlichen Bewusstsein unabhängig ist, und dass dem Menschen die Möglichkeit gegeben ist, diese Gegenstände zumindest bis zu einem gewissen Grade zu erkennen. Den Begriff Realismus aber zu erläutern, bereitet einige Schwierigkeiten, denn die Philosophie kennt eine ganze Skala von Modifikationen dieses Begriffes. Die Skala reicht — das Folgende ist nicht historisch-chronologisch angeführt, denn wir müssen annehmen, dass diese oder jene Form des Erkennens und der Anschauung zu allen Zeiten praktiziert, wenn auch nicht schriftlich niedergelegt worden ist — vom naiven Realismus bis zum metaphysischen Realismus, wobei uns die verschiedenen Abarten hier nicht interessieren sollen, da sie für unsere Zwecke nicht weiter dienstbar gemacht werden können. Was bedeutet naiver Realismus? Am besten gehen wir bei der Definition davon aus, dass durch eine Subjekt-Objekt-Relation Wirklichkeit oder Realität entsteht, d.h. dass jegliche Sinneserfahrung gleich Realität ist. Das schliesst jedes Akzeptieren auf der Basis des Glaubens aus. Nur die eigene Erfahrung, die Erfahrungstatsache, schafft Realität. Diese Art des Realismus ist natürlich erweitert worden, indem dem erkennenden Bewusstsein eine kritische Rolle zugewiesen wurde. Damit hält nicht mehr die Erfahrungstatsache allein die Entscheidung über

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Realität, sondern das Bewusstsein kontrolliert die Erfahrungstatsachen und bewertet sie. Das Bewusstsein bestimmt dann über Realität und zugleich auch über ihre Bedeutung. Der metaphysische Realismus hingegen, der mit den sogenannten naiven oder erkenntnistheoretischen Realismusvorstellungen verbunden sein, von ihnen ausgehen kann, gibt sich mit dieser Haltung keineswegs zufrieden. Das menschliche Bewusstsein gilt nicht als letzte Instanz des Realitätenerkennens, sondern über die menschliche Bewusstseinswelt hinaus existiere danach eine vollkommen unabhängige Welt, ein Seins- oder Weltgrund, der entweder als etwas Stoffliches oder als etwas Geistiges vorgestellt wird. Klassische Begründer dieser Lehre, dass der über der menschlichen Bewusstseinswelt liegende Seinsgrund ein Geistiges sei, sind Plato-Aristoteles. Wir erfahren hier also das Paradox — für den normalen Menschen mit seiner Alltagsauffassung und für den Anhänger der nachcartesischen Philosophie bleibt es ein Paradox —, dass die mittelalterlich-scholastischen Realisten nicht das konkrete und besondere Sein der Gegenstandswelt als Realität angesehen wissen wollten, sondern die Universalien, jene Abstraktionen des Gegenständlichen, die nach aristotelischer Schulung etwas Geistiges, also Nicht-Stoffliches, darstellen. So vermochte nicht die Sinneswahrnehmung Realität zu erzeugen, sondern nur die metaphysische Uberzeugung von einem Seinsgrund, der vom Wirklichen und vom Gegenständlichen völlig unabhängig ist und der sich der Sinneswahrnehmung nicht öffnet. Nim stellt sich aber die Frage nach der Bedeutung dieser beiden Realismusschulen für unsere Untersuchung ein. Scheint sie nicht von vornherein abwegig zu sein, da es sich bei den Schriftstellern in erster Linie doch nicht um Philosophen handelt? Das ist zwar nicht auszuschliessen, aber die Existenz dieser beiden philosophischen Hauptströmungen weist doch auf etwas ganz Eindeutiges hin, und geistesgeschichtliche Untersuchungen bestätigen das: dass nämlich der Autor ante res von einer dieser Strömungen beeinflusst sein konnte und demnach den Gehalt seiner Produktion nach der für bedeutend erkannten Philosophie ausrichten konnte. Natürlich wurde dadurch auch seine Stilistik

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beeinflusst. Dabei konnte er allerdings nicht umhin, sich erst einmal der Sinneswahrnehmung zu bedienen, um seine Umwelt festzustellen. Dies musste auch geschehen, wenn, wie etwa bei den mittelhochdeutschen höfischen Epikern, der Autor auf einem mythologischen bzw. legendären Stoff zurückgreifen musste, weil die gesellschaftliche Kultur ihn dazu zwang. Für den mittelhochdeutschen Autor bestand allerdings die Aufgabe, dem alltäglichen und wohlbekannten Stoff seine besondere Behandlung im Rahmen der herrschenden Kulturvoreingenommenheit zuteil werden zu lassen. Im mittelhochdeutschen höfischen Epos wurde eben dem ritterlichen Ideal oder der christlichen Metaphysik Tribut gezahlt, d.h. dass die gegenständliche Welt und ihre Wesen nicht nur geschildert wurden, wie sie dem menschlichen Auge etwa erschienen, sondern wie man sich die Abstraktionen dieser gegenständlichen Welt und ihrer Wesen zu der und der Zeit vorstellte oder wie sie die traditionelle Handlung bot — oder die Protagonisten etwa wurden, falls sie den Idealen oder den „Universalien" nicht glichen, weil sie die Sinneswahrnehmung ganz anders vorfand, didaktisch an ihr Ideal herangeführt.1 Die tägliche Erfahrung allerdings beschränkte sich beinahe allein auf typische Abweichungen von der Norm, d.h. die Abweichungen wurden nicht individuell-psychologisch erfasst; 2 nur bestimmte Charakteristiken der Helden, abweichend — oder auch nicht — von der tatsächlich nicht sinneswahrgenommenen Norm, wurden in typische Perioden zusammengefasst. Diese Perioden wurden aneinandergereiht, so dass etwas wie ein Causalnexus sie verbindet, ohne dass dadurch individuellpsychologische Notwendigkeit diese Aneinanderreihung erforderte. 1

Vgl. etwa Hertmann von Aues Gregorius, Erec oder Iwein. Abweichungen davon finden wir in Wolfram von Eschenbachs Parzival, wo bestimmte Szenen bereits individuell-psychologisch erfasst werden. Dadurch lässt sich schon eine gewisse Änderung der Norm feststellen. Eine bereits totale Änderung der Norm haben wir dann in Gottfried von Strassburgs Tristan, in dem ja der Liebestrank zum Symbol unerklärlichindividueller Leidenschaft (je nachdem) erniedrigt oder erhoben wurde. Ganz konsequenterweise wird auch Christus zur Windfahne. 2

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Ähnliches nun, wenn auch in ganz anderer symbolischer und typisierender Gestaltung, geschieht selbst noch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts; in Wilhelm Meister etwa lässt sich noch eine Aneinanderreihung typischer Perioden feststellen, nicht so sehr im Sinne des pikaresken Romans, wie W. Kayser meint,3 sondern vielmehr im Sinne der mittelhochdeutschen Epen eines Hartmann oder Wolfram. Ein bedeutsames Unterscheidungsmerkmal, neben den oben angedeuteten, ist, dass das Typische nicht mehr von den Normen der Gesellschaft geprägt wird, sondern dass nur mehr die Norm des höchste Natur seienden und höchste Natur darstellenden Künstlers zuständig ist.4 Es ist also nicht mehr eine gesellschaftliche Idee, die zur Darstellung drängt, sondern eine individuelle. Zugleich war jene gesellschaftliche Idee ein Ideal, das schon ante res feststand, während die individuelle Idee didaktisch ein Ideal schuf, also ein Ideal, das erst post res sich ergab. Beide Vorstellungswelten aber bleiben im Bereich des metaphysischen Realismus. Die Strömung des metaphysischen Realismus nun wurde schon in der frühen Neuzeit durch die Strömung des naiven Realismus unterhöhlt. Diese Strömung hat,5 wie schon oben angedeutet, ihren Ursprung in jener Tatsache, dass Richtigkeit bzw. Wahrheit vom Einzelnen entdeckt und erkannt werden kann durch mehr oder minder kritische Betrachtung. Den Weg zu diesem Realismus bereiteten Ren6 Descartes und Thomas Locke vor; Thomas Reid hat dann um die Mitte des 18. Jahrhunderts diese Art des philosophischen Realismus formuliert.® Die Bedeutung Descartes' liegt vor allem in seiner Methodik; 3

Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, 4. Aufl. (Bern, 1956), S. 364. 4 Natürlich sind auch bei Goethe wenn nicht direkt gesellschaftliche, so doch philosophische Einflüsse und Vorstellungen vorhanden. Die in W. M. Lehrjahre gegebene typisierende Zusammenschau der Erziehungsvorgänge bleibt aber Goethes individueller Induzierkraft vorbehalten. — Vgl. dagegen Wackenroders bereits individuell-psychologische Behandlung des „Josef Berglinger". s Ian Watt in seinem Buch The Rise of the Novel spricht von dieser Strömung als „modern Realism" (S. 12). Er stützt sich dabei auf das Werk Realism von S. Z. Hasan (Cambridge, 1928). • S. Z. Hasan, Realism (Cambridge, 1928).

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seine hartnäckige Entschlossenheit, nichts auf blosse Vermutung bzw. auf blossen Glauben hin zu akzeptieren. Dies bedeutete einen Bruch mit der Tradition und beschleunigte das Freiwerden des Individuums und die Respektierung individueller Ansichten. Ian Watt in seinem Buch The Rise of the Novel, das sich auf die Anfänge des englischen Romans (Defoe, Richardson, Fielding) beschränkt, schaltet das langsame philosophische Wachsen des „naiven Realismus" in die Breite parallel mit den Anfängen des Prosaromans (novel).7 Er geht dabei allerdings von dem englischen Begriff „novel" aus, der im Deutschen selbst mit „moderner Prosaroman" nicht vollständig umrissen werden kann, weil diesem Begriff der Wert des Originalen, Neuen, ja Originellen fehlt. Watt spricht von völlig unabhängigen Neuerungen, die mit Defoes Werk zum erstenmal auftauchen. Zugleich führt er an, dass der Prosaroman (novel) diejenige literarische Form ist, „which most fully reflects this individualistic and innovating reorientation",8 eine Neuausrichtung, die der kartesischen Gründlichkeit entspricht. Gerade der moderne Prosaroman war es, der den gang und gäben Traditionalismus in der Literatur, der ja beinahe konstant kollektiv-kulturelle Anschauungen und Gegenstände universaler Art gebot, verwarf und als primäres Kriterium „truth to individual experience" kreierte — „individual experience which is always unique and therefore new".9 Der moderne Prosaroman wurde dadurch zum logischen literarischen Vehikel einer Kultur, „which, in the last few centuries, has set an unprecedented value on originality, on the novel; and it is therefore well named".10 In dem ersten Kapitel seines Buches beschreibt nun Watt kurz die bedeutendsten mit der modernen philosophischen Realismusströmung parallellaufenden Veränderungen, die von den ersten Romanciers gemacht werden mussten, um dem heutigen Begriff „Prosaroman" gerecht zu werden: Handlung (plot) musste entweder ganz erfunden oder teilweise aus der historischen GegenIan Watt, The Rise of the Novel (Berkely, 1959), S. 9-34. Ibid., S. 13. • Ibid., S. 13. 10 Ibid., S. 13. 7

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wart genommen werden; die Personen mussten individuelle Erscheinungen sein und vom Typ und seiner literarischkonventionellen Umgebung abgesetzt werden; 11 Einzelheiten mussten genau beschrieben werden; die literarische Sprache selbst musste sich diesen Gegebenheiten anbequemen, sich in die alltäglichen Sprachregionen (Prosa) begeben; und nicht zuletzt musste die Zeit partikularisiert werden, d.h. die Zeit musste aus dem mythologischen Stillstand des literarischen Traditionalismus befreit und als besonderes Element in den Handlungsablauf einbezogen werden. 12 Aus dieser verallgemeinernden und selbstverständlich unvollständigen Aufzählung von Neuerungen lassen sich aber zwei Richtlinien erkennen, die den Prosaroman (novel) deutlich von früheren literarischen Formen abheben: erst einmal ist es die Individualisierung der handelnden Personen,13 die bis zur Namengebung sich zu zeigen hatte, zum andern ist es die genaue, detaillierte Schilderung der Umgebung, in der die Personen zu handeln hatten. 14 Die Bemühungen in dieser Richtung gehen neben anderem also besonders auch auf eine genaue Fixierung des Schauplatzes aus.15 So kommt Ian Watt zu dem Schluss, dass das zugrundeliegende Prinzip des modernen Prosaromans (novel) sein „formaler Realismus" sei. Ja Watt weitet implicite diese Feststellung auf das Genre des Romans oder der Fiktion überhaupt aus, weil auch in den Werken Homers bis herauf zu den Werken Defoes Einzelheiten in ihrer Authentizität geschildert worden sind. In der vordefoeschen Fiktion aber, „in Homer and in earlier prose fiction these passages are relatively Ibid., S. 15. Watt weist auf die Parallele hin, die sich zwischen Philosophie und „novel" ergibt: „This literary change was analoguous to the rejection of universale and the emphasis on particulars." 12 Das Element der Zeit. Vgl. dazu Κ. Hamburger, Die Logik der Dichtung (Stuttgart, 1957). 13 Vgl. Clemens Lugowski, Die Form, der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung (= Neue Forschung, 14) (Berlin, 1932). 14 Vgl. Watt, op. cit., S. 18. ls Gerade auch die genaue Fixierung des Schauplatzes ist ein besonderer Gesichtspunkt des sogenannten Poetischen Realismus. Wir werden darauf an gegebener Stelle noch zurückkommen. 11

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rare, and tend to stand out from the surrounding narrative; the total literary structure was not consistently oriented in the direction of formal realism, and the plot especially, which was usually traditional and often highly improbable, was in direct conflict with its premises". Und obwohl Schriftsteller wie Grimmelshausen, Bunyan et al. geltend machten, dass ihr (fiktives) Werk die wörtliche Wahrheit wiedergebe, so sind doch „their prefatory asseverations . . . no more convincing than the very similar ones to be found in most works of mediaeval hagiography. The aim of verisimilitude had not been deeply enough assimilated in either case to bring about the full rejection of all non-realistic conventions that governed the genre." 18 Wir müssen hier einwenden, dass es diesen Schriftstellern und Intellektuellen seit etwa 1600 mit ihren Versicherungen der Wahrheitswiedergabe ernst war; nur stand ihnen innerhalb ihrer religiösen Zeit das Interpretieren von Vorgängen sehr nahe, noch immer ähnlich typologischen Interpretationen, wie sie die mittelalterliche Literatur aufweist.17 Gerade diese Interpretationsversuche innerhalb bestimmter Religionsvorurteile — Versuche also, Vorgänge über ihren zeitlichen Gehalt hinaus mit dem Uberzeitlichen, dem Ewigen oder der letzten Stufe, zu verbinden — finden wir allerdings im vormittelalterlichen Homer ebenso wie im neuzeitlichen Grimmelshausen. Beide versuchen tatsäch16 Watt, op. cit., S. 33. Vgl. Erich Auerbach, Mimesis, das einleitende Kapitel „Odysseus Narbe", ebenso das folgende Kapitel „Fortunata". 1T Vgl. Erich Auerbach, Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur (Krefeld, 1953), S. 13: „Die typologische Interpretation hingegen verknüpft zwei zeitlich und kausal weit voneinander entfernte Ereignisse, reisst jedes von ihnen aus dem Zusammenhang, in dem es geschah, heraus und verknüpft sie durch einen beiden gemeinsamen Sinn. Sie gibt also nicht eine kontinuierliche Entwicklung der Geschichte, sondern eine Interpretation derselben, und diese wird dadurch ermöglicht, dass Struktur, Ziel und Sinn der Geschichte durch die Verkündigung offenbart und also bekannt sind. Die Geschichte ist das Erlösungsdrama: der Sündenfall zu Beginn, Inkarnation und Fassion als mittlerer Wendepunkt, und das Jüngste Gericht mit dem erfüllten Gottesreich am Ende." — Ibid., S. 14: „Die moderne (und auch die antike) Geschichtsbetrachtung kennt das Ziel der Geschichte nicht. . . . Die typologische Interpretation hingegen hat, um den Sinn eines Ereignisses zu bestimmen, diesen Sinn vertikal, von oben, aus dem Plan der Vorsehung zu erfragen, sie deutet das Ereignis ab reale Prophetie oder als Erfüllung."

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lieh mehr zu geben als die Mimesis der empirischen Wirklichkeit. Sie wollen einen durch religiöse Urteile hervorgerufenen tieferen Sinn in die dargestellten Vorgänge bringen. Die Interpretationen aber sind mit Darstellungen vermischt, die wir im Sinne des philosophischen naiven Realismus getrost als realistisch bezeichnen können.18 Soweit also müssen wir mit Ian Watt übereinstimmen, dass realistische (im Sinne des naiven Realismus) Details bereits in der Fiktion vor Defoe auftauchen, dass sie aber vereinzelt sind. Bedeutsamer aber ist, dass erst mit der neuen philosophischrealistischen Strömung die Individualisierung des Einzelgegenstandes in der Fiktion radikal durchgeführt wird.19 Das bedeutet zugleich auch, dass ohne ethische Vorbelastung jegliches Thema zur Fiktion tauglich wurde, bedeutet aber auch, dass die Darstellung als solche von vornherein uneingeschränkte Freiheit besass, die allerdings konstant individuell begrenzt wurde. Dies lässt sich nun bereits vor Descartes' Zeit aus der Kunst eines Boccaccio etwa ablesen, aber auch an Grimmelshausens Werken. Alles letztere aber beweist, auch wenn nur sporadisch Beispiele angeführt sind, dass die freie Wahl des Gegenstandes und seine mehr oder minder krasse Darstellung schon in der vordefoeschen Fiktion anzutreffen ist und deshalb nicht als ein bestimmendes Kriterium für moderne Fiktion angesehen werden kann. Und so müssen wir zu den beiden viel grundlegenderen Kriterien zurückgreifen, die als Ausgangspunkt für den formalen Realismus der modernen Fiktion zu gelten haben: die Individualisierung der handelnden Personen und die detaillierte Schilderung des oft historisch fixierten Schauplatzes. Aber mit diesen beiden Kriterien ist vorerst nur etwas über den „formalen Realismus" der modernen Fiktion ausgesagt, vorerst auch noch nichts über die literarische Hauptepoche des 19. Jahrhunderts, die wir mit dem Epithet „realistisch" modifizieren. Wir haben also mit diesen beiden Kriterien nur einen Ausgangs18

Vgl. Fussnote 16. Vgl. dazu die exakten Ausführungen Watts in den weiteren Kapiteln seines Buches. Vgl. dazu auch die Ausführungen Lugowskis, die trotz anderer Bereiche gleichstimmige Erkenntnisse aufweisen. 19

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punkt für ein Genre der Dichtung skizziert, gültig auch für die realistische Epoche der deutschen Literatur.

B. „POETISCHER REALISMUS" (MERKER-STAMMLER)

Wir haben im Vorhergehenden gesehen, wie gewisse Einzelheiten zu besonderen Merkmalen moderner Fiktion wurden, der ein formaler Realismus zugeschrieben wird. Die weitere Aufgabe besteht nun darin, festzustellen, inwieweit diese Merkmale auch in der sogenannten „realistischen" Fiktion, die einen Grossteil der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts ausmacht, bestimmend sind oder inwieweit sie zu ergänzen oder zu modifizieren sind. Sehen wir im Merker-Stammler nach dem Stichwort „Realismus", so heisst es da: „Realismus, Poetischer".20 Wir werden also von vornherein auf eine ganz bestimmte Modifizierung dessen hingewiesen, was zu finden das eigentliche Anliegen war. Zuerst einmal wird der Zeitabschnitt angegeben, in dem der „Poetische Realismus" seinen Platz findet. „Man bezeichnet so die Literaturströmung, die, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlicher abgezeichnet, von da bis gegen das Ende der 80er Jahre andauert." 21 Wir finden aber keinen Hinweis auf das Wieso und Warum dieser Bezeichnung, wenn man von dem späteren „Der Name P. R., der von Otto Ludwig stammt, ist übrigens nicht ganz zutreffend" absieht. Präziser wird erst der zweite Paragraph, der das Wesen des „Poetischen Realismus" behandelt. Es heisst da: Das Wesen des P.R. liegt in seiner vorbehaltlosen Wirklichkeitsschilderung. Der Zusatz „poetisch" will aber besagen, dass dabei nicht auf eine pessimistische Zersetzung des Lebens abgesehen sei, das vielmehr in seinem tiefsten Grunde bejaht werden soll. Es er20

Merker-Stammler, ReaUexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II. Was im Folgenden herausgearbeitet wird, hat nur mit Hinweisen auf Künstlerisches oder künstlerische Theorien zu tun, nicht mit den Voraussetzungen, wie es etwa zu solchen Theorien kommen konnte, was sehr ausführlich im Merker-Stammler bearbeitet ist. 21 Ibid., S. 4.

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scheint in der künstlerischen Gestaltung als „poetisch", d.h. der Darstellung würdig, womit in der Tat der übereinstimmende Grundzug der Realisten dieser Epoche gekennzeichnet ist. . . . Der Charakter des P.R. liegt also in der Art seiner Wirklichkeitsschilderung, die nicht auf Analyse, Untersuchung, Prüfung vom Standpunkte irgendeiner philosophisch-moralischen oder soziologischen Theorie ausgeht, sondern reine Darstellung sein will.22 Was ist unter „vorbehaltloser Wirklichkeitsschilderung", die ja als das Kennzeichen des „Wesens" das P.R. hingestellt wird, zu verstehen? Die Vorstellung Nussbergers, des Bearbeiters dieses Artikels im „Merker-Stammler", geht, wenn wir das „vorbehaltlos" richtig verstehen, dahin, dass der Erzähler empirisch vorgeht; denn der „realistische" Erzähler löst sich ja, dem Artikel gemäss, von einer früheren Gebundenheit des Erzählers an „Analyse, Untersuchung, Prüfung vom Standpunkte irgendeiner philosophisch-moralischen oder soziologischen Theorie". Er löst sich also von einer vorgefassten „Idee", die auf eine spezifische Ganzheit des Dargestellten hinweist und zugleich dem Dargestellten eine stark symbolische Ganzheit oder Allgemeinheit aufdrückt. Gerade dieser Hinweis auf eine symbolische Ganzheit bedingt eine hohe und einheitliche Typisierung des Dargestellten wie der angewandten Techniken, besonders auch des Stils, so dass keine Unterschiedlichkeit etwa zwischen der Sprache eines Bediensteten und der seines Herrn durch die Diktion entsteht; ja selbst die Wahl der Worte brauchte nicht einmal eine Distinktion heraufzubeschwören, da ja mit dem Dargestellten nur einer bestimmten „Sache" zu dienen war, zu deren Herausarbeitung derlei Unterschiede nicht vonnöten waren. Für den realistischen Erzähler, dem ja die Wirklichkeit an sich nun darstellungswürdig erscheint und der sie empirisch, gemäss Artikel, zu erfassen und in der Fiktion einzufangen versucht, muss also eine solche Unterschiedlichkeit von Bedeutung werden. Er muss sich also, um bei dem Beispiel zu bleiben, den verschiedenen Stilebenen der Sprechenden anpassen, um die genaue Charakteristik der Handelnden, die in keiner Weise auf eine „Ganz11

Ibid., S. 4. Im § 2 handelt es sich um die wesentlichsten Äusserungen des Artikels. Spätere §§ erläutern nur äussere Bedingungen.

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heits-Sache" hinzielt oder hinzielen muss, sondern lediglich den geschilderten Wirklichkeitsausschnitt im Hinblick auf die Geschichte zu ergänzen hat, zu vervollständigen und die „Ganzheit" der Handelnden, ihr So-und-nicht-anders-sein, zu vervollkomnen. Diese psychologische Einstellung wird denn auch im Weiteren der Abhandlung bestätigt, so etwa: „Mit der Divination des' PSYCHOLOGEN versenkte man sich in die Zeitalter, um ihr EIGENARTIGES Bild mit den Mitteln des Kunstwerkes zu vergegenwärtigen, so sich der Aufgabe des Historikers nähernd." 23 Oder: "Man begnügte sich nicht mehr", das Geschehen der Vergangenheit „zur Spiegelung ALLGEMEIN MENSCHLICHER Verhältnisse heranzuziehen."24 Oder: „Für den Dichter ergab sich aus der geschilderten Zeitverfassung, dass er sich in erster Linie als Soziologe fühlte und von da aus den Zugang zum Seelischen und zu den Problemen des individuellen Seelenlebens zu gewinnen trachtete." 25 Eigenartigerweise wird aber dem realistischen Erzähler im Merker-Stammler-Artikel der Psychologentitel aberkannt, dann nämlich, wenn er sich mit der Gegenwart, mit Zeitfragen zu beschäftigen hatte. „Da", heisst es, „wurde die Herausarbeitung der individuellen ERSCHEINUNG oberstes Gebot. Sie erschien jetzt als Gefäss eines so nicht wiederkehrenden Wesens und sollte daher in ihrer unwiederbringlichen Einzigartigkeit beleuchtet werden."2® Eine natürliche Konsequenz sei der Gebrauch des Dialektes, um selbst noch Stammeseigentümlichkeiten herauszuarbeiten. Das ist verwirrend. Der realistische Erzähler soll Psychologe sein, wenn er Geschehnisse aus der Vergangenheit darstellt, während er lediglich das empirisch Perzipierte darstellt, wenn er Geschehnisse aus der zeitgenössischen Umwelt zur Darstellung bringt Gerade der Hinweis, dass die „individuelle Erscheinung . . . in ihrer unwiederbringlichen Einzigartigkeit beM Ibid., S. 8. " Ibid., S. 7 f. " Ibid.. S. 7. M Ibid., S. 8. Grossbuchs taten von mir.

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leuchtet werden" sollte, dürfte doch nicht ausschliessen, dass der realistische Schriftsteller sich auch, wenn nicht gar besonders, um die Darstellung individueller Psychologien kümmere. Von Bedeutung ist aber, dass Nussberger — und das geht Hand in Hand mit Ian Watts und Clemens Lugowskis Erkenntnissen — eine DETAILLIERTE Schilderung des Gegebenen hervorhebt und so das Partikularisierungsprinzip mit als Voraussetzung für realistische Erzählkunst anerkennt. Dennoch sind wir, trotz aller späteren beistimmenden Hinweise in diesem Artikel, über das Ziel hinausgeschossen, was den zitierten Abschnitt anbelangt. Das Adjektiv „vorbehaltlos" ist nämlich modifiziert. Der Zusatz „poetisch", der damit erklärt ist, dass das Dargestellte der Darstellung würdig sein müsse, modifiziert das Adjektiv „vorbehaltlos" entscheidend. Zwar weist Nussberger darauf hin, dass die Wirklichkeit oder ein für die Darstellung gewählter Ausschnitt der Wirklichkeit vorbehaltlos als Vorbild dienen kann, gibt damit aber in keiner Weise zu verstehen, dass diese Teilwirklichkeit vom realistischen Erzähler vorbehaltlos geschildert wird; sie muss ja poetisiert werden, damit etwas Poetisch-Realistisches entstehe. Vorbehaltlose Wirklichkeit ist also nicht geschildert. Dazu kommt noch, dass poetisch zugleich bedeuten soll, dass dem realistischen Erzähler in keiner Weise die Absicht vorschwebt, das Leben pessimistisch zu zersetzen. Obwohl es nun nicht direkt ausgedrückt ist, so liegt doch der Verdacht nahe, dass er sich in den Werken der realistischen Erzähler um ein Idealisieren der dargestellten Wirklichkeit handeln soll, nicht notwendigerweise um ein Idealisieren nach einem Absolutum, nach einer Idee, sondern um Verschönerung dessen, was ist. Fragen wir nach der Voraussetzung der Vorstellung, dass das Leben im Kunstwerk nicht pessimistisch zersetzt werden sollte, so müssen wir zu dem Schluss gelangen, dass die Wirklichkeit nicht so beschaffen ist, dass sie „vorbehaltlos" nicht-pessimistisch dargestellt werden kann. Anlass zum Pessimismus gibt demnach die Wirklichkeit, so dass der Gedanke an eine wenn auch noch so unauffällige Korrektur und Verschönerung dessen, was ist, nicht von der Hand gewiesen werden kann.

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DAS BE ALIS MUS-PROBLEM IN DEH FORSCHUNG

Fassen wir hier nun die Analyse des Problems dem MerkerStammler-Artikel gemäss so zusammen, dass einerseits der poetische Realismus vorbehaltlos an die Wirklichkeit herantritt, sie auch schildert, so wie sie ist, andererseits aber Schönheitskorrekturen unternimmt, um pessimistischer Zersetzung vorzubeugen, so werden wir bei der Aufführung der als poetische Realisten eingestuften Autoren weiter in Unsicherheit getrieben. Gottfried Keller wird da zum hervorragendsten Vertreter der poetischen Realisten gestempelt, erst einmal, weil er alle wesentlichen „Gattungen und Gestaltungsarten" des Poetischen Realismus umfasse, i.e. koloniale Stoffe bäuerliche Welt bürgerliche Welt grosse Konfession der Weltliteratur (autobiographisch) weltfrohe Welt Diesseitsgläubigkeit Suffragistenvorkämpfer, dann aber vorzüglich seines Humors wegen. „Kellers Humor ist das eigentliche, grosse Wahrzeichen seines Realismus, das ihn zum Vertreter seines Zeitalters stempelt", heisst es da, und in der weiteren Erklärung, dass „der Humor nun wesentliches Merkmal der Literatur" werde.27 Verwirrend ist das allein schon deshalb, weil in dieser Aufzählung Stoffliches, individuelle Weltanschauung und stilistisch-strukturelle Elemente in einen Topf geworfen werden. Die Versatilität des Erzählers, durchtränkt mit Diesseitsgläubigkeit (oder auch Gottlosigkeit) und dem stilistisch-strukturellen Element des alle wesentliche Unbehaglichkeit der Wirklichkeit überbrückenden Humors, stempelt ihn also zum grössten poetischen Realisten. Dementsprechend werden auch alle weiteren poetischen Realisten klassifiziert, man ist versucht zu sagen: als Spezialisten angeführt. So verewigt Stifter die Kultur von vorgestern, Auerbach ist Dorfspezialist, Gotthelf ist psychologisierender Bauernspezialist, Ludwig und Hebbel sind kraft ihrer Psychologie "

Ibid., S. 10.

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Realisten usw. Erst bei C. F. Meyer erfahren wir etwas mehr Grundlegendes, einen direkten Hinweis auf die vorangehende Literatur zu machen, um wenigstens in etwa historisch einzureihen. Wird Meyer vorzüglich als geschichts-interessiert dargestellt, so heisst es doch auch: „Der Realismus aller dieser [bes. Meyers] Dichtungen liegt darin, dass hier die Vergangenheit nicht in beliebiger Umformung als Symbol eines persönlichen Weltbildes oder Erlebnisses auftritt (wie dies in früheren Zeiten der Fall war), sondern stofflichen Charakter trägt, der durch die Darstellung verlebendigt werden soll oder doch erst durch die volle objektive Bewältigung Ausdruck individuellen Empfindens wird." 28 Nichts Neues tritt uns hier entgegen; zu Grunde liegt ihr die Vorstellung von der „vorbehaltlosen Wirklichkeitsschilderung". Neu aber ist das Auftauchen des Begriffes „Symbol". Sollen wir hier anerkennen, dass Klassik und Romantik sich der Wirklichkeit bedienten, um sie in der Darstellung auf ein „Symbol eines persönlichen Weltbildes oder Erlebnisses" einzuengen, so geschieht das innerhalb der realistischen Epoche der deutschen Literaturgeschichte nicht. Dargestellt wird in dieser Epoche nicht mehr, um ein Symbol zu errichten, sondern um der Welt „vorbehaltlos" habhaft zu werden. Das bedeutet, dass das Augenmerk sich nicht mehr auf symbolische Darstellung richtet; in anderen Worten: der Einzelfall bleibt individuell und wird als solcher dargestellt, ohne Rücksicht auf irgendein zu entstehendes Symbol, ohne Rücksicht auf Allgemeingültigkeit, die der Einzelfall aussprechen könnte. Schwerverständlich aber bleibt, wie „die volle objektive Be88

Ibid., S. 12. Eigenartigerweise ist Theodor Fontane, der doch des Humors ebenso mächtig war wie Gottfried Keller, nur mit seiner Lyrik, vorzüglich mit seinen Balladen angeführt. Aber Fontane ist unter der Rubrik „Naturalismus" zu finden und zwar deshalb, weil a) er eine impressionistische Auffassung der Wechselrede hat; b) er das Ehebruchsmotiv zur Darstellung bringt; c) er sich ganz der Gegenwart verschreibt; d) er die Darstellung des psychischen Lebens von Durchschnittsmenschen der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht vorzieht; e) er auf die Darstellung der Aussenwelt verzichtet; f) bei ihm die Seelenkunde deute, was der doktrinäre Naturalismus auf physiologisch-materielle Ursachen zurückführen zu müssen glaubte (Merker-Stammler, Bd. I, S. 456).

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wältigung" des Stoffes zu einem „Ausdruck individuellen Empfindens" zu werden vermag. Für „objektive Bewältigung" dürfen wir wohl gelungene „vorbehaltlose Wirklichkeitsschilderung" einsetzen, und das „individuelle Empfinden" müssen wir wohl auf den Erzähler beziehen, der seine Sympathien für diesen oder jenen Stoff zu erkennen gibt, auch seine Sympathien in der Behandlung dieser oder jener Figur, ihrer Psychologie und dgl. Allerdings wird dadurch die „vorbehaltlose Wirklichkeitsschilderung" erneut eingeschränkt, und das aufgeworfene RealismusProblem bleibt problematisch. Dennoch lassen sich verschiedene Punkte aus diesem Artikel herausschälen, wenn wir davon abstehen, sie als aus „objektiver Bewältigung" oder aus dem Kunstwerk gewonnen anzusehen; mit dem sprachlichen Kunstwerk an sich beschäftigt sich nämlich der Artikel fast gar nicht. Es ist ja auch so, dass wir wohl mit dem Stofflichen allein, auf das Nussberger das Hauptaugenmerk richtete, keine ästhetische Kritik über die tatsächliche Bedeutung (als realistisches Kunstwerk) eines sprachlichen Kunstwerks vornehmen können. Wir sind deshalb gezwungen, diese verschiedenen Punkte als bestimmte Voraussetzungen für die Literatur der realistischen Epoche anzusehen, Voraussetzungen, denen der Schriftsteller nachzukommen trachtete, wohlgemerkt auf seine individuelle Weise, was der Artikel wiederum nicht genügend klarzustellen versucht, obwohl doch alle möglichen Unterschiede etwa zwischen den Werken Gotthelfs, Stifters und Kellers ohne weiteres festzustellen sind, selbst Stoff- und Zweckverschiedenheiten. Was sind nun diese Punkte, die als Voraussetzungen für die deutsche realistische Literatur des 19. Jahrhunderts zu notieren sind? Folgende Punkte sind zu nennen: a) Wirklichkeitsschilderung (das Adjektiv „vorbehaltlos" kann nicht mit angeführt werden, da es sich als nicht zutreffend erwies. Wirklichkeitsschilderung bedeutet, dass der Erzähler sich der Umwelt als Stoff bedient, ohne ihr irgendeine Idee oder einen Symbolcharakter aufzupfropfen. Sie wird aber nach Darstellungswürdigkeit ausgewählt und soll poetisiert werden, was unverständlich bleibt);

DAS R E A L I S M U S - P R O B L E M IN DER FORSCHUNG

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b) das bejahende Verhältnis zur Umwelt; c) die psychologische und soziologische Einstellung bzw. Erarbeitung; d) Humor als wesentliches Merkmal; e) Herausarbeitung der individuellen Erscheinung. Allein diese Punkte scheinen die problematische Bezeichnung und die Literatur dieser Epoche keineswegs genügend zu umreissen, vor allem schon deshalb nicht, weil Wirklichkeitsschilderung etc. ja im Grunde genommen immer das Ziel des Erzählers ist. Zudem lässt sich nicht ermessen, welche Art von Wirklichkeit in die Darstellung aufgenommen werden soll — wir haben ja die verschiedenen Möglichkeiten in der Aufzählung einiger poetischer Realisten gesehen —, damit ein Kunstwerk als realistisch bezeichnet werden könnte. Andrerseits ergab sich auch bei der Betrachtung des Merker-Stammler-Artikels, dass der realistische Erzähler psychologisch und soziologisch vorgeht, um auf diese Weise der Einzelerscheinung, der Einzelpersönlichkeit Individualität zu geben, eine ähnliche Feststellung, wie wir sie bei Watt und Lugowski ausführlicher herausgearbeitet finden. Dies aber liegt im stilistisch-strukturellen Bereich, der in dem besprochenen Artikel nicht analysiert wird. Jedenfalls ergeben sich aus dem Angeführten zwei verschiedene Betrachtungsweisen, das Realismus-Problem zu lösen. Die eine, die ihren Ausgangspunkt von der Wirklichkeit und ihrer Aufnahme in das sprachliche Kunstwerk nimmt und die vor allem im besprochenen Artikel zur Anwendung gelangt, ergab zu vage Bestimmungen. Für die zweite, die vom Kunstwerk ausgeht, lassen sich nur Ansätze vermerken. C.

DER „WILLE ZUR WIRKLICHKEIT" (H. O. BURGER)

H. O. Burger hat in seinen Annalen der deutschen Literatur den Zeitabschnitt 1832-1889 mit „Der Realismus des neunzehnten Jahrhunderts" betitelt.29 In den einleitenden Abschnitten ver" Annalen der deutschen Literatur. Hrg. von Heinz Otto Burger (Stuttgart, 1952). Darin: „H. O. Burger, Der Realismus des 19. Jahrhunderts", S. 621 ff.

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DAS REALISMUS-PROBLEM IN DER FORSCHUNG

sucht Burger aus der Fülle der Erscheinungen vor allem einen starken „Willen zur Wirklichkeit" herauszuschälen. Er untermauert das mit den verschiedensten Zitaten, von denen das interessanteste aus Ludolf

Wienbargs Ästhetischen Feldzügen

(1854) stammt. Wienbarg schrieb darin über Heine, den er in Gegensatz zu den klassischen Dichtern bringt, dass er, Heine, „die Form der neuen Zeit gefunden habe und EINE PROSA DES WIRKLICHEN LEBENS schreibe. Der Goethesche Stil sei Hofsprache, der Schillersche Paradesprache." 30

Burger

allerdings knüpft

seine Ausführungen nicht an diese Aussage an, die deshalb so grosses Interesse zu erwecken scheint, weil in ihr von Sprachstilunterschieden die Rede ist; Burger geht es vielmehr um den allgemeinen „Willen zur Wirklichkeit". Der Begriff Realismus bedeutet für ihn dann im weiteren Verlauf seiner Abhandlung „nichts anderes als Nähe zur Wirklichkeit, Eroberung der Wirklichkeit, Aufnahme der Wirklichkeit durch die Dichtung — der Wirklichkeit aller Lebensbereiche: der Seele, der Natur, der Landschaft, der Gesellschaft, der Geschichte, der Sachen. Realismus ist Sachlichkeit im Gegensatz zu Romantik und Idealismus. Realismus heisst zugleich die Kunst der Dichtung, diese Wirklichkeit im Wort zu gestalten, das Beobachtete in der Sprache der Dichtung auszusagen." 31 Neuerdings wurden solche „Analysen" des Realismus-Problems abgelehnt, wir werden noch sehen warum.

Richard

Brinkmann, dessen Studien hier vor allem gemeint sind, zieht bei seiner Verurteilung aber doch zu wenig in Betracht — wenngleich seine Ablehnung logisch und konsequent ist —, dass z.B. in Burgers Abschnitt in den „Annalen" der Komplex Realismus seine Modifizierungen durch konstante Hinweise auf die Ausprägungen ganz bestimmter „Lebensgefühle" erhält. So sieht Burger — ausführlicher, als das bis zum Erscheinen der Annalen der Fall zu sein scheint — zu Beginn der realistischen Literaturperiode diverse Formen dieser „Lebensgefühle" sich herausZitiert nach H. O. Burger, op. cit., S. 622. Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion 54 f. 30

31

(Tübingen, 1957), S.

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bilden, die für die Auswahl der Stoffe und ihre Behandlung in der literarischen Produktion ohne Zweifel bestimmend wurden. „Wie in Prismen", heisst es da bei Burger,32 „zeigt sich . . . der neue Wille zur Wirklichkeit, der Realismus, in seinen verschiedenen Brechungen als SOZIALISMUS und NATIONALISMUS, SENSUALISMUS und PANTHEISMUS" — eine Mischung aus individuellem, ja egozentrischem und sozialem, gesellschaftlichem Gedankengut also, die ganz eindeutig auf separate, individuelle Interessengebiete hinweist und damit auch zeigt, wie die literarische Produktion in die singuläre Gegenwartstendenz einzuschwenken vermag. Burger nun sieht diese Kräfte in einer Auseinandersetzung mit Goethe; Hugo Bieber dagegen — um darauf hinzuweisen — betitelte, ohne Zweifel mit gewissem Recht, seine Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts mit Der Kampf um die Tradition, der sich nach Biebers Ansicht fast über das ganze 19. Jahrhundert hinzieht. Sahen wir nun hier in der Darstellung des Anfanges der realistischen Literaturbewegung schon, dass es Burger neben den eingangs dieses Kapitels angeführten Gesichtspunkten vor allem auch um eine Festlegung einer realistischen Weltanschauung geht, so wird das im weiteren seiner Abhandlung immer offensichtlicher. Ja Burger geht so weit, von spezifischem Weltanschauungsgut her Modifizierungen des „Realismus" zu bestimmen. So stellt er, konstant gekoppelt mit historischen und philosophischen Einschiebseln, bei Büchner einen „dämonischen Realismus" fest, bei Hebbel einen „kosmischen Realismus", bei Bachofen einen „chthonischen Realismus", und so fort. Dabei gelangt der Verfasser zu einer neuen Bedeutung des Begriffes „Poetischer Realismus": „An der Oberfläche der sogenannten Schönen Literatur feiert die sentimentale Kostümromantik, die um 1843 einsetzte, in den fünfziger Jahren ihre grössten Triumphe. Das Bürgertum muss geradezu süchtig gewesen sein nach Selbstbefriedigung an unverbindlichen Gefühlen und einer zu diesem Zweck GESTELLTEN WIRKLICHKEIT. Das ist hier unter «

Burger, op. ext., S. 6 2 3 .

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DAS REALISMUS-PROBLEM IN DER FORSCHUNG

Poetischem Realismus verstanden."83 In diese Kategorie zählt neben anderen Scheffel, Reuter, Groth und Heyse.34 Im Anschluss an Heyse lässt sich herausschälen, welche Vorstellungen Burger vom Realismus des 19. Jahrhunderts hat, so dass die verschiedenen modifizierten Realismus-Arten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das grundlegende Lebensgefühl, das zur Darstellung kommt, ist gerade das Gegenteil von dem, was Burger über das Wesen von Heyses Werk auszusagen hat: Abdichtung gegen das Leben; 35 d.h. alles Elementare ist aus dieser Kunst entfernt, bewusst ferngehalten, oder, wie Burger sagt, es „wird wegstilisiert". Trotz „realistischer Schilderung", trotz eingehender psychologischer Darstellung, die Burger in Heyses Werk findet und die er mit einem Bild des Malers Anselm Feuerbach vergleicht, wird wegstilisiert, idealisiert, gegen das Leben abgedichtet, so dass etwas wie ein „lebendes Bild" entsteht, dem jedoch das Blut fehlt,38 das zwar unverrückbar einmalig ist, das aber auch unverrückbar statisch ist und die Beweglichkeit des Lebens nicht in Betracht zieht. Finden wir nun in dieser Aussage, dass das jeweilige „Lebensgefühl" zur Darstellung der elementaren Wirklichkeit hindrängen muss — individuell abhängig natürlich von dem jeweiligen „Lebensgefühl" des Schriftstellers —, damit die Bezeichnung „Realismus" bzw. realistisch für ein Kunstwerk gerechtfertigt ist, so erfahren wir andrerseits aber auch, dass selbst die Darstellung 83

Ibid., S. 669. Zur Kritik darüber vgl. R. Brinkmann, op. cit., S. 57. 85 Burger, op. cit., S. 671. 38 Ibid., S. 671. Vgl. dazu Dolf Sternberger, Panorama, S. 68 ff. Wir werden wohl nach Einzeluntersuchungen zu Kategorien kommen wie H. O. Burger, vielleicht unter weniger rhetorischem Aufwand. Einen ähnlichen, jedoch kollektiveren Weg schlägt Fritz Martini in seiner Deutschen Literatur im bürgerlichen Realismus (Stuttgart, 1962) ein. Er versucht die sogenannte realistische Literatur dadurch auf einen Nenner zu bringen, dass er von „bürgerlichem Realismus" spricht. So abwegig scheint das gar nicht zu sein; jedenfalls schiebt das Bürgertum seine Kultur mächtig in den Vordergrund des 19. Jahrhunderts. Im Grunde genommen gibt Martini dadurch aber auch nur ideologisch-historische Voraussetzungen an, die letzthin wohl doch nicht jedem Werk und Schriftsteller gerecht werden, allein schon deshalb nicht, weil „bürgerlich" alle möglichen Assoziationen erlaubt, ohne zugleich auch auf etwas Menschliches oder die Darstellung des Menschlichen hinzuweisen. 94

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des Elementaren noch modifiziert zu erscheinen hat. Burger formuliert folgendermassen: „Kennzeichen jeder Romantik ist das, wie immer geartete, ekstatische Erlebnis, das den Menschen in eine höhere Wirklichkeit versetzt; der Realismus — als Weltanschauung — will dagegen durchaus diese unsere Wirklichkeit haben. Zu ihr gehört in entscheidender Weise der Tod als das schlechthinnige Ende des Individuums. Trotzdem — und das ist nun die andere Seite, Trost und Erhebung — geht das Leben als solches weiter, das Leben der ,Natur'."37 Dieser Trost- und Erhebungsgedanke, der mit zum realistischen Lebensgefühl gehöre und der Darstellung eingebaut sei, zeige, dass „das Sein des Seienden nun nicht mehr in erster Linie seine Gleichgültigkeit und heilige Grausamkeit gegenüber dem Menschlichen" vorkehre, „sondern vor allem seine bergende Macht".38 Damit — der „chthonische Realismus" von Bachofens Weltbild ist es, der den Umschlag aus dem Pessimistischen des Frührealismus eines Georg Büchners etwa ins Optimistische ermöglicht — will Burger nun auch den Weg vom Frührealismus der dreissiger Jahre zum Hochrealismus der fünfziger Jahre gekennzeichnet sehen, „die Richtung jenes Weges, den Immermann eingeschlagen hatte und in besonders exemplarischer Weise Stifter während seiner Reifejahre durchmass, des Weges von Georg Büchner zu Gottfried Keller".39

D. DER SOZIALISTISCHE REALISMUS (GEORG LUKACS)

Georg Lukacs schreibt am Ende seines Aufsatzes „Der alte Fontane",40 Theodor Fontane gehöre „zu den bedeutendsten Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil er einerseits das Hassenswerte an seiner Gegenwart so darstellt, wie sie es verdient, weil er andererseits — bei aller Beschränktheit seines Weltbildes auf das Privat-Persönliche — hier nicht der Ver« Ibid., S. 669. «8 Ibid., S. 669. «· Ibid., S. 669. 40 Georg Lukacs, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts (Berlin, 1952).

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suchung verfällt, solche notwendigen Kollisionen durch ihr Verschieben ins Pathologische scheinbar zu ,vertiefen' und in Wirklichkeit vom Wesentlichen abzulenken",41 und endet eben diesen Aufsatz: „ ,Anna Karenina' steht zu ,Effi Briest' wie der Grosse Oktober 1917 zum deutschen November 1918. Dass ein solcher Vergleich überhaupt gemacht werden darf, und dass er so ausfällt, bestimmt — nach oben und nach unten — den literarischen Rang des alten Fontane." 42 Es ist notwendig, unvoreingenommen an diese Wertung heranzutreten; es steckt nämlich hinter dieser voreingenommenen Rhetorik ein bedeutender Ansatz zur Bestimmung des literarischen Realismus und nicht nur des „sozialistischen Realismus", mit dessen Propagation Georg Lukacs ohne weiteres identifiziert werden kann. Uns soll hier nun nicht interessieren, woher dieser „sozialistische Realismus" stammt, aus welchen politischen und philosophischen Quellen diese Anschauungen abgeleitet wurden.43 Feststeht, und das lässt sich schon und leicht aus obigem Zitat ablesen, dass ein politisch-aggressives Moment Lukacs' Vorstellungen zugrundeliegt, das mit dem Hass gegen alle wirtschafts- und adelskapitalistische Gesellschaft identifiziert werden kann und muss. Lukacs geht das Realismus-Problem mit dem hitzigen Verstand des Revolutionärs an, der seine a-prioriIdeologie unbedingt im Kunstwerk aufzuspüren sucht und sie entweder findet oder nicht. Danach wird dann eingeteilt in sozialistischen Realismus und nicht-sozialistische Kategorien, die die wertvolle Titelierung „Realismus" nicht verdienen. In solcher Bedingtheit lässt sich keine Epoche des literarischen Realismus herausarbeiten. Bezeichnenderweise heisst das Buch von Georg Lukacs, das sich zwar nicht unmittelbar mit dem Problem des Literarischen Realismus befasst, aber doch von seinen anderen Arbeiten über dieses Problem nicht abweicht,44 Deutsche Realisten des 19. Ibid., S. 306. Ibid., S. 307. 48 Vgl. Peter Demetz, Marx, Engels und die Dichter (Stuttgart, 1959). 44 Weitere Arbeiten Georg Lukacs* über Realismus: Balzac und der französische Realismus (Berlin, 1952); Probleme des Realismus, (2. Auflage). (Berlin, 1955).

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Jahrhunderts.*5 Das Buch beginnt mit der Abmessung Heinrich von Kleists; es folgen Eichendorff, Gg. Büchner, Heine, Keller, Raabe, und es endet mit dem Aufsatz über den „alten Fontane". Dazwischen lesen wir aber auch etwa von Goethes Realismus, gleich dem „Hass Goethes gegen das Philistertum", gegen bestehende Zustände etc.,4® so dass sich nach alledem die Tatsache mit Gewissheit herausschält, dass es für Lukacs keine eigentliche Epoche des Realismus in der Literatur gibt, sondern jede schriftstellernde Persönlichkeit je nach ihrem grösseren oder kleineren Hass gegen zeitgenössische, i.e. feudalistische bzw. kapitalistische Zustände in die Skala der sozialistischen Realisten eingestuft wird. Dennoch ist Lukacs' Literaturkritik für unser Problem von Bedeutung, denn sie gibt Einsichten wieder, die in seinen Theorien zu finden ihm vielleicht gar nicht lieb sein sollten, die allerdings, wenn auch mühsam, immer wieder in Reih' und Glied seiner ideologischen Utopie gebracht werden. Bewusst ist hier der Begriff der „Utopie" gewählt worden, denn wir müssen uns fragen, wo denn die Warte sich befindet, von der aus jenes Urteil über Fontane ausgesprochen werden kann, dass nämlich dieser Schriftsteller „zu den bedeutendsten Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" gehöre, und das aus zwei Gründen: zum ersten hasse er die zeitgenössischen Zustände und stelle sie dar, wie sie es verdienten, zum andern lasse er das Wesentliche bestehen; wobei wir unter dem „Wesentlichen" wohl die nach Lukacs Ermessen aufbauende Gesellschaftskritik Fontanes und gewisse, im Folgenden noch näher zu bestimmende Thesen Lukacs zu verstehen haben. Sind das allein schon zwei dubiose Argumente, so verzerrt sich das Bild vollends, wenn Anna Karenina und Effi Briest mit der Oktoberrevolution 1917 bzw. der Novemberrevolution 1918 verglichen werden und aus der „Möglichkeit" dieses Vergleichs ein Rang-

Es lässt sich also ohne weiteres darauf schliessen, dass es deutsche Realisten des 18., 17. Jahrhunderts usw. gibt, mit den gleichen Eigenschaften. « Lukacs, op. cit., S. 303. 46

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urteil über Werk und schriftstellerische Persönlichkeit ausgesprochen wird. Warum tut Lukacs das? Für den Marxisten Lukacs ist die russische Oktoberrevolution ganz simpel der Wendepunkt zu einer absoluten Gesellschaft, die pazifistisch, klassenlos, normal und gut ist. Tolstoi, nach Lukacs, lässt diesen Wendepunkt ahnen, stellt die Verschraubtheit der bourgeoisen Moral dar und produziert der neuen Gesellschaft in die Hände, wenn er nicht gar mithilft, diesen Wendepunkt und die neue Gesellschaft herbeizuführen.47 Bestätigt wird das durch die Oktoberrevolution 1917. Fontane schafft Ähnliches, allerdings nicht in gleicher Grossartigkeit, weil ihm nicht eine solch radikale Gesellschaftsentwicklung zur Verfügung gestanden habe wie dem grossen Russen. Letzteres mag bis zur Zeit der Wendepunkte stimmen. Die Geschichte allerdings ging sonderbarerweise darüber hinweg, ohne dass sie das Absolutum herbeizuführen gestattete. Das führt aber in utopische Bereiche. Was einst in der Klassik so etwas wie eine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies war — psychologisch lässt sich diese Behauptung in der typisierenden und symbolisierenden Darstellungsweise finden und vertreten — und zugleich als Versuch auftauchte, es im Kunstwerk als Harmonie (kalokagathia) wiederherzustellen: dieses Sehnen in etwas Vergangenes wird umgewandelt in ein Wissen für die Zukunft.48 Das bedeutet aber auch zugleich, dass der Schriftsteller — dieser Gedanke wird von oben her aufoktroyiert — sich in den Dienst dieser Zukunft stellt (d.h. endlose Kritik an der Gegenwart zur Verbesserung des Bestehenden oder „sozialistischer Realismus"), die ja mit der Oktoberrevolution 1917 bereits begann. Selbstverständlich soll hier nun nicht von vornherein geleugnet werden, dass in Fontanes Werk sich Gesellschaftskritik findet. Sie ist aber versteckt, ist durchwegs implicite. In keinem von Fontanes belletristischen Werken ist die Tendenz zur Gesellschaftskritik vorherrschend. Der Interpret eines Fontaneschen Werkes kann zwar durch die Analyse Gesellschaftskritik feststellen, muss aber zugleich auch feststellen, dass diese Kritik 47

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Vgl. Demetz, op. cit., S. 279. Ibid., S. 285.

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an der Gesellschaft sich durchwegs auf die Beschaffenheit des Einzelmenschen bezieht und immer etwas Allgemein-Menschliches durchscheinen lässt.49 In anderen Worten: es ist nicht die abstrakte Gesellschaft, die in Bausch und Bogen kritisiert, d.h. kritisch dargestellt wird, sondern der in einem bestimmten Staatsgebilde lebende Mensch und seine Art und Weise, wie er in den Normen dieses Staatsgebildes sich auslebt. Es ist also der Einzelmensch, der zur Darstellung gelangt, nicht ein Typus, auch nicht ein Typus im Lukacsschen Sinn, zu dem eine bestimmte Gesellschaftsschicht zusammengefasst ist.80 Lukacs in seiner Abhängigkeit von klassischen ästhetischen Prinzipien gelangt zu konträren Feststellungen, die in keiner Weise aus dem Kunstwerk selbst gewonnen sind, sondern durch Vergewaltigungen privater Aussagen. Ja es ist so, dass selbst Fontanes private und essayistische Aussagen in keiner Weise Lukacs' Interpretierungen bestätigen.51 Doch nun weisen Lukacs' Interpretierungen neben der mehr oder minder interessanten Einsicht, dass der Schriftsteller in seiner Produktion im allgemeinen von seiner Umgebung abhängig ist,52 auf Ansatzpunkte hin, die zur Erkenntnis des Realismus-Problems beitragen. Zunächst einmal ist das die Erkenntnis der historischen Fixierung des Schauplatzes in der Fiktion. Das ist zwar nichts unmittelbar Neues, aber es weist auf eine Gemeinsamkeit innerhalb verschiedener Lager hin. Gerade die Erkenntnis der historischen Fixierung des Schauplatzes ist, lässt man die Ansichten des Ideologen unbeachtet, von Lukacs im Zusammenhang mit Fontanes Schach von Wuthenow besonders gut herausgearbeitet worden. „,Schach von Wuthenow' (1883) ist Fontanes kleines Meisterwerk in dieser Kritik des historischen Preussens", schreibt Lukacs, „ein noch lange nicht in seiner vollen Bedeutung erkannter einsamer Gipfel der deutschen historischen Erzählkunst. Es ist Fontane hier gelungen, die gesellschaftlich-moralischen « Vgl. S. 120. w Vgl. Demetz, op. cit., S. 282. 51 Vgl. besonders Fontanes Kjellandkritik (Werke, II, Bd. 9, S. 274 ff.) 52 Das liegt in Lukacs' Einstehen dafür, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse die „Grösse" des Schriftstellers bestimmen.

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Gründe der Vernichtung des friderizianischen Preussen in der Berliner ,Gesellschaft' blendend zu beleuchten." 58 Worauf Lukacs hinweist, ist tatsächlich die Erfassung eines Zeitabschnittes aus der Geschichte Preussens und Berlins durch Fontane; ja Lukacs ist es sogar möglich, Zitate aus dem Roman anzuführen, die das ohne Zweifel bestätigen.54 Diese genaue historische Fixierung wird aber nun von Lukacs schon als Kunst gewertet, die allerdings erst ihre Vollendung dadurch erfährt, dass der konkrete Inhalt des Werkes, „die Liebesgeschichte bei allen ihren individualisierten, ja zuweilen bizarren Zügen, die typische Erscheinungsweise dieser gesellschaftlichgeschichtlichen Grundlage ist".55 Damit aber geht Lukacs zu weit; denn was ja lediglich eine der Grundlagen für ein sprachliches Kunstwerk „realistischer" Art sein kann, eben die richtige Fixierung des Schauplatzes, veranlasst bereits dadurch, dass es als etwas Typisches im Roman erscheint, zumindest als etwas Typisches gesehen wird und ihm Sozialkritik innezuwohnen scheint, das ästhetische Urteil. Wo bleibt da die Sprache, das Material, dessen Handhabung zur „künstlerischen Vollendung" doch unumgänglich notwendig ist. Oder glaubt Lukacs, dass es sich schon allein dadurch, dass sich etwas „Typisches" ergibt, erübrigt, dem Wie-ist-das-geschrieben? auf den Grund zu gehen? Ist es nicht vielmehr von grösserer Bedeutung für den Literaturwissenschaftler, das Material, das das „Typische" ergibt, so zu analysieren, dass man mit Bestimmtheit nachprüfen kann, warum, aus welchem Grunde sich dieses „Typische" ergibt? Die „künstlerische Vollendung" eines sprachlichen Kunstwerks kann tatsächlich nur am Konglomerat der Sprache abgelesen werden. Durch Vergleiche und Analysen von Wirklichkeit und Fiktion allein wird darüber nichts ausgesagt — oder höchstens etwas, das implicite ästhetischen Charakter hat, niemals aber das technische Wie ästhetisch beleuchtet. Jedenfalls aber konnten wir aus Lukacs' Interpretierung von Fontanes Schach von Wuthenow die Tendenz Fontanes erken53 54 55

Lukacs, op. cit., S. 298. Ibid., S. 299. Ibid., S. 299.

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nen, den Schauplatz seines fiktiven Werkes historisch genau zu fixieren. Zugleich steckt noch etwas für unser RealismusProblem ohne Zweifel sehr Bedeutendes in dieser Lukacsschen Interpretierung: Hand in Hand mit der historischen Fixierung des Schauplatzes geht, damit die neue Wirklichkeit fiktivkonkret wird, die genaue psychologische Durchdringung der agierenden Personen in ihrem fiktiv-historischen Leben, d.h. dass die Psychologie der Agierenden ganz auf den historischen Zeitabschnitt abgestimmt ist. Man sollte vermuten, dass die Psychologie der Menschen im historischen Roman dem umfassten Zeitraum entspricht. Dem ist aber nicht so, denn es gibt tatsächlich Romane wie Doves Caracosa, in dem am hohenstaufischen Hofe in Sizilien modernes und schnoddriges Berlinisch gesprochen wird.5* In diesem Sinne wäre es denn Lukacs sicherlich möglich, auf Schach von Wuthenow als auf einen „einsamen Gipfel der deutschen historischen Erzählkunst" hinzuweisen; die „Kritik des historischen Preussen" bleibt sekundär, wenn nicht überhaupt ohne alle Bedeutung für den Roman als sprachliches Kunstwerk. Beispiele, dass Fontane das vollkommen richtig erkannt hat, lassen sich viele anführen.57 In dieser Aussage aber steckt nun auch zugleich das Bewusstsein der Notwendigkeit, die agierenden Gestalten nicht nur im „historischen" Roman psychologisch richtig zu durchdringen, d.h. sie in ihren eigenen, individuellen Dimensionen erstehen zu lassen, und das ganz bewusst als künstlerische Anforderung, als künstlerisches Ziel. Fontane sieht nämlich in Schach von Wuthenow keineswegs einen historischen Roman, sondern das Sujet der Wuthenow-Geschichte liegt für ihn immer noch im Bereich des „modernen Romans", d.h. es liegt noch im Bereich der beinahe persönlichen Erfahrung.58 Auf der anderen Seite ist es nun aber auch so, dass jeder Roman in einem bestimmten 58

Alfred W. Dove, Caracosa. Dieses Werk wurde zitiert, weil Fontane selbst in einem Brief seine Bedenken äusserte. BT Vgl. Fontanes Anmerkungen über den historischen Roman (Werke, II, Bd. 9, S. 243 f.). 58 Fontanes Essay über den modernen Roman (Werke, II, Bd. 9, S. 241 f.).

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Zeitabschnitt angesiedelt ist — ob haargenau oder nur ungefähr oder nur ganz vage, spielt dabei keine Rolle —, deshalb auch „historisch" ist, und sei es nur aus dem Grunde, dass er während einer bestimmten Zeit innerhalb des Lebens des Autors entstanden ist. Noch ein drittes Moment, das für unser Realismus-Problem beachtenswert ist, lässt sich aus Lukacs' Fontanekritik herausschälen. Wenngleich Lukacs seine Forderung nach dem durchschnittlichen Helden aus seinem ideologischen Temperament heraus bei Fontane durchgeführt sieht,59 so dürfen wir diese Forderung doch nicht übersehen; denn Lukacs sieht auch darin ein Phänomen der realistischen Fiktion. Tatsächlich lässt sich diese Tendenz, den durchschnittlichen Helden darzustellen, schon seit der deutschen Klassik feststellen. Gotthelf, Stifter, Keller, Hebbel, u.a. übernehmen diese Tendenz als etwas schon beinahe Selbstverständliches, aber in keiner Weise in dem typisierenden, symbolisierenden Konglomerat, das etwa Goethes Held Wilhelm Meister darstellt. „Barthli der Korber", „Granit" oder „Die drei gerechten Kammacher" sind sicherlich keine symbolischen Konglomerate mit der Tendenz zum Typischen hin (was Lukacs ja, von der klassischen Ästhetik herkommend, als Forderung an die Fiktion stellt), sondern lediglich exemplarische Fiktion, mit mehr oder minder didaktischen Absichten aus religiösen oder sozialen Bedürfnissen heraus.

E. DAS REALISMUS-PROBLEM ALS „WIRKLICHKEIT UND ILLUSION" (RICHARD BRINKMANN)

Richard Brinkmann in seinem Buch Wirklichkeit und Illusion,90 in dem er sich eingehend mit der zum Realismus-Problem Bezug und Stellung nehmenden Forschung auseinandersetzt, erklärt beinahe kategorisch fast alle bisher angeführten Forschungsergebnisse als irrelevant. Als eine Ausnahme sieht er lediglich jene Einsicht an, die er bei Clemens Lugowski an59 60

Vgl. Demetz, op. cit., S. 282. Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion (Tübingen, 1957).

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trifft, 61 die auch Ian Watt zur Grundlage für seine Ausführungen nimmt: 62 die Partikularisation des Darzustellenden bzw. Dargestellten. Brinkmann sieht gerade darin einen Ansatzpunkt zur Lösung des Realismus-Problems, stellt aber keine Überlegungen an, ob diese Partikularisationssymptome etwa mit philosophischen Entwicklungen parallel geschaltet werden müssten. Brinkmanns Ausgangsstellung ist folgende: Es gehört zur besonderen Schwierigkeit dieses aus weitesten Bereichen auf die Literatur übertragenen Realismus-Begriffs, dass gar nicht klar ist, worauf er sich eigentlich beziehen soll oder auch nur beziehen kann. Auf die Literatur natürlich, wird man sagen. Aber das erweist sich vorläufig als zu unbestimmt, weil die Literatur, auch da, wo sie Dichtung ist, nicht notwendig als etwas Einheitliches erscheint; weil sie, als Wortkunstwerk, Mannigfaches mit ausserdichterischer Aussage teilt. Was soll denn — genau besehen — realistisch sein? Worauf bezieht derjenige, der vom Realismus einer Dichtung spricht, tatsächlich diese Rede? Auf eine Weltanschauung, die in der Dichtung ausgesagt und „gestaltet" ist? Auf Gegenstände, Motive und Themen der Dichtung? Worauf k a n n er sie beziehen? Das muss er ja wissen, wenn er seine Behauptung konkret belegen will. Er muss sich überlegen, was er im einzelnen mit dem Begriff Realismus treffen sollte, damit das zusammenfassende Urteil, eine Dichtung sei realistisch, auch wirklich unterscheidend die D i c h t u n g kennzeichnet und nicht etwas, was sie mit jeder beliebigen Aussage teüen kann.«8 Wir haben schon gesehen, wie bei Nussberger („MerkerStammler") sich zwei Wege für die Analyse des RealismusProblems abzeichneten, nämlich die Analyse der Wirklichkeit und ihre Aufnahme ins sprachliche Kunstwerk und als zweiten Weg die Analyse der strukturellen Verhältnisse. Wir haben auch gesehen, wie Georg Lukacs den ersteren geht und mit Parteiideologien verbrämt und wie Clemens Lugowski, auch Erich Auerbach,64 eine Lösung des Problems durch Dichtungsanalysen el

Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung (= Neue Forschung, 14) (Berlin, 1932). 62 Ian Watt, The Rise of the Novel (Berkeley and Los Angeles, 1959). • s Brinkmann, op. cit., S. 1 f. M Soweit Ε. Auerbach die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts behandelt, geht auch er den ersteren Weg. Vgl. auch Brinkmann, op. cit., S. 68 ff.

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zu gewinnen suchen. Brinkmann verschreibt sich ausschliesslich der Dichtungsanalyse, um dem Realismus-Problem auf den Grund zu kommen. Er macht sich dabei von Poetiken und Dichteraussagen vollkommen frei (er benützt sie erst in zweiter Linie) und versucht, durch eine vergleichende Methode das Problem der sogenannten „realistischen" Periode der deutschen Literatur zu analysieren. a) Brinkmann beginnt seine Studie mit einer Auseinandersetzung mit der bisherigen Realismus-Forschung. Er lehnt die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehandhabte Methode der Deutung kategorisch ab. Sie bedeutet ihm nur eine Fragestellung, auf die nie eine stichhaltige Antwort erfolgte; er sieht keine Gemeinsamkeiten in der bisherigen Forschung, sondern nur individuelle, ja sich widersprechende „Meinungen". „Die Gründe für die gegensätzlichen Meinungen über das Wesen des Realismus in der Dichtung des 19. Jahrhunderts und für die ganz unterschiedliche Zuordnung der einzelnen Dichter", heisst es da, „scheinen vor allem in der Schwierigkeit der folgenden zu liegen — formulieren wir sie ganz primitiv! —: Welcher grundsätzlichen Art ist die Wirklichkeit, die in die Dichtung aufgenommen' werden muss, damit von Realismus die Rede sein kann, und in welchem Masse, welchem Umfang muss sie aufgenommen werden? Was ist das für eine Wirklichkeit, die in dem Begriff Realismus als . . . ,Wirklichkeitsnähe' steckt? Lässt sich diese Wirklichkeit grundsätzlich formal bestimmen, lässt sie sich dem allgemeinsten Inhalt des Wortes gegenüber einschränken, unterscheiden und definieren? Sodann: Welcher Form in der Dichtung muss diese Aufnahme sein, damit man von realistischer Dichtung sprechen kann?"65 Die Antwort lautet zusammengefasst, dass keine „konstruierte, idealisierte, von Ideen aufgebaute und gelenkte Wirklichkeit" entstehe, sondern „objektive" Wirklichkeit.66 In diese objektive Wirklichkeit sind zusamengefasst die äussere, empirische Welt wie auch die Welt des Psychischen. Die Gestaltung dieser Wirklichkeit aber wird überhöht zu einer poetischen Wahrheit, „die es M

Brinkmann, op. cit., S. 57 f. Ibid., S. 58.

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über das bloss Faktische hinaussieht",'7 und dadurch unterscheidet sich auch die „realistische" Literatur von der „naturalistischen" Literatur. Demgemäss bringt Brinkmann das Problem auf folgende Formel: „Es handelt sich beim Realismus-Problem um die Frage der ,objektiven' Wirklichkeit und der Möglichkeit und Art ihrer ,Objektivation' in der Dichtung."98 Von der „Objektivation in der Dichtung", ja von der „Objektivation der Dichtung" geht Brinkmann aus.89 Die Ursache für diese radikale Erneuerung des Ausgangspunktes exemplifiziert er, nach nochmaligem Hinweis auf die Ergebnislosigkeit der bisherigen Forschung, an Hand einer knappen Betrachtung eines Renoir-Bildes, „Moulin de la Galette". Da selbst aus einer „noch so differenzierten Phänomenologie und Interpretation der Gegenstände" sich nichts Befriedigendes über das „eigentlich Wesentliche des Verhältnisses" des Renoir-Bildes zur Wirklichkeit feststellen lässt, sieht er sich gezwungen, in erster Linie nach der Strukturform des Bildes zu sehen und „nicht zuerst nach den Gegebenheiten und der Struktur der in ihnen ,abgeschilderten' Welt". Zugleich stellt Brinkmann in den Vordergrund, dass „das Kunstwerk, das bildende wie das literarische, eine eigene Wirklichkeit auferbaut, die eben nicht — in keinem Falle, auch da nicht, wo sie es möchte — eine Doublette der wie immer beschaffenen ,objektiven', realen Wirklichkeit ist. Ich werde erkennen müssen, wie das Ganze und wie das Einzelne des Bildes aufgebaut ist, wie und in welchem Sinne es ,Gegenstand' wird." 70 Gehe man den Weg umgekehrt, so laufe man dauernd Gefahr, Voraussetzungen zu machen, die erst zu prüfen seien, und „die Ergänzungen, die . . . formende Anschauung und . . . historisches Wissen bei der Betrachtung des Kunstwerkes hinzuzufügen, schon für sichere Gegebenheiten der künstlerischen Gestalt selbst zu halten".71 „Das Materialobjekt des Begriffs Realismus (immer im Sinne von Realismus der Dichtung des 19. Jahrhunderts)" sind demnach die „Struktur«7 Ibid., Ibid., ·» Ibid., 70 Ibid., 71 Ibid., M

S. 58. S. 58. S. 59. S. 75. S. 76.

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formen der Dichtung, d.h. die Formen, in denen die Dichtung die Wirklichkeit der dargestellten' Welt eben als ihre, der Dichtung eigene Wirklichkeit auferbaut. Alles Übrige hat ausschliesslich im Zusammenhang mit diesen Formen und im Blick von ihnen einen Aussagewert für einen Realismusbegriff, der die Dichtung meint."72 Ohne eine bündige Antwort auf das Realismus-Problem geben zu wollen, beginnt Brinkmann die Strukturanalyse von Grillparzers Armem Spielmann. Gleich zu Anfang stellt er dabei fest, dass Grillparzer von vornherein darauf abzielt, den Schauplatz seiner Geschichte historisch zu fixieren. Das tut Grillparzer aber — Brinkman weist allerdings nicht darauf hin — nicht in fiktiver Weise, sondern er beginnt seine Erzählung mit einem historischen Bericht (nämlich mit dem Bericht über das Volksfest auf der Brigittenau), der erst langsam in die Fiktion, i.e. in die Fingierung der Ich- bzw. Rahmenerzählung übergeht.78 Bei der Schilderung der Massenbewegung zu dem herausgegriffenen, fixierten Volksfest, das der Erzähler wie der Ich-Erzähler besucht, ist nun die empirische Wahrnehmung im Sprachmaterial aufgefangen. Damit ist der Versuch gemacht, die Erscheinungsformen, die durch den Ich-Erzähler subjektiv erfasst werden, in Sprache und Syntax zu wiederholen, und zwar in dem ganzen Auf und Ab, im Verlangsamen, ja Stocken und Verschnellern des empirisch Erfassten. Selbst die Gestalt des Spielmanns, seine Rede tragen noch dazu bei, historisch zu fixieren, eben Wien „festzuhalten", die Einmaligkeit des Platzes sowohl als den bestimmten Tag. Seine Rede wird sogar mit „wienerisch" bezeichnet.74 Ferner wird festgestellt, dass keinerlei Überhöhung oder Erniedrigung des Gegenstandes stattfindet. Alles wird vom (sogenannten) Erzähler in dem der Geschichte angemessenen Alltag belassen.75 Zugleich schreibt Brinkmann: „Das Armselige ... und das Erbärmliche, das Kleine und Spiessige, das Unansehnliche und Niedrige, das Banale und Alltägliche, das HässIbid., S. 79. Brinkmann macht allerdings diese strikte Unterscheidung zwischen der logischen Struktur des Eingangs und der Ich-Erzählung noch nicht. 74 Brinkmann, op. cit., S. 92. 75 Ibid., S. 93. 73

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liehe und Schmutzige, ja das Langweilige — all dies findet Aufnahme in die Dichtung." 78 Grillparzer beobachte mit „anthropologischem Heisshunger" die Menschen, die Welt, wie er in einer eingeschobenen Reflexion selbst sagt. Damit meint Brinkmann das psychologische Interesse, und gerade das sieht er als programmatisch für die Erzählung: es wird uns in der Erzählung immer nur mitgeteilt, was der Erzähler an unmittelbaren Eindrücken auszuwerten vermag (beschränkt natürlich durch die Ich-Form).77 Diese Eindrücke sind aber nicht notwendigerweise logisch angeordnet im Sinne einer von Anfang bis Ende logisch entwickelten Abhandlung, sondern sie sind unmittelbare Einfälle, die gewisse Besonderheiten des Objekts hervorrufen. So geht der Dichter konsequent vom Weiten ins immer Engere, die subjektive Beobachtung geht konstant auf das Objekt zu, um des Darzustellenden habhaft zu werden, und das auf alle mögliche Art und Weise. So nähert er sich der selbstgesetzten Ordnung der Welt des Spielmanns, und es lässt sich das Bestreben erkennen, „die Wirklichkeit so unmittelbar wie möglich, die konkreten Erlebnisse mit der geringstmöglichen Vermittlung zu geben".78 Das führt dann zu solch formalen Notwendigkeiten wie die lange Ich-Erzählung des Spielmanns, die ein ungeheures Gedächtnis auf Seiten des Erzählenden wie des Zuhörenden voraussetzt,79 Unwahrscheinlichkeiten also, die die Realität der ursprünglichen Empirik der Erzählung zerstören. Grillparzer versucht so, der Unmittelbarkeit der Wirklichkeitsdarstellung Vorschub zu leisten; es gelingt ihm zuweilen aber noch nicht, da er sich der verschiedenen Darstellungsmittel der späteren Schriftsteller des 19. Jahrhunderts noch nicht bewusst ist.80 «

Ibid., S. 94. Ibid., S. 97. '8 Ibid., S. 123. Vgl. auch S. 132. 79 Das sind häufig auftretende Erscheinungen in der Rahmenerzählung des 19. Jahrhunderts. Vgl. bes. Theodor Storm. 80 Brinkmann allerdings glaubt, dass diese Art des andere-Personenreden-Lassens mit Grillparzers dramatischem Talent zusammenhänge, und glaubt damit eine Erklärung für diese Darstellungsweise zu geben. „Der Dramatiker Grillparzer ist am Werk", schreibt er, „der die Beschränkung auf ein reales Erzähler-Subjekt nicht konsequent durchsetzt, sondern dem alle Menschen, die ins Spiel kommen, selbständig agierende Personen 77

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Neben der äusseren Struktur dieser Erzählung stellt Brinkmann auch eine innere Struktur der Erzählung fest. In dieser inneren Struktur werde die subjektive Weltanschauung des Dichters Grillparzer spürbar. Brinkmann sieht in der resignierenden Stimmung, die die innere Struktur bietet, Selbstdarstellung des Dichters, ja geht darüber hinaus und spricht von einer Versinnbildlichung „in Form und Gehalt zugleich" nicht nur des „eigensten Leidens Grillparzers", sondern auch „des Leidens einer Epoche, die schmerzlich empfindet, dass das Ideal nicht mehr realisierbar ist".81 Letzteres kommt einer Spekulation sehr nahe, der Brinkmann allerdings eine „geschlossene und hohe Symbolkraft" zuspricht.82 Trotz der Möglichkeit, durch seine Analyse der Erzählung einer Lösung des Realismus-Problems näherzukommen, zieht Brinkmann vorerst nur einmal folgende Schlüsse: Im Gegensatz zu der in der Realismus-Forschung verbreiteten Meinimg hat unsere Betrachtung zunächst zu dieser Einsicht geführt: Der Gegenstand oder die Gegenstände einer erzählenden Dichtung besagen an sich offenbar noch nichts über ihren Realismus oder Nicht-Realismus. Der soziale Bereich, in dem das Geschehen sich abspielt und dem ihre Menschen angehören, scheint darüber allein ebensowenig zu besagen wie die Aktualität des Geschehens, die Lebendigkeit und Farbigkeit, die lebenswahre „Richtigkeit" der Darstellung, die differenzierte Psychologie und die reiche Aufnahme des „Tatsächlichen". 83

Weiter bezeichnet Brinkmann diese Grillparzer-Erzählung als einen Grenzfall. Er sieht sie auf der „Scheide der Zeiten, auf der werden" (S. 132). Das ist im Hinblick auf Goethe, ganz besonders auf seine „Wahlverwandtschaften" geschrieben; es ist aber fraglich — kann natürlich hier zutreffend sein —, denn Drama wie Erzählung gehören zur fiktiven Gattung der Dichtung; im Drama ist lediglich die Erzählfunktion in die Gestalt des Schaupspielers verschoben. Es liesse sich nun aber genauso darauf schliessen, dass gerade durch den direkten Dialog Nähe und Richtigkeit bzw. Beschreibung der Agierenden hergestellt werden soll: unmittelbare Darstellung, nicht deskriptive Darstellung also. 81 Brinkmann, op. cit., S. 143. 82 Ibid., S. 143. 8S Ibid., S. 143.

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Grenze zwischen der klassisch-romantischen Epoche und derjenigen, die man in einem wesentlicheren Sinne als dem chronologischen als neunzehntes Jahrhundert bezeichnen kann".84 So hält er sie auch für „von typischer Bedeutung", weil sie „beispielhaft deutlich" die Problematik aufzeige, mit der sich die Erzähler des 19. Jahrhunderts konfrontiert sahen: „Die Darstellung der ,Wirklichkeit' nach ihren ,objektiven, ,natürlichen', tatsächlichen', ,empirischen' Bedingungen und der Einfluss und die Rolle des Subjekts, des Subjektiven dabei, sowie die Bedeutung der ,Idee', des .Idealen' und der Möglichkeit, das ,Ideale' und das ,Reale' im Sinne des Empirischen in der Darstellung zu vereinigen."85 Daran schliesst Brinkmann noch eine Beobachtung, die im Laufe seiner Ausführungen dann überhand nimmt. Sie bezieht sich auf eine „differenziertere Darstellung der ,Wirklichkeit', des tatsächlichen'", die es nur „unter der Bedingung einer stärkeren Beteiligung des Subjekts zu geben" scheint. Die „genauere Betrachtung der kleinsten Einzelheiten wie auch die Einsicht in die Struktur des Ganzen der Erzählung" sprächen auch dafür, dass sich das „individuelle, besondere Einzelne, so wie es ,wirklich', tatsächlich' ist, der Möglichkeit einer objektiven Darstellung entzöge". Gerade der Wunsch des Erzählers, schliesst Brinkmann, „des ,Tatsächlichen' habhaft zu werden", dem Einzelnen auf den Grund zu gehen, bedinge geradezu die Aufnahme einer starken Form der Subjektivität im Allgemeinen wie im Besonderen.86 Das mag richtig sein, wir werden darauf noch zu sprechen kommen; Brinkmann gibt sich damit noch nicht zufrieden. b) Im zweiten Kapitel des Abschnittes „Auf der Suche nach der Tatsächlichkeit und nach dem ,Objektiven'" analysiert Brinkmann Otto Ludwigs Erzählung Zwischen Himmel und Erde.87 Worauf es Brinkmann in diesem Kapitel zuerst ankommt, ist, der oben herausgestellten Subjektivität nachzugehen. Er M 85 88 87

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S.

144. 144. 144 f. 145-216.

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stellt nach einer sorgfältigen Analyse der Einleitungsabschnitte der Ludwigschen Erzählung und nach einem Vergleich mit den Einleitungssätzen des Goetheschen Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre und Grillparzers Armem Spielmann die Fixierung des einmaligen Schauplatzes fest,88 zugleich aber auch eine noch verstärkte Subjektivität in der Darstellung. Der „ .objektive' Sachverhalt" wird dargeboten „in der vorgestellten Beziehung auf ein ,Subjekt', in der Form, die er aus dem Eindruck eines Menschen bekommt", der in diesem besonderen Fall „den umständlichen Weg zur ,Gangkammer' macht. Diese Weise, die Anschauung aus einer Vorstellung zu formen und auszusagen, zieht eine notwendige Ergänzung und Erklärung aus der Erfahrung, aus dem Gedächtnis des Erzählers nach sich."89 So geschieht also die Zusammenstellung der Dinge und ihr ganz bestimmtes Nacheinander durch die Logik des Erzählers, denn die beschriebenen Gegenstände werden ja auch so vorgeführt, dass der Eindruck nicht von der Hand zu weisen ist, dass Ludwig etwas „wirklich" Gegebenes nur noch näher untersuchen will. Immer stärker dränge sich diese „Subjektivität" in die „Objektivität" des Gegenständlichen hinein, dass schliesslich „die Sachen sogleich in der Vermittlung der Eindrücke, Vergleiche, Assoziationen, Übertragungen dargeboten" werden.90 „So ist der Erzähler fortwährend in ZWEI Subjekte gespalten, um der Realität habhaft zu werden: eines, das an die EMPIRISCHEN Bedingungen, an die »historische Glaublichkeit' momentaner Anschauung gebunden ist, und eines, das sich mit den GEDANKEN über das Gegebene hinwegsetzt, das ,allwissend' das Ganze der noch unentfaltenen Geschichte kennt..." 9 1 Auch wo es nun in sogenannter „objektiver Erzählung", d.h. in einer Erzählung, bei der das Subjekt des Erzählers völlig ausgeschaltet ist,92 weitergeht, wird nicht aus subjektloser Distanz erzählt, sondern aus dem Wissen der Leute heraus, die den es Ibid., S. 149 f. 8® Ibid., S. 157. Ibid., S. 159. 81 Ibid., S. 160. Grossbuchstaben von mir. 82 Vgl. dazu Brinkmanns Ausführungen über Goethes Wilhelm. S. 148 ff., und Wahlverwandtschaften, S. 290 ff.

Meister,

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Helden kennen, etc.93 Bis schliesslich der Erzähler ganz sich zu erkennen gibt, die Personalpronomina „wir" und „ich" gebraucht, und so die subjektive Erzählertätigkeit ganz eindeutig wird.94 Bei seinem Erforschen der Subjektivität stellt Brinkmann ein konstantes Schwankein zwischen dem „objektiven Allwissen" des Erzählersubjekts und der Erzählung aus der Perspektive der Agierenden fest, eine Tatsache, die mit Ludwigs theoretischen Auseinandersetzungen mit den Erzähltechniken durchaus übereinstimmen.95 Die Struktur der Erzählung bis zur Ankunft des Appolonius im Vaterhause zusammenfassend, meint Brinkmann: „Der Erzähler, auf der Jagd nach den Tatsachen, nicht ein Gesetz der ,Wirklichkeit' oder einer ästhetischen Ganzheit der Erzählung gibt das Mass dafür ab. Aber auf dieser Jagd nach den Tatsachen, die sich ruhelos aller Mittel bedient: Bericht und Szene, Nähe und Distanz, ,Grossaufnahme' in der Gegenwart, überschaubare Zusammenhänge in der Vergangenheit, Perspektive der Beteiligten, Perspektive des Erzählers, Psychologie des Erzählers, Psychologie der Beteiligten, Gedanken, Erwägungen, Vermutungen, Vorwissen, Urteil, Anwendung allgemeiner Sentenzen auf das Besondere, des Besonderen auf allgemeine Sentenzen — auf dieser Jagd sind die Tatsachen geprägt und umgebildet worden vom Erzähler und seinen Manövern, sie einzufangen und ihrer habhaft zu werden; und es fragt sich, ob sie nicht sogar dabei verlorengegangen sind." 98 Gerade an das nachfühlende psychologische Sondieren, das sich aller oben angeführten stil- und strukturtechnischen Möglichkeiten bedient, knüpft nun Brinkmann die entscheidende Frage, „in WELCHEM GENAUEN SINNE man . . . wird sagen können, »Wirklichkeit' sei gestaltet und vergegenwärtigt"; 97 denn Brinkmann sieht immer nur die subjektive „Allwissenheit" des Er·* Brinkmann, op. cit., S. 163. 94 Ibid., S. 167. 95 Ibid., S. 146, vgl. auch S. 168 und S. 183. Im Grunde genommen handelt es sich um ein dauerndes Durchbrechen des fiktiven Raumes. Ludwig versucht mit allen Mitteln, der Wirklichkeit habhaft zu werden. »« Ibid., S. 195. 97 Ibid., S. 200.

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Zählers, die die Wirklichkeit in der Darstellung zusammenstellt — eine Vorstellung, die wir auch bereits bei der Untersuchung des Merker-Stammler-Artikels bestätigt fanden. 98 Um diese „Subjektivität" in der Darstellung der Wirklichkeit noch zu erhärten, stellt Brinkmann „inneres Thema" und „äussere Fabel" der Dachdeckergeschichte gegenüber. Beide, so weist er nach, sind eng miteinander verbunden, ja in gewissem Sinne könne man sogar von einer Einheit sprechen." „Die Kausalreihen der äusseren und der seelischen Vorgänge in ihrer Eigengesetzlichkeit und in ihrer wirksamen Verschlingung ergeben das Schema des Aufbaus und Ablaufs der Kerngeschichte. Diese enge Verquickung schliesst ein, dass Entscheidungen und Folgen in der einen Reihe häufig zugleich Entscheidungen und Folgen in der anderen sind." 100 Um dies für seine These auszuwerten, vergleicht Brinkmann diese Feststellung mit Ludwigs theoretischen Überlegungen und findet eine ganz natürliche Entsprechung. 101 Weiteren Beweis dafür findet er auch in der Absicht Otto Ludwigs, Symbole in seiner Geschichte zu schaffen. (j Zum Beispiel: Wie des Schieferdeckers Reich zwischen Himmel und Erde ist, so ist auch des Menschen Statt, so soll auch sein Wandel überhaupt zwischen Himmel und Erde sein",102 usw. „Doch", meint Brinkmann, „die Beziehung, die Ludwig selbst in den einfachen empirischen Tatsachen, in der Verschlingung der Kausalketten gegründet sieht, ist nicht von objektiv-symbolischem Charakter." 103 Vielmehr bleiben diese Symbolisierungsversuche in subjektiver Interpretation stecken; d.h. Sinngebung und bewusste Verallgemeinerungen entspringen rein dem „Verstände des Dichters". Diese bewusste Sinngebung kann aber ohne weiteres entschlüsselt werden; es lassen sich „genaue Gleichungen und Entsprechungen" formulieren, während doch Symbole auf solche Weise nicht entziffert werden können. Was also als „objektive Wirklichkeit" erscheine, sei lediglich Mache des Er98 99 190 191 192 19S

Vgl. S. 22 ff. Dadurch soll ja die poetisch-realistische Form entstehen. Brinkmann, op. cit., S. 202. Ibid., S. 202. Ibid., S. 202 ff. Ibid., S. 202 f. Ibid., S. 203.

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zählers; was sich „als Gegebenheit in den Sachen und Situationen und im Geschehen" gebe, lasse sich „als Zutat eben des Dichters" erkennen.104 Ebenso deutlich sieht Brinkmann in dem Kitsch, den die Erzählung bietet und den er sehr genau als solchen kennzeichnet, die Subjektivität des Erzählers hervortreten. Wenn er feststellt, dass gewisse Situationen, deren normaler Gefühlswert an und für sich schon genügte, um Interesse hervorzurufen, noch übersteigert, übertrieben werden, damit über die Gefühlswertigkeit auch nicht der leiseste Zweifel bestehen kann, so sieht Brinkmann gerade in der Ubersteigerung die Zutaten des Erzählers, also dessen Subjektivität.105 Bei dem Unternehmen, die Struktur zweier „realistischer" Erzählungen aufzulösen, um dem Problem „Realismus" näherzukommen, stiess Brinkmann immer wieder auf das Subjekt des Erzählers, das sich vor die „objektive" Wirklichkeit schiebe, sie verzerre, verschleiere, vereinzele, so dass von einer Darstellung „objektiver" Wirklichkeit oder Wirklichkeit an sich weder bei den Detailschilderungen noch bei der Betrachtung des Ganzen die Rede sein könne. Ja das sei in Ludwigs Erzählung so weit getrieben, dass alle Personen in der Erzählung „in der Befangenheit, in der oft dumpfen Befangenheit ihrer eigenen Vorstellung leben, die sie sich von der Wirklichkeit machen, in denen sie aber doch eigentlich nur sich selbst kennen und nicht die Welt".106 Diese Aussage wird wiederum parallel geschaltet mit Otto Ludwigs eigenen Aussagen.107 Dadurch entsteht jenes im Ibid., S. 203. 10 * Vgl. dazu Brinkmann, op. cit., S. 204 ff. und bes. S. 206: „Wir nennen nur ein paar Merkmale, die den Kitsch ... ausmachen. Es sind Sentimentalität, Süsslichkeit, Harmonisierung, Erweichung der Spannungen, genrehaftes Ausmalen der Szene des Grausigen, Makabren, WildBösen, Wollüstigen, Schmerzlichen auf der anderen Seite; massive Gegenüberstellung von Unschuld und Brutalität .. in diesem allseitigen Outrieren ein peinliches Herausfordern und Nötigen der Teilnahme, der Rührung oder der Empörung und Entrüstung des Lesers, und dies nicht nur durch die Szenen und Berichte selbst, sondern obendrein durch vielfach eingestreute moralisierende und räsonierende Reflexionen oder finstere, mysteriös-vielsagende Andeutungen." 1β · Ibid., S. 212. 107 Ibid., S. 208 f.

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Phänomen, und das ist der Schluss, den wir zu ziehen haben, dass in den Persönlichkeiten der Erzählung sich die Persönlichkeit des Dichters reflektiere, also selbst noch in der Psychologie der Handelnden sich dieser enorme Einfluss des Dichtersubjekts spürbar mache. Ähnliches stellte Brinkmann auch bei der Analyse der Grillparzerschen Erzählung fest. Brinkmann selbst zieht nun aus den Analysen der beiden Erzählungen folgende Schlüsse: „Sie sind beide, auf verschiedenen Stadien des Weges der Entwicklung Zeugnis für das Streben der Erzähler . . . des 19. Jahrhunderts, die Wirklichkeit in ihren empirischen Bedingungen, wie sie tatsächlich ist, zu erfassen und zu gestalten. Beide lassen aber auch die Schwierigkeiten deutlich erkennen, die sich dabei auftun: das Besondere, Individuelle, Tatsächliche in seiner ,objektiven* Beschaffenheit scheint in dem Masse die Form der subjektiven Bestimmungen anzunehmen, mit denen der Erzähler es vorstellt und darbietet, wie die Darstellung es als Objekt isoliert und es dicht heranholt, um es in seinen differenzierten Einzelheiten zu fassen." 108 Aber auf der Suche nach einer organischen, sinnvollen Ganzheit gehe durch die Anstrengung des Erzählers, des diminutiven Details noch habhaft zu werden, eben diese Ganzheit verloren, damit zugleich auch das Bewusstsein eines organischen Ganzen dieser Wirklichkeit. „Ein ,ideales' Gesetz, nach dem diese Wirklichkeit als ein sinnvolles Ganzes gebaut wäre, ist dem Blick entschwunden, ja es scheint gar nicht zu existieren. Grilparzers Novelle durchzieht die Stimmung der Resignation über das entschwundene Ideal"; das Ideal ist nur mehr ein „geistiger Besitz der Innerlichkeit", „während das Reale, das Tatsächliche nur noch als befremdendes Stückwerk erscheint". Bei Ludwig „wird die Isolierung und Vereinzelung des Tatsächlichen in krasser Schärfe sichtbar". Es gibt kein Ideal mehr, keine Innerlichkeit mehr, in der dieses Ideal noch bewahrt wäre; „wirklich ist überhaupt nur noch das psychologisierte Ethische, es sind die guten oder schlechten Anlagen und Taten der Menschen auf der einen Seite und ein fatales Kausalgesetz auf der anderen Seite, nach

«»

Ibid.,

S. 214.

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dem Dinge und Menschen voneinander abhängig sind und ein Ereignis und eine Tat andere nach sich ziehen." Und so legitimiert „nicht mehr das Gesetz einer,objektiven ,idealen' Ganzheit der Wirklichkeit die Aussage des Dichters, sondern die subjektiven Vorstellungen des Dichters und seine Absichten legitimieren die Realität".109 c) Hatte Brinkmann die Grillparzer-Analyse mit „Der Einbruch der Subjektivität", die Ludwig-Analyse mit „Die Verwirrung von ,Objektivität' und Subjektivität" überschrieben, so lautet der Titel für die abschliessende Keyserling-Analyse „Die Objektivierung des Subjektiven". Auf diese Weise lassen nun schon die Titel eine Entwicklung in den literarischen Bemühungen, in den Darstellungsformen erkennen, so wie Brinkmann sie sich vollziehen sieht. Auch in der Erzählung Beate und Mareile geht es Brinkmann wieder nur darum, „wie das, was es in ihr gibt und was geschieht, wirklich wird, welcher Form und welchen Grades ihre ,Wirklichkeit' ist".110 Lässt sich das, was Brinkmann mit Subjektivität bezeichnet, auch wieder in der Keyserlingschen Schlossgeschichte finden, so haben sich doch die Darstellungsformen bzw. -techniken schon um vieles verfeinert, ja so sehr, dass die notwendigen Situationsschilderungen, wie sie Grillparzer und Ludwig noch benötigten, um des empirischen Raumes sich zu versichern, hier wegfallen können. Die Geschichte führt sogleich in medias res, ohne die Umständlichkeiten der beiden älteren Erzählungen. Der Anfang schon, der den Schlossherrn im Bade vorstellt, richtet die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Örtlichkeit — diese wird uns nur zufällig in den ersten Dialogen zwischen Schlossherrn und Diener mitgeteilt —, sie wird vielmehr sofort auf die Psychologie des Hauptagierenden gerichtet und damit zugleich auf das Ganze der Erzählung. Denn es geht ja darum, einen individuellen Fall darzustellen — genauso wie es Grillparzer und Ludwig darum zu tun war. Aber die Darstellungsmittel haben sich enorm verfeinert: der „Erzähler" tritt vollkommen zurück, wie es Brinkmann nennt; er zieht sich voll»«

Ibid., S. 215. Ibid., S. 216.

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kommen hinter die „Erzählfunktion" zurück.111 Mitgeteilt wird hier also, wie Brinkmann ganz genau erkennt, ohne auf diese Erkenntnis weiter aufzubauen,112 nur die Subjektivität des Handelnden, oder mit anderen Worten: der empirische Raum, Geistes- bzw. Gefühlshaltungen und Handlungen des Helden, dessen Geschichte ja erzählt werden soll, sind durch dauernd auftauchende Beziehungen aufeinander eng ineinander verflochten. „Voraussetzungsloser Realismus?", fragt Brinkmann und fährt fort: „Aber so einfach ist es freilich nicht. Vielmehr ist diese gewisse ,Zufälligkeit' und alles Einzelne in diesem Anfang ganz bewusste Absicht."113 „Diese Situation am Anfang ist aus der zufälligen und platten Tatsächlichkeit hinübergeformt in die äusserste Subjektivität; das heisst: was als ,objektive' Szene und ,objektiver' Bericht erscheint, ist im Grunde die subjektive Situation Günthers von Tarniff..." 1 1 4 Was also in dieser Geschichte von vornherein dargestellt ist, ist nach Brinkmann nicht eine Wirklichkeit, die vom Agierenden losgelöst bestehen könnte, sondern eine Wirklichkeit, die aus der subjektiven Erlebnissphäre Günthers von Tarniff sich ergibt. Die subjektive Perspektive des Agierenden ist die dargestellte Wirklichkeit. Dies ist in der Geschichte so sehr durchgeführt, dass erst einmal die Erzählfunktion selbst ganz im Banne des agierenden Subjektes steht. Auch da, wo nachgeholt wird, damit der Leser mit der Situation vertrauter wird, interessieren in der Erzählfunktion nicht die einzelnen Dinge als solche, sondern nur insofern sie zur Atmosphäre beitragen, jener subjektiven Atmosphäre, in der der Schlossherr zu Hause ist, sich ergeht. Alles ist auf die besondere Mentalität des „Helden" abgestimmt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst Farben als Symbole auftauchen Vgl. S. 59 ff. Von einem ideal-philosophischen Standpunkt aus macht Brinkmann (S. 215) die folgende Feststellung: „Wirklich ist hier schliesslich, wenn man es zugespitzt formulieren will, gerade die Unmöglichkeit, das Wirkliche als ein .Objektives' in seiner tatsächlichen Beschaffenheit zu erkennen und zu erfassen." 113 Brinkmann, op. cit., S. 231. 114 Ibid., S. 232. 111

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und sich durch die ganze Erzählung Keyserlings hindurchziehen. Diese Symbole treten aber nicht auf als etwas, das Allgemeines, Vieldimensionales, also etwas bezeichnet, das über die Subjektivität des Helden hinauswiese,115 sondern sie treten immer in Verbindung mit der ganz zufälligen Stimmung auf oder leiten sie ein etc. und sind dazu da, eben diese Stimmung und die psychologische Zusammensetzung des Handelnden augenscheinlicher zu machen. Subjekt (Günther von Tarniff) und Objekt (Beate, Mareile, Adelswelt, Plebejerwelt) stehen als Dargestelltes in konstanter Wechselbeziehung, dadurch dass das Subjekt die Objekte auf sich und sich auf die Objekte bezieht. Die Welt in dieser Erzählung ist „von ihm (i.e. Günther von Tarniff) her und auf ihn hin angeordnet".116 Das sei aber nicht nur in der einseitigen Feststellung zu verstehen, dass die Darstellung dem Gegenstand (der allerdings tatsächlich Günther von Tarniff ist in seinem Schwanken zwischen Adels- und Plebejerwelt) angepasst werde; hier trete uns gerade das Neuartige entgegen, meint Brinkmann, dass nämlich „die subjektive Art einer beteiligten Person und ihr subjektives Verhältnis zur Wirklichkeit auch die der äusseren Form nach ,objektive' Darstellung bestimmt, also auch diejenige, die nicht etwa aus der tatsächlichen Perspektive dieser Person anvisiert ist und sein kann".117 Wenn nun Brinkmann das Kapitel über Keyserlings Beate und Mareile mit dem Untertitel „Die Objektivierung des Subjektiven" versieht und dies in seiner Strukturanalyse nachweist, so ist er aber gleichfalls gezwungen, den Begriff „Subjektives" zu modifizieren. Wir haben nämlich in der Rekapitulierung der Brinkmann-Analyse gesehen, wie dieser Begriff sich zwar auf das Subjekt „Günther von Tarniff" bezieht, zugleich aber auch nur auf einen ganz bestimmten Teil seines Charakters, nämlich auf das Sinnliche dieses Helden.118 Brinkmann summiert desBrinkmann führt die Verflachung des Symbols nicht näher aus (abgesehen von S. 299), obgleich triftige Gründe auch dies für ihn hätten nutzbar machen können. 1,e Brinkmann, op. cit., S. 244. 115

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118

Ibid., S. 2 7 0 . Vgl. ibid., S. 2 8 9 f.

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halb: „Der ganz subjektive, in der beschriebenen Weise eingeschränkte Aspekt der Welt, der Wirklichkeit ist das Mass für die objektive Auswahl und Form des Dargebotenen; es ist das subjektive Verhältnis Günthers, der in der monomanischen Gewalt seiner Appetite und Triebe im Wechsel von Begierde und Sattheit befangen ist."119 Von „Subjektivität" also ist die Rede, weil in der Darstellung das Augenmerk auf ein Erfassen bestimmter Charakteristiken der Agierenden gerichtet ist, von „Objektivität", weil nicht nur Dialog etc. der Psychologie des oder der Agierenden unterworfen wird, sondern weil die ganze Erzählfunktion ganz innerhalb dieses Psychologierahmens sich betätigt, weil die Hand des Erzählers „objektiv" allein das auswählt, was in diesen Rahmen passt, ihn ausfüllt und zur Deutung der Psychologie dient. d) Uberdenken wir zum Schluss noch einmal, was Brinkmann durch seine minutiösen Analysen zur Lösung des RealismusProblems beigetragen hat, so erweist sich als ganz offenbar, dass die alte These von der objektiven Aufnahme der Wirklichkeit in die Dichtung nicht stichhaltig sein kann, wie es schon die Widersprüche bei Nussberger zeigten. Wir müssen jedoch im Auge behalten, dass sich trotz der Widerlegung der alten These etwas Neues in der Fiktion des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund drängt, nämlich das tatsächliche Verlangen der Schriftsteller, soweit sie sich um Neuerungen kümmerten, der Wirklichkeit so wie sie ist in der Darstellung habhaft zu werden. Dies muss als eine Grundvoraussetzung gelten, denn es dürfte doch klar sein, dass bei so bewusster Produktion, wie wir sie durch Brinkmann analysiert sahen, der Gedanke (oder auch die Idee) dieser intentionalen Aktivität vorausgeht. Auch Brinkmann lässt uns in seinem Resüme diese Überzeugung spüren, weist er doch am Schluss auf ideelle Voraussetzungen zurück, auch wenn er sie als Ausgangspunkt für eine Analyse ablehnt.120 Gerade die Betrachtung dieses ideellen Gutes, dieser philosophischen Frachten, die aus persönlichen Äusserungen, Essays und Kunstwerken der verschiedenen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gewonnen wurden, »· 120

Ibid., S. 290. Ibid., S. 309 ff.

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wurde in der bisherigen Sekundärliteratur schon als Kriterium für die Epochenbezeichnung angesehen, während — auch Brinkmann wies immer wieder darauf hin — die Darstellungsmittel, die Erzählform selbst viel zu spärlich berücksichtigt wurden, so dass kein einheitliches Bild dieser literarischen Epoche entstehen konnte. Wir dürfen grundsätzlich einen oder mehrere ideelle Ausgangspunkte annehmen, wie sie schon der Realismus-Artikel im „Merker-Stammler" aufweist, aber auch, und besonders, Heinz Otto Burger in den Annalen. Brinkmann hat gerade diese Ausgangspunkte erst einmal ausser Acht gelassen — um schliesslich zu ihnen, wohl begründet, zurückzukehren — und sich nur um die Erarbeitung einer möglichen Lösung aus dem Kunstwerk gekümmert. Gestossen ist er dabei auf jene Entwicklung, die er an Hand von Franz Grillparzers Armem Spielmann, Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde, und Eduard von Keyserlings Beate und Mareile nachweisen konnte: zuerst eine Entwicklung in den Darstellungsmöglichkeiten. Er nannte sie bei Grillparzer — abgesetzt von und verglichen mit Goethes Erzählstil — „den Einbruch der Subjektivität", gefunden in der Erzählfunktion sowohl als auch im Dialog der dargestellten Personen; bei Ludwig „die Verwirrung von ,Objektivität' und Subjektivität'", nachgewiesen in der subjektiven Auswahl des Objektivs; und bei Keyserling „die Objektivierung des Subjektiven" als Ergebnis der festgestellten objektiven Auswahl des Subjektiven. All dies wurde immer wieder mit dem objektiven Erzählstil Goethes verglichen. Einmal aber weist Brinkmann in seinem Buch darauf hin, dass Goethe seine Romane eigentlich gegen seine Zeit oder gegen literarische Strömungen geschrieben habe.121 Ohne Zweifel lässt m

Ibid., S. 291. Vgl. dazu Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898 (Stuttgart, 1962), Kap. I, bes. SS. 49-51, 66-70, 73-78. Martini hält an den Brinkmannschen Begriffen fest, wenngleich er, mit K. Hamburgers Erkenntnissen als Voraussetzung, anführt: „Unter Subjektivität und Objektivität sind Formelemente gemeint, . . . stilistische Erscheinungsweisen, in denen sich die Erfahrung der innigen, gegenseitig bedingenden Verwobenheit von Ich und Welt, Einzelnem und Ganzem in der Dichtung und als Dichtung manifestiert" (S. 14).

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ein solcher Hinweis den Schluss zu, dass Goethe schliesslich doch auch auf irgendeine Weise „subjektiv" sich verhalten habe, mag auch sein Erzählstil „objektiv" genannt werden. Aber eigentlich nicht ein Hinweis wie dieser zwingt uns dazu, einen derartigen Schluss zu ziehen, sondern die Logik. Natürlich wählte Goethe Themen „subjektiv" aus, um mit diesen bewusst ausgesuchten Geschichten etwas zu schaffen, was wir heute als hoch versymbolisierte Ganzheiten erkennen, die Aussagen über bestimmte Vorstellungen von den Zuständen in der Wirklichkeit machen, ja in die sogar noch Didaktisches mit hineingeflochten worden ist. Goethes individuelles Interesse ist darin engagiert. Was hielte uns davon ab, auch hier von „Subjektivität" zu sprechen, mag auch immer das „subjektive" Interesse hinter das Geschaffene zurücktreten, das „wie hinter Glas" vorgestellt wird,122 deshalb also „objektiv" genannt wird. Bedürfen da Attribute wie „subjektiv" und „objektiv" nicht dauernder Erklärungen? auf wen oder was sie sich beziehen? Jedenfalls sahen wir auch in Brinkmanns Buch einen eigenartigen, manchmal noch durch Hinweise erklärten Gebrauch der beiden Begriffe „objektiv" und „subjektiv" bzw. „Objektivität" und „Subjektivität" — Begriffe, die sich einmal auf den Schriftsteller selbst bezogen, dann wieder auf die Darstellung, dann wieder auf die dargestellten Personen; zuletzt wurden sie auch noch modifiziert. Die Frage, ob sich diese Begriffe als kennzeichnende Attribute in Bezug auf literarische Produktion überhaupt als brauchbar erweisen können, ist ohne Zweifel gültig.123 Brinkmann fühlte das ganz deutlich, denn er versuchte den beiden Begriffen durch Modifizierungen beizukommen und dadurch, dass er sie unter Anführungszeichen setzte. Diese Bemühungen ziehen sich durch sein ganzes Buch, verwirren jedoch, ähnlich wie Franz Stanzeis Ausführungen in seinem Buch Die 121

Paul Stöcklein, Wege zum späten Goethe, Dichtung. Gedanke. Zeichnung. Interpretationen (Hamburg, 1949), S. 12. 123 Besonders zeigt sich das zu Beginn der Grillparzerschen Erzählung Oer arme Spielmann. Die Begriffe „subjektiv" und „objektiv" als Stilattribute bzw. Strukturattribute bereiten Schwierigkeiten, die dadurch entstehen, dass diese Attribute vielschichtig in ihren Bezügen werden.

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typischen Erzählsituationen im Roman.124 Nur durch die Erkenntnis der logischen Struktur der Dichtung lassen sich diese Schwierigkeiten beseitigen.

F. DAS REALISMUS-PROBLEM U N D DIE LOGISCHE STRUKTUR DER DICHTUNG (KÄTE HAMBURGER)

War es Brinkmann einerseits und vor allem darum zu tun, zu zeigen, dass die Wirklichkeit gar nicht „objektiv" in ein Erzählwerk aufgenommen werden kann, so stellte er andrerseits zugleich auch eine Entwicklung in den Darstellungsmitteln fest, die er dann in die Dreiteilung „1. Der Einbruch der Subjektivität", „2. Die Verwirrung von ,Objektivität' und Subjektivität", und „3. Die Objektivierung des Subjektiven" unter dem gemeinsamen Titel „Auf der Suche nach der Tatsächlichkeit und nach dem ,Objektiven'" fasste. Wir haben dabei aber feststellen müssen, dass die Begriffe „subjektiv" bzw. „objektiv" sich einmal auf den Erzähler selbst zu beziehen hatten, dann wieder auf die Agierenden der Erzählungen usw., und so entstand eine Vielschichtigkeit dieser Begriffe, die das Verständnis der Strukturanalysen erschwerten. Durch den häufigen Gebrauch verloren sie gar noch ihre Prägnanz, ihre Richtung, so dass sie wie in eine Sackgasse führten. Fragen wir uns nun, auf welche strukturelle Teile der Erzählungen diese Begriffe angewandt wurden, so lässt auch Brinkmann eine eindeutige Antwort zu. Sie charakterisierten fast durchwegs den sogenannten Bericht in den Erzählungen, also jene Teile, die vom Dialog der Handelnden abgesetzt sind und die Brinkmann zum grössten Teil in engste Beziehung mit dem Erzähler brachte. Dabei vermochte er zwar Tendenzen der Darstellungstechniken im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Vorschein zu bringen, liess aber doch die Frage offen, ob das erzählende Ich etwa zu Anfang der Grillparzer-Erzählung mit dem Erzähler124

Franz Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman, dargestellt an Tom Jones, Moby Dick, The Ambassadors, Ulysses u. a. (= Wiener Beiträge zur englischen Philologie, LXIII) (Wien-Stuttgart, 1955).

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Ich im weiteren Verlauf der Geschichte bzw. mit dem Erzähler zu Anfang der Ludwig-Novelle gleichgesetzt werden könne.125 Brinkmann scheint diese Frage zu bejahen; wir glaubten aber doch zwingende Unterschiede feststellen zu können, so zwar, dass die von Brinkmann erarbeitete Entwicklungstendenz in den Darstellungsmitteln in keiner Weise angetastet wird, wohl aber die von ihm übernommene Terminologie als mangelhaft empfunden wird. Wir sagten schon, dass wir in Grillparzers Armem Spielmann zwei verschiedene Erzähler-Ichs im Bericht herausschälen konnten, Erzählformen, die in Ludwigs oder in Keyserlings Erzählung nicht wieder auftauchten. Die Frage, ob es sich hier tatsächlich um die gleichen oder zumindest um ähnliche „Erzähler-Ichs" handelt, scheint nur allzu berechtigt zu sein. Käte Hamburger hat sich in ihrem Buch Die Logik der Dichtung mit den phänomenologischen bzw. logisch-strukturellen Verhältnissen in den Dichtungskategorien eingehend befasst.12® Ihre Untersuchungen führten zu exakt beweisbaren Kriterien für die logischen Strukturen innerhalb des Dichtungs-Systems und schälten auf diese Weise zwei grundsätzliche Kategorialunterschiede in diesem System heraus: die logische Struktur der Fiktion, zu der die erzählende und dramatische Dichtung wie auch Ballade und Rollengedicht gehören, und die logische Struktur der lyrischen Dichtung. Für das mimetische Kunstwerk, das allein für uns von Bedeutung sein soll, erarbeitete sie an Hand der Erkenntnis von der Wertverschiebung des erzählerischen Imperfekts, der deiktischen Adverbien und nicht zuletzt auch durch das Vorhandensein und den Gebrauch der Verben der inneren Vorgänge als grundsätzliches Prinzip ein Jetzt und Hier der fiktiven neu geschaffenen Welt, das der Leser als gegenwärtiges Geschehen vor Augen hat, das aber keine historische Subjekt-Objekt-Relation zulässt. Die entscheidende Erkenntnis, die in unserem Zusammenhang weittragende Bedeutung gewinnt, ist die Bestimmung 125

Diese Frage sei hier nicht erläutert, weil sie für unsere Zwecke nicht von unmittelbarer Triftigkeit ist. Es sei nur verwiesen auf K. Hamburger, Die Logik der Dichtung, S. 220-242, bes. S. 231. 12 « Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung (Stuttgart, 1957).

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einer Erzählfunktion in der Fiktion. Das, was bisher als sogenannter Bericht figurierte und als Erzähler bzw. Interpretieren des Erzählers identifiziert wurde, wird als „DEUTEND wie 127 ERZEUGEND" erkannt. „Wenn auch, naturgemäss, der deutende, interpretierende Charakter des epischen Erzählens immer erkannt wurde und zu der personifizierenden Auffassung des Erzählens führte, so wurde diese darum fehlerhaft, weil nicht zugleich auch der funktional erzeugende, mimetische Charakter dieses Interpretierens erfasst worden war, der sich grundwesentlich von dem beurteilend erklärenden Charakter des historischen Erzählens unterscheidet." Selbstverständlich geht es Käte Hamburger nicht darum zu leugnen, dass der Autor erzähle; „aber er erzählt nicht VON seinen Gestalten (Dingen und Begebenheiten), sondern er erzählt die Gestalten, wie der Maler die seinigen malt. Und wie dieser zugleich indem er malt auch deutet, ohne dass der eine Vorgang von dem anderen zu trennen wäre, so erzählt der erzählende Dichter zugleich indem er deutet. Derart dass in jeden dem Anschein nach nur feststellenden ,aussagenden' Satze schon ein wie auch immer unmerkliches interpretierendes Element miteingeht, das nun, je nach Epochen- und Verfasserstil, mehr oder weniger ausgeprägt, sich in alle Formen hineinergiesst, derer sich das fiktionale Erzählen kraft seines funktionalen Charakters nur immer bedienen kann: vom Bericht zum Dialog und allen fluktuierend sich erzeugenden Ubergängen zwischen ihnen. Und so können wir . . . sagen, dass das Erzählen (des erzählenden Dichters oder des Erzählers) nicht eine Person mehr ist..., sondern eine Form mehr der mimetischen Funktion, die der Erzähler . . . zu seiner Verfügung hat." 128 Der Schöpferakt des Romanerzählers besteht also darin, die Personen und ihre Umwelt „in der Subjektivität' ihrer Existenz" hervorzubringen. 129 Deshalb muss bei der Analyse eines Erzählwerkes immer das Bewusstsein wachgehalten werden, „dass ein Roman keine Wirklichkeit ist, sondern Illusion,

127

»8 12»

Ibid., S. 113. Ibid., S. 113 f. Ibid., S. 93.

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Schein, Fiktion, ein Leben nicht als Leben, sondern — wie . . . Novalis sagte — als Buch".130 Bestätigt Käte Hamburger einerseits die Erkenntnisse Richard Brinkmanns, dass nämlich die historische Wirklichkeit in der Fiktion nicht objektiv dargestellt werden kann, so zerstören andrerseits ihre Untersuchungen die Terminologie Brinkmanns; seine Handhabung der Begriffe „Objektivität" bzw. „Subjektivität", die wir schon als schillernd und ungenau empfunden hatten, erweist sich als nicht stichhaltig. Denn der sogenannte Erzähler wird als mimetische Funktion erkannt, die Darstellung selbst als eine neue Existenz angesprochen, DIE der Erzähler erzählt, nicht VON DER er erzählt oder berichtet und mit der er in keiner Wirklichkeitsrelation steht. Weiterhin ist auch die These nicht mehr zu rechtfertigen, dass erst im späten 19. Jahrhundert — als Beispiel diente Brinkmann Keyserlings Beate und Mareile — die „Subjektivität einer Existenz" rein dargestellt werde. Nicht erst im späten 19. Jahrhundert tritt uns dieses Phänomen entgegen, sondern es ist überhaupt der logischen Struktur der Fiktion eingeboren, es ist das Grundprinzip der Fiktion. Auch gerade dadurch, dass Brinkmann sich einer Kurzform der epischen Gattung bediente, an die er den Massstab seiner Terminologie anlegen zu können glaubte, steigt der Verdacht auf, dass solch konsequente Durchführung, die mit „Objektivierung des Subjektiven" bezeichnet wurde, nur eben in der Kurzform möglich bzw. angebracht ist, während der Roman schon seines Ausmasses wegen einen viel grösseren Raum beansprucht, die Beleuchtung einer viel weiteren „Existenz" umfasst.131 Somit spielt die Brinkmannsche Terminologie bereits auf ein ästhetisches Werturteil hinüber, dadurch nämlich, dass in Keyserlings Schlossgeschichte das, was von Brinkmann später als „realistische Tendenz" angesprochen wurde, als vollendete Darstellungsmittel erscheinen, während doch, und das sei hier schon vorweggenommen, die Bezeich»o

Ibid., S. 91. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass Brinkmann davon spricht, dass nur eine bestimmte Seite der Existenz des Schlossherrn zur Darstellung kommt, eben seine Sinnlichkeit. 131

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nung „Realismus" bzw. „realistisch" als ausserästhetischer Begriff zu fungieren hat. Wir müssen vielmehr akzeptieren, dass das Grundprinzip jeglicher Fiktion eben gerade jene Erschaffung einer „subjektiven Existenz" oder „subjektiver Existenzen" ist. Subjektiv steht hier aber nur mehr in Bezug auf das Subjekt des Dargestellten, seiner Personen und ihrer Umwelt. Es steht nicht mehr in der Zweideutigkeit, wie das noch bei Brinkmann der Fall war. Was ist nun damit für die Lösung des Realismus-Problems gewonnen? Erst einmal sehen wir bestätigt — und dies auf dem Wege der Analyse der logischen Struktur, nicht auf dem Wege der Analyse der Erzählungs-Strukturen —, dass Brinkmann nur zu klar gesehen hat. Der Begriff „Realismus" kann nicht deshalb zur Bezeichnung einer literarischen Epoche oder eines Werkes dieser Epoche angewandt werden, weil historische Wirklichkeit im Rahmen der Fiktion objektiv dargestellt wird. Das ist ausgeschlossen. Fiktion gibt nur die Mimesis der historischen Wirklichkeit. Ferner lässt sich konsequent die These nicht länger halten, dass die stärkere Aufnahme von Gegenständlichem, Hässlichem oder Unschönem oder Nicht-Idealem, diesen Begriff schon rechtfertigen würde, wenn anders er gerechtfertigt werden kann. Obwohl uns nun schon die Begriffe wie Hässliches oder Nicht-Ideales näher an unser Ziel führen, weil sie nämlich schon verallgemeinernde Sammelbegriffe für Einzelerscheinungen darstellen, so muss doch hier nochmals darauf hingewiesen werden, dass derlei und eine Unzahl von Dingen und Vorkommnissen des Alltags zu allen Zeiten und notwendigerweise Stoff für die Epik gewesen sind. Der Begriff „Realismus" darf also nicht darauf basiert werden. Dennoch wäre es absurd, wollte man versuchen, diesen alten und eingefleischten, wenn auch umstrittenen Begriff auszumerzen — einen Begriff, dessen adjektive Form heute sogar als Attribut zur Modifizierung von Werturteilen herangezogen wird. Es besteht nämlich kein Zweifel darüber, dass die sogenannte realistische Periode der deutschen Literatur, also ungefähr die Periode zwischen 1830 und 1900, sich tatsächlich von anderen Literaturperioden unterscheidet, wenn sie auch nicht genau auf

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Jahr und Tag hin abgegrenzt werden kann; gibt es doch, und die Literaturgeschichten liefern genügend Beweise dafür, Vorläufer bzw. Nachzügler für jede Periode, auch natürlich Parallelerscheinungen. Kann aber, und das ist das noch zu lösende Problem, der Begriff „Realismus" beibehalten und zugleich erklärt bzw. gerechtfertigt werden? Danach gilt es nun zu suchen.

G. DER BEGRIFF „REALISMUS" ALS BEZEICHNUNG EINER LITERARISCHEN PERIODE

Wir hatten schon zu Anfang dieser Arbeit darauf hingewiesen, dass Ian Watt dem neuen Prosakunstwerk, das im englischen Sprachbereich mit „novel" bezeichnet wird, einen „formalen Realismus" zusprach. Wenn wir hier auch die Frage nicht erörtern wollen, ob Watt die fiktiven Verhältnisse des Erzählkunstwerks ähnlich wie Brinkmann oder wie Käte Hamburger erkannt oder ob ihn nur die Parallelerscheinung Prosakunstwerk — Philosophie lediglich durch die Feststellung der äusserlichen Unterschiede zu seiner Terminologie geführt hat, so bedeutete „formaler Realismus", auf die moderne Fiktion angewandt, doch grundsätzlich, dass der Romanschreiber seine Umwelt — i.e. Erfahrungen empirischer Art — zum Vorbild seiner Darstellung nahm, keine vorgestellte Welt, keine mythologische Welt, keine Ideenwelt, etwa wie die fabelhafte Welt des höfischen Epos, das ja oft, ähnlich wie das Märchen, der Phantasie und ihrer Gestaltenwelt offenstand. „Formaler Realismus" bedeutet aber auch, angewandt erst einmal auf die frühe englische Fiktion des 18. Jahrhunderts, dass Tag-für-Tag-Ereignisse erzählt werden, wie sie vom dargestellten Individuum erlebt werden, ohne dass dabei der Erzähler von einer tiefer-schürfenden Idee zum Arrangieren des Darzustellenden gezwungen würde. Lediglich die logisch-strukturellen Bedingungen, die ihm das Romankunstwerk auferlegt, zwingen ihn zum Arrangieren. Diese neue Art der Mimesis ist selbstverständlich abhängig von der Grundeinstellung des Erzählers. Der Erzähler kann hinwiederum ganz in der Gesellschaft, in der Vorstellungswelt, in

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der Mode seiner Zeit verhaftet sein; er kann diesen Erscheinungen kritisch, ablehnend oder bejahend gegenüberstehen. Sicher lässt sich eine Abhängigkeit von einer oder mehreren dieser Erscheinungen nachweisen. Natürlich kann der Erzähler auch einer bestimmten philosophischen Richtung, die sich in der Gesellschaft festgewurzelt haben kann oder auch nicht, hörig sein. Auch können sich beide Phänomene im Erzähler mischen — die Erörterungen in den Literaturgeschichten weisen zur Genüge darauf hin. Auf diese Weise ergeben sich dann Periodenstile, Periodenbezeichnungen. Dem entsprechend konnte Ian Watt auf Parallelerscheinungen in Philosophie und Literatur hinweisen. Natürlicherweise geht die Philosophie als gedankliche Konzeption — in unserem Falle die naive Realismusströmung — der Konzeption des Darzustellenden voraus, und so lässt sich auch das relativ späte Einsetzen des modernen Romans (novel) in den Nationalliteraturen unschwer erklären. Das heisst aber auch, dass die naive Realismusströmung oder der Zug zum Partikularisieren, der Zug zum Individualistischen erst einmal in der Atmosphäre der Gesamtheit der Gesellschaft zum Bewusstsein kommen musste, die Gesellschaft ergreifen musste, ehe der Einzelne in der Gesamtheit der Gesellschaft als Detail bzw. als Individuum Bedeutung gewinnt und als Individuum von Bedeutung als einer Darstellung für wert empfunden werden kann. Ian Watts Analysen besonders in Kapitel II, „The Reading Public and the Rise of the Novel", und in Kapitel III, „,Robinson Crusoe', Individualism and the Novel", seines Buches The Rise of the Novel verlebendigen diese Phänomene sehr deutlich.132 Insofern dies zutrifft, dürfen die Wechselbeziehungen, die zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, philosophischen Strömungen und der Fiktion bestehen bzw. bestehen können, nicht übersehen werden,133 besonders nicht in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. So betrachtet gewinnen auch die Aus152 Ian Watt, op. cit., S. 35-92. Vgl. auch Kap. VI: „Private Experience and the Novel", S. 174-207. 135 Brinkmann hat gerade in diesem Zusammenhang auf die „Subjektivität" des Erzählers hingewiesen.

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führungen über den „Poetischen Realismus" im Reallexikon der deutschen Literatur wie die Ausführungen Burgers in den Annalen wieder ihre Bedeutung, allerdings nur insofern sie diese Wechselbeziehungen und das individuelle Gedankengut eines Schriftstellers aufzuzeigen versuchen. Auch Georg Lukacs' Essays über „Deutsche Realisten" und „Realismus" im allgemeinen sind keineswegs so abwegig, wie sie durch die aufgepfropfte marxistische Utopienideologie erscheinen. Dass die genannten Ausführungen allerdings die logisch-strukturellen Verhältnisse der Dichtungsgattungen übersehen haben, muss hier noch einmal angemerkt sein. Objektive Wirklichkeit lässt sich zwar auf diese Weise und völlig unabhängig bestimmen; sie erscheint aber, da der Erzähler Mittler zwischen Wirklichkeit und Mimesis der Wirklichkeit ist, als Zustand, d.h. als geistiges Substrat, und nicht als historische Existenz in der Fiktion. Deshalb können wir nicht von objektiver Wirklichkeitsaufnahme ins mimetische Kunstwerk sprechen; und das schliesst konsequent auch die Vorstellung vom mimetischen Kunstwerk als „Wiederspiegelung" oder „Spiegelbild" der Wirklichkeit aus. Selbstverständlich lässt sich durch das Bestimmen von Voraussetzungen allein der Begriff „Realismus" nicht erklären; denn wie wir oben schon feststellten, handelt es sich beim Epiker nicht um einen Philosophen bzw. Ideologen, der einen historischen Text abfasst. Wir haben es ausserdem beim Bestimmen von Voraussetzungen mit vor- oder ausserästhetischen Urteilen zu tun, die allerdings, und deshalb haben sie ihre Bedeutung, dadurch mit dem ästhetischen Urteil bzw. mit dem sprachlichen Kunstwerk in Verbindung stehen, dass sie Voraussetzungen für die Darstellung, für die Darstellungsmittel, auch natürlich für das Sprachmaterial selbst abgeben. Brinkmann hat dieser Abhängigkeit Rechnung getragen. Er bemühte sich, aus der Struktur der untersuchten Erzählungen Anhaltspunkte für die Erklärung des Begriffes „Realismus" zu finden, und gelangte dabei im Bewusstsein der Wechselbeziehungen zwischen den ausserästhetischen Bestimmungen und dem Kunstwerk — ähnlich wie Ian Watt für die Anfänge des englischen Romans — zur Feststellung, „dass in der Entwicklungs-

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tendenz,134 die man in den Begriff Realismus zu fassen versucht, denn doch auch eine grundsätzliche Wandlung im Selbstverständnis der Dichtung liegt. Die Dichtung hört — im gleichen Masse, wie sich diese Tendenz durchsetzt — auf, fiktive Wirklichkeit mit normativem Anspruch aufzubauen." 135 So stehen wir nun vor dem Phänomen, dass wir eine Gültigkeit des Begriffes „Realismus" für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts nur dann etablieren können, wenn wir uns zweier ausserästhetischer Bestimmungen bedienen: 138 1. der Voraussetzungen, die jene Dichter des 19. Jahrhunderts dazu bewog, die Wirklichkeit in ihrem Sosein in mimetischer Form darzustellen — mögen auch nach den neuen Forschungsergebnissen die Voraussetzungen der einzelnen Dichter noch so irrig erscheinen; 2. der bestimmten Darstellungsmittel, die individuell verschieden sein können, die aber doch nur dem einen Zweck dienen, Dichtung im Sinne der naiven Realismusströmung zu erzeugen, und dies ohne die Tendenz zu normativem Anspruch (Ubergänge bzw. Mischformen natürlich einbegriffen). Dabei dürfen aber nicht, wie das Brinkmann in negierender Weise getan hat, schon die Detailergebnisse zur Begriffsbildung benützt werden, sondern diese Detailergebnisse müssen, da es sich um die Bildung eines vor- oder ausserästhetischen Begriffes handelt, in Sammelbegriffe gefasst werden, die für die ganze Periode, die wir die realistische nennen, als gültig anerkannt werden können. Es ist also nur zu berechtigt, die Voraussetzung, dass man die „objektive Wirklichkeit" abkonterfeien wolle, als durchaus ernst zu nehmen. Es spielt keine Rolle, ob dies tatsächlich ausgeführt werden kann oder nicht. Die Bedeutung liegt allein in der ausgesprochenen neuen Ideologie, aus der heraus neue Darstellungsmittel, Techniken etc. gesucht werden, um dieser Ideologie zu genügen. So verstanden ist die Epochen- bzw. Werk-Bezeichnung im Vgl die Brinkmannsche Dreiteilung nach den drei Analysen. 135 Brinkmann, op. cit., S. 324. 1M Vgl. dazu auch Fr. Martini, op. cit., S. 2, S. 13 f.

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„Realismus" oder „realistisch" ausserästhetisch, d.h. das ästhetische Werturteil kann nicht dadurch beeinflusst werden oder ist davon abhängig, dass ein Werk realistisch ist oder idealistisch. Dass die unter 1) hervorgehobenen Voraussetzungen mit der philosophischen Strömung, die mit „naiver Realismus" bezeichnet wurde, zusammenfallen und dass die Darstellungsmittel, wie von Brinkmann gezeigt wurde und wie wir bei Fontane erneut sehen werden, immer mehr verfeinert wurden, um diesen Voraussetzungen zu genügen, berechtigt, immer im Bewusstsein der Nicht-Realität in der fiktiven Darstellung, den Begriff „Realismus". Doch sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass „Realismus" bzw. „realistisch" ein ausserästhetischer Begriff ist und deshalb nicht für das ästhetische Werturteil benützt werden kann, sondern lediglich als „zu einer bestimmten Epoche oder Richtung gehörend".

II THEODOR FONTANES THEORETISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM REALISMUS-PROBLEM

A. FONTANES ESSAY „UNSERE LYRISCHE U N D EPISCHE POESIE SEIT 1848" (1853)

Die neue Situation und Richtung der deutschen Literatur, die sich der Wirklichkeit bemächtigte, um sie im Kunstwerk darzustellen, war von den Jungdeutschen heraufbeschworen worden. Es war eine Reaktion auf die „romantische und klassizistische Wertung der Wirklichkeit und des Poetischen". Die auf der klassizistischen und romantischen „Wertungsgrundlage entstandene Poesie" galt ihnen als von vornherein veraltet. 1 „Die Hochwertung der Kunst im nationalen Gesamtleben, wie sie von Seiten der Klassik und Romantik erfolgte und von der idealistischen Philosophie und den humanistischen Wissenschaften anerkannt wurde, die Auffassung des Dichters als des tiefsten Darstellers der Geistigkeit und der Gefühlsmächte, ist begründet auf der Ausschliessung wichtiger Lebensgebiete und bestimmender Faktoren der menschlichen Existenz aus dem Kreise dessen, was als bedeutsam für die Lebensführung und Bildung, als erheblich für die geistige Anteilnahme anzusehen ist." 2 Für die Klassik und Romantik bedeuteten wirtschaftliche, soziale, politische Probleme eine Einengung und ein Hemmnis der ruhigen Bildung, wie sie klassisch-romantischen Vorstellungen entsprach. Gerade diesen Problemen wandten sich die Jungdeutschen zu, und diese Probleme wurden zum Vorwurf für ihre Literatur. Aber „für die Jungdeutschen ist der Realismus der 1

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Hugo Bieber, Der Kampf um die Tradition (Stuttgart, 1928), S. 129. Ibid., S. 63.

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AUSEINANDERSETZUNG ΜΓΓ DEM BEALISMUS-PBOBLEM

Gestaltung und Auffassung kein Selbstzweck, sondern Zeugnis und Begleitumstand des Strebens, sich des modernen Lebens zu bemächtigen". Es steht dabei jedoch nicht die Wirklichkeit als solche im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, „sondern die ,wirklichen echten Hauptinteressen' der modernen Menschheit".» Diese Situation der neuen deutschen Literatur fand Fontane vor, als er 1844 in den literarischen Verein „Der Tunnel über der Spree" eintrat. Fontanes Neigung zur Geschichte, die Einflüsse der preussisch gesinnten Tunnelgesellschaft und die literarische Situation trugen das ihre dazu bei, den unsicher nach einer seinem Wesen und Talent angemessenen Dichtungsgattung Suchenden in eine sichere Bahn zu lenken. Fontanes Preussenlieder sind das erste Zeugnis davon. Schon drei Jahre nach seinem Eintritt in den „Tunnel" heisst es in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Wolfsohn: „Das Lyrische hab' ich aufgegeben, ich möchte sagen blutenden Herzens. Ich liebe nichts so sehr und innig wie ein schönes Lied, und doch war mir gerade die Gabe für das Lied versagt. Mein Bestes, was ich bis jetzt geschrieben habe, sind Balladen und Charakterzeichnungen historischer Personen." 4 Durch die Tunnelmitgliedschaft verliert Fontane die lyrische Attitüde.5 Nach» Ibid., S. 130. Th. Fontanes Briefwechsel mit Wilhelm Wolfsöhn. Hg. von H. Wolters (Berlin, 1910), S. 30. * Vgl. auch Th. Fontanes „Kinderjahre" (Werke II, Bd. 1, S. 80): „In einer Art Gegensatz zu ihm stand Kaufmann Schultze, der was Thompson in steifem Grog leistete, seinerseits in matter Limonade war. . . . und der sentimentalere Teil der Damenwelt verzog ihn ganz ungebührlich, besonders weil er nebenher auch noch des Vorzugs genoss, der einzige Tenor der Stadt zu sein. Um seinen etwas müde dreinschauenden Kopf lag immer ein Ausdruck höherer Weihe. Dabei hielt er sich für die Swinemünder zu schade. Wenn ich mir jetzt sein Bild zurückrufe, kommt es mir vor, als hätt' ich zu bestimmten Epochen meines Lebens eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm gehabt. — Tenor oder Lyrik macht wenig Unterschied." — Auch Brief, 28 März 1882 (Werke II, Bd. 11, S. 69): „Es ist eine Lieblingsbeschäftigung von mir, im Gespräch mit den Meinen auf die relative Gleichgültigkeit von Kunst, Wissen, Gelehrsamkeit, insonderheit von Lyrik und Epik (also mich selbst persiflierend) hinzuweisen und die Vorzüge zu feiern, vielleicht zu übertreiben, deren sich die schönen, lachenden Menschen erfreuen, denen die Herzen ihrer Mitmenschen immer wieder und 4

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dem er sein Talent erkannt hatte, trägt er den neuen Strömungen der Zeit voll Rechnung. Schliesslich gewinnt die Beschäftigung mit den neuen Vorstellungen von der Aufgabe des Kunstwerks ihre Formulierung in Fontanes erster theoretischer Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und ihren gleichzeitigen Problemen. 1853 erscheint in den Deutschen Annalen Fontanes Aufsatz über „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848".« Dort heisst es: Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Die Ärzte verwerfen alle Schlüsse und Combinationen, sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfnis und verschliessen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult; Militärs zucken die Achsel über unsere preussische Wehrverfassung und fordern „alte Grenadiere" statt „junger Rekruten"; vor allem aber sind es die materiellen Fragen, nebst jenen tausend Versuchen zur Lösung des socialen Räthsels, welche so entschieden in den Vordergrund treten, dass kein Zweifel bleibt: die Welt ist des Speculierens müde und verlangt nach jener ,frischen grünen Weide', die so nah lag und doch so fern.7 Fontane ist von der Richtigkeit und dem Wert dieser Strömungen überzeugt, die, wir können jetzt schon darauf hinweisen, auf das empirisch Erfahrbare gerichtet sind. Diese Erkenntnisse, deren Ausführung für ihn Fortschritt bedeutet, werden nun auch auf die Literatur übertragen, d.h. sie werden als Voraussetzungen für die neue Literatur gefordert: Was uns angeht, die wir seit einem Decennium nicht müde werden, auf dem dunklen Hintergrunde der Tagesliteratur den Lichtstreifen des Genius zu verfolgen, so bekennen wir unsere feste Überzeugung dahin, dass wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten, und dass wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.8 wieder zufallen. Als junger Mensch dacht ich gerade entgegengesetzt. Hübschheit war nichts. Talent, Genie war alles." * Th. Fontane, „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848", Annalen (Berlin, 1853). 7 Annalen, S. 353. 8 Ibid., S. 353.

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Fontane geht von der Voraussetzung aus, dass das, was er „Realismus" in der Kunst nennt, so alt sei wie die Kunst selbst, ja dass der Realismus nichts anderes sei als „die Kunst selbst".9 Jene „neunmalweisen Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goethe'schen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären",10 sollten sich endlich von den alten vergangenen Zeiten loslösen und die Wiedergenesung des kranken Organismus endlich begrüssen. „Der unnatürlichen Geschraubtheit GOTTSCHED'S musste . . . der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus LESSING'S folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreissiger Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust entwickelt hatte, 11 musste als notwendige Reaction eine Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir kühn behaupten: sie ist da." 12 Als Zeichen für diese literarische Wendung galten Fontane „das Frontmachen gegen die Unnatur", „die ShakespeareBewunderung" und „das Aufhorchen auf die Klänge des Volksliedes"; man könne dies allerorten beobachten. 18 Neue Talente nähmen diese Elemente zu Vorbildern, und Fontane hält deshalb die Zeit nicht mehr für fern, da diese Talente, einmal ausgereift, „den Göttinger Dichterbund und selbst die Herren der Sturm- und Drangperiode um so weit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntniss dessen, worauf es ankommt, voraus sind".14 Es handele sich jetzt nur noch darum, dass diese Talente heranreiften und mit ihrem Heranreifen dem „kommenden Genius", der sich des Realismus vollkommen zu bemächtigen verstünde, den einzig richtigen Weg vorbereiteten. Dies sei durchaus möglich, da man jetzt endlich bewusst sich dem Realismus verschreibe, und eben darin liege „der Unterschied zwischen dem Realismus unserer Zeit und dem des vorigen » Ibid., S. 355. » Ibid., S. 353. 11 Vgl. ibid., S. 363 f. Der Vorwurf richtet sich gegen die epigonale pseudo-idealistische Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 12 Ibid., S. 355. 1S Ibid., S. 355. 14 Ibid., S. 356.

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Jahrhunderts, dass der letztere ein blosser Versuch, . . . ein Zufall, im günstigsten Falle ein unbestimmter Drang war, während dem unsrigen ein fester Glaube an seine ausschliessliche Berechtigung zur Seite steht."15 Diese Proklamation der ausschliesslichen Berechtigung des Realismus unterstützt Fontane mit Hilfe der bildenden Kunst, vorzüglich der Bildhauerei. Zwar habe, meint er, die Literatur drei grosse Namen, „im Roman Jeremias GOTTHELF, im Drama HEBBEL, in der Lyrik FRETT.TGRATH",16 aber die Bildhauerei gehe doch mit dem besten Beispiel voran, den Realismus in die Tat umzusetzen. „Als Gottfried SCHADOW die Kühnheit hatte, den Zopf in die Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der ,Alte Dessauer, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir jetzt gleichgiltig vorübergehen, zu einer That von unberechenbarer Wirkung."17 Dieser Statue zur Seite stehen, als ob das Ridiküle der alten Richtung aufgezeigt werden sollte, Schwerin und Winterfeldt in antiken Kostümen, und diese „Zusammenstellung hätte nicht sprechender getroffen werden können", um das Lebensfähige und das Abgelebte deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Für die neue Richtung aber sei es endgültig ein Triumphtag gewesen, „als die Hülle vom Standbild Friedrich's des Grossen fiel und der ,König mit dem Krückstocke' auf ein jubelndes Volk herniederblickte".18 Bedeutsam nun ist, und das nicht nur für Fontanes weitere Entwicklung, dass er den Realismus seiner Prägung nicht als reine Imitation der Natur aufgefasst haben will. Die neue realistische Kunst sollte nämlich nicht als etwas Äusserliches ansprechen, sondern als etwas, das sich an das Innerliche, an das Gemüt richtet. Nach den preussisch-vaterländischen Anfangstönen, die die ersten Seiten des Essays kennzeichnen, heisst es einschränkend: "

Ibid., S. 356. Freiliggrath aber mit besonderen Einschränkungen. Das Forcierte stört Fontane, und der Realismus lehnt das Forcierte ab; „er wünscht nicht mit Freiliggrath ,gelehnt an eines Hengstes Bug' zu stehen" (Annalen, S. 359). " Ibid., S. 354. 18 Ibid., S. 354. 16

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„Dieser ,Alte Fritz' des genialen RAUCH ist übrigens nicht das höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwicklungsstadium an, durch das wir nothwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt." 19 Fontanes Proklamation des Realismus gipfelt, nachdem die anfangs angeschlagenen Töne preussisch-patriotischer Begeisterung durch den Hinweis auf „poetische Verklärung" gedämpft worden waren, in der Feststellung, dass der Realismus eine „INTERESSENVERTRETUNG auf seine Art" sei. D.h., dass der Realismus sich den Einzeldingen, den Einzelphänomenen der Wirklichkeit zuwendet. Er umfange „den Columbus, der der W e l t eine neue zum Geschenk machte, und das Wasserthierchen, dessen Weltall der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles das ist WIRKLICH".20 Der Bereich des Realismus umfasst demnach Grosses wie Kleines der äusseren wie inneren oder psychologischen Erscheinungen, Vergangenheit wie Gegenwart, und das Auge des Künstlers soll sich all dessen als Stoff bedienen. Der Hinweis auf das „Auge des Künstlers" lässt allerdings darauf schliessen, dass sich die neue Kunst besonders der Gegenwart als Stoff bedienen soll. Lässt er erst keine Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart eines Stoffes gelten, so modifiziert er im weiteren diese Ausführungen. Tatsächlich führt er Unterschiede an. Der darmstellende Stoff muss des unmittelbaren Interesses des Lesers gewiss sein; und dementsprechend fährt Fontane fort, dass der Realismus nichts von dem halte, „was unserm Interesse völlig fremd geworden ist".21 Die „Schilderung des griechischen Bühnenwesens" in Schillers „ D i e Kraniche des Ibykus" oder die „wunderbar verzwickten" Probleme in der „Braut von Korinth" oder der ganze D e la Motte-Fouque könnten „dem Realismus nur seine heiterste 18 20

Ibid., S. 354. Ibid., S. 359. Ibid., S. 359.

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Miene" abgewinnen. 22 Der Realismus „lässt die Todten oder doch wenigstens das Todte ruhen; er durchstöbert keine Rumpelkammern und verehrt Antiquitäten nie und nimmer, wenn sie nichts Anderes sind als eben — alt. Er liebt das Leben je frischer je besser, aber freilich weiss er auch, dass unter den Trümmern halbvergessener Jahrhunderte manche unsterbliche Blume blüht." 23 Diese Art der Stoffauslese gründet sich natürlich auf eine subjektive Urteilsfreiheit des Künstlers, auf seine Fähigkeit auszuwählen. Moralische und politische Parteiungen oder Prinzipien sind dabei überhaupt nicht erwähnt; sie spielen keine Rolle, handelt es sich beim Realismus fontanescher Prägung doch darum, den vollen Inhalt des Lebens auszuschöpfen. Moralische und politische Prinzipien stellen lediglich nur aufoktroyierte Tendenzen dar, die mit dem „vollen Leben" nur insofern zu tun haben, als das „Menschliche", das „volle Leben", mit ihnen in Berührung kommt. Für Sozialreformer können solche Prinzipien von unmittelbarer Bedeutung sein, für die realistische Kunst nur mittelbar. Sie genügen jedenfalls nicht den vielfältigen Erscheinungen des Lebens. Dadurch nun, dass die Gegenwart nicht allein das Frische, Lebendige, ausserdem die Vergangenheit nicht nur Abgestorbenes oder Abgelebtes zu bieten hat, wird für die Auswahl des Stoffes massgebend, wie weit er unmittelbare Ergriffenheit, zumindest unmittelbares Interesse hervorzurufen vermag. Die Auswahl zu treffen ist Aufgabe des Künstlers. Seine Qualität, sein künstlerisches Empfinden hat das Interessante aus dem „Marmorsteinbruch" herauszuholen, jenes Interessante, das unmittelbar Ergreifendes zur Voraussetzung hat. Dieses Interesse für das unmittelbar Ergreifende, das für Fontanes künstlerisches Empfinden auch für später von entscheidender Bedeutung ist, wird noch besonders hervorgehoben durch die Gegenüberstellung von realistischer Darstellung und objektiver Darstellung, die an und für sich verwandt seien. Der Unterschied zwischen ihnen liege im Charakter und in der " 2'

Ibid., S. 359. Ibid., S. 360.

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Konsistenz. Die Objektivität sei nichts anderes als „verdünnter Realismus", der das Allgemeine schildere, während der Realismus unmittelbar ergreife. So habe die „Braut von Korinth" Objektivität, während „das jede Herzensfaser erschütternde ,Ach neige, du Schmerzensreiche'" Realismus habe.24 Die Betonung des Interessanten bei der Stoffwahl, das unmittelbare Ergriffenheit beanspruchen kann, will Fontane aber in gewisse Grenzen gewiesen sehen. „Wir haben", schreibt er, „die Erkenntniss als einen unbedingten Fortschritt zu begrüssen, dass es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des WIRK25 LICHEN, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf". Zwar sei das Motto des Realismus, ins volle Menschenleben hineinzugreifen, „aber freilich, die Hand, die diesen Griff thut, muss eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken." 28 Zugleich hat der Künstler bei seiner Suche nach dem unmittelbar Ergreifenden zu beachten, dass er eine Geschichte findet, die einmal dem Leben entnommen sein und Anspruch auf Wirklichkeit haben muss, also nicht konstruiert sein darf, zum andern aber in ihrem Verhältnis zum Leben Allgemeingültigkeit hat. Das Interesse des ausgewählten Stoffes, der immerhin einen Einzelfall darstellt, darf sich nicht nur auf die Subjektivität des Künstlers beschränken. Allerdings muss der Stoff nur insofern Allgemeingültigkeit haben, als der Leser in die Fähigkeit versetzt werden muss, die dargestellte Geschichte durch ihr Interesse, das sie weckt, nachleben, zumindest nachfühlen zu können. Neben dieser Allgemeingültigkeit des Interesses, die dem darzustellenden Stoff innezuwohnen hat und die dem Realismus fontanescher Prägung eine weitere Beschränkung auferlegt, geben Fontanes Ausführungen noch einige weitere, wenn auch vague Gesetze an. Haben wir schon gesehen, wie der Realismus 25 26

Ibid., S. 357. Ibid., S. 358. Ibid., S. 357.

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das Abgestorbene oder Abgelebte ausschliesst, so werden dem als nicht zu realistischem Stoff gehörend hinzugefügt: die Lüge, das Nebelhafte und nicht zuletzt das Forcierte.27 Auch will der Realismus „nicht die blosse Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das blos Handgreifliche, aber er will das Wahre".28 Das „Wahre" oder das „wirkliche Leben" wird aber nun für den Gebrauch als Stoff noch um ein Gutteil beschnitten. Zwar schliesst, so argumentiert Fontane, das Wahre auch das „nackte alltägliche Leben" mit ein, aber Fontane versteht unter Realismus nicht „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten".29 Die Kunst habe andere Aufgaben. „Es ist noch nicht lange her", heisst es weiter, „dass man (namentlich in der Malerei) MISERE mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Productionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt."30 In diesem Zusammenhang, wenn auch nicht in direktem Bezug auf die Ablehnung der fiktiven Gestaltung „des nackten alltäglichen Lebens, seines Elends und seiner Schattenseiten", spricht Fontane Schillers Räubern den Realismus ab. Gleichzeitig zitiert er aber Schillers Fiesko und Kabale und Liebe und Goethes Götz von Berlichingen und meint, dass diese Stücke als realistische Dichtungen angesprochen werden können.31 Allerdings sollten diese realistischen Dichtungen des vergangenen Jahrhunderts nicht als Vorbilder dienen, soll sich doch der Realismus möglichst ans frische Leben anschliessen. Die Gefahr bei der Heranziehung von solchen Vorbildern liege nämlich darin, dass diese Dichtungen mit dem modernen Leben nichts zu tun hätten und durch ihre Benützung als Vorbild ein falsches " 28

»

2

30 31

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S. S.

359. 359. 357. 358. 356.

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Bild gegebener Tatsachen entwerfen könnten. „Es soll sich die Dichtung nach dem Leben richten, an das Leben sich anschliessen, aber umgekehrt eine der Zeit nach weit zurückliegende Dichtung als Norm für modernes Leben zu nehmen, erscheint mir durchaus falsch." 32 Der Schwerpunkt bei der Stoffwahl liegt also darin, dass der Künstler von der Beobachtung seiner Umwelt auszugehen hat. Er soll das Interessante möglichst dem „frischen Leben" entnehmen. Das Interessante darf aber nicht allein die Subjektivität des Künstlers wiederspiegeln, sondern muss für den Leser von gleichem Interesse sein wie für den Künstler. Vor allem aber hat der Künstler, wenn er auf diese Bezeichnung Anspruch erheben will, dies Interessante von vornherein als Kunstwerk zu konzipieren. Eine reine Imitation der Natur wird dadurch ausgeschaltet; sie hat keine Gültigkeit in der realistischen Konzeption Fontanes. Die Darstellung der nackten Natur bedeutet nämlich Vernachlässigung der Poesie und erscheint dadurch nicht, wie Fontane es formuliert in der Terminologie des 19. Jahrhunderts, als die „WIEDERSPIEGELUNG alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen I M E L E M E N T E DER KUNST". 3 3 Uberschauen wir nun nochmals diesen frühen Essay Fontanes, der zum Teil wie die Proklamation literarischen Fortschritts eines jugendlichen Eiferers klingt, so müssen wir versuchen, prinzipielle Anschauungen herauszuschälen, die, wie Fontane es sah, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fuss fassten. Was diese Anschauungen auszeichne, meint Fontane, sei ihr Realismus, der alle möglichen Lebensbezirke ergreife. Diese Tendenzen kennzeichnet der starke Wunsch, Erfahrungen zu sammeln und gemäss diesen Erfahrungen zu handeln. Spekulationen, denen gerade die deutsche idealistische Philosophie nicht ausgewichen war, werden als solche für ungenügend und ermüdend erklärt, weil sie nur einer bereits fraglich gewordenen metaphysischen Seite der Wirklichkeit volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Welt aber verlangte nach der „frischen ss

Th. Fontane, „Von 20 bis 30" (Werke, II, Bd. 3, S. 78). Annalen, S. 359. Grossbuchstaben von mir.

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grünen Weide" des empirisch Erfassbaren, und in diesem Verlangen liegt die prinzipielle Anerkennung jener philosophischen Realismusströmung, die wir die „naive" nannten. Dieses Anliegen, das sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker vermerkbar machte, sieht nun Fontane auch in den Voraussetzungen der Künste sich in den Vordergrund drängen und stellt schliesslich ein ganz ähnliches Verlangen auf künstlerischem Gebiet fest. Ubertragen auf die Literatur ergaben sich dabei drei prinzipielle Punkte, die Fontane nicht als persönliche Anschauungen, sondern als allgemein anerkannte, prinzipielle Tendenzen gesehen haben will: 1. Das Verlangen nach einer Säuberung des Sprachmaterials als Reaktion gegen Geschraubtheit, gedankenlosen Bilderwust und verlogene Sentimentalität; 2. Das Verlangen nach einer Wahl des Stoffes aus dem „Marmorsteinbruch" des Lebens und nur aus diesem; 3. Das Verlangen nach einer Darstellung ohne idealistischspekulativen Ballast. Das Phänomen, das Ian Watt in der Parallele von Philosophie (naiver Realismus) und den Anfängen des modernen englischen Romans darstellte, findet also in den Voraussetzungen für die deutsche Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Wiederholung. Nur zeigt sich in der Aufnahme dieser Vorstellungen, dass die Künstler sich ganz bewusst und auch theoretisch mit den Anforderungen der neuen Darstellung und Gestaltung auseinandersetzten.34 B. FONTANES REALISMUS UND DIE SICH ENTWICKELNDEN MODIFIKATIONEN

Obwohl nun die folgenden Vorstellungen, die neue realistische Kunst betreffend, auch von anderen Schriftstellern geteilt wurden und deshalb zu den grundlegenden Prinzipien (s. oben) hinzugezählt werden könnten, so wollen wir sie hier doch nur als zu Fontane gehörend betrachten, denn die zusammenfassenden Formulierungen dieser Vorstellungen weisen in ihrer Individu31

Ibid., S. 359.

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alität darauf hin, dass sie Fontane persönlich sehr auf dem Herzen lagen. Auch hängen die sich allmählich herausschälenden Modifizierungen dieser Vorstellungen, mögen sie auch noch so geringfügig sein, eng mit der Persönlichkeit Fontanes zusammen. Hand in Hand mit der Ablehnung der „spekulativen Kombinationen" geht eine Opposition gegen die deutsche klassizistische Literatur. Zugleich weist der Essay darauf hin, dass die neuen Schriftsteller über die klassizistische Periode der deutschen Literatur hinweg an den Sturm und Drang mit seinen Vorstellungen von der Darstellung der „originalen Natur" und an die ethische „frohgestimmte Wirklichkeit" des Göttinger Hain anknüpfen.35 Allerdings sei durch die nunmehr bewusste Auseinandersetzung mit den Vorbedingungen solcher Literatur ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den Vorgängern zu verzeichnen. Durch den Glauben an diesen Fortschritt ist aber auch konsequent jegliche Nachahmung dieser Dichtungen ausgeschlossen, denn die Gegenwart stelle andere Anforderungen, stoffliche wie stilistische.8® Durch den Hinweis Fontanes auf Anknüpfungspunkte wird die These Hugo Biebers, in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts insgesamt spiegele sich ein „Kampf um die Tradition" — eine These, der auch Richard Brinkmann mit dem Blick auf Goethe als Traditionsträger beipflichtet 37 — fraglich. Zumindest müsste sie spezifiziert werden. Nach Fontane handelt es sich bei den neueren Bestrebungen lediglich um ein Anknüpfen an die „Errungenschaften", die sich in einem Teil der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abzeichneten, und um ein Verbessern derselben im fortschrittlichen Sinn nach den besonderen Gegebenheiten und Erkenntnissen der Gegenwart. An einen Kampf um die geistesgeschichtliche Tradition, die eben in die klassisch-idealistische Periode zurückreicht, ist dabei nicht gedacht. Gerade Fontanes Interesse war durch den „Willen zur WirkFritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte (= Kröner, (Stuttgart, 1951), S. 2 0 3 f. 36 Annalen, S. 356. 37 Hugo Bieber, op. cit.; R. Brinkmann, op. cit., S. 325. 35

196), 3. Aufl.

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lichkeit" gefesselt, der frühe Essay spricht fast nur von diesem Interessiertsein an der Wirklichkeit, zugleich aber an den Möglichkeiten der Darstellung dieser Wirklichkeit. Die Hinweise auf das Standbild des „Alten Dessauer" zeigen das. Was Fontane gerade durch diese Hinweise erklären will, ist die Ablehnung der antiken Einkleidung des Gegenwärtigen oder des zumindest nicht zu weit Zurückliegenden. Der Versuch des realistischen, d.h. empirischen Erfassens ist da schon gemacht, so dass das Wesen dieser Statuen bereits der realistischen Periode angehört. Aber die klassizistische Feldherrntoga konnte nicht mehr befriedigen. Nach Möglichkeiten der FORM, das Individuelle darzustellen, galt es also zu suchen, da einmal der „Wille zur Wirklichkeit" da war. Um Techniken der Darstellung begann das Ringen der realistischen Schriftsteller; Otto Ludwig ist dafür das beste Beispiel. Und gerade die Illustrierung idealischen Gedankenguts durch symbolträchtige Mythologie wurde dadurch zerstört. Die Hinweise auf Schillersche Balladen zeigten die Ablehnung derartiger Illustrierung. Weder Form noch Inhalt konnten befriedigen, obwohl Fontane erkannte, dass sowohl diese wie die realistischen Vorstellungen als Grundlage das in der Welt Existierende hatten. Fontane sieht nämlich den Realismus ursprünglich nicht nur als eine ganz bestimmte „Interessenvertretung". Kunst und Realismus werden gleichgesetzt gemäss der Vorstellung, dass der Realismus so alt sei wie die Kunst selbst. Alle Kunstepochen und -stile werden so als eine „Interessenvertretung" der Dinge, der Begebenheiten, des Existierenden angesprochen. Gerade diese Vorstellungen liegen auch E. Auerbachs Mimesis zugrunde, abgebogen dann allerdings — ausgenommen das Kapitel über den Realismus des 19. Jahrhunderts 38 — in die reine Untersuchung der Darstellungsweise der Wirklichkeit. So werden Auerbachs Studien zu einer Untersuchung der „dargestellten Wirklichkeit des Abendlandes", ohne dabei das Problem des Begriffes „Realismus" selbst lösen zu wollen. Noch grundsätzlicher ist G. Lukacs von den oben genannten Vorstellungen ab88

Erich Auerbach, op. cit., S. 382 ff., bes. 398 u. 399.

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hängig. Allerdings drängt ihn die Partei-ideologie zum „sozialistischen Realismus" ab, der, wie wir sahen, einen Irrweg darstellt. Wenn nun Fontane von Kunst gleich Realismus spricht, so schafft er lediglich eine intentionale positiv beeinflussende Ausgangsstellung. Der Realismus, so wie er nun bewusst gefordert wurde, stellte ja eine „Interessenvertretung auf seine Art" dar, d.h. auf unterster Stufe umfasst der Realismus die Welt grossen wie kleinen Stils, den „Columbus . . . und das Wasserthierchen". Konsequenterweise fügte Fontane noch „den höchsten Gedanken" und „die tiefste Empfindung" hinzu, d.h. zur Erfassung der physischen Welt tritt so ganz bewusst die Aufgabe des Künstlers, sich der Darstellung sowohl gedanklicher wie psychologischer Phänomene anzunehmen. So findet Fontane die „Grübeleien eines Goethe" ebenso für darstellungswürdig wie „Lust und Leid eines Gretchen". Auch in dieser Anfügung erscheint die „Interessenvertretung" als eine Vertretung individueller Erscheinungen. Und als solche mussten sie zur Darstellung kommen. Aber schon im frühen Essay schränkte Fontane diese Behauptung ein. Obwohl grundsätzlich die ganze Welt der „Marmorsteinbruch" (i.e. Rohstoff) ist, aus dem der Künstler schöpft, wird für künstlerische Konzeption als Stoff nur anerkannt, was „Interesse" hat und erwecken kann. Das bedeutet einmal den Wegfall konstruierter Probleme, die nur dazu benützt werden, eine Idee zu illustrieren. Ferner bedeutet es den Wegfall all des Stofflichen, das dem Intellektualistischen angehört wie etwa das griechische Bühnenwesen in den „Kranichen des Ibykus". Die „Interessenvertretung" des Realismus beschränkt sich nämlich hauptsächlich auf das „frische Leben", „je frischer je besser". Darin liegt die Wendung zum Zeitgenössischen; mehr als alles andere interessiert den Realisten die Gegenwart seiner Umwelt, das, was um ihn vorgeht. Im selben Jahre (1853), in dem Fontanes Essay über die Dichtung seit 1848 erschien, schrieb er an Theodor Storm einen Brief, in dem sich anzeigt, wie Fontanes Vorstellungen von dem oft genannten „Interesse" sich wandeln. Bezeugte in dem Essay der Begriff Anwendbarkeit auf alles Existente, so beschäftigen sich Fontanes Gedanken gleichzeitig schon mit dem Kleinen, Un-

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scheinbaren, Unbedeutenden, auch dem gedanklich Trivialen, ja dem Trivialen überhaupt. In dem Brief heisst es, dass „alles, was Phrase GEWORDEN ist", so besonders ethische Werte, die, einmal sentenzenhaft formuliert, durch gedankenlose Wiederholung gang und gäbe geworden sind, zugleich aber ihre originale Gültigkeit verloren haben, „anfänglich (in den meisten Fällen) eine Wahrheit, ein beherzigenswerter Grundsatz" gewesen sei. „Scherenberg sagte mir einmal überaus fein: Dichter sein heisst, das Triviale wieder in seine ursprüngliche Schönheit einsetzen. Ich halte viel von dieser Definition." 39 Schon in dem Augenblick, da Fontane sich von seinen lyrischen Anfängen abwendet und seine Balladenproduktion aufnimmt, macht sich das Interesse an unscheinbaren Dingen bemerkbar; man denke nur an einige seiner Balladen.40 Es tritt eine Entwicklung ein, die von einschneidender Bedeutung für seine spätere Produktion wird. War ursprünglich das, was er als trivial kennzeichnete, seiner Aussage nach noch stark mit dem Sentenzenhaften verbunden — also mit Formulierungen, wie sie Schillers Wilhelm Teil kennzeichnen —, so verlagert sich die Bedeutung von trivial ganz auf das, was als unscheinbar anzusprechen ist. Diese Entwicklung drängt Fontane vom Idealistischen, das die Sentenz, zwar einmal aus dem Leben gewonnen, dann aber verselbständigt als Grundlage der Darstellung nimmt — diese Entwicklung drängt Fontane zur Darstellung des Realistischen, zur Darstellung dessen, aus dem die Sentenz gewonnen werden konnte. Das heisst, dass die Darstellung der in eine Form gegossenen Gemeingültigkeit und -anwendbarkeit zur Darstellung des detaillierten Gegenstandes überwechselt. Was also Clemens Lugowski schon für frühere Jahrhunderte als kennzeichnende Entwicklung herausschälte, 41 wird von Fontane als ganz bewusstes Ziel angestrebt. *· Brief, 13. Aug. 1853 (Werke, II, Bd. 10, S. 79). 40 Vgl. „Der alte Derffling" (Werke, II, Bd. 1, S. 238). „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland" (Ibid., S. 293). 41 Cl. Lugowski, op. cit.; vgl. auch R. Brinkmann, op. cit., S. 36 ff. 4i Vgl. A. Stifter, „Vorrede", in Bunte Steine und Erzählungen. Hg. von F. Krökel und M. Gerken (München, 1951), S. 7-13.

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Fontane kennzeichnete wie Stifter eine Vorliebe für das Kleine oder das Detail.42 Der Grundstein dafür mag in seiner Jugend gelegt worden sein. So erscheint neben dem Zeugnis seiner Romane eine Verteidigung gerade dieser Vorliebe in einem Brief (1881) an seine Frau, die seine Kleinmalerei und Weitschweifigkeit kritisiert hatte. „Es ist ein Unterschied", schreibt er, „ob ich nervös und dröhnig nach einem gleichgültigen Wort suche oder ob ich weitschweifig bin, d.h. über den linken Hinterfuss eines Flohs eine Abhandlung schreibe. Das Dröhnen ist unter allen Umständen eine Tortur für den Hörer und SANS PHRASE ein Fehler, eine Ungehörigkeit; die Weitschweifigkeit aber, die ich übe, hängt doch durchaus auch mit meinen literarischen Vorzügen zusammen. Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Grosse, weil ich den Unterschied zwischen klein und gross nicht recht gelten lasse; treff ich aber wirklich mal auf Grosses, so bin ich ganz kurz. Das Grosse spricht für sich selbst; es bedarf keiner künstlerischen Behandlung, um zu wirken. Gegenteils, je weniger Apparat und Inszenierung, um so besser."43 Die Verbindung mit der ursprünglichen Proklamation des Realismus in seinem frühen Essay, wo es hiess, dass der Realismus sowohl den Columbus, der der Welt eine neue hinzugefügt habe, wie das Wasserthierchen umfasse, dessen Welt der Wassertropfen sei, ist offenbar. Lediglich wird nunmehr der Hinweis noch deutlicher, dass Fontane keinen rechten Unterschied zwischen gross und klein gelten lassen will. Auch war in dem frühen Essay kaum etwas, oder nur implicite, darüber zu finden, dass Fontanes Vorliebe tatsächlich dem Kleinen gehöre. Das Grosse, das physische sowohl wie das psychologische und geistige Grosse ist, obwohl es natürlich vorkommt und somit zur Wirklichkeit gehört, jedoch etwas Seltenes, während das Unscheinbare das Alltägliche ist. Man treffe es immer und überall an, es entspreche deshalb als Stoff einer realistischen Darstellung von Grund auf. So wird das Allgemein-Alltägliche zum Rohstoff („Marmorsteinbruch"), aus dem das Künstlerauge die „Blöcke", «

Brief, 8. Aug. 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 71)

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in denen die Form bereits schlummert, herauszusuchen hat. Von dieser Einschätzung der Phänomene her wird verständlich, warum Fontane der ausgewählten Geschichte, die dem Alltag entnommen ist und ihn erst in der Darstellung durch die vorzügliche Behandlung überragt, genau die gleiche Behandlung zuteil werden lässt wie dem Nebensächlichen. 44 Ausgeführt ist das in dem Brief an Theodor Wolf (1890), in dem die Personen der Lene in „Irrungen, Wirrungen" und der Stine in „Stine" verglichen werden. „Auf die Frage Lene oder Stine hin angesehen", schreibt Fontane, „kann Stine nicht bestehen. . . . Das Beiwerk aber — mir die Hauptsache — hat in ,Stine' vielleicht noch mehr Kolorit. Mir sind die Pittelkow und der alte Graf die Hauptpersonen, und ihre Porträtierung war mir wichtiger als die Geschichte. . . . In meinen ganzen Schreibereien suche ich mich mit den sogenannten Hauptsachen immer schnell abzufinden, um bei den Nebensachen liebevoll, vielleicht zu liebevoll verweilen zu können. Grosse Geschichten interessieren mich in der GESCHICHTE; sonst ist mir das Kleinste das Liebste." 4 5 Neben der tatsächlichen Anerkennung der Unterschiedslosigkeit von Haupt- und Nebensachen im Roman ist hier des Individuelle des Interesses besonders betont herauszuspüren. Hier wird sogar die Proportionierung des Romans zu Gunsten der Nebenpersonen verschoben. Allerdings erscheint diese Verschiebung in einer Verteidigung seines Romans und ist das Ergebnis des Bewusstseins, tatsächlich überspitzt verfahren zu haben. Dennoch bleibt die Erklärung der Unterschiedslosigkeit von Haupt- und Nebensachen unangetastet. Offen bleibt allerdings die Frage, was Fontane genau mit dem „Alltäglichen" andeuten will. Ursprünglich ging die Forderung nach Darstellung der Wirklichkeit. Bei der Stoffauswahl wurde diese Forderung bereits durch den Begriff des „Interesses" modifiziert, weiter noch durch die individuell verschieden einschränkende Notwendigkeit, dass der Künstler den Stoff der Darstellung künstlerisch zu konzipieren hatte. Wie die letzten Zitate verdeutlichten, wurde das besondere Interesse Fontanes 44

«

Vgl. ibid. Brief, 24. Mai 1890 (Werke, II, Bd. 11, S. 251 f.).

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auf das Unscheinbare gelenkt, so sehr, dass z.B. in „Stine" die Nebenfiguren durch ihr Interesse, das sie zu erwecken vermögen, sich in den Vordergrund schoben. Fassen wir den Inhalt des Romans „Stine" dahin zusammen, dass es sich darum handelt, dass die Witwe Pittelkow eine „offene Wohnung" führt, in der der Vergnügungssucht und Langeweile zahlender älterer Adliger Abhilfe geschaffen wird, und dass die unglückliche Annäherung zwischen einem jungen Adligen und einem „bürgerlichen" Mädchen geschildert wird, so erfahren wir von Menschen und menschlichen Dingen, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht selten zu finden waren. Die Frage: welche Gegenstände oder dgl. sind in diesen Roman aufgenommen worden? kann dabei gar nicht gestellt werden; denn von Interesse sind nur — halten wir uns auch noch einmal den Verteidigungsbrief Fontanes vor Augen — die einzelnen agierenden Personen und ihr Verhältnis zueinander. Wir sehen schon, dass sich, da der Roman eine höchst einfache und unkomplizierte Handlung aufweist, das ganze Interesse auf das Menschlich-Interessante dieser Figuren richtet, auf ihre psychologische Zusammensetzung, auf ihre Reaktionen in ihren Verhältnissen. Gerade auf dieses Verhalten der Menschen in bestimmten Situationen und auf ihre Menschlichkeit richtet sich Fontanes Interesse immer mehr, besonders dann in der späten Romanproduktion. Am schönsten bestätigt das der folgende Ausschnitt aus einem Brief: „Mein Freund Leo Barg löst immer noch am ,sexuellen Problem' herum — persönlich so ungeeignet wie möglich dazu — und die ganze deutsch-skandinavische Neuliteratur folgt seinem Beispiel. All der Quatsch, der sich geriert, als läute er eine neue Weltperiode ein, wird binnen kurzem vergessen sein, während der Bauer, der noch lebend für einen Sechser rasiert werden will, weil es nachher zwei Groschen kostet, in Äonen nicht untergehen kann. So waren die Menschen immer, und so werden sie wohl auch bleiben. Und dies Menschliche zu lesen, entzückt mich um so mehr, je rarer es, nicht im Leben wohl, aber in der Literatur wird." 46 «

Brief, 1. Juli 1891 (Werke, II, Bd. 11, S. 268).

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Es galt also, gerade dies Menschlich-Interessante zu finden oder zu erfinden. Dieses „Interesse" drängt nun notwendigerund konsequenterweise auf eine Übereinstimmung von Handlung und Sprachmaterial hin, d.h. das menschliche NatürlichAlltägliche muss seinen adäquaten Ausdruck finden. Zugleich musste eine logisch-proportionale Verteilung des Stoffes innerhalb der fiktiven Welt vorgenommen werden; denn der eigentliche Fabulist muss „der Erzählung als solcher gerecht werden". 47 Tue er das nicht, so entstünden „erhebliche Mängel". Fontane weiss um diese wechselseitige Abhängigkeit innerhalb der fiktiven Welt. Im Falle „Stine" anerkannte er die Kritik an der Verlagerung des Schwerpunkts in Nebenpersonen, meinte jedoch, vielleicht nur um sich zu verteidigen, dass die Behandlung des Nebensächlichen die Mängel aufwöge, weil er fand, dass gerade dadurch der Querschnitt durch das Leben auch in der Fiktion in den richtigen Proportionen gehalten würde. 48 Diese Lust am Natürlichen, Naturnotwendigen und psychologisch Richtigen schreckt Fontane auch nicht vor Trivialem ab, soweit natürlich dieses Triviale psychologisch in Bezug auf Agierende und Handlung gerechtfertigt werden konnte. Gerade im späten Alter beruft er sich noch einmal auf die Richtigkeit des Trivial-Natürlichen, das der alltäglichen Psyche entspricht. Die nicht verbrannten Crampas-Briefe in E f f i Briest hatten nämlich die Kritik hervorgerufen, dass die Aufbewahrung der Briefe sehr ans Unwahrscheinliche grenze. Fontane antwortete darauf, indem er seine Verteidigung auf Beobachtungen psychologischer Art stützte: „Unwahrscheinlich ist es gar nicht, dergleichen kommt immerzu vor. Die Menschen können sich nicht trennen von dem, woran ihre Schuld haftet. Unwahrscheinlich ist es nicht, aber es ist leider trivial. Das habe ich von allem Anfang an sehr stark empfunden, und ich hatte eine Menge anderer Entdeckungen im Vorrat. Aber ich habe nichts davon benützt, weil alles wenig natürlich war, und das gesucht Wirkende ist noch schlimmer als das Triviale. So wählte ich von "

48

Vgl. Fn. II, 43 und 45.

Vgl. ibid.

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zwei Übeln das kleinere." 49 Die Forderung des Natürlichen führte Fontane also so weit, dass er in dem Augenblick, wo eine schwierige strukturelle Situation sich ergab, Trivia in die Darstellung aufnimmt, weil sie der Wirklichkeit der fiktiven Charaktere am sichersten entsprechen. Wurde ursprünglich der Realismus als die Interessenvertretung der Dinge der Welt proklamiert, wenn auch in der Erkenntnis der notwendigen „künstlerischen Konzeption", so bleibt diese Interessenvertretung zwar erhalten, wird aber doch vollkommen durch psychologische Ausschöpfung und Verknüpfung des Darzustellenden in den Hintergrund gedrängt. Das Hauptaugenmerk richtet sich also in keiner Weise darauf, welche Art von Welt, welche Gegenstände etwa aufgenommen werden müssen, damit realistische Dichtung entsteht. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die künstlerische Konzeption, in der das Erfinden, ganz der logischen Struktur der Fiktion entsprechend, als dem Begriff „Mimesis" gleichbedeutend erkannt werden kann. Die Auffassung von der realistischen Kunst als „Wiederspiegelung der Welt", die besonders in der marxistischen Literaturkritik noch immer umhergeistert und die bei Fontane nie in ihrer Vollgültigkeit erscheint,50 erweist sich also als hinfällig, als unrichtig. Eine Aufnahme mannigfaltiger „Gegenstände" der historischen Welt wird also von Fontane nicht als Kennzeichen realistischer Kunst gewertet. Realistische Kunst im Sinne Fontanes erscheint vielmehr als die Erschaffung einer PARALLELE zur historischen Welt. Erreicht wurde diese Parallele nur durch Erfahrungen, gewonnen aus unzähligen Beobachtungen, deren Voraussetzung Fontanes Freude am Menschenbetrachten war. 1. Wirklichkeit und Hässlichkeit Das vorhergehende Kapitel zeigte, dass das Interesse, das ursprünglich in der „Interessenvertretung" alles als Stoff anzuerkennen hatte, sich allmählich vom Gegenständlichen frei« Brief, 24. April 1894 (Werke, II, Bd. 11, S. 316). β® Vgl. S. 78.

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machte und sich dem Menschen und dem Menschlichen der neuzuschaffenden fiktiven Welt zuwandte. Gerade in dem Augenblick, wo Fontane selbst die Romanproduktion aufnahm, machte sich diese Schwerpunktverlagerung immer mehr bemerkbar. Das Erkennen dieser Schwerpunktverlagerung führte den Realisten notgedrungen zur immer stärkeren Beleuchtung der Psychologie der agierenden Individuen, die auf diese Weise wiederum ganz in ihrem individuellen Dasein und Sosein erfasst werden mussten. Dennoch machte Fontane auch hier seine Einschränkungen. Fontane ist nicht von vornherein und auch nicht grundsätzlich gegen Tendenz und Hässlichkeit im Kunstwerk, wie wir aus dem schliessen können. Er lehnt sie nur ab, soweit Hässlichkeit oder politische wie soziale Tendenzen forciert erscheinen und deshalb einseitige Wirkungen hervorbringen. Er bleibt dieser Ablehnung des Forcierten treu bis in sein spätes Alter. Erst dann, wie wir noch sehen werden, ändert sich diese Anschauung zugunsten einer Berechtigung durch künstlerische Meisterung des tendenziösen Stoffes. Am deutlichsten erscheint eine Forderung der Läuterung aller Tendenz bzw. tendenziösen Hässlichkeit in den späten 70er und während der 80er Jahre nach der Lektüre von Werken Turgenjews und Zolas. Fontane ist einerseits — und darin macht sich schon die spätere Anschauung von der Bedeutung der künstlerischen Meisterung bemerkbar — voll Bewunderung für die Qualität der Beobachtung, die er in den Werken Turgenjews findet. Er ist erstaunt über das „photographische" Auge des russischen Schriftstellers. Zugleich gilt seine Bewunderung dem enormen Kunstfleiss, der in den Turgenjewschen Werken zu erkennen ist. „Ich bewundere", schreibt er, „die scharfe Beobachtung und das hohe Mass phrasenloser, alle Kinkerlitzchen verschmähende Kunst." Weiter heisst es dann, dass er alles wunderbar beobachte: Mensch, Tier etc. Er habe so etwas von einem photographischen Apparat in Aug und Seele.51 Er spricht sogar manchen der Turgenjewschen Arbeiten ersten Rang zu «

Brief, 24. Juni 1881 (Werke,

II, Bd. 6, S. 314).

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und meint: „Nur solche Leute lass' ich überhaupt noch als Schriftsteller gelten. Alles ist klug, bewusst, sorgfältig und in seinem Kunstmass einfach meisterhaft." 52 Zola auf der anderen Seite billigt Fontane diesen hohen Grad von Kunstverstand nicht zu. Er würdigt aber sein erzählerisches Talent und meint, manches sei ebenfalls scharf beobachtet, „die Darstellung lebhaft, farbenreich, fesselnd".53 Das Talent selbst sei „kolossal" und lasse in der Darstellung bis zuletzt nicht nach. „Er schmeisst die Figuren heraus, als ob er über Feld ginge und säte. Gewöhnliche Schriftsteller, und gerade die guten und besten, kommen einem arm daneben vor, Storm die reine Kirchenmaus." 54 Weiter aber reicht die positive Kritik nicht, d.h. der Künstler Fontane bewundert zwar das grosse künstlerische Bewusstsein und Können Turgenjews und das enorme, wenn auch rohe Talent Zolas, aber der Poet und Mensch Fontane, der ganz bestimmte Vorstellungen vom „Wahren", vom Realismus, seinen Proportionen und seiner „Interessenvertretung" hat, wendet sich „mit Achselzucken davon ab", weil alles „so grenzenlos prosaisch" sei, weil alles die Dinge und Verhältnisse „so ganz unverklärt" wiedergebe. Ohne diese Verklärung gebe es aber keine eigentliche Kunst, auch dann nicht, wenn „der Bildner in seinem bildnerischen Geschick ein wirklicher Künstler" sei. Wer so beanlagt sei, müsse Essays schreiben, aber nicht Erzählungen; denn „Abhandlungen haben ihr Gesetz und die Dichtung auch".55 Fontane bleibt bei seiner Anschauung, dass die Gesetze der realistischen Dichtung die prosaische Darstellung nur nackten Lebens — und das bedeutet die einseitige Darstellung — verwerfen. Er sieht in der Darstellung eines die Gesellschaft „perhorreszierenden" Stoffes einen „Irrweg und ein Verkennen des eigensten inneren Wesens der Kunst", weil „alles nur aufregend, verdriesslich, abspannend" wirke.59 Wie beschaffen soll "

5S 54

« «

Ibid., Brief, Brief, Brief, Brief,

S. 315. 8. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 28). 25. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 45 f.). 24. Juni 1881 (Werke, II, Bd. 6, S. 314). 28. Juni 1881 (Werke, II, Bd. 6, S. 315).

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aber dieses „innere Wesen" der Kunst sein, wie Fontane es versteht? Wir können bereits von Einzelaussagen bzw. -begriffen — das „Wahre", „Interessenvertretung", „Interesse" — induzieren, dass Fontane Kunst nie als ein freies, von allen Bindungen gelöstes Absolutum erfährt. Für ihn gibt es keine Kunst um der Kunst willen. Wir können allerdings auch nicht sagen, dass Fontane eine engagierte Kunst vorschwebt, denn er sieht auch gerade im Engagiertsein eine Gefahr für die Kunst. Die Bindungen bestehen also nicht nach einem tendenziösen Zweck hin. Fontane will Bindungen nur in Bezug auf den Leser, Zuhörer oder Zuschauer verstanden wissen. Für diesen wird Kunst produziert. Schrieb Fontane, sich auf Turgenjews Produktion beziehend, dass seine Kunst nur „aufregend, verdriesslich, abspannend" wirke, so müssen wir als Zweck aller Kunst — und das dürfen wir mit dem „inneren Wesen" der Kunst gleichsetzen, denn Fontane zieht ja den Konsumenten immer in Betracht — erkennen, dass sie erst einmal unterhält, dann aber auch erbaut. Weiter aber soll sie gerade durch diese zwei Punkte der Unterhaltung und Erbauung eine Erlösung vom Komplex des Ich herbeiführen. So heisst es in einem Brief zu Beginn der neunziger Jahre an seine Tochter, dass die „schönste Wirkung eines Kunstwerkes auf uns" die sei, „dass wir uns dabei vergessen. Die Sprache, immer tiefsinnig, nennt dies ,sich verlieren' und drückt damit das Höchste aus, das uns zuteil werden kann. Auch das höchste Glück. Denn dies gerade liegt in dem ,sich verlieren'. In unserm gewöhnlichen Zustande sind wir immer nur mit unserm Ich beschäftigt, das wir befriedigen wollen, und je mehr wir danach ringen, je weniger fühlen wir uns befriedigt, je unglücklicher werden wir. Denn das Ich und wieder Ich ist unser Leid, unser Druck, unsere Qual. Und nun treten wir an ein Kunstwerk heran und verlieren uns darin! Das ist Erlösung vom ,Ich', Befreiung, Glück." 57 Neben der Tatsache, dass auch in der Zweckbestimmung der Kunst sich der enge Kontakt mit dem Menschen des Alltags herausschält, ergibt sich also als das „innere Wesen" der Kunst ein „sonniges" Reich. Seine Zweckbestimmung ist, dies dem "

Brief, 27. Febr. 1891 (Werke,

II, Bd. 7, S. 244).

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Leser etc. zu vermitteln. Soweit Fontanes Theorie; und von dieser Warte aus urteilt er. So ist es nun nicht überraschend, dass Fontane Turgenjews künstlerischen Sinn hoch preist, während er das Gesamtwerk als „nur aufregend, verdriesslich, abspannend" findet. In seinem zusammenfassenden Urteil über Turgenjew spricht er von einer „künstlerischen Meisterhand", vermisst aber die „poetische Seele". „Schliesslich", meint Fontane, „ist er auch ein Russe und grenzt an die Gesellschaft, die er perhorresziert. Aber ein solcher Künstler sein ist immerhin sehr viel."58 Was uns aber in Turgenjews Kunst entgegentritt, ist nur „die Muse in Sack und Asche, Apollo mit Zahnweh".59 Unversöhnlich fällt die Kritik über Zola aus. Es genügte nicht, dass Zola für Fontane grosses Talent bewies. Das wurde von ihm anerkannt, immer wieder. Aber die Bildung fehle ihm, von Kunst habe er keine Ahnung. Obwohl alles farbenreich und fesselnd sei — wobei wir für „fesselnd" auch einsetzen dürfen: „von Interesse" — schreibe er nichtsdestoweniger nur Schmöker. Und mit diesen Aussagen verbindet Fontane seine Anschauung über den „idealen Roman", die in Beziehung mit seiner Zweckbestimmung der Kunst verständlich wird: „Höchster oder auch nur höherer Schmöker sein, ist vielleicht das Romanideal" — und wir müssen dabei das Adjektiv „höchster" als „künstlerischer" verstehen —, „aber", fährt Fontane fort, „mittlerer Schmöker mit ein paar Spitzen ist mir nicht genug. Er", d.i. Zola, „erinnert mich beständig an Gödsche. . . . Es wimmelt von Fehlern, Muscheleien, Ungehörigkeiten und Unstimmigkeiten — lesbar auch für unsereins, aber ohne Kunst und Bildung. Er tut gebildet, ist es aber nicht." 90 Fontane vergleicht Zola auch mit Zeitgenossen aus Berliner Literaturkreisen und meint, er sei „halb Pietsch, halb Gödsche", vom ersteren habe er „die Fülle und Farbe der Schilderung", vom letzteren das „Ungezügelte, das Durchgängerische", und, auf das Sexuelle hinweisend, „die wildgewordene Fähnrichsphantasie". Hesekiel habe einmal sehr 58

Brief, Friedrich Brief, «o Brief,

27. Juni 1881. Heiteres Darüberstehen. Familienbriefe. Hg. von Fontane (Berlin, 1937), S. 183. 9. Juli 1881. Ibid., S. 184. 8. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 29).

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richtig zu Gödsche gesagt: „Gödsche, du hast mal wieder zu viel Zahntinktur getrunken!"61 In seinem abschliessenden Urteil über Zola weist Fontane auch besonders auf das Missverhältnis des Dargestellten in Bezug aufeinander hin, wie es seinen Anschauungen und seinem Charakter nicht entsprechen konnte. Da Fontanes Anschauungen nach der Wohlproportionierung der Darstellung hinzielen und er auch bewusst darauf hinarbeitete, „seine Schreibweise von zwei Dingen völlig" freizuhalten: „von Übertreibungen überhaupt und vor allem von Übertreibungen nach der Seite des Hässlichen hin",62 musste gerade die „niedere Gesamtanschauung" Zolas abstossend wirken, weil das Gemeine schliesslich nicht das „Wahre" repräsentiere, sondern lediglich einen Teil davon. Wir dürfen hier aber nicht übersehen, dass Fontane in Zolas Werk keine Spur von Frivolität oder Unsittlichkeit spürte. Er meinte sogar, dass es „grenzenlos dumm" sei, wenn man „gerade das diesen Büchern" vorwerfe; nur „die Gesamtanschauung von Leben und Kunst" sei niedrig. „So ist das Leben nicht, und wenn es so wäre, so müsste der verklärende Schönheitsschleier dafür geschaffen werden. . . . Vielleicht ist es noch nicht einmal erwiesen, dass das Hässliche präponderiert. Die Beimischung von Kleinlichem und Selbstischem, die selbst unsre besten Empfindungen haben, schafft wohl die sogenannten Menschlichkeiten', aber nicht die nackte Gesinnungs-Gemeinheit, deren Verkünder Zola ist. Was von ,Idealität' daneben herläuft..., ist Verzerrung, Poesie mit Albernheit verquickt. Man sieht, es passt ihm nicht."63 Es handelt sich bei dieser Fontaneschen Vorstellung also nicht um eine a priori Ablehnung der Darstellung des Hässlichen oder Niedrigen oder Gemeinen. Was er aber in seinen Anschauungen von der realistischen Kunst ablehnt, ist die einseitige Porträtierung des „Traurigen". Von sich selbst sagte er, dass er kein Pessimist sei, der danach aus sei, unbedingt nur das Miserable Brief, 25. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 45 f.). Brief, 5. Mai 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 26). «» Brief, 14. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 35). "

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im Leben ausfindig zu machen, sondern er befleissige sich vielmehr, „alles in jenen Verhältnissen und Prozentsätzen zu belassen, die das Leben selbst seinen Erscheinungen" gebe.*4 So rekapituliert Fontane noch einmal kurz und bestimmt, was er schon in seinem frühen Aufsatz als Grundforderungen an die realistische Kunstströmung ausgesprochen hatte. Es ist nicht Aufgabe der Kunst, das niedere alltägliche Leben und dessen singuläre Misere, sein Hässliches, Miserables, seine Schattenseiten in ihrer Nacktheit darzustellen. Dadurch dass es keineswegs erwiesen sei, dass das Hässliche präponderiere, habe der Künstler auch nicht das Recht, sich nur der Darstellung des Hässlichen zu widmen. Das richtet sich ganz eindeutig gegen Zolas Argument der durch ein „Temperament gesehenen" Darstellung und zielt hin auf eine Ausschaltung der persönlichen Vorliebe des Künstlers für all das, was die wohlproportionierten Verhältnisse eines Kunstwerks zerstört. Die Erscheinungen des Lebens müssen im Zustand ihrer tatsächlichen Proportionen in der fiktiven Parallele repräsentiert sein. Verwirft der Künstler diese Forderung, findet er nur in der Darstellung der Schattenseiten des Lebens sein Genüge, ohne auch nur den Versuch zu machen, einen „verklärenden Schönheitsschleier" über sein Werk auszubreiten, so kann ihm der Vorwurf der „Gesinnungsgemeinheit" nicht erspart bleiben. Denn Fontane sieht als Theoretiker — und schliesslich nicht nur als Theoretiker — einen grossen Unterschied darin, ob einer „die Morgue malt oder Madonnen, auch wenn das Talent dasselbe ist".65 Die Repräsentation des „Wahren" richtet sich also dennoch auf eine Aufnahme von ganz bestimmtem Stoff, zumindest theoretisch. Das „Wahre" ist allerdings nur dann richtig aufgenommen und dargestellt, wenn es als im Bezug auf die repräsentierten Zustände der in der Wirklichkeit vorgefundenen Verhältnisse verstanden werden kann. Aber in Fontanes theoretischen Anschauungen taucht immer wieder der Vorzug für die, um im Bilde zu bleiben, „Madonnen" auf, nicht für die „Morgue". M

«s

Brief, 5. Mai 1883( Werke, II, Bd. 7, S. 26). Brief, 25. März 1880 (Werke, II, Bd. 6, S. 287).

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2. Pessimismus und Humor Fontane sah einen grossen Unterschied darin, ob einer „die Morgue malte oder Madonnen, auch wenn das Talent dasselbe wäre". Hier hatte schon Fontanes Forderung von der Darstellung der Verhältnisse der Wirklichkeit auf die subjektive Einstellung bzw. Weltanschauung des Schriftstellers hingewiesen. In der Auseinandersetzung mit dem Pessimistischen in der zeitgenössischen Literatur richtet sich dann der Blickpunkt notwendigerweise immer mehr auf den Künstler, der als der Urheber der pessimistischen Atmosphäre im mimetischen Kunstwerk angesehen wird, besonders in jenen Fällen, wo die überhandnehmende Darstellung pessimistischen Details die richtigen Verhältnisse der Wirklichkeit zu verzerren droht. Fontane lehnt es kategorisch ab, an das Recht des Künstlers zu glauben, seinen Pessimismus auf das Neugeschaffene zu übertragen. Im frühen Essay war davon noch nicht die Rede gewesen; dort war noch alles vom Gegenstand her gesehen. Mit dem grösseren psychologischen Interesse am Menschen selbst, mit dem immer stärkeren Engagiertsein mit seiner eigenen Produktion und mit der bestimmteren Auseinandersetzung mit Erzähltechniken und -mittein richtet sich Fontanes Augenmerk auf den Erzeuger des Kunstwerks selbst. Zunächst gelangt er dabei aus dem Bedürfnis heraus, alles in den richtigen Verhältnissen wiederzugeben und durch die Lektüre zeitgenössischer Autoren, deren Hauptmerkmal ein „über die tatsächlich vorhandene Welttraurigkeit" hinausgehender Pessimismus ist, zu der Feststellung, dass das Kunstwerk kein Tummelplatz für die pessimistische Weltanschauung seines Erzeugers sei. „Worin ich aber in meiner Opposition nicht unrecht zu haben glaube", heisst es in einem Brief an Paul Heyse, den Fontane bei anderer Gelegenheit stark seines persönlichen Pessimismus wegen, der sich in seiner Produktion breitmache, kritisiert, „das sind die Fälle, wo nicht nur tatsächlich vorhandene Welttraurigkeit vom Dichter geschildert, sondern . . . ein ihm eigentümlicher Uberschuss von Pessimismus, der durchaus heraus will, ohne Not auf seine Per-

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sonen übertragen wird."®· In seinem Aufsatz über Alexander Kjellands Roman Arbeiter geht Fontane dann sogar so weit zu sagen, dass der Pessimismus überhaupt keine besondere Berechtigung habe. Er sei aber tolerant genug und könne deshalb verstehen, dass der Pessimismus „sich dem einzelnen als Lebenserfahrung und Lebensweisheit" aufdringe. Aber er bestreitet, „dass diese Trostlosigkeitsapostel irgendein Recht haben, sich im sonnigen Reiche der Kunst hören zu lassen".®7 Er stünde nämlich seiner ganzen Natur nach gegen diesen Pessimismus, und er werde das auch immer aussprechen müssen, heisst es in einem anderen Brief an Heyse. „In den . . . bleibt es bei einer gewissen allgemeinen Welttraurigkeit: ,es ist nun mal so', und es kann als diskutabel gelten, ob etwas in solcher tristesse ausklingen darf oder nicht. Viele sagen ja, ich sage nein."68 Fontane begnügt sich nun nicht allein mit dem Aufzeigen dieses Problems. Ihm stehen ganz klar Lösungen vor Augen, die der pessimistischen Gestaltung die Spitze nehmen, ohne dass der Wahrhaftigkeit in der Darstellung Abbruch getan wird. Eine Möglichkeit wurde im Vorhergehenden bereits angeschnitten. Es handelte sich dabei um das Finden und um die Darstellung der richtigen Verhältnisse, so wie sie das Leben aufweist — vor allem also um den Gebrauch naturgegebener oder historisch gegebener Verhältnisse für die Darstellung. Und gerade um dieses Natürliche und psychologisch Richtige bemüht sich Fontane von dem Augenblick an, da er selbst Fiktion zu schreiben beginnt. Das Natürliche habe es ihm schon lange angetan, schreibt er an Grünhagen. Er lege nur DARauf Gewicht und fühle sich nur DAdurch angezogen.®9 Angewandt auf ihm bekannte Lektüre, ergibt diese Forderung dann ganz bestimmte Vorschläge, die beispielhaft erläutern, was Fontane mit seiner Forderung wollte. Briefwechsel Fontane — Heyse. Hg. von E. Petzet (Berlin, 1929), S. 136. 97 Aus dem Nachlass von Theodor Fontane. Hg. von J. Ettlinger (Berlin, 1908), S. 276. 48 Briefwechsel Fontane — Heyse, S. 136. 89 Briefe an die Freunde. Letzte Auslese. Hg. von Fr. Fontane und H. Fricke (Berlin, 1943), Bd. II, S. 560. 89

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So sieht Fontane für Turgenjews Helden Neschdanoff (Neuland) einen ganz natürlichen Ausweg, den der Autor hätte begehen können, ja hätte begehen müssen, wenn er nicht gegen die Natürlichkeit V e r s t ö s s e n wollte. „Die Bauern haben Neschdanoff den Schnaps halb eingezwungen, das ganze Treiben ekelt ihn an. Was ist natürlicher, als dass er es aufgibt! Eine nur leidlich gesunde Natur hätte sich rekolligiert,70 hätte sich ein Eisenbahnbillet zurück nach Petersburg genommen und hätte ein neues, besseres Leben angefangen. Ging es in Petersburg nicht, so blieb ihm England, Amerika. Statt dessen verfällt er in einen Katzenjammer, stellt sich poetisch unter einen Apfelbaum und schiesst sich tot." 71 Dies aber mache einen recht trübseligen Eindruck, weil es so plötzlich komme und psychologisch nicht gerechtfertigt sei. „Wenn das Sich-tot-schiessen einen Effekt machen soll, so muss etwas vorhergegangen sein, das diesen Ausgang rechtfertigt oder fordert, fehlt es aber an Ereignissen, die ein Recht haben, mir die Pistole in die Hand zu drücken, so muss ich sie auch nicht aus Katzenjammer in die Hand nehmen."72 Wie allerdings schon angedeutet und wie sich in einem der folgenden Kapitel noch näher herausstellen wird, muss diese Natürlichkeit künstlerisch noch um einen Faktor erweitert bzw. ergänzt werden, damit die Ansprüche Fontanes, die er an den realistischen Roman stellt, erfüllt werden. Im frühen Essay hiess es zuerst, dass diese bereits künstlerisch konzipierte und deshalb für das Kunstwerk schon umgeprägte Natürlichkeit „poetisch verklärt" werden müsse. Diese anfängliche Forderung der Verklärung oder auch Idealisierung, wie wir es in diesem Zusammenhang noch nennen können, wurde langsam abgeschwächt, d.h. Fontane sah in den „natürlichen Verhältnissen" Und Fontane sieht in Neschdanoff tatsächlich eine „leidlich gesunde Natur". Das ist deshalb von Bedeutung, weil Fontane selbst die Handlung der Psychologie der agierenden Personen (und vice versa) angepasst wissen will, damit ein logischer Ablauf innerhalb der fiktiven Wirklichkeit gewährleistet ist. Von Interesse dürfte das auch sein im Hinblick auf Romananalysen und für die Formulierung von Werturteilen über Fiktion. 71 Nachlassband, S. 272 f. « Ibid., S. 273. 70

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bereits eine Balance zwischen hässlich (oder nicht erbauend) und schön (oder erbauend), so dass er die Forderung der Verklärung als hinfällig ansehen konnte. Dennoch bleibt der Gedanke an die notwendige „Verklärung" immer in Fontanes Bewusstsein, allerdings immer stärker mit der strukturellen Forderung des mimetischen Kunstwerks verbunden. In diesem Bewusstsein sind denn auch die weitere Kritik und die weiteren Lösungsvorschläge für Turgenjews Neuland geschrieben. Fontane sieht in Neschdanoff einen zwar eitlen, fahrig-poetenhaften, aber im wesentlichen doch auch guten, geschickten und anständigen Kerl. „Er ist vorwiegend von feiner und nobler Empfindung. Jeder, der nun diesen Helden durch das halbe Buch hin begleitet und ihn entweder lieb gewonnen oder ihm doch wenigstens Teilnahme entgegengetragen hat, wird den Wunsch hegen, ihn auf irgendeine Weise glücklich werden zu sehen. Es gibt dazu viele Wege. Er kann dies Glück in seiner Liebe, er kann es auch in seinen Idealen finden, indem er diese entweder in ihren ersten Anfängen sich verwirklichen sieht oder indem er hoffnungsvoll-verklärt für sie stirbt." 73 Die nackte Wiedergabe des Einzelfalles, in dem Fontane tatsächlich eine „tragikomische Krankheitserscheinung" sieht, einen an und für sich „guten und lieben Menschen, der all diese Dummheiten, den Schnaps und seine eigene Freiheitsapostelschaft ernsthaft nimmt, hingeopfert zu sehen", verdriesst. Neschdanoff hätte unbedingt den „Banden der Phrase" entrissen werden müssen. Da dies nicht getan worden sei, erlösche das Interesse des Lesers, „und man ist schliesslich froh, dass es ein Ende hat".74 Die zweite Möglichkeit, den trübseligen Pessimismus abzuwenden, sieht Fontane in der humoristischen Behandlung, wie er überhaupt eine Vorliebe für den humoristischen Roman erkennen lässt. Fontane ist davon überzeugt, dass der Realismus ganz falsch aufgefasst werde, „wenn man von ihm annimmt, er sei mit der Hässlichkeit ein für allemal vermählt. Er wird erst ganz echt sein, wenn er sich umgekehrt mit der Schönheit vermählt und das nebenherlaufende Hässliche, das nun mal zum 73 74

Ibid., S. 272. Ibid., S. 273.

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Leben gehört, verklärt hat. Wie und wodurch? . . . Der beste Weg ist der des Humors."75 Diese Lösung schlägt Fontane z.B. für den „trostlosen" Tendenzroman Alexander Kjellands vor, in dem der Verfasser sich über kleine Menschlichkeiten, die keine besonderen Verfehlungen bzw. Ausschreitungen der menschlichen Natur sind, „sondern ganz einfach die menschliche Natur selber", mit Hohn und Spott ergeht, obwohl Fontane „kein besonderes Schuldmass in den Personen" findet. Die handelnden Personen seien aber durchwegs nur „auf ihre Kleinheit, ihre Schwäche, ihre Ruppigkeit, ihre Lächerlichkeit hin angesehen" worden. Wenn der Verfasser glaube, durch derlei Verzerrungen „reformieren zu können", so könne er ihm nicht zustimmen, denn, „so waren die Menschen immer, so sind sie und werden sie sein. Die Kunst hat die Aufgabe, über diese Dinge hinzusehen, oder — wenn sie dargestellt werden sollen, was durchaus meinen eigenen Neigungen entspricht — sie humoristisch zu verklären, oder sie wenigstens grotesk-interessant zu gestalten, wie das Dickens so wundervoll verstand."76 Ebenso will Fontane das Erotische bzw. das Sexuelle behandelt wissen. Für seine eigene Praxis schliesst er die detaillierte Darstellung des Erotisch-Sexuellen aus, d.h. er beschränkt sich auf das unbedingt Notwendige, auf Andeutungen, die niemals zur „Unanständigkeit" werden.77 Fontane lehnt die Brutalität der naturalistischen Darstellung sexueller Begebenheiten grundsätzlich ab. Andrerseits wendet er sich aber genau so bestimmt gegen die „Unschuldserotiker" und „Weihekussmonopolisten" vom Schlage Theodor Storms, die „den von IHNEN appli» Brief, 10. Okt. 1889 (Werke, II, Bd. 11, S. 219). Das Element des Humors ist für Fontane schon in jungen Jahren von grosser Bedeutung gewesen. Am 1. Nov. 1850 schrieb er an Fr. Witte (Werke, II. Bd. 10, S. 12): „Friedrich Wilhelm [IV.1 sagt (vielleicht mit Bezugnahme auf seine Politik): ,Dem Mutigen gehört die Welt'; ich sage — dem Humor. . . . Ein sogenanntes Gehilfenzimmer und sein Kamschatkaklima mit Mut ertragen, heisst humoristisch sein." 76 Nachlassband, S. 279 f. Vgl. auch S. 273 (über Turgenjews Neuland): „Sind alle diese Dinge so kümmerlich, so ridikül wie Turgenjew sie darstellt, so sind sie Stoff für einen komischen Roman." 77 Vgl. dazu Gg. Lukacs, op. cit., S. 287.

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zierten Kuss, er sei wie er sei, immer als einen ,Kuss von oben', den Kuss ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuss aus der entgegengesetzten Richtung" ansehen.78 Gerade aber der witzigen und humorvollen Darstellung des Heiklen spricht Fontane eine künstlerische Hochstufe zu, die auch moralisch unanfechtbar ist. „Zu dieser Gruppe der Weihekussmonopolisten", heisst es in „Von 20 bis 30", „gehörte nun Storm im höchsten Masse, trotzdem er Dinge geschrieben und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen, als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden EmbonpointMadame, hinsichtlich deren er versicherte, ,nicht nur das Rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien' gesehen zu haben. Solche Verquickung von Ubermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die saubertuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken."79 Dadurch nun, dass Fontane den traurigen etc. Ausgang eines Romans gelten liesse, falls die psychologische Vorbereitung diesen Ausgang rechtfertigen würde, wird die Verdammung des Hässlichen, Heiklen bzw. Traurigen nicht von vornherein mehr abgelehnt. Ursprünglich, in seinem frühen Essay, hatte Fontane die Darstellung des Hässlichen und nicht poetisch Verklärten kategorisch negiert. Im Laufe der Zeit aber und mit dem steigenden eigenen Pessimismus akzeptierte er mit Vorbehalten die Darstellung des Hässlichen. Schlug nun das Interesse am erhebenden Stoff in der Auffassung des jungen Fontane das Hässliche und das Triste aus dem Felde, schrieb der mittlere Fontane noch gegen alle Berechtigung des Pessimismus, so lösen allmählich die eigenen pessimistischen Gedanken Fontane von der Forderung der idealistischen Stoffwahl und -behandlung ab.80 Das Triste wird mit in die 78 7» 80

„Von 20 bis 30" (Werke, II, Bd. 3, S. 82). Ibid., S. 82. Fontane schrieb im Literaturblatt des deutschen

Kunstblatts, 14. Juni

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Darstellung aufgenommen und der tragische Ausgang, soweit er psychologisch vorbereitet und dadurch glaubhaft oder „natürlich" wird, in die künstlerischen Möglichkeiten einbezogen. Fontanes sanguinisches Temperament fordert schliesslich durchwegs mehr als die sogenannte „objektive" Darstellung — objektiv nicht in dem Sinne, wie es besonders bei Brinkmann in den Kapiteln über Goethe erscheint, sondern in der herkömmlichen Bezeichnung als eine Übertragung wirklicher Verhältnisse ins Kunstwerk, wie es etwa im Merker-Stammler-Artikel formuliert ist.81 Der ursprüngliche Idealismus wird dahin abgewandelt, dass selbst noch der tragische Ausgang einen versöhnlichen Ausblick gewinnen muss. 82 Diesen Aspekt will Fontane dadurch erreichen, dass bei der Darstellung „verklärende" Möglichkeiten in Betracht gezogen werden; und werden diese Möglichkeiten des Verklärens erreicht, so ist auch — neben der psychologischen Richtigkeit — der tragische oder triste Ausgang gerechtfertigt. Das Idealistische bleibt also auf diese Weise indirekt erhalten, 83 wird aber aus der Sphäre des Gedanklich-Abstrakten genommen und, vor allem, dem Sprachmaterial einverleibt. Das Moment des Interessanten, das sowohl fesselnd als auch erhebend auf den Leser wirkt, ist dadurch entweder wiederhergestellt oder unter anderen Vorzeichen beibehalten worden. Was nun an Hässlichem sonst noch zum Leben des neuentstandenen Kunstwerks beiträgt, um die Balance der natürlichen Verhältnisse zu wahren, muss einem ähnlichen Prozess 1855: „Wessen der Idealismus unserer Zeit bedarf, das ist die idealistische Durchdringung. D i e Deutschen sind eben unbestritten das Volk der Idee. . . . W a s den Engländern fehlt, das ist entweder die idealische Durchdringung oder die vollkommene F o r m . Sie verfolgen h ä u f i g ein Nützlichkeitsprinzip, im günstigsten Falle eine Tendenz. Sie machen den E g o i s m u s , die Eitelkeit, die Scheinheiligkeit der Gesellschaft oder die Verderbtheit bestimmter Kreise zu roten F ä d e n ihrer Darstellung. Aber das ist keine Idee, in dem Sinne, wie wir es meinen. Solche Art des Verfahrens ist innerhalb des deutschen Romans, der zu allen Zeiten mehr sein wollte als eine lose Aneinanderreihung von Charakterbildern, niemals heimisch gewesen." (Vgl. Wiskott, S. 167.) 81 Merker-Stammler, S. 14 f f . M Vgl. dazu bes. Fontanes R o m a n e Irrungen Wirrungen, E f f i Briest, und Der Stechün. M Vgl. dagegen Gausewitz, Monatshefte, 54, (1953), S. 202-208.

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unterworfen werden wie das Tragische. Das Mittel, diesen Endzweck zu erreichen, sieht Fontane im Humor. Steht aber die Tendenz des gewählten Stoffes ganz nach der kleinlichen, hässlichen Seite der Wirklichkeit hin, so empfiehlt Fontane eine grotesk-interessante oder satirische Behandlung, die die kümmerlichen Elemente des Allzumenschlichen in Lächeln auflöst, ohne dass dabei die Grundtendenzen des Reformierenwollens, sollten sie eine Rolle spielen, zerstört werden müssten. 3. Die Bedeutung des Psychologischen und das Künstler-Ich Schon in den vorhergehenden Kapiteln hat sich gezeigt, wie die Aussagen Fontanes sich immer mehr mit dem Menschen und dem Menschlichen im Kunstwerk beschäftigten, wie sie den Menschen und sein Dasein immer mehr einkreisten, während Gegenständliches und rein deskriptives Vorgehen als künstlerisches Mittel nie recht zum Zug kamen. Eingeleitet wurde diese radikale Abwendung vom Typus zum Individuellen schon in Fontanes frühem Essay, in dem immer wieder der Begriff des „Interesses" in den Vordergrund trat und das sich schliesslich als das Interesse am Menschen bzw. Menschlichen und als Interesse für den Menschen bzw. das Menschliche entpuppte. In dem frühen Essay wird das erklärt an Hand des Vergleichs von „realistischer Darstellung" und „objektiver Darstellung", die, wie Fontane sagt, an und für sich verwandt seien. Verwandt deshalb, weil beide Darstellungsweisen aus den Gegebenheiten der Welt zu schöpfen haben, beide auf die sinnlichen Erfahrungstatsachen vor allem der Augen angewiesen sind. Der Unterschied jedoch, meinte Fontane, liege im Charakter und in der Konsistenz. Verständlich wird dies, wenn er fortfährt, dass die „objektive Darstellung" oder das „objektive" Kunstwerk nichts anderes seien als „verdünnter Realismus",84 der das Allgemeine schildere, also eine induktive Kraft besitze und deshalb nicht eine unmittelbare all84

Es ist interessant hier zu bemerken, dass Fontane als Gegenpol zu „Objektivität" den Begriff „Realismus" einführt, der tatsächlich nicht, wie die Untersuchungen ergaben, mit „Subjektivität" gleichgesetzt werden kann.

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gemeine Wirkung bzw. Ergriffenheit auszulösen vermöge. Wir haben nun auch bereits gesehen, wie der realistische Dichter sich dem Individuellen, dem Erfassen der individuellen psychologischen Zusammensetzung zuwendet — das zeigte sich auch bei Ian Watt wie bei Brinkmann und in der variierten Terminologie Burgers. Vergleichen wir dieses neu im Vordergrund erscheinende Element in der Darstellung mit den Analysen R. Brinkmanns, so können wir hier sogar schon von einem typischen Element in der realistischen Darstellung sprechen; denn Brinkmann zeigt in allen dreien seiner Analysen nur zu deutlich, wie die Psyche der fiktiven Charaktere sowohl von Grillparzer wie Ludwig und ganz besonders dann von Keyserling durchleuchtet und prominent hervorgebracht wird. Brinkmann wies auch ganz richtig darauf hin, dass es Otto Ludwig in seiner Erzählung darum zu tun war, den Einzelgegenstand, also das Individuelle, zu erfassen. Brinkmann spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass Ludwig einen Kausalnexus durch das Beleuchten des Gegenstandes, sei er nun belebt oder unbelebt, hervorzubringen versuchte. Und beim Lesen der Erzählung Zwischen Himmel und Erde kann man sich tatsächlich nicht des Eindrucks erwehren, dass Ludwig nicht nur kausale Zusammenhänge aufzeigen wollte, sondern sogar deren Ursprung; dort ist also der Versuch gemacht, diesen Zusammenhängen auf den psychologischen Grund zu kommen. Dass Ludwig dies nicht bis zur Vollkommenheit gelungen ist, liegt vor allem auch darin, dass ihm keinerlei Darstellungsmittel, keine Techniken, die erst später vollendet, perfektioniert wurden bis in die „stream-of-consciousness"-Technik und der reinen Bewusstseinsdarstellung Kafkas hin, zur Verfügung standen.85 Jedenfalls aber haben wir in Ludwigs Erzählung den ersten Versuch vor uns, der Psychologie der handelnden Individuen systematisch habhaft zu werden, zugleich aber auch den Versuch, die Handlungsstruktur, und mit ihr das fiktive Milieu, 85

Ausserdem scheint mir O. L u d w i g auch die Eindimensionalität des literarischen Kunstwerks aufheben zu wollen. Das liegt gerade in dem Versuch, die Erzählfunktion von allen möglichen Blickpunkten, allen möglichen Seiten her an das Objekt heranzutreiben.

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psychologisch zu entwickeln und den neuen realistischen Vorstellungen gemäss zu festigen. Das bedeutet aber auch eine Wendung gegen den klassischen Roman — gegen Wilhelm Meister —, der wohl in der Kleisterung seiner Handlung die Abhängigkeit vom pikaresken Roman nicht leugnen kann.8® Es bedeutet aber auch einen Fortschritt in der Technik der Erzählkunst, der nicht übersehen werden sollte. Bei Fontane beginnt diese Wendung zur Psychologie und ihre Benützung in der realistischen Darstellung schon mit dem frühen Essay. Dort wird zwar noch mehr nach dem Interesse geurteilt, das etwa das „Ach neige, du Schmerzensreiche" hervorzurufen vermag; dennoch ist die Wendung da. Das Interesse richtet sich bereits auf die fiktive Person und ihre Situation. Das zeigt sich auch in solchen Verbindungen wie: der Realismus lasse „die Todten, zumindest das Todte" ruhen, 87 wo der negierende Akzent von der Person auf den Gegenstand verlegt wird, und das ganz bewusst. In Fontanes Balladen tritt uns das, wenn auch noch auf oft recht primitive Art und Weise, zuerst vor Augen; denken wir etwa an Balladen wie der „Alte Derffling" oder „John Maynard",88 um nur zwei herauszugreifen. Das Interesse richtet sich da unmittelbar auf die Individuen und wird von noch etwa mitschwingenden Ideen, der Tugend, des Mutes, der Tapferkeit und Opferbereitschaft, weggeleitet. Später dann, da Fontane sich immer mehr der epischen Darstellung zuwendet — und seine bewusst epische Tätigkeit beginnt ja mit den ersten Wanderungen durch die Mark Brandenburg —, tritt das Erfassen der Persönlichkeiten, ihrer Geschichte und Geschichten und damit ihrer psychologischen „Zusammensetzung" immer stärker hervor. Sehr genau stimmt damit die konstant stärker werdende Lust am Menschenbetrachten überein, von der Fontane von den 80er Jahren an immer wieder spricht. Er hebt es zu beobachten und amüsiert sich schliesslich auch über des aufgeführte Spektakel. 89 8*

Vgl. dazu W. Kayser, op. cit., S. 364.

88

Annalen, S. 359. „Der alte Derffling" (Werke, II, Bd. 1, S. 238; „John Maynard" (Ibid.,

87

S. 195). Brief, 3. Juni 1881 (Werke, II, Bd. 6, S. 311).

M

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„Ich betrachte das Leben und ganz besonders das Gesellschaftliche darin wie ein Theaterstück und folge jeder Szene mit einem künstlerischen Interesse wie von meinem Parkettplatz Nr. 23 aus. Alles spielt dabei mit. Alles hat seine Bedeutung, auch das kleinste, auch das äusserlichste. Von Spott und Überhebung ist keine Rede, nur Betrachtung, Prüfung, Abwägung."90 Gerade durch dieses unvoreingenommene Beobachten und Betrachten der Umwelt, die dem eigenen Ich nur eine Rolle im Schauspiel zuschreibt und seine Wichtigkeit und die Anlage seiner subjektiven Wertmassstäbe auszuschalten trachtet, sucht Fontane zu einer Beurteilung der Umwelt zu gelangen, die ihr möglichst gerecht wird. Zu diesem bewussten Beobachten kommt noch hinzu, dass das konstante Hervorheben des Ichgefühls als etwas erkannt wird, das „von Übel" ist, besonders dann, wenn dieses Ichgefühl vorzüglich pessimistischen, nihilistischen Einflüssen unterworfen ist. Denn, meint Fontane, wir müssen nicht immer nur dieses Nichts sehen wollen; „wer sein Auge immer auf dieses Nichts richtet, der versteinert".91 Da es Fontane durchwegs um die richtigen Proportionen gegebener Verhältnisse in der Parallele (mimetisches Kunstwerk) zur historischen Wirklichkeit zu tun ist und diese richtigen Proportionen auch auf die strukturell-psychologischen Zusammenhänge (im realistischen Roman) übertragen sein wollen, muss er zu der Ansicht gelangen, dass das Ich des Künstlers, dessen persönliche Anliegen bzw. Anschauungen hinter den strukturellen Forderungen des mimetischen Kunstwerks zurückzutreten haben. So trennt Fontane entschieden das Persönliche des Künstlers von künstlerischen Notwendigkeiten. Allerdings hat Fontane diese Forderung nicht als eine a-priori-Sache übernommen. Noch 1879 schrieb er an Wilhelm Herz, es erscheine ihm als „reine Quackelei", „dass der Erzähler nicht mitsprechen darf, weil es gegen das ,epische Stilgesetz' sei. . . . Gerade die besten, berühmtesten, entzückendsten Erzähler, besonders unter den Engländern, haben es immer getan. Dies beständige Vorspringen des Puppenspielers in Person hat für mich einen ausser·»

Brief, 5. Juli 1886 (Werke, II, Bd. 11, S. 116). Brief, 24. Aug. 1893 (Werke, II, Bd. 7, S. 291).

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ordentlichen Reiz und ist recht eigentlich das, was jene Ruhe und Behaglichkeit schafft, die sich beim Epischen einstellen soll."»2 Beinahe gleichzeitig aber macht sich schon die Tendenz bemerkbar, dass das starke Involviertsein des schreibenden Ichs von Übel ist. 1878 schrieb Fontane bereits: „Auerbach sagte mir mal: ,Die ganze Gutzkowsche Produktion dreht sich um Gutzkow selbst.' Ich glaube, dies ist richtig, und damit ist ihr Todesurteil ausgesprochen." 98 Drei Jahre später heisst es über Richard Wagner, dass in seiner Produktion „von Äther keine Rede" sein könne. „Der Sanspareil in dieser Genossenschaft [der triebhaften Götter] ist immer er, und so wird das objektiv schon Hässliche durch das subjektive Mitengagiertsein des Dichters noch viel, viel hässlicher." 94 Diese Auseinandersetzungen führten dann zu der Einsicht, die auf dem allmählichen Erkennen der logisch-strukturellen Verhältnisse im mimetischen Kunstwerk basiert,95 dass der Schriftsteller von persönlichen Reflexionen absehen solle. So schreibt Fontane 1896 an Friedrich Spielhagen nach einer Auseinandersetzung mit dessen theoretischen Schriften: „Nicht minder als hinsichtlich dieser Frage bin ich in bezug auf die Technik des Romans mit Ihnen in Ubereinstimmung. Was mich aufrichtig freut. Das Hineinreden des Schriftstellers ist fast immer vom Übel, mindestens überflüssig. Und was überflüssig ist, ist falsch. Allerdings wird es mitunter schwer festzustellen sein, wo das Hineinreden beginnt. Der Schriftsteller muss doch auch, als ER, eine Menge tun und sagen. Sonst geht es eben nicht oder wird Künstelei. Nur des Urteilens, des Predigens, des klug und weise Seins muss er sich enthalten. Vielleicht liegt es so wie mit Finanzfragen: nachdem man sich für Handelsfreiheit be-

w w μ

Brief, 14. Jan. 1879 (Werke, II, Bd. 10, S. 406). Brief, 17. Dez. 1878 (Werke, II, Bd. 10, S. 400). Brief, 13. Juli 1881 (Werke, II, Bd. 11, S. 49). 95 Th. Mann hat meines Wissens zum ersten Mal auf die besonderen logisch-strukturellen Verhältnisse der mimetischen Dichtung hingewiesen. Th. Mann, „Der alte Fontane". In Heilborn, Das Fontane-Buch, S. 50. Vgl. Fn. 97.

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geistert, erkennt man widerwillig, dass es ohne einen kleinen Schutzzoll nicht geht." 9 6 So liegt für Fontane in der Uberwindung des persönlichen Standpunktes und nicht in der „sittlichen Tiefe des Bewusstseins", der die didaktische Tendenz zu sehr anhaftet, 97 der höchste Gewinn für die realistische Kunst, die trotzdem nicht — das haben wir schon bei Brinkmann gesehen und das hat sich ebenso bei Fontane herausgestellt — als objektive Darstellung der Wirklichkeit angesehen wird oder diese fordert. Klar kommt das noch einmal zum Ausdruck in seinem nicht datierten Romanreflex über Alexander Kjellands Arbeiter, in dem es heisst, dass es als ein beklagenswertes Zeichen „unsrer Dekadenz" erklärt worden sei, „dass sich der Feuilletonismus in jeden Literaturzweig eingedrängt habe; Zola ist noch einen Schritt weitergegangen und hat das Reportertum zum Literaturbeherrscher gemacht. Und eine gute Strecke Weges gehe ich dabei mit ihm. Ich erkenne in dem Heranziehen des exakten Berichtes einen ungeheuren Literaturfortschritt, der uns auf einen Schlag aus dem öden Geschwätz zurückliegender Jahrzehnte befreit hat, wo von mittleren und mitunter auch von guten Schriftstellern beständig ,aus der Tiefe des sittlichen Bewusstseins heraus' Dinge ··

Brief, 15. Febr. 1896 (Werke, II, Bd. 11, S. 373). Zur G. Keller-Kritik Fontanes schreibt Th. Mann: „Die Wahrheit zu sagen, so trifft der Einwand, den Fontane gegen Keller erhebt, wenn es ein Einwand ist, ihn selber nicht weniger oder kaum weniger als diesen. Auch er hat die ganze Gotteswelt seinem Fontane-Ton überliefert; und wer möchte es anders wünschen? Der Einwand ist kein Einwand, und Fontanes naturalistisch beeinflusste Stiltheorie ist nicht auf der Höhe seiner Praxis. Zwar trägt je der Stoff seinen Stil in sich, und der Manierist taugt so wenig wie der Glattschreiber. Aber jene stilistische Mimikry, die einen Schriftsteller befähigt, jede Wendung seines Vortrags mit der Atmosphäre der Welt zu erfüllen, die er darstellt, schliesst die Einheit und geprägte Eigenart der stilistischen Persönlichkeit keineswegs aus. . . . Die Sache ist die, dass der Künstler zwar nicht selber redet, sondern die Dinge reden lässt, dass er sie aber auf seine persönliche Art reden lässt" (Heilborn, Fontane-Buch, S. 50). Dagegen liesse sich allerdings anführen, dass nach allem, was Fontane in seiner Keller-Kritik sagt, er seine Kritik gar nicht einmal allein auf das Kellersche Sprachmaterial bezogen haben will. Vielmehr scheint Fontane, neben dem Einwand gegen die tatsächlich stilisierte Kellersche Sprache, gegen die Kellersche Didaktik Einwände machen zu müssen. Vgl. Fontanes Keller-Kritik, Nachlassband, S. 256 ff. n

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geschrieben wurden, die sie nie gesehen hatten. Von dieser unwahren Weise, die sich nur die wenigen erlauben durften, die so geartet waren, dass sie eine verträumte Welt an die Stelle der wirklichen setzen konnten, hat uns das Reportertum in der Literatur auf einen Schlag befreit, aber all dies bedeutet nur erst den Schritt zum Besseren. Will dieser erste Schritt auch schon das Ziel sein, soll die Berichterstattung die Krönung des Gebäudes statt das Fundament sein oder wenn es hoch kommt seine Rustica, so hört alle Kunst auf, und der Polizeibericht wird der Weisheit letzter Schluss. Wenn Zola den berühmten Gang in die Pariser Käsekeller oder in die Bildergalerie oder zum Wettrennen nach Longchamps oder Compiegne macht, so sind das Meisterstücke der Berichterstattung, an die sich hundert ähnliche Schilderungen anreihen, aber ihre Zusammenstellung macht noch kein Kunstwerk. Auch selbst ein geschickter Aufbau dieser Dinge rettet noch nicht, diese Rettung kommt erst, wenn eine schöne Seele das Ganze belebt. Fehlt diese, so fehlt das Beste." 98 Sehen wir hier vorerst einmal von der etwas übertriebenen Forderung der „schönen Seele" ab, so erfahren wir doch, zusammen mit dem Brief an Spielhagen, dass Fontane nicht eine Kombination von Künstler-Ich und realistischer, unvoreingenommener Sicht der Umwelt für das mimetische Kunstwerk vorschwebt. Vielmehr tritt uns eine Kombination zwischen realistischer Sicht und einem Künstler-Ich entgegen, das sich den Anforderungen der Kunst im allgemeinen, so wie sie Fontane verstanden haben will, unterwirft. D.h., das KünstlerIch ist im realistischen Roman einerseits beschränkt durch die enge Verknüpfung der psycho-logisch einander folgenden Szenen — vgl. dazu auch Brinkmanns Analysen —, eine Verknüpfung, die bis ins Detail hineindringt, wie jener Antwortbrief zeigt, den Fontane auf einen Vorwurf über das Triviale der nicht verbrannten Briefe in „Effi Briest" hin schreibt." Andrerseits hat das Künstler-Ich die Vorstellung vom heiteren, klaren Bereich der Kunst durch die künstlerische Konzeption und die Dar1,8

·»

Nachlassband, S. 275. Brief, 24. April 1894 (Werke, II, Bd. 11, S. 316).

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Stellung zu erfüllen. Nur soweit ist das Künstler-Ich engagiert, nur soweit durchdringt es den geforderten psycho-logischen Aufbau des mimetischen Kunstwerks; nur so taucht es in der Psychologie der fiktiven Personen auf und verbindet sich mit ihnen. Die interpretierende Kraft des Künstler-Ichs ist also auf ein Minimum reduziert. Das Didaktische, das ja die klassizistische Literatur auszeichnete, wie jede andere Tendenz ist vollkommen abgelehnt, soweit es den realistischen Roman betrifft; denn „Kunst ist Kunst", meint Fontane. „Da versteh' ich keinen Spass. Wer nicht lieber Künstler ist, dreht natürlich den Spiess um und betont Anschauung, Gesinnung, Tendenz." 100

4. Zur Erkenntnis logisch-struktureller

Verhältnisse

Wenn wir uns nun die Entwicklung von Fontanes Beschäftigung mit dem Begriff „Realismus" als Charakterisierung für literarische Kunstwerke aus einer bestimmten Zeitspanne des 19. Jahrhunderts ins Gedächtnis rufen und die einzelnen Hinweise auf logisch-strukturelle Verhältnisse im mimetischen Kunstwerk in Betracht ziehen, so gelangen wir zu dem Resultat, dass Fontanes theoretische Auseinandersetzungen mit Erkenntnissen übereinstimmen — wenn auch nicht im Detail und sicher nicht in den theoretischen Folgerungen —, die Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung niederlegte. Ja es scheint so etwas wie eine Gedankenkette von Fontane über Thomas Mann zu Käte Hamburgers Ausführungen zu bestehen. Tatsächlich hat sich Thomas Mann mit Gedankengängen Fontanes, die sich auf die strukturellen Verhältnisse des mimetischen Kunstwerks beziehen, in seinem Essay „Der alte Fontane" beschäftigt, 101 und zugleich tauchen in diesem Essay zum ersten Mal Vorstellungen über diese Verhältnisse auf, wie sie später dann stark und unübersehbar im „Erwählten" in die Erzählung eingebaut sind.102 Tatsächlich zitiert Käte Hamburger diese letztere Stelle und erläutert 100

Brief, 12. Juni 1883 (Werke, II, Bd. 7, S. 33). Th. Mann, „Der alte Fontane". In Heilbom, op. cit,, S. 50. Vgl. auch K. Hamburger, „Noch einmal: Vom Erzählen", Euphorion, 59 (Heidelberg 1965), S. 63. m Vgl. K. Hamburger, Die Logik der Dichtung, S. 241. 101

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daran bestimmte Erkenntnisse über die logischen Verhältnisse im mimetischen Kunstwerk. Wir haben schon festgestellt, dass zwischen historischer Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Fiktion keine unmittelbare Beziehung besteht, dass keine Subjekt-Objekt-Relation, d.h. unmittelbare Wirklichkeitsbeziehung zwischen Künstler-Ich bzw. dem Leser und dem mimetischen Kunstwerk besteht, sondern dass sich eine unmittelbare Beziehung lediglich zwischen den fiktiven agierenden Personen und deren fiktiver Umwelt feststellen lässt. Zwar lassen sich diese Gedankengänge nun nicht in dieser endgültigen Form bei Fontane nachweisen, aber der künstlerische Instinkt Fontanes lässt doch schon die Anfänge dieses Denkens spüren. Diese Anfänge liegen schon in seinem frühen Essay, in dem die theoretischen Auseinandersetzungen darauf hinweisen, dass zwischen historischer Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Kunstwerks bedeutsame Unterschiede existieren, die zuerst einmal zu der Schlussfolgerung führten, dass eine Imitation der Wirklichkeit oder eine Wiederspiegelung der Wirklichkeit in einem Kunstwerk als nicht zutreffend erkannt wurden. Es sei hier nur noch einmal auf die Gedankengänge hingewiesen, dass das Leben oder die historische Wirklichkeit zwar der „Marmorsteinbruch" für den Künstler sei, dass aber dieser „Marmorsteinbruch" nur Material für die „künstlerische Konzipierung" eines Kunstwerks liefere.103 Was nun schon Ian Watt als Neuerung in den Anfängen des englischen Romans feststellte, nämlich das Finden eines Stoffes, einer Handlung aus der zeitlich, aber nicht unbedingt geographisch NÄCHSTLIEGENDEN Umgebung, 104 zeigt sich genauso bei Fontane. Hatte Fontane schon geschrieben, dass der realistische Schriftsteller sich möglichst mit einem Stoff befassen soll, der in einer Zeit liege, die ihm selbst noch bekannt sei, und der nicht mehr als vierzig Jahre zurückliegen soll — wir wollen uns dabei nur mit der These als solcher befassen, nicht mit der Berechtigung oder Nichtberechtigung einer solchen Forderung —, so wendet er auch nichts gegen das Erfinden ein, zumindest »o» Annalen, S. 359. »M Vgl. S. 18.

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nichts gegen das Erfinden des Details. Freilich wird in seinen Aussagen immer wieder bestätigt, dass es ihm sehr darum zu tun war, die tatsächliche Geschichte, also den Kern des mimetischen Kunstwerks, als echt, wirklich geschehen hinzustellen. In dem Brief an Friedrich W i l h e l m von 19. Januar 1883 heisst es zu Anfang, dass ihn die deutsche Presse nach wie vor zumute, er solle und müsse nur „märkische Wanderungen" schreiben. Alles andere w e r d e ihm nur so nebenbei angerechnet, obwohl gerade in diesem ANDERN seine eigentliche künstlerische Betätigung sich bemerkbar mache. Auch bei Schach von Wuthenow trete das wieder hervor, und „so lobt man die Kapitel: Sela Tarone, Tempelhof und W u t h e n o w . In W a h r h e i t liegt es so: von Sela Tarone hab ich als Tertianer nie mehr als das Schild überm Laden gesehn. In der Tempelhofer Kirche bin ich nie gewesen, und Schloss W u t h e n o w existiert überhaupt nicht, hat auch nie existiert. Das hindert aber die Leute nicht, zu versichern, ,ich hätte ein besonderes Talent f ü r das Gegenständliche', während doch alles, bis auf den letzten Strohhalm, von mir erfunden ist, nur gerade das nicht, was die W e l t als Erfindung nimmt: die Geschichte selbst." 105 Dieselbe Bestätigung, dass es sich nicht um eine A u f n a h m e „objektiver Wirklichkeit" in das realistische Kunstwerk noch u m eine Imitation bzw. Wiederspiegelung der Wirklichkeit handeln kann, findet sich in der Beschreibung dessen, wie Fontane den Roman Effi Briest konzipierte. Zugleich weist diese Briefstelle auf, wie zahlreiche und verschiedene Erfahrungen empirischer A r t zu einer fiktiven Person beitragen und w i e die obigen Feststellungen bis ins Detail gerechtfertigt sind: Meine Gönnerin L. erzählte mir auf meine Frage: „Was macht denn der?" (ein Offizier, der früher viel bei Ls. verkehrte, und den ich nachher in Instetten transponiert habe) die ganze „Effi-Briest"Geschichte, und als die Stelle kam, zweites Kapitel, wo die spielenden Mädchen durchs Weinlaub in den Saal rufen: „Effi komm", stand mir fest: „das musst du schreiben." Auch die äussere Erscheinung Effis wurde mir durch einen glücklichen Zufall an die Hand gegeben. Ich sass im Zehnpfundhotel in Thale, auf dem oft beschriebenen grossen Balkon, „Sonnenuntergang", und sah nach der 105 Brief, 19. Januar 1883 (Werke, II, Bd. 11, S. 84).

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Rosstrappe hinauf, als ein englisches Geschwisterpaar, er zwanzig, sie fünfzehn, auf den Balkon heraustrat und drei Schritte vor mir sich an die Brüstung lehnte, heiter plaudernd und doch ernst. Es waren ganz ersichtlich Dissenterkinder, Methodisten. Das Mädchen war genau so gekleidet, wie ich Effi in den allerersten und dann auch wieder in den allerletzten Kapiteln geschildert habe: Hänger, blau und weiss gestreifter Kattun, Ledergürtel und Matrosenkragen. Ich glaube, dass ich für meine Heldin keine bessere Erscheinung und Einkleidung finden konnte, und wenn es nicht anmassend wäre, das Schicksal als ein einem für jeden Kleinkram zu Diensten stehendes Etwas anzusehen, so möchte ich beinah sagen: das Schicksal schickte mir die kleine Methodistin.106 Wir können hier also lediglich feststellen, dass es sich, wie die eigenartige Zusammensetzung von Gesehenem zur fiktiven Welt und ihrer Personen beweist, bei der realistischen Prosadichtung nur um eine Parallele zur historischen Wirklichkeit handeln kann — eine Feststellung allerdings, die Hand in Hand geht mit den Analysen Hamburgers. Aber die Anfänge des tatsächlichen Erkennens logisch-struktureller Verhältnisse sind in dem langen Antwortschreiben an Emil Schiff vom 15. Februar 1888, das die Problemstellung dieser Arbeit einleitete. Was dort ausgeführt ist, zeigt ganz erstaunlich das Bewusstsein, dass historische Welt und fiktive Welt völlig verschiedenen Gesetzen unterworfen sind und eine nicht einfach in die andere versetzt werden kann. Was in den obigen Aussagen lediglich auf dieses Bewusstsein hinführte, ist hier ganz eindeutig ausgesprochen.107 Fontane beginnt in diesem Brief mit der Dialektfrage, die ihn sehr beschäftigt haben muss. Mit der immer stärkeren Heranziehung individuell-psychologischer Verhältnisse sah sich Fontane vor die Aufgabe gestellt, die individuellen Verhältnisse bis ins Sprachmaterial hinein auftauchen zu lassen. Die erste Schwierigkeit, der er sich dabei gegenübersah, lag darin, dass es schiere Unmöglichkeit war, alle Dialekte, geschweige ihre Nuancen, zu kennen. So griff er „zu dem angeratenen Hilfsmittel", das von ihm Geschriebene ins „Schwäbische oder Schlesische oder Plattdeutsche transponieren" zu lassen. Das »«· 107

Brief, 2. März 1895 (Werke, II, Bd. 11, S. 341 f.). Vgl. S. 9 und 10.

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glückte aber nicht. Natürlich liess es sich tun, aber das Neuentstandene „wirkte tot oder ungeschickt", und Fontane stellte deshalb sein ursprünglich Geschriebenes wieder her, denn „es war immer noch besser als das ,Richtige'". Und Fontane meint, so gewiss Emil Schiff im Prinzip recht habe, „tatsächlich danach zu verfahren, wird sich nur selten ermöglichen lassen. Es bleibt auch hier bei Andeutungen der Dinge, bei der bekannten Kinderunterschrift: ,Dies soll ein Baum sein.'" 108 Tritt hier auch die Bescheidenheit, die in dem Gefühl künstlerischer Unzulänglichkeit liegen dürfte, ebenso stark zum Vorschein wie die Erkenntnis des hier angeschnittenen Problems, so dürfen wir doch nicht übersehen, dass Fontane gerade sein Erfundenes (und im Vergleich mit der historischen Wirklichkeit „Unrichtiges") als das im Kontext des mimetischen Kunstwerks „Richtigere" nicht nur empfindet, sondern erkennt. Selbst die Darstellung von Unstimmigkeiten in der Fiktion, die daraus entspringen, dass dem Schriftsteller nicht Allwissenheit zu Gebote steht, führen auf eine Bestätigung der Erkenntnis der andersartigen Verhältnisse im Kunstwerk hin. Der Schluss, den Fontane daraus zieht, ist, dass es letzten Endes gar keine Rolle spielt, „ob in der und der Woche oder dem und dem Jahre Neumond gewesen sei, mithin kein Halbmond über dem Elephantenhause gestanden haben könne", oder ob es stimme, was er alles „im Dörrschen Garten a tempo blühen und reifen lasse". Der Schriftsteller könne erst einmal gar nicht über das enorme Wissen verfügen, das die realistische Darstellung, so wie sie gefordert werde, verlange. „Es geht halt nit." Was aber dann von Bedeutung sei, ist, dass der „Totaleindruck der ist: Ja, das ist Leben' ".109 Darauf allein komme es an, also auf die Parallele zur historischen Wirklichkeit, nicht auf die Stimmigkeit, als Wiederspiegelung, von historischer und fiktiver Szene, historischem und fiktivem Gegenstand, sondern auf jenes Leben, das eine ganz neue Wirklichkeit in sich selbst erstellt. Wortverbindungen wie „Wirklichkeit und Illusion" oder „Darstellung objektiver Wirklichkeit", die die realistische Kunst bezeichnen '»8 l0»

Ibid. Ibid.

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sollen, übersehen gerade diesen Aspekt, den Fontane sehr wohl erkennt, und den er dann 1896 in einem Brief an Otto Brahm (im Zusammenhang mit einer Kritik über Gerhart Hauptmanns Versunkene Glocke) klar kennzeichnet. Die Erkenntnis der Eigenwirklichkeit des Kunstwerks bricht sich Bahn: Aber doch an einer sehr wichtigen Stelle ein Etwas, das einer Unklarheit nahekommt, einer Unklarheit nicht des Gedankens, wohl aber des Gefühls. Was vielleicht noch schlimmer ist. Denn es entsteht daraus . . . eine gewisse Schwabbelei. Der ganze fünfte Akt, mit Ausnahme dessen, was sich am Brunnen abspielt, . . . ist verfehlt. Die Drei-Becher-Geschichte macht ungeduldig, und das nochmalige Zu- und Ineinanderfliegen der beiden Liebenden macht verdriesslich. Da hängt es. Das ist Gefühlsunklarheit, richtiger die Gefühlsunkonsequenz. Im Leben mag diese Gefühlsunkonsequenz vorkommen. Ja, sie kann da schön wirken und den Widerruf des Widerrufs zu einer Art Triumph erheben: von der Bühne her stört es aber. Was wir menschlich verzeihen, will uns künstlerisch nicht eingehen.110

5. „Poetische Verklärung". Bedeutung und Wandel Ähnlich wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England mussten also neue Wege und Mittel der Darstellung gefunden werden, um den neuen Anschauungen zu genügen. So gerieten wir gleich, nachdem Fontane in Bezug auf Rauchs Statue Friedrichs des Grossen vom „Triumphtag der neuen Richtung" gesprochen hatte, auf den Hinweis, dass der „Alte Fritz" doch noch keineswegs das „Höchste der neuen Kunst" darstelle; vielmehr gehöre er einem notwendigen Entwicklungsstadium an, in dem zwar der Realismus bereits als Aufgabe der Kunst erkannt würde, in dem aber noch nicht die „poetische Verklärung" mit als Teil des Realismus, als seine Vollendung gesehen werde. „Poetische Verklärung" bedeutet nun zuerst einmal, dass eine reine Imitation der Wirklichkeit in der fiktiven Darstellung ausgeschaltet wird. Diese Forderung basiert nun keineswegs, auch wenn in Fontanes frühem Essay ein Erkennen der formalen Anforderungen des Kunstwerks anklingt, auf der Erkenntnis der "β Brief, 17. Dez. 1896 (Werke, II, Bd. 11, S. 411).

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logischen Struktur des mimetischen. Kunstwerks; vielmehr Hegt diese Forderung in dem Wollen, das empirisch „Wirkliche" darzustellen, jedoch nicht in der Einseitigkeit des „Nackten", des „Prosaischen" oder des „Extremfalles". So zeigten sich auch in Fontanes Proklamation keine revolutionären Reaktionen gegen bestehende Gesellschaftsformen oder politische Zustände, und damit trat er in Gegensatz zum jungdeutschen Schriftsteller, der die Wirklichkeit darstellen wollte, „ohne Verschönerungsabsichten nachzugeben". 111 Wenn auch Fontanes „poetische Verklärung" nicht vollkommen mit der von den Jungdeutschen als nicht berechtigt hingestellten „Verschönerungsabsicht" gleichzusetzen ist — Fontane will ja das „Wirkliche" in der Darstellung wiederfinden —, so liegt sowohl der Fontaneschen Vorstellung von der „poetischen Verklärung" wie der negativen Vorstellung der Jungdeutschen von der „Verschönerungsabsicht" doch zugrunde, dass ein Idealisieren dessen gemeint ist, was in der Darstellung erscheint. Die Jungdeutschen lehnen jegliche Idealisierungsnuancen ab; Fontane findet sie eine Notwendigkeit für das Kunstwerk. In einem Essay, geschrieben drei Jahre nach dem ersten, heisst es sogar, dass die grosse Masse der Deutschen nicht umhin könnte, ein gewisses Idealisieren im Kunstwerk vorfinden zu wollen. Sie hätten am Nackten gar kein Interesse.112 Noch kräftiger tritt der Gegensatz zum jungdeutschen Schriftsteller dadurch hervor, dass dieser sich „in den Bannkreis seiner eigenen Interessen" verfängt, die für die „schlichte Z u s t ä n d i g keit und Durchschnittlichkeit", die für Fontane als massgebend gedeutet werden können, nichts übrighaben. „Seine [des Jungdeutschen] Absicht ist, wie Laube gern sagt, das Leben im N6glig6e, nicht in grosser Toilette zu beobachten und zu schildern, er ist sich dabei seiner angeborenen Vorliebe für Pose und Geste kaum bewusst geworden. Wenn er aber von der Erfassung der Wirklichkeit immer abgedrängt wurde, so hat er doch die Geltung der Wirklichkeit in der Kunst und im Leben durchsetzen helfen. Er hat die Tatsache gegen die ästhetische und 111

H. Bieber, op. cit., S. 130. »* Vgl. Fn. II, 80.

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sittliche Norm auf den Schild gehoben. Er hat den Eigenwert des Individuellen betont." 113 Fontane hatte schon in dem frühen Essay ganz im Sinne der naiven Realismusströmung die „Eigenart des Individuellen" zur Geltung gebracht haben wollen, wenngleich innerhalb der Grenzen des „Poetischen". Er bleibt dieser Vorstellung sein ganzes Leben hindurch treu. Nur verbinden sich die im frühen Essay zum erstenmal genannten Vorstellungen vom notwendigen „Interesse" und von der „poetischen Verklärung" immer mehr, ja sie werden gleichgesetzt. Die Bedeutung einer erlebten interessanten Geschichte, die vom Augenzeugen niedergeschrieben werde, heisst es in einem Antwortbrief, gebe zwar das Wirkliche wieder, aber dieses Wirkliche sei noch kein Kunstwerk. Es ist vielleicht der „unbehauene Block" aus dem „Marmorsteinbruch". Tritt aber derlei Niedergeschriebenes als Kunstwerk auf, so wächst es leicht „in ein Genre" hinein, das Fontane im Kontext des Briefes das „Sentimentale" nennt und das „mehr oder weniger abzulehnen" ist. Soweit aber kann eine auf diese Art und Weise niedergeschriebene Geschichte anerkannt werden, als sie als „reines Erlebnis" aufgezeichnet wurde und als solches auftritt.114 Der Anspruch, als ein Kunstwerk zu gelten, muss hinwegfallen. Der Stoff ist nicht vom „Geweihten" mit dessen künstlerischem Auge gesehen, d.h. das Stück „Leben" ist nicht als Kunstwerk konzipiert worden, sondern als nackter Lebensausschnitt; und als solcher unmittelbar dargestellt, kann das neu Entstandene keinen Anspruch darauf erheben, ein Kunstwerk zu sein. Es bleibt Erlebnis, im besten Falle „Natur ohne Poesie".115 Im erzählten Erlebnis ist zwar das Interesse gegeben, wenn auch möglicherweise nur für den Augenzeugen; die Allgemeinheit bzw. Allgültigkeit des Interesses kann dabei aber völlig fehlen. Grundsätzlich fehlt dieser Darstellung aber die künstlerische Anordnung, so dass auch jene „poetische Verklärung" nicht eintreten kann, die ja als Voraussetzung die künstlerische 11S

»« 115

H. Bieber, op. cit., S. 148. Brief, 10. Jan. 1892 (Werke, II, Bd. 11, S. 283). Vgl. dazu Annalen, S. 358.

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Konzeption hat. Umgekehrt kann aber der Künstler auch nicht vorgehen, d.h. er soll einen Stoff nicht durch Darstellungsmittel aufzuladen versuchen, damit der Stoff Bedeutung gewinne, damit dieser Stoff allgemeines Interesse erwecke, wenn diesem Stoff prinzipiell weder solches Interesse noch solche Bedeutung innewohnt. In Fontanes Alexis-Essay heisst es darüber: „Die Vorgänge . . . sind weder so INTERESSANT NOCH SO WICHTIG, als Willibald Alexis uns glauben machen möchte. Die ABSICHT, ihnen einen Reiz oder eine Bedeutung beizulegen, die sie in Wahrheit in so hohem Grade nicht hatten, bessert nichts und macht den Leser nur allzu geneigt, den poetischen und historischen Wert noch geringer zu veranschlagen, als sie verdienen."11® Im selben Essay, in Zusammenhang mit der Kritik über „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht", taucht die oben angeführte Forderung nochmals auf: „Der Kriminalist . . . verliebt sich hier in seinen »interessanten Fall' in einer Weise, die ihn über den Unterschied zwischen einem pikanten Prozess und einem fesselnden Roman oder Drama hinwegsehen lässt."117 Fontane hatte in dem frühen Essay davon gesprochen, dass die „Objektivität" der Schillerschen „Braut von Korinth" „verdünnter Realismus" sei, während Goethes Gretchen in den Mund gelegte „Ach neige, du Schmerzensreiche" Realismus habe. Dabei hatte er angedeutet, dass das Interessante und Interesse Erweckende gerade in der Menschlichkeit der aus der Herzensnot geborenen Bitte liege. In der Darstellung dieser Menschlichkeit, dieser Gewissensnot und -angst, die aus der festen ethischen Gesetzesnorm, gegen die gesündigt war, entspringt und darin, dass das für diese Bitte benützte Sprachmaterial die psychologischen Phänomene dieser Gewissensnot des gefallenen Mädchens adäquat zum Ausdruck bringt, ohne dass das Sprachmaterial selbst gegen die sittliche (christliche) Gesetzesnorm verstiess, sieht Fontane gleichzeitig auch die „poetische Verklärung". Gerade diese Vermischung von Menschlichkeit und traditio»« 117

Nachlassband, S. 238 f. Ibid., S. 239.

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nellen Tugenden taucht wiederum im Alexis-Essay auf. Hier ist die Bedeutung der „poetischen Verklärung" noch demonstrativer ausgeführt. „In wunderbarem Wechsel", heisst es da, „erfassen Schmerz, Erhebung, Sterbefreudigkeit unser Herz; unsere Tränen fliessen dem Andenken eines Helden oder auch der Trauer darüber, uns nicht gleich fest und gross und schlicht zu empfinden, und wenn endlich . . . der Schweinetreiber den Boden küsst, wo jener Tapfere fiel, und dabei in die Worte ausbricht: ..., so möchte man mit niederstürzen und diesem Beispiele hingehendster Vaterlandsliebe folgen." 118 Kann aber dieses Nachfühlen ( = Interesse) beim Leser nicht eintreten oder ist die „poetische Verklärung" nicht durch adäquate Darstellung erreicht, sondern der Versuch gemacht, etwa durch forciertes Sprachmaterial Interesse bzw. „poetische Verklärung" zu erreichen, so ist das neu Entstandene, mag der Stoff dafür auch dem Leben entnommen sein, nichts anderes als forcierter „Mumpitz", und der Stoff stellt dann meist nichts anderes dar als eine „tragikomische Krankheitserscheinung, mit der man sich als künstlerischer Aufgabe nicht zu beschäftigen hat".119 Hierin liegt auch der Grund, warum Fontane Ibsen einer solch scharfen Kritik unterzieht, und dies trotz der Anerkennung, die er seinem Genie zollt. „Ibsen mag", schreibt er, die Meriten Henrik Ibsens und Gerhart Hauptmanns abwägend, „die grössere Natur, die stärkere Persönlichkeit, das überlegene, bahnbrechende Genie sein, dichterisch steht mir Gerhart Hauptmann höher, weil er menschlicher, natürlicher, wahrer ist. Da quatscht jetzt jeder von Ibsens Wahrheit, aber gerade die spreche ich ihm ab. Er ist ein grosser, epochemachender Kerl, aber mit seiner Wahrheit kann er mir gestohlen werden. In der Mehrzahl seiner Dramen ist alles unwahr. Die bewunderte Nora ist die grösste Quatschliese, die je von der Bühne herab zu einem Publikum gesprochen hat." 120 In dieser Ibsenkritik wird der Begriff „Wahrheit" wiederholt, "8 118 120

Ibid., S. 210. Brief, 5. Jan. 1892 (Werke, II, Bd. 11, S. 281). Brief, 22. März 1898 (Werke, II, Bd. 11, S. 459).

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der künstlerisch-psychologische Richtigkeit im Verhältnis von Stoff und Sprachmaterial meint. Hiess es schon im frühen Essay, dass „der Realismus nicht die blosse Sinnenwelt und nichts als diese" wolle, „am allerwenigsten das blos Handgreifliche", vielmehr „das Wahre", 121 so wurde der Begriff des Wahren durch den Begriff „Interesse" und den Begriff „poetische Verklärung" ergänzt bzw. eingeschränkt. In diesem Triumvirat gipfelt nun tatsächlich Fontanes persönliche Anschauung und seine Vorstellung von „Realismus" und „realistischer" Kunst. Die Reihenfolge dieser Voraussetzung für die realistische Darstellung müssen wir aber so verstehen, dass der Künstler Fontanescher Prägung den interessanten bzw. Interesse erweckenden Stoff aus dem „wirklichen Leben" nimmt, ihn künstlerisch und seiner Wahrheit gemäss konzipiert, durch das Sprachmaterial diesem Stoff eine psychologisch-menschlich adäquate Behandlung zuteil werden lässt und ihn durch „poetische Verklärung" läutert. Wir haben aber auch gesehen, dass Fontanes Idee von der „poetischen Verklärung" schwankt, und zwar zwischen konkreter Menschlichkeit und abstraktem Ideal: das erstere den psychologischen Möglichkeiten des Menschen selbst entnommen, das letztere als etwas Unwirkliches, durch Tradition an den Menschen Herangetragenes, nach dem eine Sehnsucht besteht. Fontane wendet sich schliesslich ganz dem Bereich des Menschlichen und des Vermenschlichen zu, indem er letzteren Akt mit einer Läuterung durch „poetische Verklärung" gleichsetzt. Schon im Kjelland-Essay hatte sich ergeben, dass Fontane die kleinliche Beleuchtung menschlicher Schwächen als geradezu absurd kritisierte,122 während er umgekehrt die Heinesche Schilderung der Embonpoint-Madame, deren Dekollete nicht nur das rote Meer zeigte, sondern auch noch alle angrenzender Länder,128 als eine „künstlerische Hochstufe" bezeichnete. Der Grund zu dieser Hochschätzung liegt darin, dass Fontane die Kombination von eitler Psychologie der Dame und heikler Situation, in die sie durch Uberschätzung ihrer eigenen Person 181 122 123

Annalen, S. 359. Nachlassband, S. 279. „Von 20 bis 30" (Werke, II, Bd. 3, S. 82).

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geriet, menschlich und künstlerisch in dieser heiteren Blossstellung gemeistert sah. Eine ähnliche Stelle, die gleiche Atmosphäre erzeugend, findet sich in Fontanes Frau Jenny Treibel, die allerdings viel sublimiertere Satire betreibt als Heine und zugleich eine stärkere Psychologisierung und charakterliche Kennzeichnung enthält. Im 8. Kapitel des Romans wird Kommerzienrat Treibel als Frühaufsteher geschildert. Er wartet auf seine Frau und blickt zum Fenster hinaus in den Garten mit dem Springbrunnen. Die Szenerie war wie gestern, nur statt des Kakadu, der noch fehlte, sah man draussen die Honig, die, den Bologneser der Kommerzienrätin an einer Strippe führend, um das Bassin herumschritt.124 Käte Hamburger bemerkt dazu: „Unwillkürlich nötigt uns der Satz ,nur statt des Kakadu, der noch fehlte, sah man draussen die Honig.. / ein belustigtes Lächeln ab. Wir empfinden dies als humoristisch. . . . Ein Wörtchen, eine kleine Satzfügung ist es, die uns lächeln macht, das Wörtchen ,statt' und die Art, wie es den Kakadu mit der Gesellschaftsdame in Verbindung bringt. Während etwa der Satz „statt des Kakadu sah man den Bologneser" kein Lächeln hervorrufen würde, ist es von komischhumoristischer Wirkung, einen Menschen auf diese Weise mit einem Tier gleichgestellt zu sehen. Der Humor ist aber hier untergründig, denn letztlich bezieht er sich auf die Kommerzienrätin Treibel, in deren bourgeoisen Augen Gesellschaftstier und Gesellschaftsdame auf gleicher dienender Stufe stehen, wie denn auch im selben Satze die Honig auch nur wieder im Dienste eines Gesellschaftstieres der Rätin, des Bologneserhündchens, steht."125 Die Boshaftigkeit, die an und für sich in diesen Verhältnissen gegeben ist, ist also durch die Art und Weise der Darstellung abgebogen, in eine Menschlichkeit besänftigt, die den krassen moralischen Zeigefinger verabscheut. Zugleich entsteht hier aber die „künstlerische Hochstufe", die Fontane in dem Heinezitat fand und die in der satirisch-humoristischen Fiktion die 124 125

„Frau Jenny Treibel" (Werke, I, Bd. 8, S. 97). K. Hamburger, op. cit., S. 101.

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„poetische Verklärung" ausmacht; denn obwohl alles ins rechte Licht geschoben ist, ist selbst noch in der Verspottung der idiosynkratischen Einbildung der Treibel Menschlichkeit bewahrt, wie sie kaum von aller Kleinlichkeit befreiender erscheinen kann. Im Bereich des Traurigen oder Tragischen gewährt Fontanes Stil Ähnliches. Hier handelt es sich natürlich nicht um humoristisch-komische Verspottung, sondern um eine Auflockerung des traurigen Geschicks durch warme Menschlichkeit, die durch einen fast nicht mehr wahrnehmbaren Humor erhöht wird. Herausgegriffen sei das Ende des Romans Effi Briest: „Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das beste." „Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst . . . nimm es mir nicht übel, Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten Verstand, aber du kannst doch nicht an solche Fragen...." „Eigentlich nicht." „Und wenn denn schon überhaupt Fragen gestellt werden sollten, da gibt es ganz andere, Briest, und ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag, seit das arme Kind da liegt, wo mir solche Fragen nicht gekommen wären. . . ." „Welche Fragen?" „Ob wir nicht doch vielleicht schuld sind?" „Unsinn, Luise. Wie meinst du das?" „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen. Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles in Zweifel lässt. Und dann, Briest, so leid es mir tut . . . deine beständigen Zweideutigkeiten . . . und zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich will nicht schuldlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?" Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig: „Ach, Luise, lass . . . das ist ein zu weites Feld." 126 Die ersten Zeilen, die Herr von Briest spricht, stehen ganz unter dem Zeichen der Resignation, der menschlichen, doch pessimistischen Haltung. Sie wird aber sogleich erwidert durch die energische Gegenrede seiner Frau, die ganz ihrem Charakter »» „Effi Briest" (Werke I, Bd. 9, S. 374).

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entspricht. Diese Herrn von Briest verkleinernde Gegenrede wird aber, noch ehe sie endet, vom alten Briest unterbrochen mit dem halb zustimmenden, ehrgeizlosen und friedfertigen „eigentlich nicht". Zugleich steckt in dieser knappen Unterbrechung noch einmal — da der Tod Effis noch nicht unmittelbar ins Gespräch gezogen ist — die humorvolle Persönlichkeit, der eine grosszügige Gedankenfreiheit eigen ist. Dasselbe wiederholt sich in den letzten Worten Briests „das ist ein zu weites Feld". Stünde allerdings dieser Satz hier zum erstenmal, würde er lediglich einen starken pessimistischen Eindruck hinterlassen. Da aber gerade dieser Satz eine Lieblingsphrase des Herrn von Briest ist, die er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit äussert und die immer ein auf humorvolle Weise sich selbst abschätzendes und sich selbst erheiterndes Moment darstellt, wird der an und für sich pessimistischen und resignierenden Haltung die Spitze abgebrochen. Sie wird in versöhnliche Menschlichkeit transponiert. Die traurige Situation, in der sich die nun kinderlosen Eltern befinden, ist durch die humoristische Nuance aufgelockert, in freie Menschlichkeit hinübergespielt, so dass erst einmal die herben Selbstvorwürfe der Frau von Briest versöhnlicher sich darbieten, zum andern aber dem Ende des Romans eine versöhnende Schwerelosigkeit verliehen ist, die auch die untergründige pessimistisch-resignierende Haltung nicht zerstört. Wir sehen hier, wie bei Fontane — und diese zwei Beispiele können als typisch für Fontanes beste Produktion gelten — nichts ins kleinliche Rechthaberische, in einen moralischen Zeigefinger verwandelt, sondern alles in Schwebe gelassen wird. Die Menschlichkeit tritt auf diese Weise bezaubernd (wenn auch in resignierender Haltung) hervor, in der Atmosphäre der Szene sowohl wie in der Persönlichkeit der fiktiven Charaktere. Zwischen den Zeilen aber ergibt sich so ein Mitgefühl mit den Handelnden, das dem Leser Interesse, Beteiligung abnötigt und das zugleich, im Fontaneschen Sinn, die gewünschte „poetische Verklärung" hervorruft, eben jenen Zauber, den Fontane schon in Gretchens „Gebet" spürte. Dort lag der Ausgangspunkt, von dem Fontane in seinem Theoretisieren über Ideales und Ideali-

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sieren der Darstellung abwich, zu dem er aber in seiner eigenen Romanproduktion zurückkehrte. So können wir den Begriff der „poetischen Verklärung", der für Fontane von solcher Bedeutung war, dass er immer wieder auftauchte, durch den Ausdruck „ungezwungene, freie Menschlichkeit" ersetzen, eine Menschlichkeit in der Darstellung, die bei Fontane immer durch scheinbar schwerelosen Humor nuanciert ist.

III EXKURS: ZUR REALISTISCHEN DARSTELLUNGSTECHNIK THEODOR FONTANES

In den vorhergehenden Kapiteln wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr sich Fontanes Forderungen auf einen Punkt zuspitzten: die Erfassung der Psychologie der fiktiven Charaktere und ihrer psycho-logischen Verhaltensweise in ihrer Umwelt, so dass ein empirisch-logisches Dasein die Handlungsstruktur des mimetischen Kunstwerks bestimmte. Zwei künstlerische Mittel oder Techniken sind es nun, die vor allem in Fontanes Werk auffallen: das erste, die Dialogtechnik, von Fontane bis in feinste Nuancen zur Verdichtung der Handlungsstruktur und ihrer Loslösung vom deskriptiven Zwischentext entwickelt; das zweite, die Auflösung der vieldimensionalen Symbolik, die Klassik wie Romantik kennzeichnen, ins Genrehafte. Diese beiden Techniken wurden herausgegriffen, weil an ihnen besonders vorzüglich der „Wille zur Wirklichkeit" in ihrem Sosein zur Anschauung gelangt. Zugleich werden in diesen beiden Techniken Dinge sichtbar, die wir hier schon, im Zusammenhang auch mit Brinkmanns Untersuchungen, als typisch für Erzähltechniken der realistischen Erzählkunst bezeichnen können. Was die immer stärker hervortretende Dialogisierung betrifft, so können wir tatsächlich eine sich allmählich vollziehende Abweichung vom klassisch-romantischen Erzählideal feststellen. „Um es ganz scharf zu formulieren", bemerkt Mary Gilbert dazu, „ist also eine Akzentverschiebung eingetreten, denn während früher die Gespräche eine Abwechslung im Berichtstil dar-

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stellen, wird jetzt die Beschreibung eine Unterbrechung des Gesprächs." 1 Was den zweiten Punkt betrifft, so zeigte schon Brinkmann sehr deutlich, wie die Dimensionalität des Symbols abgebaut wird, in den engen Rahmen des Genres umgewandelt wird, also ganz in die unmittelbare Nähe des Menschen bzw. in seinen Daseinsrahmen gezogen wird. Die Öffnung zu vom Stofflichen unabhängigen metaphysischen Vorstellungen von gewissen Ordnungen — auch wenn man nichts hinter den Dingen suchen sollte — schwindet völlig. Der Wille des realistischen Schriftstellers zur Darstellung des Menschen in seinem So-und-nichtanders-sein, zur Darstellung psychologischer Charakteristiken, zwang dazu. Die Abwendung vom Spekulativen, eine Forderung Fontanes, die schon in seinem frühen Essay ausgesprochen ist, ist damit perfektioniert. Symbolik erscheint fast nur noch in der Gesamtheit des mimetischen Kunstwerks, kraft der Mimesis der Wirklichkeit oder, wie wir es auch nannten, der Parallele zur Wirklichkeit.

A. DIE PSYCHOLOGISCHE DURCHDRINGUNG DES DIALOGS

(EFF1E

BRIEST)

Fontane selbst weist in einigen Briefen darauf hin, wie sehr es ihm gerade daran gelegen sei, die Dialogtechnik zu verfeinern, so dass die fiktiven Personen das der Struktur des Romanes Naturgemässe sprechen. Das bewundert er schon bei Walter Scott. Bei der Lektüre von The Heart of Midlothian vergiesst er Tränen („ich habe sie glasweise vergossen"), springt „viele Male" auf und durchmisst „in Bewunderungsadressen an den Toten" sein Zimmer, denn „durch das Ganze . . . zieht sich eine Gabe, Menschen das Natürliche, immer Richtige sagen zu lassen, die, wenn wir Shakespeare und Goethe aus dem Spiel lassen, kein andrer hat. Ich finde dies das Grösste." 2 Vierzehn 1

Mary Gilbert, Das Gespräch in Fontanes Gesellschaftsromanen Palaestra, 174) (Leipzig, 1930), S. 4. * Brief, 2. Sept. 1868 (Werke, II, Bd. Θ, S. 160).

(=

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Jahre später, 1882, heisst es bereits in einem Brief an seine Tochter Meta, dass beim Romanschreiben alles mit der einzigen Frage zusammenhänge, wie man die Menschen sprechen lassen soll. „Ich bilde mir ein", schreibt er dann weiter, „dass nach dieser Seite hin eine meiner Forcen liegt und dass ich auch die Besten (unter den Lebenden die Besten) auf diesem Gebiet übertreffe. Meine ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen." 3 Gerade letzteres wurde durch den sechs Jahre späteren Brief an Emil Schiff widerlegt,4 und auch Mary Gilbert kommt nach eindringlichen Untersuchungen der Fontaneschen Texte zu gleichem Ergebnis.5 Die naturalistische Wiedergabe von Sprechweisen hat Fontane durchwegs von seiner Produktion ferngehalten, weil ihn, wie wir schon gesehen haben, die eigene Erfahrung bei der Herstellung des mimetischen Kunstwerks zur Erkenntnis der besonderen Verhältnisse der Fiktion trieb. Was aber die Psychologisierung des Fontaneschen Romans und seines Dialogs betrifft — eine Psychologisierung, deren Anfänge wir schon in Grillparzers Armem Spielmann, dann in der Weiterentwicklung bei Otto Ludwig und in der Perfektion bei Keyserling angemerkt haben —, so sollen die folgenden zwei Stellen aus dem 27. Kapitel von Effi Briest dazu dienen, zu zeigen, auf welche Hochstufe der Dialog des realistischen Romans geführt wurde und wie kurz vor dem Eintreten der Technik der „erlebten Rede", des „stream of consciousness" oder des „inneren Monolog" die Psyche der fiktiven Charaktere im Dialog erfasst wurde. Um das Bewusste dieser Arbeit zu zeigen, soll die rekonstruierte erste Niederschrift dieser beiden Stellen mit der endgültigen Fassung verglichen werden. Zugleich gewinnen wir dadurch einen Einblick in die Werkstatt Fontanes und sehen jenen Kunstfleiss am Werk, den Fontane so oft zu rühmen wusste, ja mit dem Genie gleichsetzte.® * *

Brief, 24. Aug. 1882 (Werke, II, Bd. 7, S. 22). Vgl. Fn. I, 1 u. 3. 6 M. Gilbert, op. cit., S. 35 f. u. passim. 8 Vgl. dazu Brief an Mathilde von Rohr, 25. Aug. 1881 (Werke, II, Bd. 11, S. 5 5 f.). „Das handwerksmässige Können, das technische Geschick, die Arrangier- und Schreibroutine, mit der dies alles in Szene gesetzt ist und

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1. Niederschrift: 7 Er schob die Briefe wieder bei Seit und ging auf und ab, indem hörte er, dass die Klingel ging. „Ach Wüllersdorf." Gleich darauf trat auch Johanna ein und meldete: „Geheimrat Wüllersdorf." Wüllersdorf trat ein und sah auf den ersten Blick, dass etwas vorgefallen sein müsse. Instetten war wie verändert. Instetten gab ihm die Hand und sagte: „Pardon, Wüllersdorf, dass ich Sie gebeten habe, noch bei mir vorzusprechen. Ich störe niemanden gern in seiner Abendruhe und einen armen Ministerialrath am wenigsten. Es ging aber nicht anders. Ich bitte Sie, machen Sie sich's bequem. Und hier eine Cigarre." Wüllersdorf setzte sich. Instetten wäre am liebsten wieder auf und ab marschiert, er fühlte aber, dass das nicht ginge und sonderbar vor der ich einen gewissen (freilich keinen grossen) Respekt habe, macht auf Personen, die von der Kunst auch wirkliche Kunst verlangen, gar keinen Eindruck. Ich meinerseits weiss auch noch das rohe Talent als Talent zu würdigen. Aber ich muss einen Standpunkt gelten lassen, ja ihn schliesslich als den einzig richtigen erklären, der von rohen Talenten nichts wissen will. Es gibt freilich eine ,rohe Kunst' in dem Sinne von Anfängerkunst, in dem Sinne von Kunst unzivilisierter oder halbzivilisierter Nationen. Unter Kulturvölkern aber darf eine Kunst nicht mehr roh sein. Sowie sie sich als solche gibt, ist es mit ihr als Kunst vorbei. . . . Es gibt heutzutage keine blossen ,Talente* mehr. Zum wenigsten bedeuten sie nichts, gar nichts. Wer heutzutage eine Kunst wirklich betreibt und in ihr was leisten will, muss natürlich vor allem auch Talent, gleich hinterher aber Bildung, Einsicht, Geschmack und eisernen Fleiss haben. Zum künstlerischen Fleiss aber gehört etwas anderes als Massenproduktion. Storm, der zu einem kleinen lyrischen Gedicht mehr Zeit brauchte als Brachvogel zu einem dreibändigen Roman, ist zwar mehr spazierengegangen als der letztere, hat aber als Künstler doch einen hundertfach überlegenen Fleiss gezeigt. Der gewöhnliche Mensch schreibt massenhaft hin, was ihm gerad' in den Sinn kommt. Der Künstler, der echte Dichter, sucht oft vierzehn Tage lang nach einem Wort." Vgl. dazu auch Th. Mann, „Der alte Fontane", in Heilborn, op. cit., S. 46; „Das Recht auf Ironisierung des Geistes und der Literatur . . . will erst erworben sein durch grosse Leistungen; Künstlerskepsis gegen Kunst und Künstlertum wird ehrenhaft erst, wenn sie mit jener künstlerischen Frömmigkeit, jenem Kunstfleiss verbunden ist, den Fontane . . . beinahe mit dem Genie identifizierte." Th. Mann zitiert dann das Distichon Fontanes an Adolf Menzel: „Gaben, wer hätte sie nicht — Talente, Spielzeug für Kinderl Nur der Ernst macht den Mann, nur der Fleiss das Genie." 7 Fritz Behrend, Aus Theodor Fontanes Werkstatt (zu „Effi Briest") (Berlin, 1924), S. 24. Die Interpunktion ist zum grossen Teil von mir ergänzt. Das gilt auch für die folgende erste Niederschrift. Die Rekonstruktion wurde nach F. Behrend, S. 30, gemacht.

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wirken müsse; so setzte er sich Willersdorf gegenüber und nahm auch eine Cigarre und versuchte ruhig zu sein. „Ich habe Sie bitten lassen, um eine Forderung zu überbringen und um mein Sekudant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger." Im Prinzip haben wir hier schon die endgültige Fassung. Die Szene ist gegeben, und auch die psychologischen Verhältnisse sind schon angedeutet. Doch stört noch vieles. Gleich zu Anfang z.B. das Ungeschmeidige des ersten Satzes. Die viermalige Wiederholung des Namens „Wüllersdorf" in den ersten Sätzen wirkt monoton, ohne etwa eine beabsichtigte Seelenverfassung zu erzeugen. Ebenso ungeschickt wirkt die Wiederholung von „Instetten". Etwas Abruptes geschieht da, das in keiner Weise die folgende klare Darlegung Innstettens rechtfertigen könnte. In der Einleitungsrede stört dann das „arme" als Attribut eines Ministerialrats, ein Attribut, das in der Umgangssprache häufig erscheint als ungenaue Bezeichnung für überarbeitete Personen, das aber im Munde Instettens sich sonderbar ausnimmt, weil es seine Stellung und seine Situation nicht genau umreisst, weil es zu familiär ist. Auch im folgenden epischen Bericht stören zwei Dinge: die Reflexion Instettens, dass sein Auf- und Abgehen „sonderbar wirken müsse", wo doch Wüllersdorf bereits erkannt hatte, dass etwas Ausserordentliches vorgefallen war. Die Logik dieses Satzes ist nicht scharf genug. Auch die doppelte Koordinierung des folgenden Satzes ist holprig, ohne dass dabei eine besondere Seite der Psychologie Instettens zum Vorschein käme.8 8

Vgl. für die bewusste Satzgestaltung bes. den Brief an G. Karpeles, 3. März 1881 (Werke, II, Bd. 11, S. 33): „Ich opfere Ihnen meine .Punktums', aber meine ,Unds', wo sie massenhaft auftreten, müssen Sie mir lassen. Ich begreife, dass einem himmelangst dabei werden kann, und doch müssen sie bleiben, nach dem alten Satz: von zwei Übeln wähle das kleinere. Warum müssen sie bleiben? Es stört, es verdriesst usw. Und doch! Ich bilde mir nämlich ein, unter uns gesagt, ein Stilist zu sein, nicht einer von den unerträglichen Glattschreibern, die für alles nur einen Ton und eine Form haben, sondern ein wirklicher. Das heisst also ein Schriftsteller, der den Dingen nicht seinen altüberkommenen Marlitt- oder Gartenlaubenstil aufzwängt, sondern umgekehrt einer, der immer wechselnd seinen Stil aus der Sache nimmt, die er behandelt. Und so kommt es denn,

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In der letzten Rede wirkt wiederum die Koordination im ersten Satz ungeschickt und nicht genau, wie man es von einem den Prinzipien ergebenen Instetten erwarten würde. Der Gesamteindruck, den die erste Niederschrift hinterlässt, ist einem ungenauen Vor-sich-hinsprechen ähnlich; die Logik der Kombinationen des Sprachmaterials ist nicht zwingend. Die Ansätze zur stärken psychologischen Durchdringung sind zwar gegeben, aber die Personen, vor allem Instetten, sind keineswegs überzeugend mit ihr verbunden. Die Schwierigkeit dieser Situation kommt kaum zum Ausdruck. Was macht aber Fontane durch Korrekturen des Sprachmaterials aus dieser Szenel Wir können, nach Behrend, drei Überarbeitungen dieser ersten Niederschrift feststellen; eine weitere Korrektur muss dann noch in den Druckfahnen gemacht worden sein. Letztere scheint sich aber (zumindest was diese Stelle betrifft) auf die Korrektur einzelner Wörter bzw. kurzer Zusätze beschränkt zu haben. Die einzelnen Korrekturen sollen uns hier nicht weiter interessieren; nur der Unterschied zur endgültigen Fassung sei aufgezegt. Endgültige Fassung: 9 Instetten hatte die Briefe kaum wieder beiseitegelegt, als draussen die Klingel ging. Gleich danach meldete Johanna: „Geheimrat Willersdorf." Wüllersdorf trat ein und sah auf den ersten Blick, dass etwas vorgefallen sein müsse. „Pardon, Wüllersdorf", empfing ihn Instetten, „dass ich Sie gebeten habe, noch gleich heute bei mir vorzusprechen. Ich störe niemand gern in seiner Abendruhe, am wenigsten einen geplagten dass ich Sätze schreibe, die vierzehn Zeilen lang sind und dann wieder andre, die noch lange nicht vierzehn Silben, oft nur vierzehn Buchstaben aufweisen. Und so ist es auch mit den ,Unds'. Wollt ich aber alles auf den Undstil stellen, so müsste ich als gemeingefährlich eingesperrt werden. . . . Je modemer, desto Und-loser. Je schlichter, je mehr sancta simplicitas, desto mehr ,und'. ,Und' ist biblisch-patriarchalisch und überall da, wo nach dieser Seite hin liegende Wirkungen erzielt werden sollen, gar nicht zu entbehren. Im Einzelfall — das gesteh ich gem zu — kann es an der unrechten Stelle stehn, aber dann muss der ganze Satz anders gebildet werden. Durch blosses Weglassen ist nicht zu helfen. Im Gegenteil." • „Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 291 f.). Diese Ausgabe hat die Variante „beiseite geschoben".

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Ministerialrat. Es ging aber nicht anders. Ich bitte Sie, machen Sie sich's bequem. Und hier eine Zigarre." Wüllersdorf setzte sich. Instetten ging wieder auf und ab und wäre bei der ihn verzehrenden Unruhe gern in Bewegung geblieben, sah aber, dass das nicht gehe. So nahm er denn auch seinerseits eine Zigarre, setzte sich Wüllersdorf gegenüber und versuchte ruhig zu sein. „Es ist", begann er, „um zweier Dinge willen, dass ich Sie habe bitten lassen: erst, um eine Forderung zu überbringen, und zweitens, um hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort." Gleich der erste Satz erfährt eine zwar geringfügige, doch einschneidende Änderung. Die Psychologie der Szene wird dringender. Erreicht wird das durch die Verkürzung und durch den Einschub des Adverbs „kaum". Die Koordination der ersten Fassung hatte lediglich die Oberfläche dessen geschildert, was in dem Augenblick vor sich ging. Auch der Wechsel des „indem" zur temporalen, Simultanhandlung anzeigenden Konjunktion „als", ebenfalls der kaum auffallende Wechsel von „darauf" zu einem temporaleren „danach", ferner die Zusammenziehung der weiteren Handlung in das eine Verb „meldete" verknappen die Zeitspanne der Handlung und lassen dadurch die Erregtheit Instettens, seine augenblickliche psychologische Verfassung, viel zwingender in Erscheinung treten. Auf diese Weise wird auch die sofortige Wahrnehmung Wüllersdorfs, dass „etwas vorgefallen sein müsse", gültiger, und der in der ersten Niederschrift wiederholte Bericht „Instetten war wie verändert" konnte wegfallen. Der Wegfall der ursprünglichen Koordination „gab ihm die Hand und sagte" wird ersetzt durch das in die direkte Rede eingeschobene „empfing ihn Instetten", so dass der langwierige und langatmige Ubergang vermieden und die Dringlichkeit der Bitte an Wüllersdorf und die Dringlichkeit der Szene eindeutig hervortreten, ohne näher beleuchtet werden zu müssen. Korrigiert wurde auch das familiäre „arm" in das „geplagt", so dass erst einmal der Genauigkeit der Aussage Genüge geleistet wird; zum andern aber wirft dieses Adjektiv auch ein

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Licht auf die psychologische Verfassung Instettens, den Sprechenden also. Auch muss in diesem Augenblick dem KORREKTEN Ministerialbeamten das Attribut „geplagt" viel näher liegen als das subjektivere, vielleicht menschlichere „arm". Im nächsten Abschnitt, der nichts als Bericht bringt, ist die Logik der knappen Handlung berichtigt, und zwar so, dass die inneren Vorgänge in Instetten eng mit seiner oben genannten Korrektheit übereinstimmen. Erneut kommt die Erregung und Dringlichkeit stärker zum Vorschein, als dies in der ersten Niederschrift der Fall war. Dies liegt vor allem daran, dass der ursprüngliche Bericht des Gedankengangs von Instetten als tatsächlich geschehend erscheint; und die Änderung des „auf und ab marschiert", das für die Situation, die ja nun allmählich in sehr ernste Überlegungen übergeht, viel zu burschikos gewesen wäre, in den Satz „wäre gern in Bewegung geblieben" spiegelt nur wiederum die Korrektheit und die Ernsthaftigkeit von Instettens Tun wieder. Die neue Dreiteilung des sich anschliessenden Satzes und die Umstellung in eine richtigere Handlungsabfolge helfen noch die eben genannten Eindrücke verstärken. Der Einschub von „seinerseits" aber erneuert nochmals die Widerwilligkeit Instettens, sich zu setzen, die im vorhergehenden Satze in der berichteten psychischen Verfassung sich ausdrückte. Die entscheidendsten Korrekturen wurden in der nun folgenden direkten Rede gemacht. Die in der ersten Niederschrift zu knappe Formulierung musste um der Genauigkeit willen erst einmal erweitert werden. Zugleich sieht man deutlich, wie nun Fontane bemüht war, in der genaueren Rede auch die psychische Verfassung, das Zögern Instettens hervortreten zu lassen, die kommende harte Ernsthaftigkeit in der Unterredung der beiden, also eine klare Uberlegtheit, vorzubereiten und einen kurzen abrupten Satz anzufügen, um die Rede an den etwas überraschten Wüllersdorf abtreten zu können. Auch hier lag Fontane neben der grösseren Genauigkeit vor allem daran, die psychische Verfassung des Sprechenden in der Formulierung seiner Rede zu Tage treten zu lassen. Der schon genannte Eindruck des Zögerns vonseiten des Sprechenden

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stellt sich schon nach den ersten zwei Wörtern durch den Einschub des „begann er" ein. Gerade diese Unterbrechung der Rede, die in der ersten Niederschrift fehlt, ist es schon, die die Korrektheit des Sprechenden, sein Zaudern und sein noch während des Sprechens sich vollziehendes Uberlegen unerhört anschaulich hervortreibt. Dies wird dann noch verstärkt durch die Ergänzung „um zweier Dinge willen", ebenfalls auch durch die Umstellung in der Reihenfolge, weiter dann durch die mehreren präzisen, durch Kommas abgetrennten Erweiterungen. Erstaunlich aber wirkt das „erst" nach dem Doppelpunkt. In der ersten Niederschrift fehlt es. In der nächsten Korrektur erscheint es als „erstens"; und in der Fahnenkorrektur wurde es in „erst" verkürzt.10 Dadurch wird nicht nur eine Nummerierung der Ereignisse erreicht, sondern auch noch die Zeitabfolge genauer gekennzeichnet, wie das dann auch nach dem „zweitens" durch den Zusatz „um hinterher" geschieht. Die abrupte Aufforderung „und nun Ihre Antwort" ist verblüffend; keine Erklärung der Umstände geht voraus. Nur auf die eine nochmalige Versicherung wartet Instetten: kann er sich auf Wüllersdorf verlassen? Und Fontane lässt denn auch Wüllersdorf antworten, dass Instetten über ihn „zu verfügen habe", wie er ja wisse, als eine Einschränkung des geforderten blinden Vertrauens, die Instettens abrupte Frage nur noch berechtigter erscheinen lässt. Zugleich liegt aber in der Abruptheit der Aufforderung — also neben dem technischen Trick — die heikle Lage Instettens offen. Und über diese heikle Lage so schnell wie möglich hinwegzukommen, ist Instettens momentanes Ziel, so sehr sogar, dass er eine Antwort fordert, obwohl die Frage keinerlei Erklärungen über nähere Umstände begleiteten. Hinzu kommt nun noch, dass die überlegte und umständliche Genauigkeit der Sätze an amtssprachliche Diktion erinnert; so ist erst einmal der Charakter des Beamten Instetten in der Szene zugegen. Dies ist von Bedeutung deshalb, weil so die weitere Unterredung logisch einen unpersönlichen Charakter annehmen kann, in dem die persönlichen Wünsche des Individuums von 10

Vermutlich fand diese Korrektur in den Druckfahnen statt.

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den Forderungen und Gesetzen der Gesellschaft, die um deren Erhaltung willen anerkannt werden, 11 untergeordnet werden. Auch deshalb wurde die leidenschaftlichere Form der ersten Niederschrift in kontrolliertere Formulierungen umgeschrieben. Wir sahen hier in diesem kurzen Ausschnit aus dem Roman, wie sehr alle möglichen Fäden, die auf den Sprechenden aus dem Vorhergehenden zulaufen und für das weitere Geschehen von ihm ausgehen, sich aus einem wenige Sätze umfassenden Gespräch herauslösen lassen. Zugegebenermassen ist diese Stelle von grosser Bedeutung für die Ereignisse des Romans, und man könnte annehmen, dass Fontane nur an solch exponierten Stellen eine solche Konzentrierung aller möglichen psychologischen und handlungsstrukturellen Gegebenheiten herbeiführt. Aber werfen wir noch einen Blick auf eine weniger exponierte Stelle im selben Kapitel, aus derselben Unterredung, und das Resultat der Untersuchung, auch wenn hier das Gespräch für eine Weitertreibung der Handlung weniger von Bedeutung ist und lediglich die psychologische Verfassung des Sprechenden zu ergründen hat, bringt eine ähnliche Konzentriertheit zu Tage. 1. Niederschrift: 12 [Instetten spricht] Es steht so, dass ich unendlich unglücklich bin; aber dies verfluchte Wort mit der Verjährung, es liegt ja doch etwas drin. Ich bin unglücklich, gekränkt, beleidigt, schändlich hintergangen, aber ich bin ohne jedes Gefühl von Hass oder Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich nichts anderes finden als die Jahre, die Verjährung. Man spricht von unsühnbarer Schuld, vor Gott ist es gewiss falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt dass die Z e i t so wirken könne. Ich liebe meine Frau, seltsam zu sagen, ich liebe sie auch jetzt noch, so furchtbar ich alles finde, was geschehen, aber meine grosse Liebe zu ihr, ein gewisses Faszinierendes von ihrem Wesen, von ihrer Leichtlebigkeit, von all dem, was sie hat und ich nicht habe, dieser Charm Vgl. dazu Brief, 16. Juli 1887 (Werke, II, Bd. 11, S. 132): „Ja, Sie haben es vorzüglich getroffen: ,Die Sitte gilt und muss gelten.' Aber dass sie's muss, ist mitunter hart. Und weil es so ist, ist es am besten: man bleibt davon und rührt nicht dran. Wer dies Stück Erb- und Lebensweisheit missachtet — von Moral spreche ich nicht gern —, der hat einen Knax fürs ganze Leben weg." 18 F. Behrend, op. cit., S. 30. 11

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und die Liebe, die mir das alles einflösst, macht mich zum Verzeihen geneigt. Und dann kommen die Jahre dazu, die lange Zeit. Zwei Dinge fallen in dieser ersten Niederschrift besonders ins Auge: erst einmal eine Leidenschaftlichkeit, die sich im zweiten Satz in der Häufung „unglücklich, gekränkt, beleidigt, schändlich hintergangen" und in der sprunghaften Aneinanderreihung der Sätze bemerkbar macht (übrigens erinnert diese Sprunghaftigkeit sehr an alltägliche Konversation). Hätte Instetten tatsächlich solche Leidenschaftlichkeit besessen, Crampas wäre wohl nie erfolgreich gewesen in seiner Courmacherei. Zum andern, wiederum zu leidenschaftlich formuliert, ist es die Selbsterkenntnis Instettens und seine detaillierte Einsicht in die Psyche seiner Frau, die aufhorchen machen, weil sie Instetten, der ein Mensch „ohne rechte Liebe ist",13 in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.14 Alles das ändert sich jedoch in der endgültigen Fassung. Zwar bleiben die Grundideen im Prinzip erhalten, wie wir das auch in den oben behandelten Passagen feststellen konnten, aber die Änderungen, die notwendig waren, um den Charakter Instettens nicht plötzlich zu verändern, sind fast allein um Instettens Charakter willen gemacht worden. In dieser Fassimg wird der trockene Beamtenton wieder hergestellt, der wie ein Hemmschuh gegen die Äusserung individueller Emotion wirkt. Es wird nur statuiert, nur abgewogen, was als Tatsache anerkannt werden kann. Endgültige Fassung: 15 Es steht so, dass ich unendlich unglücklich bin; ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Hass oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiss falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, dass die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar 13

„Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 372). Die Analyse dieser Stelle soll hier und auch in der endgültigen Fassung nur die Psychologie Instettens beleuchten. 15 „Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 294). 11

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ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Banne ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr eigenen heiteren Charmes, dass ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle. Nichts mehr ist hier der Willkür überlassen. Fragt man sich, warum ist das so und nicht anders geschrieben, stösst man wiederum auf die Antwort: um dem einmal festgelegten Charakter Instettens gerecht zu werden. Die ursprüngliche Leidenschaft ist ausgeschaltet, nur eine Melancholie über diese imperfekte Welt bleibt zwischen den Zeilen erhalten, ja wird erst in der endgültigen Fassung spürbar. Aber diese Melancholie hat nichts mit einer etwaigen persönlichen Leidenschaft Instettens zu tun, hat letzten Endes nichts mit dem Verlust der immerhin (auf seine korrekte Weise) geliebten Frau zu tun, sondern mit dem Gefühl der Verletzung des von der Gesellschaft aufgezwungenen Ehrenkodex. Instetten ist wiederhergestellt, wie wir ihn aus dem ersten Zitat kennengelernt haben: der korrekte Beamte, der sich allerdings schon wieder ins Gleichgewicht gebracht hat. Die Erregung, die in der früheren Szene steckte, hat sich gelegt, hat der nüchternen Überlegung Platz gemacht. Das Abgehackte der Diktion, das im ersten Zitat noch überwiegend zur Erzeugung der momentanen psychischen Verfassung diente, mündet hier in ein nüchternes, leidenschaftsloses Wenden von Gedanken. Das Kommende ist nicht mehr abzuwenden. Fragen wir uns, ob diese genaue Festlegung der Charaktere im Gespräch einheitlich durchgeführt ist, so soll die Erwiderung Wüllersdorf als typisches Beispiel dienen: Willersdorf nickte. „Kann ganz folgen, Instetten, würde mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir sagen: ,Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr alles verzeihen kann', und wenn wir dann das andere hinzunehmen, dass alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geschehnis auf einem anderen Stern, ja, wenn es so liegt, Instetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?"" Ein ganz eigener, warmer, menschlicher Ton ist aus der Gegen16

Ibid.

Vgl. d a z u auch M. Gilbert, op. cit., S. 8 1 ff. u. 94-103.

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rede herauszuhören. Nicht zuletzt stammt das aus der Umkehrung der Reihenfolge: Wüllersdorf beginnt mit der Liebe Instettens für seine Frau, und dann erst wird die vorübergeflossene Zeit erwähnt. Auch eine gefällige Schnoddrigkeit ist zu bemerken, nichts von Prinzipien (das in der ersten Niederschrift noch nicht vorhandene „vielleicht" des ersten Satzes der Rede legt das sofort nahe), nichts von kühler Überlegung, sondern nur eindringliche Teilnahme an dem Unglück des andern, dem er zugetan ist. Selbst das peinliche Berührtsein Wüllersdorfs durch diese ihm aufgezwungene Situation liegt noch in dieser Antwort, die wiederum besonders aus der anfänglichen auflockernden Schnoddrigkeit des ersten Satzes der Rede hervorgeht. Ein ganz anderer Charakter also erscheint hier. Die Gespräche sind in der Tat individuell abgestimmt, weisen immer auf eine individuelle Psychologie hin, ohne dass sich aber die Formulierungen als solche, das Sprachmaterial als solches, so sehr unterschieden, dass Bruchstellen im Gesamtstil des Erzählwerkes entstünden. 17 Können wir aber hier von „subjektiver" Diktion sprechen, oder sollen wir solche Darstellung „objektiv" nennen? Oder können wir hier von Typisierung reden? Weder das eine, noch das andere. Wenn Georg Lukacs anzeigt, dass Fontane die Neigung hat, durchschnittliche Menschen darzustellen, so hat er durchaus recht. Dass aber Fontane mit Instetten etwa den Typus des durchschnittlichen preussischen Beamten darstellen wollte, kann schon deshalb nicht als richtig anerkannt werden, weil Fontane nicht von einer Idee (abgesehen von dem „Willen zur Wirklichkeit") oder Ideologie (etwa im sozialistisch-realistischen Sinne) ausgeht, sondern von einer wahren Geschichte,18 um die herum dann die Figuren entstehen. Wenn wir von Typisieren sprechen können, dann höchstens im Dickensschen Sinne, d.h. dass Fontanes fiktive Gestalten etwas, aber auch nur etwas, von bestimmten Typen und ihrer Einseitigkeit erhalten. 1 · 17

" 19

Vgl. dazu M. Gilbert, op. cit., S. 13 u. S. 55 ff. Brief, 19. Jan. 1883 (Werke, II, Bd. 11, S. 84). M. Gilbert, op. cit., S. 85 ff.

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Genausowenig lässt sich von „subjektivem" oder „objektivem" Stil, „subjektiver" oder „objektiver" Darstellung sprechen. Diese Attribute haben, wie wir schon gesehen haben, nicht genügend präzisen Gehalt, als dass sie von Belang sein könnten. Selbst abgesehen von den Erkenntnissen K. Hamburgers lässt sich nicht leugnen,20 dass der Schaffensvorgang prinzipiell der gleiche ist bei Goethe wie bei Fontane oder den realistischen Schriftstellern im allgemeinen. Was verschieden ist, ist der Ausgangspunkt, das Bestreben vor dem Produzieren. Dass im Falle, wo eine ganz bestimmte IDEE und nicht nur ein bestimmtes Bestreben als Ausgangspunkt dient, ein stilisierteres Sprachmaterial zur Produktion notwendig ist, kann kaum einem Zweifel unterworfen werden. Wo aber das Bestreben dahin geht, um eine Geschichte („gefunden" oder „erfunden") herum Fiktion entstehen zu lassen, dürfte ein stilisiertes Sprachmaterial nur im Wege stehen; denn wie Hessen sich damit individuelle Psychologien schaffen? Und wo individuelle Psychologien tatsächlich erzeugt werden, wie könnte man da von „subjektiv" sprechen, ein Attribut, das gerade seine Beziehung zum Erzeuger von Fiktion so stark beibehält? Der Kern der Sache, soweit es die Realisten des 19. Jahrhunderts betrifft, ist der Wille zur Herstellung ganz genauer „fiktiver Wirklichkeit", die zugleich Parallele zur historischen Wirklichkeit sein konnte. Darum bemühte sich Fontane, darum bemühte sich der realistische Schriftsteller. Die Analysen R. Brinkmanns, besonders die Analyse der Ludwigschen Erzählung Zwischen Himmel und Erde, bestätigen nur diese Erkenntnis.

t0

K. Hamburger, op. cit.y S. 79: „Es ist vornehmlich die Auffassung, dass, wie Petersen sagt, ,die objektive Erzählungsform durch persönliche Einmischung des Dichters subjektiviert' werde, die den Begriff des Subjektiven, und als seinen Gegensatz den des Objektiven, in die Theorie der Epik eingeführt hat. Es ist aber nicht nur die Struktur der epischen Dichtung selbst, sondern die des gesamten Systems der Dichtung, die durch inadäquate Anwendung dieser Begriffe verdunkelt wird, denn es handelt sich hier um Begriffe der Logik selbst. Sie müssen in ihrer Bedeutung klar herausgestellt werden, damit erkannt werden kann, dass das fiktionale Erzählen niemals ,subjektiv' ist, auch wenn es sich noch so subjektiv zu gebärden scheint." Vgl. auch II, Fn. 5 und 6.

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B. SYMBOL UND FUNKTION DES SYMBOLS IN EFFI BRIEST

Im gleichen Masse wie die Dialogisierung der Erzählfunktion in der deutschen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts zunahm und der epische Bericht dadurch zurückgedrängt wurde, verringerten sich die Symbolwerte von Sprachmaterial und Handlungsstruktur des mimetischen Kunstwerks. Für die Klassik insbesondere und auch für die Romantik galt noch das Prinzip, dass „jeder Einzelfall ein Allgemeines repräsentiert". 21 In Goethes Wilhelm Meister lässt sich das bis ins Sprachmaterial hinein, bis zum einzelnen Wort verfolgen. So stellte Richard Brinkmann die Bedeutung des direkten Artikels zu Beginn von Wilhelm Meisters Lehrjahren fest: DAS Fenster, DAS Tischchen, DIE Lichter, etc. heisst es da, und nicht eine singuläre Erscheinung ist damit gekennzeichnet, sondern die allgemeine typische: die Funktion dieser Gegenstände tritt vielmehr ins Blickfeld, nicht die Besonderheit von Machart oder Material oder anderer historischer Beziehungen.22 In den Wanderjahren wiederum stehen die „Bilder nicht zeitlich nacheinander, sondern räumlich nebeneinander. Sie sollen alle zugleich dasein und miteinander verglichen werden — etwa in Bezug auf das Religiöse . . . oder in Bezug auf die Entsagung. . . . Es kommt wenig darauf an, in welcher Reihenfolge diese Bilder dargeboten werden, aber sehr darauf, dass sie überhaupt alle da sind und dass die Rangordnung, die sie in sich haben, klar wird." 23 Hier wird nicht vom Dichter ausgesagt; der Leser selbst hat die Aufgabe, die Verbindung herzustellen. „Goethe scheute sich, das Geheimnis in Worte zu kleiden. Er lässt alles in unmittelbaren Gestalten, Bildern, Erscheinungen sprechen." 24 So werden bei Goethe selbst die einzelnen Wörter zu Trägern vielschichtiger Symbolik, Wörter wie „Granit" und „Schleier", „Licht", „Höhle".25 Auch in der Namengebung ist das nachweisbar, e.g. „Meister", „Montanus". 21

Hamburger Goethe-Ausgabe, Bd. 8, S. 581. Brinkmann, op. cit., S. 148. 2 ® Hamburger Ausgabe, Bd. 8, S. 581. 24 Wilhelm Emrich, Protest und Verheissung I960), S. 65. 25 Ibid., S. 68. 22

(Frankfurt/Main-Bonn,

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Ähnliches finden wir in der Literatur der jüngeren Generation, in der Romantik, am interessantesten bei Novalis. Doch ist da bereits eine einschneidende Verschiebung vor sich gegangen. Was bei Goethe auf die Darstellung des allerdings nicht geoffenbarten „Urgeheimnis allen Seins" hinzielte,26 drängt bei Novalis auf die Darstellung eines Bildes hin, das sehnsüchtig erdachten persönlichen Idealen entspringt. Es bleiben da zwar zum Grossteil die gleichen Darstellungstechniken erhalten, aber der Ausgangspunkt für die Darstellung ist nicht mehr derselbe. Auch bei Novalis, z.B. im Heinrich von Operdingen, bleiben noch einzelne Wörter Träger symbolischer Kraft, aber die ursprüngliche (Goethesche) Vielschichtigkeit und Tiefe erscheint vereinfacht, ja schon völlig aufgehoben, weil das Symbol bestimmte intentionale Vorstellungen verschlüsselt wiederzugeben hat.27 So tragen die Namen in „Klingsohrs Märchen" keine Schwingungen einer (bei Goethe letzten Endes im Ethisch-Religiösen wurzelnden) Allgemeingültigkeit. Figur und Namen „Eros" sind in synkretistischer Weise romantisch-intellektuell aufgeladen, ebenso „Ginnistan", „Sophie", „Fabel". Sie bieten Vorstellungen, die nicht mehr als Symbole von Urgeheimnissen angesprochen werden können. Aber schon bei den späteren Romantikern zerrinnt diese individuell-intellektuelle Atmosphäre. Die Produktion wendet sich von der utopisch-intellektuellen Absicht weg der Darstellung des Du zu, und die symbolische Darstellung muss, durch die neuen und schon wirksamen realistischen Voraussetzungen hervorgerufen,28 in die psycho-logische Darstellung einmünden, die schon in der Aneinanderreihung und Verkettung der Szenen in Eichendorffs Taugenichts gegeben ist und in Büchners Lenz *» Ibid., S. 64. i7 Man vergleiche nur Novalis' Ausdruck „die blaue Blume" mit Goethes „die heilige Familie". Ersterer ist der Ausdruck einer intellektualisierten Sehnsucht, während mit „die heilige Familie" zahlreiche Beziehungen zu Gesellschaftlichem und Göttlichem zugleich heraufbeschworen werden, die einander ergänzen und aufeinander wirken. 48 Damit sind die allmählich sich verstärkenden Tendenzen gemeint, die ein naiv-realistisches Denken auszeichnet.

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dann ganz als Forderung auftaucht.29 Von den Romantikern über die Jungdeutschen zu den Realisten läuft so eine direkte Entwicklungslinie. Das Neue, das sich aus der symbolisierenden Darstellung entwickelt, ist der Zug zum Benennen dessen, was ursprünglich schon allein in der sprachlichen Kombination, d.h. im entstandenen Bild oder Sinnbild, zu Tage trat. Brinkmann hatte das schon angedeutet. In Grillparzers Armem Spielmann fand er eine vereinsamte Innerlichkeit, in der ein Ideal einsiedlerisch weiterlebte.30 Ja dieses Ideal scheint gerade nur noch im geistig und praktisch Ungeschickten sein Dasein weiterzufristen. Und dieser geistig und praktisch Ungeschickte, verkörpert im Spielmann, wird schon psychologisch erarbeitet — technisch wohl noch ungeschickt — und wird dadurch zum Symbol des Absterbens von etwas in der Vergangenheit Liegendem und zugleich zum Symbol des kommenden Neuen. Vollkommen verlorengegangen dann ist die metaphysische Tiefe des Symbols in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde. Auch das zeigte sich hervorragend in Brinkmanns Analyse. Darüber kann auch der Titel der Erzählung nicht hinwegtäuschen: das Benennende des Titels drängt zu sehr in den Vordergrund; die bürgerliche Welt und ihre Vorstellungen drängen zu sehr — genauso wie in der Wagnerschen Leitmotivtechnik — vom Bild und seinem Sinn weg und zum eindimensionalen, an das Denken kaum noch Anforderungen herantragende Benennen hin. Aus dem metaphysisch-hintergründigen Symbol wird das empirisch dargestellte Genre, das ganz bürgerlichen Vorstellungen entnommen und der Psychologie der bürgerlichen Welt entspricht. Wo aber Metaphysisch-Ethisches von Ludwig in die Darstellung aufgenommen wird, erscheint es schon als etwas Schales, Bürgerlich-Traditionelles. Es entstehen, damit diese traditionellen Werte ja auch zum Vorschein kommen, Übertreibungen, die ins Sentimentale, in den Kitsch abfallen, wie Brinkmann vorzüglich darlegte.31 Trotzdem ist bei " Georg Büchners Gesammelte Werke, ed. K. Edschmid (München, 1948), S. 153-154. 30 R. Brinkmann, op. cit., S. 139. 81 Ibid., S. 204.

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solcher künstlerisch gelegentlich zweifelhaften Darstellungstechnik eine Allgemeingültigkeit erreicht — eine Allgemeingültigkeit allerdings, die erstens der mit allen Mitteln erstrebten psychologischen Erfassung von Milieu und Charakteren entspricht und die zweitens nur mehr im empirischen Sinne gilt, der also jegliche metaphysische Realität mangelt. In dem Augenblick nun, wo selbst geheiligte traditionelle Werte abhanden kommen, wo Gott für tot erklärt wird (Feuerbach, Nietzsche) und die Religion für Opium (Marx) 32 — in solcher Atmosphäre wird die künstlerische Darstellung notgedrungen auf die „neue" Welt des Menschen hingelenkt, denn der Autor lebt ja in dieser Welt und registriert sie. Und so müssen nun Psychologie und künstlerische Technik das ersetzen, was das Symbol in dem Nebeneinander der Wanderjahre kennzeichnete: Vielschichtigkeit. Sie bezieht sich im realistischen mimetischen Kunstwerk nun immer mehr auf die Zusammensetzung des Menschen in seiner Umwelt. Richard Brinkmann stellte das vor allem in seiner Analyse der Keyserlingschen Erzählung Beate und Mareile dar. Das, was dargestellt ist, ist ganz auf die Appetite des Helden beschränkt. Die Symbolik, die hier schon wieder auftaucht — besonders hervorstechend der Gebrauch der Farbensymbole —, hängt nur mehr mit der jeweiligen Privatstimmung des Helden und seiner Beziehungen zur Umwelt zusammen. Sie ist eingebettet in diesem „wertlosen" Günther von Tarniff und von ihm abhängig, und dementsprechend wirkt auch ihr Wert in der Handlungsstruktur dieser Erzählung. Zentrum ist der hier allerdings völlig bindungslose Mensch geworden. Ähnlich stehen die Verhältnisse bei Fontane; doch sei eine Einschränkung gleich hier angemerkt: bei Fontane gilt die SITTE noch ungemein mehr. Sie muss gelten, wie er selbst sagt, auch wenn es „mitunter hart" ist; 33 denn in dem Augenblick, wo sie zusammenbricht, hört die Gesellschaft als zivilisierte Gemeinschaft zu existieren auf. Nichts mehr von metaphysischem Hintergrund ist da zu spüren; die Sitte, das sind ursprünglich auf 32

"

Vgl. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche (Stuttgart, 1950), passim. Brief, 16. Juli 1887 (Werke, II, Bd. 11, S. 132).

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Göttliches bezogene Gesetze, ist nun vollkommen vermenschlicht, d.h. auch von Menschen gemacht, auf dass sie zivilisiert leben können: Gesetze der Gesellschaft, Gesetze des Staates. Unter solchen Vorstellungen und Voraussetzungen muss jeglicher metaphysische Grund sich völlig verflüchtigen. Symbole transzendentaler Vielschichtigkeit können auf solchem Boden nicht mehr gedeihen. Tatsächlich kann von Symbolen im klassischen Sinn bei Fontane nicht mehr die Rede sein. Die Beziehung zum metaphysischen Bereich besteht nur mehr durch den „Psychographen", von dem die leichtlebige Tripelli spricht, 84 den sogar Fontane zu Hilfe ruft: er habe das Ganze ( E f f i Briest) wie mit einem Psychographen geschrieben, er könne sich an einzelne Etappen gar nicht mehr erinnern. 35 Es ist die Maschine, die von der jetzt geisterhaften Welt, der einstigen metaphysischen Realität, Bericht gibt oder eine Verbindung mit ihr herzustellen hat. Die realistische Darstellung, bestimmt nun vom „Willen zur Wirklichkeit", stellt die Erzählfunktion ganz in den Dienst von Handlungs- und Personenerschaffung. Das Symbol als Darstellungsmittel muss sich diesen Vorgängen anschliessen oder es verliert überhaupt alle Gültigkeit, wenn wir davon absehen wollen, dass die Mimesis als solche allein schon Symbole erzeugt und dass das Wort, gesprochen oder geschrieben, Symbolträger ist. In Fontanes Effi Briest lässt sich von symbolischer Darstellung nicht mehr und noch nicht sprechen, wie das schon wieder der Fall war in der Keyserlingschen Erzählung. Im ersten Kapitel fixiert der Bericht zuerst den Schauplatz und geht dann sofort in die Darstellung eines ganz bestimmten Genres über: Mutter und Tochter sitzen im Hochparterre vor einem Tisch mit Wollsträhnen und Seidendocken und arbeiten an einer Altardecke. Sie arbeiten fleissig, rasch, sicher — Beiwörter, die eine wohlgeordnete „Bürgerlichkeit" verraten. Hinzu kommt noch der Stolz der Mutter, vermischt mit Mutterliebe, auf die Toch-

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"Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 113). Brief, 2. März 1895 (Werke, II, Bd. 11, S. 341).

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ter. se Ein Genre also, wie es dem 19. Jahrhundert am Herzen lag, wie wir es in R. Brinkmanns Analyse von Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde erarbeitet fanden, wie es vor allem Dolf Sternberger zusammenfasst: „Alles ist voll davon, die Kunstausstellungen, Zeitschriften, Romane, Gedichtbücher nicht nur, sondern auch der gewöhnliche Alltag. Die Macht, die das Genre in den Gedanken und Gefühlen dieser Zeit übte, kann kaum überschätzt werden: das Genre nicht also im Sinne eines besonderen Kunstfaches oder Sachgebietes, sondern als Form der Anschauung, der menschlichen Verhältnisse, des Lebens selber. . . . Es sind Momentbilder der Schönheit, der kindlichen Unschuld, Szenen des Lasters, der Üppigkeit und Wollust, der kalten Grausamkeit, des schmelzenden Mitleids und der reinen Güte." 37 Nur Fontanes persönlicher Abneigung gegen das Pathetische und seinem künstlerischen Gefühl ist es zuzuschreiben, 38 dass dieses „lebende Bild" aufgelockert erscheint, dass ihm das bürgerliche und abgeschmackte Pathos fehlt. Fragen wir nach der Symbolhaltigkeit dieser Eingangsszene, so müssen wir zuerst auf die These zurückgreifen, dass das mimetische Kunstwerk als Mimesis symbolisch ist.39 D.h. dadurch, dass Fiktion als fiktive Wirklichkeit erscheint, drängt sich in ihr ein interpretierender Sinngehalt zusammen, den die historische Wirklichkeit nicht besitzt. Die Anschauungen aber, die im Symbol dieser fiktiven Szene aus E f f i Briest erscheinen, entstammen ganz der zeitgenössischen Umwelt, ihrer Anschauungen, ihrer Atmosphäre, ihrer Form der menschlichen Verhältnisse. Es handelt sich also bei der oben angeführten Einleitungsszene um eine Symbolik, die kraft der logisch-strukturellen Verhältnisse im mimetischen Kunstwerk entsteht und von einer intentionalen Symbolgestaltung durch den Autor nicht abhängig ist. 88

„Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 2). Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (Hamburg, 1938), S. 63. 88 Das ist nicht immer so. Als Beispiel dafür sei hier nur an die Darstellung des Schlossbrandes in „Unwiederbringlich" erinnert. D. Sternbergers Ausführungen treffen da vollgültig zu. 88 Vgl. K. Hamburger, op. cit., S. 243 f. 87

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An dieses erste Bild reihen sich unzählige ähnliche. Ob es sich dabei um die Mädchen handelt, wie im ersten Kapitel, die sich nach flinker, gesitteter Abräumearbeit gesittet und liebenswürdig um den Tisch setzen, um die Instettengeschichte zu erfahren; ob es sich um die Ankunft in Kessin handelt,40 oder um die Schlittenfahrt von und zum Försterhaus,41 oder um die Geschichte Roswithas,42 oder um Annies Besuch bei ihrer Mutter,43 oder um die Schlussszene44 — immer entsteht entweder etwas Liebenswürdiges, Grausames oder Rührendes, das die historische Welt und ihre Verhältnisse zur Parallele hat.45 Dieselben genrehaften, psychologisch richtigen Anschauungen finden sich in Gesprächen, selbst noch bis in die Attribute hinein. Immer umschliessen sie symbolisch ganz bestimmte zeitgenössische Vorstellungen, psychologisch richtig den fiktiven Personen angepasst. Nach dem Versenken der Stachelbeerschalen, im ersten Kapitel, etwa: „Hertha, nun ist deine Schuld versenkt", sagte Effi, „wobei mir übrigens einfällt, so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue." 4 *

Oder, 4. Kapitel: „Ich klettere lieber und ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht, dass es irgendwo reissen oder brechen und ich niederstürzen könnte." 47 Werke, I, Bd. 9, S. 54 f. Ibid., S. 218. « Ibid., bes. Kap. 21. « Ibid., S. 183 f. 44 Ibid., S. 344. 45 W. Gausewitz („Theodor Fontane — heiteres Darüberstehen?", Monatshefte, 45, 1953, S. 202-208) hat in diesem Zusammenhang von Fontanescher Sentimentalität gesprochen; das dürfte aber nicht zutreffen. Das 19. Jahrhundert scheint tatsächlich eine Gabe fürs Mitgefühl, fürs Menschliche gehabt und entwickelt zu haben, nicht zuletzt Fontane. (Vgl. auch D. Sternberger, op. cit., und K. Löwith, op. ext., über Kierkegaard.) Fontane weicht fast immer der Sentimentalität, also einem Surrogat, aus, auch der Übertreibung und dem daraus resultierenden Kitsch. Das Eindämmen von Roswithas Redefluss z.B. weist indirekt durchaus auf dieses Empfinden hin. 48 „Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 10). « Ibid., S. 35. 40

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Aber in diesen Zitaten steckt neben den genrehaften Anschauungen noch eine ominöse Qualität, die nicht nur auf diese Anschauungen sich bezieht, sondern ganz bewusst in diese Stellen eingebaut wurde. Gewiss haben diese Stellen symbolischen Charakter, ja sie sollen absichtlich stärkere symbolische Kraft besitzen als die weiter oben angeführten Beispiele, die nur ihres mimetischen Charakters wegen symbolisch sind. Aber diese Symbolik weist nicht auf Aussermenschliches, sondern bezieht sich nur auf die Psychologie Effis und auf die kommenden Ereignisse, d.h. auf den Ehebruch Effis und ihren frühen Tod. Und der Tod stellt in diesem Zusammenhang nur mehr das Ende des Lebens dar, auch wenn Effi im letzten Gespräch mit ihrer Mutter sagt, sie „sterbe mit Gott und Menschen versöhnt".48 Wie die zwei angeführten Zitate zeigen, erhalten die Gedanken, die ihrer Natur nach und herkömmlicherweise mit dem metaphysischen Raum in engster Verbindung stehen, durch die wenn auch nicht blasphemische Leichtfertigkeit, mit der sie ausgesprochen werden, eine leicht frivole Qualität. Auch liegt darin angedeutet, dass Effi nur allzu nachgiebig menschlichen Impulsen folgt; mit anderen Worten: diese immerhin attraktiven Impulse sind doch in keiner Weise diszipliniert, sind nicht gehemmt durch transzendental-ethische Vorschriften. Nur gesellschaftliche Tabus, neben der künstlerischen Intention und Notwendigkeit, scheinen der Grund für diese und ähnliche Äusserungen zu sein. Und so erscheinen denn auch die Ereignisse im Roman als individuelle Pannen, die die Harmonie des gesellschaftlichen Lebens, die Harmonie der Gesellschaft stören. Der Gedanke, dass ein Universalgesetz, etwas Absolutes, dabei verletzt oder übertreten worden wäre, kommt gar nicht auf.4® Die symbolisch-leitmotivische Anwendung des Ominösen im Gespräch wird dann auch noch in ganze Szenen erweitert. An« Ibid., S. 372. »· P. Demetz jedoch besteht darauf, dass solche symbolische Motive als „kompositorisches Element eines unerbittlichen Weltgefüges" erscheinen. Vgl. P. Demetz, „Flug und Flocke: Ein symbolisches Motiv bei Fontane", Monatshefte, LIV, 3, S. 99.

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geführt seien die Geschichte vom Chinesen,50 in der das OminösSymbolische durch die Fortentwicklung ins Gruslige noch gesteigert wird, und die Heimfahrt vom Försterhaus nach Kessin, besonders als die Schlitten- und Wagenkolonne an den „Schloon" gelangt.51 Beides sind symbolische Szenen, Nebenhandlungen, die in nuce grössere Begebenheiten einfangen. Ist das Chinesensymbol noch eng mit der psychischen Verfassung Effis verbunden, so wird es doch auch dazu benutzt, psychologische Gründe anzudeuten, die Effi in die Arme Majors von Crampas treiben und durch die die Handlung selbst dann psychologisch konsequent weiterentwickelt werden kann: die Einsamkeit und die Furcht davor, mit denen Effi sich zurechtzufinden hat und sich nicht zurechtfinden kann, die Begierde nach dem Leben draussen, nach Wärme, Geborgenheit.52 Die andere Szene, die in die Zeit des praktisch schon vollzogenen Ehebruchs fällt, offenbart intentional symbolisch genau das, was erst einmal Effi empfinden wird in ihrem Verhältnis mit von Crampas: Furcht, Angst und das Gefühl, von etwas Zaubrischem in Bann gehalten zu sein. Zugleich aber weist die Erklärung des „Schloon" (der im Winter zum „Soog" werden kann, den man schlimmerweise nicht sieht) durch Sidonie von Grasenabb zusammen mit der Szene gerade auf das hin, was sich nun mit Effi zutragen wird: das „Hinabsinken" in den Ehebruch.58 „Effi Briest" (Werke, I, Bd. 9, S. 89 und passim). Ibid., S. 194 ff. 5t P. Demetz führt an, dass Meer und Brand in „Unwiederbringlich", der Chinese in Effi Briest und der See im Stechlin „dichterische Gestaltungen" sind, „die mit mechanischer Begriffsumgrenzung allein keineswegs zu deuten sind. Sie eröffnen eine dichterische Anschauung und Auslegung der Wirklichkeit, deren adequate Interpretation ins Unendliche strebt" (P. Demetz, op. cit., S. 98). Auch E . Braun meint, dass diese Symbole nicht nur Erzähltechniken sind (E. Braun, Symbol and Portent in Theodor Fontane's Works. Diss. University of Wisconsin 1960). n P. Demetz sieht natürlich in der Schloonszene ebenfalls den erzählerischen Höhe- und Wendepunkt, fügt aber hinzu: „Es ist nicht schwierig einzusehen, warum: wer seiner tiefsten Natur nach, meint Fontane, den Betörungen einer solchen Schwerelosigkeit notwendig zustrebt, der kann nicht zu Becht schuldig gesprochen werden" (P. Demetz, op. cit., S. 105 f.). Das wird wohl eine Vermutung sein. Fontane moralisiert auf M

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Fontane benutzt bewusst und absichtlich solche Szenen mit symbolischem Charakter und symbolischer Bildkraft, immer wieder eingebettet in genrehafte Anschauungen, um die Handlung, die Ereignisse und ihre Qualität für den Leser noch eindringlicher zu machen, um durch diese ganz auf Akteure, Umwelt und Geschehen bezogenen Symbole den Leser auf Kommendes vorzubereiten oder Assoziationen mit Vergangenem herzustellen. Aber nichts ist hier übertrieben in dem Sinne, dass diese Szenen abrupt auftauchen, mit allen Mitteln und unter allen Umständen; diese symboltragenden Szenen sind wohl vorbereitet und fügen sich nahtlos an die psychologische Anlage der fiktiven Personen an und in die Handlung ein. Mehr tun sie aber nicht. Sie erscheinen nicht mehr als Reflexion oder zur Reflexion etwa über grössere ideelle Zusammenhänge; metaphysische Qualität besitzen sie nicht. Sie sind nur gewissen Szenen, Passagen, Dialogen, die sich besonders dazu darboten, einverleibt. Sie bleiben, in der Art und Weise wie sie auftauchen und dargeboten sind, ganz schlicht im Rahmen alltäglicher menschlicher Anschauungen und Vorstellungen, die wiederum ganz aus der Atmosphäre des 19. Jahrhunderts geboren sind. Die Dimensionalität des Symbols ist damit abgebaut, ist in den engen Spielraum des Genres umgewandelt, also ganz in die Nähe des Menschen bzw. in seinen Daseinsrahmen gezogen. Die Öffnung zu vom Stofflichen unabhängigen metaphysischen Vorstellungen von gewissen Ordnungen in der symbolischen Wortkombination schwindet völlig; vielmehr ist das Symbol ganz in den Dienst der Handlungsstruktur und der Psychologie der keinen Fall, d.h. er stellt keine Reflexionen an über Gut und Böse, nicht einmal metaphorisch. Was allerdings erzählt ist und worüber auch die fiktiven Personen sprechen, ist sein man könnte sagen Lieblingssujet: die sensible, faszinierende Frau, die ihren Impulsen gehorcht und deshalb in konstanter Gefahr schwebt, den gesellschaftlichen Ordnungen zuwiderzuhandeln. Lediglich ein irrationales Element, das in der Psychologie des Menschen entdeckt wird, ist dargestellt. Weder Vergleiche von Mikrokosmos und Makrokosmos, noch Gedanken über Wechselwirkungen dieser beiden aufeinander können herausgeschält werden.

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fiktiven Personen gestellt, sie zu straffen und „interessant zu machen". So zeigt gerade auch die Verflachung des Symbols und seine Anwendung jenen „Willen zur Wirklichkeit", aus dem heraus das realistische Kunstwerk entstand.

IV ZUSAMMENFASSUNG

Die Problemstellung dieser Arbeit warf drei Fragen auf, deren Beantwortung auf eine Lösung des Realismus-Problems hinführen sollte. Die ersten beiden Fragen lauteten: Was bedeutet der Begriff „Realismus"? Welche Beziehungen bestehen zwischen historischer und dargestellter Wirklichkeit? Durch Zuhilfenahme der Philosophie, die für die Analyse epistemologischer Probleme zuständig ist, ergaben sich in der notwendigerweise knappen Behandlung zwei philosophische Strömungen. Die eine wurde mit „metaphysischer Realismus" bezeichnet, die andere mit „naiver Realismus". Beide Strömungen erkannten wir als Voraussetzungen für literarische Bemühungen. Für unsere Arbeit aber wurde der „naive Realismus" — nach der Geschichte der Philosophie diejenige Strömung, die sich immer mehr der geschichtlichen Neuzeit bemächtigte — von vorzüglicher Bedeutung. Wir sahen, wie mit dem Auftreten der kartesianischen Lehre sich das empirische Verlangen immer stärker durchsetzte und die metaphysischen Systeme langsam verdrängte. Das bedeutete, wie sich das in Ian Watts The Rise of the Novel besonders zeigte, eine Partikularisierung des Weltbildes und ein Hervortreten des individuellen Details. Auf die Literatur übertragen bedeutete das vorerst, dass die internationalen Mythologien als Vorlagen für die literarische Produktion nicht mehr genügten und dass die Schriftsteller sich nun ihrer eigenen Umwelt als Modell bedienten, sich von Idealbildern ab- und dem Alltag zuwandten. So konnten wir darauf schliessen, dass sich mit dem Überhandnehmen der naiven Realismusströmung neue Voraussetzungen für die literarische

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Produktion ergaben, die bewusst und konsequent durchgeführt zum ersten Mal in den Anfängen des modernen englischen Romans (Defoe, Richardson, Fielding) erscheinen, so dass diesen epischen Produkten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts analog der philosophischen Strömung ein „formaler Realismus" zugesprochen werden konnte. Die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des Begriffes „Realismus" im Zusammenhang mit literargeschichtlichen Phänomenen konnten wir aber erst nach einer eingehenden Behandlung der Fachliteratur geben, die sich mit dem Problem „Realismus" befasste. Zu diesem Zweck versuchten wir Hauptströmungen in der Fachliteratur aufzuzeigen, und kamen dabei auf jene Strömungen, die durch die folgenden Bezeichnungen gekennzeichnet sind: 1. 2. 3. 4.

Poetischer Realismus, Wille zur Wirklichkeit, Der sozialistische Realismus, Wirklichkeit und Illusion.

Diese vier Strömungen in der Realismus-Forschung zeigten grundsätzlich in mehr oder minder stärkerem Masse als Voraussetzung Vorstellungen des „naiven Realismus", d.h. in ihnen erwies sich die Wendung der Schriftsteller zur Darstellung des empirisch Erfassbaren. Dies konnte als eine prinzipielle Voraussetzung analog zum philosophischen Begriff „naiver Realismus" anerkannt werden. In Einzelheiten aber zeigten sich in diesen vier Hauptströmungen grosse, nicht auf einen Nenner zu bringende Abweichungen. Nussbergers Artikel über den „Poetischen Realismus" im „Merker-Stammler", den wir als Vertreter des poetischen Realismus wählten, begnügte sich grundsätzlich damit, als Erklärung anzuführen, dass die Schriftsteller der realistischen Periode der deutschen Literatur die Wirklichkeit „vorbehaltlos" wiedergeben wollten, allerdings in „poetisierter" Form — ein Widerspruch, den wir aufzeigten. Nussberger begnügte sich also mit der gedanklichen Voraussetzung, ohne dass Einzelheiten Begriff und Problem „Realismus" zwingend erläutert hätten.

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Der Lösung einen Schritt näher kam H. O. Burger in den Annalen. Prinzipiell sieht er die Voraussetzungen zum Realismus des 19. Jahrhunderts in einem „Willen zur Wirklichkeit", der die Schriftsteller beherrschte. Darüberhinaus modifiziert er aber bereits den Begriff individuell, so dass sich ganz bestimmte Epitheta für den Realismus verschiedener Schriftsteller ergaben, die aus der Weltanschauung des Gesamtwerks des einzelnen Schriftstellers gewonnen wurden. Im Grunde konnten wir dieser Aufteilung des Begriffes „Realismus" zustimmen, ohne jedoch eine Lösung des Problems anerkennen zu können. Auf utopische Abwege führte der „sozialistische Realismus" Gg. Lukacs', den wir als bedeutendsten Vertreter dieser Richtung untersuchten. Obzwar nun die Parteiideologie diesen Begriff bestimmte, fanden wir doch bereits zwei Darstellungstechniken vermerkt, die die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts kenzeichnen: 1. die genaue Fixierung des Schauplatzes, 2. die Tendenz zur Psychologisierung der Handelnden und ihre psychologische Verkettung mit Handlung und Umwelt. Ganz der Textanalyse verschrieb sich Richard Brinkmann in seinem Buch Wirklichkeit und Illusion. Er ging von der These aus, dass „Wirklichkeit" im Kunstwerk „objektiv" dargestellt werde, und gelangte zu dem Schluss, dass Wirklichkeit nicht objektiv dargestellt werden könne. Der Grund dafür liege in dem subjektiv-individuellen Engagiertsein des Schriftstellers. So ergab sich dann, weil ja die Wirklichkeit als Modell erkannt wurde, sie aber „objektiv" nicht dargestellt werden konnte, als Antwort auf die Frage nach dem Realismus-Problem die Formulierung, dass der literarische Realismus als „Wirklichkeit und Illusion" angesprochen werden sollte. Gerade die These aber, dass literarische Werke bestimmter Perioden nach „objektiver Darstellung" und „subjektiver Darstellung" unterschieden werden könnten und sollten, widerlegten wir durch die Erkenntnisse der logisch-strukturellen Verhältnisse, die Käte Hamburgers Buch Die Logik der Dichtung auszeichnen. Dort ergab sich, dass die Begriffe „subjektiv" und

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„objektiv" im Sinne R. Brinkmanns nicht zuständig sein können, weil keine direkte Subjekt-Objekt-Relation zwischen Schriftsteller und Fiktion besteht. Folgedessen konnte auch die Formulierung „Wirklichkeit und Illusion" als Antwort auf die Frage nach dem literarischen Begriff „Realismus" nicht genügen. An Hand dieser Untersuchungen versuchten wir nun auf die Frage nach der Bedeutung des Begriffs „Realismus" folgende Antwort zu geben: Wir müssen uns zweier ausserästhetischer Bestimmungen bedienen, um eine Gültigkeit des Begriffes „Realismus" für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts etablieren zu können: 1. der Voraussetzungen, die jene Dichter des 19. Jahrhunderts dazu bewog, die Wirklichkeit in ihrem Sosein in mimetischer Form darzustellen; 2. der bestimmten Darstellungsmittel, die individuell verschieden sein können, die aber doch nur dem einen Zweck dienen, Dichtung im Sinne der naiven Realismusströmung zu erzeugen, und dies ohne die Tendenz zu normativem Anspruch. Dabei dürfen aber nicht schon die Detailergebnisse zur Begriffsbildung benützt werden, sondern diese Detailergebnisse müssen, da es sich um die Bildung eines vor- oder ausserästhetischen Begriffes handelt, in Sammelbegriffe gefasst werden, die für die ganze Periode, die wir die realistische nennen, als gültig anerkannt werden können. Nach diesen zwei Gesichtspunkten wurde dann das RealismusProblem bei Theodor Fontane analysiert und eine Antwort auf die dritte Frage in der Problemstellung zu geben versucht; Wie ist die dargestellte Wirklichkeit im Sinne Fontanes modifiziert? Der 1853 veröffentlichte und bisher in der Forschung zu wenig beachtete Essay Fontanes „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848" ermöglichte uns dann auf drei Punkte hinzuweisen, die wir zusammen mit den Untersuchungsergebnissen der Realismus-Forschung bereits als allgemeingültige Voraussetzungen für die deutsche realistische Literatur des 19. Jahrhunderts anzuführen vermochten. Es ergaben sich als prinzipielle Voraussetzungen:

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1. Das Verlangen nach einer Säuberung des Sprachmaterials als Reaktion gegen Geschraubtheit, gedankenlosen Bilderwust und verlogene Sentimentalität; 2. das Verlangen nach einer Wahl des Stoffes aus dem „Marmorsteinbruch" des Lebens und nur aus diesem; 3. das Verlangen nach einer Darstellung ohne idealistischspekulativen Ballast. Diese prinzipiellen Voraussetzungen wurden aber von Fontane auf individuelle Art gehandhabt. Als hervorstechendstes Merkmal tauchte der Begriff des „Interesses" auf, durch den zuerst einmal das gekennzeichnet werden sollte, was für den Leser „interessant" oder „von Interesse" sein mochte. Der Begriff bezog sich also zuerst auf die Stoffwahl, die der Künstler zu treffen hatte. Dabei ergab sich, dass alles, was existiert, als Stoff bzw. Modell dienen konnte: Belebtes wie Unbelebtes, Gedankliches wie Psychologisches. Allmählich galt dieses „Interesse" aber den kleinen, d.h. den nebensächlicheren, unscheinbareren Gegenständen wie Begebenheiten, weil sie dem Alltäglichen oder dem Dauernden und damit zugleich den Vorstellungen des realistischen Schriftstellers Fontane besser entsprachen. Immer mehr drängte dann dieses „Interesse" zum Psychologischen hin, d.h. es galt der psychologischen Zusammensetzung der darzustellenden Personen. Damit bogen die theoretischen Auseinandersetzungen Fontanes mit dem Realismus-Problem auf die Darstellung und auf Darstellungsmittel ein. Die Wirklichkeit konnte und sollte nicht als „nackte" Wirklichkeit im mimetischen Kunstwerk erscheinen. Die Darstellung des Hässlichen sollte vermieden werden, weil dies erst einmal gegen Fontanes Vorstellungen vom „heiteren Bereich der Kunst" verstiess, so dann aber auch, weil die Darstellung des Hässlichen zu sehr auf tendenziöse Kunst abzielte. Tendenz im Kunstwerk, d.h. engagierte Kunst, wurde aber von Fontane bis kurz vor seinem Tode abgelehnt. Auch sollte in der realistischen Darstellung aller Pessimismus vermieden werden, besonders jene Welttraurigkeit, die zu sehr von den Gedankengängen des Schriftstellers abhängig war. Zwang aber der einmal gewählte Stoff dazu, so empfahl Fontane

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eine „humoristische" Gestaltung, die alles Kleinliche ausschloss. Die Verlagerang des „Interesses" vom empirischen Erfassen des Existierenden zum Erfassen des Psychologischen führte dann konsequent auf eine Auseinandersetzung mit psychologischer Darstellung und dem Künstler-Ich. Zugleich schälten sich bei dieser Untersuchung die Anfänge der Erkenntnisse der logisch-strukturellen Verhältnisse im Kunstwerk heraus. Das bedeutete, auf die Darstellung bezogen, ein Verdichten (im psycho-logischen Sinn) der Handlungsstruktur und führte auf die Forderung hin, dass die Persönlichkeit des Künstlers, d.h. seine reflektierende Interpretationskraft, hinter dem Kunstwerk zurückzutreten habe. Als von grosser Bedeutung für Fontane erwies sich dann das, was er „poetische Verklärung" nannte. Von der Geistigkeit, die ja die Basis der klassizistischen wie romantischen Vorstellungen vom Poetischen war, war in diesem Fontaneschen Ausdruck nichts mehr zu spüren. Von Anfang an bezeichnete dieser Ausdruck Bürgerlich-Idealistisches, d.h. er war eng mit den genrehaften Vorstellungen und Anschauungen des 19. Jahrhunderts verbunden. Aber mit der immer stärker werdenden Neigung zu psychologischer Darstellung entwickelte sich dieser Begriff über Idealistisches hinaus zu künstlerischen Anforderungen hin. So konnten wir feststellen, dass im humorbetonten satirischen wie im schlicht erzählenden Roman „poetische Verklärung" sich auf eine Darstellung bezog, die ungezwungene, freie Menschlichkeit hervorbrachte. Die Perfektion gerade dieser Art von Darstellung empfand Fontane als „künstlerische Hochstufe", die zugleich auch „poetische Verklärung" bedeutete. In dem abschliessenden Exkurs, der sich mit den hervorstechendsten Darstellungstechniken Fontanes befasste, fanden wir zwei für Fontane bedeutsame Punkte bestätigt: die starke Psychologisierung, die bei Fontane besonders in den Dialog eingebettet wurde, und die Loslösung von der geistigen Vielschichtigkeit intentional symbolhafter Darstellung. Zugleich aber bewiesen diese Textanalysen zusammen mit früheren Forschungsergebnissen vier prinzipielle Punkte, die als typisch für die Darstellung während der realistischen Periode der

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deutschen Literatur angesehen werden dürfen. Als erstes ist der allgemeine „Wille zur Wirklichkeit" zu nennen, der als Voraussetzung zu gelten hat. Dann aber die genaue Fixierung des Schauplatzes, die Psychologisierung der Darstellung und die Loslösung von symbolischer Darstellung.

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