Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Werk: Sprache, Literatur, Medien 9783110735710, 9783110711288

Ausgehend vom ‚spatial turn‘ der Kulturwissenschaften fokussiert der Band das seither nur randständig behandelte Thema d

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Table of contents :
Zum Geleit
Inhalt
Einleitung
I Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Fremde und Epochenwandel
Theodor Fontane: Italienische Grenzüberschreitungen
»Ordre vergessen«: Fontanes Italienreisen im Kontext von Hauptstadtumbau, Akademiereform und Kunsthandel
Auf dem Wege zur Moderne: Anthropologische Liminalitätsräume in Theodor Fontanes Romanen »Stine« und »Irrungen, Wirrungen«
»Streifereien in der Fremde«: Poetik der Liminalität bei Theodor Fontane
Theodor Fontane und Friedrich Nietzsche als Bewohner spätrealistischer Welten: Ein Versuch über die Zeitgenossenschaft
»Hannibal ante portas«: Grenzen und Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Erzählung »Schach von Wuthenow«
›Modern Times‹: Inszenierung sozialer Mobilität in »Frau Jenny Treibel« und »Mathilde Möhring«
II Grenzüberschreitungen zwischen (Auto-)Biographie und Reisebeschreibung
Reisen in den Himmel und in die Welt hinein Unterwegssein und Ankunft in Fontanes »Meine Kinderjahre«
Grenzüberschreitungen: Fontanes Frankreich-Bücher 1870/71
»Gentle, harmless, worthless records of the most ordinary incidents of travel«: Fontane als Autor von Reisetexten in der britischen Presse
Der Tourist Fontane: Schottland und Italien im Spiegel von Literatur und Kunst
III Grenzen und Grenzüberschreitung in Sprachreflexion und Textkonstitution
Stechlinsee und Schmetterlingseffekt: Theodor Fontanes Sprachauffassung und das ›tout-se-tient‹-Prinzip in seinem Roman »Der Stechlin«
Grenzüberschreitungen und Konnexion in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«: Ein Versuch am Beispiel von ›und‹ in »Spreeland«
Grenzüberschreitungen anhand von ›als‹-Adverbialnebensätzen in Theodor Fontanes »Spreeland«
Die Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod in drei ausgewählten Erzählwerken Theodor Fontanes: Syntaktische, semantische und informationsstrukturelle Analyse einer tabuisierten Erzählhandlung
»›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr«: Höflichkeit und Umgangsformen in Fontanes Romanen
Fontanes ›Kriminalgeschichten‹ oder ›Kriminalnovellen‹: Die Frage nach ihrer Textsortenzuschreibung
Wo endet das Incipit?: Anfangskonstruktionen in Fontanes Romanen
Was nicht zu lesen ist: Das Implizite als Stilmittel der Textkonstitution zur Darstellung der Sexualität in Theodor Fontanes Romanen
Fontanes Anwendung der erlebten Rede in »Unterm Birnbaum«: Stilistische Grenzüberschreitungen zwischen Ereigniserzählung und Figurencharakterisierung
IV Grenzen und Grenzüberschreitungen in topographischen und gesellschaftlich-topologischen Konstellationen
Spiel und Ernst der Grenzen: Zur Grenzproblematik in Fontanes Roman »Unwiederbringlich«
Historisch-geographische Grenzüberschreitungen in Fontanes »Der Stechlin«
»Mit der alten Welt Schicht zu machen«: Topographische und symbolische Grenzverschiebungen in Theodor Fontanes Kolonialdiskurs
»Glück, Glück! Wer will sagen, was du bist und wo du bist!«: Zur Topologie des Glücks bei Theodor Fontane
»Irrungen, Wirrungen« von Theodor Fontane: Der Blick auf die Grenze als subversive Geste
Fontanes beweglicher Geschlechterkodex: Eine toxisch-männliche Perspektive in »Schach von Wuthenow«
V Interlinguale und intermediale Grenzüberschreitungen
Versuchte Grenzüberschreitungen: Soziale Schranken im Fontane-Roman »Frau Jenny Treibel« als Übersetzungsproblem
Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede in Fontanes »Effi Briest«: Ein Vergleich mit der italienischen Übersetzung
Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung von »Effi Briest« im Hinblick auf ihre Übertragung in italienische Untertitel
Sinnesschwellen und Grenzüberschreitungen: »Die schönste Melodie« (1840): Versuch einer intersemiotischen Analyse
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Werk: Sprache, Literatur, Medien
 9783110735710, 9783110711288

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Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Werk

Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der

Theodor Fontane Gesellschaft e. V. Wissenschaftlicher Beirat

Hugo Aust Band 16

De Gruyter

Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Werk Sprache, Literatur, Medien

Herausgegeben von

Claudia Buffagni Maria Paola Scialdone

De Gruyter

S. 1–11 der Einleitung wurden von Maria Paola Scialdone, S. 11–18 von Claudia Buffagni verfasst.

ISBN 978-3-11-071128-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073571-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073575-8 ISSN 1861-4396 Library of Congress Control Number: 2023940884 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv Satz: Michael Peschke, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Zum Geleit Mit dem vorliegenden Band setzten die beiden Herausgeberinnen Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone in eindrucksvoller Weise eine Tradition deutsch-italienischer Fontane-Forschung fort, die 2009 mit der Frühjahrstagung unserer Gesellschaft im apulischen Monopoli und dem zugehörigen Tagungsband Fontane und Italien (2011) von Domenico Mugnolo und Hubertus Fischer begonnen wurde. Nur zehn Jahre später, bei der diesem Band zugrundeliegenden Tagung zum Jubiläumsjahr im November 2019 in Siena, trug Mugnolos und Fischers Initiative bereits reiche Früchte. Von seinerzeit elf hat sich die Zahl der Beiträge auf 30 beinahe verdreifacht. In keinem anderen nicht-deutschsprachigen Land der Welt fand zum Jubiläumsjahr ein FontaneKongress in dieser Größenordnung statt. Die hier versammelten Beiträge stammen von mehrheitlich italienischen oder in Italien tätigen Fontane-Forscherinnen und -Forschern unterschiedlichster Disziplinen und Karrierestadien. Das kluge thematische Konzept der beiden Herausgeberinnen, das mit dem Kompositum der „Grenzüberschreitungen“ eine genuin topographische Kategorie mit einem Bewegungsbegriff verbindet, ermöglicht eine konsistente Zusammenführung der unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven und weist zugleich ins Zentrum von Fontanes Leben und Werk. Über die topographische Bedeutung hinaus verweist der Begriff der „Grenze“ ebenso auf die zeitliche Dimension der zahlreichen politischen, technischen und medialen Umbrüche der „Schwellenepoche“ des 19. Jahrhunderts wie auf soziale, kulturelle oder sprachliche Grenzziehungen. Er ist zugleich konstitutiv für Fontanes Poetik des gezielten methodischen Perspektivwechsels und der Beleuchtung der Dinge von unterschiedlichen Seiten aus. Neben poetologischen, biographischen und kunsthistorischen Aspekten bilden dabei sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu Fontane einen Schwerpunkt. Dass Fontane in der Perspektive der italienischen Forschung immer zugleich literaturwissenschaftlich wie linguistisch von Interesse ist, bildet nicht den geringsten unter den vielen Vorzügen dieses Bandes: Gerade der Blick „von außen“ – sozusagen von der anderen Seite der zum Glück inzwischen offenen innereuropäischen Grenzen – ermöglicht zahlreiche überraschende Beobachtungen zum Nuancenreichtum des spezifisch „Fontane’schen“. So erweist sich vielleicht gerade der vielgestaltige und internationale Charakter dieses Bandes https://doi.org/10.1515/9783110735710-201

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Zum Geleit

als die angemessene Form, um sich der Vielfalt von Grenzüberschreitungen bei und um Fontane zu nähern. Nicht zuletzt blickt der Sitz unserer Gesellschaft, die Fontanestadt Neuruppin, auf einen „rapporto speciale“, eine besondere Beziehung zu Italien im 19. Jahrhundert zurück, die untrennbar mit Namen wie Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane, aber auch unbekannteren Akteuren wie dem Alfieri-Übersetzer Friedrich Buchholz verbunden ist. Für die weitere deutschitalienische Zusammenarbeit bietet sich hier auch zukünftig ein weites Feld. In diesem Sinn danken wir den beiden Bandherausgeberinnen und den zahlreichen Beiträgerinnen und Beiträgern nicht zuletzt dafür, dass sie einer von Fontane beiläufig in Versform geäußerten Einsicht unverminderte Gültigkeit verleihen: „Italien hält die Treu’“. Neuruppin, im August 2023

Iwan-Michelangelo D’Aprile

Inhalt Iwan-Michelangelo D’Aprile Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I  Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Fremde und Epochenwandel Hubertus Fischer Theodor Fontane: Italienische Grenzüberschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Iwan-Michelangelo D’Aprile »Ordre vergessen«: Fontanes Italienreisen im Kontext von Hauptstadtumbau, Akademiereform und Kunsthandel . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Maria Paola Scialdone Auf dem Wege zur Moderne: Anthropologische Liminalitätsräume in Theodor Fontanes Romanen »Stine« und »Irrungen, Wirrungen« .. . . . . . . 63 Gianluca Paolucci »Streifereien in der Fremde«: Poetik der Liminalität bei Theodor Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Stefania Sbarra Theodor Fontane und Friedrich Nietzsche als Bewohner spätrealistischer Welten: Ein Versuch über die Zeitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Stefan Lindinger und Evi Petropoulou »Hannibal ante portas«: Grenzen und Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Erzählung »Schach von Wuthenow« . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Markus Steinmayr ›Modern Times‹: Inszenierung sozialer Mobilität in »Frau Jenny Treibel« und »Mathilde Möhring« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

VIII

Inhalt

II  Grenzüberschreitungen zwischen (Auto-)Biographie und Reisebeschreibung Domenico Mugnolo Reisen in den Himmel und in die Welt hinein: Unterwegssein und Ankunft in Fontanes »Meine Kinderjahre« .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Roland Berbig Grenzüberschreitungen: Fontanes Frankreich-Bücher 1870/71 .. . . . . . . . . 177 Anna Fattori »Gentle, harmless, worthless records of the most ordinary incidents of travel«: Fontane als Autor von Reisetexten in der britischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Erika Kontulainen Der Tourist Fontane: Schottland und Italien im Spiegel von Literatur und Kunst .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

III  Grenzen und Grenzüberschreitung in Sprachreflexion und Textkonstitution Marina Foschi Albert Stechlinsee und Schmetterlingseffekt: Theodor Fontanes Sprachauffassung und das ›tout-se-tient‹-Prinzip in seinem Roman »Der Stechlin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Claudia Buffagni Grenzüberschreitungen und Konnexion in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«: Ein Versuch am Beispiel von ›und‹ in »Spreeland« .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Patrizio Malloggi Grenzüberschreitungen anhand von ›als‹-Adverbialnebensätzen in Theodor Fontanes »Spreeland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Sabrina Ballestracci Die Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod in drei ausgewählten Erzählwerken Theodor Fontanes: Syntaktische, semantische und informationsstrukturelle Analyse einer tabuisierten Erzählhandlung . . . . . 283



Inhalt

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Claus Ehrhardt »›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr«: Höflichkeit und Umgangsformen in Fontanes Romanen . . . . . . . . . . . . . . . 305 Marianne Hepp Fontanes ›Kriminalgeschichten‹ oder ›Kriminalnovellen‹: Die Frage nach ihrer Textsortenzuschreibung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Emilia Fiandra Wo endet das Incipit?: Anfangskonstruktionen in Fontanes Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Nicolò Calpestrati Was nicht zu lesen ist: Das Implizite als Stilmittel der Textkonstitution zur Darstellung der Sexualität in Theodor Fontanes Romanen . . . . . . . . . . 359 Lucia Salvato Fontanes Anwendung der erlebten Rede in »Unterm Birnbaum«: Stilistische Grenzüberschreitungen zwischen Ereigniserzählung und Figurencharakterisierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

IV  Grenzen und Grenzüberschreitungen in topographischen und gesellschaftlich-topologischen Konstellationen Maja Razbojnikova-Frateva Spiel und Ernst der Grenzen: Zur Grenzproblematik in Fontanes Roman »Unwiederbringlich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 László V. Szabó Historisch-geographische Grenzüberschreitungen in Fontanes »Der Stechlin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Valentina Serra »Mit der alten Welt Schicht zu machen«: Topographische und symbolische Grenzverschiebungen in Theodor Fontanes Kolonialdiskurs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Susanne Vitz-Manetti »Glück, Glück! Wer will sagen, was du bist und wo du bist!«: Zur Topologie des Glücks bei Theodor Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

X

Inhalt

Cesare Giacobazzi »Irrungen, Wirrungen« von Theodor Fontane: Der Blick auf die Grenze als subversive Geste .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Giulia Iannucci Fontanes beweglicher Geschlechterkodex: Eine toxisch-männliche Perspektive in »Schach von Wuthenow« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

V  Interlinguale und intermediale Grenzüberschreitungen Heinz-Helmut Lüger Versuchte Grenzüberschreitungen: Soziale Schranken im Fontane-Roman »Frau Jenny Treibel« als Übersetzungsproblem . . . . . . . . . 489 Martina Lemmetti Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede in Fontanes »Effi Briest«: Ein Vergleich mit der italienischen Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Sara Corso Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung von »Effi Briest« im Hinblick auf ihre Übertragung in italienische Untertitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Cristiana Tappatà Sinnesschwellen und Grenzüberschreitungen: »Die schönste Melodie« (1840): Versuch einer intersemiotischen Analyse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

Einleitung Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone Fontanes Welt des 19. Jahrhunderts ist eine Welt voller Grenzen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen. Die Staatsgrenzen innerhalb Europas werden in der nach-napoleonischen Wiener Ordnung und in den späten Nationsbildungen der zweiten Jahrhunderthälfte neu gezogen. Zugleich sind diese mit inkludierenden und exkludierenden Grenzziehungen nationaler Zugehörigkeit verbunden. Neue Grenzen befördern und behindern liberale Autonomiebestrebungen, motivieren zu Solidarität und durchkreuzen sie. Die Wissenschaften, Physik, Chemie und Biologie zumal, lösen sich aus vertrauten Bindungen und erkunden offene Bereiche mit wechselndem Gespür für neue Grenzen und Verantwortung. Mobilität befreit vom engen Ort und bindet zugleich an neue Dienste. Mit dem technisch-industriellen Wandel verschieben sich die sozialen Stratifikationen von der Ständeordnung hin zur Klassengesellschaft mitsamt ihren neu auszuhandelnden Klassen- und Geschlechterschranken. Nicht zuletzt bedeutete der beschleunigte und technisch befeuerte europäische Kolonialismus und Imperialismus eine Grenzerweiterung und vor allem -verletzung in bis dato ungekanntem globalen Maßstab. Insgesamt ist so vielleicht der markanteste Grenztyp, der Fontanes Lebensrealität kennzeichnete, ein zeitlicher, welcher eine „Welt von gestern“ von der Gegenwart und von der Zukunft trennte. Während das Thema des Raumes in der Fontane-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte ausgehend vom sogenannten spatial turn in den unterschiedlichsten Bedeutungen für sein Werk ausführlich analysiert und gewürdigt wurde, gilt dies nicht in gleichem Maße für die Phänomene Grenze und Grenzüberschreitung. Der Raum, verstanden als semiotisches System, nimmt in der Tat einen überaus bedeutenden Platz in Fontanes Œuvre ein. Topographische und topologische Kategorien sind zweifellos ein wesentliches Instrument seiner literarischen Produktion. In unterschiedlichen Formen und auf mehreren Ebenen tragen sie zur verborgenen Symbolik seiner Prosa und Lyrik bei oder beleuchten das Innenleben seiner Figuren. Darüber hinaus ist aber auch das Thema der Grenze bei Fontane in seinen historisch-geographischen, ethno-anthropologischen, sozialen und psychologischen Dimensionen durchgehend präsent. Auch wenn Fontane sich nicht in theoretischer Hinsicht https://doi.org/10.1515/9783110735710-001

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Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone

zum Grenzphänomen geäußert hat, stehen sein literarisches Schaffen und sein Leben ganz im Zeichen eines immer auch widersprüchlichen und volatilen Grenznetzes. Wer dieses rekonstruieren möchte, hat es naturgemäß mit einem ganzen Bündel von Fragen zu tun, deren Beantwortung dem Grenzübertritt Richtung und Beleuchtung gibt: Welcher Vorgang kann als Grenzüberschreitung (wörtlich bzw. bildlich) gelten, und welche Formen/Typen/Arten der Grenzüberschreitung lassen sich unterscheiden (Veränderungen, Transformationen, Brüche, Risse, Sprünge, Umstürze, Revolutionen, Reformen, Entdeckungen, Erkenntnisse, Fortschritt, Krankheit, Nervenzusammenbruch u.a.m.)? Welches Wortfeld ruft Grenzüberschreitung auf, und welche Stellung nimmt der Begriff im Polaritätenprofil (statisch/dynamisch, geschlossen/offen) ein? Wer oder was zieht Grenzen bzw. überschreitet sie (habituell, professionell, versehentlich)? Welches Ergebnis haben Grenzen bzw. Grenzüberschreitungen (Ordnung, Werte, Orientierung, Zwänge, Wunden)? Gibt es Motive, Strategien und typische Folgen der Grenzüberschreitung? In welcher Instanz bzw. nach welchem Maß werden Grenzüberschreitungen bewertet? Inwiefern modifiziert der Schwellenbegriff die Begriffe von Grenze/Grenzüberschreitung? Hat jede Grenzüberschreitung eine neue Grenzziehung zur Folge? Schließlich auch: Gibt es eine Dialektik der Grenzüberschreitung (z. B. Sinn und Unsinn, Gewinne und Verluste dabei)? Schon dieser kursorische Fragenkatalog illustriert den weiten Horizont und die vielfältigen Dimensionen des Themas. Ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit versammelt der vorliegende Band vor diesem Hintergrund Beiträge zu einer Phänomenologie der Grenzüberschreitung bei Fontane. Die Artikel gehen zurück auf die von der Università per Stranieri di Siena und der Università degli Studi di Macerata organisierte Tagung „Theodor Fontane (1819–2019): Grenzüberschreitungen zwischen Sprache, Literatur und Medien“, die vom 18. bis 19. November 2019 in Siena stattfand. An der internationalen Konferenz beteiligten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachdisziplinen aus Italien, Deutschland, Bulgarien, Griechenland, Ungarn und den USA. Aus interdisziplinären Perspektiven und Forschungskontexten wird das Grenzphänomen in den verschiedenen Werkgruppen, poetischen Verfahren und Themenschwerpunkten bei Fontane verfolgt: im reiseliterarischen Werk ebenso wie in den Romanen oder autobiographischen Schriften, bezogen auf Geschichte, Geographie und Grenzüberschreitungen auf dem tückischen Terrain von Anderssein (Inklusion/Exklusion des Anderen: Kolonialismus/Rassismus, Wagnerismus, Antisemitismus), auf der Achse Männer/Frauen, reich/ arm, bezogen auf den Kontakt zwischen verschiedener Nationalitäten oder Konfessionen sowie nicht zuletzt im Hinblick auf die Übertretung der mora-



Einleitung

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lischen Grenzen (Mésalliance, Ehebruch). Intersemiotische und intermediale Aspekte wie die vielfältige »Durchdringung von Text und Bild« bei Fontane (Hoffmann 2011) werden dabei ebenso in den Blick genommen wie intertextuelle Phänomene. Aus linguistischer Perspektive werden soziokulturelle Veränderungen, Höflichkeitsformen, diatopische Sprachvariationen, stilistische, insbesondere syntaktische und lexikalische Phänomene, Übersetzungen und Neuschreibungen oder die spezifischen Ausdrucksweisen der Causerie diskutiert. Der Band ist in fünf thematische Untersuchungsbereiche gegliedert: I – Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Fremde und Epochenwandel; II – Grenzüberschreitungen zwischen (Auto-)Biographie und Reisebeschreibung; III – Grenzen und Grenzüberschreitung in Sprachreflexion und Textkonstitution; IV – Grenzen und Grenzüberschreitungen in topographischen und gesellschaftlich-topologischen Konstellationen; V – Interlinguale und intermediale Grenzüberschreitungen. Die Beiträge in den fünf Sektionen nähern sich dem jeweiligen Untersuchungsbereich sowohl über literaturwissenschaftliche als auch über sprachwissenschaftliche Zugänge. So entsteht ein facettenreiches Spektrum von Beobachtungen und Frageperspektiven, das zur weiteren Beschäftigung mit dem notorischen Grenzgänger Fontane einladen möchte und in dem sich – so die Hoffnung – wie in einem Mosaik das Gesamtbild aus seinen vielen Bausteinen ergibt. Die literaturwissenschaftlichen Beiträge nehmen die vielfältige schriftstellerische Tätigkeit Fontanes mit den Werkgruppen der Autobiographie, der Reisebeschreibung und des Romans in den Blick und richten ein besonderes Augenmerk auf die Verortung Fontanes in der Moderne, die durch die Beschäftigung mit dem Grenzphänomen hervortritt. In der lebensgeschichtlichen Dimension erfährt Fontane selbst schon in jungem Alter Grenzen verschiedener Natur. In seiner Familie z. B. verwandelt sich der große Unterschied der Temperamente zwischen seinem Vater und seiner Mutter, der Fontane als Kind Unbehagen bereitete, in eine schwer überwindbare Grenze. In seiner »referentiell[en]«, aber auch »fiktionale[n]«, von der Forschung eher wenig beachteten autobiographischen Schrift Meine Kinderjahre versucht Fontane, wie Domenico Mugnolo in seinem Aufsatz hervorhebt, diese Grenze durch »eine mit beiden Eltern erfolgte Versöhnung als Ergebnis einer späten, reiferen Betrachtung der Dinge« (Mugnolo, S.  153) zu überwinden. Fontane gelingt dies, indem er die von den Eltern verkörperten gegensätzlichen Pole, Poesie und Prosa, in sich vereinigt und verinnerlicht. In diesem Sinne wird Fontane schon als Kind zum Grenzgänger und bleibt es noch als alter Mann, indem er die Grenze zwischen einem prosaischen Leben als Apotheker und Kulturjournalist zum Reich

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Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone

der Kunst mit der Nonchalance eines modernen Freelancer überschreitet und dadurch in fortgeschrittenem Alter der bedeutendste Autor der Gründerzeit wird. Fontane ist Grenzgänger sowohl aus Vergnügen als auch aus Notwendigkeit. Grenzgang wird bei ihm sogar zu einem mentalen Habitus, denn die Grenzen, die er nicht persönlich überqueren kann, werden in den Causerien seiner Texte mehrfach überschritten. Dies geschieht z. B. durch die Beschreibungen verschiedener Ortschaften in allen Ecken der Welt in den Reiseberichten seiner Figuren oder durch die fremdsprachlichen Elemente, die seine Texte bereichern. Mit dem Festhalten seiner Reiseberichte beginnt er seine journalistische Karriere. In der Tat sind hauptsächlich Schreibaufträge, weniger Zeitvertreib und kulturelle Bereicherung, der Motor der Reisen Fontanes, welche im Mittelpunkt vieler Beiträge dieses Sammelbandes stehen. Unter den möglichen Reisezielen seiner Zeit sind Frankreich, Großbritannien und Italien die bedeutendsten geographischen Grenzüberschreitungen Fontanes, die ihm durch die Permeabilität des cum-finis auch eine interkulturelle Osmose ermöglichen. Italien, dem meistbereisten Ziel der Deutschen überhaupt, widmen sich Hubertus Fischer und Iwan-Michelangelo D’Aprile. Fontanes erste Reise nach Italien fällt in das Jahr 1874, eine Zeit, in der das idealisierte Modell der klassischromantischen italienischen Grand Tour bei den Deutschen völlig ausgeschöpft ist. Nicht zufällig unternimmt Kaiser Wilhelm II. ab 1889 jedes Jahr eine Nordlandreise, die das beliebte italienische Reiseziel ersetzt. Inwiefern Italien Ende des Jahrhunderts überholt und klischeehaft wirken konnte, zeigt u. a. Fontanes epochaler Roman Effi Briest, in dem die sakrale Aura des seit Goethes Italienische[r] Reise formulierten Begriffs der Wiedergeburt des nordischen Menschen unter italienischem Himmel endgültig obsolet scheint. Wie Hubertus Fischer in seinem Beitrag zeigt, empfindet Fontane, als Mensch und als Autor, Italien immer noch als Sehnsuchtsland. Doch die Übersättigung des imaginären, medial konstruierten Italienbildes verweigert ihm und seinen Zeitgenossen die Grenzüberschreitung, die auf dem Wechseln vom Eigenen zum Fremden beruht. Diese Grenzüberschreitung werde von den Italienreisenden »gar nicht mehr als solche empfunden« (Fischer, S. 24), da sie ihren durch Prätexte und Vorbilder geschulten Augen nichts Fremdes mehr anzubieten hat. Die massenhafte Medialisierung dieser Bilderwelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, z. B. durch den Ölfarbendruck der italienischen Veduten, bewirkt eine Trivialisierung und verändert die Wahrnehmung Italiens, die – so Fischers These – Fontane und seinen Zeitgenossen wie vorschriftsmäßig »abgemalt« vorkomme. Fischer widerspricht wie D’Aprile einer verbreiteten Forschungsmeinung, die – auf der Selbststilisierung Fontanes als »Nordlandsmensch« basierend – Fontanes Reisen nach Italien als unüberbrückbare



Einleitung

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beschreibt. Durch die Analyse des nur in Abschrift überlieferten Marbacher Italien-Manuskripts Fontanes und seiner lückenhaften Reisekorrespondenz gelingt es Iwan-Michelangelo D’Aprile, psychologisierende und kulturalisierende Deutungsstereotypen von Fontane in Italien zu demontieren, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert haben, indem er mit einem quellenkritischen Ansatz diskursiven und medialen Aussagekontexten Raum gibt, um zu beweisen, dass Fontanes zwei Italienreisen (1874 und 1875) nicht im Zeichen des Sentimentalen oder des Kulturerwerbs stehen, sondern einen institutionellen Anlass hatten, der sie zu Bildungsreisen macht, unternommen mit dem konkreten, pragmatischen Zweck, eine passende Qualifikation für eine Anstellung an der Preußischen Akademie der Künste zu erwerben. Der aus dem Blick geratene historische Kontext dieser Dienstreisen sei in der »untrennbare[n] Verflechtungsgeschichte der beiden verspäteten Nationalstaaten [Italien und Deutschland]« (D’Aprile, S. 61) mit ihren parallel verlaufenden Hauptstadtgründungen in Berlin und Rom verankert: dem kulturgeschichtlichen Kapitel einer transkulturellen Annäherung zwischen Deutschland und Italien innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen. Als moderner Mensch, der sich neuer Verkehrsmittel wie Zug oder Dampfschiff bedient, welche Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich viele Orte für ein Massenpublikum erreichbar machen, ist Fontane auch im Rahmen des beginnenden Tourismusphänomens interessant. Diesem Aspekt widmet sich Erika Kontulainen, die Fontanes Profil als ungewöhnlichem, reale und poetische Erfahrungen in sich vereinendem Touristen Aufmerksamkeit schenkt. Anhand von Fontanes Reiseberichten aus Schottland und Italien, welche das Diktat der modernen touristischen Vermarktung durch Literarisierung bekämpfen, rekonstruiert Kontulainen Fontanes irritierte Attitüde gegenüber den Pflichtprogrammen der touristischen Reiserouten und seine Kritik an Reiseführern mit ihrem begrenzten, wenn nicht evident mangelnden Informationsgehalt. Eine Einstellung, die ihm die Züge eines »souveräne[n] Tourist[en]« verleiht, eines »kritische[n] Beobachter[s]«, der über die Grenzen der von den touristischen Routen kanonisierten Sehenswürdigkeiten und den Einfluss vorgegebener Vorstellungen hinaus versucht, unabhängig, frei und mit individuellen Empfindungen zu sein (Kontulainen, S. 226). Der Reisebericht mit seiner textsortenübergreifenden Montage von literarischen Textquellen und historischen Anekdoten, zusammen mit der Beurteilung von Fontanes journalistischer Leistung in der preußischen und britischen Presse, ist auch für den Beitrag von Anna Fattori zentral. Durch ihre Analyse britischer Rezensionen zu Fontanes Werken, für die sie viele bislang nicht berücksichtigte zeitgenössische Quellen heranzieht, bringt sie seine Großbritannien-Erfahrungen zwischen Anglophobie und England-Schwärmerei auf den

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Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone

Punkt und erkennt in Fontanes Vertrautheit mit dem englischen Leben und der englischen Kultur bzw. Literatur eine Tendenz zur interkulturellen Entgrenzung, welche »in biographischer und in kulturell-literarischer Hinsicht« die »Basis für seine Kunst« sei (Fattori, S.  192) und sich auf der schmalen Linie zwischen Eigenem und Fremdem abspiele (denn »ohne die englische« Entgrenzung »wäre Fontane nicht der Romancier Preußens« [Fattori, S. 192]). Fattoris Aufsatz hebt besonders hervor, wie breit Fontanes Bewegungsraum in Großbritannien, auch ‚jenseit des Tweed‘, war, verglichen mit dem der meisten Deutschen, die sich überwiegend in London aufhielten. Auch in zeitlicher Hinsicht sieht sie einen größeren Bewegungsraum Fontanes, denn das Reisen nach Großbritannien war zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens präsent. Besonders seine Aufenthalte in der Weltstadt London als Gegenpol zum damals noch eher provinziellen Berlin ermöglichten ihm eine faszinierende, aber gleichzeitig auch dystopische Entgrenzung hin zur zukünftigen Massengesellschaft Deutschlands und Europas. Die von Anna Fattori sehr klar beschriebene »Eiertanz-Situation« von Fontane in Großbritannien, der trotz seiner Sympathie für diese Nation immer Rücksicht auf Preußen nehmen musste, eröffnet die spannenden Kapitel seines Grenzüberganges aus politischen Gründen. Die sogenannten FrankreichBücher (Kriegsgefangen und Aus den Tagen der Okkupation) stehen im Zentrum des Aufsatzes von Roland Berbig. Sie entstehen aus journalistischen Aufträgen, als Fontane eine Reise in ,vaterländischem Dienst‘ als Berichterstatter über den Deutsch-Französischen Krieg unternimmt. Diese geographische Entgrenzung ist bei Berbig Anlass zur Vertiefung einer literaturwissenschaftlichen Perspektive des Grenzbegriffes, der sich von Homi Bhabhas ‚dritten Raumes‘ und dessen Fokussierung des Grenzraumes als »Ort neuer Kombinationen und vielschichtiger Verknüpfungen« (Berbig, S.  177) ableiten lässt. Anhand von Fontanes Frankreich-Büchern, insbesondere der autobiographischen Schrift Kriegsgefangen, in der er unerwartet und dramatisch mit der äußersten Grenze, der zwischen Leben und Tod, konfrontiert wird, beschreibt Berbig, wie Fontane zum wahren Schriftsteller geworden sei. In einer gründlichen Analyse von Struktur und Themen der Frankreich-Bücher stellt er fest, dass ihr roter Faden in verschiedenartigen Scheidelinien besteht: Scheidelinien wie etwa die geographisch-politische Grenzlinie zwischen Deutschland und Frankreich, Krieg und Kapitulation oder zwischen Kriegsschauplätzen sowie metaphorische und existentielle Scheidelinien, wie die oben genannte zwischen Tod und Leben oder jene zwischen Kunst und Leben. Sogar die Aufhebung kultureller Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland ist in diesen Texten präsent, da sich Fontane nach dem Erlebnis der Todesgefahr in die Lage versetzt fühlte,



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als kultureller Mediator trotz der deutsch-französischen Feindschaft und seiner ,vaterländischen‘ Verpflichtungen neue Wertgrenzen zu etablieren. Markante Grenzlinien betreffen auch Fontanes Stellung als Autor des deutschen Spätrealismus, welche Stefania Sbarra analysiert. In den strukturellen Grenzen der literaturwissenschaftlichen Periodisierung gefangen (unter anderem dem Lokalen und Provinziellen), wo jeder Entgrenzungsversuch tabuisiert und sanktioniert wird, gelinge Fontane in einem gemeinsamen Erfahrungshorizont mit Friedrich Nietzsche eine Entgrenzung in die Moderne. Gemeinsames Terrain fänden die zwei Denker und Dichter in ihrer Kritik am Bildungsphilistertum und an dessen erstarrten Konventionen. Sbarra beleuchtet analoge semiotische Grundstrukturen bei Nietzsche und in Fontanes Spätwerk und rekonstruiert somit eine Archäologie der Moderne, die in den Werken des Spätrealismus ihre »latenten Protoformen« finde und in der Gleichzeitigkeit von spätrealistischer Poetik und philosophischer Kulturkritik wurzle. Das Erzählen der Krisenhaftigkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die Infragestellung von dessen Normensystem im Erzählwerk des späten Fontane und in Nietzsches ‚Philosophie mit dem Hammer‘ tilgen nach Sbarra die Grenze zwischen Antimoderne und Moderne und versöhnten sich in einer gewissen Kontinuität und Kontiguität, welche aber die Suche nach direkten Einflüssen ausschließe. Sbarra bespricht sowohl Fontanes (Stine, Effi Briest) als auch Raabes Prosa (Die Akten des Vogelsangs), bei denen derselbe Menschentypus, Krisenträger und Vertreter eines Epigonenzeitalters vorkomme, den auch Nietzsche beschreibe, »wobei bei Raabe und Fontane der polemische Gestus des Kulturkritikers und seine spätere Aufforderung zur Umwertung aller Werte einer melancholischen, resignativen Haltung weichen« (Sbarra, S. 108). Die These einer janusköpfigen Haltung Fontanes der Moderne gegenüber vertritt Maria Paola Scialdone in ihrem Stine und Irrungen, Wirrungen gewidmeten Aufsatz, der diese Romane unter kulturanthropologischer Perspektive analysiert. Unter den diversen Grenzerfahrungen, die Fontanes Œuvre prägen, fokussiert Scialdone die Manifestation der Schwelle als anthropologisches Grenzmotiv in seinem Werk und als Schnittstelle eines liminalen Verfahrens, das die insgesamt ‚schwellenartige Position‘ seines Œuvres spiegle, »welche – nach beiden Seiten hin offen – einen gleichzeitigen Blick auf das Traditionelle und das neu Aufkommende ermöglicht« (Scialdone, S. 63). Die Schwelle sei bei Fontane auf diese Weise ein Denkbild der Verhandlung zwischen zwei sich gegenüberstehenden Grenzen und Zeitphasen. Anhand des regen intellektuellen Austausches zwischen Fontane und seinem Freund, dem Ethnologen Moritz Lazarus, und dank der Rekonstruktion des ethno-anthropologischen Denkens ihrer Zeit versucht die Autorin u. a. zu beweisen, dass das Schwellenmotiv nicht nur eine räumliche oder metaphorische Dimension in Fontanes Prosa

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sei, sondern, dank Fontanes bekannten, aber bis jetzt kaum für die Interpretation seines Werks herangezogenen ethno-anthropologischen Kenntnisse, auch eine literarische Reflexion über tradierte ‚rites de passage‘. Einen topographischen Zugang zum Thema Liminalität wählt Gianluca Paolucci. Seine Arbeit ist auf der Folie des topographical turn und der Wirkungsästhetik lesbar. Paolucci stellt die These auf, dass Fontanes Werk den realen Raum nicht nur beschreibt, sondern auch performativ erstellt, indem seine Novellen und Romane, besonders Grete Minde, L’Adultera und Irrungen, Wirrungen, die er unter die Lupe nimmt, eine sogenannte »Poetik der Liminalität aufzeigen« (Paolucci, S. 85), in der die Hauptfiguren die üblichen und räumlichen topographischen Kategorien überschreiten, um sich in ihren erzählten Verirrungen jenseits der offiziellen Topographien individuell neu zu orientieren. Paoluccis Aufsatz suggeriert, dass Fontanes »Kritik an dem geographischen Diskurs zugleich eine Kritik an der politischen und sozialen Ordnung des 19. Jahrhunderts darstellt« und dass »die Bewegungen der Hauptfiguren nach liminalen Gebieten in Fontanes Werk den Willen des Autors signalisieren, kodifizierte und erstarrte Kategorien in Frage zu stellen, um dem zeitgenössischen Leser alternative Orientierungsmodelle zu bieten« (Paolucci, S. 95). In anderen Beiträgen wird dagegen der Umgang mit sozialen Grenzen in Fontanes Œuvre gezeigt. Dies ist der Fall in Cesare Giacobazzis Aufsatz, der um eine der markantesten Grenzen von Fontanes Zeit kreist, nämlich die Mésalliance. In seiner Lektüre des Romans Irrungen, Wirrungen unterstreicht Giacobazzi, dass die unüberwindbare gesellschaftliche Grenze zwischen der Bürgerstochter Lene und dem Adligen Botho von ihr kampflos akzeptiert wird, obwohl sie einer Klasse angehört, die die soziale Unbeweglichkeit jener Zeit stark kritisiert und sich immer als Motor politischen und sozialen Fortschritts erwiesen hat. Der im Roman in Form einer scheinbar oberflächlichen Liebelei gezeigte Konflikt weise auf eine Auseinandersetzung zwischen einer alten und einer neuen Welt hin. Aber gerade in dem Moment, in dem Lene einen Blick über die Grenzen wirft und sich freiwillig dafür entscheidet, die bitteren Konventionen ihrer Epoche zu akzeptieren und nicht zu überschreiten, erweise sie sich als eine Figur, die – Nietzsches Übermensch ähnlich –, in der Lage sei, ihren Willen als »Nicht-Wollen« (Giacobazzi, S. 464) durchzusetzen. Nicht nur der Versuch einer Heirat außerhalb des eigenen Milieus kann dazu verhelfen, soziale Grenzen zu überwinden. Klassenwechsel kann auch Teil des Bildungsversprechens sein. Markus Steinmayr geht der These nach, dass in Fontanes Erzählwerk Bildung nicht mehr und nicht nur Synonym von Persönlichkeitsveränderung ist, wie sie im traditionellen Bildungsroman beschrieben und propagiert wird. Im Gesellschaftsroman des Realismus sei Bildung eher Mittel zur sozialen Mobilität und zur Veränderung des eigenen



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Status. Von dieser Annahme einer auf ökonomischem Kalkül basierenden gesellschaftlichen Notwendigkeit der Moderne ausgehend untersucht Steinmayr Frau Jenny Treibel und Mathilde Möhring als ein »Panorama von Karrieren«, die – im Einklang mit der sozialpolitischen Programmierung des Bildungsbegriffes im ausgehenden 19.  Jahrhundert – den persönlichen Aufstiegswillen mit der modernen kapitalistischen Vorstellung versöhnen, gesellschaftlich funktional sein zu müssen. Durch das Prisma dieser Voraussetzungen zeigt Steinmayr die bildungsökonomischen Züge des Handelns der Figuren bei der Überwindung sozialer Grenzen. Dank Fontanes Vorliebe für Geschichte, die sich als ein großes Reservoir für seine Prosa erweist, kann man auch den schicksalhaften Grenzformen folgen, die in mehreren seiner Romane begegnen. Dies ist z. B. der Fall in Schach von Wuthenow: Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes, dem Stefan Lindinger und Evi Petropoulou ein detailliertes close reading widmen. Von den Monographien zum Thema Raum bei Fontane von Kathrin Scheiding und Michael James White inspiriert, fokussieren sie das Motiv Grenze und Grenzüberschreitung in dieser historischen und psychologischen Novelle und verfolgen es in allen Details seiner Struktur und seines Inhalts durch eine Kartierung der räumlichen und metaphorischen Demarkationslinien in der Erzählung. Aber vor allem identifizieren sie eine Art der Grenze, um die die ganze Novelle kreise. Dabei greifen sie auf die Chronotopos-Theorie Bachtins zurück, die sich in Bezug auf Fontanes Romanwerk als besonders ergiebig erweist. Anderen Berliner Romanen Fontanes ähnlich, die im Allgemeinen inmitten von Chronotopoi spielen, basiere Schach von Wuthenow auf dem Chronotopos »Hannibal ante portas«: eine Bezeichnung, mit der eine Nebenfigur der Novelle, Herr von Bülow, auf eine Grenze und deren bevorstehende Übertretung hinweise, eine Grenzsorte, in der sich eine räumliche Komponente mit einer zeitlichen verbinde. Hannibal, womit Napoleon gemeint ist, ist gekommen, die Schlacht von Jena und Auerstedt (14. Oktober 1806) steht kurz bevor und nach der Niederlage wird in Preußen nichts mehr so sein wie früher. Das Regiment Gensdarmes und sein Vertreter Schach werden diesem bitteren Schicksal folgen und somit eine Epochen-Schwelle überschreiten müssen. Die Überlappung von Raum und Zeit, die Fontanes Texte durchzieht und ihnen eine komplexe Erzählstruktur verleiht, steht auch im Zentrum des Aufsatzes von László V. Szabó. Er unterstreicht die wiederholten Grenzüberschreitungen von Fontanes Texten zwischen kleineren und größeren Räumen und zwischen Erzählgegenwart und immer wieder evozierter (geschichtlicher) Vergangenheit anhand von Fontanes letztem Roman Der Stechlin, den er als Summa dieser stilistischen und inhaltlichen Merkmale betrachtet. Sein Beitrag hebt dezidiert die Verflechtung zwischen einer poetischen Topographie

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(»Topoetik« mit Szabós Begriff) und einer Gedächtnispoetik hervor, die in Fontanes Erzählwerk zur Kreation von Erinnerungsorten und Chronotopoi im Sinne Bachtins führe. In der Raumgestaltung im Stechlin etwa ließen sich mehrere Raumebenen nachzeichnen, deren Grenzen aber nicht immer scharf konturiert seien. Eine gewisse Permeabilität zwischen Mikroräumen in der Erzählung, lokalen und regionalen Raumkonstrukten und – trotz ihrer tiefen berlinisch-brandenburgischen Verankerung – einem globalen Raum (hier ist von England und Russland die Rede), der über regionale und Kulturgrenzen hinausweise, sprengten im analysierten Roman verschiedene Grenzdemarkationen. Zumeist geschehe das in der zeitlichen Dimension des Erzählens, etwa beim Evozieren von Reiseerlebnissen und Kriegsereignissen durch die ekphrastische Beschreibung medialer Bilder in einer intersemiotischen Entgrenzung des Textes. Maja Razbojnikova-Fratevas Beitrag setzt sich unter dem Blickwinkel des spatial turn mit der Nutzung und Gestaltung von Räumlichkeiten bei Fontane auseinander, u. a. auch deren Einbeziehung der Grenzen. Der Grenzbegriff bei Razbojnikova-Frateva ist Metapher für Norm und Regel und ihr Aufsatz fokussiert Regelverletzungen und Normverstöße in dem späten Roman Unwiederbringlich, dessen Titel an sich schon eine Überschreitung ohne Umkehr signalisiert. Razbojnikova-Frateva baut auf Michael James Whites Interpretation der Grenze im Roman als »spatial expression of separation« auf und liest Unwiederbringlich als eine allgemeine Frage nach den Überschreitungsmöglichkeiten von Grenzen (moralisch, ethisch, sozial, psychologisch) und deren Folgen. Ihr persönlicher Beitrag zu diesem Forschungsterrain ist die These, nach der der Umgang mit Grenzen ein wichtiges Instrument zur Charakterisierung der Figurenkonstellation im Roman sei, vor allem der drei Hauptfiguren Holk, Ebba und Christine, die sie sorgfältig analysiert und auf die sie ein neues hermeneutisches Licht wirft. Razbojnikova-Frateva führt am Ende ihres Beitrags aus, dass Christine Holk das weibliche Pendant zu Baron Innstetten sei, und vermutet, dass es sich um »eine besondere Grenzüberschreitung der Geschlechtergrenzen seitens des Erzählers handle, was im Falle Fontane durchaus denkbar wäre« (Razbojnikova-Frateva, S. 416). Die Grenzen im Geschlechterkodex stehen im Zentrum von Giulia Iannuccis Aufsatz, der Schach von Wuthenow unter der Perspektive »toxischer Männlichkeit« analysiert und »die Handlungen Schachs und sein[en] Suizid« als die dialektische Darstellung einer »internen Grenzüberschreitung der männlichen Geschlechtergrenzen«, in der sich »seine Männlichkeit […] zwischen einer (selbst)obligatorischen, aber offensichtlichen Übereinstimmung mit dem hegemonialen Standard und einer endgültigen und unbewussten Überschreitung in der untergeordneten männlichen Gattung«



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(Iannucci, S. 469) bewege. Methodologisch bedient sich Iannucci der »Gender performativity«-Theorie Judith Butlers und des Begriffs der »hegemonialen Männlichkeit« von Raewyn Connell. Der subliminale Wunsch nach Grenzverletzungen, der im Laufe des 19. Jahrhunderts spürbar wird, wird auch von den wissenschaftlichen und geographischen Entdeckungen der Zeit genährt, die einen wesentlichen Anstoß zur Veränderung der damaligen Gesellschaft geben. Valentina Serra zeigt in ihrem Beitrag, wie die zu jener Zeit vieldiskutierten Entdeckungsreisen und Kolonialprojekte, als am Ende des Jahrhunderts auch Deutschland eine Kolonialmacht wird, in Form eines Kunstgriffs in Fontanes Werk eintreten, wodurch der Autor seine kritische Darstellung der gesellschaftlichen Realität leistet. Anhand der Romane Stine, Effi Briest, Die Poggenpuhls und Der Stechlin zeichnet sie nach, wie der Rekurs auf das koloniale und exotische Imaginäre – das im Allgemeinen im ,doppelten Boden‘ des Realismus eingesenkt ist – in Fontanes Erzählwerk nicht nur mimetisches Zeugnis damaliger Gespräche des Bürgertums sei, sondern dem Willen der Figuren entspreche, das Tabu des Verbotenen zu brechen und zu überwinden und sich von den gesellschaftlichen Zwängen ihres erstickten Lebens zu befreien. Eine Auflehnung gegen die gegebene Realität, die in Fontanes Werk immer negative Folgen habe. Unter den verschiedenen Sanktionierungen, die Grenzüberschreitungen in Fontanes Prosa zur Folge haben, erkundet Susanne Vitz-Manetti den Verlust des Glücks. Bevor sie sich auf Glückserwartungen und Glücksenttäuschungen in Unwiederbringlich unter dem Aspekt der manifesten Ortsgebundenheit (topographisch oder metaphorisch) der Glücksempfindungen konzentriert, skizziert sie eine Glücksphänomenologie bei Fontane anhand seiner oft paradoxalen Bemerkungen im Briefwerk und in der Lyrik, indem sie vier wesentliche Glückskategorien voneinander abgrenzt: das Glück der kleinen Dinge des Alltags, das ungetrübte Glück des Augenblicks, das wirkliche Glück eines gelungenen Lebens und das Glück der Selbstvergessenheit. Wie die literaturwissenschaftlichen Aufsätze zur Grenzüberschreitung ein ausgesprochen breites Themenspektrum abdecken, das von der differenzierten Bildwahrnehmung über existentielle Reflexionen und sozio-ethnographische Ausführungen bis zu Beziehungskonstellationen reicht, ist auch in den sprachwissenschaftlich ausgerichteten Aufsätzen des Bandes eine große thematische Breite gegeben. In den Beiträgen lassen sich einige Konstanten erkennen: Einerseits wird die Grenzüberschreitung im sozialpsychologischen und ethno-anthropologischen Anderssein betrachtet; die Überwindung der Grenze wird in der Begegnung und in der Entwicklung der Figuren im Gespräch, einschließlich soziokultureller Veränderungen, Höflichkeitsvariationen und

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Causerie, sowie in der polyphonen Erzählinstanz mehrfach untersucht. Eine weitere Dimension der Analyse besteht andererseits in der stilistischen Grenzüberschreitung, mitsamt Textmuster- und Textsortenvariation: Es werden wiederkehrende Motive, Abschweifungen und Exkurse in Fontanes Prosa sowie syntaktische Besonderheiten, lexikalische Obsessionen und Phraseologismen unter die Lupe genommen. Neben den Romanen und Novellen wird auch den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und einer frühen Dichtung Fontanes Aufmerksamkeit geschenkt. Als zusätzliche Dimension lassen sich ferner die interlinguale und intersemiotische Grenzüberschreitung erkennen: Eine Gruppe von Aufsätzen ist Übersetzungen und Neuschreibungen in verschiedenen Sprachen und Codes gewidmet, wobei auch filmische Adaptionen von Fontanes Romanen berücksichtigt werden. Aus zeitgeschichtlicher und sprachwissenschaftlicher Sicht geht Marina Foschi Albert der Frage nach, inwiefern es Gemeinsamkeiten zwischen de Saussures Auffassung der Sprache als System und der Sprachauffassung gibt, die in Fontanes Altersroman Der Stechlin durch die Figuren zum Ausdruck kommt. Darin spielen die Arbitrarität der Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung, der unsichtbaren Regeln folgende und deshalb unvorhersehbare Sprachwandel sowie die Sprache als soziales Produkt eine zentrale Rolle. Im Roman erweisen sich die natürlichen Laute des Stechlin-Sees (die Sprache des Sees) letzten Endes als die Sprache der Poesie, die auf unvorhersehbare Weise dem bekannten, de Saussure zugeschriebenen tout-se-tient-Prinzip nahesteht. Der unsichtbaren Verbindung aller Elemente des sprachlichen Systems entsprechen zahlreiche metasprachliche Aussagen der Figuren in Fontanes Roman, während sie bildlich durch das Stechlin-Symbol dargestellt wird. Die dank dem Stechlin-See zustande kommende Kommunikation bildet eine Verbindung und somit eine Grenzüberwindung zwischen unterschiedlichen Welten (kleiner und großer Welt, Alltagssprache und Sprache der Poesie). Aus stilistischer Perspektive geht Sabrina Ballestracci in ihrem Aufsatz der sprachlichen Wiedergabe der Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod in Cécile, Effi Briest und Der Stechlin nach. Den untersuchten Romanen ist gemeinsam, dass die Hauptfiguren sterben, ihr Tod nicht direkt dargestellt wird und nicht unmittelbar mit dem Ende der erzählten Geschichte zusammentrifft. Anhand der Analyse von Implizitem und Zeitlichkeit auf lexikalisch-semantischer, syntaktischer und informationsstruktureller Ebene zeigt die Autorin, dass die Darstellung des Todesmoments in den untersuchten Erzählwerken bedeutende Unterschiede aufweist: Während sich im Stechlin und in Effi Briest zeitliche Ausdrücke und Satzstrukturen als stilistisch feiner und informationsstrukturell komplexer erweisen als in Cécile, zeigen Cécile und Der Stechlin Gemeinsamkeiten in der Behandlung der Substantive, die



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in Effi Briest nicht vorkommen. Trotz der stilistischen Unterschiede lassen sich in allen Werken gemeinsame sprachliche Strategien ausmachen, mit deren Hilfe Fontane dem Todesmoment Ausdruck verleiht. Die Arbeit belegt, wie facettenreich und vielfältig der Moment der Grenzüberschreitung anhand von differenzierten Stilmitteln, die eingesetzt werden, um zeitliche Kohärenz und Implizites auszudrücken, dargestellt wird. Syntaktische Strukturen, Koordinationen, Ellipsen und Parenthesen werden gekonnt eingesetzt, um Implizites auszudrücken und eine kalibrierte Informationsvermittlung zu bewirken: Diese Elemente tragen wesentlich zur Konstitution eines harmonischen, typisch Fontane’schen Bildes bei. Syntaktisch-semantischen Besonderheiten in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg sind die Aufsätze von Patrizio Malloggi und Claudia Buffagni gewidmet. Patrizio Malloggi belegt in seinem Beitrag, dass die sehr häufig vorkommenden als-Adverbialnebensätze im Band Spreeland der Wanderungen durch die Mark Brandenburg syntaktische und semantische Grenzüberschreitungen darstellen. Der Autor hebt hervor, dass als-Adverbialnebensätze syntaktisch auch eine desintegrierte Stellung außerhalb des Vorvorfeldes einnehmen können. Semantisch leitet der Subjunktor als Rückblicke des Erzählers auf Sachverhalte ein, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Durch als signalisiert, findet meistens ein abrupter Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum statt, der die Haupthandlung im Gegenwartstempus unterbricht. Dabei liefert der Konnektor als eine Betrachtzeit, aus der heraus historische Informationen über die besichtigten Orte und Landschaften bzw. über historische Persönlichkeiten und Anekdoten aus der Vergangenheit vermittelt werden. Das Vorherrschen der als-Adverbialnebensätze unter allen Nebensätzen bestätigt darüber hinaus die herausragende Rolle der Zeitdimension in den Wanderungen: Die semantischen Beziehungen sind nämlich vorwiegend zeitlicher und nicht – wie man es bei einem Reisetext erwarten könnte – räumlicher Natur. Demselben Band (Spreeland) der Wanderungen durch die Mark Brandenburg ist auch der Aufsatz von Claudia Buffagni gewidmet. Die Autorin untersucht den Einsatz von und an der Anfangsstelle. Der Konnektor und erweist sich – in den verschiedensten syntaktischen Konstellationen – als den zentralen stilistischen Mitteln angehörend, die Fontane bei der Textgestaltung differenziert und nuancenreich einsetzt, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Der Beitrag zeigt, dass Und so und Und nun am Satzanfang in den Wanderungen im Erzählbericht von dem wandernden Erzähler als Signal einer räumlichen oder zeitlichen Grenzüberschreitung eingesetzt werden. Fontane wählt bewusst die Verknüpfung zwischen und und den alltäglich vorkommenden Adverbien so und nun, um den Lesern unauffällig bei den Grenzüberwindungen zu helfen. Die scheinbare Einfachheit der Verwendung am Satzanfang von Und so und

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Und nun in den Wanderungen scheint nicht unwesentlich zur Herstellung eines angenehm unverbindlichen Plaudertons beizutragen und stellt somit ein wiederkehrendes Merkmal von Fontanes journalistischen (feuilletonistischen) Werken und seinen späteren Romanen dar. Soziokulturellen Veränderungen und Sprachvariationen in Fontanes Romangesprächen sind Nicolò Calpestratis und Claus Ehrhardts Aufsätze gewidmet. Nicolò Calpestrati geht in seinem Beitrag den Gesprächen in Fontanes Romanen nach. Untersucht werden die Stilmittel des Impliziten, die zum Ausdruck des im 19. Jahrhundert tabuisierten Themas der Sexualität verwendet werden. Anhand der Figurenrede in Irrungen, Wirrungen und Effi Briest zeigt der Autor, wie implizite informative Inhalte zur Textkonstitution dienen und wie informative Lücken von den Lesern rekonstruiert werden, um dem Text das vom Autor Mitgemeinte zu entnehmen. An unterschiedlichen stilistischen Verfahren belegt Calpestrati, in wie vielfältiger Weise durch die Kombination von grammatischen und graphematischen Mitteln auf Extratextuelles oder durch die Verwendung von ironischen Ausdrücken auf sexuelle Themen hingedeutet wird, die von den Figuren in einem komplexen Verstehensprozess auch korrekt entziffert werden. Pragmatisch werden Grenzen überwunden: z. B. explizit vs. implizit, konformistisch vs. antikonformistisch. Aus der Perspektive der pragmatisch ausgerichteten Höflichkeitstheorie untersucht Claus Ehrhardt am Beispiel von Frau Jenny Treibel und Der Stechlin ebenfalls Fontanes Romandialoge. Er zeigt, wie aufmerksam darin klassenübergreifende Begegnungen – beispielsweise zwischen altem Adel und Neureichen – registriert werden: Die Figuren beziehen sich ständig auf Höflichkeitsnormen, indem sie sie anwenden, sich darüber äußern und sie kommentieren. Möglichkeiten der Grenzüberschreitung ergeben sich etwa im Sinne eines Nicht-Respektierens der Gesellschaftsnormen oder – umgekehrt – im strengen Befolgen inzwischen veralteter Regeln. Andererseits reflektieren manche Figuren den Verlust der Sinnhaftigkeit von tradierten Ausdrucksformen, die nun als bedeutungsleer erscheinen. Dabei zeigt sich ein Übergang von konventionalisierter zu reflexiver Höflichkeit, die den neuen Sensibilitäten am Ende des 19. Jahrhunderts adäquater Rechnung trägt. Romangespräche erweisen sich zugleich als Zeitdokumente und als vorangetriebene Spitze eines sich abzeichnenden epochalen Zeitwandels. Ehrhardts Studie macht deutlich, dass in Frau Jenny Treibel und Der Stechlin die Höflichkeit eng mit der Möglichkeit von Kommunikation zusammenhängt und sich in immer neuen Ausdrucksformen äußert. Mit Textmustern und Textsorten beschäftigen sich Emilia Fiandras und Marianne Hepps Beiträge. Emilia Fiandra untersucht den Zusammenhang zwischen Titel und Incipit von Fontanes Erzählwerken: Am Beispiel von Schach von Wuthenow zeigt sie, dass der Anfang mit den ihm folgenden Text-



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passagen und dem restlichen Text auf verschiedenen Ebenen – und zwar erkennbaren Schemata folgend, auch strukturell – eng verbunden ist. Fiandra legt dar, dass auch Personennamen und kommentierende Titel dazu beitragen, beim Leser Erwartungen zu erwecken, die den Verstehensprozess steuern und im Laufe des Werks erfüllt oder enttäuscht werden. Darüber hinaus wird deutlich, wie die Thematik der leeren Konventionalität Anfang und Schluss des Romans einbettet und den Blick des Lesers auf den tragischen Ausgang verhindert. Die Räumlichkeiten und die Gesellschaftszirkel, in die der Textanfang den Leser einführt, bilden gleichzeitig einen Innenraum und einen Raum der äußeren Repräsentation, somit einen Raum der Grenze, der die Teilnehmer gleichzeitig ein- und ausschließt: Durch diese gegensätzlichen Triebkräfte wird die Hauptfigur in den Ruin getrieben. Die Autorin zeigt, wie der Erzähltext, der die Tragödie des äußeren Scheins thematisiert, nicht zuletzt anhand einer sehr sorgfältig entwickelten Textkonstitution eine stringente innere Kohärenz aufweist. Mit der Textsortenzuordnung von Kriminalgeschichten beschäftigt sich Marianne Hepp. In ihrem textlinguistisch ausgerichteten Beitrag stützt sie sich u.  a. auf die Studien von Fandrych, Thurmair und Adamzik. Grete Minde, Ellernklipp, Unterm Birnbaum und Quitt, die einerseits nicht dem Muster der Kriminalgeschichte à la Edgar Allan Poe entsprechen, zeigen vielmehr Züge der älteren ‚Criminalgeschichten‘, die die psychologischen und sozialen Wurzeln als Ursache der Mordtat fokussieren. Der Tradition der Novelle kann andererseits die den Texten gemeinsame festgefügte Textstruktur (etwa Zweiteilung, Zeitsprung zwischen den beiden Teilen, spätere Rückkehr zum Ort der Kindheit und des Verbrechens) mit ihrem beschleunigten Hinführen zur Katastrophe zugeordnet werden. Die Autorin schlägt für die untersuchten Texte die Bezeichnung ‚Kriminalnovellen‘ vor, fügt jedoch hinzu, dass diese Texte textsortenlinguistisch eine eher dezentrierte Stellung innehaben und nicht allen Merkmalen des prototypischen Musters der Novelle entsprechen. Fontanes vier untersuchte Mordgeschichten bilden somit aus der Sicht der Textsortenlinguistik einen Textsorten-Grenz(überschreitungs)fall. Dialogizität und Polyphonie in der Fontane’schen Prosa bilden den Gegenstand von Lucia Salvatos Aufsatz. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht die linguistische Analyse des literarischen Phänomens der erlebten Rede in Theodor Fontanes Unterm Birnbaum. Untersucht werden unter grammatischen Gesichtspunkten die sprachlichen Merkmale, die die Grenze zwischen dem Beschriebenen und dem Erzählten signalisieren sollen. Anhand einer genauen Analyse von Passagen (bezugnehmend auf Weinrichs textlinguistischen Ansatz) aus der Novelle zeigt die Autorin, dass die die erlebte Rede kennzeichnenden Merkmale (etwa der Apostroph bei Verbformen, das enklitische Pronomen es, elliptische Ausdrücke wie Verben ohne Subjekt) nicht getrennt vorkommen,

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sondern zur polyphonen erlebten Rede beitragen. Der Aufsatz zeigt somit, dass Fontanes Prosa oft ein »zweistimmiges Wort« aufweist: Die Stimme der Figur und die des Erzählers sind zwar miteinander verschmolzen, bleiben aber dennoch irgendwie getrennt. Dadurch entsteht eine erzählerische Spannung zwischen »mimetische[r] Mündlichkeit« und »poetisch bearbeitete[r] Schriftlichkeit« (Mecklenburg, 2018). Grenzüberschreitungen in der interlingualen und intersemiotischen Übersetzung stehen im Mittelpunkt von Heinz-Helmut Lügers, Martina Lemmettis, Sara Corsos und Cristiana Tappatàs Aufsätzen. Aus handlungstheoretischer und übersetzungskritischer Perspektive geht Heinz-Helmut Lüger auf das sprachliche Verhalten der sozialen Gruppen in den Romanen Fontanes ein und führt aus, wie sich die Figuren an die ihnen gesetzten Grenzen halten und sich entsprechend sprachlich äußern und verhalten. Dies sei besonders schön an Dienerfiguren zu belegen. Andere Figuren übertreten oder überwinden hingegen in bedeutungsträchtigen Passagen diese Grenzen. Am Beispiel von Frau Jenny Treibel untersucht Lüger die Aufsteigerdiskurse Jennys und ihres Mannes, Kommerzienrat Treibel, die Grenzen und Grenzüberschreitungen thematisieren: Letztere kommen durch vielfältige stilistische Mittel zum Ausdruck. Die Analyse von Übersetzungen ins Englische, Französische und Italienische zeigt, dass das Streben der übersetzten Texte nach einer kommunikativen Gleichwertigkeit jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, die zwischen Reduktion und Verstärkung semantisch-pragmatischer Bedeutungen pendeln. Die Markierung des Aufstiegsstrebens der Ehepartner erfährt in den untersuchten Übersetzungen eine unterschiedlich genaue Wiedergabe. Aus pragmatischer und übersetzungswissenschaftlicher Perspektive beschäftigt sich Martina Lemmettis Beitrag mit der Rolle der Modalpartikeln in der Figurenrede der Protagonistin in Effi Briest. Die Analyse zeigt, dass sich Effi durch die Verwendung einiger Modalpartikeln gegenüber anderen Figuren abgrenzt. Darüber hinaus benutzt sie die Modalpartikeln mit unterschiedlichen Nuancierungen je nach Gesprächspartner: Mit ihrem pragmatischen Wert stellen diese Partikeln diverse Charakterzüge und Gefühle der Protagonistin in den Mittelpunkt. Dieser Aspekt scheint in der italienischen Übersetzung stilistisch verloren zu gehen: Die Bedeutung der Modalpartikeln wird zwar im Italienischen wiedergegeben, jedoch häufig nicht mit denselben Mitteln. Die Autorin zeigt, dass man die Besonderheit der Figurenrede, die der Wiederholung der Modalpartikel im Original zu verdanken ist, in der italienischen Übersetzung nicht systematisch wahrnehmen kann, weil in der Zielsprache jeweils auf unterschiedliche Modalpartikeln zugegriffen wird. Somit kann die stilistische Regelmäßigkeit des Originals nicht exakt wiedergegeben werden, die Stileffekte fallen anders aus.



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Sara Corso geht in ihrem Aufsatz der sprachlichen Darstellung von Effis und Innstettens Profilen in den italienischen Untertiteln von Fassbinders Verfilmung Fontane. Effi Briest nach. Anhand von semantischen Makrokategorien werden Effi und Innstetten als im Film gegenübergestellte Figuren untersucht, deren Darstellung mit der Übersetzung in den italienischen Untertiteln verglichen wird. Die Autorin belegt anhand von einschlägiger Literatur, dass die Untertitelung eigenen Übersetzungsnormen unterliegt, die zu einer quantitativen wie semantischen ›Abflachung‹ des Originaltextes führen und nichtsdestotrotz gleichzeitig zum Erreichen der kommunikativen Funktion beitragen: Durch ein semiotisches Grenzüberschreitungsverfahren vermitteln die übrigen Kommunikationskanäle die fehlenden Informationen. Mit semiotischen Grenzüberschreitungen befasst sich auch Cristiana Tappatà. In ihrem Beitrag untersucht sie das Motiv der Schwelle in Fontanes frühem Gedicht Die schönste Melodie (1840), welches eine romantische Reflexion über erklungene Lieder darstellt. Ausgehend von der phänomenologischen Perspektive von Bernhard Waldenfels erkennt die Autorin im Werk Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Sinnen. Anhand einer Analyse des poetischen Textes argumentiert sie, dass die Melodie als Bindeglied zwischen Natur und Gedicht fungiere, in dem sich Bilder der Außen- und Innenwelt widerspiegeln. Auf dem Ich nicht erkennbare Weise drückt die Melodie in Fontanes Gedicht etwas aus, das nicht gänzlich erschließbar ist; gleichzeitig führt sie auf direktem Weg zum Ich, verhilft ihm somit zur Überwindung von Grenzen. Die Herausgeberinnen danken allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen für die anregenden Gespräche und für den inspirierenden Forschungsaustausch auf der Tagung. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Hubertus Fischer und Prof. Dr. Roland Berbig, die sich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft“ eingesetzt haben. Prof. Dr. Hugo Aust hat mit seiner gründlichen Lektüre und seinen wertvollen Anmerkungen wesentlich zur Verbesserung des Bandes beigetragen. Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile sei herzlich gedankt für die wissenschaftliche Unterstützung und Dr. Christine Hehle für ihr aufmerksames Korrekturlesen. Einige Kolleginnen und Kollegen der Università degli Studi di Macerata und der Università per Stranieri di Siena haben bei der Tagungsorganisation und der Veröffentlichung dieses Bandes geholfen: Wir möchten uns insbesondere bei Giulia Iannucci und Patrizio Malloggi für die redaktionelle Arbeit sowie bei Cristiana Tappatà für das Tagungssekretariat bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt Birgit Hlawatsch, die uns großzügig zur Seite stand und für die sprachliche Revision des Bandes zuständig war. Die Tagung und die Veröffentlichung des Bandes wurden durch das „Dipartimento di Studi Umanistici“ der Università per Stra-

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nieri di Siena, das „Dipartimento di Studi Umanistici“ der Università degli Studi di Macerata und das Goethe Institut Rom finanziell unterstützt. Siena/Macerata, im Februar 2023 Claudia Buffagni und Maria Paola Scialdone

I  Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Fremde und Epochenwandel

Theodor Fontane: Italienische Grenzüberschreitungen Hubertus Fischer

»Ich glaube oft, schon etwas gesehen zu haben, was ich erweislich zum erstenmal sehe, namentlich Landschaften.« (Friedrich Hebbel, Tagebücher, 1837)1

»Authentizität und Wiederholung« Wie weit ist es nach Italien? Von Berlin aus gesehen liegt es vor der Tür. Im Fontane-Jahr 2019 warb der Potsdam-Tourismus mit »Italien in Potsdam«;2 Fontane kam darin nicht vor. Tatsächlich hat der Campanile von Santa Maria in Cosmedin in Rom die Grenzen Italiens längst überschritten und sich vor gut einhundertundsiebzig Jahren in Potsdam-Sanssouci niedergelassen. Der Turm der Friedenskirche im Marly-Garten ist kein Einzelfall. Zwar wurden italienische Bauten und Ruinen schon unter Friedrich II. einzelnen Kupferstichen nachgebaut; Friedrich Wilhelm IV. aber, der selbst zweimal in Italien weilte, strebte mit seinen Bau- und Gartenkünstlern eine Italianisierung der Havellandschaft in und um Potsdam an: vom »italiänischen Dörfchen« im Krongut Bornstedt bis zur Basilika der Heilandskirche am Port von Sacrow.3 Es könnte diese italienische Anmutung als Folge sichtbarer architektonischer 1 Friedrich Hebbel, Tagebücher. Bd. 1: 1835–1839. Hrsg. von Karl Pörnbacher, München 1984, S. 133. 2 Der offiziellen Webseite des Potsdam-Tourismus zufolge »[stand] Brandenburgs Landeshauptstadt 2019 ganz im Zeichen von Italien« und dementsprechend unter dem Motto »Italien in Potsdam«. Fontane blieb ein Zaungast der touristischen Veranstaltungen, dem im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte immerhin eine regionalbezogene Ausstellung gewidmet wurde; vgl. Christiane Barz (Hrsg.), Fontane in Brandenburg. Bilder und Geschichten, Berlin 2019. 3 Vgl. Andreas Kitschke, Italien in Potsdam. Ein Spaziergang durch Potsdam und den Park von Sanssouci. Hrsg. vom Verein »Il Ponte«, Potsdam 2001. – Siehe ferner: Max Kunze (Hrsg.), Italien in Preußen, Preußen in Italien, Stendal 2006. – Schon vor mehr als hundert Jahren beschäftigte sich Friedrich Krüner im Verein »Brandenburgia« in Vorträgen mit den Themen »Italiener in der Mark« und »Märker in Italien«; vgl. Elisabeth Lemke, Italiens Pflanzenwelt in Berlin. In: Brandenburgia. Monatsblatt der https://doi.org/10.1515/9783110735710-002

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Grenzüberschreitungen und Wiederholungen gewesen sein, die Fontane bei dem nicht ausgeführten Versuch einer Potsdam-Beschreibung zu folgendem Vergleich veranlasste: […] von welcher Seite her man auch vorgehn mag, landschaftlich, architektonisch, historisch – es bietet dem Auge nichts Neues mehr. Nichts Neues mehr und doch immer der alte Zauber, und in derselben Weise, wie der junge Künstler, wenn er hinaustritt in die Campagna und am östlichen Horizont die fernen Linien des Albaner-Gebirges sich hinziehen sieht, alle Vorsätze vergißt und das 1000mal in Strichen Festgehaltene doch zum 1001. Mal in sein Skizzenbuch zeichnet zu seiner und andrer Freude, so versuch auch ich das 100mal Beschriebene aufs neue zu beschreiben, in der stillen Hoffnung: so war es noch nie ...4

Als Fontane diese Sätze schrieb, 1869/70, hatte er Italien noch nicht gesehen,5 aber er glaubte zu wissen, was vor sich geht, wenn ein »junger Künstler […] hinaustritt in die Campagna«. Obwohl er eine tausendfach gezeichnete, gewissermaßen überzeichnete Landschaft vor sich hat, erliegt er dem Drang zur Wiederholung.6 In diese mischt sich – so jedenfalls Fontane, der sich einem vergleichbaren Problem bei der Beschreibung Potsdams ausgesetzt sieht – die »stille Hoffnung«, trotzdem etwas Unverwechselbares, Authentisches aufs Papier zu bringen. Das Problem, das der Schriftsteller mit Potsdam hat, stellt sich dem »junge[n] Künstler« zugespitzt in der Campagna. Hier nimmt es eine Dimension an, die exemplarische Bedeutung hat. Man erkennt an diesem kleinen Beispiel unschwer, dass der als Folge der Postmoderne ausgemachte Diskurs über »Authentizität und Wiederholung«7 tatsächlich so alt wie das 19. Jahrhundert ist. Insbesondere die Schwesterkünste Malerei und Literatur sahen sich mit diesem Paradox konfrontiert, da sie auf die technisch beschleunigten Prozesse der Verbildlichung und Verschriftlichung naher und ferner Länder, Lebenswelten und Landschaften reagieren mussten. Meist war schon etwas in der Welt, ein Bild oder Text, und dieses Vor-Bild oder dieser Prätext zog dann notwendigerweise Wiederholungen nach sich, die freilich die Hoffnung auf etwas Authentisches begleitete. Auch kulturelle Wahrnehmungen unterlagen diesem Paradox, besonders wenn es Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin 15 (1906–1907), S. 34–48, hier S. 34. 4 GBA V/6, S. 192. Hervorhebungen im Original. 5 Vgl. Dieter Richter, Fontane in Italien. Mit zwei Stadtbeschreibungen aus dem Nachlass, Berlin 2019. 6 Es war übrigens der aus Prenzlau in der Uckermark stammende Jakob Philipp Hackert (1737–1807), der die Landschaft der »Campagna Romana« für die Kunst entdeckte; Fontane hat ihm nur wenig Interesse entgegengebracht. 7 Vgl. Uta Daur (Hrsg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013.



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um das oft bereiste,8 viel beschriebene und in zahlreichen Bildern zirkulierende Italien ging.

Italienische Grenzüberschreitung: real, verbal, medial Nach seiner zweiten italienischen Grenzüberschreitung jenseits von Bellinzona und Locarno über den nördlichen Teil des Lago Maggiore Anfang August 1875 schrieb Fontane an seine Frau Emilie: »Da wären wir also wieder unter italienischem Himmel! Die durch Pietsch so berühmt gewordenen ›Nußbaum- und Kastanien-Alleen die sich vom dunklen Hintergrund der Berge abheben‹ sind wieder um mich her, und auch die Weinguirlanden ziehen sich von Baum zu Baum. Alles echt und vorschriftsmäßig«.9 Im Juli 1874 hatte der Schriftsteller und Maler Ludwig Pietsch für die Vossische Zeitung aus Italien berichtet.10 Fontane war in der »Vossischen« als Leser ›mitgereist‹. Daher fand er Italien ein Jahr später wie ,vor-geschrieben‘, eben »echt und vorschriftsmäßig« mit Himmel, Alleen, Bergen und »Weinguirlanden« wieder. Nichts anderes vermerkte der »Baedeker« noch Jahrzehnte später: »[…] durch reich belaubte Landschaft (Nuß- und Kastanienbäume)«.11 Ironischer als in der Formel »echt und vorschriftsmäßig« ließ sich das Paradox von »Authentizität und Wiederholung« nicht umschreiben. Bereits die bevorstehende Reise mit Emilie ein Jahr früher, von Ende September bis Ende November 1874, hatte Fontane als eine »Wiederholung« empfunden, da er, wie er an den Schriftstellerkollegen Paul Lindau schrieb, »als L[udwig] P[ietsch] II nach Rom und Neapel gehen soll. […] Ich werde seinen Spuren folgen, aber nur in Italien, nicht in den Spalten der Vossin«.12 Eine Reisebeschreibung war nach dieser Erklärung von ihm nicht zu erwarten, er hat 8 Im selben Jahr, als Fontane seine Sommerreise nach Italien unternahm, bot etwa »Riesel’s Reise-Comtoir« in Berlin, Spittelmarkt 13, eine 16-tägige Pflingstpauschalreise ab 14. Mai 1875 als »Gesellschaftsreise nach Venedig, Verona, Mailand, ComoLugano« an, die über »See und Lago Maggiore, Innsbruck, Salzburg [nach] Berlin« zurückführte. Sie sollte 400 Mark kosten inkl. Verpflegung und Führung, Eisenbahn 2. Kl. und Dampfboot 1. Kl. In: National-Zeitung (Morgen-Ausgabe) 28/205 (5. Mai 1875). 9 Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S.  39–44, hier S.  39. In Kursiv meine Hervorhebungen. 10 Fontane paraphrasiert in dem zitierten Brief an Emilie Passagen aus L.[udwig] P.[ietsch], Hochsommer in Italien. II. Chiavenna, 5. Juli Morgens. In: Dritte Beilage zur Vossischen Zeitung 160, Sontag [sic!] (12. Juli 1874), S. [2–3], hier S. [3]. 11 Karl Baedeker, Oberitalien mit Ravenna, Florenz und Livorno. Handbuch für Reisende, Leipzig 1906, S. 8. 12 Theodor Fontane an Paul Lindau, HFA IV/2, S. 473–474.

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sie auch nicht gegeben; vielleicht um Wiederholungen zu vermeiden. Noch in Fontanes letztem Roman erklärt Armgard von Stechlin in ihrem Brief aus Rom: »Von Rom zu schwärmen ist geschmacklos und überflüssig dazu, weil man an die Schwärmerei seiner Vorgänger doch nie heranreicht.«13 Grenzüberschreitungen sind meist mit einem Wechsel verbunden: vom Eigenen zum Fremden, vom Bekannten zum Unbekannten, vom Vertrauten zum Unvertrauten. Wann aber wird eine tatsächliche Grenzüberschreitung gar nicht mehr als solche empfunden? Wenn das, was bei einer Grenzüberschreitung erlebt oder wahrgenommen wird, nichts Fremdes oder Unbekanntes mehr hat; wenn es dem vertrauten Bild so vollkommen entspricht, dass sich keine »Ueberraschung« einstellt. »Der See«, bemerkte Fontane nach fünf- bis sechsstündiger Bootsfahrt über den Lago Maggiore, »sieht gerade so aus, wie er gemalt zu werden oder selbst in Oelfarbendruck zu erscheinen pflegt. Jede Ueberraschung die so viel thut, fällt weg.«14 Bewirkt wurde dieser Effekt nicht zuletzt durch Fortschritte der Drucktechnik und den Aufschwung der Kunstindustrie. Der »Oelfarbendruck« stellte eine hochentwickelte Reproduktionstechnik dar, die den Eindruck eines gemalten Bildes hervorrief und deshalb besonders ›authentisch‹ wirkte. Sie täuschte die ›Authentizität‹ eines Gemäldes vor – das seinerseits oft ebenso wenig ›authentisch‹ war, da es lediglich die gewohnte Ansicht wiederholte (»wie er [der Lago Maggiore] gemalt zu werden oder selbst in Oelfarbendruck zu erscheinen pflegt«). Im Nachsatz verallgemeinerte Fontane seine Aussage: »Ueberhaupt kann man von Italien sagen es sei ›abgemalt‹, wie Lieder abgesungen werden«. Das steigere zwar die Popularität, »vielleicht auch den Ruhm«, vermindere jedoch den Reiz. »Alles Schönste muß rar bleiben, muß als beglückende Ausnahme empfunden werden. Je gekannter, je trivialer; nicht immer, nicht notwendig, aber die Gefahr ist da«.15 Trivialisierung stellt sich als eine erwartbare Folge massenhafter Medialisierung dar, der Wahrnehmung des Landes im Zuge medienvermittelter Erfahrung. ›Gekannt‹ war das Land in dem Ausmaß nicht durch individuelle Wahrnehmung und eigene Erfahrung, sondern durch die Menge der Bilder,16 13 GBA I/17, S. 400. 14 Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S. 45–51, hier S. 45. 15 Ebd. 16 Was in Deutschland in der ersten Hälfte der 1860er Jahre an Italien-Bildern verstorbener Maler vorhanden war, kann der Zusammenstellung von Gustav Parthey (1798– 1872), der in Berlin die Nicolaische Verlagsbuchhandlung leitete und kunsthistorische Studien betrieb, entnommen werden: G.[ustav] Parthey, Deutscher Bildersaal. Verzeichniss der in Deutschland vorhandenen Oelbilder verstorbener Maler aller Schulen in alphabetischer Folge zusammengestellt. 2 Bd., Berlin 1863–1864 (1. Bd.: A–K, 2. Bd. L–Z).



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von denen wiederum eine stets wachsende Zahl der Reproduktion unterlag. So hatte der »Oelfarbendruck« seine große Zeit zwischen 1850 und 1880. Wegen seiner täuschenden Oberflächenstruktur war er vom Original kaum mehr zu unterscheiden. Als Fontane seine Italienreisen unternahm, hatte sich Berlin zu einem Hauptort dieses florierenden Zweiges der Kunstindustrie entwickelt. »Der Aufschwung der Oeldruck-Fabrikation in Berlin wirkt nicht allein in materieller Beziehung erfreulich auf den allgemein geschäftlichen Verkehr, sondern ist ganz besonders dazu geeignet und bestimmt, der Berliner Kunstindustrie einen ehrenvollen Namen in der ganzen civilisirten Welt zu begründen«.17 Auflagen bis 50 000 wurden erreicht. Auf einer »Ausstellung von Arbeiten der vervielfältigenden Künste im Bayrischen Gewerbemuseum zu Nürnberg 1877« wurde der »Lago maggiore mit der isola bella nach Ben[n]eckenstein« gezeigt.18 Möglich, dass Fontane diesen Druck vor seiner Italienreise 1875 gesehen hatte; denn die Kunstanstalt, die ihn nach einem Gemälde des Berliner Malers Hermann Benneckenstein (1839–1890) hergestellt hatte, war die 1865 gegründete »›Germania‹, Verein für Oelfarbendruck«, Lindenstraße 93a, die dort auch eine »permanente Ausstellung von Oelfarbendruck=Gemälden« zeigte.19 Protektor des Vereins, der sogar Anzeigen im Vorfeld der Wiener Weltausstellung 1873 schaltete,20 war Prinz Friedrich Karl von Preußen, seine Mitgliederzahl belief sich noch 1895 auf 1300. Das gibt eine ungefähre Vorstellung davon, in wie vielen bürgerlichen Häusern Berlins dieser »Lago maggiore« zu Lebzeiten Fontanes an der Wand hing. Ein derart »abgemaltes« Italien ließ dann Grenzüberschreitungen kaum mehr als solche erfahren, zumal weitere Ansichten des Landes ebenfalls in »Oelfarbendruck« zirkulierten.21

17 Cl. [?], Charakteristik der Industrie Berlins. II. In: Deutsche Monatsschrift. Zeitschrift für die gesammten Culturinteressen des Deutschen Vaterlands 1 (1873), S. 134–147, hier S. 144; siehe auch ebd., S. 141–144. 18 Ausstellung von Arbeiten der vervielfältigenden Künste im Bayrischen Gewerbemuseum zu Nürnberg 1877, Katalog, Nürnberg 1877, S.  144: »Germania, OelfarbendruckVerein, Berlin (C. Siber). / 1067 Lago maggiore mit isola bella nach Beneckenstein« (Hervorh. im Orig.). 19 Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1876. Unter Benutzung amtlicher Quellen redigirt von A. Ludwig. Hrsg. von der Societät der Berliner Bürger-Zeitung, VIII. Jg., Berlin 1876, S. 254. 20 Beilage zur Wiener Weltausstellungs=Zeitung 2/72 (31. August 1872). 21 Vgl. z.  B. G. Nieberle, Illustrirter Katalog der Kunstanstalt für Oelfarbendruck […], München 1874, S. 85 (Adalbert Waagen), 86 (Albert Gustav Schwartz), 88 (Adalbert Waagen und Hermann Ludwig Seefisch).

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Überblendung als Überschreitung: Annäherung an Italien Fontanes eher beiläufige Italien-Bemerkungen stellen sich bei näherem Hinsehen als seismographische Reaktionen auf Medialisierungsprozesse dar. Da er für Impulse der visuellen Kommunikation außerordentlich empfänglich war und über ein ausgeprägtes Bildgedächtnis verfügte,22 fielen sie bei ihm trotz Beiläufigkeit besonders prägnant aus. Dank seines in Ausstellungen trainierten visuellen Gedächtnisses23 stellten sich bei ihm darüber hinaus Überblendungen real wahrgenommener durch mental abgespeicherte Landschaften ein, wie hier bei der Stadtlandschaft von Emden: »Ein halbes Dutzend rothbraune Giebel, mit einer Thurmspitze dazwischen, kucken mir über einen Hof hinweg […] ins Fenster […]. Beständig treten mir die Andreas Achenbachschen Ostende-Bilder vor die Seele«.24 Wird Überblendung im Film als kontinuierlicher Übergang von einer Einstellung oder Szene zur anderen verstanden, so tritt sie bei Fontane als kontinuierlicher Übergang vom gesehenen zum erinnerten, imaginierten Bild in Erscheinung. Er wendet die Überblendung in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg zudem als ein ästhetisches Verfahren an, um der gegenwärtig wahrgenommenen Landschaft der Müggelberge durch die Überblendung mit Carl Blechens »Semnonenlager« die visionär gefärbte Tiefendimension einer geheimnisvollen Vorzeit zu verleihen.25 Dieses Verfahren der Überblendung lässt sich in einem weiteren Sinn auch als mediale Grenzüberschreitung verstehen, als Überschreitung oder Transzendierung der realen durch eine imaginierte Landschaft. Sie ist bei Fontanes Annäherung an Italien vor seinen Italienreisen nicht zu übersehen. Als er sich auf der Bahnrückreise aus französischer Kriegsgefangenschaft befand – es war der 2. Dezember 1870 – wäre er in Unkenntnis der Strecken-

22 Vgl. Christoph Wegmann, Der Bilderfex. Im imaginären Museum Theodor Fontanes. Hrsg. vom Theodor-Fontane-Archiv, Berlin 2019. 23 Vgl. Hubertus Fischer, Musée imaginaire: Fontanes Gemäldegalerie. In: Studia Germanica Posnaniensia XXXVII: Leben in ›Bedeutungen‹. Festschrift für Professor Czesław Karolak zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Andrzej Denka und Magdalena Kardach, Poznań 2016, S. 109–120. 24 Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S.  219–221, hier S.  219. – Vgl. Ders., Andreas Achenbach. In: Männer der Zeit. Biographisches Lexikon der Gegenwart. Mit Supplement: Frauen der Zeit, Leipzig 1862, Spalte 333–334. 25 Vgl. Hubertus Fischer, Fontane, Landschaft, Kunst. In: Ders., Götz Lemberg und Roland Berbig, Fontanes Brandenburg. Konstruierte Wirklichkeit. Das Lesebuch zum Bildband »Brandenburg-Bilder«, Berlin 2019, S. 119–128, hier S. 122.



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führung »fast bis nach Italien hinein«26 gefahren. Diese unfreiwillige italienische Grenzüberschreitung hätte einen unvorhersehbaren und wohl nicht ganz unbedenklichen Ausgang genommen. In jedem Fall wäre es eine unliebsame »Ueberraschung« gewesen, sich unversehens auf italienischem Territorium wiederzufinden. Einen Monat früher, auf der Eisenbahnfahrt von Lyon nach Poitiers, konnte er dagegen sicher vor derartigen Überraschungen sein und mit einiger Sorgfalt Phänomene in der Landschaft registrieren, die er als Annäherung an »Italien, de[n] Süden« empfand: Am Jura hin. Die Landschaft anmuthig, nicht bedeutend, nur die Flußwindungen und Ufer sehr hübsch. Schloßartige Gehöfte, viele einzelne Pappeln als Gruppe. Das Gothische hört ganz auf, Italien, der Süden fangen an sich bemerklich zu machen. Etwa halben Wegs, vor Bourges wird die Landschaft schöner, Veduten, Claude Lorrain.27

Italien und der Süden kündigen sich ihm in landschaftlichen und architektonischen Übergängen an, im Verschwinden des »Gothischen« und dem Heraufziehen schöner »Veduten«. In der bildenden Kunst, Fontane verstand sich auf sie,28 wird unter »Vedute« die wirklichkeitsgetreue Darstellung einer Landschaft, einer Stadt etc. verstanden. Seine Annäherung an Italien ist deutlich kunstindiziert und mündet hier in die Überblendung der Reallandschaft durch die Ideallandschaft Claude Lorrains. Dass am Ende gerade dieser Name fällt, zeigt zugleich, wie sehr Fontane noch im Bann der Landschaften dieses bewunderten Meisters aller Landschaftsmalerei stand. »Claude Lorrain« fungiert als eine Chiffre für ein geahntes, von heiterer Stimmung erfülltes Italien arkadischer und pastoraler Landschaften in goldenem oder silbernem Licht, das freilich in ziemlicher Ferne lag – ein mehr oder weniger entrücktes Sehnsuchtsland. Dass Fontane Landschaften in Form von »Veduten« wahrnahm, hatte indes, wie mit der Kunst, auch mit der modernen Art des Reisens zu tun. Die Eisenbahnreise bot ihm die Landschaft durch den Blick aus dem Fenster als eine bereits gerahmte ›Ansicht‹ oder ›Aussicht‹ (italienisch veduta) dar. In dieser ›Aussicht‹ tauchten dann Landschaften auf, die je nach Reisegeschwindigkeit in langsamen oder schnelleren Fließbewegungen an ihm vorüberzogen. Dadurch wurden Übergänge und Wechsel im Landschaftsbild wahrnehmbar.

26 Theodor Fontane, Notizbuch D6 beta. In: Ders., Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition. Hrsg. von Gabriele Radecke, Blatt 32v, https://fontane-nb.dariah.eu/index.html, zuletzt aufgerufen am 31.08.2020. 27 Ebd., Blatt 50v, https://fontane-nb.dariah.eu/index.html, zuletzt aufgerufen am 31.08.2020. Hervorhebungen im Original. 28 Vgl. Carmen Aus der Au, Theodor Fontane als Kunstkritiker, Berlin 2017.

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In Italien selbst, und darauf wird sogleich einzugehen sein, wirkte sich die Eisenbahnreise in anderer Weise auf seine Landschaftswahrnehmung aus. Wir kommen noch einmal auf die Überblendung zurück. In Kriegsgefangen, wo man dergleichen vielleicht am wenigsten erwartet, setzte Fontane wiederum dieses Verfahren ein, um am Ende eines umsichtig aufgebauten Landschaftsbildes einen Claude-Lorrain-Effekt zu erzielen. Bewusst spielte er erst nach dem »fernen Horizont« und dem »Ball der Sonne« die Überblendung der Landschaft durch die »weitgedehnten Veduten Claude Lorrains« ein. Dadurch rief er bei seinen Lesern jenen Gegenlicht-Effekt in Erinnerung, der für die Landschaften dieses Malers charakteristisch war, »[…] indeed in the case of his sunrise and sunset scenes«.29 Das funktionierte aber nur, weil Autor und Publikum dieselbe Bilderwelt teilten. Wir hatten die Jura-Kette blau und duftig zur Linken, nach rechts hin dehnte sich ein Flachland, eine fruchtbare Niederung, von Waldstreifen und kleinen Höhenzügen coulissenartig durchzogen. Am fernen Horizont, nach eben dieser Seite hin, hing der gelbglühende Ball der Sonne und lieh allem ein entzückendes Licht; es war als sähe man in eine der weitgedehnten Veduten Claude Lorrains. 30

Fontanes Annäherung an Italien, den »Süden«, ist, so dürfen wir folgern, nicht zuletzt eine kunstvermittelte Annäherung über Landschaftsbilder, seit er 1852 in London mit den Bildern Claude Lorrains bekannt geworden war. Die National Gallery wurde für ihn darüber hinaus dank Bellini, Canaletto, Correggio, Michelangelo, Raffael, Reni und Tizian zu einer Vorschule italienischer Kunstbetrachtung. Dieses imaginäre Kunstitalien vor seinen Italienreisen belebte gelegentlich seine Phantasie, wenn er beispielsweise in Ein Sommer in London über Lady Hamiltons ›Beheimatung‹ in Neapel schrieb: »Italien war der geeignete Schauplatz für die volle Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Hier erwachte sie erst; hier war sie in der Heimat ihrer innersten Natur«.31 Angelesenes und wohl auch Bildern Abgeschautes aus südlichen Lebenswelten flocht er ganz nebenbei 1860 in Jenseit des Tweed in Alltagsbeobachtungen aus Edinburgh ein, als hätte er nicht nur einmal Italiens Grenzen überschritten und sei durch »italienische Städte« geschlendert: In den Mittagsstunden und beim Dunkelwerden […] gesellt sich zu diesem Tages- und Geschäftsverkehr noch eine andere Art von öffentlichem Leben, das, soweit ich es kenne, in dem nördlichen Europa nichts Gleiches hat und durchaus an das Treiben italienischer Städte erinnert. Die Buntheit, die Heiterkeit des Südens fehlt, aber das Stehen und Schwatzen vor den Türen ist

29 Humphrey Wine, Claude: The Poetic Landscape, London 1994, S. 13. 30 Theodor Fontane, Kriegsgefangen. Erlebtes 1870, HFA III/4, S. 543–689, hier S. 590. 31 Theodor Fontane, Ein Sommer in London, HFA III/3/1, S. 543–689, hier S. 590.



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allgemein und geht rasch in jenes stille, behagliche Auf und Ab, in jene mußevolle Bewegung über, die kein Ziel verfolgt und sich selber Zweck ist.32

Die Zahl der Genrebilder mit italienischen Straßenszenen war schon um diese Zeit Legion. Fontanes Italien vor Italien harrt der Erschließung;33 sie müsste die Wanderungen ebenso einbeziehen wie die Kunstkritiken und die »Unechten Korrespondenzen« für die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. Wer in ein anderes Land reist, reist mit bestimmten Bildern, Vorstellungen und Einstellungen in dieses Land. Sie hatten sich bei Fontane nach seiner Londoner Zeit noch vielfach erweitert durch Kunstbegegnungen in Museen, Salons und Ausstellungen, durch Zeitungs- und andere Lektüren sowie durch die Politik (Risorgimento), bevor er seine erste Italienreise antrat. Man kann aber wohl sagen: Was im verklärten Licht Claudes in London begann, endete in einer Ernüchterung. An den englischen Arzt und Korrespondenzpartner seiner späten Jahre, James Morris, den er ebenfalls 1852 in London kennengelernt hatte, schrieb er ein Jahr vor seinem Tod: Italien ist halb entzaubert (mit Ausnahme der Riviera), weil man die Hitze, die Moskitos, die Malaria und die Bettelei nicht mehr aushalten mag, und weil sich der Bourgeois – und der wirklich Gebildete erst recht – nachgerade eingesteht, daß er von Kunst doch nichts versteht, auch wenn er dreitausend Bilder noch so beharrlich angeglotzt hat.34

Das ist zweifellos eine scharfe Überzeichnung; sie dient als Begründung dafür, »daß der Zug nach dem Norden, der sich dann oft bis nach Skandinavien hin ausdehnt, immer größer wird«.35 Wichtiger als die »Moskitos« waren für diesen wachsenden Zug jedoch die ab 1889 alljährlich unternommenen Nordlandreisen Kaiser Wilhelms II.; sie lösten nicht zuletzt infolge ihrer medialen Verstärkung durch Buch, Bild und Zeitung einen regelrechten Skandinavienboom vor der Jahrhundertwende aus.36 Das hatte dann eine Abkühlung des Interesses am Reiseland Italien zur Folge. Fontanes Italien-Äußerungen soll32 Theodor Fontane, Jenseit des Tweed, HFA III/3/1, S. 207-208. 33 Vgl. Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo, Fontane und Italien. In: Dies. (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011, S. 7–9, hier S. 8. 34 Theodor Fontane an James Morris, HFA IV/4, S. 657–658, hier S. 658. Hervorhebungen im Original. 35 Ebd., S. 657‒658. 36 Vgl. Paul Güssfeldt, Die Nordlandreisen des Kaisers. In: Georg W. Büxenstein (Hrsg.), Unser Kaiser. Zehn Jahre der Regierung Wilhelms II. 1888–1898, Berlin 1898, S. 323– 334; Birgit Marschall, Reisen und Regieren. Die Nordlandreisen Kaiser Wilhelms II., Heidelberg 1991; Stefan Gammelien, Kaiserliche Nordlandfahrten. Die Reisen Kaiser Wilhelms II. nach Skandinavien. In: Sonja Kinzler und Doris Tillmann (Hrsg.), Nordlandreise. Die Geschichte einer touristischen Entdeckung. Historien om oppdagelsen av turistmålet Norge, Hamburg 2010, S. 68–83.

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ten daher nicht immer für ›letzte Bekenntnisse‹ genommen werden, Kontext und Adressatenorientierung wollen bei brieflichen Äußerungen angemessen berücksichtigt sein. »Ernüchterung« dürfte für Fontanes Einstellungswandel jedoch eine angemessene Bezeichnung sein; sie stellte sich schon als Resultat seiner ersten Italienreise 1874 ein.

Serialität der Landschaftsbilder und Eisenbahnfahrt Nachdem Fontane bei dieser Reise mit Emilie die Grenze per Bahn hinter sich gebracht hatte – »Frierend fuhren wir in das schöne Land Italia hinein. Es goß mit Mollen«37 – und auf der Fahrt von Florenz nach Rom war, machte er eine geradezu filmische, über Stunden andauernde Langzeiterfahrung. Die vorüberziehende Landschaft am Apennin stellte sich ihm als eine serielle Folge ein und desselben Bildes, nämlich jenes Anfangs- oder Ausgangsbildes dar, das sich ihm gleich zu Beginn der Bahnfahrt mit Florenz und Fiesole geboten hatte. Zwar gab es Modifikationen des Bildes, sie hoben aber zu keinem Zeitpunkt den Eindruck von Wiederholungen auf: Diesem Bilde entsprechend bleibt nun 8 Stunden lang die Fahrt. Die Unterschiede sind nicht sehr erheblich. Der Apennin läuft in hoher, kahler Kette zur Linken und stellt zwei, drei Reihen von Vorbergen in seine Front. Die vordersten Berge die niedrigsten. Auf diesen liegen die Kastelle, die Flecken, die Städte. Ein Kastell, ein Kloster, eine Kirche krönt meistens die Spitze, während die Ortschaften selbst mal höher mal tiefer am Abhang liegen und entweder in einer einfachen Schräglinie in der Flanke des Berges oder in Terrassen in der Front desselben aufsteigen.38

Was objektiv geschieht, ist die fortschreitende »Vernichtung des Raumes durch die Zeit«,39 die sich aber für den Reisenden als fortschreitende optische Verdichtung des Raumes darstellt. Die beschleunigte und überwiegend gleichförmige, lineare Bewegung durch das Transportmittel Eisenbahn erzeugt erst die Serialität des Landschaftsbildes, als wiederhole es sich »8 Stunden lang«. Für einen Fußgänger oder Wanderer nähme sich dieselbe Landschaft aufgrund geh- und geländebedingt anderer Bewegungen und Wahrnehmungen im Raum entsprechend anders aus. Sie liefe an ihm nicht in »Kette« und »Reihen« vorüber und zeigte ihm auch nicht von Anfang bis Ende im Wesentlichen das eine Bild, die 37 Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöller, HFA IV/2, S. 474–475, hier S. 474. 38 Theodor Fontane, Notizbuch C8 beta. In: Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition, Blatt 52v–53r, https://fontane-nb.dariah.eu/index.html, zuletzt aufgerufen am 31.08.2020. 39 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf ) 1857–1858, Berlin 1953, S. 423.



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eine Ansicht, die nur wenig ihre Gestalt ändert – »mal höher mal tiefer«, »in einfacher Schräglinie […] oder in Terrassen«. Bei Fontane, so scheint es, befördert die Eisenbahnfahrt außerdem die visuelle Aufnahme der Landschaft nach ihrer tektonischen und architektonischen Gestalt. Wie sehr er bei dieser Aufnahme dann bildanalog verfährt, zeigt sich in der Betonung der konstitutiven Elemente eines jeden Bildes: »Linien« und »Farben«. Trotz des schönen und gelegentlich außerordentlich schönen Scheins, den sie verbreiten, hat das Ganze etwas Unwirtliches, Abweisendes, was den Wunsch nach Nähe oder einem Aufenthalt gar nicht erst aufkommen lässt. Die Häufung von Pulsiven: »kahle Kette«, »Kastell«, »Kloster«, »Kirche krönt«, tut ein Übriges, zumal das »Heruntergekommene«, der »Eindruck des Kahlen« und das apodiktische »Keinen Augenblick« die Repulsion noch unterstreichen. Wandern, eine Herberge suchen würde der Reisende dort um nichts in der Welt: Die Linien sind von außerordentlicher Schönheit, mitunter (namentlich gegen Abend) auch die Farben; im Ganzen hat man aber doch, ganz abgesehen von dem Verfallenen und Heruntergekommenen, auch den Eindruck des Kahlen, Verbrannten, Ungemüthlichen. Es heimelt nicht an. Keinen Augenblick hab ich die Empfindung gehabt: ›hier möchtest Du auch nur 24 Stunden sein.‹40

Wird die Formulierung »filmisch« als zu modern oder anachronistisch empfunden, so erhält sie durch Fontanes Äußerung eine gewisse Berechtigung. Das Resümee seiner Reise von Florenz nach Rom lautet: »Es ist gerade gut genug zum Vorbeifahren, zum Mit-Nachhausenehmen von einem Dutzend Oswald Achenbachs«.41 Ein Unternehmen, bei dem man über Stunden einzig und allein bewegte Bilder schaut, ist von einem Filmerlebnis nicht mehr prinzipiell unterschieden. In diesem Fall nimmt das Auge nicht nur eine ganze Serie von »Oswald Achenbachs« wahr, es fungiert auch wie eine Kamera: Die aufgenommenen Bilder nimmt der Reisende mit nach Haus. Wir kommen darauf zurück. Fontane sieht die Landschaft am Apennin, um ein Wort Gadamers aufzunehmen, »mit durch die Kunst erzogenen Augen«.42 Sein Blick unterliegt jener medienvermittelten Wahrnehmung, deren Tendenz zur Trivialisierung er ein Jahr später, bei der Fahrt über den Lago Maggiore, kritisch anmerkte. Genau genommen kündigt sich diese Tendenz bereits in der Wendung von einem »Dutzend Oswald Achenbachs« an. Der Maler selbst hatte dem Vorschub 40 Fontane, Notizbuch C8 beta, Blatt 53r. 41 Ebd. Vgl. Fontane, Oswald Achenbach. In: Männer der Zeit, Spalte 334‒335. 42 Hans-Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977, S. 41.

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geleistet. Dieser jüngere Bruder Andreas Achenbachs war der gesuchteste deutsche Italienmaler seiner Zeit,43 der ungewöhnlich rasch ›produzierte‹. Fontane zählte ihn zu den »allerproductivsten Künstlern, und seine Bilder, die in weiten Kreisen sehr geschätzt und gesucht werden, folgen mit unglaublicher Schnelligkeit auf einander«.44 Dazu nahm Achenbach auch Fotografien als Vorlagen zu Hilfe.45 Aufgrund sich wiederholender Bildformeln oder nur leicht variierter Bildmuster verdichtete sich in seinem Schaffen das Paradox von »Authentizität und Wiederholung«, so dass ihm Kunstkritiker seit den 1860er Jahren vorwarfen, er würde Motive »totmalen«.46 Nicht zufällig koppelte Fontane daher die Serialität des Landschaftsbildes an ein »Dutzend Oswald Achenbachs«.

Grenzen des Sichtbaren: mentale und ästhetische Überschreitung Die Landschaft am Apennin, auf achtstündige Dauer gestellt, verlangte Fontane zufolge ein Transzendieren, um ihren Reiz zu steigern. Der ›Film‹, das Optische allein konnte es nicht sein. Im ersten Schritt war die Grenze des bildlich Sichtbaren zu überwinden und die Landschaft durch Wissen zum Sprechen zu bringen. Das Visuelle wird also mental transzendiert, die Landschaft in eine klassische Bildungslandschaft transformiert, so dass sie, wie ein aufgeschlagenes Buch, Seite um Seite von der Geschichte des Landes erzählt. Je größer das einschlägige Wissen des Reisenden, desto intensiver das Erlebnis der Landschaft, die ihm jetzt von Namen, Taten, Dichtung, Kunst, Geschichtsschreibung und menschlichen Dramen spricht. Je mehr der Reisende weiß, je besser er die römische und die italiänische Geschichte kennt, desto entzückter und bewegter wird er auf eine Landschaft blicken, die von 100 Schritt zu 100 Schritt ihm wenigstens einen berühmten Todten herausgiebt. Hier focht Hannibal, hier fiel Flaminius, hier dichtete Properz, hier malte Perugino, hier wurde Tacitus, hier Lucretia Borgia geboren. So geht es endlos weiter.47

43 Vgl. Mechthild Potthoff, Oswald Achenbach. Sein künstlerisches Wirken zur Hochzeit des Bürgertums. Studien zu Leben und Werk, Köln/Berlin 1995; Martina Sitt (Hrsg.), Andreas und Oswald Achenbach. »Das A und O der Landschaftsmalerei«. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Düsseldorf, Köln 1997; Ralf Kern, Oswald Achenbach: Ein Maler malt Italien, Münster 2009. Siehe schon: Walter Cohen, Oswald Achenbach in Italien und daheim. In: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur 32 (1916–1917), S. 41–46. 44 Fontane, Oswald Achenbach, Spalte 334–335. 45 Vgl. Mechthild Potthoff, Oswald Achenbach und die Photographie. In: Andreas und Oswald Achenbach, S. 179–182. 46 Oswald Achenbach, https://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Achenbach, zuletzt aufgerufen am 31.08.2020. 47 Fontane, Notizbuch C8 beta, Blatt 53r–53v. Hervorhebungen im Original.



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Fontane hatte diese Methode auf kargem Boden, in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, vielfach und mit Erfolg erprobt, die Landschaft nämlich als eine ›sprechende Landschaft‹ nach dem Vorbild der historischen Landschaftsmalerei eines Carl Friedrich Lessing oder Carl Rottmann erlebbar gemacht. »Wer aber weiß, hier fiel Froben, hier wurde das Regiment Dalwigk in Stücke gehauen, dies ist das Schlachtfeld von Fehrbellin, der wird sich aufrichten im Wagen und Luch und Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn«.48 Und doch schien ihm das nicht genug. Vielleicht war es sogar so, dass es in Italien im Unterschied zum weniger geschichtsgesättigten Boden Brandenburgs ein Zuviel des Bedeutsamen gab: Historie gewissermaßen auf Schritt und Tritt: »So geht es endlos weiter«. Das deutet einen Selbstlauf an, der leicht in einen Leerlauf bloßer Namen und Daten umschlagen kann. Nur führt Fontane das nicht näher aus; stattdessen geht er auf die Grenzen der Anziehungskraft ein, die auch dann fortbestehen, wenn Lesbarkeit den »Zauber« der Landschaft erhöht. Wohl kommt bei dieser zweiten, ästhetischen Überschreitung erneut Historie ins Spiel, jetzt aber nicht als Bildungswissen, sondern als »historische oder historisch-romantische Reminiszenz« und damit als Ferment des Poetisch-Geheimnisvollen. Erst dadurch erhalten die sich vor dem Auge des Betrachters ›entrollenden Bilder‹ (sie ›entrollen‹ sich auch wegen der Eisenbahn) eine bestimmte Aura, die Schönheit und Einzigartigkeit in sich birgt. Ich bin der letzte, der die Zauber [Plural!] verkennt, die dadurch einer Gegend erwachsen. Aber bei genauerer Prüfung, empfindet man doch immer wieder, daß es vorzugsweise ein poetischgeheimnißvolles über der Landschaft schwebendes Etwas, die historische oder historisch-romantische Reminiszenz ist, die alle die Bilder, die sich vor uns entrollen, so schön, so einzig in ihrer Art erscheinen läßt. Die Bilder selbst bewirken dies höchstens nur zur kleineren Hälfte.49

Danach genügt es nicht, das Gesehene, die »Bilder«, mit Geschichte aufzuladen, die landschaftliche Natur, wie sie ist, mittels Wissens zum Sprechen zu bringen und ihr auf diese Weise ihre »Zauber« zu entlocken. Die Grenzen von »Natur« und »Geschichte« müssen ein weiteres Mal überwunden werden, um der Landschaft jenes je ne sais quoi zu verleihen, das den Betrachter nicht nur intellektuell anspricht, sondern ihn auch die rätselhafte Poesie der Landschaft erleben lässt. Dann erst ist die entscheidende Stufe erreicht. Das Ergebnis ist die sich selbst transzendierende Landschaft oder das »über der Landschaft schwebende Etwas«, das letztlich nur die Kunst oder das kunstgeübte Auge im Zusammenwirken mit Natur und Geschichte zuwege bringt und so das »Herz erquickt«. 48 HFA II/1, S. 12–13. 49 Fontane, Notizbuch C8 beta, Blatt 53v–54r. Hervorhebungen im Original.

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Hubertus Fischer Natur, Geschichte, Kunst unterstützen sich einander; wer aber einfach auf das angewiesen ist, was die Landschaftsbilder – von denen ich sagen möchte, daß sie einen Architektur-Charakter haben – ihm bieten, der wird, wenn er einigermaßen die Welt kennt und nicht direkt aus Treuenbrietzen nach Perugia versetzt wurde, einräumen müssen, daß es schönere, namentlich aber wohlthuendere, herzerquickendere Gegenden giebt.50

›Landschaft‹ in jenem schwer fassbaren Sinn des »über der Landschaft schwebende[n] Etwas« liegt zum guten Teil im Auge des Betrachters. Eingeübt wurde eine solche Art der Landschaftswahrnehmung nicht zuletzt durch die auf »poetische Gemütsanregung und ›Zeitversinnlichung‹«51 zielenden Landschaften der Düsseldorfer Malerschule, die Fontane gut kannte. Dass die »historische oder historisch-romantische Reminiszenz« die reale Landschaft am Apennin in ähnlicher Weise beleben könnte, erscheint eher unwahrscheinlich. Victor Hehn, den Fontane als Italien-Autor schätzte,52 bemerkte in seinen Reisebildern aus Italien und Frankreich: »In diesem Lande der Gestalt ist die Natur selbst plastisch und architektonisch; auch sie ist nach dem klassischen Prinzip gebildet, sie kennt die unbestimmte, anschauungslose, wortlose Romantik nicht«.53 Fontane sprach den von ihm beschriebenen »Landschaftsbilder[n]« ebenfalls einen »Architektur-Charakter« zu und – im selben Atemzug – die poetische Stimmung ab. Wie konnten die »Landschaftsbilder« ihm da noch jenes »über der Landschaft schwebende Etwas« herausgeben, nach dem er verlangte? Fontanes Auge war an anderen Landschaftsbildern geschult: den englischen, die sich mit Richard Wilson an Claude anlehnten, um dann mit Gainsborough und Turner ganz eigene Wege zu gehen; den deutschen, denen Fontane sowohl in den Landschaften der Düsseldorfer Malerschule als auch in Schinkels historisch-romantischen und Blechens und Böcklins dämonischen Landschaften erhöhte Aufmerksamkeit zuwandte. Das waren »Kunstbegegnungen«, die Fontanes italienischen Reisen 1874/75 vorausgegangen waren; sie schufen Dispositionen, die dazu beitrugen, den realen italienischen Landschaften mit Distanz zu begegnen.

50 Ebd., Blatt 54r. 51 B.[ettina] B.[aumgärtel], Die Anfänge der Landschaftsmalerei – Von der Romantik zum Realismus. In: Dies. (Hrsg.), Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung 1819–1918. Bd. 2, Petersberg 2011, S. [199]. 52 Vgl. Domenico Mugnolo, Theodor Fontanes italienische Reisen im Lichte der Wandlung des deutschen Italienbildes im 19. Jahrhundert. In: Fontane und Italien, S. 141–163, hier S. 155–156. 53 Victor Hehn, Reisebilder aus Italien und Frankreich. Hrsg. von Theodor Schiemann, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1906, S. 190.



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Folgen, Wirkungen, Gestaltungen Im Nachhinein wurde Fontane vollends klar, dass in Italien hauptsächlich sein Auge und sein Bildgedächtnis tätig gewesen waren. Gegenüber Mathilde von Rohr erklärte er unmittelbar nach seiner Rückkehr, dass all die »Herrlichkeit […] nur eben bildartig gesehn und dann in den Kasten der ›Anschauungen‹ hineingetan sein wollte«.54 Das Sehorgan agierte demnach momentartig wie eine mitgeführte Kamera, während die Bilder wie belichtete Platten »in den Kasten« kamen. Zu Fontanes Naturdarstellung wurde bemerkt: »[D]ie technische Vorrichtung ist in die Sichtweise eingegangen«.55 Diese Sichtweise näherte sich tatsächlich dem, was vor einiger Zeit über »Techniken des Betrachters« im Kontext von »Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert« ausgeführt worden ist.56 Sie bezog sich neben Stadtbildern besonders auf Landschaften, die Fontane in aller Regel gleich als »Landschaftsbilder« bezeichnete. Das stark relativierende Urteil über die Landschaftsbilder von Florenz bis Rom bereitete das abschließende Urteil in demselben Brief an Mathilde von Rohr vor: »So schön und herrlich Italien ist, so ist es mir doch ganz unzweifelhaft, daß es durch jugendliche Menschen, namentlich durch die unglückselige Klasse der Maler, noch zu etwas Herrlicherem hinaufgeschraubt worden ist, als nöthig war«.57 Zu den verschiedenen Formen der Überschreitung tritt am Ende die Übersteigerung, die das gebotene Maß hinter sich gelassen hat. Fontane registrierte, wie eingangs bemerkt, dass als Folge massenhafter Bildproduktion und -reproduktion eine schleichende Trivialisierung Italiens eingesetzt hatte; er sah aber auch, dass eine forcierte malerische Idealisierung eine schleichende Desillusionierung nach sich zog. Die hochgespannten Erwartungen, die solche Bilder weckten, waren nachgerade dazu angetan, enttäuscht zu werden. Auffällig ist, dass es »jugendliche Menschen« sind, die dafür verantwortlich gemacht werden. Sie zogen tatsächlich seit Jahrzehnten als Malerschüler nach Italien; insofern war der »junge Künstler, [der] hinaustritt in die Campagna«, selbst schon zu einer ›seriellen‹ Erscheinung geworden.

54 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/2, S. 490–492, hier S. 490. 55 Kurt Weber, ›Au fond sind Bäume besser als Häuser‹. Über Theodor Fontanes Naturdarstellung. In: Fontane Blätter 64 (1997), S. 134–157, hier S. 150. Vgl. Nora Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, Berlin/Boston 2011, S. 72–80, 128–137. 56 Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996. 57 Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/2, S. 490–492, hier S. 491. Hervorhebungen im Original.

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Einer, der bereits als Jugendlicher in Oberitalien war und dann als junger Mann erneut eine Italienreise unternahm, war der erwähnte Oswald Achenbach. Fontane wird vor allem an ihn gedacht haben, als er von der »unglückselige[n] Klasse der Maler« sprach. Achenbach neigte nämlich zur koloristischen Übersteigerung der Realität sowie zu theatralischen Lichtinszenierungen, die seinen italienischen Landschaften ein ideales Aussehen gaben. Seine malerische Virtuosität und sein ausgeprägtes Gespür für die Materialität der Farbe stehen außer Zweifel, aber er beschwor mit seinen Bildern auch eine ›größere Herrlichkeit‹ herauf, als sie dem Italienreisenden guttat. Dem Druck der Wirklichkeit hielten sie auf Dauer nicht stand. Was Fontane 1862 an Achenbachs Bildern lobend hervorhob, trug 1874 in der direkten Begegnung mit der italienischen Landschaft zur Ernüchterung bei: Weder seine Composition noch seine Zeichnung sind ersten Ranges, aber in Behandlung von Farbe und Licht leistet er Außerordentliches, und der Hauch poetischer Stimmung, worin wir den höchsten Reiz und Vorzug aller Landschaftsbilder erkennen, liegt anmuthig über allen seinen Arbeiten.58

»Farbe und Licht«, ins »Außerordentliche« übersteigert, bekamen nun einen Zug ins Unwirkliche, der »Hauch poetischer Stimmung« stellte sich bei den Landschaftsbildern am Apennin gar nicht erst ein. Desillusionierung war die Folge. Produktiv wird diese Erfahrung viele Jahre später in den Romanen. Blicken wir auf Unwiederbringlich: Schloss Holkenäs, dieser Bau »nach italienischen Mustern«,59 sowie die im selben Roman wiederholt anzutreffende Überblendung nördlicher durch italienische Landschaften werden zum Zweck der Illusionierung und Desillusionierung in Szene gesetzt. Letzteres wird dann fast noch eindringlicher in Effi Briest am Urlaubsort Rügen in Form der Aufblendung in eine mondbeschienene Bucht, der Überblendung in eine italienische Landschaft und schließlich der Abblendung durchgespielt: […] und in bester Laune machten beide noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrande hin [Aufblende] und sahen von einem Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein überzitterte Bucht. Effi war entzückt. [Überblendung] »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir.« [Am nächsten Tag] »Und heute keine Spur mehr von Sorrent?« [Abblende] »Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es sterben wollte«.60

58 Fontane, Oswald Achenbach, Spalte 334–335. 59 Theodor Fontane, Unwiederbringlich. Roman. In: Deutsche Rundschau. Hrsg. von Julius Rodenberg, Bd. 66, Berlin 1891, S.  [1]; wir zitieren nach diesem Vorabdruck, in dem der Roman erstmals seine Leser erreichte; er kam in den Bänden 66 und 67 der von Fontane besonders geschätzten Deutschen Rundschau heraus (HFA I/2, hier S. 567). 60 GBA I/15, S. 249.



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Fontane konnte Italien nicht mehr entgehen, so wenig wie seine Romangestalten. Ob es das erinnerte Bild eines Malers oder die Erinnerung an eigene Reiseeindrücke war, ist unerheblich: Als er selbst im Urlaub auf Rügen war, 1884, schrieb er in sein Tagebuch: »Das Leben in Saßnitz eigentlich langweilig […], aber die See- und Landschaftsbilder halten einen schadlos […] Landschaftlich sehr schön, vielfach an Sorrent erinnernd, namentlich in den Hauptlinien; im Detail natürlich alles arm und dürftig.«61 Fontane verfährt in dieser Beschreibung kaum anders als etwa Johann Wilhelm Schirmer, der Landschaftsmaler der Düsseldorfer Schule, in seiner »Italienischen Landschaft«: Ihr »abstrahierender Grundzug« führt unter Überwindung des Detailrealismus zu einem »ruhigen großen Landschaftseindruck«.62 Nur legt sich bei Fontane über die reale eine zweite, aus dem Bildgedächtnis abgerufene Landschaft. Vordergründig ist es derselbe Vorgang wie in Effi Briest, hintergründig wird aber im Roman ein seelisches Drama daraus. Bei Effi bricht nämlich in diese erinnerte Landschaft des Südens ›aus heiterem Himmel‹ die reale Topographie des Nordens ein: »›Und wie heißt das Dorf?‹ ›Crampas‹«.63 Das löst einen Realitätsschock bei ihr aus, der sie aus ihren italienischen Traumbildern reißt. »Capri« und »Sorrent« schrieben sich ihr so leicht in die nächtliche Landschaft vor Rügen ein, weil sie die Illusion nährten, zwischen der Hochzeitsreise mit Innstetten und dem gemeinsamen Rügenurlaub sei nicht viel geschehen. Vielleicht erlag sie auch deshalb beim Anblick der Bucht dieser Illusion, weil ihr neben dem Bild aus eigener Erinnerung eines der »vom Mondschein überzitterte[n]« Capri- und Sorrent-Bilder Oswald Achenbachs ›vor die Seele trat‹. Dessen Bilder gehörten zur Berliner Kunstszene, wie einem anderen Roman, Irrungen, Wirrungen, zu entnehmen ist.64 Sie waren, wie auch Fontanes Leser wussten, im »Gemäldesalon Lepke« Unter den Linden 4a, Ecke Wilhelmstraße, und ab 1885/86 in »Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus« Kochstraße 28/29 zu sehen. In den Romanen, das deutet sich hier an, gestaltet Fontane die Technik der Überblendung, diese mediale Überschreitung einer vor Augen liegenden durch eine imaginierte Landschaft, zu einem subtilen Kunstmittel aus.

61 Tagebucheintrag vom August/September 1884, GBA XI/2, S. 219–220. 62 Henrik Karge, »... erhielt die Praxis der Kunst hier ihr Komplement, die Theorie.« Karl Immermann, Karl Schnaase und Friedrich von Uechtritz als Mentoren der Düsseldorfer Malerschule. In: Düsseldorfer Malerschule, S. [63]–75, hier S. 70. 63 GBA I/15, S. 247. 64 GBA I/10, S. 43.

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Grenzenlose Landschaften Landschaften im Kopf kennen keine Grenzen, sie schließen entfernte Orte und Länder für Augenblicke zusammen: Glücksburg mit Paestum, Sorrent mit Saßnitz, Capri mit Rügen – die Isola Bella mit Potsdam: »Ein Stück Sanssouci, nur mit dem Unterschied, daß der Isola-Bella-Hügel nicht nach einer Seite, sondern nach allen vier Seiten hin terrassirt wurde«.65 Skandinavien oder Italien, Zug nach dem Norden oder Zug nach dem Süden – so stellte sich die Frage nicht immer und an jedem Ort. In einem »Brief aus Schweden« konnte man im Jahr 1840 über Stockholm lesen: »Aber dieses Venedig des Nordens […] übertrifft das Venedig des Südens bei weitem«; es sei, und das war ein Gütesiegel und ein Versprechen, eine »wirklich romantische Stadt«.66 Noch 1858, ein Jahr bevor die Handlung von Unwiederbringlich einsetzt, heißt es: »Die Reisenden nennen es gern das ›Venedig des Nordens‹«.67 Vor diesem Hintergrund gewinnen die Sätze des dänischen Kammerherrn Pentz, durch die Holk von Ebbas Vergangenheit erfährt, atmosphärische Dichte. Stockholm schmeckt nach Lagune; romantische Anmutung und heimliche Gondelfahrten berühren sich mit Décadence und Libertinage – ein Vorgeschmack auf den Tod in Venedig (Gustav von Aschenbach lässt an Oswald Achenbach denken, der Venedig-Bilder wie »Blick auf die Piazetta mit Biblioteca Marciana«, »Abendstimmung vor Venedig« oder »Gondeln und Segelboote auf dem Canale di San Marco« gemalt hat). »Sie kennen die kleinen Boote, die zwischen den Liebesinseln des Mälarsees hin= und herfahren, und da man die Stockholmer Gondolieri so gut bestechen kann wie die venetianischen, so lagen die Motive für des Prinzen Aufmerksamkeit sehr bald offen zu Tage; sie hießen einfach: Fräulein Ebba«.68

Das öffnet jenen erotisierten Assoziationshorizont, für den Holk außerordentlich empfänglich ist, zumal er nicht nur eine »Baupassion«,69 sondern, wie sein Bau »nach italienischen Mustern« zeigt, auch eine Passion für den Süden hat. »›Ich kenne den Süden nicht […] aber er kann nicht schöner sein, als das hier‹«,70 erklärt dagegen Ebba und übt sich auf dem Weg nach Frederiksborg 65 Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S. 46. Hervorhebungen im Original. 66 [Anon.], Ein Brief aus Schweden. In: Der Sammler. Ein Unterhaltungsblatt für alle Stände, 32 (17. November 1840), S. 733–734, hier S. 734. Hervorhebungen im Original. 67 Bayard Taylor, Sommer- und Winterbilder aus Schweden, Lappland und Norwegen, Leipzig 1858, S. 171. 68 Fontane, Unwiederbringlich, Bd. 66, S. 345 (HFA I/2, S. 687). 69 Ebd., S. 2. 70 Ebd., Bd. 67, S. 4.



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angesichs der von grauen mächtigen Wolkenmassen überzogenen Landschaft schon einmal in »ihre romantische Rolle«71 ein. Mit diesen »›ossianischen Anwandlungen‹«72 spielt sie das Spiel von ›Landschaft und Leidenschaft‹ mit Bravour und legt für die »romantische Stadt«, aus der sie stammt, Ehre ein – eine Szene, die einem modernen Melodram entnommen sein könnte.73 Das Kind aus dem »Venedig des Nordens« braucht den Süden nicht für ihre romantischen Eskapaden. Holk hingegen steigert sich nach der Affäre mit Ebba ernsthaft in südliche Landschaften hinein, in Bilder, die rasch alle Grenzen überschreiten und die für ihn immer greifbarer werden: Er malte sich allerlei anheimelnde Bilder aus, wie sie spätestens der nächste Mai heraufführen sollte. Bis dahin mußte Alles geordnet sein; die Hochzeit war festgesetzt […] Und dann kam Dresden und München und dann der Gardasee mit dem Ausfluge nach Mantua […] und dann ging es immer südlicher bis nach Neapel und Sorrent. Da sollte die Fahrt abschließen, und den Blick rechts nach dem Vesuv und links nach Capri hinüber, wollt’ er die quälerische Welt vergessen, und sich selbst und seiner Liebe leben.74

Eher eine Flucht in Routen und Veduten als ein Aufbruch zu neuen Ufern, schließt sich Holk in seine Bilder südlicher Landschaften ein – eine Autosuggestion, die ihn die imaginierte Landschaft als wirklicher als die wirkliche, ihm seit Kindheitstagen vertraute Landschaft empfinden lässt: Ja, in Sorrent! Da war auch eine so prächtige Bucht wie die Flensburger hier, und da schienen auch die Sterne hernieder, aber sie hatten einen helleren Glanz, und wenn dann die Sonne den neuen Tag heraufführte, da war es eine wirkliche Sonne und ein wirklicher Tag. / So kamen ihm die Bilder, und während er sie greifbarer vor sich sah, fluthete das Wasser der Bucht dicht neben ihm, ernst und dunkel, trotz der Lichtstreifen, die darauf fielen.75

Illusionierung und Desillusionierung durch Überblendung von realer und imaginierter Landschaft sind hier ›mit Händen zu greifen‹. Die imaginierte Grenzüberschreitung mit nachfolgender Phantasiereise über den Gardasee und Mantua bis nach Sorrent mündet in die Überblendung der Flensburger Bucht mit jener helleren, dann lichtdurchfluteten Landschaft – und damit in einen Wirklichkeitsverlust (»wirkliche Sonne«, »wirklicher Tag«). Im selben Augenblick bringt sich aber – gegen die Macht der »Bilder« – diese Wirklichkeit wieder »ernst und dunkel« in Erinnerung. Das »Wasser« ist nicht die Flut, aus

71 Ebd. 72 Ebd. 73 Vgl. z. B. John Guillermin, Irrwege der Leidenschaft (Rapture), Melodram, 1965; siehe im ganzen Martin Lefebvre (Hrsg.), Landscape and Film, New York/London 2006. 74 Fontane, Unwiederbringlich, Bd. 67, S. 186 (HFA I/2, S. 782). 75 Ebd.

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dem Holk Vergessen trinkt;76 es ist der Strom, der Dunkles ahnen lässt. Statt Lethe flutet der Acheron, der Fluss des Leides und des Schmerzes. Nach der demütigenden Zurückweisung durch Ebba geht Holk nach Brüssel und Paris, muss dann aber doch den Bann brechen und mit der äußeren, der italienischen Grenze auch seine innere Barriere überwinden, um eben in Sorrent ins Leben zurückzufinden. Lektionen in Liebesdingen müssen zu Ende geführt werden, um heilend zu sein. Nicht zufällig rufen die Romane Sorrent und Neapel als Wegmarken der Handlung auf. Den Golf von Neapel hatte der Autor »in der Seele bewahrt […]. Die Weitgespanntheit des Bogens, die Farbe des Wassers, de[n] Reichtum der Ufer-Einfassung«.77 Davon hat er seinen Figuren einiges mit auf den Weg gegeben. Während ihm im Vergleich mit dem Golf von Neapel und Sorrent das »oberitalische Wasserbecken [des Lago Maggiore] doch nur zweiten Ranges«78 schien, verhielt sich das bei Nietzsche anders. In einem nachgelassenen Fragment (Anfang 1880 bis Sommer 1882) heißt es: Man wird älter, es ist mir schwer mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen. Die bleichsüchtige Schönheit des lago maggiore im Spätherbst, welche alle Linien vergeistigt und die Gegend halb zu einer Vision macht, entzückt mich nicht, aber redet traulich-traurig zu mir – ich kenne dergleichen nicht nur aus der Natur.79

Mehr als ein Hinweis auf eine andere Art des Umgangs mit dieser Landschaft kann das nicht sein; sie schließt aber auch ein anderes Verhältnis zu ihr ein. Zu vergleichen wären Paul Heyses Idyllen von Sorrent, die Fontane gut kannte, auch Heyses Gedicht Lied von Sorrent. Karl Pestalozzi hat vor einiger Zeit den Zusammenhang mit der »Postkarten-Aussicht über den Golf von Neapel« im Stechlin und dem Lied der Sorrenter Fischer »Tre giorni son che Nina ...« einsichtig gemacht.80 Dass Fontane »Sorrent (himmlisches Tramontane, noch dazu Reimwort auf unseren Namen)« etwas bedeutete, was über eine bloße »Studie« hinausging,81 kann nicht zweifelhaft sein. Es muss die Intensität des 76 Vgl. Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 2005, S. 18– 19. 77 Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S. 45. 78 Ebd. 79 Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 1, Abt. 5: Morgenröthe; Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1971, S. 696 (Fragment 7 [236]). 80 Karl Pestalozzi, »Tre giorni son che Nina ...«: Zu einem rätselhaften Zitat im 45. Kapitel des »Stechlin«. In: Ursula Amrein und Regina Dieterle (Hrsg.), Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne, Berlin/New York 2008, S.  127– 145. 81 Theodor Fontane an Emilie von Fontane, GBA XII/3, S. 483–485, hier S. 484.



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dort empfangenen Bildes gewesen sein, die er seine Figuren nacherleben ließ: »Nur Eines ist nicht Schwindel: der Golf von Neapel, der eben sonnen-beschienen und boote-befahren in herrlichsten Farben vor mir liegt«.82

Schluss Mit einer realen architektonischen Grenzüberschreitung hatte es begonnen, mit einer fiktionalen soll es enden, naheliegenderweise also mit Unwiederbringlich. Die Wiedertrauung bringt das gräfliche Paar in das nach italienischem Vorbild errichtete Schloss zurück, das aber nur ein trügerisches »›neues altes Glück‹«83 beherbergt und sich am Ende in ein Totenhaus verwandelt. Christine von Holk hätte die Schwelle nicht wieder überschreiten dürfen, um Nacht und Tod zu entgehen. Trauung und Trauerzug böten zwar Gelegenheit, diese »Übergangsriten«84 zu verfolgen; Grenzüberschreitungen rituellen Charakters stehen hier jedoch nicht zur Diskussion. Nur so viel sei gesagt: Trauung und Trauerzug schieben sich in ihrem Ablauf derart übereinander, dass das eine zur Urschrift des anderen wird. Das unterstreicht die zentrale Funktion, die dem Bau im Erzählaufbau zukommt. Der Erzähler richtet das Schloss in den ersten Sätzen des Romans wie eine Landmarke auf, die ein faszinierend fremdes Zeichen in der Landschaft setzt. Sehenswürdigkeiten können entstehen, wenn Grenzen baulicher Tradition augenfällig überschritten werden: Es war weniger der Campanile selbst als der Campanile am unvermuteten Ort, der ihn zu einer Sehenswürdigkeit im Park von Sanssouci machte. So verhält es sich auch mit diesem Initialbau in Unwiederbringlich. Er setzt indes, und das ist ein erzählerisches Novum, die Geschichte einer unaufhaltsamen Entfremdung und eines nicht heilbaren Ehebruchs in Gang. Zu ihm kehrt die Geschichte auch wieder zurück, um am Ende den Blick auf den Weg vom Schloss her zu richten: »Aber heute waren es weiße Astern, die sie streuten, und die, die vom Schlosse her des Weges kam, war eine Todte«.85 Der Anfang dagegen sah wie eine Verheißung aus – das »hohe Schloß am Meer«: Eine Meile südlich von Glücksburg, auf einer dicht an die See herantretenden Düne, lag das von der gräflich Holk’schen Familie bewohnte Schloß Holkenäs, eine Sehenswürdigkeit für die vereinzelten Fremden, die von Zeit zu Zeit in diese wenigstens damals noch vom Weltverkehr abgelegene Gegend kamen. Es war ein nach italienischen Mustern aufgeführter Bau, mit gerade

82 Theodor Fontane an Karl Zöllner, HFA IV/2, S. 483–488, hier S. 487. 83 Fontane, Unwiederbringlich, Bd. 67, S. 331 (HFA I/2, S. 799). 84 Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt am Main/New York 2005. 85 Fontane, Unwiederbringlich, Bd. 67, S. 337 (HFA I/2, S. 808).

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Hubertus Fischer so viel Anklängen an das griechisch Classische, daß der Schwager des gräflichen Hauses […] von einem nachgeborenen ›Tempel zu Pästum‹ sprechen durfte.86

Der im Einzelnen beschriebenen Architektur eignet ein illusionierender Zug, so wie der Bau selbst eine gebaute Illusion darstellt: eine Illusion des Glücks – »[e]ine Meile südlich von Glücksburg«. Denn er stellt mit den Menschen, die in ihm leben, etwas an und lässt sie an der Illusion ihres Glücks scheitern. Der mit Säulen umgebene Bau auf der Anhöhe dicht am Meer, über dem »golden und rosig«87 die Wolken stehen, nimmt sich wie eine der klassischen idealisierten Veduten Claude Lorrains aus. Diese zeigen oft Säulen und Tempel auf Anhöhen am Fluss oder Meer, über denen nicht selten eben solche goldenen oder rosigen Wolken schweben. So kehrt Fontanes kunstvermittelte Annäherung an Italien zurück und wird zur Annäherung an eine italianisierende Szenerie, die etwas verheißt, was sich in sein Gegenteil verkehrt. Dasselbe Schloss am Meer wirkt beim Scheitern von Ehe und Glück »öd und einsam«, »still und schwermüthig«,88 als hätte es sich in Böcklins in Italien entstandene »Villa am Meer« verwandelt. Der Künstler malte sie in verschiedenen Versionen bis hin zu fahlen, düsteren Farben und ließ sie zum Sinnbild von Melancholie und Einsamkeit werden. Am Ende stellt sich mit und um das »Schloß am Meer« wieder eine italienische Bilderwelt ein, aber gebrochen und mit desillusionierenden Verschattungen. Ausgeschöpft ist das Thema ›Italienische Grenzüberschreitungen‹ damit noch nicht, auch nicht in Unwiederbringlich, wo selbst der »italienische Krieg«89 in dem Bau nach »italienischen Mustern« in Zeitungsmeldungen nachzittert. Aus diesem Krieg des Jahres 1859 entstanden die folgenreichsten Grenzverschiebungen auf dem europäischen Kontinent. Wie Fontane sich zu diesen Grenzverschiebungen stellte und wie er sich zu Garibaldi, Mazzini, Cavour, Pio Nono, Vittorio Emanuele II als Journalist, aber auch als Schriftsteller verhielt, das wäre ein anderes Thema. Seine Bearbeitung steht aus. »Wer bedroht Italien?«90 und »Preußen kein Piemont«91 könnten ein Anfang sein.

86 87 88 89 90

Ebd., Bd. 66, S. [1]. Ebd., S. 2, 3. Ebd., Bd. 67, S. 180. Ebd., Bd. 66, S. 12. Theodor Fontane, Unechte Korrespondenzen, 1860–1865. 1866–1870. Hrsg. von Heide Streiter-Buscher, Berlin/New York 1996, S. 1048. 91 Ebd., S. 1062.

»Ordre vergessen«

Fontanes Italienreisen im Kontext von Hauptstadtumbau, Akademiereform und Kunsthandel Iwan-Michelangelo D’Aprile Obwohl Italien das von Fontane nach England am längsten bereiste europäische Land war (wenn man den unfreiwilligen Frankreich-Aufenthalt während der Kriegsgefangenschaft außer Acht lässt), gelten Fontanes Italienreisen weiterhin als eine Geschichte des Nicht-Verstehens und der vermeintlich unüberbrückbaren Fremdheitserfahrung. Aus den Reisen abgeleitet wird insgesamt ein eher negatives Italien-Bild des Berliner Autors. »Ich bin Nordlandsmensch, und Italien kann, für mich, nicht dagegen an«, wird Fontane so auch gleich im ersten Satz in der jüngsten und ansonsten sehr lesenswerten Monographie Fontane in Italien des als ausgezeichneter Italien-Kenner ausgewiesenen Germanisten Dieter Richter grundtonartig herbeizitiert.1 Zwei miteinander zusammenhängende Aspekte scheinen mir mitursächlich für dieses beinahe alle einschlägigen Darstellungen prägende Deutungsmuster. Auffällig sind erstens die bruchstückhaften Publikationen des in Italien gesammelten Materials und die noch über das bei Fontane ohnehin übliche Maß hinausgehenden Überlieferungslücken: Anders als bei den meisten anderen Reisen hat Fontane keine nennenswerten Reisefeuilletons oder Reisebücher veröffentlicht. Lediglich ein Artikel mit dem bezeichnenden Titel Ein letzter Tag in Italien ist im Anschluss an die erste Reise in der Vossischen Zeitung erschienen.2 Die Überarbeitungen des in Italien gesammelten Materials im heute sogenannten Marbacher Italien-Manuskript hat Fontane abgebrochen. Im Zweiten Weltkrieg gingen auch diese Aufzeichnungen verloren und sind nur noch in nicht überprüfbaren Abschriften zugänglich.3 Die umfangreiche 1 Dieter Richter, Fontane in Italien. Mit zwei Städtebildern aus dem Nachlass, Berlin 2019, S. 7. 2 Theodor Fontane, Ein letzter Tag in Italien. In: Sonntags-Beilage zur Vossischen Zeitung 1 (03.01.1875). 3 Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Fontane, 58.1996, Briefe, Tagebücher, Notizen, Erinnerungen von Theodor und Emilie Fontane. Hrsg. von Wilhelm Vogt, Göttingen 1943. Den besten und aktuellsten Überblick über das Material bietet Richter, Fontane in Italien, S. 138. https://doi.org/10.1515/9783110735710-003

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Reisekorrespondenz, die eine der drei Hauptbeschäftigungen während der Reisen ausmachte (neben den Besichtigungen und der Fahnenkorrektur anderer schriftstellerischer Arbeiten), ist nur überaus lückenhaft überliefert. Der weitaus größte Teil wurde von ihm und seiner Frau Emilie einige Jahre nach der Reise Anfang der 1880er Jahre weitgehend vernichtet oder ist bis heute nicht ermittelt.4 Nur aus einigen Hinweisen in den Reisenotizbüchern und erhaltenen Briefen lässt sich ansatzweise ermitteln, wem Fontane alles aus Italien berichtet hat. Dieser Spurentilgung in der Korrespondenz entsprechen die aus Fontanes Reisetagebüchern herausgerissenen und herausgeschnittenen Seiten. Wie sich aus den Überresten schließen lässt, betreffen diese nachträglichen Selbstzensurmaßnahmen vor allem vorbereitende Notizen (es sind jeweils die hinteren Seiten der Notizbücher). Hier finden sich etwa reisepraktische Hinweise von Italien-Experten aus Fontanes Bekanntenkreis wie Ludwig Pietsch, Hermann Wichmann und anderen sowie To-do-Listen für auf der Reise zu erledigende Korrespondenzen.5 An einer Stelle scheint aber auch auf, dass Fontane mit Instruktion oder Auftrag reiste. Kurz nach der Abreise zu seiner 1874er-Tour hat er hier notiert: »Die Reise begann damit, daß ich noch, 5 Minuten vor d. Abfahrt, ein ›Reisebuch für Italien‹ fand, dafür aber meine Ordre vergaß. Ich habe sie mir poste restante nachschicken lassen.«6 Diese Überlieferungslücken wurden zweitens zum Anlass genommen beziehungsweise gefüllt mit bestimmten Interpretamenten und Deutungsstereotypen, die bis heute in unterschiedlichen Spielarten die Auseinandersetzung in der Forschung mit dem Gegenstand prägen. Mindestens zu nennen sind hier: (1) Die Deutung der Reisen als Urlaubsreise oder (der ersten Reise) als nachgeholte Hochzeitsreise mit Emilie und die vermeintliche Enttäuschung über die erfahrene Reisewirklichkeit.7 (2) Die Unterstellung eines mangelnden Kunstsinns und insbesondere eines mangelnden Sinns für italienische Kunst bei Fontane.8

4 NFA XXIII/2, S. 425. 5 Theodor Fontane, Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition. Hrsg. von Gabriele Radecke, C8, Bl. 74–76, https://fontane-nb.dariah.eu/kaesten. html?n=c, zuletzt aufgerufen am 28.07.2020. 6 Ebd., Bl. 73r. 7 Vgl. etwa GBA XI/3, S. 679: »erste gemeinsame Urlaubsreise größeren Stils«; Regina Dieterle, Theodor Fontane. Biografie, München 2018, S. 545: »verspätete Hochzeitsreise«. 8 Nur als ein Beispiel für viele unterstellt etwa Christian Grawe Fontane ein »defizientes Kunsturteil«: Christian Grawe, »Italian Hours«. Theodor Fontane und Henry James in Italien in den 1870er Jahren. In: Konrad Ehlich (Hg.), Fontane und die Fremde, Würzburg 2002, S. 276–294, S. 286.



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(3) Damit zusammenhängend die Deutung der Nicht-Veröffentlichung als Distanzierung und Desinteresse am Thema.9 (4) Und schließlich insgesamt eine über die Reisen hinausgehende unterstellte letztliche kulturelle Fremdheit und Distanz Fontanes gegenüber Italien, wie sie aus der eingangs angeführten und immer wieder aus einigen brieflichen und autobiographischen Selbststilisierungen Fontanes als »Nordlandsmensch« zusammengefasst wird, die praktisch in keiner Arbeit zum Gegenstand fehlt. Die zwei bis vier Alterszitate Fontanes stehen dabei im krassen Missverhältnis zu ihrer Zitationshäufigkeit in der Sekundärliteratur. Fontanes ominöse vergessene »Ordre« steht so gleichsam sinnbildlich für die Rezeptions- und Deutungsgeschichte seiner Italienreisen. Während Fontane selbst sich die Instruktion »poste restante« sofort nachschicken ließ, ist der historische Kontext seiner Italienreisen in der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte aus dem Blick geraten und durch psychologisierende und kulturalisierende Deutungsmuster (Urlaubsbedürfnis, mangelnder Kunstsinn, widerstrebende Einstellung, Fremdheitsgefühle) ersetzt worden. Wilhelm Vogt, der 1943 als Letzter das handschriftliche Material sichten konnte, hatte hingegen noch einen Zusammenhang zwischen Italienreise und Fontanes Anstellung an der Berliner Akademie der Künste angenommen, ohne dies weiter auszuführen.10 Die Verdrängung reicht bis in die Editionsgeschichte von Fontanes Reiseaufzeichnungen. In den einschlägigen kritischen Fontane-Ausgaben ist die Notiz entweder gar nicht ediert (GBA) oder im Anmerkungsapparat versteckt (NFA).11 Erst Gabriele Radeckes digitale Edition der Reisetagebücher macht sowohl die Verstümmelungen des Materials als auch die im doppelten Sinn »vergessene Ordre« sichtbar.12 Es ist die These des folgenden Artikels, dass die genannten vier Deutungsstereotype sowohl hinsichtlich Fontanes italienischer Reisen als auch hinsichtlich darüber hinausgehender Vermutungen zum Verhältnis Fontane und Italien revisions- oder zumindest ergänzungsbedürftig sind. Dazu soll weniger vom idealisierten Modell des klassisch-romantischen ›Italien-Erlebnisses‹ des 9

»Dass bei dieser widerstrebenden Einstellung des sonst so passionierten Reiseschilderers kein originelles Buch über Italien zustande kommen konnte, ist kaum verwunderlich.« (GBA XI/3, S. 679). 10 »Endlich ist die Meinung nicht von der Hand zu weisen, daß er sich auf den Beruf eines Sekretärs der kgl. Akademie der Künste, die in Aussicht stand, gründlich vorbereiten wollte.« (NFA XXIII/2, S. 422). 11 Ebd., S. 425. 12 Fontane, Notizbücher, C8-C10 (erste Reise, C9= Emilies Tagebuch) und C11-C14 (zweite Reise).

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Künstler-Genies ausgegangen werden (das man in Fontanes Reiseaufzeichnungen nicht finden wird), sondern mit den Methoden der kulturgeschichtlichen Reiseforschung nach den institutionellen Reisekontexten, nach Reiseanlass, Reisezweck und potentiellen Auftraggebern beziehungsweise Abnehmern sowie nach den für diese Kontexte relevanten Reisetypen gefragt werden. Die konkrete Reisepraxis wird dabei als ebenso bedeutsam angesehen wie die schriftlichen Zeugnisse der Reisenden.13 Psychologisierende oder kulturalisierende Projektionen ›in den Kopf‹ Fontanes werden möglichst zugunsten funktionaler Fragen nach dem medialen und diskursiven Aussagekontext, nach den Sprecherrollen und Adressatenbezügen sowie nach den Gattungs-, Notationsund Publikationsformaten und ihren jeweiligen Diskursregeln zurückgestellt – etwa hinsichtlich der Frage, welche Aussagen sich in welchen Textformen, Medienumgebungen und Diskursformationen erwarten lassen und welche nicht. Wie immer bei Fontane ist insbesondere in Bezug auf dessen rückblickende autobiographische Stilisierungen höchste interpretatorische und methodische Vorsicht geboten. Schließlich wird man sich in Anbetracht der nicht mehr zu schließenden Überlieferungslücken auch immer die quellenkritische Frage nach dem Verhältnis zwischen überliefertem und nicht-überliefertem Material (soweit man davon Kenntnis haben kann) stellen und berücksichtigen, welche Thesen mit welcher Reichweite sinnvollerweise daraus geschlossen werden können. Vor diesem Hintergrund sollen Fontanes italienische Reisen im Folgenden hinsichtlich (I.) ihrer institutionellen Kontexte im Zuge des vielfach aufeinander bezogenen Hauptstadtumbaus in Berlin und Rom nach 1871, (II.) ihrer Reisepraxis und dem sich daraus ergebenden Stellenwert der Reisenotizen, sowie (III.) der Frage nach den Ursachen ihrer weitgehend ausgebliebenen Veröffentlichungsgeschichte rekonstruiert werden. Der »Nordlandsmensch« hingegen verbleibt fürderhin da, wo er hingehört: in der Mottenkiste verstaubter kulturessentialistischer Wendungen aus dem Stammesdenken des 19. Jahrhunderts. Dies ist im Übrigen umso gerechtfertigter, als Fontane sich mindestens genauso emphatisch als halber Südfranzose stilisiert hat.14

13 Immer noch grundlegend: Michael Maurer, Reisen als Paradigma der Kulturgeschichte. In: Ders., Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 287–300, hier S. 296–299. 14 Vgl. u.a. Theodor Fontane an Paul Schlenther, 21. Dezember 1890, HFA IV/4, S. 79.



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I. Hauptstadtumbau und berufliche Neuorientierung Mangelnde Sehnsucht nach dem Süden oder gar Ignoranz gegenüber Italien kann man Fontane kaum unterstellen.15 Bereits 1845 planten der gerade 26-jährige Fontane und sein Freund Lepel eine Italienreise. Lepel, der in Berlin bevorzugt bei italienischen Lebensmittelhändlern einkaufte, zählte neben dem Musiker Hermann Wichmann, dem Künstler August von Heyden und dem Literaten Paul Heyse zu den zahlreichen »Italianissimi« in Fontanes engerem Bekanntenkreis und konnte damals schon auf italienische Reiseerfahrungen zurückblicken.16 In der Widmung an Lepel im schottischen Reisebuch Jenseit des Tweed wird dieses Gelöbnis noch einmal bekräftigt.17 Im Sommer 1853, zu einer Zeit, die für Fontane von wirtschaftlicher Not, der schlecht bezahlten Tätigkeit in der Berliner Pressestelle, Krankheiten, Kündigungen und unsicheren Neueinstellungen geprägt war, häufen sich erneut briefliche Zeugnisse einer anvisierten Italienreise, die sich aber nicht realisieren ließ: »Eine Reise nach Italien wäre ein Rettungsmittel.« (An Wolfsohn, 7. Juli 1853), »Könnt’ ich nach Italien so wäre alles gut; aber wie?!« (An Lepel, 31. Juli 1853) »Ich denke an eine italienische Reise.« (An Theodor Storm, 14. August 1853).18 Mit dem italienischen Risorgimento und dem Regierungswechsel in Preußen tauchte Italien dann 1858 wieder als Ziel am Horizont auf. Für Fontane, zu dieser Zeit als offiziöser preußischer Presseagent in London tätig, bedeutete beides einerseits die Hoffnung auf das bevorstehende Ende der überholten Wiener Ordnung, andererseits aber auch die Einsicht in den drohenden Stellenverlust als Mann der alten Regierung Manteuffel. Sofort mit dem sich abzeichnenden Ende der Ära Manteuffel und noch Monate vor dem tatsächlichen Regentschaftswechsel in Preußen bringt sich Fontane gegenüber Henriette von Merckel, der Frau seines Förderers Wilhelm von Merckel und Schwester des preußischen Kultusministers, am 30. April 1858 als neuer Rom-Korrespondent ins Spiel und versucht, die verbleibende einjährige Restvertragsdauer als Presseagent in London in einen ebenso gearteten Rom-Aufenthalt umwandeln zu lassen: „Ein Jahr in Italien“ […] würde das beste sein […] man brauchte mir nur zu gestatten, eins der drei Jahre in Rom statt in London zuzubringen. Es wäre noch die Frage, ob man davon nicht

15 Grundlegend für das Thema Fontane und Italien: Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011. 16 Roland Berbig, Fontane Chronik, 31.12.1845. Zu den »Italianissimi«: Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, HFA IV/2, S. 489; Theodor Fontane an Ernst Heilborn, HFA IV/4, S. 625. 17 GBA IV/2, S. VIIf. 18 HFA IV/1, S. 349, 353, 359.

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Iwan-Michelangelo D’Aprile [den] gleichen Vorteil hätte. Italien, das immer auf Kunst bereist wird, ließe sich auch mal auf Politik bereisen.19

So wie Fontanes Italien-Pläne von 1858 unmittelbar mit den parallelen Nationalstaats-Bewegungen in Preußen und Italien zusammenhängen, so sind auch seine Italienreisen von 1874 und 1875 nur verständlich vor den ebenfalls parallel verlaufenden und verflochtenen Hauptstadtgründungen in Berlin und Rom. Nach dem militärischen Erfolg im Krieg gegen Österreich 1866, in dem das Königreich Italien im Unterschied zu allen anderen größeren deutschen Staaten Preußens einziger Verbündeter war, wurde Berlin 1868 zunächst Hauptstadt des neu gegründeten Norddeutschen Bundes, nach dem Krieg gegen Frankreich dann im März 1871 Reichshauptstadt. Rom wiederum wurde nach mehreren militärischen Auseinandersetzungen mit dem zunächst von Frankreich unterstützten Vatikan im Juli 1871 zur italienischen Hauptstadt erklärt.20 Der nun folgende Umbau Berlins ist untrennbar mit dem Blick nach Italien verbunden. Die überall zu errichtenden repräsentativen Siegesbauten standen ganz im Zeichen der antikisierenden Monumentalkunst – was in Rom das Monumento Vittorio Emmanuele wurde, waren in Berlin die Siegesallee mit Denkmälern preußischer Feldherren, die Siegessäule, das Sedan-Panorama oder die Museumsinsel (Königliche Nationalgalerie, Münzkabinett).21 Darüber hinaus galt dies auch für Funktionsbauten der industriell-technischen Modernisierung wie etwa den Anhalter Bahnhof, der mit seinen verbesserten Zugverbindungen nach Italien nach dem Modell des 1874 eröffneten Roma Termini umgestaltet wurde, oder das ab 1874 errichtete General-Postfuhramt in der Oranienburger Straße.22 Schließlich sind zahllose Stadtvillen und Sommerhäuser der neuen Industriellen- und Kaufmannseliten (etwa im Grunewaldviertel) bauliche Zeichen dieses in seinen Ausmaßen noch nicht annähernd erforschten Architektur-Transfers der Gründerjahre. Die Zuständigkeit für die Kunst- und Baupolitik wurde direkt dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (später für 99 Tage Kaiser Friedrich III.) unterstellt. Als Generaldirektor der Königlichen Museen wurde mit Guido von Usedom nicht zufällig der langjährige preußische Gesandte am Hof des italienischen Königs Vittorio Emmanuele ernannt. Mit dem Museumsbau wurde auch der 19 Theodor Fontane an Henriette Merckel, in Theodor Fontane, Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel (1850–1870). Hrsg. von Gottfried Erler. Bd. 2, Berlin/Weimar 1987, S. 41. 20 Gustav Seibt, Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt, Berlin 2001. 21 Kaija Voss, Die Museumsinsel. Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011. 22 Jim Harter, World Railways of the Nineteenth Century. A Pictorial History in Victorian Engravings, Baltimore/London 2005, S. 277.



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Auf- und Ausbau großer Gemälde- und Antikensammlungen eine »politische Angelegenheit ersten Rangs«.23 Mit den durch Kriegsgewinne und französische Reparationen prall gefüllten Kassen sollten die Berliner Museen auf internationalem Niveau ausgestattet werden. Insbesondere drängte der Kaiser auf schnellstmögliche Fertigstellung der Königlichen Nationalgalerie (heute Alte Nationalgalerie). Deren schließliche Eröffnung am 22. März 1876 hat Fontane dann schon als Ständiger Sekretär der Akademie der Künste miterlebt. Der Kunstetat wurde innerhalb von nur zwei Jahren bis 1873 vervierfacht, wobei der weitaus größte Anteil für den Erwerb von Kunstwerken ausgegeben wurde.24 Studien- und Ausbildungsreisen waren in Preußen seit jeher ein entscheidender Qualifikationsnachweis für eine Stelle an der Akademie der Künste. Das galt von Karl Philipp Moritz’ Italienreise der Jahre 1786–1788 bis zu den ausgedehnten Italienreisen von Fontanes Ruppiner Landsmann Karl Friedrich Schinkel im frühen 19. Jahrhundert, der anschließend die Landschlösser der Mark Brandenburg und ihre beiden Residenzstädte Berlin und Potsdam so gründlich im italienischen Stil gestaltete, dass der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm (und nunmehrige Kaiser Wilhelm I.) bei einem Aufenthalt in Palermo verwundert feststellte: »Eigentlich alles wie in Potsdam.«25 Nun trat als zweiter, wenn nicht Hauptreisezweck, die shopping tour in Sachen Kunst hervor. Die in ganzen Scharen ab Anfang der 1870er Jahre nach Italien reisenden deutschen Architekten, Museumsdirektoren, Künstler und Regierungsbeamte kauften in Kirchen, Galerien und Sammlungen, was sie bekommen konnten. Nur der bekannteste unter ihnen ist etwa Wilhelm Bode, der als Assistent des Direktors der Gemäldegalerie Julius Meyer zwischen 1871 und 1875 beständig in Italien unterwegs war, um – immer im Wettbewerb mit britischen und französischen Kunsthändlern – Skulpturen und Gemälde zu erwerben. Heute ist nach ihm das Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel benannt.26 Neben der Gemäldegalerie stattete Bode auch Berliner Privatsammler mit Kunstwerken und Interieurs aus – nicht zuletzt den in Fontanes Roman L’Adultera als Modell dienenden Louis Ravené, der in Berlin über eine 23 Benedicte Savoy, Museen. Eine Kindheitserinnerung und die Folgen, Köln 2019, S. 28. 24 Eine Übersicht über die Ausgaben von 1863–1889 sowie die Erwerbungen für die verschiedenen königlichen Museen findet sich in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 1 (1890), Amtliche Berichte aus den Königlichen Kunstsammlungen, S. I–XVIII. 25 Zitiert nach Franz Schüppen, Paradigmawechsel im Werk Theodor Fontanes. Von Goethes Italien- und Sealsfields Amerika-Idee zum preußischen Alltag, Stuttgart/Freiburg i. Br. 1993, S. 84. 26 Manfred Ohlsen, Wilhelm von Bode: Zwischen Kaisermacht und Kunsttempel. Biographie, Berlin 2007.

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der größten privaten Kunstsammlungen verfügte.27 Überhaupt spielte sich der Kunsthandel – wie auch die preußische Pressepolitik – im halb-offiziellen oder ›offiziösen‹ Graubereich ab. Da regierungsamtliche Ankäufer zunehmend auf den Widerstand lokaler italienischer Entscheidungsträger stießen, die sich gegen den Ausverkauf ihrer Kunstschätze sträubten, traten die preußischen Kunsthändler zumeist als Privatreisende auf.28 Auch die Reorganisation der Berliner Akademie der Künste ist vor dem Hintergrund dieses Hauptstadt-Programms zu sehen. 1872 wurde der alte Kultusminister Mühler (mit dem sich Fontane inzwischen unversöhnlich überworfen hatte) entlassen und durch Adalbert Falk ersetzt. Zum Vortragenden Rat im Kultusministerium wurde zunächst Fontanes enger Vertrauter und Rütli-Freund Friedrich Eggers ernannt.29 Nach dessen frühem Tod Ende 1872 übernahm Richard Schöne (1840–1922) die Stelle und wurde in den folgenden Jahren zu einem der entscheidenden Akteure des Hauptstadtumbaus.30 Unter seiner Leitung wurden die bis dahin ministerial getrennten Bereiche Bildende Kunst, Architektur und Gewerbe (die beiden Letzteren unterstanden bis dahin dem Handelsministerium) unter dem Dach der Akademie der Künste zusammengeführt und die »Erwerbung von Kunstschätzen« zum Aufgabengebiet Nummer Eins erklärt.31 Die Reorganisation der Akademie war fest in Tunnel- und Rütli-Hand. Der Direktor der Berliner Bauakademie Richard Lucae, der Museumsdirektor und Professor an der Berliner Kunstakademie 27 Sven Kuhrau, Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur, Kiel 2005. 28 Wilhelm Bode, Mein Leben, Berlin 1930. 29 Zu Friedrich Eggers vgl. Roland Berbig, Das königlich-kaiserliche Berlin des Rütlionen Theodor Fontane. In: Ders., Iwan-Michelangelo D’Aprile et al. (Hrsg.), Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium, Berlin 2011, S. 203–214; Roland Berbig, »Ich bedaure dann, daß […] ich Euch nicht genug sein kann«. Friedrich Eggers – Kunsthistoriker, Redakteur, Vereinsgründer und ein schwieriger Freund Theodor Fontanes. In: Berliner LeseZeichen – Literaturzeitung 6/7 (2000), S. 37–52; Tilman Krause, Theodor Fontane als Klatschmaul. Über ›Von Zwanzig bis Dreißig‹. In: Peer Trilcke (Hrsg.), Theodor Fontane. Text und Kritik Sonderband, München 2019, S. 158–163; Roland Berbig (Hrsg.), Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Der Briefwechsel. Mit Fontanes Briefen an Karl Eggers und der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fontane, Berlin/ New York 1997. 30 Ludwig Pallat, Richard Schöne. Generaldirektor der königlichen Museen zu Berlin. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Kunstverwaltung 1872–1905, Berlin 1959; Bärbel Holtz, Das Kultusministerium und die Kunstpolitik 1808/17 bis 1933. In: Acta Borussica. Neue Folge, 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat. Abt. I: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934). Bd. 2.1: Darstellung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Wolfgang Neugebauer, Berlin 2010, S. 399–591, S. 506–520. 31 Pallat, Richard Schöne, S. 50.



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August von Heyden sowie der Jurist und nach Fontanes Kündigung dessen Nachfolger als Erster Akademie-Sekretär Karl Zöllner verfassten neben dem bereits für Fontanes Wanderungen als Gutachter tätigen Kunsthistoriker Karl Schnaase die einschlägigen Memoranden.32 Am 14. November 1874 wurde das neue Statut im Senat der Akademie, dem weitere Rütli-Freunde wie Adolph Menzel angehörten, mit 16 Ja-Stimmen verabschiedet. Unter den drei Gegenstimmen finden sich bezeichnenderweise die des alten Akademie-Präsidenten Daege und die von Fontanes Vorgänger als Ständiger Sekretär Otto Friedrich Gruppe.33 Mit Tunnel-Mitglied Friedrich Hitzig wurde nicht zufällig ein Architekt zum neuen Akademiedirektor. Hitzig war der Sohn von Julius Hitzig, eines der wichtigsten Verleger und Literaturvermittler im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, und hatte sich als Architekt der Berliner Börse einen Namen gemacht. Später sollte er zusammen mit Richard Lucae beispielsweise das Hauptgebäude der neuen Technischen Hochschule (heute Technische Universität Berlin) entwerfen. Während der 70 Jahre alte Akademie-Präsident Eduard Daege mit einer stattlichen Abfindung zum Abtreten in den Ruhestand überzeugt werden konnte, verweigerte sich der ebenfalls 70-jährige Sekretär Gruppe zwar noch seiner Pensionierung, aber ein Freiwerden dieser Stelle war nur noch eine Frage der Zeit.34 Fontane wiederum hatte bereits seit 1868 versucht, sich als staatlicher Kunst- und Museumsexperte zu etablieren. Unmittelbar nachdem vom Kultusministerium die Zuwendung für die Wanderungen gestrichen worden war, hatte er sich im Mai 1868 mit einem umfassenden Plan für die Gründung eines Nationalmuseums an das Ministerium gewandt, der in wesentlichen Elementen nicht nur die Tätigkeitsfelder der Akademie anvisierte, sondern ihm auch den Status und die Bezahlung einer Beamtenstelle im Kulturbetrieb der seinerzeitigen neuen Hauptstadt des Norddeutschen Bundes einbringen sollte.35 1876 als Sekretär an der Akademie der Künste sollte Fontane diese Initiative weiter verfolgen und seinen Nationalmuseums-Plan Bismarcks Hausblatt,

32 Ekkehard Mai, Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde, Köln/ Weimar et al. S. 283f. 33 Preußische Akademie der Künste, Protokolle der Sitzungen des Akademischen Senats und der Plenarversammlungen 1874, https://archiv.adk.de/objekt/2306252, zuletzt aufgerufen am 29.07.2020. 34 Hubertus Fischer, »…so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.« Unveröffentlichte Briefe von und an Theodor Fontane aus der Akademiezeit. In: Fontane Blätter 63 (1997), S. 26–47, hier S. 26f. 35 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/2, S. 199f. Vgl. auch Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek 2019, S. 290–291.

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der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, zur Veröffentlichung anbieten.36 In die gleiche Richtung weisen auch seine forcierten Aktivitäten als Kunst- und Ausstellungskritiker im selben Zeitraum. Bei der Kreuzzeitung berichtete er nun vermehrt über Kunstaustellungen.37 Und auch nach dem Wechsel zur Vossischen Zeitung im Jahr 1870 drängte er deren Chefredakteur von Anfang an, ihm neben der Theaterkritik auch die in die Zuständigkeit seines Kollegen Ludwig Pietsch fallende Kunstkritik zu übergeben, notfalls zunächst auch nur als Krankheitsvertretung: »bei meiner Passion für diese Dinge […] biete ich mich an, in Pietsch Abwesenheit, als eine Art Stellvertreter, diesen Teil kritischer Besprechung übernehmen zu wollen und zwar mit besonderem Vergnügen.«38 Vor diesem Hintergrund konnte sich der zu dieser Zeit angesichts von Gründerkrise und Mieterhöhungen finanziell alles andere als sorgenfreie Fontane (Emilies Haushaltsbücher geben darüber Auskunft)39 die sich 1874 wie immer vage abzeichnende Aussicht auf eine Beamtenstelle an der Akademie der Künste und, damit verbunden und mindestens ebenso willkommen, die Chance zur Realisierung der lang gehegten italienischen Reisepläne eigentlich nicht entgehen lassen. Nachdem er den Sonntag zuvor mit Richard Lucae, Karl Zöllner und August von Heyden verbracht hatte, also genau jenen Protagonisten, die ihm eineinhalb Jahre später den Weg in die Akademie ebneten, überfiel er Emilie, die den Sommer gerade mit Tochter Martha in Schlesien verbrachte, am 26. August 1874 mit der Nachricht, dass er für September eine ausgedehnte Rom-Reise plane und »fest entschlossen« sei, sie mitzunehmen: Am 28. oder 29. September will ich meine Reise nach Italien, d. h. nach Rom antreten und bin fest entschlossen, coute que coute, Dich mitzunehmen. Ich rechne auf Deine Zustimmung und während der Reise selbst auf Deine Entschlossenheit und gute Laune. […] Von dem Gelde, das mir die 3. Aufl: meiner Wanderungen und die 2. meiner Gedichte eingebracht haben, werden wir im Wesentlichen die Reise machen können, da wir die Hauptzeit in Rom festsitzen werden, wo man nicht theurer lebt als bei Frl. Hübner in Dresden. Ich rechne also auf Dein Ja-Wort, wie am Altar.40

36 Theodor Fontane an die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, HFA IV/2, S. 520. Vgl. auch Hermann Fricke, Fontanes Historik. In: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 5 (1954), S. 13–22, hier S. 22. 37 Vgl. die Übersicht zu Fontanes Kunstkritiken in: Carmen Aus der Au, Theodor Fontane als Kunstkritiker, Berlin/Boston 2017, S. 359f. 38 Theodor Fontane an Hermann Kletke, HFA IV/2, S. 373; Dieterle, Fontane, S. 544. 39 Theodor Fontane Archiv, Haushaltsbücher, Haushaltsbuch 1874. Jetzt sukzessive auch online unter: https://www.fontanearchiv.de/bestaende-sammlungen/digitale-sammlungen-kataloge/digitale-handschriftensammlung/. 40 Theodor Fontane an Emilie Fontane, EBW 3, S. 20–21.



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Bei allem rhetorischen Schmuck und Fontanischer Fabulierlust lässt sich – liest man den Brief genau – bereits aus diesem ersten Zeugnis von Fontanes italienischen Reiseplänen zweierlei festhalten. Erstens: Fontane lädt seine Frau hier gerade nicht zu einer nachgeholten Hochzeitsreise ein, sondern er wäre auch ohne sie gefahren (wie er es auf seiner zweiten Italienreise 1875 dann ja auch getan hat). Zweitens legen die Formulierungen nahe, dass Stationen und Aufenthaltsdauer an den jeweiligen Orten vorher feststanden und auch nicht auf eigener Wahl beruhten (»da wir die Hauptzeit in Rom festsitzen werden«). Dass Fontane die Reise, wie der Brief nahelegt, weitgehend selbst finanzieren musste, widerspricht nicht einer Zielsetzung in Richtung der in der Akademie der Künste auf ihn zukommenden Aufgaben. Dasselbe gilt beispielsweise auch für seine Schlachtfeldreisen zu den Schauplätzen der preußischen Einigungskriege, obwohl die Kriegsbücher im Auftrag des Innenministeriums entstanden. Am wahrscheinlichsten ist wohl eine Fontane-typische Mischkalkulation, bei der sich die Reisekosten durch laufende Einnahmen aus Wanderungen und Kriegsbüchern, Honorare für zu schreibende Reisefeuilletons und sich aus der Reise ergebende Folgeaufträge amortisieren lassen würden. Dass Fontane jedenfalls, wie er es in seinem Jahresrückblick auf das Jahr 1876 suggeriert, erst unmittelbar vor der Anstellung an der Akademie der Künste im Januar 1876 wie die Jungfrau zum Kinde zu dem Posten gekommen sei, ist wie so oft gut erzählt, aber zu schön, um wahr zu sein, und kann getrost als Fontane’sche Legendenbildung verbucht werden.41 Acht Tage nach dem Tod von Akademie-Sekretär Gruppe, der seine Stelle tatsächlich buchstäblich bis zum letzten Lebenstag ausgesessen hatte, habe ihn Zöllner bei einer Abendgesellschaft im Hause von Heyden am 15. Januar 1876 aus dem Nichts gefragt, ob er sich vorstellen könne, die Stelle des Ersten Akademiesekretärs zu übernehmen: »Ich sagte ›ja‹ […] Lucae focht darauf die Sache durch, und am 6. März, nachdem ich unmittelbar vorher meine Bestallung erhalten hatte, wurde ich in mein neues Amt eingeführt.«42 Auch wenn Karrierewege im Kaiserreich weitaus weniger formalisiert waren als heute und sich durch Beziehungsnetzwerke vieles kompensieren ließ, konnte man ganz ohne jede Qualifikation in Form formaler Einstellungsvoraussetzungen (Abitur, Studium) und erforderlicher Kompetenznachweise (Kunstexpertise, Verwaltungserfahrung) auch damals keine Beamtenstelle bekommen. Ausnahmen im Hochadel mögen möglich gewesen sein. Aber Fontane fehlte alles.

41 So auch Fischer, »… so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.«, S. 29. 42 GBA XI/2, S. 58.

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II. Reisepraxis und Reisenotizen Die erste Italienreise des Ehepaars Fontane dauerte vom 30. September bis zum 19. November 1874.43 Von den 50 Tagen Reisezeit entfielen 5 Tage auf Venedig, 10 Tage auf Florenz, 20 Tage auf Rom und 10 Tage auf Neapel. Die zweite Reise, die Theodor Fontane allein unternahm, dauerte 34 Tage, wovon allerdings von der Ankunft am Lago Maggiore am Abend des 8. August bis zur Abreise in Verona am 23. August 1875 nur knappe 16 Tage in Italien verbracht wurden (also genau so lange wie Fontanes Schottlandreise im Jahr 1858 gedauert hatte). Sie führte Fontane durch ganz Norditalien: Mailand, Como, Bergamo, Mantua, Riva am Gardasee, Modena, Parma, Genua, La Spezia, Pisa, Bologna, Ravenna, Bergamo, Ferrara, Padua und Verona lauteten die Stationen. Neben der in runden Dezimalzahlen abgemessenen Aufenthaltsdauer an den vier Reisezielen während der ersten Reise fällt der Anspruch auf eine gewisse geographische Vollständigkeit der Erfassung der Zielorte auf: Insbesondere bei der zweiten Reise beschränkten sich die Aufenthalte an den jeweiligen Orten meist auf nicht einmal einen Tag. Es handelte sich bei Fontanes Italienreisen um alles andere als Urlaubsreisen. Fontane bereitete sich wie immer akribisch vor. Er studierte neben den obligatorischen Reiseführern Baedeker und Gsell-Fell unter anderem Jakob Burckhardts Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens (1855), Ernst Försters gerade erschienene vierbändige Denkmale italienischer Malerei (Leipzig 1870f.) und eine fünfbändige Geschichte der italienischen Kunst (Leipzig 1869–75).44 Ohnehin ist Fontane nie einfach ›ins Blaue‹ gereist, selbst die Sommerfrischen und Kurreisen im Alter dienten den Arbeiten an den Romanen. Aber die tour de force der beiden Italienreisen geht noch weit darüber hinaus. Nicht als kontemplativer Goethe’scher Wanderer auf der Suche nach dem Kunst-Ideal reiste Fontane durch Italien, sondern als »Arbeitsmaschine« mit »Eisenbahn, Dampfschiffen, Booten, in Landkutschen und Droschken« sowie dem unerlässlichen Produktionsmittel Notizbuch.45 Sowohl Theodor als auch Emilie Fontane machten sich unterwegs umfangreiche Aufzeichnungen und 43 Hella Riedel, »Das schöne Land Italia«. Texte und Kontexte der Italienreisen Fontanes, Diss. masch., Düsseldorf 1991. 44 Berbig, Fontane Chronik, 30.09.1874. 45 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, in: Theodor Fontane, Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hrsg. von Kurt Schreinert, vollendet von Gerhard Hay, Stuttgart 1972, S. 167; Theodor Fontane an Martha Fontane, in: Theodor Fontane, Martha Fontane, Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle, Berlin/New York 2002, S. 263.



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führten penibel ihre Reisetagebücher, die sie zur Sicherung des Dokumentationswertes wechselseitig überarbeiteten und die davon zeugen, welchen Besichtigungsmarathon sie absolvierten: »3 Stunden in der Pinacoteca, Theo macht Aufzeichnungen über jedes Bild.«46 Die unglaubliche Zahl von rund zehntausend Bildern und Skulpturen habe er während seiner Italien-Aufenthalte besichtigt, erinnerte sich Fontane später, »täglich hundert Stück«.47 Allein angesichts dieser Zahl verwundert es nicht, dass Fontane in seinen Notizbüchern immer wieder bloße Listen erstellte, in denen das »flüchtig Gesehene« »Nummer für Nummer« festgehalten wurde.48 Ein Spaß war das nicht. Neben der fließbandartigen Produktion von Bestandslisten aus Museen, Galerien und Kirchen gingen zudem noch große Teile der Aufenthaltszeit für andere schriftstellerische Arbeiten und Geschäftskorrespondenzen verloren. Während der gesamten Reise hatte Fontane mit der Fahnenkorrektur und Überarbeitung der letzten Teilbände des Kriegs gegen Frankreich und der Neuauflagen der Wanderungen alle Hände voll zu tun.49 »Emilie mit Novilles ausgeflogen. Ich im Hôtel geblieben um die Fahnen zu corrigiren«, heißt es in Theodors Eintrag aus Venedig vom 6. Oktober 1874.50 Emilie hält am 18. Oktober 1874 in Rom fest: »Theo krank, sitzt in furchtbar ungemüthlicher Umgebung über seinen Correkturbögen! Ich wage ihn nicht anzusehn, weil ich immer nur an meinen Thränen zu schlucken u. Flöhe zu fangen habe.«51 Hinzu kamen »als ein wahres Schreckens- und Schmerzenspaket« unzählige »Geschäftsbriefe«, die von jeder Reisestation aus geschrieben wurden.52 Ganze Tage wurden so mit dem Schreiben von »Correspondenzen« verbracht.53 Die im Notizbuch festgehaltene To-do-Liste vom Beginn der Reise zählt noch für die Zwischenstation München 20 Empfänger auf, darunter Vertreter der gesamten Berliner Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft: Deutsche Rundschau (Rodenberg), Gegenwart (Lindau), Vossische Zeitung (Frenzel, Pietsch, Lessing, Remy), Kreuzzeitung (Adami), Johanniter Wochenblatt (Herrlich), Augsburger Allgemeine Zeitung (Braun); daneben Künstler (Gentz), Historiker und Vertreter von Geschichtsvereinen (Schneider, Holtze, Foß), Fontane’sche Ver46 Tagebucheintrag vom 31.10.1874, GBA XI/3, S. 360; Aus der Au, Theodor Fontane als Kunstkritiker, S. 86. 47 Theodor Fontane an Friedrich Stephany, HFA IV/2, S. 595–596. 48 GBA XI/3, S. 348. 49 NFA XXIII/2, S. 12–13, 41, 47. 50 GBA XI/3, S. 307. 51 Ebd., S. 347. 52 Theodor Fontane an Hermann Kletke. In: Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane, Briefe an Hermann Kletke, München 1969, S. 47. 53 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz. In: Fontane, Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898, S. 172–173.

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bindungsmänner und -frauen zum Hof (Schneider, v. Rohr), Kunsthistoriker (Lübke) und Theaterkritiker (Blumenthal).54 Beim Eintrag ›Hahn‹ ist nicht klar, ob der Historiker Werner Hahn oder der preußische Pressestellenleiter Ludwig Hahn gemeint ist. Noch gar nicht genannt in dieser Liste sind Fontanes Tunnel- und Rütli-Freunde Zöllner, Lucae, Heyden, Lazarus, Wichmann, sein Verleger Hertz oder die Bauzeitungsverleger Ernst und Sohn, von denen wir allesamt wissen, dass Fontane mit ihnen aus Italien korrespondiert hat. Den wichtigsten Protagonisten unter den zum Zweck des Berliner Hauptstadtumbaus nach Italien entsandten Architekten, Künstlern und Museumsdirektoren stattete Fontane ebenso seinen Besuch ab wie den in Italien ansässigen preußischen Funktionsträgern – nicht aber beispielsweise der führenden deutsch-italienischen Literaturkennerin und Kulturvermittlerin Ludmilla Assing, die seit 1862 in Florenz lebte und in Preußen wegen ihrer Publikationen steckbrieflich verfolgt wurde.55 In Rom traf Fontane den Architekten der Berliner Nationalgalerie und der Siegessäule Johann Heinrich Strack ebenso wie den Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums Ernst Ewald, den preußischen Gesandten Robert von Keudell und zahlreiche Akteure aus dessen Mitarbeiterstab.56 In Venedig ließ er sich von Franz Schwechten beraten, dem Architekten des Anhalter Bahnhofs und später der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.57 In Neapel verabredete Fontane sich mit dem Verleger der Deutschen Bauzeitung (ehemals Wochenblatt des Architektenvereins) Georg Eberhard Ernst.58 Von Neapel aus bereisten die Fontanes zusammen mit dem »Reichspost-Architekten« Carl Schwatlo den Golf von Pozzuoli und Capri.59 Den beiden Hauptaufgabengebieten der Kunstpolitik – Studienreise und Kunsterwerb – entsprechend, reisten Schwechten und Schwatlo jeweils in Begleitung finanzstarker Partner: Schwechten war mit dem Bankier und Kunstsammler Felix Koenigs (1846–1900) vom Berliner Bankhaus Delbrück unterwegs. Koenigs, nach dem heute die Berliner Koenigsallee benannt ist, war einer der Begründer des Villenviertels in Berlin-Grunewald, wo er die Privatvillen mit italienischer Kunst, Gipsbüsten und Mosaiken ausstattete. Carl Schwatlo, der während des Gründerbooms 1872 bei Spekulationsgeschäften 54 NFA XXIII/2, S. 425. 55 Nikolaus Gatter, »Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum.« Der literarische Nachlaß von Karl August Varnhagen von Ense und die Polemik gegen Ludmilla Assings Editionen (1860–1880), Bielefeld 1996. 56 Richter, Fontane in Italien, S. 41–42. 57 Peer Zietz, Uwe H. Rüdenburg, Franz Heinrich Schwechten. Ein Architekt zwischen Historismus und Moderne, Stuttgart/London 1999; Wolfgang Jürgen Streich, Franz Heinrich Schwechten (1841–1924). Bauten für Berlin, Petersberg 2005. 58 GBA XI/3, S. 363. 59 Richter, Fontane in Italien, S. 42.



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große Teile seines Privatvermögens verloren hatte, reiste mit den beiden Inhabern des Frankfurter Bankhauses Georg Hauck & Sohn.60 Mit deren Hilfe versuchte er sich nun im lukrativen italienischen Kunsthandel. Fontane selbst besichtigte in Italien nicht nur Museen, Kirchen und Galerien, sondern besuchte auch Kunstwerkstätten und den führenden Mosaikfabrikanten Antonio Salviati, dessen Firma in Murano bei Venedig halb Europa mit Glasmosaiken ausstattete – nicht zuletzt hatte Salviati auch das von Anton von Werner entworfene Mosaik am Rondell der Berliner Siegessäule fabriziert.61 Eine Skizze von einem Glasmosaik Salviatis zusammen mit Informationen zum venezianischen Geschäftsmann findet sich in Fontanes Reisenotizbuch.62 Auch ohne Näheres über Charakter, Inhalt und Auftraggeber von Fontanes ominöser vergessener Instruktion zu wissen, verweist dies alles darauf, wie eng eingebunden Fontanes beide Italienreisen in den Kontext des Berliner Hauptstadtumbaus, der Reorganisation staatlicher Kunst- und Baupolitik und des damit zusammenhängenden italienischen Kunsthandels waren. Die von Fontane 1858 formulierte Alternative – »Italien, das immer auf Kunst bereist wird, ließe sich auch mal auf Politik bereisen«63 – galt nach der Gründung der beiden Nationalstaaten 1871 und angesichts des verflochtenen Hauptstadtumbaus Berlins und Roms so nicht mehr: Es war beides. Wollte Fontane 1858 als offiziöser Presseagent nach Rom entsandt werden, so erscheint er 1874–75 wie ein offiziöser Kunstagent. Weniger märchenhaft erscheint in diesem Licht auch Fontanes Anstellung an der Akademie der Künste. Auf der Basis von Fontanes Italienreisen konnte Richard Lucae am 12. Januar 1876 ihn gegenüber Richard Schöne glaubhaft als Nachfolger ins Spiel bringen.64 Und nur so konnte Schöne in seinem Immediatsbericht an Kaiser Wilhelm  I. darauf verweisen, dass Fontane die fehlenden formalen Einstellungsvoraussetzungen mit seiner »durch vielfache Reisen und Studien erworbene Bekanntschaft mit den hervorragendsten Werken der neueren Kunst und seiner tüchtigen ästhetischen und historischen Bildung« kompensieren würde und erwarten lasse, »dass er den eigenthümlichen Anforderungen, welche das Amt […] stellt, gewachsen sein würde«.65 Auch hatte er sich während der Reise die nötigen Kompetenzen für seine Aufgabenbereiche an der Akademie erworben, zu denen etwa die Mitwirkung an der Gründung einer Kommission zur Erstellung von 60 GBA XI/3, S. 362–364. 61 Ebd., S. 310, 340. 62 Fontane, Notizbücher, C8, Bl. 70r. 63 Theodor Fontane, Martha Fontane, Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz, S. 41. 64 Fischer, »…so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.«, S. 29. 65 Berbig, Fontane Chronik, 17.02.1876.

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Gutachten für Kunstankäufe gehörte.66 Wenn Fontane viel später in einem Altersbrief gegenüber Maximilian Harden bekennt: »Ich darf sagen daß ich eine große Bilderkenntniß habe, fast wie ein Auktionator«, lässt sich dies durchaus auf seine italienischen Erfahrungen zurückführen.67 Vor diesem Hintergrund wären auch Fontanes Reisenotizen anders zu bewerten. Was als »defizientes Kunsturteil«, »irritierend[es] […] ständige[s] Bedürfnis, Listen aufzustellen, welche Bilder ihm am besten gefallen haben«68 oder vermeintlich trivialer, bis ans unfreiwillig Komische heranreichender Kommentar (»sehr großes Bild«)69 erscheint, kann als Bestandsaufnahme und Beschreibung hinsichtlich dieser Reisezwecke durchaus funktional sein: ob als potentielle Erwerbsliste oder als Sammlung von Studienobjekten für Berliner Künstler, wie sie ein Registrator oder Sekretär eben zu erstellen hat. Darüber hinaus unterscheiden sich diese von Fontane früh eingeübten Arbeitstechniken der Listenführung und Zuschreibung »einer geringen Anzahl von Allerweltsadjektiven«70 (»schön«/»unschön«, »bedeutend«/»unbedeutend«, »brillant«/»langweilig«) nicht kategorial von seinen anderen Reisenotizbüchern (etwa zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg) oder seinen Annotationen zu literarischen Werken.71 Eine Fremdheit gegenüber dem Gegenstand lässt sich daraus nicht ableiten. Und Lamentos über Fontanes vermeintlich fehlenden Kunstsinn gehen an der Sache vorbei.

III. »Italien hält die Treu«. Akademie-Fiasko und italienische Nachklänge Vergleichbares gilt für die Frage nach der weitgehenden Nicht-Veröffentlichung des italienischen Materials. Der Erfolg der italienischen Reisen hinsichtlich der Verbeamtung an der Akademie der Künste war zugleich ihr Misserfolg, was die spätere Publikation eines italienischen Reisebuchs nach Art von Jenseit des Tweed, der Wanderungen durch die Mark Brandenburg oder der Osterreise Aus den Tagen der Okkupation nach Frankreich anbelangt. Hatte Fontane noch un66 Ebd., 29.03.1876. 67 Theodor Fontane an Maximilian Harden, HFA IV/4, S. 511. 68 Grawe, »Italian Hours«, S. 283, 286. 69 GBA XI/3, S. 319. 70 Grawe, »Italian Hours«, S. 285. 71 Vgl. etwa zu Fontanes Annotationen in seiner Ausgabe von Heinrich Heines Romanzero: Roland Berbig, ›Der Dichter Firdusi‹ – »sehr gut«. Zu Theodor Fontanes Lektüre des ›Romanzero‹ von Heine. Begleitumstände mit einem detektivischen Diskurs. In: Fontane Blätter 65/66 (1998), S. 10–53.



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mittelbar im Anschluss an die Reisen begonnen, sein Material zu ordnen und in den Stil von Reisefeuilletons umzuarbeiten, war mit der Anstellung, mit der er sein Jahreseinkommen auf 2400 Reichstaler inklusive Pensionsrechten mehr als verdoppelte, weder die finanzielle Notwendigkeit einer Veröffentlichung gegeben, noch ließ ihm die neue Stelle Zeit für eigene schriftstellerische Projekte.72 Als Akademiesekretär und königlicher Beamter war er sozusagen vom literarischen Markt genommen: In der liberalen Hauptstadtpresse, also insbesondere der Vossischen Zeitung und Paul Lindaus Gegenwart, konnte er sich nicht unabhängig äußern. Und die hofnahe Kreuzzeitung war seit seiner Kündigung des Redakteur-Postens nicht mehr gut auf ihn zu sprechen. Bekanntermaßen endete die Anstellung an der Akademie der Künste im Fiasko und Fontane kündigte die Stelle nach nicht einmal fünf Monaten. Fehlende Gestaltungsmöglichkeiten, ständige Machtkämpfe zwischen den beiden Einflussgruppen des Kultusministeriums und des Kaisers sowie die Drangsalierung durch den jungen Liebling des Hofes Anton von Werner führten schließlich zur Kündigung. Zusammen mit der gleichzeitigen Enttäuschung über die mangelnde Gratifikation für die Kriegsbücher durch den Hof ging damit insgesamt Fontanes Entscheidung einher, nicht mehr im preußischdeutschen Staatsdienst tätig sein zu wollen, sondern sich erneut beruflich umzuorientieren und sich als Romanautor selbständig zu machen.73 Auch wenn die deprimierende Erfahrung des Akademie-Debakels auch spätere Italien-Erinnerungen überschattet haben und nicht zuletzt mitursächlich für die Verstümmelung der Reisenotizbücher, die Briefvernichtungsaktionen und die spärlichen und mit negativen Erinnerungen belasteten rückblickenden Äußerungen gewesen sein dürfte, bleibt festzuhalten, dass Fontane 1876 dem preußischen Staatsdienst entsagte, nicht aber Italien. In einem 1878 an seinen Nachfolger als Sekretär der Akademie der Künste und wichtigsten Korrespondenzpartner während der italienischen Reisen Karl Zöllner übersandten Gelegenheitsgedicht spielt Fontane nicht nur auf den seinerzeitigen Zusammenhang von Italienreisen und Akademieanstellung an, sondern auch auf die Verwerfungen und das Unverständnis, das seine Kündigung bei seiner Ehefrau Emilie und den Tunnel- und Rütli-Freunden hervorgerufen hat, die für den Quereinsteiger Fontane alles mühsam eingefädelt hatten. Während alle dem abtrünnigen Akademiker »untreu« geworden seien, halte einzig Italien noch zum »alten Sekretär« Fontane: »Wenn alle untreu werden, / Italien hält

72 Zu den Umarbeitungen und zwei bis dato unveröffentlichten italienischen Reisefeuilletons Richter, Fontane in Italien, S. 76–77. 73 Zusammenfassend D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, S. 280–334.

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die Treu […] / Es schwinget noch die Fahne, / Von Sechsundsiebzig her, / Und senkt sie vor Fontane, / Dem alten Sekretär.«74 Und umgekehrt hielt tatsächlich auch Fontane Italien die Treue. Weiterhin versuchte er vergeblich, in Paul Lindaus Gegenwart »ein regelmäßiges, nach Art der Theater-Berichterstattung honoriertes Kunstreferat« einzurichten.75 In der Sonntags-Beilage der Vossischen Zeitung veröffentlichte er 1878 in mehreren Folgen eine ebenso umfang- wie kenntnisreiche Besprechung von Wilhelm Lübkes mehrbändiger Geschichte der italienischen Malerei.76 1880 kündigte er in mehreren Artikeln eine Vorlesungsreihe zur Geschichte der Italienischen Literatur von Giuseppe Marchesi im Berliner Architektenhaus (in italienischer Sprache!) an. Er unterstützte Marchesi, über den man leider praktisch überhaupt nichts weiß, auch in dem Versuch, bei der Vossischen Zeitung als Italien-Korrespondent eine Anstellung zu finden. Und während Fontane seinen Söhnen im Jahresrückblick auf das Katastrophenjahr 1876 als Warnung ins Familienstammbuch schrieb: »nur nicht von Fürsten oder Herren etwas wollen […] Man blamirt sich nur und hat sich vor sich selbst erniedrigt«, rät er später den Söhnen des inzwischen in Rom heimisch gewordenen Hermann Wichmann zur italienischen Staatsbürgerschaft anstelle der deutschen.77 Erst Anfang der 1880er Jahre, als sich mit den vier Säulen der Romanschriftstellerei, den Wanderungen, der Theaterkritik und einer Sinekure der preußischen Pressestelle wieder ein einigermaßen stabiles finanzielles Gerüst zur Sicherung des Einkommens ergeben hatte (an dem sich bis zum Lebensende auch nichts mehr ändern sollte), gab Fontane wohl endgültig den Plan eines italienischen Reisebuchs auf. Nicht zufällig fällt in diese Zeit auch die Vernichtung der italienischen Reisekorrespondenz. Selbst dies aber impliziert nicht die Absage an den Gegenstand, sondern zunächst nur den Wechsel des Gattungsformats. Denn in Fontanes Romanen kehrt der ganze italienische Kosmos zurück: Das Italien der Kunst mit dem titelgebenden Tintoretto-Gemälde und der Familie des Berliner Kunstsammlers Louis Ravené als reales Modell für die Ehepartner van der Straaten in L’Adultera. In Schach von Wuthenow die italienischen Restaurants in Berlin und der Fluchtpunkt Rom, an den sich Victoire Carayon mit dem gemeinsamen Kind nach dem Suizid Schachs vor dem preußischen Ehrbegriff und dem gnadenlosen Berliner Gesellschaftstratsch geflüchtet hat. Das Italien des Tourismus mit unzähligen, meist unglücklichen Hochzeitsreisen (Graf Petöfy, Effi Briest, Melusine im Stechlin) oder auch als 74 Theodor Fontane an Karl Zöllner, HFA IV/2, S. 607. 75 Theodor Fontane an Paul Lindau, HFA IV/2, S. 522. 76 Wilhelm Lübke, Geschichte der italienischen Malerei. In: Sonntags-Beilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 27 (07.07.1878), Nr. 277 (24.11.1878). 77 GBA XI/2, S. 59; Theodor Fontane an Hermann Wichmann, HFA IV/4, S. 373.



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Ort, an dem sich preußische Adlige der Justiz entziehen (wie St. Arnaud an der Riviera nach seinem zweiten Duellmord in Cécile). Und in den späten Romanen Unwiederbringlich und Der Stechlin macht Fontane nicht zuletzt auch das politische Italien und die untrennbare Verflechtungsgeschichte der beiden verspäteten Nationalstaaten zum Gegenstand. Am Anfang seines historischen Romans Unwiederbringlich zitiert er in Zeitungsschlagzeilen den Zusammenhang zwischen italienischem Risorgimento und preußischem Regierungswechsel im Jahr 1858 als Indikatoren für das sich abzeichnende Ende der Wiener Ordnung. Und am Schluss seines letzten Romans, des »politischen Zeitroman[s]« Der Stechlin, steht eine Vision Dubslavs eines imaginären Albums, in dem »lauter Berühmtheiten« des 19. Jahrhunderts versammelt sind.78 Monarchistische preußisch-deutsche und republikanische italienische Nationalstaatsgründer finden sich hier vereint mit Vertretern der aufstrebenden Sozialdemokratie und der sozialistischen Internationale: »der alte Wilhelm und Kaiser Friedrich und Bismarck und Moltke, und ganz gemütlich dazwischen Mazzini und Garibaldi, und Marx und Lassalle […], und daneben Bebel und Liebknecht.«79 Würde man eine nach europäischen Ländern geordnete Liste von in Fontanes Romanen erwähnten Schauplätzen, Motiven, Personen und Objekten erstellen, läge Italien an einer der Spitzenpositionen. Viel weniger Kautelen hinsichtlich vermeintlich unüberbrückbarer Kulturdifferenz hatte und hat denn auch die italienischsprachige Fontane-Rezeption. In keine andere Sprache der Welt wurden Fontanes Romane so häufig und umfassend übersetzt wie ins Italienische: In über 30 verschiedenen Ausgaben liegen von den 17 Fontane-Romanen 14 auf Italienisch vor (es fehlen nur Ellernklipp, Quitt und die postum aus dem Nachlass veröffentlichte Mathilde Möhring). Auf den nächsten Plätzen folgen mit 10 übersetzten Romanen das Französische und mit 9 das Englische.80 Wie immer gilt, das wusste schon der Listenfuchs Fontane: Empirie schlägt Vorurteil.

78 GBA I/17, S. 437–438. 79 Ebd. Zu den vielfältigen Italien-Aspekten in Fontanes Romanwerk vgl. die Beiträge in: Fischer und Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien; Richter, Fontane in Italien, S. 83–104; Riedel, »Das schöne Land Italia«, S. 268–382. 80 Zählung nach Wolfgang Rasch, Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. Hrsg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen, Bd. 1, Berlin/New York 2006, S. 945–984.

Auf dem Wege zur Moderne

Anthropologische Liminalitätsräume in Theodor Fontanes Romanen »Stine« und »Irrungen, Wirrungen« Maria Paola Scialdone

Ein »Armchair-Ethnologe« an der Schwelle zur Moderne Im letzten Jahrzehnt haben diverse Studien aus unterschiedlichen Richtungen versucht, Fontanes Haltung zum Zeitwandel in den Blick zu nehmen und seine Physiognomie als Dichter des Übergangs zwischen einer alten und einer neuen Weltauffassung zu profilieren.1 Die Forschungsergebnisse haben insgesamt hervorgehoben, dass es sich dabei um eine sehr ambivalente Stellung handelt; insofern könnte man von einer ‚schwellenartigen Position‘ seines Œuvres sprechen, die – nach beiden Seiten hin offen – einen gleichzeitigen Blick auf das Traditionelle und das neu Aufkommende ermöglicht. Dieser Aufsatz geht davon aus, dass der anthropologische Begriff der Schwelle als Motiv in seinem Werk, bzw. das damit verbundene Thema der Liminalität, dazu beitragen kann, neues Licht auf das Verhältnis Fontanes zur Moderne zu werfen. In der seit dem topographical turn zur Flut gewordenen Sekundärliteratur über Raumordnungen in Fontanes Prosa2 wird die Schwelle hauptsächlich als 1 Darunter: Patricia Howe (Hrsg.), Theodor Fontane – Dichter des Übergangs. Beiträge zur Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft 2010, Würzburg 2013. Für die Fokussierung dieses Themas vgl. auch John Burton Lyon, Out of Place: German Realism, Displacement, and Modernity, London/New Delhi/New York 2013 und Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014. 2 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit siehe: Michael Andermatt, Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane u. F. Kafka, Bern [u.a.] 1987; James Bade, Fontane’s Landscapes, Würzburg 2009 (= Fontaneana; Band 7); Katrin Scheiding, Raumordnungen bei Fontane, Marburg 2012; Michael White, »Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?«. Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s Unwiederbringlich. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Berlin 2010, S. 109–123 (Sonderheft zum Band 129: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur); Michael James White, Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function, London 2012; Susanne Ledanff, Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes. Mit besonderem Blick auf Michel de Certeaus Raumtheorie. In: Tim Mehigan und Alan Corkhill (Hrsg.), Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne I, https://doi.org/10.1515/9783110735710-004

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eine konkret räumliche oder metaphorische Manifestation in der realen oder symbolischen Raumphänomenologie seiner literarischen Produktion betrachtet. Insbesondere wird die Schwelle meistens unter den diversen Grenzerfahrungen aufgenommen, mit denen Fontanes Leser konfrontiert werden. Das ist zum Beispiel der Fall der Studie von Kathrin Scheiding.3 Tatsächlich schreibt sie, stelle die Schwelle »einen wichtigen Punkt unter den Grenzen zwischen zwei Räumen« dar,4 die sowohl innere als auch äußere Räumlichkeiten betreffen können: In Fontanes Romanen sind zwei Schwellensituationen besonders prägnant: nämlich die Schwelle zwischen zwei Räumen innerhalb des Bereichs des Hauses, wie zum Beispiel die architektonische Schwelle am Eingang eines Hauses oder Zimmers sowie die Schwelle zwischen Innenraum und Außenraum.5

Metaphorisch hebt Scheiding, indem sie sich auf Bachtin stützt,6 die symbolische Bedeutung der Schwelle als Wendepunkt im Leben der Figuren Fontanes hervor und veranschaulicht diese doppelte Ebene der Schwellenanwendung in seinem Œuvre, real und symbolisch zugleich, anhand von Holks Übertritt der Schwelle zu Ebbas Schlafzimmer im Roman Unwiederbringlich: »Indem Holk die Schwelle zu Ebbas Zimmer übertritt«, schreibt sie »übertritt er auch eine Schwelle im übertragenen Sinne, nämlich die Schwelle zum Verbotenen. Und dieser Schritt ist geradezu ‚unwiederbringlich‘«.7 Bielefeld 2013, S.  147–166; Rolf Parr, Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 9), S.  53–76; Rolf Parr, Kleine und große Weltentwürfe. Theodor Fontanes mentale Karten. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 17–40 und zuletzt Nina Hirschbrunn, »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.« Die Semantik des Raumes bei Theodor Fontane, Heidelberg 2017 (= Dissertation an der dortigen Universität). Online abrufbar unter: http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/25332 (letzter Zugriff am 20.08.2022). 3 Die Forscherin behandelt das Schwellenmotiv im Kapitel Grenzerfahrungen: vgl. Scheiding, Raumordnungen bei Fontane, S. 262–285, in dem sie Topoi wie Fenster, Schwelle und Spiegel zugleich thematisiert. 4 Ebd., S. 271. 5 Ebd., S. 273. 6 Scheiding zitiert den sogenannten »Chronotopos der Krise«, mit dem Bachtin die Schwelle als den »Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verädernden Entscheidung […] (oder auch […] des Zauderns, der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle)« bezeichnet (Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 198, zitiert in Scheiding, Raumordnungen bei Fontane, S. 272). 7 Ebd., S. 274.



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Obwohl Scheiding gelegentlich von der Schwelle als »Zwischensphäre« spricht, also von einer ‚Nische‘ zwischen zwei Räumen und zwei Grenzen,8 neigt ihre Analyse oft dazu, den Schwellenbegriff mit dem Grenzbegriff tout court zu verwechseln. Schwelle und Grenze sind aber zwei sehr verschiedene Denkbilder. Grenze kann man auch als Demarkationslinie beschreiben, Schwelle dagegen ist eine begrenzte Zone, die sowohl einen Übergang als auch ein Verbleiben ermöglicht. Eine gewisse Überschneidung beweist ihre Beschreibung des Raummodells des Fensters, das sie sowohl »Grenzmarkierung« als auch »Schwelle« nennt,9 welche dazu diene, Fontanes Figuren über die Grenze ihrer Welt durch einen »sehnsüchtigen Ausblick« hinauszulassen,10 mit einer Dialektik der Entgrenzung, die den Gemälden von Caspar David Friedrich ähnele.11 Beispiele dafür seien Effi Briest und Vor dem Sturm, wo »das Fenster« – jenes »Guckloch« [sic!]12 – »eine Schwelle zwischen Innen und Außen« sei, aus welcher »der Blick aus dem Innenraum in den Außenraum romantisiert wird«.13 Schwelle ist zwar an sich eine Manifestation des Grenzphänomens, ihre Merkmale aber weisen komplexere, sogar labyrinthische Charakteristika auf, in welchen sich – so der Germanist Oskar Seidlin – die räumliche und die zeitliche Dimension überlappen können und Werte wie Übergang, Verhandlung zwischen zwei gegenüberstehenden Grenzen und vorübergehende Zeitaussetzungen vorkommen können: Die Schwelle ist die Stelle des Übergangs, das vermittelnde und verbindende in beide Richtungen blickend, nach rückwärts und wenn auch deutlich hinüberführend von einem Außen in ein Innen, so doch suspendiert in einem eigentümlichen Schwebezustand, dem hier so gehörig wie dem dort, aber zugehörig in dem Sinne von nicht-mehr-hier und noch-nicht-dort. Schwelle ist, ins Temporale übertragen, der Moment des Abbrechens, in dem freilich schon der neue Aufbruch gegenwärtig ist, verweilendes Warten, das aber auch bereits voraneilende Erwartung geheißen werden kann.14

Bezüglich der phänomenologischen Charakteristika der Schwelle ist die Studie von Nina Hirschbrunn präziser und fokussierter als jene Scheidings. Sie 8 Ebd., S. 271. 9 Ebd., S. 263. 10 Ebd. 11 Ebd., Anm. 522. 12 Ebd., S. 263. 13 Ebd., S. 268-269. Romantik spielt sicherlich eine wichtige Rolle bei Fontane, aber in seinen Romanen haben sentimentale und sehnsüchtige Akzente kaum Platz. 14 Oskar Seidlin, Prag: Deutsch romantisch und Habsburgisch-Wienerisch, in Austriaca. Beiträge zur österreichischen Literatur. Festschrift für Heinz Politzer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Kudzus und Hinrich C. Seeba in Zusammenarbeit mit Richard Brinkmann, Tübingen 1975, S. 205.

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vernetzt mehrere Schwellenmanifestationen in Fontanes Romanen unter der Kategorie der »Heterotopie« Lotmans miteinander (darunter bespricht sie Effi Briest; Stine; Irrungen, Wirrungen; Cécile und L’Adultera). Wie Scheiding folgt sie dem topographischen Ansatz, den sie um einen soziologischen Blick erweitert, indem sie von der gesellschaftlichen Verortung der Romanfiguren bzw. von ihrer Normakzeptanz oder Normverletzung ausgeht. So wie bei Scheiding ist aber ihr Interpretationsschema vom »point of no turning point«15 [sic!] im Leben der Figuren geprägt: In den Heterotopien kommt es zu einem Herantasten an eine von Lotman definierte Grenze, die den Raum in „zwei disjunkte Teilräume“ teilt. Die Figuren verstoßen dabei (noch) nicht gegen die im Ausgangsraum entworfene Ordnung, dennoch kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dieser oder zu einer kurzzeitigen Lockerung der bestehenden Konvention. Innerhalb des Schwellenraumes findet der Grenzübertritt statt, mit dem sich die Figur von der Ordnung des Ausgangsraumes entfernt und dadurch mit einer herrschenden Norm bricht oder gegen eine Erwartung verstößt. Mit diesem Grenzübertritt erreicht die Romanhandlung ihren Höhepunkt. Hier wird über Glück oder Unglück der Figur entschieden. Eine Rücknahme des Grenzübertrittes ist nicht möglich. Nach der Verletzung einer Erwartung oder einer Konvention kann die Figur nicht mehr oder nur schwer an ihre ursprüngliche Verortung zurückkehren. Mit dem Grenzübertritt wechselt sie aus einem topologischen, topographischen oder semantischen in einen diesem entgegenstehenden neuen Teilraum. Der Verlauf der Grenze, die prinzipielle Ordnung, mit der sich die Figur konfrontiert sieht, sowie die verschiedenen semantisch aufgeladenen Teilräume sind bereits im Ausgangsraum angelegt.16

Neben den sozio-topographischen Lektüren, die in der Fontaneforschung trotz einiger Interpretationsgrenzen schon einiges geleistet haben, ist es m. E. notwendig, neue kulturelle Hintergründe in Betracht zu ziehen, um die facettenreiche Funktion des Schwellenbegriffs in Fontanes Poetik zu vertiefen. Der ethnologisch-anthropologische Ansatz ist bis jetzt ein Forschungsdesiderat, dem ich in diesem Beitrag nachgehen möchte. Anlass dafür gab mir eine 2019 erschienene, der Großstadt als Verhandlungsraum der multimodalen Moderne gewidmete Studie von Nathalia Igl, die einen Zusammenhang des Schwellenmotivs mit Fontanes Kritik der Moderne erahnen lässt. In seinen Berliner Romanen gestalte Fontane – nach Igls Worten – »Schwellenerfahrungen auf dem Wege zur Moderne, die ihn selbst zu einem Autor der Epochenschwelle werden lassen«.17 Will man dieser Anregung folgen, die bei Igl nur eine einleitende Nebenbemerkung ist, so könnte man die Anwesenheit des Schwellenmotivs in 15 Scheiding, Raumordnungen bei Fontane, S. 273. 16 Hirschbrunn, »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«, S. 271. 17 An dieser Stelle zitiert Igl Ortrud Gutjahr. Vgl. Nathalia Igl, Un/Gleichzeitigkeiten. Großstadt als Verhandlungsraum der multimodalen Moderne von Fontane bis Ruttmann, in Text+Kritik (2019), Sonderband Theodor Fontane, hrsg. von Peer Trilcke, S. 57–72, hier S. 59.



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Fontanes Werk als eine anthropologische Schnitt- und Verhandlungsstelle zwischen „alt“ und „neu“ fokussieren. In den folgenden Bemerkungen halte ich an der oben in Erinnerung gerufenen Schwellendefinition von Oskar Seidlin fest. Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts ist das Überleben älterer Weltauffassungen in der bahnbrechenden Moderne ein großes Anliegen der ethnologischen Disziplin, nach deren Erkenntnis, wie ein interessanter Aufsatz von Rudolf Helmstetter es auf den Punkt bringt, die kulturelle Tradition in der Moderne »zugleich auch durchsetzt von diskontinuierlichen, heterogenen Elementen, von ›Überlebseln‹ von atavistischen Elementen, Relikten älterer Zeiten und Kulturstufen« sei.18 Um 1868, Jahr der Gründung des „Berliner Museums für Völkerkunde“ durch Adolf Bastian und der endgültigen Etablierung der volkskundlichen Forschung, ist die Ethnologie ein hybrides Fach, das Völkerkunde, Völkerpsychologie und Sozialanthropologie miteinander verbindet. In diesem interdisziplinären Denkraum, der Fontanes Romanen eine unter anderen diegetische Kulisse anbietet, ist die Suche nach dem Archaischen in der Gegenwart ein sehr wichtiges Feld. Die völkerkundliche Wissenschaft selbst wird vom Ethnologen Edward Tylor als diejenige bezeichnet, »welche das Leben der zivilisierten Völker mit dem der Wilden und Barbaren in Verbindung zu setzten sucht«.19 Der oben zitierte Aufsatz von Helmstetter, der sich vornimmt, Fontanes Meisterwerk Effi Briest als ethnologischen Roman zu lesen, geht von der wenig erforschten Grundfrage aus, wie vertraut der »allesfressende Leser«20 Fontane mit dem völkerkundlichen Wissen seiner Zeit war. Wenn man bedenkt, dass der Autor der Wanderungen durch die Mark Brandenburg in seinen Exkursionen mehr Interesse für »das Menschliche« als für die schönen Aussichten der heimatlichen Landschaft zeigt, wie Claudia Buffagni hervorhebt,21 wird es nicht überraschen, dass sich seine Romane als besonders ‚anthropologieaffin‘ erweisen.22 Anhand von Briefen, Tagebucheinträgen, expliziten Verweisen in 18 Rudolf Helmstetter, Das realistische »Opfer«. Ethnologisches Wissen und das gesellschaftliche Imaginäre in der Poetologie Fontanes. In: Michael Neumann und Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 363–388, hier S. 371. 19 Ebd., S. 372. 20 Petra McGillen, Ein kreativer Apparat. Die Mediengeschichte von Theodor Fontanes Bibliotheksnetz und Lektürepraktiken. In: Fontane Blätter 103 (2017), S. 100–123, hier S. 100. 21 Claudia Buffagni, Theodor Fontane: Viaggi non straordinari di un romanziere tedesco, Pasian di Prato (UD) 2004, S. 111. 22 Anthropologischen Spuren in Fontanes Werk ist auch Monika Schoene nachgegangen. Siehe: Frauengestalten im Werk Theodor Fontanes. Tiefenpsychologische und anthro-

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Fontanes Romanfragment Allerlei Glück (1877–1878) auf die Ethnologen und Anthropologen Adolf Bastian und Rudolph Virchow und dessen „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ und besonders dank Fontanes enger Freundschaft mit dem Rütli-Vereinsgenossen, dem Volkspsychologen Moritz Lazarus,23 die ihm auch Informationen erster Hand im Bereich jenes Wissens ermöglichte, gelangt Helmstetter zu folgendem Schluss: der »armchair-Ethnologe«24 Fontane saß zwar durch seine Bekanntschaft mit Lazarus an der Quelle der neuesten ethnologischen-kulturtheoretischen Forschung, er hätte aber völkerkundliches und kulturtheoretisches Wissen auch aus vielerlei anderen, sekundären und jedermann zugänglichen Quellen beziehen können. Die epistemische Situation des späten 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine breite und verästelte mediale Distribution von Wissen.25

McGillens sorgfältige Rekonstruktion von Fontanes Lektürepraktiken, seiner vernetzten, virtuellen Bibliothek, die seine Aufmerksamkeit für »Highbrow-« und »Lowbrow-Quellen«26 verrät, kann Helmstetters Vermutungen nur bestätigen. Zur Zeit Fontanes wird die Schwelle in den Fachorganen des ethnologischen Wissens oft erwähnt. Besonders in den Analysen volkstümlicher Bräuche und Traditionen auf dem Lande, die der durch die Mark Brandenburg wandernde Fontane sicherlich zu schätzen wusste, spielt dieser Begriff eine nicht unbedeutende Rolle. Im Jahrgang 1893 der von Karl Weinhold herausgegebenen und von Moritz Lazarus mitgegründeten Zeitschrift des Vereins für Volkskunde ist z. B. von Volksbräuchen wie dem sogenannten »Schwellenhocken« die Rede, einem Ritual des mittelschlesischen Dorflebens, das bei pologische Aspekte, Bad Rappenau 2014. 23 Fontane und Lazarus waren eng befreundet. Beide waren auch Mitglieder der Vereine Tunnel über der Spree und Ellora. Lazarus und seinem einflussreichen Netz ist auch die Befreiung Fontanes nach seiner Gefangennahme in Frankreich zu verdanken (vgl. dazu Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2019, S. 269–270). »Aber nicht nur persönlich trafen sich die beiden ,Rütlionen‘. Immerhin sind auch 69 Briefe Fontanes an Lazarus bekannt. Davon sind 21 in der Hanser-Ausgabe veröffentlicht. Sie umfassen den Zeitraum von März 1865 bis Januar 1897. Joachim Krüger hat bereits 1984 und 1986 37 Briefe an Lazarus aus dem Zeitraum 1874 bis 1894 veröffentlicht. […] Die Briefe illustrieren den freundschaftlichen Verkehr und die Tatsache, dass auch die beiden Ehefrauen daran teilhatten.« Vgl. Karl Eh, »Dies ist das Niederdrückendste«. Theodor Fontane – Moritz Lazarus. Eine tragisch endende Freundschaft In: Berliner LeseZeichen, Heft 6/7 (Juni/Juli 2000), S. 22–36, hier S. 23. Auch online abrufbar: https://berlingeschichte.de/lesezei/rezensionen_aktueller_publikationen.html. 24 Helmstetter, Das realistische »Opfer«, S. 363. 25 Ebd., S. 372–373. 26 Petra McGillen, Ein kreativer Apparat, S. 100.



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Hochzeiten und zum Teil auch bei Kindtaufen inszeniert wird und bei dem »die liebe Jugend Hof und Gärten [erfüllt] und lüstern zu Thür und Fenstern hinein[guckt], und wohl auch um Kuchen, Wurst, Fleisch und dergl. [bettelt]«27. In einem 1895 im selben Fachorgan erschienenen Artikel wird auch der heutzutage völlig vergessene Brauch des »Fensterln[s]« thematisiert, das sich im Böhmerwalde zu jener Zeit noch lebendig erhalten hatte. Der Autor des Aufsatzes beschreibt eine besondere Dorfidylle, die nochmals um eine konkrete und räumlich definierte Schwellenart kreist: Anfangs wird bei stillem Mondenschein in kameradschaftlicher Geselligkeit Straße auf- und abgewandelt und ein zwei- oder dreistimmiger Jodler, der mit Volksliedern abwechselt, klingt hinaus in die Nacht. Manche Maid lauscht im dunklen Kämmerlein diesen verheißungsvollen Klängen, das Herz pocht unter der warmen Decke, denn die Erwartung ist gespannt. Da klopft es ganz leise ans Kammerfensterl, und bald singt es von Draußen leise herein: »Diandl, steh auf, oder kennst du mi net? Oda san dos deine Fensta net?« Und ein übermütiger Jauchzer beschließt dieses Gstanzl. Doch die Dirn ist klüger. Sachte kommt sie ans Fensterl geschlichen und warnt den Verwegenen, nicht allzu laut zu sein – denn der „Alte“, der in der Stube nebenan schläft, hat feine Ohren und könnte mit einem argen Donnerwetter dreinfahren. Doch wird diese Vorsicht außer Acht gelassen, wenn die Dirne auf dem Dachboden oder im Heu oder Grummet nachtet; da haben die Mäuse gute Zeiten, weil sie vor der Katze sicher sind. Nun beginnt ein „Fischpein“ (Lispeln) und Kosen durchs halb geöffnete Fenster, lange sträubt sich die Jungfer, bis es der Überredungskunst des Burschen endlich gelingt, Einlass zu erhalten.28

Nach wenigen Jahren werden solche von den Ethnologen gelegentlich als vereinzelte lokale Traditionen analysierte Übergangsriten in der ethnologischen Disziplin als universelle Phänomene betrachtet und systematischer beschrieben. Dabei spielt das Schwellenmotiv eine Hauptrolle. Nur elf Jahre nach Fontanes Tod stellt der deutsch-holländische Anthropologe Arnold van Gennep gerade den Begriff der Schwelle ins Zentrum seiner völkerkundlichen Überlegungen. In seinem epochemachenden Buch Les rites de passages (1909)29 interpretiert er die konkrete örtliche oder zeitliche Schwelle und deren ritualisierte Überschreitung als den symbolischen Raum vieler traditioneller und immer wiederkehrender Übergangsrituale menschlicher Existenz, welche u. a. auch den Wechsel von einem zu einem anderen soziokulturellen Zustand eines Individuums oder einer Gruppe markieren. Unter diesen Riten versteht van Gennep grundlegende Etappen des menschlichen Lebens, wie die Geburt, den Übergang von der Pubertät zum Erwachsenenalter, die Ehe, den 27 A. Baumgart, Aus dem mittelschlesischen Dorfleben. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, 3. Jg. (1893), S. 144–155, hier S. 154. 28 J. Peter, Dorfkurzweil im Böhmerwalde. Ebd., 5. Jg. (1895), S. 187–193, hier S. 188. Meine Hervorhebungen. 29 Arnold van Gennep, Les rites de passages, Paris 1909.

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Tod usw., die gesellschaftlich anerkannt, akzeptiert und, wie im Fall des oben erwähnten »Schwellenhocken[s]« und »Fensterln[s]«, durch besondere Riten und Zeremonien begleitet werden. Laut van Gennep beinhalten alle Riten im Allgemeinen ein räumliches Anschauungsmodell der Überschreitung von zwei Grenzen und der Kernpunkt dieser Art von Übergangsritualen ist die Auseinandersetzung mit einer symbolischen Schwelle in einem dreiphasigen liminalen Strukturmuster (das Wort »liminal« leitet sich vom lateinischen limen, d. h. Schwelle, ab und bezeichnet die Phase vor der Transition), welches van Gennep als (1) »rites de séparation« (preliminal); (2) »rites de marge« (liminal) und (3) »rites d’agrégation« (postliminal) beschreibt. Preliminal ist bei van Gennep die Phase vor dem Übergang, liminal die Entgrenzungsphase und postliminal das Ende des rituellen Vorganges, der mit dem neuen Status, dem Überschreiten der zweiten und letzten Grenze, endet. Der Ritus wird immer von einem Zeremonienmeister geleitet.

Die Ehe bei Fontane: liminal, liminoid Der von van Gennep u. a. analysierte Übergangsritus der Ehe steht im Mittelpunkt von zwei Romanen Fontanes, die ich hier unter ethnologisch-anthropologischem Gesichtspunkt analysieren möchte: Irrungen, Wirrungen (1882–1887) und Stine (1881–1889), zwei zeitnahe Texte, welche Fontane als »Pendant[s]« zueinander definiert.30 Ebenso wie bei den in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde dargestellten Ritualen (»Schwellenhocken« und »Fensterln«), die Ehe und sexuelle Reife betreffende symbolische Übergangserfahrungen beschreiben, Grenzerscheinungen wie Fenster oder Türe konkrete räumliche Manifestationen von Übergangsstellen sind, eröffnet eine bedeutsame ‚Fensterszene‘31 beide Romane Fontanes. Im bei Verleger und Publikum Skandal erregenden Roman Stine32 30 Vgl. Helmuth Nürnberger, Kommentar zu Stine in HFA I/2, S. 949–977, hier S. 951. In diesem Aufsatz versuche ich dem ethnologischen Hintergrund dieser beiden Romane nachzugehen. Zu Stine bietet die Forschung bis jetzt einige musterhafte Interpretationsmodelle (vgl. dazu auch Christine Hehle, Stine. In: Rolf Parr, Gabriele Radecke, Peer Trilcke, Julia Bertschik (Hrsg.), Theodor Fontane Handbuch, 2 B.de, Berlin/ Boston 2023, hier Bd. 1, S. 285-289), welche die anthropologisch-ethnologischen Beziehungen aber nicht in Betracht ziehen. 31 Das Fenstermotiv tritt bei Fontane wiederholt auf. Dazu vgl. David Darby, ,Nicht zu nah und nicht zu weit‘. Windows and the Domestication of Modernity in Fontane’s Berlin. In: Heide Kunzelmann und Anne Simon (Hrsg.), The Window: Motif and Topos in Austrian, German and Swiss Art and Literature, München 2016, S. 85–109. 32 HFA I/2, S. 951–952.



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wird Pauline Pittelkow, Konkubine des Grafen Sarastro, nicht zufällig als eine ‚Schwellendirne‘ vorgestellt, indem sie »kniehoch aufgeschürzt«, alle Blicke der unten auf der Invalidenstraße stehenden Männer anziehend (»’ne Sünd und ’ne Schand«),33 auf dem Fensterbrett, der Schwelle zwischen dem Außen- und dem Innenraum ihrer Berliner Wohnung steht. Ein ähnlicher liminaler Ort ist das Fensterbrett der kleinen Hinterstube im Hause Lenes in Irrungen, Wirrungen: das Szenario des Geständnisses34 Lenes gegenüber Frau Dörr, dass sie einen anderen adligen Liebhaber, Baron Botho von Rienäcker, erwartet: »Immer Fenster auf; das ist recht, Lenchen. Und fängt auch schon an, heiß zu werden […]«. »Ja. […] und da will ich doch lieber in der Hinterstube plätten. Ist auch hübscher hier; vorne sieht man keinen Menschen«. »Hast recht« antwortete die Dörr, »Na, da werd’ ich man ein bisschen ans Fenster rücken« […] Und ehe fünf Minuten um waren, hatte die gute Frau Dörr ihren Schemel bis an das Fenster geschleppt […]. Drinnen aber hatte Lene das Plättbrett auf zwei dicht ans Fenster gerückte Stühle gelegt und stand nun so nah, dass man sich mit Leichtigkeit die Hand reichen konnte. […] »Kommt er denn heute?« »Ja, wenigstens hat er versprochen«. »Nu, sage mal, Lene«, fuhr Frau Dörr fort, »wie kam es denn eigentlich? Mutter Nimptsch sagt nie was, un wenn sie was sagt, denn is es auch man immer soso, nich hü un nich hott. Und immer blos halb und so konfuse, Nu, sage du mal. Is es denn wahr, dass es in Stralau war?« »Ja, Frau Dörr, in Stralau war es, den zweiten Ostertag«.35

Beide Romane fokussieren in ihrem Incipit typische liminale Schwellenzonen, die keine im Text zufälligen oder miteinander verwechselbaren Orte darstellen. Wie inhaltlich prägnant alle Romananfänge Fontanes sind, ist der Forschung bekannt. Die anscheinend harmlosen und vollkommen alltäglichen Szenen des Fensterputzens von Pauline Pittelkow in Erwartung ihres Liebhabers im ersten Kapitel von Stine und des Bügelns am Fenster von Lene in der Hoffnung auf einen Besuch des geliebten Barons im dritten Kapitel von Irrungen, Wirrungen führen den Leser sofort in eine symbolische Dimension ein, die m. E. nur das Erkennen eines ethnologischen Hintergrunds deutlich durchblicken lässt. Sie sind der Auftakt zu einem komplexen System von Schwellenerlebnissen, die in den Romanen miteinander verknüpft sind und die – mit Rekurs auf eine geometrische Metapher – eine Art innerer Homothetie der Romanstruktur darstellen. Die damit verbundenen Übergangsriten in Stine und Irrungen, Wir33 HFA I/2, S. 477. 34 Vgl. dazu Giovanni Tateo, der in einer Studie über die architektonische Struktur der Rahmennovelle im 19. Jahhundert die Bedeutung der Schwelle als Ort der intimen Geständnisse der intradiegetischen Erzähler thematisiert: Oltre la soglia di intimi luoghi. Auf  Tod und Leben (1886) di Paul Heyse, Ein Bekenntnis (1887) di Theodor Storm e Sündenfall (1898) di Ferdinad von Saar. In: Progetto architettonico e discorso letterario. Intersezioni nella letteratura e cultura tedesca moderna e contemporanea, a cura di Maria Paola Scialdone, Milano/Udine 2021, S. 94–107. 35 HFA I/2, S. 327–329. Meine Hervorhebungen.

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rungen sind Hochzeit, männliche Reife und Tod. Der »armchair-Ethnologe« Fontane untersucht durch den Seismographen seines literarischen Schreibens ihr widersprüchliches Überleben und ihre Orchestrierung in der Moderne in einem metropolitanen Umfeld wie Berlin und scheint damit Walter Benjamins erhellende Betrachtungen in einem bekannten Fragment des Passagenwerks mit dem Titel Prostitution, Spiel quasi vorwegzunehmen: Rites de passages – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit und Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht das einzige, das uns geblieben ist. […] Die Huren lieben die Schwellen dieser Traumtore. – Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte „schwellen“ und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übersehen.36

Aus meiner Sicht enthalten sowohl Stine als auch Irrungen, Wirrungen schwer zu entziffernde Verweise auf Übergangsriten, deren Verwirklichung in der Moderne unzeitgemäß erscheinen kann, denn, wie Benjamin schreibt, Übergangsriten sind in der Gegenwart »immer unkenntlicher geworden«. Die von van Gennep theoretisch beschriebene dreistufige Überschreitung der Schwelle kann in eine Krise geraten, da die modernen ‚Ritus-Teilnehmer‘ sogar in einem liminalen Zustand verbleiben können, welcher den Ritus nicht zu Ende führen lässt oder ihn in eine neue Form von Erfahrung verwandelt: der sogenannten »liminoiden« Erfahrung, in der das von van Gennep beschriebene »rite d’agrégation« nicht mehr garantiert und der Eintritt in eine höhere Dimension des Selbst oder der Identitätswechsel gefährdet werden. Aus diesem Grund könnte die Verwirklichung des Ritus in der Moderne – um wieder Walter Benjamin zu zitieren – sogar mit einem Glücksspiel verglichen werden. In der vollkommen modernen Möglichkeit eines ungewissen Ritus-Ausganges, der zu keinem Statuswechsel führt, besteht die Intuition des Kulturanthropologen Victor Turner, eines späteren Schülers von van Gennep.37 Letzterer spürt diese Ritusarten vor allem in den Gesellschaften der Vergangenheit auf, sein Nachfolger Victor Turner stellt aber ihr Überleben auch in den modernen Gesellschaften fest, wenn auch manchmal in weniger leicht erkennbaren Manifestationen. Er kommt aber zum Schluss, dass Rituale in der Moderne auch andere Formen annehmen und andere Kontexte betreffen können, wie z. B. die Freizeit (»leisure«), einen typischen Begriff der Moderne. 36 Walter Benjamin, Das Passagenwerk. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1, Frankfurt am Main 1982, S. 617–618. 37 Vgl. Victor Turner, Liminal to Liminoid, in Play, Flow, and Ritual: an Essay in Comparative Symbology. In: The Rice University Studies, Bd. 60, Nr. 3 (1974), Houston 1974, S. 53–92. Siehe auch: https://hdl.handle.net/1911/63159.



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Diese neue Manifestation von Übergangsriten nennt er, anstatt »liminal«, »liminoid«. Liminoide Erfahrungen der Moderne schließen die Erfahrung des Liminalen, wie es van Gennep beschrieben hatte, nicht aus, aber sie weisen neue Möglichkeiten des Rituals auf, die auch das eventuelle Verbleiben im liminalen Zustand nicht ausschließen, weil – in einer Art profanierender, parodistischer Abschaffung des dreiteiligen Musters van Genneps – das Gelingen der dritten Ritusphase nicht mehr gesichert ist. Die Liebesgeschichten zwischen den zwei verschiedenen Milieus angehörenden Paaren in Stine und in Irrungen, Wirrungen (Stine und Waldemar, Botho und Lene) sind jeweils Beispiele für eine zur Zeit der Romanhandlung (und zur Zeit Fontanes) gesellschaftlich noch nicht akzeptierte Mésalliance und für eine modernere Art von Liebe, die nach gesellschaftlicher Legitimierung ruft. Deswegen können sie nur in einem liminoiden »betwixt und between«38 stattfinden. Da sie gesellschaftlich zwecklos sind, gehören sie der Freizeit an und dürfen nur bestehen, bis einer der beiden Liebenden den Eheritus vollziehen möchte. Räumlich und zeitlich verortet Fontane nicht zufällig diese ‚Liebeleien‘ in zwei Schwellenräumen, oder »Blasen «, wie der Philosoph Peter Sloterdjik sie nennen würde.39 Der erste ist das »dreifenstrige Häuschen« von Frau Nimptsch in der Gärtnerei der Familie Dörr »an dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße« in Irrungen, Wirrungen.40 Hier kann ein Baron ohne Verlegenheit und ungeachtet seines hohen Ranges auf einem einfachen Schemel seinen Lieblingsplatz »bei Lenes Mutter, ’ner alten Wasch- und Plättefrau«,41 besetzen und damit in einer »umgestülpten Welt« à la Bachtin42 die gesellschaftlichen Normen umkehren. Der zweite Schwellenraum ist das noch einmal durch das Fenstermotiv gekennzeichnet Frontzimmer von Stine in der Invalidenstraße, wo Graf Waldemar jeden Abend zu Besuch kommt, um mit ihr ahnungsvoll43 die »Sonnenuntergangsstunden« zu »verleben«,44 eine klare Vorwegnahme, wie sie bei Fontane üblich ist, des spä-

38 Siehe ders., Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: William A. Lessa und Evon Z. Vogt (Hrsg.), Reader in Comparative Religion, New York 1972, S. 234–243. 39 Peter Sloterdijk, Sphären. Mikrosphärologie, Bd. I: Blasen, Frankfurt am Main 1998. 40 HFA I/2, S. 319. 41 Ebd., S. 334. 42 Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main 1990, S. 48. Das ganze vierte Kapitel von Irrungen, Wirrungen stellt meiner Ansicht nach eine liminale Situation dar, die Raum und Zeit betrifft. 43 Ahnungen und motivische Vorwegnahmen von späteren Handlungsereignissen sind typische inhaltlich-stilistische Merkmale der Prosa Fontanes. 44 HFA I/2, S. 558.

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teren Lebensabschieds Waldemars, aber auch der tödlichen Natur einer Liebe ohne gemeinsame Perspektive.45 In diesen zwei liminalen ‚Blasen‘, wo die Figuren zwischen zwei Grenzen (Eingang und Ausgang) freiwillig »gefangen sind« und eine »halb märchenhafte Stille« herrscht,46 ist die Zeit von einem zyklischen Rhythmus gekennzeichnet, in dem die Abfolge der Ereignisse dem rekurrierenden Schema der aussichtslosen Wiederholung entspricht. Lenes erwartungsloser Wunsch nach Bothos Wiederkehr zur überzeitlichen und begrenzten Idylle ihrer liminoiden Schwellenliebe ist u. a. ein klarer Beweis dafür: »Ach, liebe Frau Dörr«, lachte Lene, »Was Sie nur denken! Einbilden! Ich bilde mir gar nichts ein. Wenn ich einen liebe, dann liebe ich ihn. Und das ist mir genug. Und will weiter gar nichts von ihm, nichts, gar nichts, und dass mir mein Herze so schlägt und ich die Stunden zähle, bis er kommt, und nicht abwarten kann, bis er wieder da ist, das macht mich glücklich, das ist mir genug«.47

Die Unmöglichkeit der Vervollkommnung der Liebesbeziehung beider Paare durch die Vollendung des Übergangsritus der Eheschließung wird in beiden Romanen durch Fontanes Anspielung auf die Verweigerung einer ritualisierten Schwellenüberschreitung hervorgehoben, die bei Stine und Lene zum Teil auch völlig unerwünscht ist. In Stine wird sie als ein Schritt beschrieben, den die Protagonistin wegen ihres niedrigen Standes mit dem adligen Waldemar nie erleben wird. Pauline Pittelkow warnt sie unverblümt davor: »un ich sage dir, von so was, wie du mit dem Grafen vorhast oder der Graf mit dir, von so was is noch nie was Gutes gekommen. Es hat nu mal jeder seinen Platz, un daran kannst du nichts ändern. […] Un denn kannst du hier so lang in die Sonne kukken, bis sie morgens bei Polzins

45 Von Stines Stube als »Schwellenraum« ist schon bei Hirschbrunn die Rede. In ihrer Interpretation hat aber dieser Raum die Funktion, die Semantik des »Merkwürdigen« zu codieren: »Stine ist räumlich zweimal hintereinander in einem heterotopischen „Dazwischen“ verortet. Im Ausgangsraum wird deutlich, dass das Oben semantisch aufgeladen ist und gegenüber dem Unten etwas Merkwürdiges darstellt. Das Fenster als Element der sozialen Kontrolle, wie es sich im Ausgangsraum darstellt, verweist auf die Grenze, die das Merkwürdige von dem Gewöhnlichen trennt, es aber auch zu ihm in Beziehung setzt. Stine wird somit deutlich mit der Semantik des Merkwürdigen belegt. In den anderen Szenen, die sich innerhalb ihres Zimmers abspielen, wird auf eine derart deutliche räumliche Verortung verzichtet. Ihr Zimmer, in dem sich das nun folgende verhängnisvolle Gespräch abspielt, wird nun zu einem Schwellenraum, weil Stine hier, noch deutlicher als sonst, als das Merkwürdige auftritt. Das idyllische Bild, das Waldemar von ihrer gemeinsamen Zukunft zeichnet, wird von Stine zurückgewiesen: „Du willst nach Amerika, weil es hier nicht geht. Aber glaube mir, es geht auch drüben nicht.“« (Hirschbrunn, »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«, S. 278–281, hier S. 279). 46 Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen, HFA I/2, S. 320. 47 Ebd., S. 332.



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oder bei der Frau Privatsekretär wieder rauskommt, er kommt doch nicht, er sitzt erster Klasse mit Plüsch un hat noch ein Luftkissen bei sich, un sie hat ‘nen blauen Schleier an’n Hut, und so geht es heidi! Nach Italien. Un das is denn, was sie Hochzeitsreise nennen«.48

In Irrungen, Wirrungen teilt Lene dasselbe Schicksal mit Stine. Doch nachdem Botho die liminoide Beziehung mit seiner Geliebten aus dem Volk, Lene, beendet, da er der Ehe mit der reichen Kusine Käthe zugestimmt hat, inszeniert Fontane als Pendant dazu den tatsächlichen Schwellenübertritt mit der Hochzeitsreise Bothos. Selbst diese Erfahrung, so wie die meisten Flitterwochen in Fontanes Œuvre, trägt Züge einer liminoiden Erfahrung der Moderne, denn sie wird beschrieben, als hätte sie mittlerweile ihre sakrale Aura verloren, wäre eher einer Mode oder einem leeren Zeitvertreib ähnlich geworden und würde ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, den frisch Verheirateten in der dritten Stufe des »rite d’agrégation« van Genneps eine neue starke gemeinsame Identität als Paar zu verleihen. Manchmal – wie es zum Beispiel im Roman Effi Briest der Fall ist – wird sie sogar als Keim einer zukünftigen Scheidung vorgestellt. Treffend hat Emilia Fiandra die symbolische Natur der Flitterwochen in Fontanes Œuvre als »entartetes Ritual« hervorgehoben.49 Im letzten Kapitel von Stine gewinnt aber die Hochzeitsreise die Würde einer ritualisierten Begebenheit zurück, auch wenn es nicht um eine Ehe, sondern um einen Trauerzug geht. Diesen könnte man als die symbolische Vereinigung von Stine und Waldemar trotz des gesellschaftlichen Verbots ihrer Eheschließung und trotz Stines Absage interpretieren. Stines Reise von der Stadt aufs Land zur Bestattung von Waldemars Sarg, den Stine heimlich in einem anderen Waggon desselben modernen Zuges begleitet, in der Familiengruft der Haldern könnte man tatsächlich als die wahre Hochzeitsreise des Paares interpretieren. Dieser liminale Übergangsritus steht im Zeichen der Moderne. Die in der oben zitierten Warnung der Pittelkow schon evozierte Zugfahrt führt also beide nicht ins Wunschland Italien, sondern zur gemeinsamen Überschreitung der allerletzten Schwelle und zu einer ideellen Vereinigung im Tod. Dass es sich dabei auch um eine initiatorische Situation handelt, enthüllen die intertextuellen Verweise in Stine auf Mozarts Zauberflöte50, von 48 Ebd., S. 521. 49 Emilia Fiandra, Flitterwochen in Italien – zur kulturellen Semantik der Hochzeitsreise. In: Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011, S.  87–99, hier S.  87. Das Thema der gescheiterten Flitterwochen in Italien verbindet sich bei Fontane mit der Erschöpfung der Bildungsreise in der deutschen Kultur. 50 Die Theaterthematik in Fontanes Erzählprosa ist ein weites Feld, in dem auch seine Rezeption der Oper eine Rolle spielt. Dem Modell der Zauberflöte in Stine wird von Thomas Grimann ausführlich nachgespürt. Er hebt aber hervor, dass »[d]as Trio der

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denen unten die Rede sein wird. Die Szene könnte auch mit dem Ende des Fragments Die goldene Hochzeitsreise (1854)51 intertextuell verbunden sein, in dem das alte Ehepaar in Erwartung seines »letzten Übergangsritus« – des Todes – »auf den Markusplatz [geht], um die Dämmerstunde und die Gondeln abzuwarten«.

Tod, die allerletzte Schwellenüberschreitung Sowohl in Stine als auch in Die goldene Hochzeitsreise thematisiert Fontane auch das dritte von van Gennep analysierte Übergangsritual der Menschheit: das Sterben. In Stine scheint Fontane sogar zu suggerieren, dass das einzige in der Moderne noch vollständig erfahrbare Ritual der Tod ist. Die Halbkreise, die Waldemar auf den Boden der Gartenanlage des Königsplatzes zeichnet, bevor er sich das Leben nimmt, repräsentieren nicht umsonst seinen Lebenszyklus: Waldemar, sich vorbeugend von seiner Bank, begann jetzt, allerlei Figuren in den Sand zu zeichnen, ohne recht zu wissen, was er tat. Als er sich’s aber bewusst wurde, sah er, dass es Halbkreise waren, die sich, erst enge, dann immer weiter und grösser um seine Stiefelspitze herumzogen. »Unwillkürliches Symbol meiner Tage! Halbkreise! Kein Abschluss, keine Rundung, kein Vollbringen … Halb, halb …Und wenn ich nun einen Querstrich ziehe« (und er zog ihn wirklich), »so hat das Halbe freilich seinen Abschluss, aber die rechte Rundung kommt nicht heraus«.52

Für seinen Freitod, mit dem er »eine dieser modernen Selbstmordskomödien […] nach erfolgter Kopulation«53 aufführt, wie Waldemars Onkel Sarastro sarFiguren, die einen aus der Zauberflöte entlehnten Namen tragen [Sarastro, Papageno und die Königin der Nacht], nur einen stark verkürzten Ausschnitt aus der Oper wieder[gibt]«. Trotz der Ausklammerung der Hauptfiguren Tamino und Pamina bleibt ihr Liebesideal eine wirksame Alternative in Fontanes Text, die von der reinen Liebe Stines und Waldemars vertreten wird (Thomas Grimann, Text und Prätext. Intertextuelle Bezüge in Theodor Fontanes Stine, Würzburg 2001, S. 84–85). Zu diesem Thema vgl. auch Gunter H. Hertling: Theodor Fontanes Stine: Eine entzauberte Zauberflöte? Zum Humanitätsgedanken am Ausklang zweier Jahrhunderte, Bern u. a. 1982. Diese Studie geht davon aus, dass die Menschlichkeitsansprüche gegen die Klassenwidersprüche der Epoche Fontanes nicht gewinnen können. Hertling schlussfolgert, dass die Umkehrung der Zauberflöte in Stine dazu diene, Fontanes Idee zu beweisen, dass »die menschlichen Werte der ,Alten Welt‘ in der Neuen keine Bleibe mehr haben« (ebd., S. 70). Auch Hertling hinterfragt die Beziehung Fontanes zur Moderne, wenn auch mit anderer Akzentsetzung. 51 Theodor Fontane, Die goldene Hochzeitsreise, GBA, Frühe Erzählungen, S. 118–122, hier S. 122. 52 HFA I/2, S. 556. 53 Ebd., S. 536.



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kastisch spottet, wählt er – zwischen Werthers Pistole und dem vom Apotheker Fontane für ihn zubereiteten Schlafpulver – nicht zufällig das zweite, denn nach Benjamins oben erwähntem Zitat: »Das Einschlafen ist vielleicht die einzige [Schwellenerfahrung], die uns geblieben ist«, sind Hypnos und Thanatos letztendlich gleich. Kein Wunder, dass Waldemar Shakespeares Hamlet zitiert, in dem Tod und Einschlafen zusammengeführt werden: Er trat an das Fenster seines Schlafzimmers. Die Sonne war im Niedergehen, und er entsann sich jenes Tages, als er, von Stines Fenster aus, dasselbe Sonnenuntergang vor Augen gehabt hatte… »Wie damals«, sprach er vor sich hin. Und er sah in die roter werdende Glut, bis endlich der Ball gesunken und volle Dämmerung um ihn her war. Auf seinem Schreibzeug lag ein kleiner Revolver, zierlich und mit Elfenbeingriff. Er nahm ihn in die Hand und sagte: »Spielzeug. Und tut es am Ende doch. Bei gutem Willen ist viel möglich; ‘mit einer bloßen Nadel’, sagt Hamlet, und er hat recht. Aber ich kann es nicht«. […] »Nein, ich erschrecke davor, trotzdem ich wohl fühle, dass es standesgemäßer und Haldernscher wäre. […]«. Und er legte den Revolver wieder aus der Hand. »Ich muss es also anders versuchen« […] Während er so sprach, zog er eins der unteren Schubfächer auf und suchte nach einem Schächtelchen. […] »Auch klein. Noch kleiner als das Spielzeug da. Und doch genug. […]«. Und nun brach er die Kapseln einzeln auf und tat ihren Inhalt, langsam und sorglich, in ein kleines, halb mit Wasser gefülltes Rubinwasser. […] Und während er das Glas hob und wieder niedersetzte, trat er noch einmal ans Fenster und sah hinaus.54

Bemerkenswert ist das Rekurrieren des Fenstermotivs auch im letzten Zitat, das noch einmal die oben erwähnte homothetische Erzählstruktur des Romans verrät. Eine Parallele dazu ist das Fenstermotiv in der Stube Stines.

Sex, Spiel und Prostitution Das Ritual der Flitterwochen in Fontanes Romanen besteht oft aus einer Reise nach Italien; das Ehepaar in Irrungen, Wirrungen allerdings begnügt sich mit Dresden. In der europäischen Grand Tour ist die Reise nach dem Süden bekanntlich auch mit einem anderen Übergangsritus verbunden, der sexuellen Initiation junger Männer.55 Nicht zufällig wird Waldemar von seinem Onkel Sarastro ins Wohnzimmer der Pittelkow eingeführt, das eine kleinbürgerliche und quasi familiäre Umformulierung eines Bordells ist. Auch dieser heterotopische Schwellenraum des Pittelkow’schen Wohnzimmers ermöglicht eine momentane und wiederholte Mésalliance zwischen adligem und kleinbürgerlichem Niveau unter den von Benjamin dargestellten Kennzeichen der Moder54 Ebd., S. 557–559. Meine Hervorhebungen. 55 Vgl. Ian Littlewood, Sultry Climates: Travel and Sex since the Grand Tour, London 2001; Tony Perrottet, The Sinner’s Grand Tour: A Journey Through the Historical Underbelly of Europe, New York 2011.

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ne: Prostitution und Spiel. Fontanes Namenverweise auf Mozarts Zauberflöte56 dienen auch dazu, die initiatorische Dimension der Begebenheit zu signalisieren, in der Sarastro u. a. die Rolle des Zeremonienmeisters bei der sexuellen Initiation seines Neffen Waldemar annimmt. Sobald aber Waldemar mit einer obszönen Anspielung von seinem Onkel als den »Italianissimus«57 vorgestellt wird, der »seit fünf Jahren in Italien umher[reist], namentlich in Kirchen, und, schlecht gerechnet, fünftausende Heilige weiblichen Geschlechts [kennt]«58, verliert auch dieser Übergangsritus seine Sakralität und nimmt eher die Züge einer Parodie und eines liminoiden Zeitvertreibs an, der zum Laster wird. In diesem Szenario der Moderne verkörpern die im Wohnzimmer-Bordell verlegenen und schweigenden Figuren von Stine und Waldemar die alte Tradition. Anstatt die implizite Einladung des Grafen Sarastro zu akzeptieren, Stine als junge Nachfolgerin der Königin der Nacht zu betrachten und aus ihr seine Mätresse zu machen, wählt Waldemar den anständigen traditionellen Weg und versucht die Grenzen der liminoiden Situation zu überschreiten, indem er den Übergangsritus der Heirat mit Stine plant. Nach dem Verbot des Grafen Sarastro und der überraschenden Ablehnung von Seiten Stines wird die Verwirklichung dieses Rituals, wie oben schon erwähnt, nur in Zusammenhang mit dem Tod möglich sein. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Übergangsriten in der Moderne schwer überleben.59 Ähnlich liminoider Natur sind auch zwei andere Unterhaltungen, die in Pauline Pittelkows Wohnzimmer stattfinden und mit dem doppeldeutigen Wort „Spiel“ bezeichnet werden können. Viele ethnologische Studien beweisen die rituale und sakrale Natur des Theaters und des Spiels in der Antike, aber sowohl die theatralische Repräsentation in Stine,60 welche im Rahmen einer improvisierten Hausbühne bei der Pittelkow mit einer schäbigen Schauspielerin wie Wanda zu einer allzu billigen Farce wird, als auch die Ausübung des Whist, des innerhalb des Adels im 18. und 19. Jahrhundert meistpraktizierten Kartenspiels, erscheinen bei Fontane nur als moderne Karikaturen 56 57 58 59

Siehe oben. HFA I/2, S. 534. Ebd., S. 495. Auch wenn ihre Namen nicht erwähnt werden, ähnelt das Paar Stine-Waldemar den Protagonisten der Zauberflöte Pamina und Tamino. Trotz der Umkehrung der Handlung der Zauberflöte im Roman Fontanes erleben hier die zwei Liebenden, Tamino und Pamina ähnlich, ihre initiatorische Reise und damit die dritte Phase des Übergangsritus. 60 Claudia Liebrand, Sommerspiele und Wintermärchen: Theater und Genre in “Stine”. In: Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder (Hrsg.), Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2018, S. 143–159.



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älterer Bräuche. In Fontanes Romanen werden die modernen Junker,61 welche die hohen Werte ihrer Kaste aus den Augen verloren haben, oft beim Spielen porträtiert. Die Spielhölle in Pauline Pittelkows Wohnzimmer-Bordell hat in Irrungen, Wirrungen ihr Pendant in der Landpartie62 von Pitt, Serge und Balafré, den Regimentskameraden von Botho, die mit ihren ‚Prostituierten‘ unerwartet in Hankels Ablage auftauchen, wo Lene und Botho sich außerhalb der Grenzen der gesellschaftlichen Zwänge inkognito eine kurze Liebesflucht gönnen. Das erste Ziel der Teilnehmer der Landpartie ist nicht zufällig die Organisation eines Spieltisches: »Meine Herren, ich bitte Sie, lehren Sie mich die Herrens kennen. Was heisst Landpartie? Landpartie heißt frühstücken und ein Jeu machen. Hab’ ich recht?« »Isabeau hat immer recht«, lachte Balafré und gab ihr einen Schlag auf die Schulter. »Wir machen ein Jeu. Der Platz hier ist kapital; ich glaube beinah, jeder muss hier gewinnen. Und die Damen promenieren derweilen oder machen vielleicht ein Vormittagsschläfchen. Das soll das Gesundeste sein, und anderthalb Stunden wird ja wohl ausreichen. Um zwölf Uhr Reunion. Menu nach dem Ermessen unserer Königin. Ja, Königin, das Leben ist doch schön. Zwar aus Don Carlos. Aber muss denn alles aus der „Jungfrau“ sein?«. Das schlug ein, und die zwei Jüngeren kicherten, obwohl sie bloß das Stichwort verstanden hatten.63

Dass es sich hier um eine topische Stelle des Schwellendiskurses bei Fontane handelt, erkennt auch Nina Hirschbrunn, die Hankels Ablage insgesamt als Schwellenraum interpretiert, in dem es zum Zusammenprall zwei kontrastierender Ordnungssysteme kommt.64 Ihr entgeht aber, dass auch das Spielen an sich eine typisch liminoide Schwellenmanifestierung der Moderne ist, welche nur ein ethnologischer Fokus sichtbar werden lässt. 1883, gerade in der Entstehungszeit von Stine und Irrungen, Wirrungen, veröffentlichte Moritz Lazarus, an dessen Vorlesungen Fontane regelmäßig teilnahm,65 in Westermanns Monatshefte[n] einen langen Aufsatz über die Na-

61 Fontanes Haltung dem preußischen Junkertum gegenüber ist zwiespältig. Seine unzweifelhafte Bewunderung für besondere Junker-Figuren geht in seinen Romanen Hand in Hand mit dem Bewusstsein des Verfalls ihrer Werte und ihres Ehrenkodex in der Moderne. 62 Der Landpartie in Fontanes Gesellschaftsromanen widmet Milena Bauer eine ausführliche Studie: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes. Ritualisierte Grenzgänge, Berlin/Boston 2018. 63 HFA I/2, S. 392. Meine Hervorhebung. 64 Hirschbrunn, »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«, S. 288ff. 65 In einem Tagebucheintrag des Jahres 1874 schreibt Fontane: »Allwöchentlich (Mittwoch von 5–6) hörte ich die Lazarusschen Vorlesungen über Völkerpsychologie«. Vgl. Theodor Fontane, Tagebücher 1866–82, 1884–98, hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994, S. 38.

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tur des Spielens.66 Am 9. Februar 1884 notiert Fontane in seinem Tagebuch, mit Lazarus eben darüber gesprochen zu haben.67 In einem geschichtlichen Exkurs über die Bedeutung des Spiels im Laufe der Zeit unterscheidet der Gelehrte Lazarus zwischen einer Spielauffassung der Vergangenheit und einer der Moderne: Es ist aber wohl zu beachten, dass das Spiel vom tapferen, kernhaften Volke nicht das war, was es heutzutage dem mitternächtlichen Klubhelden und den Gästen von Monaco ist. Tacitus berichtet, wie den Germanen das Spiel nicht bloß neben dem strengen sittlichen Ernst besteht, sondern mit demselben innig verbunden ist.68

Eine Entsakralisierung des Spielbegriffs betrifft für Lazarus nicht nur die modernen »mitternächtlichen Klubhelden«, sondern auch das moderne Sprachgefühl, das mit dem Wort »Spiel«, in ihrer doppelten Bedeutung von Zeitvertreib und Schauspiel, keine »religiöse Ceremonie« mehr bezeichnet, sondern nur »weltliches Vergnügen«:69 Die deutsche [Sprache] aber bezeichnet mit dem Namen die Sache: Spielen heißt eine leichte, schwankende, ziellos schwebende Tätigkeit. In solchem Sinne reden wir von einer Spielart, welche zwischen zweien Arten sich gleichsam in Bewegung befindet: von dem Herüber- und Hinüberspielen des Weberschiffleins, von dem Spiel des Wassers im Springbrunnen, und dem Spiel der Wellen in der Quelle […].70

Das moderne Spielen beschreibt Lazarus als eine Tätigkeit von schwellenartiger und liminoider Natur, weil […] Spielen eine Bewegung bezeichnet, welche in sich selbst zurückkehrt, zu keinem Ziele hinstrebt. Von Wassern, die den Strom Hinabfließen sagt man nicht »sie spielen«, sondern eben nur von den in Grenzen hin- und herschwebenden Wellen […]. Hiermit nun ist der eigentlichste Kernpunkt im Charakter des Spiels ausgesprochen; es ist freie, ziellose, ungebundene, in sich selbst vergnügte Tätigkeit,71

66 Moritz Lazarus, Über die Reize des Spiels. In: Westermanns illustrierte deutsche MonatsHefte, Jg. 27 (1883), Bd. 53, 4 Teile, S. 53–61, 178–187, 312–324, 442–454. 67 Fontane, Tagebücher 1866–82. 1884–98, S.  201. Die schöpferische Nähe zwischen Stine und Lazarus’ Aufsatz wird von der Tatsache bestätigt, dass Fontane 1881 dem Redakteur der Zeitschrift, in der Über die Reize des Spiels erscheint, den Entwurf einer »kleinen Novelle«, an der er gerade arbeitete, ohne Erfolg angeboten hatte. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um die erste Erwähnung des Romans Stine, den er in Tagebucheintragungen zwischen November und Dezember 1881 oft als »Novelle« bezeichnet: Vgl. dazu HFA I/2, S. 949–950. Unabhängig davon enthält die Abhandlung Über die Reize des Spiels interessante Betrachtungen, welche meiner Ansicht nach in Fontanes literarischen Umformulierungen offensichtliche Resonanzen finden. 68 Lazarus, Über die Reize des Spiels, S. 321. 69 Ebd., S. 53. 70 Ebd., S. 59–60. 71 Ebd., S. 60.



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denn […] jedes einzelne Spiel, das gemacht wird, [ist] eine in sich abgeschlossene, zu jedem früherem und jedem späterem Spiel beziehungslose Tathsache; die Karten sind verteilt, das Spiel wird ausgeführt; wenn es geendet ist, dann ist auch wie sein Dasein seine Bedeutung, sein Einfluss abgeschlossen.72

In der Landpartie des Romans Irrungen, Wirrungen, so wie beim Spielabend im oben kommentierten Schwellenraum bei der Pittelkow in Stine, ist eine enge Verbindung von Spiel und Prostitution zwischen den Zeilen zu lesen. Evident ist es auch in der Eskamotage der erfundenen Namen, mit denen die Offiziere ihre Begleiterinnen aus niedrigen Klassen vorstellen und ,veredeln‘, wie Nina Hirschbrunn kommentiert: Die Aufwertung der Frauen durch die Namensgebung intendiert, die augenscheinliche geschlechtliche und gesellschaftliche Realität, die ihren „Beziehungen“ zu den Prostituierten aus niederen Klassen zugrunde liegt, zu überdecken: „Botho sah, welche Parole heute galt, und sich rasch hineinfindend, entgegnete er, […], mit leichter Handbewegung auf Lene: ‚Mademoiselle Agnes Sorel.‘ Botho lässt sich sofort auf das Spiel ein und gibt Lene den Namen der Geliebten Karls VII. Damit setzt er Lene den professionellen Mätressen gleich, die sehr genau um die Konditionen ihrer Beziehungen wissen. […] Durch die Bilder in ihrem Zimmer war diese Sicht Dritter auf ihre Beziehung bereits am Abend zuvor präsent. Das bildhaft Dargestellte wird nun Realität: Lene wird degradiert zu einer stereotypen Offiziersmätresse. […] Bothos Nennung lässt Lene von einem semantischen Feld in ein anderes wechseln: Sie verlässt den Bereich des versteckt-Seins und betritt sichtbar den Raum, der Bothos soziale Wirklichkeit repräsentiert und in der ihr nur der Platz der Mätresse eingeräumt werden kann.73

Auch in Irrungen, Wirrungen, wo das fröhliche Spielen, das bei Frau Nimptsch bei jedem rekurrierenden Besuch Bothos stattfindet, eher als eine harmlose Manifestation der karnevalesken Lachkultur und des Tabubruchs im Sinne Bachtins74 vorkommt, sind verhüllte erotische Anspielungen präsent: Wirklich, es waren Knallbonbons, und die Tüte ging reihum. »Aber nun müssen wir auch ziehen, Lene; halt fest und Augen zu«. Frau Dörr war entzückt, als es einen Knall gab, und noch mehr als Lenes Zeigefinger blutete. “Das tut nicht weh, Lene, das kenn’ ich; das is, wie wenn sich ‘ne Braut in’n Finger sticht. Ich kannte mal eine, die war so versessen drauf, die stach sich immer zu un lutschte un lutschte, wie wenn es wunder was wäre”. Lene wurde rot. Aber Frau Dörr sah es nicht und fuhr fort: »Und nu den Vers lesen, Herr Baron«. Und dieser las es denn: »In liebe selbstvergessen sein / Freut Gott und die lieben Engelein«. »Jott«, sagte Frau Dörr und faltete di Hände. »Das ist ja wie aus’n Gesangbuch. Is es denn immer so fromm?«. »I bewhare«, sagte Botho. »Nicht immer. Kommen Sie liebe Frau Dörr, wir wollen auch mal ziehn und sehn, was dabei herauskommt«. Und nun zog er wieder und las: »Wo Amors Pfeil recht tief getroffen / Da stehen Himmel und Hölle offen«. »Nun, Frau Dörr, was sagen Sie dazu? Das klingt schon

72 Ebd., S. 179. 73 Hirschbrunn, »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«, S. 289–290. 74 Vgl. Anm. 47.

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Maria Paola Scialdone Anders, nicht wahr?« »Ja«, sagte Frau Dörr, »Anders klingt es. Aber es gefällt mir nicht recht… […]«.75

Die von Amors Pfeil » getroffen[e]« Tiefe des im Knallbonbon gefunden Verses findet in Stine einen intertextuellen Widerhall. Gleicher obszöner Natur ist die Vorliebe des »immer ins Schwarze treffenden« alten Grafen Sarastro für die »Mittelpunkte« der »Königin der Nacht«76 und für die in Wandas tiefem Dekolleté getragene »rote Rose«:77 eine Formulierung, die ein unanständiges Augenzwinkern im Laufe einer anscheinend harmlosen höflich-mondänen Konversation während eines geselligen Abends bei der Pittelkow impliziert.78

Fazit Die anthropologische Dimension der Schwelle erweist sich m. E. als ein unentbehrlicher Blickwinkel, um die janusköpfige Stellung Fontanes der Moderne gegenüber einzuschätzen. Der Autor bedient sich in diesen beiden Romanen anthropologischer Tropen wie der Übergangsriten der Ehe, der sexuellen Reife und des Todes, um seine Vision der anbrechenden Moderne und den Untergang der alten Zeit zu reflektieren. Sein Interesse für die Menschenkunde und das anthropologische Denken seiner Epoche bietet ihm ein nüchternes und quasi-wissenschaftliches Instrument, um das Fortbestehen und die Verwandlung alter Traditionen auf die Probe zu stellen.79 Im Reflexionsraum seiner 75 76 77 78

HFA I/2, S. 336. Ebd., S. 494. Ebd., S. 496. Obszöne Doppeldeutigkeiten im Bereich der vielstudierten »Causerie« Fontanes sind ein interessantes Thema, das sehr gut dazu beiträgt, die Heuchelei und die Dekadenz der Werte der von ihm porträtierten Berliner Gesellschaft des Fin de siècle besser zu beleuchten. Dazu siehe auch Calpestratis Aufsatz in diesem Band. Zu diesem Forschungsbereich vgl. auch: Humbert Settler, Fontanes Hintergründigkeiten. Aufsätze und Vorträge. [Aufgedeckt und interpretiert in: Effi Briest, Schach von Wuthenow, Ellernklipp, Irrungen Wirrungen, Frau Jenny Treibel, Grete Minde, L‘Adultera, Der Stechlin.] Glücksburg: Baltica 2006; Otto Eberhardt, „Finessen“ Fontanes in seinem Roman „Irrungen, Wirrungen“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 56 (2012), 172–202; Otto Eberhardt, Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ als Werk des poetischen Realismus. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Bd. 251, 2. Halbjahresbd. 2014, 283–309; Hans-Peter Fischer, „Okuli, da kommen sie“. Überraschende Einblicke in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 79 Fontanes Interesse für die anthropologisch-ethnologischen Inhalte seiner Zeit verraten auch andere Erzähldetails seiner Romane. In den hier untersuchten sind viele Verweise auf folkloristische Bräuche zu finden, darunter z.  B. in Irrungen, Wirrungen Sprüche und Traditionen als Gesprächsstoff in den Dialogen der Figuren; Arzneimittel



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literarischen Experimente scheint Fontane die Moderne auch als eine Welt zu konturieren, in der die Rituale der Vergangenheit von den Protagonisten seiner Romane nur als Zitat oder Parodie erlebt werden oder eher als tragikomisches Konterkarieren von Werten, die zum Teil als überholt gelten. In dem Verlust der Aura einiger Übergänge der menschlichen Erfahrung und in der Möglichkeit für seine Figuren, zwecklos in suspendierten Schwellenräumen zu verharren, kann der Leser/die Leserin grundlegende Merkmale der Moderne erblicken, wie die Erfahrung des Fragments und der Wiederholung (wie es beim Sex oder beim Glücksspiel der Fall ist) und das Ausbleiben der Zukunft, die unsere Gegenwart prägt. Dass Fontanes Poetologie aus miteinander verflochtenen realistischen und symbolischen Dimensionen besteht, ist der Forschung wohl bekannt und verschiedentlich untersucht worden. Manche Symbole, wie das von Helmstetter untersuchte Thema des Opfers in Effi Briest, welche oft spätere Entwicklungen der Handlung vorwegnehmen, stellen sogar wichtige rote Fäden seines Œuvres dar. Zu erkunden, wie eng dieser Rekurs auf wiederkehrende Symbole mit seinem Interesse für das anthropologisch-ethnologische Wissen seiner Zeit verbunden sein kann, ist jedoch immer noch ein Forschungsdesiderat, das – wie am Anfang dieses Aufsatzes angenommen – ein weiteres Mittel wäre, um seine hybride Stellung auf der Kippe zwischen den “guten” alten Zeiten und der herausfordernden Moderne auszuloten. Diese ‚in-between-Kollokation‘ Fontanes, die in seinem literarischen Werk selbst auf der Schwelle zwischen alt und neu verbleibt, ähnelt, um abschließend von Graevenitz80 wiederaufzunehmen, jenem Prinzip der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« Ernst Blochs, einer kulturwissenschaftlichen These, das sich als Erklärungsmodell als besonders ergiebig erweist.

wie Gichtbehandlungsmethoden (HFA I/2, S. 326), botanischer Volksglaube (ebd., S. 328, 371) bis hin zu abergläubischer Liebesmagie und Bindezauber wie das Vielliebchenessen und der Haarspruch (ebd., S. 366, 379). Fontane beweist auch in Stine den schon in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg entwickelten Sinn für ethnologische Beschreibungen, wie etwa die detaillierte Wiedergabe der adligen Trauerfeier für Waldemar in Klein-Haldern im 16. Kapitel zeigt. Nicht zufällig hebt auch D’Aprile in seiner Fontane-Biographie hervor, dass die Wanderungen im Kontext der »Volksgeistkonzeption« von Lazarus zu sehen seien (D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, S. 236). 80 Von Graevenitz, Theodor Fontane: Ängstliche Moderne.

»Streifereien in der Fremde«

Poetik der Liminalität bei Theodor Fontane Gianluca Paolucci

I. In den letzten Jahren hat die Literaturforschung ein zunehmendes Interesse an der Beziehung zwischen Literatur und Geographie gezeigt. Infolge des spatial und des topographical turn in Soziologie und Philosophie seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Kategorie des Raums sich als beliebtes Untersuchungsobjekt auch in den Kultur- und Literaturwissenschaften etabliert.1 Neuere Studien untersuchen die vielfältigen Modalitäten des Verhältnisses zwischen dem literarischen Schreiben und den Orten, an denen es produziert wird, sowie die Art und Weise, wie die Literatur nicht nur den realen Raum beschreibt und mimetisch reproduziert, sondern ihn topologisch imaginiert und performativ erstellt.2 Aus dieser Perspektive erlebt Theodor Fontanes Werk eine neue Aktualität. Von den Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1889) zu L’Adultera (1882), von Grete Minde (1880) zu Cécile (1886), von Irrungen, Wirrungen (1888) bis zu Der Stechlin (1898) stellen bekanntlich Berlin und Brandenburg den bevorzugten topographischen Hintergrund von Fontanes Werken dar, während Raum- und Ortsdarstellungen strukturelle Konstanten seiner Romane und Novellen bilden, in denen – wie Michael James White bemerkt – »space« immer »as a carrier of poetic meaning« fungiert.3 Obwohl die 1

Vgl. Jörg Dünne und Stephan Günze (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006; Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.), Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Barney Warf und Santa Arias (Hrsg.), The Spatial Turn: Interdisciplinary Perspectives, London 2009. 2 Vgl. Sigrid Weigel, Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151‒165. Bertrand Westphal, La géocritique. Réel, fiction, espace, Paris 2007; Francesco Fiorentino, I sentieri del canto. L’Europa dei romanzi e il pensiero contemporaneo sullo spazio. In: Cultura Tedesca (Topografie letterarie) 33 (2007), S. 13‒54. 3 Michael James White, Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function, London 2012, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110735710-005

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Literaturwissenschaft schon seit Jahren die geographische, topographische und räumliche Prägnanz analysiert, die Fontanes Texten zugrunde liegt,4 bleibt die Frage nach der heuristischen Funktion des Raums in seinen Werken auf einem rezeptions- und wirkungsästhetischen Niveau noch offen. In diesem Sinne sollen im vorliegenden Beitrag die jüngsten Erkenntnisse der Forschung berücksichtigt werden, die die Literatur als eine kognitive Aktivität von ›mapmaking‹ betrachtet,5 um anhand einer kritischen Lektüre von Grete Minde, L’Adultera und Irrungen, Wirrungen jenen Verklärungsprozess zu erläutern, durch den die realen Orte in Fontanes Werk in einen topologischen, subjektiven, liminalen, von Autor und Leser performativ erlebten Raum umgewandelt werden. Heutzutage räumt die Literaturwissenschaft Schreib- und Lesepraktiken eine individuelle, kreative, zu den offiziellen und normierenden geographischen Diskursen alternative Orientierungsfunktion ein6 und schreibt der Literatur die Möglichkeit zu, liminale Räume darzustellen.7 Von diesem Standpunkt aus ist es das Ziel des Beitrags, eine ›Poetik der Liminalität‹ in Fontanes Werk zu erkennen, die auf einer kulturkritischen Perspektive basiert: Die oben erwähnten Romane werden als Versuche des Autors interpretiert, Grenzräume zu gestalten, die es den Lesern erlauben, die Wertgrundlagen der offiziellen Kultur zu hinterfragen und sich anders zu orientieren. Die ältere Forschung hat die Frage nach dem Raum in Fontanes Werken oft im Lichte der Beziehung zwischen dem Autor und seinem Publikum analysiert. Sie hat z. B. die Fähigkeit Fontanes hervorgehoben, Vertrautheit mit den dargestellten urbanen und ländlichen Orten bei den Lesern zu implizieren, 4

Vgl. Max Tau, Der assoziative Faktor in der Landschafts- und Ortsdarstellung Theodor Fontanes, Kiel 1928; Wolfgang Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken, Berlin/Leipzig 1930; Bruno Hillebrand, Mensch und Raum im Roman: Studien zu Keller, Stifter, Fontane. Mit einem einführenden Essay zur europäischen Literatur, Münich 1971; Gisela Wilhelm, Die Dramaturgie des epischen Raumes bei Fontane, Frankfurt am Main 1981; James N. Bade, Fontane’s Landscapes, Würzburg 2009; White, Space in Theodor Fontane’s Works. 5 Vgl. Marina Guglielmi und Giulio Iacoli (Hrsg.), Piani sul mondo. Le mappe nell’immaginazione letteraria, Macerata 2012; Marion Picker, Véronique Maleval et al. (Hrsg.), Die Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen, Bielefeld 2013; Francesco Fiorentino und Gianluca Paolucci (Hrsg.), Letteratura e cartografia, Milano 2017. 6 Vgl. Peter Turchi, Maps of the Imagination: The Writer as Cartographer, San Antonio 2004; Tania Rossetto, Theorizing Maps with Literature. In: Progress in Human Geography 38/4 (2014), S. 513–530. 7 Über die Möglichkeit einer ›liminalen Literatur‹, die darauf zielt, »beim Leser liminale Erfahrungen zu evozieren«, vgl. den Band von Jochen Achilles, Roland Borgards et al. (Hrsg.), Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012, S. 12.



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indem er nicht bei detaillierten Beschreibungen verweilte, sondern sich einer Art semantischer Simplifizierung bediente.8 Das entspreche dem Wunsch des Autors, Berlin und Brandenburg in einen ›lesbaren‹, mit den Lesern geteilten Raum zu verwandeln, um die schon umfangreiche und unermessliche Realität der Stadt und des Landes zu ›reduzieren‹ und durch die Literatur zu ›kartographieren‹. Wenn man Fontanes Werk aus dieser Perspektive deutet, könnte man es als signifikantes Beispiel jenes Verhältnisses zwischen Literatur, Großstadt und Nationsbildung interpretieren, das den europäischen Roman des 19. Jahrhunderts laut Franco Moretti kennzeichnet. Um die ›Ortsgebundenheit‹ der Literatur unter Beweis zu stellen, analysiert Moretti in seinem Atlante del romanzo europeo 1800–1900 ein Korpus von narrativen Werken, die »eine Affinität zwischen Roman und Nationalstaat« bestätigten.9 In der Epoche der Geburt des Nationsbegriffs wurde – so Moretti – die Gattung des Romans sein privilegiertes Medium, indem sie dazu beitrug, virtuell einen Sinn für nationale Zugehörigkeit im ganzen Staatsgebiet zu verbreiten. Die Fontanerezeption des 19. Jahrhunderts deutete z. B. auf diese Weise das performative ›politische‹ Ziel der Wanderungen durch die Mark Brandenburg, die den »patriotischen Sinn in den Kindern, den Lesern« wecken sollten.10 Anders gesagt: Die literarische Behandlung der Geographie der Mark Brandenburg in den Wanderungen stehe im Zeichen einer konservativen Intention des Autors. In diesem Sinne spricht auch wieder im späten 20. Jahrhundert Peter Wruck vom Bestreben der Literatur Fontanes, »zwischen dem Autor und dem Volks-, Landes- und Staatsganzen ein Übereinstimmungsverhältnis wieder herzustellen, das durch die modernen Antagonismen ungebrochen 8

Vgl. Charlotte Jolles, ›Berlin wird Weltstadt‹: Theodor Fontane und der Berliner Roman seiner Zeit. In: Derek Glass (Hrsg.), Berlin: eine Großstadt im Spiegel der Literatur, Berlin 1989, S. 50‒69, hier S. 65. Irmela von der Lühe spricht von einer »Integration des Lesers in den Text durch Appell an seine Kennerschaft durch Inszenierung von Wiedererkennungseffekten. Berlin ist der zentrale Handlungsort vieler Romane, es gibt exakte, überprüfbare Angaben zu Wohnorten, Gebäuden und Plätzen, und doch gibt es keine ausufernden, detaillierten Stadt- und Ortsbeschreibungen. […] Der Leser kann sich zu Hause, er kann sich in den Romanen sofort heimisch fühlen. Die Nennung der Namen garantiert Authentizität, die Authentizität garantiert dem Leser Familiarität«. Irmela von der Lühe, Fontanes Berlin. In: Werner Frick (Hrsg.), Orte der Literatur, Göttingen 2003, S. 189‒206, hier S. 196. 9 Franco Moretti, Atlante del romanzo europeo 1800‒1900, Torino 1997, S. 19. 10 George Hesekiel, Brandenburgisch Ehrengeschmeid. In: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung 282 (03.12.1861), zitiert in Peter Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Bettina Plett (Hrsg.), Fontane. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 46–65, hier S. 53.

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wäre«.11 Auch Hugo Aust sieht in Fontanes Werk einen »Prozess der Landgewinnung und Wirklichkeitsorientierung«12 im Gang, zu dem nicht nur die Wanderungen, sondern auch die Romane Vor dem Sturm, Grete Minde, Schach von Wuthenow, Unterm Birnbaum, Irrungen, Wirrungen und Unwiederbringlich beitragen. Im Lichte solcher Interpretationen steht Fontanes literarisches (und kartographisch-topographisches) Verfahren im Dienst der ›preußischen Idee‹, d.  h. der Idee – bzw. der Illusion – eines harmonischen, organischen und homogenen kulturellen Raums,13 der von Individuen bewohnt wird, die dasselbe Wert-, Vorstellungs- und Erwartungssystem teilen. Es ist jedoch möglich, das Verhältnis zwischen Literatur und Raum bei Fontane ganz anders zu betrachten. In einem geschichtlichen Moment, in dem – wie Franco Moretti aufzeigt – das Medium Roman mit anderen Methoden konkurriert, um Länder und Gebiete für administrative Ziele zu kartographieren, dekliniert Fontanes Werk ›alternative‹ literarische Karten, die dem Leser – sozusagen – Notausgänge aus der offiziellen preußischen Topographie ermöglichen. Fontanes Literatur transformiert die reale Topographie von Preußen und Berlin aus einem erstarrten ›Ort‹ in einen bewegten, von den Lebenspraktiken der Figuren durchzogenen und daher individuell erlebten ›Raum‹.14 In seinen 11 Ebd., S. 59. Auch laut Walter Erhart ist es die performative Absicht der Wanderungen, die »gänzlich verlorene Totalität eines einst geschlossenen Lebenszusammenhanges wieder auferstehen« zu lassen. Walter Erhart, Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 819–850, hier S. 837f. 12 Hugo Aust, Zur Modernität des vaterländischen Romans bei Theodor Fontane. In: Plett (Hrsg.), Fontane, S. 79–95, hier S. 80. 13 Vgl. dazu auch Walter Erhart, ›Alles wie erzählt‹. Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 229–254. 14 Klaus R. Scherpe bemerkt: »Durch Grenzüberschreitungen und Grenzverletzungen der in sich abgeschlossenen Ortsbeschreibungen entstehen in Fontanes Romanen die Handlungsräume der Figuren. Durch die absichtsvolle Deplazierung der interessanten, die Handlung tragenden Figuren werden […] Orte in Räume verwandelt«. Klaus R. Scherpe, Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 162‒169, hier S. 166. Scherpe appliziert dem Roman Fontanes den von Michel De Certeau in L’invention du quotidien artikulierten Unterschied zwischen den Kategorien von ›Ort‹ und ›Raum‹: »Ein Ort ist […] eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht; er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden



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Werken bemühen sich die Hauptfiguren oft um Grenzüberschreitungen, d. h. um positive ›Verirrungen‹ in liminale Gebiete, die außerhalb der Grenzen der wilhelminischen administrativen Macht liegen. Das kündigt programmatisch nicht nur der Titel des Romans Irrungen, Wirrungen an, sondern in dieses Neuland öffnen sich auch die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, deren erster Satz im Vorwort bekanntlich lautet: »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen« (GBA V/1, S. 1).15 Explizit betrachtet Fontane die Wanderungen als Resultate von »Streifereien in der Fremde«, d. h. von Wanderpraktiken, die ein Infragestellen der hergebrachten geographischen und kulturellen Grenzen voraussetzen und dem reisenden Subjekt – dem Leser – eine positive, liminale Alteritätserfahrung ermöglichen: »Die ersten Anregungen zu diesen ›Wanderungen durch die Mark‹ sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen« (ebd.). Schon das Vorwort der Wanderungen scheint die Thesen der ersten Fontaneforschung zu widerlegen: »Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte« (ebd., S.  3). Fontane spricht von einem unerwarteten »Reichtum« (ebd.), den nur seine Dichtersensibilität festhalten und in seiner mannigfaltigen Fülle wiedergeben kann. Der Autor betrachtet sich und seine Leser als »Spaziergänger« (ebd.), die aufgerufen werden, sich ohne »Voreingenommenheit« (ebd., S.  5) mit dem Neuen performativ auseinanderzusetzen, dem sie auf ihren Wanderungen begegnen, und die eingeladen sind, »zu der Unbekannten, völlig im Wald versteckten [Lokalität] vorzudringen«, die die Literatur Fontanes »anregend« und »belebend« darstellt.16 »Es ist ein Buntes, Mannigfaches, das ich zusammengestellt habe« (ebd., S. 3): Dem Autor liegt nicht die Reduzierung der Realität am Herzen, sondern im Gegenteil eine Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts seiner »Spaziergänger«. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass Walter Benjamin in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Rezension zu Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg den ›verfremdenden‹ Charakter des Buchs spürte: »Es ist immer angenehm, wenn man in einem Buch nicht nur das findet, was

Kontexten ergeben. Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ›Eigenem‹. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht […]«. Michel De Certeau, Kunst des Handelns. Übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 345. 15 Fontanes Werke werden hier nach dem Wortlaut der Großen Brandenburger Ausgabe (GBA) unter Verwendung der Siglen V (Wanderungen durch die Mark Brandenburg) und I (Das erzählerische Werk) zitiert. 16 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, zitiert in Erhart, Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, S. 822.

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der Titel verspricht, sondern allerhand Schönes, woran man nicht dachte, als man es vornahm. So ist es auch mit diesen ›Wanderungen‹«.17 Wenn Giuliano Baioni in der Einleitung zur italienischen Edition der Werke Fontanes bemerkte, dass »die Wanderungen durch die Mark Brandenburg als Sammlung von Orten, Geschichten, Charakteren, kuriosen und ungewöhnlichen Anekdoten«18 bereits narrativen Stoff enthielten, d. h. einen Stoff, der auf das künftige literarische Werk des Autors vorauswies,19 kann man eine Poetik der Liminalität bei Fontane aufzeigen, die diesen Wanderpraktiken zugrunde liegt. Auch in seinen Romanen – wie Grete Minde, L’Adultera, Irrungen, Wirrungen u. a. – geht der poetische Akt oft von einer Überschreitung der üblichen räumlichen und topographischen Kategorien durch die Hauptfiguren aus, die im Zuge dieser Überschreitung in die Situation geraten, ihre individuellen und existentiellen Wege nicht zuletzt dank einer positiven Auseinandersetzung mit dem kulturellen, sozialen, innerlichen ›Anderen‹ zu artikulieren. Es soll gezeigt werden, dass die Problematisierung des Verhältnisses zwischen den Orten und ihren Bewohnern, die Fontane in seinem Werk inhaltlich dargestellt hat, sich auch auf einer wirkungsästhetischen Ebene widerspiegelt.

II. In Grete Minde klingt die Frage der jungen Protagonistin »Wohin gehen wir?« (GBA I/3, S. 73) wie ein Refrain durch die ganze Novelle, während das Thema der Desorientierung in Gretes Worten »Wo sind wir, Valtin? Ich glaube, wir haben uns verirrt« (ebd., S. 36) explizit zum Ausdruck kommt; außerdem steht das Motiv der Verirrung im Mittelpunkt der Kapitel Das Maienfest und Flucht, die auch den Wendepunkt der Erzählung markieren. Im ersten erwähnten Kapitel erleben die Kinder auf einem »halbüberwachsenen Weg, der sich immer tiefer in den Wald hineinzog« (ebd., S. 35f.), die Sage von der Jungfrau Lorenz nach, die sich im Wald verirrte und in einem Hirsch die Madonna verkörpert sah, und beschließen, »nicht in die Stadt und nicht nach Haus« (ebd., S. 37) zurückzukehren. 17 Walter Benjamin, Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. VII/1: Nachträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1992, S. 137–145, hier S. 141. 18 Giuliano Baioni, Il prussiano e Melusine. In: Theodor Fontane, Romanzi. Bd. 1: 1880– 1891. Hrsg. von Giuliano Baioni, Milano 2003, S. IX–CIV, hier S. XIX. 19 Vgl. dazu Anselm Hahn, Theodor Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ und ihre Bedeutung für das Romanwerk des Dichters, Breslau 1935.



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Im Kapitel Flucht steht das Fehlen präziser Koordinaten im Wald, das es Grete und Valtin erlaubt, eine ihnen sonst im Raster der protestantischen Gesellschaft verweigerte Freiheit zu genießen und ihre Sinnesorgane wieder zu entdecken, »hier so frisch und so weit […], und zu Haus […] so dumpf und so eng« (ebd., S. 49), im Kontrast zur starren Topographie der Stadt Tangermünde. »Als sie […] den inneren Bann der Stadt erreicht hatte, war es ihr, als wäre sie gefangen und könne nicht mehr heraus« (ebd., S. 101): In Tangermünde, wo Grete sich »wie […] eingemauert« (ebd., S. 49) fühlt, werden die Orte und Räume, die die Autorität symbolisieren, mit ›strafenden‹ Diskursen aufgeladen, wobei Fontane einräumt, dass ein »nachweisbares oder poetisch zu muthmaßendes Verhältniß von Schuld und Strafe«20 im Zentrum der Novelle steht und damit das (augustinische und protestantische) Thema der ewigen Verdammnis des Menschen. Es durchzieht als Leitmotiv die ganze Erzählung mehr oder weniger deutlich. So ist es kein Zufall, dass die Theateraufführung des ›Jüngsten Gerichts‹, die zu Beginn der Novelle das Mädchen beinahe tötet, im Rathaus der Stadt stattfindet, während am Ende abermals im Rathaus ihre definitive soziale Ausgrenzung ›verordnet‹ wird. Außerdem hört Grete von Pastor Gigas, dass »all unsrer Thuen sündig […] von Anfang an« sei (ebd., S. 30). Auf dieselbe Art, wie Fontane den »Traum vom Fliegen«21 von Grete und Valtin in Grete Minde räumlich konkretisiert hat, geschieht es im Roman L’Adultera. Auch hier geht die ›Suche nach dem Glück‹ der Liebenden von einer Überschreitung der offiziellen topographischen Koordinaten aus. Fontane hat definiert, dass »bei richtigem Aufbau […] in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken«22 muss, und so ist es bezeichnend, dass die genaue Adresse des Berliner Hauses von Herrn van der Straaten auf der ersten Seite des Romans, sogar in der ersten Zeile erwähnt und mit dem Charakter des Kommerzienrats assoziiert wird: Der Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4, war einer der vollgiltigsten Financiers der Hauptstadt, eine Thatsache, die dadurch wenig alterirt wurde, daß er mehr eines geschäftlichen als eines persönlichen Ansehens genoß. An der Börse galt er bedingungslos, in der Gesellschaft nur bedingungsweise. Es hatte dies, wenn man herum horchte, seinen Grund zu sehr wesentlichem Theile darin, daß er zu wenig »draußen« gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, sich einen allgemein giltigen Weltschliff oder auch nur die seiner Lebensstellung entsprechenden Allüren anzueignen. Einige neuerdings erst unternommene Reisen nach Paris und Italien, die übrigens niemals über ein paar Wochen hinaus ausgedehnt worden waren, hatten an diesem Thatbestande nichts Erhebliches ändern können und ihm jedenfalls ebenso

20 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, zitiert in Claudia Schmitz, Anhang. In: GBA I/3, S. 119–227, hier S. 125. 21 Ebd. 22 Theodor Fontane, Dichter über ihre Dichtungen. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter. Bd. 2, München 1973, S. 280.

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Gianluca Paolucci seinen specifisch localen Stempel wie seine Vorliebe für drastische Sprüchwörter und heimische »geflügelte Worte« von der derberen Observanz gelassen. Er pflegte, um ihn selber mit einer seiner Lieblingswendungen einzuführen, »aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen,« und hatte sich, als reicher Leute Kind, von Jugend auf daran gewöhnt, Alles zu thun und zu sagen, was zu thun und zu sagen er lustig war. Er haßte zweierlei: sich zu geniren und sich zu ändern (GBA I/4, S. 5).

Im Gegensatz dazu entfaltet sich die Liaison zwischen Melanie und Rubehn an Orten, die mit vagen, unpräzisen topographischen Nuancen definiert sind.23 Es ist auffallend, dass die Präzision bestimmter topographischer Details von Berlin – die Fontaneforschung hat die »exakte Benennung von Straßen und Plätzen der Reichshauptstadt« im Roman hervorgehoben24 – im Kontrast zu der Vagheit der Konturen von Melanies Lieblingsplätzen steht: die Villa im Tiergarten und das Palmenhaus. Rubehn und Melanie treffen sich nach dem Umzug der Frau in die Sommervilla, sie nähern sich einander während des Ausflugs nach Treptow und Stralau an, während die zentrale Liebeszene »unter Palmen« (ebd., S. 86), d. h. im Palmenhaus spielt. Wie in Grete Minde erklingt auch in L’Adultera immer wieder der Refrain von Melanies Frage »Wohin treiben wir?«, die auch dem zentralen Kapitel des Buchs den Titel gibt. Das spielt darauf an, dass die sentimentalen und existentiellen Verirrungen der Liebenden zugleich geographische Verirrungen sind – und umgekehrt: »Er nahm ihre Hand und fühlte, daß sie fieberte. Die Sterne aber funkelten und spiegelten sich und tanzten um sie her, und das Boot schaukelte leis und trieb im Strom, und in Melanie’s Herzen erklang es immer lauter: wohin treiben wir?« (ebd., S, 77). Noch expliziter als in den ersten beiden Beispielen hat in Irrungen, Wirrungen die ›Suche nach dem Glücke‹ von Lene und Botho einen topographischen Charakter. Es ist kein Zufall, dass der Prediger Gideon Franke hier von »Glückswege[n]« spricht (GBA I/10, S. 154). Fontanes Vorliebe für das Marginale, für die ›anderen‹ Realitäten, die am Rande der Stadt liegen und die die offizielle Topographie Berlins nicht zeigt, sondern verborgen hält, wird im Roman hervorgehoben. Schon zu Beginn stellt das Haus, die kleine häusliche Idylle von Lene, Frau Nimptsch und ihrer Nachbarin, Frau Dörr, eine Art poetische und utopische Enklave innerhalb der Stadt dar: An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem »Zoologischen«, befand sich in der Mitte der 70er Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte. Was aber sonst noch zu dem Ge-

23 Vgl. Gabriele Radecke, Anhang. In: GBA I/4, S. 165–275, hier S. 174. 24 Ebd.



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sammtgewese der Gärtnerei gehörte, ja die recht eigentliche Hauptsache derselben ausmachte, war durch eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kulisse versteckt, und nur ein roth und grün gestrichenes Holzthürmchen mit einem halb weggebrochenen Zifferblatt unter der Thurmspitze T (von Uhr selbst keine Rede) ließ vermuthen, daß hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse, welche Vermuthung denn auch in einer von Zeit zu Zeit aufsteigenden, das Thürmchen umschwärmenden Thaubenschaar und mehr noch in einem gelegentlichen Hundegeblaff ihre Bestätigung fand. Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung, trotzdem die hart an der linken Ecke gelegene, von früh bis spät aufstehende Hausthür einen Blick auf ein Stückchen Hofraum gestattete. Ueberhaupt schien sich nichts mit Absicht verbergen zu wollen, und doch mußte jeder, der zu Beginn unserer Erzählung des Weges kam, sich an dem Anblick des dreifenstrigen Häuschens und einiger im Vorgarten stehenden Obstbäume genügen lassen (ebd., S. 5).

Im Roman überschneiden sich die Liebesverirrungen des jungen Barons Botho mit seinen Exkursionen in Gebiete, die außerhalb der offiziellen Topographie der preußischen Hauptstadt liegen, wie Lene ihren aristokratischen Liebhaber – einen Bewohner des Stadtzentrums – bei ihrer ersten Begegnung während der Bootspartie auf der Spree warnt: »wir wohnten so gut wie am andern Ende der Welt. Und sei eigentlich eine Reise« (ebd., S. 19). Schon bei dieser Gelegenheit begeben sich die beiden auf die Suche nach einem abgelegenen Ort, der es ihnen ermöglicht, jeder sozialen Identität zu entkommen, die ein Hindernis für ihre sentimentale Glückseligkeit darstellt. Auch hier entsteht der poetische Akt durch eine Überschreitung der durch die sozialen Hierarchien festgelegten Grenzen, die in diesem Fall offensichtlich auch reale geographische Grenzen sind. Wenn die offizielle Stadttopographie Berlins in Irrungen, Wirrungen den ›Ort‹ darstellt, an dem sich die kodifizierten Klassenverhältnisse widerspiegeln, so verwandeln Botho und Lene mit ihren Bewegungen (meist in der Vorstadt) die urbane Gegend in einen Erfahrungsraum, der von ihnen am ganzen Körper und durch die vom ›Sommer‹ ihrer Jugend erweckten Sinne erlebt wird. Lenes Garten in Wilmersdorf, Hankels Ablage an der Spree, die Straßen in der Nähe des Friedhofs in Rixdorf nehmen in Fontanes Roman die Gestalt von ›Heterotopien‹ an, d. h. poetisch, symbolisch und mythisch aufgeladene Orte, die Michel Foucault als »Gegenorte« bezeichnet hat: »verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden«.25 Im ›freien‹ Raum des Hauses von Frau Nimptsch und Lene kann z. B. Botho es sich leisten, seine soziale Identität, d. h. seine »Maske« (ebd., S. 66) – wie das Mädchen bemerkt – beiseite zu legen, um mit ironischer Distanz »eine Tisch-Unterhaltung« (GBA I/3, S. 26) zu mimen, die für die Berliner High Society charakteristisch ist. 25 Michel Foucault, Von anderen Räumen. In: Dünne und Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, S. 317–329, hier S. 320.

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In ähnlicher Weise werden die kulturellen Elemente der Tradition bzw. des Zentrums während des Spaziergangs Bothos durch die Vorstadt Rixdorf nach einem spielerischen und karnevalistischen Prinzip, das die Starrheit jeder formalen Ordnung ignoriert, »in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt«. Das zeigen »die nicht endenwollenden und untereinander im tiefsten Gegensatze stehenden Anpreisungen […] und die dazu gehörigen Bilder« der Vorstadtläden, die im Stande sind, Bothos ansonsten schlummernde »Neugier« während seiner »Reise« zum »Jakobikirchhof« aufzuwecken: So ließ er denn die Kränze liegen, wo sie lagen, und vergaß ihrer beinah ganz, als sie gleich danach in einen Straßenteil einbogen, der ihn durch seine bunte, hier und da groteske Szenerie von seinen bisherigen Betrachtungen abzog. Rechts, auf wohl fünfhundert Schritt Entfernung hin, zog sich ein Plankenzaun, über den hinweg allerlei Buden, Pavillons und Lampenportale ragten, alle mit einer Welt von Inschriften bedeckt. Die meisten derselben waren neueren und neusten Datums, einige dagegen, und gerade die größten und buntesten, griffen weit zurück und hatten sich, wenn auch in einem regenverwaschenen Zustande, vom letzten Jahr her gerettet. Mitten unter diesen Vergnügungslokalen und mit ihnen abwechselnd hatten verschiedene Handwerksmeister ihre Werkstätten aufgerichtet, vorwiegend Bildhauer und Steinmetze, die hier, mit Rücksicht auf die zahlreichen Kirchhöfe, meist nur Kreuze, Säulen und Obelisken ausstellten. All das konnte nicht verfehlen, auf jeden hier des Weges Kommenden einen Eindruck zu machen, und diesem Eindruck unterlag auch Rienäcker, der von seiner Droschke her, unter wachsender Neugier, die nicht endenwollenden und untereinander im tiefsten Gegensatze stehenden Anpreisungen las und die dazu gehörigen Bilder musterte. »Fräulein Rosella das Wundermädchen, lebend zu sehen; Grabkreuze zu billigsten Preisen; amerikanische Schnellphotographie; russisches Ballwerfen, sechs Wurf zehn Pfennig; schwedischer Punsch mit Waffeln; Figaros schönste Gelegenheit oder erster Frisiersalon der Welt; Grabkreuze zu billigsten Preisen; Schweizer Schießhalle: ›Schieße gut und schieße schnell, Schieß und triff wie Wilhelm Tell.‹« Und darunter Tell selbst mit Armbrust, Sohn und Apfel. Endlich war man am Ende der langen Bretterwand, und an eben diesem Endpunkte machte der Weg eine scharfe Biegung auf die Hasenheide zu, von deren Schießständen her man in der mittäglichen Stille das Knattern der Gewehre hörte. Sonst blieb alles auch in dieser Fortsetzung der Straße so ziemlich dasselbe: Blondin, nur in Trikot und Medaillen gekleidet, stand balancierend auf dem Seil, überall von Feuerwerk umblitzt, während um und neben ihm allerlei kleinere Plakate sowohl Ballonauffahrten wie Tanzvergnügungen ankündigten. Eins lautete: »Sizilianische Nacht. Um zwei Uhr Wiener Bonbonwalzer.« (GBA I/10, S. 159–160).

In der scheinbaren Peripherie der Stadt öffnet sich eine ganz neue Welt, die mit einem Reichtum an internationalen Anklängen – »amerikanische Schnellphotographie; russisches Ballwerfen […]; schwedischer Punsch mit Waffeln; Figaros schönste Gelegenheit oder erster Frisiersalon der Welt; […]; Schweizer Schießhalle« – die Autorität des Zentrums – sowie seine nationale Selbständigkeit – für einen Moment aufbricht und ihrerseits peripher wirken lässt.



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III. Nach Victor Turner besteht »das Wesen der Liminalität« in der »analytischen Zerlegung der Kultur in Faktoren und die freie oder spielerische Neukombination dieser Faktoren zu jedem nur möglichen Muster, wie verrückt es sein mag«.26 Da Fontanes Hauptfiguren sich in liminale Gebiete verirren, kann man auf einer wirkungsästhetischen Ebene konstatieren, dass die Literatur des Autors selbst einen Zwischen-, d. h. einen liminalen Raum erschafft, der es dem Leser ermöglicht, die kulturell tradierten Werte anzuzweifeln, um sie kritisch zu reformulieren. Wenn laut Arnold van Gennep (aus dessen Werk Victor Turner den Begriff von Liminalität ableitet) Übergangsriten oft auf »räumlichen Veränderungen« basieren, wie z. B. auf einem »Wohnortwechsel oder eine[r] Veränderung der geographischen Handlungssphäre«,27 die auch durch die einfache Überschreitung einer »Schwelle, die zwei Sphären voneinander trennt«,28 symbolisiert werden kann, scheint es symptomatisch zu sein, dass die Metapher des limen in Grete Minde auftaucht (sowie in anderen Werken Fontanes).29 Die Novelle beginnt sogar mit der Überschreitung der Grenze, die die Gärten Gretes und Valtins trennt, während das Motiv der Schwelle auch später explizit mit der Flucht des Paars assoziiert wird: »Und an der Schwelle der Kammerthür kniete sie nieder und rief Gott um seinen Beistand an, auch um seine Verzeihung, wenn es Unrecht sei, was sie vorhabe« (GBA I/3, S. 70). Wenn – wie Franco Farinelli suggeriert – »die Kritik an dem geographischen Diskurs zugleich eine Kritik an der politischen und sozialen Ordnung darstellt«,30 signalisieren die Bewegungen der Hauptfiguren nach liminalen Gebieten in Fontanes Werk den Willen des Autors, kodifizierte und erstarrte Kategorien in Frage zu stellen, um dem zeitgenössischen Leser alternative Orientierungsmodelle zu bieten. In dieser Hinsicht scheint Fontanes Werk die Auffassung der jüngeren Literaturforschung zu bestätigen, die die Kapazität der Literatur hervorhebt, das Bedürfnis des Lesers zu befriedigen, sich jenseits der offiziellen Topographien zu ›verirren‹, um sich individuell neu zu orientieren.31 26 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Übersetzt von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt am Main 1989, S. 42. 27 Turner, From Ritual to Theatre, S. 37. 28 Ebd., S. 36. 29 Vgl. Michael James White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹: Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 109–123. 30 Franco Farinelli, La crisi della ragione cartografica, Torino 2009, S. 5. 31 Vgl. z. B. Robert T. Tally Jr., Literary Cartography: Space, Representation, and Narrative, S.  3, https://digital.library.txstate.edu/bitstream/handle/10877/3932/fulltext.pdf,

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Aus einer performativen Perspektive wird der Leser durch Fontane aufgefordert, denselben Weg wie seine Figuren anzutreten. Während der »Spaziergänger« in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg angespornt wird, seine »Voreingenommenheit« zu beseitigen, um das Neue zu empfangen, ermahnen ihn die besprochenen Romane auf ähnliche Weise, die gewohnten Umstände und die sozialen Verhältnisse anders wahrzunehmen und einen ›befremdeten‹ Blick auf das Bekannte zu werfen. So wird ersichtlich, warum es sich bei den zitierten Werken um solche handelt, die in den Tagen ihrer Veröffentlichung kontroverse Reaktionen beim Lesepublikum hervorriefen. In Grete Minde lud Fontane seine Leser ein, die in den Regionalchroniken des 17. Jahrhunderts überlieferte Geschichte der Protagonistin nachzuerleben und die Vorurteile über ihre Person zu überprüfen. Der erste Bericht über die merkwürdige Geschichte von Grete Minde wurde von Caspar Helmreich verfasst, dem Richter, der das Mädchen verurteilte und es in den Annales Tangermundenses – wie Fontane in Christoph Bekmanns Historischer Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg (1751–1753) lesen konnte – als ein »Hürlein, […] / an welchem nicht ein gutes Haar, / Von Jugend auf zu finden war« bezeichnete.32 Dagegen sollte Fontanes Erzählung »Furcht und Mitleid« für Grete wecken.33 Bekanntlich verursachte L’Adultera einen zeitgenössischen Skandal wegen des positiven Epilogs der klandestinen Liebesbeziehung zwischen Melanie und Rubehn: »Meine L’Adultera-Geschichte hat mir viel Anerkennung, aber auch viel Ärger und Angriffe eingetragen«, erinnerte sich Fontane.34 Das bedeutsamste Beispiel einer solchen irritierenden, befremdenden Wirkung ist der Roman Irrungen, Wirrungen, der einen veritablen ›Literaturstreit‹ auslöste,35 losgetreten durch die unverblümte Reaktion eines Redakteurs der Vossischen Zeitung während der Veröffentlichung der Episoden: »Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?«.36 Sehr wahrscheinlich fand der skandalisierte Leser von Irrungen, Wirrungen nicht nur die »Hurengeschichte«, d.  h. die Geschichte der Mésalliance zwi-

zuletzt aufgerufen am 02.07.2020. 32 Zitiert in: Schmitz, Anhang, S. 122. 33 Vgl. die Rezension von Theodor Hermann Pantenius in: Velhagen & Klasings Monatshefte 8/2 (1893/94), S. 653–654, zitiert in Schmitz, Anhang, S. 149. 34 Theodor Fontanes an Joseph Viktor Widmann, zitiert in Radecke, Anhang, S. 183– 184. 35 Vgl. Frederick Betz, Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹. Eine Analyse der zeitgenössischen Rezeption des Romans. In: Hugo Aust (Hrsg.), Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks, München 1980, S. 258–281. 36 Conrad Wandrey, Theodor Fontane, München 1919, S. 213.



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schen Lene und Botho ›desorientierend‹,37 sondern auch die ›Verirrungen‹ des jungen Aristokraten in die Berliner Vorstadt. In Fontanes Roman scheint nämlich die »Reise«, die Botho in die Vorstadt Rixdorf unternimmt, um Frau Nimptschs Grab zu besuchen, paradigmatisch für ein Erlebnis zu sein, das seinen ganzen Körper und seine Sinne – Sehkraft und Gehör – zugleich einbezieht und den Baron zu einer höheren Sensibilisierung führt: Vor dem letzten Hause standen umherziehende Spielleute, Horn und Harfe, dem Anscheine nach Mann und Frau. Die Frau sang auch, aber der Wind, der hier ziemlich scharf ging, trieb alles hügelan, und erst als Botho zehn Schritt und mehr an dem armen Musikantenpaare vorüber war, war er in der Lage, Text und Melodie zu hören. Es war dasselbe Lied, das sie damals auf dem Wilmersdorfer Spaziergange so heiter und so glücklich gesungen hatten, und er erhob sich und blickte, wie wenn es ihm nachgerufen würde, nach dem Musikantenpaare zurück. Die standen abgekehrt und sahen nichts, ein hübsches Dienstmädchen aber, das an der Giebelseite des Hauses mit Fensterputzen beschäftigt war und den um- und rückschauhaltenden Blick des jungen Offiziers sich zuschreiben mochte, schwenkte lustig von ihrem Fensterbrett her den Lederlappen und fiel übermüthig mit ein: »Ich denke dran, ich danke Dir mein Leben, doch Du Soldat, Soldat, denkst Du daran?« Botho, die Stirn in die Hand drückend, warf sich in die Droschke zurück und ein Gefühl, unendlich süß und unendlich schmerzlich, ergriff ihn (GBA I/10, S. 162).

In der Passage gibt es kein Eingreifen des Autors von außen, bzw. oben, sondern die Beschreibung des Orts fällt mit dem Gesichtspunkt der Hauptfigur zusammen, die zum ›Flaneur‹ wird. Diese Art Flânerie erlaubt dem jungen Mann – und dem Leser mit ihm –, in einen erneuten, nicht zuletzt ›erotischen‹ Kontakt mit der vorstädtischen Umgebung zu treten. Fontane schreibt in einer Zeit, am Ende des 19. Jahrhunderts, in der Orte durch die beginnende Industrialisierung transformiert werden. In dieser Epoche ist dem Einzelnen der Übergang zu ›anderen‹ Orten versagt, wie auch keine individuelle Erfahrung erlaubt ist, die nicht in die Wertesphäre des Kapitalismus und der Marktwirtschaft eingeschlossen ist. In diesem Kontext erhält die Literatur eine Ersatzfunktion, indem sie imstande ist, Alteritätsräume zu imaginieren und virtuell zu gestalten. Die Literatur – man könnte es mit Michel De Certeaus Worten formulieren – stellt einen »mode individuel d’une réappropriation« des Raums dar.38 Wenn in den Ansätzen der jüngeren Forschung, die nach dem Verhältnis zwischen Raum und Literatur fragt, Letztere als eine kognitive Aktivität des ›Kartographierens‹ betrachtet wird, d.  h. ein »teilweise transformative[r] Akt […], der sich einer eindeutigen und totalisierenden Vision widersetzt«,39 oder vielmehr »eine kreative, bunte, persönliche 37 Vgl. Carin Liesenhoff, Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie, Bonn 1976, S. 69. 38 De Certeau, L’invention du quotidien, S. 146. 39 Giuliana Bruno, Atlas of Emotion. Journeys in Art, Architecture, and Film, New York 2002, S. 188.

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[…] Form des Kartographierens«,40 lohnt es, sich mit Fontane unter dieser Perspektive noch weiter auseinanderzusetzen: Sein Werk bietet dem Leser durch eine Poetik der Liminalität alternative Orientierungsmöglichkeiten, indem es ›andere‹ literarische Karten ausbreitet, die neue, menschlichere und nachhaltigere Topographien unserer Räume und unseres Lebens eröffnen.

40 Davide Papotti, Il libro e la mappa. Prospettive di incontro fra cartografa e letteratura. In: Guglielmi und Iacoli (Hrsg.), Piani sul mondo, S. 71‒88, hier S. 78.

Theodor Fontane und Friedrich Nietzsche als Bewohner spätrealistischer Welten Ein Versuch über die Zeitgenossenschaft Stefania Sbarra In diesem Beitrag wird am Beispiel von Theodor Fontane die Prosa des Spätrealismus in Bezug auf Nietzsches Werk betrachtet. Dabei geht es weder um die Suche nach Einflüssen – in welcher Richtung auch immer –, die in der Forschung zu keinem bedeutenden Ergebnis geführt hat, noch um einen schlichten Vergleich. Vielmehr geht es hier um die Analyse möglicher gemeinsamer, unter Umständen analoger Grundstrukturen, denen sowohl bei Nietzsche als auch im Spätwerk Fontanes zu begegnen ist und deren Hervorhebung ein neues Licht auf die Erzählweisen des Realismus werfen kann. Unerlässlich im Vorfeld dieses Vorhabens ist die Frage nach dem Bezug des Realismus zur Moderne, für die Nietzsches Denken bekanntlich grundlegend ist. Denn es ist für unsere Zwecke hilfreich, diesen Bezug zu hinterfragen, zu problematisieren und mehr noch der Frage nachzugehen, ob ein solcher Bezug überhaupt besteht. Aus der Perspektive der Literaturgeschichte betrachtet, kehrt die Moderne dem langen 19. Jahrhundert und vor allem dem Realismus den Rücken, um radikal neue Wege zu betreten. Diese chronologisch nachvollziehbare Einordnung literarischer Phänomene verlassend, findet die Literaturwissenschaft aber Kontinuitäten und Kontiguitäten, die in heuristischer Perspektive zu interessanten Befunden führen. So hat zum Beispiel Gerhard Plumpe den Realismus schon Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als »antimoderne Moderne«1 beschrieben. Mit Ralf Simon ist 2003 in Hinblick auf den Spätrealismus von einer »Archäologie der Moderne« die Rede, in der die Texte Storms, Stifters, Meyers und Raabes als »latente Protoformen« interpretiert werden und Gehalte im Keim vorhanden sind, die erst mit der Wiener Moderne, mit Joyce oder dem Surrealismus, zum Tragen kommen. So konstatiert Simon: 1 Gerhard Plumpe, Real-Idealismus als Kompensation. Die antimoderne Moderne. In: Edward McInnes und ders. (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München 1996, S. 79. https://doi.org/10.1515/9783110735710-006

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Modernitätstheoretisch betrachtet, kennt der literarische Realismus die wesentlichen Formen und Themen der ästhetischen Moderne. Er trägt sie als implizite Gehalte in den Schichten seiner realistischen Textanordnungen, versteckt hinter den Masken des traditionellen Erzählens.2

Simons Begriff einer Archäologie der Moderne ist besonders ergiebig, weil er das Paradox einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz aufdeckt, die das Verhältnis von Realismus und Moderne bezeichnet. Das ist umso interessanter, als bei aller zeitlicher Nähe in Bezug auf die impliziten Gehalte festzustellen ist, »dass diese Gehalte nicht über den Realismus an die Moderne weitergegeben wurden«.3 Die diachronische, d. h. zeitlich lineare Perspektive verlassend, lohnt es sich, den Horizont des Realismus samt seinem möglichen Zusammenhang mit der Moderne zu erweitern und zu beleuchten, was auf der Ebene des Synchronen, der Gleichzeitigkeit vor sich geht, während die Narrationen des Realismus entstehen und publiziert werden. Es stellt sich mit anderen Worten die dringende Frage, ob es doch nicht auch Umwege der Weitergabe gibt, die noch nicht ausreichend untersucht wurden, ob die von Simon heraufbeschworene »Archäologie der Moderne« nicht weiterer Ausgrabungen bedarf, um die Grundrisse der im Realismus noch impliziten Gehalte der Moderne ans Licht zu bringen. Der Begriff der Weitergabe erweist sich schließlich in dieser Herangehensweise überhaupt als fragwürdig, denn er beschränkt unsere Sicht nur auf die literaturhistorische Zeitachse des Nacheinanders literarischer Phänomene und Gehalte. Auf der Ebene der Gleichzeitigkeit ist das relevanteste Ereignis im deutschen Sprachraum das Werk Friedrich Nietzsches, dessen Rezeption zur Zeit des Realismus noch nicht einsetzt, die aber, sobald sie begonnen hat, zuerst im Bereich der Literatur und nicht in der Philosophie virulent wird. Die Gleichzeitigkeit der literarischen Narration auf der einen Seite und der philosophischen Narration auf der anderen ist überhaupt an und für sich einer Vertiefung wert.4 Denn sie richtet den Blick auf Erkenntnisse, die dem lange Zeit als provinziell angesehenen deutschen Realismus neue, über das Lokal- und Nationalkolorit weit hinausgehende Aspekte abgewinnen können. 2

3 4

Ralf Simon, Übergänge: Literarischer Realismus und ästhetische Moderne. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epochen – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 207– 223, hier S. 223. Vgl. auch Marianne Wünsch, Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In: Michael Titzmann (Hrsg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 187–203. Zum Thema Fontane und die Dekadenz siehe Isabel Nottinger, Fontanes Fin de Siècle: Motive der Dekadenz in ›L’adultera‹, ›Cécile‹ und ›Der Stechlin‹, Würzburg 2003. Ebd., S. 223. Marianne Wünsch hat schon 1991 auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht, dem hier nachgegangen wird. Siehe Wünsch, Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«, S. 194–195.



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Bekanntlich illustriert das Erzählwerk des späten Fontane die Krisenhaftigkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, während sein jüngerer Zeitgenosse Friedrich Nietzsche mit der genealogischen Analyse alles Tradierten und Überlieferten die Grundlagen westlicher Zivilisation radikal hinterfragt, sie für die folgende Generation von Künstlern und Intellektuellen außer Kraft setzt und damit den Experimenten der Moderne und der Avantgarde den Weg bereitet. Die Gleichzeitigkeit kultureller Phänomene ist an und für sich interessant und wirft Fragen auf. Hier geht es um eine meines Erachtens von der Literaturwissenschaft kaum gewürdigte Gleichzeitigkeit von spätrealistischer Poetik einerseits und philosophischer Kulturkritik andererseits. Ihr gilt es hier gezielt nachzugehen, um am Beispiel einiger repräsentativer Texte einen gemeinsamen Erfahrungshorizont auszumachen, vor dessen Hintergrund sowohl die vom Realismus vertretene »antimoderne Moderne« als auch eine Philosophie »mit dem Hammer«, um mit Nietzsches Worten aus der Götzendämmerung zu sprechen, entstehen konnten. In der Kontiguität dieser Narrationen gewinnt die oben genannte Archäologie der Moderne genauere Konturen, innerhalb derer die räumliche Kategorie des Nebeneinanders das diachronische Muster der verfehlten Weitergabe spätrealistischer Gehalte an die Moderne ersetzt. Zentrale implizite Gehalte des Realismus kommen gewissermaßen – so die in diesem Beitrag vorgeschlagene These – auch in einigen Grundgedanken von Nietzsches frühen Schriften vor, und zwar in einer durchaus ähnlichen semantischen Form. Solche Gehalte, die im Realismus vorhanden sind und erst in der Moderne virulent werden, ohne dass der Realismus selber sie an die nächste Generation weitergegeben hätte, erreichen die Moderne vorwiegend über Nietzsche, und eben nicht über den Realismus. Nietzsche soll dabei einmal lediglich vor diesem Hintergrund als Zeitgenosse der Spätrealisten, als Beobachter und Kritiker der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland betrachtet werden, d. h. einer Welt, die die dargestellte Welt im realistischen Roman ausmacht. Dementsprechend wird ausgehend vom gemeinsamen Erfahrungshorizont eine kulturelle Affinität zwischen dem Philosophen und dem Schriftsteller postuliert, die beide abgesehen von jeglicher Berührung zu den repräsentativsten Erzählern einer und derselben Epoche im 1871 gegründeten Deutschen Reich avancieren lässt, deren Werke es verdienen, parallel gelesen zu werden. Den Kernpunkt dieser Verwandtschaft deckt eine kultursemiotische Grundstruktur spätrealistischer Prosa auf, auf die Michael Titzmann aufmerksam gemacht hat, indem er Marianne Wünschs Thesen zum Realismus ausgeführt und Jurij Lotmans Grenzüberschreitungstheorie spezifisch auf diese Texte angewendet hat. Lotmans semiotischen Ansatz wieder aufgreifend hat

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Titzmann die im realistischen Roman dargestellte Welt folgendermaßen interpretiert: Ein Text habe, so hat bekanntlich J. M. Lotman definiert, genau dann eine narrative Struktur, wenn in der von ihm dargestellten Welt ein Ereignis stattfindet. Ein Ereignis wiederum liege genau dann vor, wenn eine im Regelfalle anthropomorphe Entität, aktiv handelnd oder passiv leidend, die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen überschreitet. […]: Damit es ein Ereignis gibt, sind also zwei einander ausschließende Teilordnungen der dargestellten Welt erforderlich, denen eine Figur nicht gleichzeitig angehören kann. Ein solcher semantischer Raum kann, aber muss nicht, auch an einen topographischen Raum der dargestellten Welt gebunden sein: dann und nur dann ist die Grenze auch eine räumliche. Zwei oppositionelle semantische Räume können zum Beispiel auch in zwei unterschiedlichen Ideologien, Wert- und Normensystemen etwa, bestehen, deren Vertreter entweder auf verschiedene Teilräume der dargestellten Welt verteilt sind oder im selben Raum koexistieren.5

In diesem Zusammenhang lassen sich für den Realismus epochenspezifische strukturelle Merkmale feststellen: Die Welten des deutschsprachigen Realismus sind nun durch weitestgehend konstante und starre Grenzziehungen charakterisiert. Wohl können Grenzen überschritten werden: aber sie sind im Regelfalle bekannt und akzeptiert. […] charakteristisch für den Realismus ist, dass diese potenzielle Grenzüberschreitung zugleich mit Lebensgefahr, mit der Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod korreliert wird, wie denn nicht legitime Sexualität im Realismus generell mit Tod oder Todesäquivalenten sanktioniert wird.6

Die den Biographien mancher Heldinnen und Helden spätrealistischer Prosa mehr oder weniger verhängnisvoll eingeschriebene Grenzmetapher ist in der semiologischen Lektüre narrativer Texte zentral. Diese Metapher und die Vorstellung einer Grenz-Überschreitung nehmen auch in Nietzsches 1873 verfasstem und erst 1896 veröffentlichtem Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne eine Schlüsselstellung ein. Es ist ein erkenntnis- und sprachkritischer Text, der gleichsam als Interpretationsfolie für das Frühwerk des Philosophen gilt, wo die Sprachskepsis der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts präfiguriert ist. Hier wird die Hypothese einer Entstehung der Worte und der Begriffe aus der Not und der Angst der ersten Menschen aufgestellt. Die ursprüngliche Funktion der Sprache und der Begriffsbildung sei der Schutz und die Organisation des menschlichen Lebens in einem gemein5 Michael Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹. In: Ders., Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche. Hrsg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S.  275–307, hier S.  275. (Zuerst erschienen in: Hans Krah und Carl-Michael Ort [Hrsg.], Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 181–205). 6 Ebd., S. 278–279.



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schaftlichen Rahmen gewesen. Im Laufe der Zeit seien diese in ihren ersten Erscheinungen schöpferischen und dem Leben günstigen Worte und Begriffe einer dem Leben feindlichen Erstarrung zum Opfer gefallen. Davon zeugten schließlich starre Konventionen, deren Ursprung und Funktion nach langem Gebrauch der Vergessenheit anheimgefallen seien und zuletzt den falschen Glauben an die Wahrheit an sich zementiert hätten. So fragt Nietzsche: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.7

Gegen jeglichen Glauben an die Wahrheit erinnert Nietzsche daran, dass der Sprachbildner »nur die Relationen der Dinge zu den Menschen« bezeichne und »zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hilfe« nehme. Am Anfang dieses Abenteuers, dessen der Nachwelt verborgener Genealogie Nietzsche nun nachgeht, steht ein Nervenreiz, der erst nach einer Grenzüberschreitung zur anschaulichen Metapher wird: Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue.8

Es handelt sich hier um einen im Sinne Lotmans narrativen Text, in dem der Nervenreiz als ursprüngliches Subjekt figuriert, aus dessen passiver Handlung ein verwandeltes Subjekt hervorgeht, dem ein weiteres folgt: Die Sequenz von Nervenreiz, Bild/Metapher, Laut/Metapher erfolgt im Prozess einer wiederholten rhetorischen Grenzüberschreitung (»Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre«), die einem Gesetz der Entropie gehorcht. Am Ende dieses Verfahrens bleibt nur die kalte Abstraktion übrig, die anschauliche Metapher des ursprünglichen Erlebnisses ist abgestorben: ein Roman in nuce, wo die Heldin, die erste anschauliche Metapher, am Ende einer Reihe von Ereignissen im Sinne Lotmans stirbt. In dieser Narration ist die Bewegung über eine Grenze in der Entstehung der Sprache – ein »vollständiges Überspringen der Sphäre« – das zentrale, in die Abstraktion mündende Verfahren einer sich im 7 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870‒1873. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 873–89, hier S. 880– 881. 8 Ebd., S. 879.

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Aufbau befindenden Architektur von Begriffen, dem unter dem Druck einer ein für allemal festzulegenden Wahrheit alles Dynamische abhandenkommt und zu einem Schema erstarrt: [I]m Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihresgleichen ist und deshalb allem Rubrizieren immer zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und atmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.9

Solche Überlegungen zur Entstehung von Sprache, Begriffen und letztendlich Werten, die im Laufe der Zeit erstarren und zu repressiven Wahrheiten werden, bilden die Voraussetzung für Nietzsches Kritik am Bildungsphilister und am Historismus in den ersten zwei Unzeitgemässen Betrachtungen. Der Bildungsphilister strukturiert sein Dasein über zu Gemeinplätzen erstarrten Konventionen, die er in seiner Behaglichkeit nicht hinterfragt, sondern unkritisch zwecks Konservation des Tradierten hypostasiert. Nietzsche bemängelt am Bildungsphilister die Gewohnheit, in den Klassikern Findende und nicht Suchende zu erblicken: Was urteilt aber unsere Philisterbildung über diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu vergessen, dass jene selbst sich nur als Suchende fühlten. Wir haben ja unsere Kultur, heisst es dann, denn wir haben ja unsere »Klassiker«, das Fundament ist nicht nur da, nein auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind dieser Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn.10

In dieser intellektuellen Trägheit zeigt sich der Höhepunkt jener Theoriefeindlichkeit, die die Literaturwissenschaft in der nationalliberalen Literaturkritik des Realismus am Anfang der fünfziger Jahre diagnostiziert hat. Der Bildungsphilister ist blind für den von Nietzsche als Paradebeispiel für die Suchenden zitierten Goethe, der sich »keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel [er] konnte«,11 und im neu gegründeten Deutschen Reich keinen Erben zu haben scheint. In seiner Beschränktheit ist der Bildungsphilister »das Hinderniss aller Kräftigen und Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, der Morast aller Ermatteten, die Fussfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, der giftige Ne9 Ebd., S. 881–882. 10 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. In: Sämtliche Werke, S.  157–242, hier S. 167. 11 Ebd.



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bel aller frischen Keime, die ausdorrende Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes«,12 wie Nietzsche emphatisch betont. In einem vom »historischen Bewusstsein«13 beherrschten Horizont, in dem der neu erfundene Begriff des Epigonenzeitalters in den Dienst der Behaglichkeit gestellt wird und das Entstehen unkonventioneller, nonkonformer Ideen in ein verdächtiges Licht rückt, feiern die mit Kultur verwechselten Gemeinplätze ihren Triumph. So scheint der Bildungsphilister das Endergebnis einer Gesinnung zu sein, die beispielsweise aus den Worten von Anton Heinrich Springer aus dem Jahr 1848 abzulesen ist. Der Kunsthistoriker, der im März 1848 bei Friedrich Theodor Vischer promoviert hat, welcher ebenso wie David Strauss eine Zielscheibe Nietzsches in der ersten, gegen die »Philisterbildung« gerichteten Unzeitgemässen Betrachtung ist, schreibt in Die Hegel’sche Geschichtsauffassung: Jede Schrift, die einen philosophischen Gegenstand zum Inhalt hat, muss heutzutage sein Erscheinen rechtfertigen. Das deutsche Volk hat auf seinen spekulativen Rausch einen tüchtigen Katzenjammer bekommen, und es dürfte wohl eine Zeitlang währen, bis sich der Ekel legt und die Lust zum Philosophieren uns wieder anwandelt. Ich kann diese Änderung der Volksstimmung nicht tadeln; sie war geboten durch das Auftauchen der realen Interessen der Politik, geboten durch den schiefen Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann. Wir haben durch diese Bemühungen der deutschen Philosophenschulen eine theoretisch freie Weltanschauung bekommen, nun gilt es auf einem anderen Wege uns die praktische Freiheit zu erwerben und unsere bisherigen Bestrebungen zu ergänzen. Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten.14

Helmuth Widhammer hat für diese Theoriefeindlichkeit zahlreiche Belege gesammelt und u. a. auf Gustav Freytags Geringschätzung von Arthur Schopenhauer hingewiesen, den er aufgrund von dessen Pessimismus in einem Brief an Salomon Hirzel vom 27. Oktober 1872 abschätzig als »elenden Gesellen«15 bezeichnet. Aus den Spalten des Grenzboten meldet sich 1850 auch Julian Schmidt mit der Aussage: Der moderne Dichter […], der sich hinsetzt mit der Absicht, eine Weltanschauung zu schaffen, und der mit ängstlicher Reflexion den Schein einer Warte über die Zeit hinaus herzustellen sucht, wird nicht einmal den beschränkten Forderungen der endlichen Kunst gerecht werden.16

12 Ebd., S. 166–167. 13 Ebd., S. 169. 14 Zitiert nach Hans Rosenberg, Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Tübingen 1972, S. 84. 15 Helmuth Widhammer, Die Literaturtheorie des deutschen Realismus (1848–1860), Stuttgart 1977, S. 48. 16 Ebd., S. 42.

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Wenn man von Nietzsches polemischer Einstellung in seiner Beschreibung des Bildungsphilisters absieht, erkennt man in diesem Menschentypus, der die Gegenwart als Endphase der Geschichte auffasst, das realistische Subjekt wieder, das uns Marianne Wünsch im Hinblick auf die Prosawerke der Zeit vor Augen führt: Das realistische Subjekt hat sich mit dem Ende seiner Jugendphase auf eine invariante Identität festgelegt, und das heißt einerseits, dass es aus der Menge seiner Möglichkeiten eine Alternative ausgewählt hat und andererseits diese gewordene Identität bis zum Ende seiner Existenz aufrechterhält.17

Nietzsches Bildungsphilister bewohnt die dargestellte Welt mancher Romane Theodor Fontanes und Wilhelm Raabes. An diesem Typus, bei dem das Denken als Entwurf gegenläufiger Ideen und Werte außer Kraft gesetzt ist, scheitern und sterben Außenseiter und vitale Figuren, die im herrschenden Wertesystem ausgegrenzt werden und daran zugrunde gehen. Nietzsches Aufforderung zur Umwertung aller Werte und zur Überwindung des Tradierten, bis hin zum Entwurf des Übermenschen, sind nicht zuletzt der Versuch, aus der beschränkten Welt des Bildungsphilisters auszubrechen, deren Grenzen im späten 19. Jahrhundert unverrückbar zu sein scheinen. Im Spätrealismus aber, wie Wünsch und Titzmann gezeigt haben, wird die Veränderung des Normensystems, d. h. der die dargestellte Welt und das Bewusstsein der darin agierenden Figuren strukturierenden Spielregeln, andeutungsweise versucht und das bedeutet gleichzeitig auch eine Infragestellung der diesem Normensystem zugrunde liegenden Werte. Es sei hier nur an den exemplarischen Fall von Karl Krumhardt erinnert, dem Erzähler in Wilhelm Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs (1896). Die vom Vater ererbten Werte und Gefühle sind in der Gemütlichkeit seines Familienlebens gut aufgehoben und sollen an die nächste Generation möglichst unverändert weitergegeben werden. Karl Krumhardt verkörpert das positive Subjekt des Realismus, indem er sich durch »Beschränkung auf ein halbwegs rationales und moralisches Bewusstsein«18 definiert und alles aus sich ausgrenzt, was damit inkompatibel ist. Gegenstand seiner Narration ist aber nicht sein eigenes Leben, oder zumindest nicht unmittelbar, denn an und für sich gibt seine Biographie keinen interessanten Erzählstoff her. Es ist vielmehr der Lebensweg seines besten Freundes, Velten Andres, der erzählenswert ist und Karl zum Schreiben veranlasst. Velten Andres, dessen Name Programm ist, hat sich durch die Ablehnung der tradierten Verhaltensmuster profiliert, was Familie, Beruf und Wohnhabitus betrifft: Er ist ein unverdrossener Grenzüber17 Wünsch, Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«, S. 191. 18 Ebd.



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schreiter, dessen Tod am Romananfang mitgeteilt wird, und über den nun erst im Rückblick berichtet wird, aus dem heraus er keine Gefahr für die konforme Familie darstellt. Veltens Lebenswandel macht aber die Krise der bürgerlichen Konventionen erst recht sichtbar, was, so Karls Fazit, zu einem existentiellen Scheitern führt. Eine ähnliche Funktion als Krisenträger erfüllt in Theodor Fontanes Effi Briest (1894) Baron Geert von Innstetten, ein hoher Funktionär des Deutschen Reichs, der bei Bismarck in Varzin ein- und ausgeht. Der Roman erzählt von einer Ehebruchsgeschichte. Die junge vitale Effi heiratet den früheren Geliebten ihrer Mutter und geht aus Langeweile eine Affäre ein, die Innstetten, der betrogene Ehemann, erst sieben Jahre später entdeckt. Und so erschießt er Effis Liebhaber im Duell, ohne überhaupt Rachegefühle zu hegen, und treibt die geliebte junge Frau in einen zuerst gesellschaftlichen und schließlich auch tatsächlichen Tod im Namen gesellschaftlicher Spielregeln, die ihm selber als ausgehöhlt erscheinen, die er aber gleichwohl nicht verletzen will. An Innstetten zeigt sich die bedrohliche Kehrseite jener behaglichen Welt des Bildungsphilisters, die uns Lesern als Begleiterscheinung jenes, wie Moritz Baßler schreibt, regelmäßigen Scheiterns der »großen Sinncodes KUNST, GLÜCK, ERFOLG« entgegentritt.19 Scharfsichtig beschreibt Innstetten die Mechanik seines eigenen Handelns, die keinem subjektiven Antrieb folgt und der er widerstandslos erliegt, indem er seiner Ehe trotz der Liebe zu Effi ein Ende zu setzen bereit ist: Weil es trotzdem sein muß. Ich habe mir’s hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ging’ es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies ›rechte Glück‹, und ich würde es auch müssen und – auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiterexistieren will, auch laufen lassen.20

Die Fragwürdigkeit von Innstettens Auffassung seiner eigenen Lage geht aus seiner Weigerung hervor, überholte Wertvorstellungen zu verabschieden und durch neue zu ersetzen, die seinen subjektiven Wünschen besser entsprechen könnten. Als Vertreter eines sozialen Epigonenzeitalters kann er sich keine andere, sowohl den Liebhaber als auch die Ehebrecherin schonende Form des Zusammenlebens vorstellen: 19 Baßler bezieht sich hier auf Gottfried Kellers Heinrich Lee im Roman Der grüne Heinrich. Moritz Baßler, Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015, S. 38. 20 HFA I/4, S. 235–236.

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»[…] Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen solche Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben, aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende GesellschaftsEtwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß«.21

Dieser im tutti unisono aufgehende Bildungsphilister ist ein und derselbe Menschentypus, den Nietzsche beschreibt und der bei den Spätrealisten wiederkehrt, wobei bei Raabe und Fontane der polemische Gestus des Kulturkritikers und seine spätere Aufforderung zur Umwertung aller Werte einer melancholischen, resignativen Haltung weichen, die sowohl die Erzählinstanz als auch die Hauptfiguren der Romane prägt. Innstetten hinterfragt lediglich sein eigenes Handeln, indem er die Fragwürdigkeit der ihn bestimmenden Prinzipien (Grenzziehungen) selbst hervorhebt: Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten?22

Das von Innstetten hellsichtig zur Kenntnis genommene »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« bestimmt auch das aus heutiger Sicht herzlose Verhalten von Effis Eltern, die ihre vom Ehemann verstoßene Tochter mitleidslos von sich weisen. Nur das Dienstmädchen Roswitha hält zu Effi und zeigt sich aufgrund der eigenen Erfahrung solidarisch mit ihr. Roswitha, die als junge Frau ein uneheliches, ihr kurz nach der Entbindung weggenommenes Kind geboren hat, befindet sich in ihrer moralischen Unbefangenheit dort, wo das »tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« außer Kraft gesetzt ist. Diese Extraterritoralität wird in einem Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf betont, während dessen die beiden Männer sich staunend über ihren Brief austauschen, in welchem sie Innstetten bittet, der vereinsamten Effi die Gesellschaft ihres geliebten Hundes Rollo zu gönnen. »[D]ie ist uns über«,23 bemerkt Wüllersdorf, indem er mit »über« ein semantisches Zeichen im Nietzsche’schen Umfeld gebraucht. Zwar bewegt den alten Fontane durchaus keine Übermenschenphantasie, aber die Vision eines glücklicheren Lebens erschließt sich seinen Figuren im Antlitz 21 Ebd., S. 236. 22 Ebd., S. 243. 23 Ebd., S. 287.



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der »Kreatur«,24 in Rollo und in der mit diesem schon durch die Anfangsbuchstaben beider Namen verwandten Frau, die sich über die herrschenden moralischen Urteile spontan hinwegsetzt. In diesem Sinne kann der alte Briest nach Effis Tod beim Betrachten der tieferen Trauer des Hundes sagen: »Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das Beste.«25 In Roswithas Verortung in einem den konformen Gesellschaftsmenschen unzugänglichen ›über‹ und in Rollos ›tiefer‹ gehendem Schmerz leuchtet ein jenseits der von Innstetten nur einmal hinterfragten Grenze befindlicher Raum der Alternative, die im unerheblichen Bereich der Kreatur leerläuft.26 Die schließlich durch nichts zu störende Behaglichkeit im Alltag des Bildungsphilisters, die den unerbittlichen Philosophen herausfordert, ist die gleiche Behaglichkeit, die das Interieur realistischer Prosa kennzeichnet. Zugespitzt gesagt: Die realistische Prosa spricht von der Mentalität, die den Zeitgenossen Nietzsche zum Kampfruf gegen die eigene Zeit, zur Unzeitgemäßheit veranlasst. Erst im letzten Roman Fontanes, Der Stechlin (1898), taucht das Stichwort einer »Umwertung« aller »Werte«27 auf, aber vor dem Horizont eines alles distanziert betrachtenden Humors. Gerhart von Graevenitz interpretiert die in der realistischen Prosa immer wieder dargestellte Behaglichkeit als einen Wall gegen die Angst, der sich das Subjekt des Realismus nach dem Gründerkrach ausgesetzt fühlt. Sie erkläre sich aus der »Angst vor dem Leeren«.28 Die Wallmetapher scheint an dieser Stelle besonders passend, denn sie verweist auf architektonische, die Semantik der Grenze variierende Metaphern, die in der realistischen Prosa für die Festlegung und Überschreitung von Grenzen konstitutiv sind. Auch in Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge ist, wie eingangs erwähnt, die Bau- und Grenzmetaphorik zentral. Grenzziehungen sind bei der Gestaltung 24 Ebd., S. 295. 25 Ebd. 26 So erinnert die Philosophin Martha C. Nussbaum in einem Artikel zum Thema Mitleid an die Rolle des Hundes in Effi Briest, der anders als die gefühlsstarren Eltern sein Mitleid frei ausleben kann, weil er anders als Menschen keine Hierarchisierung in der Bewertung der Menschen vornehmen kann. So figuriert hier Fontanes Roman als Vorgänger in der Handhabung von Themen, die für die Animal Studies ergiebig werden sollten. Martha C. Nussbaum, Compassion: Human and Animal. In: N. Ann Davis, Richard Keshen et al. (Hrsg.), Ethics and Humanity: Themes from the Philosophy of Jonathan Glover, Oxford 2010, S. 202–223, hier S. 210. 27 HFA I/V, S. 98. Hierzu Thomas Pfau, Metasprache und Bilderfahrung in ›Der Stechlin‹. In: The German Quarterly 86/4 (2013), S. 421–443, hier S. 426. 28 Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014, S. 34.

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von Wohnräumen konstitutiv. Besonders auffallend im Realismus ist die detaillierte Beschreibung der Wohnräume, in denen sich die Figuren bewegen und handeln.29 Den Häusern, ihren Interieurs und ihrer architektonischen Beschaffenheit ist das Schicksal der Helden und Heldinnen von vornherein eingeschrieben. Wohnräume und Anlagen verweisen auf eine Semantik der Grenze, die eine ideologische Bedeutung birgt und die Peripetie der Protagonisten und Protagonistinnen bestimmt, wie es z. B. im ersten Kapitel von Theodor Fontanes Roman Effi Briest der Fall ist. Wie wir gesehen haben, taucht der Begriff der Grenzziehung auch bei Nietzsche auf, der in seinem sprachkritischen Aufsatz die Entstehung der Worte und der Begriffe verfolgt und sich dabei einer räumlichen und architektonischen Semantik bedient. Nietzsche gilt der Mensch als Sprachbildner, ja als »Baugenie«. In den Narrationen des Realismus lässt sich insofern von strukturellen Verweisen zwischen Raum und Subjekt reden, die gleichzeitig die semiotische Grundlage von Nietzsches Sprach- und Kulturkritik ausmachen. Sein Pochen auf Überwindung, sein Entwurf vom Übermenschen, seine ganze Semantik des Über und des Um entspringen m. E. einem Bedürfnis, das in jener spezifischen Welt des Spätrealismus verankert ist, in der Grenzen besonders starr sind und den Figuren zum Verhängnis werden. Mit anderen Worten: Wäre sein Überwindungs- und Übermenschengedanke überhaupt denkbar ohne den realistischen Menschentypus, seine Räume und Räumlichkeiten? Ein Auszug aus Effi Briest soll vor Augen führen, was hier gemeint ist. Im ersten Kapitel des Romans wird Effis Schicksal durch eine Reihe von auf den Tod verweisenden Symbolen antizipiert, die auf eine Friedhofsmauer geradezu zulaufen: In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches

29 In Theodor Storms Novellen Viola Tricolor, Im Saal, Im Schloss und Die Söhne des Senators bestimmen Wohnräume und die damit eng verbundenen Familiengeschichten die Handlung. Nur weisen in diesen Novellen Bauelemente und Grenzziehungen noch nicht die radikal verhängnisvollen Zeichen auf, die erst in Storms Spätwerk und ganz besonders in Der Schimmelreiter ihre Wirkung entfalten werden.



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mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.30

Hier sei die Aufmerksamkeit auf die Form des Herrenhauses gelenkt: ein Hufeisen. Kurz nach dieser Textstelle werden Effi und ihre Freundinnen ein Lied erfinden, um die Versenkung von Stachelbeerschalen in den Teich zu begleiten. Spielend verweisen die jungen Mädchen auf die Ertränkung von Ehebrecherinnen, die – so ihr Lehrer – im alten Konstantinopel Sitte gewesen sei. Effi ergreift das Wort: »Nein, Wilke, nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache... Hertha, du mußt nun die Tüte machen und einen Stein hineintun, daß alles besser versinken kann. Und dann wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen und die Tüte auf offener See begraben.« Wilke schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fräulein, so etwa gingen seine Gedanken. Effi aber, während sie die Tüte mitten auf die rasch zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: »Nun fassen wir alle vier an, jeder an einem Zipfel, und singen was Trauriges.« »Ja, das sagst du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?« »Irgendwas; es ist ganz gleich, es muß nur einen Reim auf ›u‹ haben; ›u‹ ist immer Trauervokal. Also singen wir: Flut, Flut, Mach alles wieder gut ...« Und während Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier auf den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte Boot und ließen von diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tüte langsam in den Teich niedergleiten. »Hertha, nun ist deine Schuld versenkt«, sagte Effi, »wobei mir übrigens einfällt, so vom Boot aus sollen früher auch arme, unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue.« »Aber doch nicht hier.« »Nein, nicht hier«, lachte Effi, »hier kommt sowas nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzählte«.31

Effi besteht darauf, dass der Vokal U im Lied vorkommt, denn U sei ja Trauervokal. U und Hufeisen: der Buchstabe versinnbildlicht den tödlichen Bau, in dem sich Effi befindet. Haus und Trauervokal, Haus und Todesurteil sind aufeinander bezogen. Was Effi umbringt, die bei der Mutter Assoziationen wie ›Tochter der Luft‹ und ›Kunstreiterin‹ wachruft, sind allgemein akzeptierte 30 HFA I/4, S. 7. 31 Ebd., S. 14–15.

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Wertvorstellungen und Begrifflichkeiten, die durch die Architektur selbst im Trauervokal U versinnbildlicht werden. Nietzsche, der den Menschen als Baugenie beschrieben hatte, hatte architektonische Metaphern für die erstarrten Begriffe verwendet, wie wir schon gesehen haben: Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihresgleichen ist und deshalb allem Rubricieren immer zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.32

Die Konstellation des Romans Effi Briest scheint hier vorweggenommen: Effis Familienhaus ist mit Nietzsches römischem Kolumbarium vergleichbar, wo viel Abstraktes, d. h. viel Totes untergebracht ist, das der »Tochter der Luft«33 zum Verhängnis werden wird. Erst nach der Entdeckung ihres Ehebruchs wird sich die ganze Macht zeigen, die dieses ›Tote‹ immer noch hat, und der Trauervokal U, im Haus konkretisiert, sein tödliches Potential entfalten. Die lebensfrohe Effi, Tochter der Luft, bekennt vor ihrer Hochzeit der Mutter gegenüber, vor Innstetten Angst zu haben, denn dieser sei ein Mann von Grundsätzen, sie aber habe keine. So teilt sie ihr Schicksal mit jenen ersten individuellen ›Anschauungsmetaphern‹, die sich dem Rubriziertwerden entziehen, denen Nietzsche nachtrauert und die in der Geburt der Tragödie im Dionysischen zu neuem Leben erwachen. Auch im Roman Stine, um ein letztes Beispiel für diese Figurationen anzuführen, wird die Macht der Konventionen an einem architektonischen Bild versinnbildlicht. Kern der Handlung ist wie oft bei Fontane eine Mésalliance. Als der junge Graf Waldemar Haldern seinen Onkel besucht, um ihn für sein Vorhaben zu gewinnen, die arme Kleinbürgerin Stine zu heiraten, ist sein Scheitern in der Beschreibung von dessen Haus präfiguriert: Portiersleute fehlten, statt ihrer aber war ein ganzes System von Gittertüren da, das, wenn man unten – oder, was dasselbe sagen wollte, vor einem mit allerhand unleserlichen Blechschilden reich ausgestatteten Parterreverhau – klingelte, mitunter wie durch einen rätselhaften Federdruck in seiner Gesamtheit aufsprang, mitunter aber auch nicht, in welch letzterem Falle die nun von Etage zu Etage nötig werdende Einzelklingelei gar kein Ende nahm und bei jedem neuen Gitter zu dem Erscheinen eulenartiger alter Köchinnen führte, deren Examinationsverfahren umso peinlicher und eindringlicher war, als nur ihr Auge die Fragen stellte. Waldemar war zu lang und zu gut mit dieser altberlinischen Haus- und Treppeneinrichtung bekannt, um für gewöhnlich Anstoß daran zu nehmen; heute jedoch hatte dieses Absperrungssystem eine gewisse Bedeutung für ihn, und jede neu zu passierende Gittertür erschien ihm wie eine Mahnung, »es lieber nicht versuchen zu wollen«.34

32 KSA I, S. 882. 33 HFA I/4, S. 8. 34 HFA I/2, S. 532.



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Eine komplexe Struktur, eine Reihe von Hürden und nunmehr unleserlich gewordenen Namenschildern, die wie oft bei Fontane den Ausgang der Handlung antizipieren, was dem Helden selbst nicht entgeht, der hier Kafkas vor unentzifferbaren Situationen und unbezwingbaren Schlössern kapitulierende Figuren vorwegnimmt. Waldemar ahnt die Bedeutung dieser Architektur, die in seinen Augen wie in der zitierten Formulierung Nietzsches wie eine »pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden […], eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen […]« anmutet, »die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische«.35 Wie erwartet verweigert ihm der Onkel seinen Beistand und reagiert auf Waldemars Vorhaben, mit Stine nach Amerika auszuwandern, mit Bestürzung: »[…] Ich gratuliere. Waldemar, ich begreife dich nicht. Ist denn keine Spur von Haldernschem Blut in dir? Ist es denn so leicht, aus einer Welt bestimmter und berechtigter Anschauungen zu scheiden und bei Adam und Eva wieder anzufangen?«36

Indem er an ein »Gesetz des Gegensatzes« appelliert, »das zugleich ein Gesetz des Ausgleichs ist, eine neue Theorie von diesem oder jenem«, bedient sich Waldemar auch der Pyramidenmetapher, um sozusagen menschliche, allzu menschliche tradierte Normen zu verabschieden, die es verdienen, überwunden und ersetzt zu werden. In seinem Wunschdenken nimmt er sich als Mitglied seiner Familie selbst die unerhörte Freiheit, neue Werte zu setzen und eine neue Ordnung zu entwerfen, die nun endlich an der Zeit wäre: »[…] Die Halderns haben lange genug an der Feudalpyramide mit bauen helfen, um endlich den Gegensatz oder den Ausgleich oder wie du’s sonst nennen willst, erwarten zu dürfen. Und da kommt denn nun Waldemar von Haldern und bezeigt eine Neigung, wieder bei Adam und Eva anzufangen«.37

Wieder bei Adam und Eva anzufangen: In den Augen des alten Mannes würde das den Verzicht auf ein kostbares, im Familiennamen gut aufgehobenes Generationenerbe bedeuten, das aus althergebrachten, imperativischen und verbindlichen Begriffen besteht, die dem Subjekt einerseits eine überpersönliche Identität verleihen, es aber andererseits auch, wie sowohl Waldemar als auch Innstetten erkannt haben, in ein Objekt verwandeln. Diesem Sprachrohr der Tradition und des gesellschaftlichen Vorurteils setzt Waldemar eine neue Sicht auf die Verhältnisse entgegen, die aus ihm etwas mehr als einen dekadenten 35 KSA I, S. 881–882. 36 HFA I/2, S. 537. 37 Ebd., S. 537.

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Helden machen. Wieder bei Adam und Eva anzufangen, hat in seinen Augen überhaupt keine regressive Konnotation, wie der Onkel unterstellt, sondern birgt die Chance auf eine neue, beglückende Existenz. In seinen Worten klingt die Rhetorik des Neubeginns nach, die in der Literatur der Moderne und der Avantgarden ubiquitär sein wird. Für Waldemar sind die Zeiten noch nicht reif, er steht mit seinen Wünschen alleine da, nicht einmal Stine wird ihm auf dem Weg einer zärtlichen Zweisamkeit folgen. Die Grenzüberschreitung, die über die Planung einer Mésalliance nicht hinauszugehen vermag, betätigt den Strafmechanismus des Textes, der den Grenzüberschreiter mit dem Tod sanktioniert. Von Stine zurückgewiesen und nicht stark genug, darüber hinwegzukommen, begeht der junge Mann Selbstmord und wünscht sich zuletzt »so wenig Haldernsch [er] vielleicht war«, »in der Haldernschen Gruft zu stehen«.38 Der Kreis seines Lebens schließt sich, nachdem er vom wilden Amerika geträumt hat, im Familiengrab, in Nietzsches römischem Kolumbarium. Jahre später, im Essay Geist und Tat (1910), fragt sich Heinrich Mann voll Bestürzung in Anbetracht eines geistigen Chauvinismus, der Nietzsche für sich in Anspruch genommen hat: »Was erklärt diesen Nietzsche […]?« Diese Frage kann man aus den unterschiedlichsten Perspektiven immer wieder stellen und die Antworten mögen zahlreich sein. Eine davon lautet aber wahrscheinlich: die durch die Autoren des Spätrealismus dargestellte Welt.39

38 Ebd., S. 558. 39 Heinrich Mann, Macht und Mensch. Essays. Studienausgabe in Einzelbänden. Hrsg. von Peter-Paul Schneider, Frankfurt am Main 1989, S. 17.

»Hannibal ante portas«

Grenzen und Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Erzählung »Schach von Wuthenow« Stefan Lindinger und Evi Petropoulou »Hannibal ante portas«: Dieser Ausdruck fällt an zwei aufgrund ihrer Symmetrie hervorstechenden und damit als bedeutsam gekennzeichneten Stellen des Werkes von Theodor Fontane, um das es im Folgenden gehen soll – Schach von Wuthenow.1 Herr von Bülow, eine Nebenfigur, welche die doppelte Rolle eines Advocatus Diaboli und einer Kassandra übernimmt, stellt dort interpretierend die Verbindung her zwischen der geschichtlichen Situation, vor deren Hintergrund das Geschehen abläuft, und, letztlich, dem Schicksal der Titelfigur: das erste Mal, im zweiten Kapitel, vorausschauend, das zweite Mal im zwanzigsten und damit vorletzten Kapitel in der Rückschau. (GBA I/6, S. 16, 155) Dieser geschichtliche Hintergrund wird durch den Untertitel näher bezeichnet: Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Die Handlung spielt nämlich (abgesehen vom letzten Kapitel) in den Monaten vor der entscheidenden Niederlage Preußens vom 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt gegen die Heere Napoleons (Hannibal!), wobei die Schlacht selbst im Text allerdings nie ausdrücklich thematisiert wird. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das betreffende Regiment mit Sitz im Zentrum von Berlin, am Gendarmenmarkt, als ein Juwel des preußischen Militärs gegolten.2 Bülow ist einer der wenigen, die den drohenden Untergang des friderizianischen Preußen voraussehen. Von dessen Glanz und Gloria ist im Sommer 1806 nicht viel übriggeblieben, was 1

2

In diesem Aufsatz wird Schach von Wuthenow nach dem Wortlaut der Großen Brandenburger Ausgabe (GBA) der Werke Theodor Fontanes zitiert. Für eine Gesamtinterpretation der Erzählung vgl. etwa Georg Lukács, Der alte Fontane. In: Sinn und Form 2 (1951), S. 44–93; Benno von Wiese, Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen II, Düsseldorf 1962, S. 236–260; Walter P. Guenther, Preußischer Gehorsam. Theodor Fontanes Novelle ›Schach von Wuthenow‹. Text und Deutung, München 1981; John Osborne, ›Schach von Wuthenow‹. »Das rein Äußerliche bedeutet immer viel …«. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane. Interpretationen, Stuttgart 1991, S.  92–112; Christian Grawe, Schach von Wuthenow. In: Ders.  und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 533–546. Vgl. Pierre-Paul Sagave, Theodor Fontane. ›Schach von Wuthenow‹, Frankfurt am Main/ Berlin 1966, S. 120.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-007

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durch das Verhalten der Angehörigen des Regiments Gensdarmes im Verlauf der Erzählung augenfällig gemacht wird. Zu diesen zählt auch die Hauptfigur Schach von Wuthenow, der immerhin weniger rabaukenhaft daherkommt als manch anderer und sich insgesamt als »ein gemischter Charakter von mittlerer Intelligenz und durchschnittlichen moralischen Qualitäten« beschreiben lässt. Was ihn auszeichnet, sind »Eigenschaften [wie] Eitelkeit, Standesbewußtsein, Abhängigkeit vom Urteil anderer und eine auffallende Unentschlossenheit, die auf eine prinzipielle innere Schwäche deutet«.3 Andererseits ist ihm auch eine gewisse Integrität nicht abzusprechen: Insgesamt entsteht in der Erzählung ein »prismatisches Schach-Bild« aus mehreren unterschiedlichen Perspektiven.4 Eitelkeit, Standesbewusstsein und vor allem die innere Schwäche aber sind es, was Schach, sein Regiment und den Staat, in dem er lebt, miteinander verbindet: Am bzw. nach Ende der Erzählung wird es mit dem alten Preußen vorbei sein, das Regiment Gensdarmes wird sich aufgelöst haben, und Schach von Wuthenow wird sich nicht mehr unter den Lebenden befinden, radikale Veränderungen also. Im Bild von ›Hannibal vor den Toren‹ kommt diese Radikalität sinnfällig zum Ausdruck, eine räumliche Komponente verbindet sich mit einer zeitlichen, denn es wird impliziert, dass ein einschneidendes Ereignis unmittelbar bevorsteht, das Überschreiten einer Epochen-Schwelle, ein Ausdruck im Übrigen, der Räumliches und Zeitliches in Verbindung setzt: »Hannibal ante portas« bezeichnet eine Grenze und deren bevorstehende Übertretung.5 Nach Bachtin ist die Schwelle ja ein Chronotopos, der »mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung verknüpft« sein kann.6 Zum Thema des Raumes bei Theodor Fontane sind in letzter Zeit nahezu zeitgleich zwei Monographien erschienen, Katrin Scheidings Raumordnungen bei Theodor Fontane (Marburg 2012) sowie Michael James Whites Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function (London 2012),7 von denen 3

Hans Rudolf Vaget, Schach in Wuthenow. »Psychographie« und »Spiegelung« im 14. Kapitel von Fontanes ›Schach von Wuthenow‹. In: Monatshefte 61/1 (1969), S. 1–14, hier S. 3. 4 Sylvain Guarda, ›Schach von Wuthenow‹, ›Die Poggenpuhls‹ und ›Der Stechlin‹. Fontanes innere Reisen in die Unterwelt, Würzburg 1997, S. 30. 5 Zugleich kommt Hannibal gleichsam aus einer exotischen Fremde in Fontanes Roman. Zu den orientalisierenden und nordafrikanischen Bildfeldern im Schach und ihrer Bedeutung vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 329–331. 6 Katrin Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, Marburg 2012, S. 271–272. 7 Beide Monographien greifen selbstverständlich auf ältere einschlägige Untersuchungen zurück, denn die zentrale Bedeutung der Örtlichkeiten bei Fontane ist früh erkannt worden. Vgl. beispielsweise Bruno Hillebrand, Mensch und Raum im Roman.



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sich die vorliegende Einzeluntersuchung der Grenzen und Grenzüberschreitungen in Schach von Wuthenow inspirieren lässt. Schon in der Einführung zu ihrem Buch betont Scheiding, dass sich Bachtins »Chronotopos-Theorie […] in Bezug auf Theodor Fontanes Romanwerk [als] besonders ergiebig« erweist, »weil insbesondere die Berliner Gesellschaftsromane inmitten von Chronotopoi […] spielen«.8 Scheiding führt weiter aus: »Das gesamte Berliner Stadtbild des 19. Jahrhunderts ist durchzogen von geschichtlich aufgeladenen Räumen, verströmt geradezu Geschichtlichkeit und öffnet sich somit als Kulisse für Akteure.«9 Zum Zeitpunkt des Geschehens von Schach von Wuthenow ist diese für die zeitlich später spielenden Romane Fontanes so charakteristische urbane Topographie gerade im Entstehen.10 Große Teile der Handlung laufen demnach, 1806, im Stadtzentrum von Berlin ab und werden charakterisiert durch ein Karree von konkreten Straßennamen (Behrenstraße, Charlottenstraße, Unter den Linden, Wilhelmstraße, Charlottenstraße), an denen sich die für die Handlung relevanten Örtlichkeiten befinden. Innerhalb von Berlin gibt es also verschiedene Schauplätze, desgleichen einige am Rande von Berlin und in Brandenburg, ihr Ende findet die Erzählung nicht zufällig schließlich in Rom, dessen traditionelle Charakterisierung als ›ewige Stadt‹ emphatisch auf das zeitliche, geschichtliche, kulturelle Überlappen hinweist und den Stadtraum als geschichtliches Palimpsest heraushebt. In Erzählungen und Causerien hatte sich der Text bereits zuvor nach Italien, aber auch nach Hannover, nach Polen, nach Russland, nach Österreich, nach England, nach Frankreich, nach Zypern und bis nach Jerusalem geöffnet. In Anlehnung an de Certeau lässt sich eine Kartierung der Erzählung vornehmen, um zu zeigen, wie dieser literarische Text aus einer Abfolge von Karten im Sinne der Beschreibung eines ›festen‹ Ortes einerseits und Routen im Sinne der Beschreibung des Weges zwischen unterschiedlichen Schauplätzen andererseits besteht.11 Die räumliche Repräsentation in Schach von Wuthenow spielt auch insofern eine besondere Rolle, als sie nicht nur mit den äußerlichen Örtlichkeiten in Verbindung steht, sondern symbolisch auch auf Handlungen und insbesondere auf psychologische Studien zu Keller, Stifter, Fontane, München 1971, S. 229–283, oder Klaus R. Scherpe, Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts.  Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 161–169. 8 Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 11. 9 Ebd. 10 Vgl. den im Anhang von Schach von Wuthenow als Dokument abgedruckten Ausschnitt aus einem Berliner Stadtplan von ca. 1809 (GBA I/6, S. 168–169). 11 Scheiding erstellt eine derartige Kartierung für Effi Briest (Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 65–66).

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Vorgänge Bezug nimmt, so dass die Beschreibung der Topographie in diesem doppelten Sinne als wesentliche Erzähltechnik innerhalb von Fontanes reifem Schreibstil betrachtet werden kann.12 Diese die Personen charakterisierenden Handlungen sind stets auch den Räumen verbunden, ja verpflichtet.13 Die folgende, aufgrund der Notwendigkeit zur Kürze selektiv gehaltene Kartierung von Schach von Wuthenow dient auch dem Zweck, einen Überblick über den Inhalt zu geben. Die Erzählung besteht aus insgesamt 21 mit Überschriften versehenen Kapiteln. Dabei zeichnen sich diese Überschriften oft durch die Nennung von Örtlichkeiten aus (Im Salon der Frau v. Carayon, Bei Sala Tarone, In Tempelhof, In Wuthenow am See usw.), aber auch durch eine zweigliedrige Symmetrie, durch deren beide Elemente eine unsichtbare Grenze verläuft, was letztlich in einem Antagonismus resultiert, etwa Schach und Victoire oder Die Schachs und die Carayons.  Weiterhin ist festzuhalten, dass in der Erzählung diese binäre Struktur auch innerhalb einzelner Kapitel auftreten kann, und zwar oft in Form einer Innen-Außen-Topologie, die den Gegensatz zwischen innerem Sein und äußerem Schein widerspiegelt, so etwa – wie weiter unten ausgeführt wird – der Salon der Frau von Carayon vs. Sala Tarone, anlässlich des Besuchs im (nicht nur) idyllisch schönen Tempelhof der nahezu spirituelle Besuch der Kirche vs. der dem sozialen Voyeurismus ausgesetzte Spaziergang im Dorf, das oberflächliche, buntbewegte und letztlich bedrückende Großstadtleben in Berlin vs. Schachs introspektiver Rückzug ins Schloss Wuthenow am See, die unmittelbare Schönheit der Frau von Carayon vs. die durch Blattern verunstaltete Victoire, die ehemalige Schönheit von Victoire vs. ihr jetziger Zustand, das abstoßende Äußere vs. die innere Schönheit der Tochter Carayon etc. Der Metaphorik von ›Außen‹, die mit Oberflächlichkeit und/oder Vergänglichkeit korreliert, kontrastiert mit dem ›Innen‹, dem Raum der wahren, ewigen Schönheit, der heimatlichen Geborgenheit.14 Schach von Wuthenow, der Protagonist, wurde oben bereits in Umrissen charakterisiert. Es ist allerdings festzuhalten, dass seine Persönlichkeit nicht starr und unmittelbar festgeschrieben ist, sondern dass sich sein Weg durch die Erzählung durchaus auch als eine Entdeckungsreise in die menschliche Natur begreifen lässt, in der er die »Komplexität der Psyche ergründet, die voller Unvollkommenheiten und Widersprüche ist und deren äußere Hülle ein tie12 Vgl. Vaget, Schach in Wuthenow. »Psychographie« und »Spiegelung« im 14. Kapitel von Fontanes ›Schach von Wuthenow‹, S. 1. 13 So White, der hierdurch Vagets Theorie zu ergänzen scheint. Vgl. Michael James White, Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function, London 2012, S. 77, 80, 96. 14 Vgl. ebd., S. 75, 76–77, 79.



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feres, bedeutungsvolleres Selbst verbergen kann«.15 Immer wieder wird Schach im Kontext bzw. aus der Perspektive anderer Personen gezeigt, oder er stellt Reflexionen über die eigene Situation an. Zu Anfang der Erzählung verkehrt er »[i]m Salon der Frau v. Carayon«, so Schauplatz und Überschrift des ersten Kapitels. Obwohl er zunächst nicht persönlich in Erscheinung tritt, stellt er dennoch in Abwesenheit den Mittel- und Gravitationspunkt der Gesellschaft dar: »ein [Offizier des Regiments Gensdarmes,] Herr v. Alvensleben, […] hatte neben der schönen Frau vom Hause Platz genommen unter gleichzeitigem scherzhaftem Bedauern darüber, daß gerade der fehle, dem dieser Platz in Wahrheit gebühre«. (GBA I/6, S.  5) Bei der »schönen Frau vom Hause« handelt es sich um Josephine von Carayon, eine attraktive Witwe aus hugenottischer Familie. Das Gesicht ihrer Tochter, Victoire, allerdings ist infolge einer Blatternerkrankung von Narben gezeichnet (GBA I/6, S. 6); später wird ihr nachgerade eine »beauté du diable« zugeschrieben (GBA I/6, S. 66–69). Dieses andersartige Aussehen macht sie bereits im ersten Kapitel des Werkes zu einer Außenseiterin: Während alle anderen Mitglieder der Runde statisch in eine Sitzordnung eingebunden sind, wirkt Victoire im Salon eher wie ein unsteter Satellit, denn sie steht und geht, sie scheint sich erst hinter einem Teetisch zu verstecken, bevor sie sich, bei einem Gesprächsthema, das ihr am Herzen liegt, bezeichnenderweise dem Schicksal der »ritterliche[en] und unglücklich[en]« Polen (GBA I/6, S. 8), die ihrerseits Außenseiter sind, dann doch nähert. Im Salon der Frau von Carayon aber verläuft nicht nur eine Grenze zwischen Victoire und der Gesellschaft, sondern auch die durch die dort anwesenden Gesprächsteilnehmer vertretene Gesellschaft ist gespalten, wie sich an der antagonistischen Sitzordnung ablesen lässt. Thema der Causerien – Schach von Wuthenow ist inzwischen dazugestoßen (GBA I/6, S. 8) – ist zunächst die unter den Gästen heftig umstrittene preußische Politik gegenüber Napoleon, sozusagen dem Hannibal von 1806, dann die Frage, ob die alten Werte Preußens noch Substanz hätten oder nur noch Schein seien, und im Anschluss daran, und in enger Verbindung damit, geht es um eine ästhetische, theologische und gesellschaftliche Grenzverletzung, als die Aufführung des Schauspiels Martin Luther oder die Weihe der Kraft des romantischen Dramatikers Zacharias Werner diskutiert wird. Die Weihe der Kraft ist zugleich der Titel des zweiten Kapitels, womit zwischen den ersten beiden Kapiteln kein Ortswechsel (im Sinne von de Certeau keine Route) vorliegt. Die besagte Grenzverletzung besteht darin, dass Martin Luther seit dem Aufstieg Preußens unangefochtene Autorität für Staat und Gesellschaft war. Einer der Gesprächsteilnehmer erzählt von den Kirchenbesuchen seiner Kindheit: 15 Ebd., S. 83.

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Es sind meine frühesten Erinnerungen, daß ich in unserer Dorfkirche saß, und mein alter Vater neben mir, der alle Gesangbuchverse mitsang. Und links neben dem Alter, da hing unser Martin Luther in ganzer Figur, die Bibel im Arm, die Rechte darauf gelegt, ein lebensvolles Bild, und sah zu mir herüber. Ich darf sagen, daß dies ernste Mannesgesicht an manchem Sonntage besser und eindringlicher gepredigt hat als unser alter [Pastor] (GBA I/6, S. 8).

Dieses Lutherporträt dient der Selbstversicherung nicht nur einer einzelnen Kirchengemeinde, der Reformator fungiert auch als ein wichtiger Bezugspunkt der preußischen Gesellschaft insgesamt. Solange der Reformator würdig auf die jeweilige Gemeinde hinabblickt, ist das alte Preußentum noch unversehrt, mutiert er zur Bühnengestalt oder gar zur parodistischen Figur, ist es dagegen in ernster Gefahr. Dass Zacharias Werner es in seinem Stück unternimmt, ausführlich auch private Seiten Luthers wie seine Beziehung zu Katharina von Bora darzustellen, führte zu einem Theaterskandal, der als Indikator dafür dienen mag, wie die alte Glorie Preußens nur noch auf tönernen Füßen steht. Der geschmacklose Versuch einer Parodie des Stückes in Gestalt eines Maskenzuges (einer satirischen Schlittenfahrt mitten im Sommer), ausgerechnet durch die Angehörigen des Regiments Gensdarmes, zumindest auf dem Papier die militärische Elite Preußens, wird diese Grenzverletzung noch verschärfen (GBA I/6, S. 90–93). Nach dem Ende des kleinen Empfangs bei Frau von Carayon begeben sich die (ausschließlich männlichen) Gäste – mit Ausnahme Schachs – zu später Stunde noch in eine Lokalität, eine Route, die am Anfang des dritten Kapitels, Bei Sala Tarone, beschrieben wird. Diese Örtlichkeit wird klar als Heterotopie charakterisiert, insofern sich die darauf bezogene feuchtfröhliche Handlung (getrunken wird »Maibowle«) in einer »Hinterstube« mit »Kellerloch« abspielt. In diesem Kapitel reflektiert die Herrenrunde im Anschluss an die Causerien bei den Carayons neuerlich über die Zeitläufte und insbesondere über das Verhältnis des abwesenden Schach zu den Damen Carayon. Noch deutlicher manifestiert sich der heterotopische Charakter im anschließenden, sehr reichen vierten Kapitel, In Tempelhof, in dem es um eine Landpartie geht. Zunächst aber wird das Eckzimmer der Carayon’schen Wohnung näher beschrieben, in dem der Empfang am Vorabend stattgefunden hatte. Die detaillierte Beschreibung des Mobiliars und der unterschiedlichen Fensteröffnungen oder Türschwellen bietet sich einer raumtheoretischen Analyse geradezu an: Derartige »Übergänge zwischen den Räumen« lassen sich unter Bezugnahme auf Foucault als Heterotopien verstehen, zwischen denen »ein System von Öffnungen und Schließungen« existiert, »das sie gleichzei-



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tig isoliert und durchdringlich macht«.16 Unter den mit Bedeutsamkeit aufgeladenen Einrichtungsstücken fällt besonders ein Trumeau auf, in dem die Herrin des Hauses, Frau von Carayon, ihr Spiegelbild betrachten und sich so ihrer Schönheit versichern kann (GBA I/6, S. 28). Die Landpartie beginnt, als Schach die beiden Damen Carayon sowie eine Tante mit seinem Wagen abholt, die Route in die (vermeintlich) idyllische Gegenwelt, Tempelhof, wird ausführlich beschrieben (GBA I/6, S. 34–36). Bei Tempelhof handelt es sich um eine der »Mikrowelt[en]«, die in »[d]ie Makrowelt« »de[s] Roman[s] an sich und seine Primärwelt Berlin« eingeschachtelt sind.17 Eine ungetrübte, der städtischen Gesellschaft diametral entgegengesetzte Gegenwelt im Sinne eines rein privaten Locus amoenus auf dem Lande stellt diese jedoch nicht dar. Dass die Grenzen zwischen beiden Welten nicht ganz undurchlässig sind, zeigt sich bei Gelegenheit der Landpartie nach Tempelhof etwa daran, dass Schach auf freiem Feld an der Seite von Victoire spaziert, als man sich aber dem Dorf Tempelhof und damit den Menschen nähert, an die Seite von Frau von Carayon wechselt (GBA I/6, S. 34–36). Implizit wird so zum Ausdruck gebracht, wie sich der auf Äußerlichkeiten bedachte Schach des Äußeren Victoires in der Öffentlichkeit schämt (GBA I/6, S. 45). Desgleichen ist die Hauptattraktion beim Besuch der einsam gelegenen Kirche ausgerechnet das Grabmal eines vermeintlichen Tempelritters, zu dem Schach ausdrücklich in Bezug gesetzt wird: »Victoire lächelte: ›Wer Sie so hörte, lieber Schach, könnte meinen, einen nachgebornen Templer in Ihnen zu sehen. […]‹« (GBA I/6, S. 44). Dem Militärischen und dem damit verbundenen oberflächlichen Ehrbegriff, kurz gesagt, dem Einfluss der Gesellschaft, und letztlich sich selbst, kann Schach auch vor den Toren Berlins nicht entkommen. Im fünften Kapitel, Victoire v. Carayon an Lisette v. Perbandt, reflektiert Victoire in Form eines Briefes (ein Mikrotext im Makrotext) über das Geschehene, das sechste und siebte Kapitel, Bei Prinz Louis und Ein neuer Gast, bilden eine Einheit, geschildert wird ein Empfang bei Prinz Louis, auf seine Weise Außenseiter innerhalb der königlichen Familie und in gewissem Sinne Gegenstück und Katalysator für die Handlung. Die Örtlichkeit befindet sich in einer durchaus zwielichtigen Halbwelt,18 auf halbem Weg zwischen Stadt und 16 Michel Foucault, Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gente et al. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46, hier S. 44. Auch zitiert in Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 262. In ihrem Unterkapitel Grenzverletzungen analysiert Scheiding die Rolle von Fenstern, Schwellen und Spiegeln in den Werken Fontanes. Ebd., S. 262–292. 17 Vgl. ebd., S. 159. 18 »Es war heller Tag noch, aber in dem Speisesaal, in den sie von dem Vestibul aus eintraten, brannten bereits die Lichter und waren (übrigens bei offenstehenden Fenstern)

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Land in der Villa des Prinzen: »Eine Viertelmeile von der Hauptstadt, hat man schon die Hauptstadt nicht mehr und verlangt nach ihr.« (GBA I/6, S. 51). In diesem Zusammenhang ist Prinz Louis Ferdinand zwar einerseits Mitglied der preußischen Königsfamilie, andererseits aber auch Außenseiter, aufgrund seiner politischen Ansichten, vor allem aber aufgrund seiner Lebensweise. Die gesellschaftliche Grenzüberschreitung des Prinzen, in Gestalt der Mésalliance mit Pauline Wiesel, auf die er selbst anspielt (GBA I/6, S. 65, 69), sowie der durchaus freizügigen Gespräche im Rahmen der Herrenrunde auf seinem Empfang (»beauté du diable«), bereitet die folgende Episode zwischen Schach und Victoire vor. So ist denn das achte Kapitel, Schach und Victoire, von zentraler Bedeutung in der Erzählung. Hier trifft Schach die aufgrund eines leichten Fiebers unpässliche Tochter, Victoire, eines Abends allein zu Hause an. Durch den Hinweis auf diese Erkrankung wird die Carayon’sche Wohnung zu einem Heterotopos im Sinne Foucaults, der ja z. B. Spitäler als typische Heterotopien begreift. Das Haus der Carayons lässt sich insofern als eine doppelte Heterotopie bezeichnen, als es für Schach eine Heterotopie der Krise darstellt und für Victoire selbst eine Abweichungsheterotopie ist, ihr Asylort, der wie ein sie schützendes Krankenhaus funktioniert. Unter diesen Umständen kommt es zum Geschlechtsverkehr zwischen Schach und Victoire, auf die einschlägig Fontane’sche Weise lediglich angedeutet durch den Austausch des ›Du‹, post festum (GBA I/6, S. 79). Für einen Moment gibt es keine Grenze mehr zwischen Schach und Victoire, und auch zwischen Innen und Außen: »Was allein gilt, ist das ewig Eine, daß sich die Seele den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.« (GBA I/6, S. 78) Victoire wird, wie sich später herausstellt, bei dieser Gelegenheit schwanger. Insofern wird Schach in diesem Heterotopos (gesellschaftlich) eingesperrt.19 Analog zu seinem Verhalten während des Spaziergangs in Tempelhof steht Schach im Anschluss daran im öffentlichen Raum nicht zu dem, was in der privaten Heteropie möglich war. Folgerichtig trägt das neunte Kapitel die Überschrift Schach zieht sich zurück. Im zehnten Kapitel und im elften Kapitel, »Es muß etwas geschehen« und Die Schlittenfahrt, geht es um den Maskenzug, der vordergründig gegen die theologische, politische und ästhetische Grenzverletzung durch Die Weihe der Kraft von Zacharias Werner gerichtet ist, in seiner rabaukenhaften Durchdie Jalousien geschlossen. Zu diesem künstlich hergestellten Licht, in das sich von außen her ein Tagesschimmer mischte, stimmte das Feuer, in dem in der Mitte des Zimmers befindlichen Kamine.« (GBA I/6, S. 51–52). 19 Durch ein komplexes System von »Öffnungen« und »Schließungen […], das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht«, wird diese Heterotopie mit weiteren Heterotopien verbunden, wie die Kirche und die Kutsche in der er Selbstmord begeht [vgl. weiter unten] (Foucault, Andere Räume, S. 44).



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führung aber eine noch schlimmere Grenzverletzung darstellt als das Stück selbst. Die Indignation der empfindsamen Victoire über den Vorfall wirkt auf der Handlungsebene als Katalysator dafür, dass sie ihrer Mutter offenbart, was geschehen ist. Diese wiederum drängt im zwölften Kapitel, Schach bei Frau von Carayon, auf die Hochzeit, in die er widerstrebend einwilligt. Die Ereignisse des dreizehnten Kapitels, »Le choix du Schach«, so auch der Titel einer bösen Karikatur, machen Schach klar, dass er durch die Heirat seinen Ruf in der Gesellschaft, an dem ihm alles liegt, einbüßen würde, und treiben ihn im wichtigen vierzehnten Kapitel auf den Landsitz seiner Familie, wie Tempelhof eine deutlich markierte Heterotopie. Schachs nächtliches Eintreffen wird im Sinne einer Route beschrieben und vermittelt ein detailliertes Bild von Dorf und Gut (GBA I/6, S. 107). Es handelt sich um den Ort seiner Kindheit, umgeben von einem idyllischen Park, er trifft dort auf einfache, Dialekt sprechende Landleute. Dies beruhigt zunächst sein Gemüt, und der Kontrast zwischen der Realität des zwar dekorativen, letztlich ästhetisch aber relativ bescheidenen Schlosses und Schachs innerer Wahrnehmung des geliebten Heimatortes weist Ähnlichkeiten zu Schachs Beziehung zu Victoire auf.20 So werden, wie auch White zu Recht bemerkt, Inneres und Äußeres für einen Moment wie bei der Vereinigung mit Victoire wieder zum »ewig Eine[n]«,21 und Wuthenow, das »Schloß im Märchen« (GBA I/6, S. 107), erinnert an Schachs Charakterisierung von Victoire: »Alles ist Wunder und Märchen an Ihnen« (GBA I/6, S. 79). Anders als an den anderen Schauplätzen des Romans, wo es »heilige« und »profane« Orte, »geschützte« und »offene« Orte, »städtische« und »ländliche« Orte gibt,22 sind für Wuthenow keine Grenzen dieser Art zu konstatieren. Wuthenow (samt See, Garten, Rondell, Ahnengalerie etc.) bildet eine eigene Raum-Zeitordnung, ein System von Heterotopien und Heterochronien, in dem sich Schach wiederfinden kann. In diesen Räumen, die von einer »stummen Sakralisierung« leben,23 scheint die Zeit stillzustehen: Der Eingang in dieses Heterotopie-System, die Abwendung vom gesellschaftlichen Dasein, die Verlangsamung der Zeit, der Spaziergang in Kreisbewegungen im verwilderten Garten, das Sich-Treiben bzw. Sich-in-den-Schlaf-wiegen-Lassen bei der Bootsfahrt im Boot (Schoß der Mutter!) usw. erwecken Erinnerungen und ermöglichen Schach den Dialog mit der Vergangenheit.24 20 Vgl. White, Space in Theodor Fontane’s Works, S. 80–81. 21 »Was allein gilt, ist das ewig Eine, daß sich die Seele den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.« (GBA I/6, S. 107). 22 Foucault, Andere Räume, S. 34–35. 23 Ebd., S. 37. 24 Vgl. auch White, Space in Theodor Fontane’s Works, S.  83. Ein Ausweg bietet sich Schach aber auch hier nicht, es geht ihm vielmehr wie den »riesige[n] Motten und

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Letztlich aber konfrontiert ihn aber gerade der Blick auf die Vergangenheit, in Gestalt der Gemälde der Ahnengalerie, wieder mit seinem – im wahrsten Sinne des Wortes – angestammten Platz in der militarisierten Gesellschaft Preußens: »Alle [Vorfahren] waren in hohen Stellungen in der Armee gewesen, alle trugen sie den Schwarzen Adler und den Pour le Merite«. (GBA I/6, S. 119). Und alle, so ist hinzuzufügen, haben ein militärisch-gewaltsames Ende gefunden: »Schließlich fiel [sein Großvater], zerhauen und zerschossen, wie alle die, die mit ihm waren.« (GBA I/6, S. 119). Was den Männern der Familie ein Heldentod, das ist den Frauen die äußere, äußerliche, vielleicht auch, angesichts des sie umgebenden Blutvergießens, oberflächliche Schönheit: »Und dazwischen hingen die Frauen, einige schön, am schönsten aber seine Mutter [!].« (GBA I/6, S. 119). Das Gegenstück zum vierzehnten Kapitel ist das fünfzehnte Kapitel, Die Schachs und die Carayons, insofern es diesmal auf Seiten der Frau von Carayon der Selbstversicherung und der Reflexion über die einzuschlagende Handlungsweise dient. Ein interessantes Detail in Frau von Carayons Erinnerungen an ihre Familiengeschichte zeigt, dass Victoire, was schon im ersten Kapitel aufgrund der Verteilung der Personen im Raum des Salons sinnfällig geworden war, der Gesellschaft im Grunde nicht angehört: Sie ist eine von Fontanes Melusinenfiguren. Die Carayons sind über eine Vorfahrin, die gleichfalls den Namen Victoire trug und »sich dem großen Grafen von Lusignan vermählt« hatte, »mit einem Königshause versippt und verschwägert«, nämlich »mit den Lusignans, aus deren großem Hause die schöne Melusine kam« (GBA I/6, S. 125). Frau von Carayons neu gewonnene Tatkraft manifestiert sich im sechzehnten Kapitel, Frau von Carayon und der alte Köckritz, in dem sich Frau von Carayon der Hilfe eines alten und einflussreichen Bekannten bei Hofe bedient, woraufhin Schach im siebzehnten Kapitel, Schach in Charlottenburg, vom Königshaus höchstpersönlich zur baldigen Eheschließung gedrängt wird. Das achtzehnte Kapitel, Fata Morgana, lässt sich als eskapistische Utopie – thematisiert werden u.  a. mögliche Ziele für die Hochzeitsreise – und damit als Heterotopie bezeichnen. Im neunzehnten Kapitel, Die Hochzeit, wird geschildert, wie nach der Hochzeit ein Empfang mit einem äußerst begrenzten Teilnehmerkreis im Salon der Carayons stattfindet. Ebenso wenig wie im achten Kapitel, Schach und Victoire, überschreitet Schach hier die Schwelle zu den eigentlichen Privatgemächern der Carayons nicht. Als »Fremde[r] im fremden Raum« kommt er über die »Schleuse« der öffentlich zugänglichen Vorzimmer nicht hinaus.25 Danach erfolgt die – mehr oder Nachtschmetterlinge[n] [...], die in dem Saale hin und her flogen, an die Scheiben stießen und vergeblich das offne Fenster wieder zu finden suchten« (GBA I/6, S. 111). 25 Scheiding, Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 258, in Anlehnung an Foucault.



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weniger unerwartete – Wendung in dieser Erzählung: Schach erschießt sich unmittelbar danach in seiner Kutsche. Wie zuvor der Salon in der Wohnung der Carayons sind der Ort der Trauung, der Speisesaal der Carayons, in dem die kleine Feier stattfindet – sowie die Kutsche, in der er Selbstmord begeht – Räume gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklung für Schach, da sie durch das Befolgen bzw. durch den Bruch von Regeln markiert werden und gewissermaßen Riten gleichen. Durch die erste Heterotopie war Schach zum künftigen Vater geworden. Diese Heterotopie führt zu einer weiteren Heterotopie, dem Ritual der Eheschließung. Dadurch ändert sich sein Status erneut, und Schach wird zum Ehemann. Die Ehe mit Victoire empfindet Schach, der sich von der Last des Urteils der Gesellschaft letztlich nicht befreien kann, als Dystopie. Die Kutsche, in der Schach Selbstmord begeht, ist die letzte Heterotopie in dieser Kette, die zugleich symbolisch einen Notausgang aus dem existentiellen Engpass repräsentiert. Da »das entscheidende Moment« in dieser Heterotopie-Kette »die Transgression« ist, könnte man sie auch – im Sinne von Däumer, Gerok-Reiter und Kreuder – mit dem Konzept des Unorts vergleichen: Die Ehe mit Victoire als Heterotopie bildet eine »Unterkategorie des Unorts«, denn sie ist »kulturell kodiert« und erst durch das Wissen von der sozialen Kritik bzw. Missbilligung wird sie für Schach zu einem Gefängnis.26 Die letzten beiden Kapitel enthalten zwei interpretierende Reaktionen auf das Geschehene in Briefform, im zwanzigsten Kapitel schreibt Bülow an Sander, und im abschließenden einundzwanzigsten Kapitel Victoire von Schach an Lisette von Perbandt. Victoire hat also das letzte Wort in der Erzählung. Wie sie in einem Brief an eine Freundin, datiert auf den 18. August 1807, also nach der Epochenschwelle von Jena und Auerstedt, erzählt, hat sie sich nach dem Selbstmord Schachs in die Gegenwelt zum preußischen Protestantismus geflüchtet, ins katholische Rom, eine Welt der Wunder. Als ihr kleiner Sohn, ihr »Kleine[s]« – bei dem es sich, wie auch sprachlich zum Ausdruck kommt, 26 Vgl. Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter et al., Einleitung: Das Konzept des Unorts. In: Ders., dies. et al. (Hrsg.), Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung – kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 9–27, hier S.  13–14. Laut Däumer, Gerok-Reiter und Kreuder bilden solche Heterotopien eine »Unterkategorie des ›Unorts‹, die sich dadurch auszeichnet, dass sie erstens abhängig von den jeweiligen kulturellen Kodierungen des ›Orts‹ ist und zweitens erst durch einen Ebenenwechsel von der basalen zur kulturell- [in diesem Fall: sozial-] gewussten Wahrnehmung existent wird. Bezieht man mit ein, dass jene Wahrnehmungswechsel durch spezifische Handlungsmuster motiviert, ja provoziert werden können, lässt sich von hier aus eine Anbindung an die […] These de Certeaus finden: Handlungen konstituieren neue imaginäre Räume (die ideologisch durchaus funktionalisiert werden können), insofern sie einen Wahrnehmungswechsel initiieren«. Solche Handlungen bzw. Wahrnehmungswechsel generieren »Unorte« (ebd., S. 15).

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selbst um ein veritables Christkind handelt – »krank bis auf den Tod« ist, fleht Victoire den Bambino (also die Darstellung des Christusknaben) in der Kirche Santa Maria in Aracoeli um Rettung an, und ihr Kleines wird geheilt – ein »Wunder«: »Denn nicht nur alt ist Araceli, sondern auch trostreich und labevoll, und kühl und schön. Sein Schönstes aber ist sein Name, der ›Altar des Himmels‹ bedeutet. Und auf diesem Altar steigt tagtäglich das Opfer meines Dankes auf.« (GBA I/6, S.  159). Das halbdunkle Zwielicht der Kirche scheint eine besonders geeignete Atmosphäre zu bieten, um, zumindest für einen Augenblick, diese letzte Grenze zwischen Geschichtlichkeit und Mythos durchlässig zu machen. Und nicht nur am Ende dieser Erzählung kommt es zu einer derartigen Diaphanie.27 Schon beim Besuch der Tempelhofer Kirche hatte es einen Moment gegeben, als »der eben sinkende Sonnenball […], der hinter den nach Abend zu gelegenen Fenstern stand, […] die Wände mit einem rötlichen Schimmer [übergoß] und […], für Augenblicke wenigstens, die längst blind gewordene Vergoldung der alten Altarheiligen [erneuerte], die hier noch, aus der katholischen Zeit her, ihr Dasein fristeten. […]« (GBA I/6, S.  41). Bei Gelegenheit eines anderen Sonnenuntergangs, während des Abendempfangs bei Prinz Louis, manifestiert sich das Schöne in Gestalt vorüberfliegender Schwäne: Alle waren […] an die Brüstung des Balkons getreten, und sahen flußabwärts in den Abendhimmel hinein. Vor dem gelben Lichtstreifen standen schwarz und schweigend die hohen Pappeln […]. Einen jeden […] berührte diese Schönheit. Am schönsten aber war der Anblick zahlloser Schwäne, die, während man in den Abendhimmel sah, vom Charlottenburger Park her in langer Reihe herankamen (GBA I/6, S. 70f.).

An bestimmten Stellen der Erzählung bricht also das Poetische durch die Oberfläche der Realität, wenn auch nur momenthaft: Es »durchleuchtet und verklärt« sie, um diese Wendung hier abschließend nochmals zu verwenden (GBA I/6, S. 78). Dieser Grenze zwischen Realität und Poesie entspricht auch das entstellte Gesicht der jungen Carayon. Nur in jenem Moment fieberhaftdichterischer Heterotopie in ihrer Wohnung war Schach in der Lage gewesen (und dies sicherlich auch unter dem Einfluss der Gespräche bei Prinz Louis), sie zu überschreiten und eins zu werden mit der Melusinengestalt Victoire. Und was ist mit »Hannibal ante portas«, vor dem Bülow im zweiten Kapitel gewarnt hatte (GBA I/6, S. 16)? Der Kreis hat sich nunmehr geschlossen, 27 Diaphanie durchaus im Sinne von Hannelore Schlaffer, die in Bezug auf Wilhelm Meisters Wanderjahre schreibt: »Den diaphanen Charakter dieser Dichtung erzeugt das Durchscheinen mythologischer Hintergründe durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität.« (Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 3).



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und in einem das Geschehene reflektierenden Brief vom 14. September 1806 an seinen alten Bekannten Sander, dem vorletzten Kapitel, kommt Bülow darauf zurück. Hannibal ist gekommen, die Schlacht von Jena und Auerstedt steht kurz bevor, und danach wird in Preußen nichts mehr so sein wie früher. Und so führt Bülow das Schicksal Schachs gemeinsam mit dem eines ausgehöhlten Preußen, das sich in dieser Form überlebt hat, abschließend zusammen: Entsinnen Sie sich des Abends in Frau von Carayons Salon, wo bei dem Thema ›Hannibal ante portas‹ Ähnliches über meine Lippen kam? Schach tadelte mich damals als unpatriotisch. Unpatriotisch! Die Warner sind noch immer bei diesem Namen genannt worden. Und nun! Was ich damals als etwas blos Wahrscheinliches vor Augen hatte, jetzt ist es thatsächlich da. Der Krieg ist erklärt. Und was das bedeutet, steht in aller Deutlichkeit vor meiner Seele. Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehn, an der Schach zugrunde gegangen ist (GBA I/6, S. 155).

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Inszenierung sozialer Mobilität in »Frau Jenny Treibel« und »Mathilde Möhring« Markus Steinmayr

Einleitung ›Bildung‹ lässt sich als Versuch verstehen, gesellschaftliche Prozesse, wie etwa Karriere, soziale Mobilität und andere, mit individuellen Erfahrungen zu versöhnen.1 Die Stabilität der sozialen Ordnung, in der Bildungsprozesse stattfinden, wird aber gerade durch Bildung volatil, wie ein Blick in die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung deutlich macht. Jutta Allmendinger hat das Ergebnis von Bildungsprozessen als »statuserzeugend«2 beschrieben. Einer Metamorphose der Person durch Bildung folgt insofern eine soziale Anamorphose, d.  h. eine Veränderung des Status und der gesellschaftlichen Position. Die Literaturgeschichte versucht dieses stets prekäre Verhältnis zwischen individueller Metamorphose und sozialer Anamorphose durch den Bildungsroman zu verbinden. Das Gelingen dieser durch Bildung induzierten Persönlichkeitsveränderung ist Gegenstand des Bildungsromans.3 Bildungsgeschichten haben zunächst immer etwas mit Verweigerung von kultureller, familiärer und sozialer Reproduktion zu tun.4 Man kann diese Verweigerung von sozialer Reproduktion als Bezugsproblem von Bildungserzählungen definieren. Es existieren 1 Vgl. Rudolf Vierhaus, Bildung. In: Otto Brunner, Werner Conze et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A‒D. Stuttgart 1972, S. 508‒551, insbesondere S. 530–531; Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur von Bildung. In: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2000, S. 105‒158. 2 Jutta Allmendinger, Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50 (1999), S. 35‒50, hier S. 37. 3 Vgl. zum Bildungsroman: Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1994; Ortrud Gutjahr, Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007. 4 Vgl. Chantal Jacquet, Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Mit einem Nachwort von Carlos Spoerhase, übersetzt von Horst Brühmann, Konstanz 2018. https://doi.org/10.1515/9783110735710-008

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nun, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mehrere Möglichkeiten, das soziale Problem von Bildung zu adressieren. Eine Möglichkeit, dies zu erzählen, ist die Narration von Karrieren. Georg Stanitzek hat den Bildungsroman als Element der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts analysiert.5 Sein Argument ist, dass der Hiatus zwischen Perfektibilität und Perfektion, also zwischen einem tendenziell zukunftsoffenen Prozess und einem tendenziell zu erreichenden Ideal, letztlich dazu führt, Bildung als Selbstvervollkommnung zu denken. Der Bildungsroman blendet die Institutionen vollkommen aus.  Georg Stanitzek hat als sozialgeschichtliches Korrelat der Diskussion um den Perfektibilitätsbegriff, der ja letztlich als ein anthropologisch generalisiertes Potential zu begreifen ist, den Begriff der Karriere vorgeschlagen.6 Gattungslogisch resultiert daraus zunächst der Bildungsroman, der sich als »Experimentierfeld«7 für neu entwickelte Bildungskonzepte und deren Kritik erweist, sodann der Sozialroman und die, in den Worten Carlos Spoerhases, »Autosoziobiografie«.8 Der Gesellschafts- bzw. Sozialroman kann so zu einer »cultural form«9 werden, mit der der Kern moderner Gesellschaftlichkeit, nämlich der permanenten Transformation des Sozialen und des Individuellen, angeschrieben werden kann. Man kann diesen Sachverhalt auch als langen Abschied von Erzählschemata des Entwicklungs- und Bildungsromans beschreiben.10 Die andere Möglichkeit, soziale Probleme als Bezugsproblem von Bildungsthematisierung zu adressieren, besteht in der Konzeptualisierung von Bildungsfiguren, wie z. B. Autodidakten oder Dilettanten, die ihr Bildungsglück jenseits der etablierten bürgerlichen Bildungsinstitutionen suchen. Sie sind der Stachel im Fleisch der institutionalisierten Bildung.11 5 Georg Stanitzek, Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen ›Bildungsromans‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62/4 (1988), S. 416‒450. 6 Ebd., S. 437. 7 Ebd., S. 421. 8 Carlos Spoerhase, Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse. In: Merkur 71/818 (2017), S. 27‒37. 9 Franco Moretti, The Way of the world. The ›Bildungsromans‹ in European Culture, London/New York 2000, S. 229. 10 Vgl. auch zu Fontanes Abschied von diesen Schemata: Sabine Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848‒1900, Tübingen/Basel 2003, S. 242‒249. 11 Vgl. zu diesem Komplex: Kerstin Stüssel, Autodidakten übertreiben immer. Autodidaktische Wissen und Autodidaktenhabitus im Werk Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 119‒135.



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Das Auftreten von Bildungsthemen bzw. -figuren in der Literatur der Moderne weist zunächst darauf hin, dass ›Bildung‹ immer mehr als nur ein Erlebnis mit sich selbst ist. Sie stellt einen Topos dar, mit dem Probleme des Sozialen, des vergangenen wie des gegenwärtigen, erzählt werden können. Der vorliegende Beitrag wird im Folgenden untersuchen, auch auf sozial- bzw. kulturgeschichtliche Fragestellungen hindeutend, wie und in welcher Form der Realismus gesellschaftliche (und nicht mehr nur individuelle) Prozesse im Zusammenhang mit Bildung prägen kann. Denn nur so kann man die sogenannte Wirklichkeit der Gesellschaft in den Texten erzeugen.12 Der Bildungsdiskurs, also das gesellschaftliche Versprechen von Aufstieg durch Bildung und Karriere, ist für Fontane im Übergang zum Naturalismus ein sozialer Prozess, der als solcher die Möglichkeit der Beschreibung gesellschaftlicher Mechanismen erlaubt. Bildung wird deshalb nicht mehr nur Teil eines Bildungsromans, sondern eines Gesellschaftsromans. Bildung lässt sich im Rahmen sozialer Topographien allerdings nicht mehr als individuelle Entwicklungsgeschichte erzählen. An vielen Figuren der hier untersuchten Romane lässt sich zeigen, dass das gesellschaftliche Versprechen der sozialen Mobilität respektive des sozialen Aufstiegs nicht mehr gilt, ironisiert und problematisiert wird.

I. »Frau Jenny Treibel«: Ein Panorama von Karrieren Frau Jenny Treibel, heißt es bei Peter Wruck, sei »genaugenommen ein Buch der Lebenswege«.13 Eine Untersuchung dieses Textes sollte also die unterschiedlichen ›Lebenswege‹ der Figuren zur Kenntnis nehmen, die aber jeweils auf ihre eigene Art und Weise scheitern. Christian Grawe hat Frau Jenny Treibel als »Roman nicht des Entsagens, sondern des Scheiterns«14 bezeichnet. Im vorliegenden Aufsatz werden vorrangig die scheiternden bzw. gescheiterten Lebenswege derjenigen beschrieben, die die »repräsentative Aufsteigerklasse der industriellen Gesellschaft in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts«15 porträtieren: Zum einen der erfolgreiche soziale Aufstieg Jenny Treibels durch 12 Ähnlich schon: Hermann Lübbe, Fontane und die Gesellschaft. In: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Fontane, Darmstadt 1973, S. 354‒400. 13 Peter Wruck, ›Frau Jenny Treibel‹. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretation. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 185‒217, hier S. 195. 14 Christian Grawe, ›Frau Jenny Treibel‹ oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 614‒627, hier S. 621. 15 Ebd., S. 615.

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Heirat, sodann die gescheiterte politische Karriere des Kommerzienrates und schließlich das Netzwerk um Wilibald Schmidt. Der Roman beginnt mit dem berühmten Ausstieg Jennys aus der Kutsche. Diese Kutsche bringt sie an den Ort ihrer Herkunft: Die ein wenig asthmatische Dame fühlte zunächst das Bedürfnis sich auszuruhen und musterte bei der Gelegenheit den ihr übrigens von langer Zeit her bekannten Vorflur, der vier gelbgestrichene Wände mit etlichen Haken und Riegeln und dazwischen einen hölzernen Halbmond zum Bürsten und Ausklopfen der Röcke zeigte. Dazu wehte, der ganzen Atmosphäre auch hier den Charakter gebend, von einem nach hinten zu führenden Korridor her ein sonderbarer Küchengeruch heran, der, wenn nicht alles täuschte, nur auf Rührkartoffeln und Carbonade gedeutet werden konnte, beides mit Seifenwrasen untermischt. ›Also kleine Wäsche,‹ sagte die von dem allen wieder ganz eigentümlich berührte stattliche Dame still vor sich hin, während sie zugleich weit zurückliegender Tage gedachte, wo sie selbst hier, in eben dieser Adlerstraße, gewohnt und in dem gerade gegenüber gelegenen Materialwarenladen ihres Vaters mit im Geschäft geholfen und auf einem über zwei Kaffeesäcke gelegten Brett kleine und große Düten geklebt hatte, was ihr jedesmal mit ›zwei Pfennig fürs Hundert‹ gutgetan worden war. ›Eigentlich viel zuviel, Jenny,‹ pflegte dann der Alte zu sagen, ›aber du sollst mit Geld umgehen lernen.‹ Ach, waren das Zeiten gewesen!16

Schon ganz zu Beginn wird also eine Differenz zwischen Herkunft und Gegenwart erzeugt, die mit Erinnerung an die Herkunft nicht zu überbrücken ist. Schließlich lädt Jenny ihren ehemaligen Verlobten zu einer Abendveranstaltung ein. Sie präsentiert das Verhältnis zur eigenen biographischen Vergangenheit offensichtlich sentimental: »Ach, meine liebe Corinna«, sagt Jenny in diesem sehr signifikanten Dialog mit Corinna Schmidt, »glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht.« (JT, S. 12, Hervorhebung im Original). Corinnas Antwort ist als eine Charakteranalyse von Jenny lesbar. »Ja«, sagt Wilibald Schmidts Tochter, »von früher her. Aber das liegt nun zurück und ist vergessen und wohl gar verklärt. Eigentlich liegt es doch so: alles möchte reich sein und ich verdenke es keinem.« (JT, S. 12–13). Corinnas Vorwurf an Jenny liegt auf der Hand: Sie verklärt ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen. Die Erinnerung an ihre Jugend ist sentimental, die Vergangenheit erscheint als kitschiges Andachtsbild. ›Verklärung‹, ein Stichwort der realistischen Poetik, verkommt hier »zu einer Leerforme[l] der Konversation«.17 16 Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel. In: Ders., Nymphenburger Taschenbuchausgabe in 15 Bänden. Bd. 11, München 1969, S. 7–8. Im Folgenden zitiert als ›JT‹ und Seitenzahl. 17 Vgl. hierzu erstmals: Gerhard Plumpe, Roman. In: Ders. und Edward McInnes (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München 1996, S. 529‒690, hier S. 673; mit deutlichen Verweisen auf Plumpe siehe auch: Torsten W. Leine, ›Unsere Jenny hat doch Recht‹ – Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel‹. In: Moritz Baßler (Hrsg.), Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne, Berlin/Boston 2013, S. 48‒69, insbesondere S. 52–53.



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Jenny wird von Wilibald Schmidt als »Meisterstück einer Bourgeoise« (JT, S. 15) bezeichnet. Nimmt man den Ausdruck ›Meisterstück‹ genau oder wörtlich, so beschreibt Wilibald Schmidt damit die Person ›Meisterstück‹ Jenny als herausragendes Produkt jener Umstände und Kommunikationen, die im Text en détail beschrieben werden. Im Text wird mit Jenny eine Figur konturiert, an der man gesellschaftliche Prozesse ablesen kann. Das ist ein wesentlicher Teil des Fontane’schen Realismus. Denn dieser, so Clemens Pornschlegel, »besteht nun aber gerade darin, die Lebenswege der einzelnen Figuren seiner Romane als ein komplexes Wechselspiel aus individuellen Fähigkeiten oder Unfähigkeiten und historisch gewordenen, sozialen Zwängen darzustellen«.18 Genau das ›Wechselspiel‹ zwischen unterschiedlichen Kunst- und Bildungsauffassungen prägt den Roman. Die wechselnden Schauplätze ermöglichen ein Spiel mit Orten, Schichten, Milieus und Differenzen.19 Die Narration stiftet somit Verbindungslinien zwischen den Orten und lässt die Figuren mobil im oben angegebenen Sinne werden. Es entsteht, hier wende ich mich gegen Hermann Lübbes Auffassung, die er in seinem 1963 erstmals erschienenen Fontane und die Gesellschaft vertreten hat, sehr wohl eine »poetisch verkleidete Soziographie«.20 So ist das Besondere an der Köpenicker Straße, dass sie in Berlin-Mitte beginnt (also analog zur Biographie Jennys) und am Spreeufer endet, also dort wo am Anfang des zweiten Kapitels die »Treibelsche Villa« (JT, S. 16) steht. Straßen bzw. ihr Verlauf im historischen Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts setzen die einzelnen Elemente der erzählten Figurenbiographie zueinander in Beziehung. Die soziale Topographie, ich übernehme hier Hinrich C. Seebas Wort, ist somit eine, die sich einerseits verschiebt durch die Mobilität der Figuren.21 Andererseits passiert aber erstaunlicherweise nichts. Jenny bleibt kleinbürgerlich und parvenühaft, sie ist ja kein Individuum, das sich entwickelt, sondern ein Typus, der beschrieben wird. Setzt man die Orte mit Hilfe von Graphen zueinander in Beziehung, so entsteht ein vermessener, aber auch imaginierter Raum, der Raum eines episierten Erzählens. Das städtische Panorama, das entsteht, ist somit ein Effekt des Erzählens. 18 Clemens Pornschlegel, Fontane und der Gesellschaftsroman. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche, Autoren, Werke, Darmstadt 2007, S. 157‒173, hier S. 164, Hervorhebung im Original. 19 Vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S.  364. Zu den gesellschaftlichen Mechanismen, die Fontane anschreibt, gehört sicherlich auch die Distinktion bzw. die Unterscheidung; vgl. hierzu: Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: ängstliche Moderne, Konstanz 2014, S. 505– 506. 20 Lübbe, Fontane und die Gesellschaft, S. 355. 21 Vgl. Hinrich C. Seeba, Berliner Adressen. Soziale Topographie und urbaner Realismus bei Theodor Fontane, Paul Lindau, Max Kretzer und Georg Hermann, Berlin/Boston 2018.

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Dass die Figuren zwischen Orten städtischer, aber auch sozialer Art unterwegs sind, ist Ausdruck eines modernen Erzählens oder des Erzählens von Moderne, für das, selbstverständlich unter anderen, Hegel modellbildend ist. Denn Hegels Modell zeigt jene Differenz philosophisch, die Fontane für die Figur Jenny ironisch verarbeitet. Es ist die konstitutive Differenz zwischen den subjektiven und den objektiv gesellschaftlichen Zwecken, wie sie Hegel festgestellt und für den Roman erarbeitet hat: Sie [die Helden, MST] stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in die Hand legt […] und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetzte, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen.22

Die Pointe aber für Fontanes Erzählen ist, dass die ›Rechte des Herzens‹ nur noch als bildungsbürgerlicher Zierrat daherkommen, dem die andere Seite, nämlich die Reflexion der gesellschaftlichen Ordnung, abhandengekommen zu sein scheint.23 Wie Heinz Drügh gezeigt hat, ist Corinna als Figur deshalb so bemerkenswert, weil sie das Loblied auf den sozialen Aufstieg singt (und damit die neuen Möglichkeiten nutzt), aber ganz ohne, wie es Drügh formuliert, »gefühlsduselige Verbrämung«.24 Sie ist eine Figur, mit der, wie die jüngste Forschung gezeigt hat, Fontane sich vom realistischen Postulat der verklärten Wirklichkeit verabschiedet.25 Wenn Figuren wie Jenny aber ihr Herkommen, ihre Herkunft als Nostalgie verklären, und Jenny Bürstenbinder ihre neue soziale Rolle als ›Kommerzienrätin‹ Treibel nicht reflektiert, dann ist sie eine widersprüchliche Figur der Moderne, die genau durch diese Widersprüchlichkeit bzw. in ihrem Hang zur Nostalgie das Unmoderne an der Moderne verkörpert. Die Herkunft, die humanistische Bildung kommt bei Jenny nur als Nostalgie vor. Als Wanderin zwischen den Orten, als Milieuwechslerin ist sie unfähig, den Wandel ihrer sozialen Gestalt zu reflektieren. Anstatt die Entfremdung von ihrer Herkunft zu 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt am Main 1986, S. 219, Hervorhebung von mir. 23 Vgl. hierzu noch einmal Plumpe, Roman, S. 529‒538 und Leine, ›Unsere Jenny hat doch Recht‹, S. 64–65. Beiden entgeht aber, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Dialektik von Bildung bei Hegel, die aber für den Abschied vom Bildungsroman und seiner fundamentalen Differenz von Individuum und Gesellschaft zentral ist. 24 Heinz Drügh, Tiefenrealismus.  Zu Theodor Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹. In: Moritz Baßler (Hrsg.), Entsagung und Routines, S. 197‒225, hier S. 204. 25 Vgl. insbesondere Leine, ›Unsere Jenny hat doch Recht‹, S. 50–51.



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reflektieren, verklärt sie sie. Die Verkennung zeigt sich auch in ihrer Beziehung zu Wilibald Schmidt, dem sie, aus durchaus egoistischen Gründen, ein hohes Alteritätspotential zuerkennt.26 »Glaube mir«, sagt er zu Corinna, das »Klassische, was sie jetzt verspotten, das ist das, was die Seele frei macht, das Kleinliche nicht kennt und das Christliche vorahnt und vergeben und vergessen lehrt.« (JT, S. 182). Schmidt rückt das Klassische in das Allgemeine und damit in die gesellschaftliche Verfügung: »Da haben wir zum Beispiel den Spruch: Werde der, der du bist, ein Wort, das nur ein Grieche sprechen konnte. Freilich, dieser Werdeprozeß, der hier gefordert wird, muß sich verlohnen.« (JT, S. 182). Der ganze Kommentar ist eine, wie Dieter Kafitz gezeigt hat, Entlarvung der Figur durch den Erzähler: Wilibald Schmidt ist um keinen Deut besser als Jenny.27 Im Konzept der Selbstvervollkommnung, das im Zitat thematisiert wird, kommen zwei Aspekte zusammen: Durch das »Verlohnen« ist ›Bildung‹ nicht mehr rein als Selbstzweck erkennbar. Sie wird zu einem Leistungsprogramm, das genau diese Individualität zu steigern vermag, um gesellschaftlich funktional sein zu können.28 Schmidt ist also ein Moderner, der nicht weiß, dass er einer ist. Im Gegensatz zu Jenny hat er sich in einer Art ironischer Bürgerlichkeit eingerichtet, die es ihm, mit Hilfe von Distanzierung, ermöglicht, sich mit seinem durchaus langweiligen Leben als Gymnasiallehrer zu arrangieren: Der ironische Mensch lebt wie jeder andere auch; er will im Akt der ironischen Rede aber ein individualitätsinszenierendes Fragezeichen hinter die Welt, wie sie ist, setzen. Ironie ist daher der folgenlose Einspruch überschüssiger Individualität gegen den Trott des Alltags, den man mitmacht, aber zugleich belächelt. 29

Ein weiterer Aspekt aus dem Umfeld der ambivalenten Figur Schmidt darf hier nicht unerwähnt bleiben. Es ist der Kreis »Die Waisen von Griechenland«, jene ironische Verarbeitung der Literatur- und Kulturzirkel im Berlin der 1890er Jahre.30 Im Hinblick auf die Inszenierung moderner Karrieren, die an der Oberfläche das Leistungsprinzip in den Mittelpunkt stellen, ist der Schmidt’sche Kreis ein Gegenentwurf, weil er ein Gegenmodell sozialer Repro26 Dieses Wechselspiel entgeht Anja Kischel in ihrer Dissertation, Soziale Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen, Frankfurt am Main 2009. 27 Dieter Kafitz, Die Kritik am Bildungsbürgertum in ›Frau Jenny Treibel‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), S. 74‒101. 28 Vgl. Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, München 2018, S.  99‒127 und 127‒155. 29 Plumpe, Roman, S. 677. 30 Vgl. zur Rolle Fontanes einmal mehr: Roland Berbig, Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. In: Grawe und Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, S. 192‒281, insbesondere S. 272‒281.

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duktion einführt, das man Patronage nennen könnte.31 Eine typische Eigenschaft solcher Kreise scheint zu sein, dass sie, wie Regina Dieterle es formuliert, »Berufs- und Privatinteressen«32 auf das Vortrefflichste miteinander verbinden. Der Text schildert ein Netzwerk von Gymnasialprofessoren, die sich gegenseitig fördern und unterstützen. Karriere am Gymnasium zu machen, ist anscheinend ohne ein tragendes Netzwerk nicht möglich. Das Prinzip der »männerbündische[n] Protektion«33 lässt sich wohl am besten an Marcell Wedderkopp, der ja nicht Mitglied der »Waisen« ist, aber zu Schmidts Schwiegersohn wird, verdeutlichen. Die Signifikanz der Figur liegt darin begründet, dass seine Karriere, die ihn erstaunlicherweise vom Lehrer an einer Mädchenschule zum Oberlehrer am Gymnasium geführt hat, gerade nicht auf Leistung, sondern auf eine reine Ökonomie der Patronage zurückgeht: Gymnasial-Oberlehrer! Bis heute war er nur deutscher Literaturlehrer an einer höheren Mädchenschule gewesen und hatte manchmal grimmig in sich hineingelacht, wenn er über den Codex argenteus, bei welchem Worte die jungen Dinger immer kicherten, oder über den Heliand und Beowulf hatte sprechen müssen (JT, S. 177).

Erst von der gesicherten Beamtenexistenz ausgehend, die Marcell der Protektion Distelkamps und Schmidts verdankt, sind Träume und Abenteuer möglich; fällt man doch stets in die staatlich alimentierte Sicherheit zurück.34 Seine Karriere ist aber eigentlich prekär. Marcell sei, so Schmidt, »Archäologe« (JT, S. 176). In der Imagination Schmidts soll Marcell das Abenteuerhafte der außerinstitutionellen Archäologen leben, um dann in die Behaglichkeit des Ordinariats zu wechseln: »[…] Und dann geht er mit Urlaub und Stipendium nach Mykenä […]. Wenn er von da zurück ist, sag’ ich, so ist ihm eine Professur gewiß.« (JT, S. 176).

31 Vgl. hierzu mit Bezug auf das 18. Jahrhundert: Nacim Ghanbari, Netzwerktheorie und Aufklärungsforschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38/2 (2013), S. 315–335. Mit der Erfindung des individualitätszentrierten Leistungsdenkens, der auch im Begriff der Bildung steckt, entsteht gleichsam ein Gegennarrativ, das es ermöglicht, Karrieren über Patronage und Günstlingswirtschaft, d. h. in ihren sozialen Referenzsystemen, zu erzählen. 32 Regina Dieterle, Die sieben Waisen und die Mädchenbildung. Zur pädagogischen Diskussion in Theodor Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹. In: Fontane-Blätter 68 (1999), S. 130‒143, hier S. 137. 33 Ebd. 34 Stüssel, Autodidakten übertreiben immer, S. 126, macht darauf aufmerksam, dass man Wedderkopp als Verkörperung des verbreiterten Zugangs zur akademischen Bildung der 1890er Jahre sehen kann, der u. a. von der ausgebauten Mädchenschule, den expandierenden Realgymnasien und auch den humanistischen Gymnasien profitiert haben dürfte.



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Schmidt glaubt an die »Autorität der individuellen, institutionsabhängigen Leistung«35 im Medium der Archäologie, widerspricht sich aber, wenn er seine eigene Protektion und Netzwerktätigkeit nicht reflektiert. Patronage und Netzwerk sind Gegenmodelle des individuellen Leistungsprinzips.  Während das Netzwerk die Beziehung zwischen Menschen institutionalisiert, die wechselseitig etwas füreinander tun wollen oder sich, ohne großartige Kodifikation, dazu verpflichtet haben und Geselligkeit als Sozialform entdecken, isoliert das individualisierte Leistungsdenken Individuen voneinander. Das sich dadurch etablierende »instrumentelle Wechselverhältnis unter Fremden«36 ist das Prinzip des Sozialen. Ein bisher in der Forschung eher unterrepräsentierter Aspekt ist der Versuch des Kommerzienrats Treibel, eine politische Karriere einzuschlagen. Als Profiteur jener Zeiten, als »die Milliarden ins Land kamen« (JT, S. 16), liest er das Berliner Tagblatt (JT, S. 18), aber auch das Deutsche Tageblatt (ebd.), also vollkommen unterschiedliche Zeitungen, deren Lektüre er aber nicht zur Differenzierung seiner Meinungsbildung nutzt. Während das Berliner Tageblatt sich, mit heutigen Worten, als Boulevardzeitung bezeichnen ließe, dient das Deutsche Tageblatt der Propaganda der Bismarck’schen Politik. Treibel tritt also zunächst nicht als politisch Denkender oder Handelnder auf, sondern als konsumierender Zeitungsleser. Politik als Beruf, um hier den Titel von Max Webers einflussreichem Werk zu zitieren, kommt nicht vor. Die Gründe liegen auf der Hand. Für moderne Literatur gilt die Auffassung, dass, ausgehend von Hegels Ästhetik und Philosophie der modernen Gesellschaft, »die zentralen sozialen Funktionssysteme im Medium einer Literatur, die Individuen und individuelles Handeln gestalten will, undarstellbar werden«.37 Individuen, die sich zu ihrer Individualität entwickeln oder bekennen, sind als Funktionsträger nicht gefragt. Die Referenz auf Politik geschieht im Text weniger über Probleme oder Kommunikationen der Politik, sondern über das System der Massenmedien. Die Zeitung fungiert, wie Rudolf Helmstetter gezeigt hat, »als die allgemeingültige und wirklichkeitsgetreue Lektüre aller, sozusagen das transzendentale Medium«.38 Das soziale System, das hier auftaucht, ist das der Massenmedien, wie es Niklas Luhmann versteht: »Die Funktion der Massenmedien liegt nach all dem im 35 Ebd. 36 Verheyen, Die Erfindung der Leistung, S. 144. 37 Plumpe, Roman, S. 680. 38 Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1997, S. 255.

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Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems«.39 In diesem Sinne ist es damit nur konsequent, wenn Politik hier als massenmediale Kommunikation erscheint, die sich von vielen Inhalten verabschiedet hat. Wenn der Kommerzienrat mit seinem Berater bei einer Zigarre Inhaltliches besprechen will, so fällt auf, dass er keinerlei inhaltliche Aussage trifft (vgl. JT, S. 40–42). Es ist auch die Frage, ob Treibel an diesem Beruf Interesse zeigt, überträgt er doch zunächst die Rollencharakteristika, die ihn als Unternehmer auszeichnen und die ihn, gemäß der Auffassung der Majorin Ziegenhals, doch eigentlich ins Lager der Fortschrittlichen (vgl. JT, S.  32) brächten, auf die Sphäre der Politik: Aber das mit dem Fortschrittlertum und der Bürgerkrone – was ist da zu sagen, meine Gnädigste! Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und kommt aus der Regula-de-tri gar nicht mehr heraus, aus dem alten Ansatze: ›wenn das und das soviel bringt, wieviel bringt das und das.‹ Und sehen Sie, Freundin und Gönnerin, nach demselben Ansatz hab ich mir auch den Fortschritt und den Konservatismus berechnet und bin dahintergekommen, daß mir der Konservatismus, ich will nicht sagen mehr abwirft, das wäre vielleicht falsch, aber besser zu mir paßt, mir besser kleidet. Besonders seitdem ich Kommerzienrat bin, ein Titel von fragmentarischem Charakter, der doch natürlich seiner Vervollständigung entgegensieht (JT, S. 32).

Treibels politisches Kalkül ist die »Herstellung des Harmonischen« (ebd.), eine Verbrämung eines ästhetischen Ideals in der Politik. Dementsprechend karikiert wird dieser Anspruch in der Wahl des Symbols, jener »Kornblumen, dies Symbol königlich preußischer Gesinnung« (JT, S. 33), deren Symbolik er aber sofort auf, wie man wohl heute sagen würde, die Marketingkommunikation eines Unternehmens überträgt: »Was sind alle Kornblumen der Welt gegen eine Berlinerblaufabrik? Im Berlinerblau haben Sie das symbolisch Preußische sozusagen in höchster Potenz […]« (ebd.). Bekanntlich wählt Treibel als spin doctor, der die »Vorkampagne« (JT, S.  103), also die Vorbereitungen für den Wahlkampf durch entsprechende Beeinflussung der Massenmedien, hier der Zeitung, in die Wege leitet, den Leutnant a. D. Vogelsang.40 Der Berater Vogelsang, der die Karriere des Politikdilettanten Treibel vorantreiben und befördern soll, bringt sie ans Ende. Politik, auch dies macht die gescheiterte Politikerkarriere von Treibel zum Synonym von Modernität, ist Kommunikation, unter Anwesenden, aber auch im System der Massenmedien.

39 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 173. 40 Hierzu Jost Schneider, ›Plateau mit Pic‹. Fontanes Kritik der Royaldemokratie in ›Frau Jenny Treibel‹. Ideengeschichtliche Voraussetzungen zur Figur des Leutnants Vogelsang. In: Fontane-Blätter 53 (1992), S. 57‒73.



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II. »Mathilde Möhring«: Verweigerung von sozialer Reproduktion Ein reiches Panorama an Bildungsfiguren bietet Fontane mit seinem Roman Mathilde Möhring. Der 1906 postum in der Gartenlaube erschienene Text ist, wie die Forschung hinlänglich belegt hat, im Zusammenhang mit Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls als einer der Berliner Romane zu lesen, auch wenn er, als Fragment gebliebener Roman, eine Sonderstellung einnimmt.41 Die genannten Texte beschreiben nicht alle, aber doch spezifische Milieus. Diese Milieuselektion dient dazu, den Zusammenhang zwischen sich verändernden sozialen Bedingungen und Umständen und den Figuren aufzuzeigen.42 Milieubeschreibungen sind dazu besser geeignet als Klassenprosa. Moderne Sozialität ist heterogen, während die Vorstellung von ›Klasse‹ eine Homogenität suggeriert, die die moderne Gesellschaft gerade nicht liefern kann. Das »Maß der Einsicht in die gesellschaftlichen Zustände seiner [Fontanes, MST] Zeit«,43 das Norbert Schöll dem Fontane’schen Schreiben der 1890er Jahre attestiert hat, ist für die vorgelegten Überlegungen Anlass genug, genauer zu untersuchen, welche gesellschaftlichen Zustände Mathilde Möhring in den Blick nimmt und wie diese erzählt werden. Der auf den ersten Blick schematisch wirkende Roman hat im Mittelpunkt den unbedingten Aufstiegswillen einer Berliner Kleinbürgerin. Versteht man die Literatur des späten Fontane als Versuch, Veränderungen im Sozialen und im Individuellen bzw. Widerstand gegen diese Transformationsgesellschaft zu thematisieren, so stellt sich die Frage, welche Veränderungen im Sozialen Fontane mit seinem Figurenpanorama in den Blick nimmt bzw. in Szene setzt. Fontanes Text lässt sich als Darstellung von durchökonomisierten Verhältnissen lesen, ohne dass das Funktionssystem ›Wirtschaft‹ eigens thematisiert würde. Mathilde Möhring, so lautet daher die These der folgenden Ausführungen, lässt sich mit guten Gründen als bildungsökonomischer Text lesen, der 41 Siehe zur Editionsgeschichte und den Abgründen derselben: Eda Sagarra, ›Mathilde Möhring‹. In: Grawe und Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, S. 679‒690, hier S. 679–680. 42 Siehe beispielsweise Ulrike Haß, Theodor Fontane. Bürgerlicher Realismus am Beispiel seiner Berliner Gesellschaftsromane, Bonn 1979; Harald Tanzer, Theodor Fontanes Berliner Doppelroman: ›Die Poggenpuhls‹ und ›Mathilde Möhring‹: ein Erzählkunstwerk zwischen Tradition und Moderne, Paderborn 1997; Werner Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. Milieustudie oder Gesellschaftsroman? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), S. 126‒149. 43 Norbert Schöll, ›Mathilde Möhring‹. Ein anderer Fontane? In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst: Festschrift for Charlotte Jolles in Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 587‒597, hier S. 595.

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in Bezug auf den Komplex »Bildung« davon erzählt, was passiert, wenn dieser Komplex durchökonomisiert wird. Mathilde ist eine ›femina oeconomica‹. Sie lässt sich als realistische bzw. Fontane’sche Variante des homo oeconomicus lesen, als eine Frühform des ›unternehmerischen Selbst‹.44 Mathildes Blick auf ihre Umwelt und ihr Kalkül lassen sich als Figuration des Humankapitalkonzepts interpretieren, das sich in den 1890er Jahren etabliert, aber erst im 20. Jahrhundert ausformuliert wird. Zur Moderne gehört die Kritik an der Ökonomisierung von Bildung. Wenn eine Gesellschaft in ihrer Selbstbeschreibung Terme der Offenheit von sozialen Grenzen nutzt, dann muss sie Mechanismen anbieten, soziale Grenzen zu überwinden. Dieser Mechanismus des Klassenwechsels ist sehr lange ein elementarer Teil des Bildungsversprechens gewesen. Denn die Überwindung von gesellschaftlichen Grenzen durch Bildungsleistung liegt ja gerade nicht mehr nur im Interesse des Einzelnen, sondern erscheint als eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Konsequenz ist dementsprechend eine Expansion von Bildungsmöglichkeiten, die, als ökonomisches Kalkül, auf extrinsischen Bedarf seitens der Ökonomie setzt. Friedrich Nietzsche, einer der großen Bildungsexpansionskritiker am Ende des 19. Jahrhunderts, hat diesen Sachverhalt in seinen Basler Vorlesungen über die Zukunft der Bildungsanstalten folgendermaßen formuliert: Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definirt werden als die Einsicht, mit der man sich ›auf der Höhe seiner Zeit‹ hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht. Die eigentliche Bildungsaufgabe wäre demnach möglichst »courante« Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze »courant« nennt. Je mehr es solche couranten Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, Jeden so weit zu fördern als es in seiner Natur liegt, ›courant‹ zu werden, Jeden derartig auszubilden, daß er von seinem Maß von Erkenntniß und Wissen das größtmögliche Maß von Glück und Gewinn hat.45

44 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007. Bröcklings Analysen sind nur in Ansätzen an Fragen der historischen Soziologie interessiert. 45 Friedrich Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870‒1873. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 641‒763, hier S. 667.



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Denn der ökonomische, oder, wie es bei Nietzsche heißt, der ›nationalökonomische‹ Gehalt von Bildung liegt ja gerade in der Vorstellung, als gebildetes Subjekt gesellschaftlich funktional sein zu müssen. So unterscheidet der große Pädagoge und Bildungshistoriker Friedrich Paulsen am Ende des 19. Jahrhunderts zwischen »besitzenden und gebildeten Klassen« und den »arbeitenden und besitzlosen Klassen«.46 Allein der besitzenden Klasse wird Bildung zugesprochen. Die große Ausnahme bilden die Akademiker, die, obzwar ohne Besitz, dennoch gebildet sind.47 Aus »Bildung« wird exklusives Eigentum, das es nicht zulässt, dass »ein Bauer oder Schuhmacher«48 zu »den Gebildeten«49 zählt. Die gesellschaftliche Dimension der Bildung, die an Besitz gebunden ist, wird unterschieden von der individuellen Bildungsfähigkeit. Diese Fähigkeit impliziert die individuelle Aneignung kultureller und sozialer Mannigfaltigkeit im Medium der Individualität. Einerseits also wird Bildung als gesellschaftliche Ressource instrumentalisiert, andererseits erscheint sie, bezogen auf das Individuum, als individueller Aneignungsvorgang. Diese Vorleistungen sind es, die die sozialpolitische Programmierung des Bildungsbegriffs ermöglichen. In diesem Kontext lässt sich nun die Kompetenz Mathildes als Figur der Bildung neu bewerten. Die Forschung hat die ›Inszenierung des Rechnens‹ als Konflikt zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum beschrieben,50 ihre »Gefühlskälte«51 und den »stählerne[n] Wille[n]«,52 mit denen Mathilde durchs Leben geht, moniert und ihr daher fehlende »Herzensbildung«53 attestiert. Neben der Tatsache, dass diese Charakterisierungen der älteren Forschung eine genderpolitisch höchst bedenkliche Suprematie eines Frauenklischees offenbaren, lassen die bisherigen Untersuchungen die Frage vermissen, woher diese Kompetenz eigentlich kommt. An verschiedenen Stellen wird der Sinn des ökonomischen Kalküls,54 nämlich individuelle und soziale Zukunft zu planen, deutlich. Mit Hilfe des 46 Friedrich Paulsen, Bildung (1893). In: Ders., Gesammelte pädagogische Abhandlungen. Hrsg. und eingeleitet von Eduard Spranger, Stuttgart/Berlin 1912, S. 127‒150, hier S. 129f. 47 Ebd., S. 129. 48 Ebd., S. 137. 49 Ebd. 50 Vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 327f. 51 Stefan Greif, ›Neid macht glücklich‹. Fontanes ›Mathilde Möhring‹ als wilhelminische Satire. In: Der Deutschunterricht 50/45 (1998), S. 46‒57, hier S. 46. 52 Ebd. 53 Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 321. 54 Vgl. hierzu Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Berlin 2008.

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Kalküls plant Mathilde ihre Zukunft. Als Rybinski und Hugo wider Erwarten den Abend in einer Kneipe verbringen, ist dieser Sachverhalt etwas, das »ganz jenseits ihrer Berechnungen lag«.55 Soweit ich sehe, ist Rechnen im übertragenen Sinne die einzige Kompetenz, die sich Mathilde selbst zuschreibt: »Aber du sollst sehen, ich rechne richtig.« (MM, S. 36). Die mathematischen Kompetenzen verweisen nicht auf Mathildes Umgang mit Zahlen. Dieser kommt im Text nicht vor. Mit der wiederholten Erwähnung des Rechnens adressiert der Text das biographische Risikomanagement der Protagonistin. »Zu dem Plan«, heißt es im Text, den sie sich ausgedacht hatte, »gehörte durchaus Tugend« (MM, S. 24). Auch moralische Haltungen werden nicht als Ausdruck irgendwelcher Überzeugungen gezeichnet, sondern als jener Teil des Kalküls, der es ihr ermöglicht, ihre Pläne auf eine effektive und effiziente Art zu verfolgen. Sie tut die richtigen Dinge (die sogenannte Effektivität) und tut sie richtig (d. h. effizient), ist somit die perfekte Verkörperung einer ökonomischen Haltung zur Wirklichkeit. Mathildes Wille zum sozialen Aufstieg ist Ausdruck eines genuinen Eigeninteresses, dessen ökonomische Interpretation auf Adam Smith zurückgeht: Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.56

Die Orientierung am Eigeninteresse ist die Voraussetzung dafür, dass es allen oder zumindest der größeren Menge gut geht. Adam Smiths Theorie der Ökonomie ist, darauf hat Lisa Herzog in ihrer Kritik an der ökonomischen Zunft hingewiesen, nicht ohne seine Moralphilosophie zu denken. Nicht der Markt allein ist es, der das Eigeninteresse reguliert, sondern es sind auch Tugenden wie Empathie und Solidarität, die überhaupt erst das Eigeninteresse gesellschaftlich sinnvoll werden lassen.57 Im zweiten Buch von Der Wohlstand der Nationen geht es bei Adam Smith um die Frage nach der Akkumulation und dem Einsatz von Kapital, also um genau jene Frage, die Nietzsche mit seiner Kritik an der Ökonomisierung von Bildung gestellt hatte. An einer Stelle schreibt Smith: »Viertens gehören zum Anlagevermögen [über das eine Nation verfügen kann, MST] die Fähigkeiten, 55 Theodor Fontane, Mathilde Möhring. In: Ders., Nymphenburger Taschenbuchausgabe in 15 Bänden. Bd. 14, S. 33. Im Folgenden zitiert als ›MM‹ und Seitenzahl. 56 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1996, S. 17. 57 Vgl. Lisa Herzog, Wer sind wir, wenn wir arbeiten? Soziale Identität im Markt bei Smith und Hegel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59/6 (2011), S. 835‒852; dies., Die Erfindung des Marktes. Smith, Hegel und die Politische Philosophie, Darmstadt 2020.



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die sich alle Einwohner oder Mitglieder einer Gesellschaft erworben haben und mit Nutzen verwerten«.58 Was Smith hier beschreibt, ist die Theorie des Humankapitals, also die Betrachtung von menschlichen Fähigkeiten als Beitrag zum Volksvermögen. Er schreibt weiter: Ein solcher Erwerb ist stets mit echten Kosten verbunden […]. Eine größere Geschicklichkeit eines Arbeiters kann man im gleichen Lichte sehen wie eine Maschine oder ein Werkzeug, die die Arbeit erleichtern oder verkürzen.59

Fähigkeiten werden bei Smith also unter dem Aspekt ihrer Kapitalisierbarkeit betrachtet. Nur als solche sind sie für eine Volkswirtschaft interessant und dürfen nicht verschwendet werden. Mathilde verbindet auf eine bestimmte Weise diese beiden Diskursstränge einer ökonomischen Sicht auf die Fähigkeiten jedes Einzelnen, zum einen partizipiert sie durch ihren Willen zum Aufstieg an der Dynamik moderner Gesellschaften, die ihr die Möglichkeit gibt, die soziale Leiter zu erklimmen, zum anderen bringt sie die Fähigkeit mit, die diese überhaupt erst praktikabel werden lässt. Das macht ihren ökonomischen Realismus aus. Das Rechnen, das Kalkulieren, Einschätzen und Abwägen, wäre in diesem Sinne jene Kompetenzanforderung der modernen Gesellschaft, die es braucht, um in ihr zu reüssieren.60 Die Ökonomie der Bildung, die mit Alfred Marshalls Handbuch der Volkswirtschaftslehre (zuerst 1890, deutsche Übersetzung 1905) in Folge von Adam Smiths Überlegungen erstmals einen großen Forschungsgegenstand bildet, kann man als Interdiskurs beschreiben, den es für den Realismus noch zu entdecken gilt.61 Im Kontext seiner Überlegungen, wie das Humankapital einer Gesellschaft gesteuert und akkumuliert werden könne, bringt Marshall das Argument, dass es eine Aufgabe der staatlichen Bildungsinvestitionen sei, den drohenden Verlust an Humankapital in den ärmeren Schichten aufzuhalten. Instrument ist die Ausweitung des Bildungswesens, denn es droht eine Verschwendung des vorhandenen Humankapitals: 58 Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 232. 59 Ebd. 60 Vgl. die folgende Argumentation auch als Antwort auf die Frage Hugo Austs an die Forschung, ob »diese Pointierung im Dienst einer Poetik der Entlarvung, der Erklärung oder Didaxe steht; wird hier der Geist der Zeit bloßgestellt, oder zeigen sich soziale bzw. metaphysische Kräfte, oder geht es um Erfahrungen, die lernen lassen« (Hugo Aust, ›Mathilde Möhring‹. Die Kunst des Rechnens. In: Grawe [Hrsg.], Interpretation, S. 275–298, hier S. 278). 61 Vgl. Klaus Hüfner, Die Entwicklung des Humankapitalkonzepts. In: Ders. (Hrsg.), Bildungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum. Ausgewählte Beiträge zur Bildungsökonomie, Stuttgart 1970, S. 11‒63, hier S. 15–16.

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Aber der größte Teil derselben kann mangels günstiger Bedingungen nicht zur Verwertung kommen. Hierin liegt aber die größte Verschwendung zum Schaden des nationalen Reichtums, daß derartige Talente, vorausgesetzt, daß sie mit umfassenden Stipendien ausgestattet werden, welche es dem begabten Arbeiterkinde ermöglichen, allmählich immer höhere Schulen zu besuchen, bis es die beste theoretische und praktische Ausbildung, die ein Zeitalter bieten kann, erlangt hat.62

In der Verbesserung der Schulen, hier vor allem der Mittelschulen, sieht Marshall vor allem einen volkswirtschaftlichen Gewinn. So wird es möglich, dem egoistischen Interesse an Akkumulation der Bildungsressource zu folgen, aber in der Verfolgung dieses Interesses allen, das heißt der Volkswirtschaft, von Nutzen zu sein. Führt man diese Argumentation mit der Struktur des Fontane’schen Textes zusammen, so wird deutlich, dass der Besitz von Bildung, den Mathilde anstrebt, fehlendes Kapital ersetzen soll. Der Bildungsweg von Mathilde, der sie zunächst aus Berlin-Mitte nach Woldenstein führt, ist insofern typisch für Aufstiegsprozesse am Ende des 19. Jahrhunderts. Der soziale Aufstieg, heißt es bei Walter Rüegg, wird bewerkstelligt durch den Eintritt […] ins untere Beamtentum oder in das Lehramt, also in soziale Institutionen, die eine mit festen Verhaltensmustern, Rechten und Pflichten, Normen und Werten ausgestattete Sozialstruktur und somit inhaltlich klar umschriebene Rollen aufweisen.63

Zu »Thildes« besonderen Eigenschaften, heißt es gegen Ende in Mathilde Möhring, »gehörte von Jugend auf die Gabe des Sichanpassens, Sichhineinlebens in die jedesmalige Situation« (MM, S. 100). Genau diese Charakterbeschreibung von Mathilde, die ja eine gewisse soziale Geschmeidigkeit insinuiert, macht sie zu einer realistischen Bildungsfigur. In Woldenstein beispielsweise stellt sie ihre Netzwerkkompetenz unter Beweis, die etwas Erlerntes, aber auch Resultat eines Assimilationsprozesses an die ›jedesmalige Situation‹ ist. In einer dienstlich prekären Situation für Hugo organisiert Mathilde die Steuerung der öffentlichen Meinung, indem sie Artikel in der Zeitung lanciert. Der Dialog zwischen Hugo und Mathilde offenbart das erfolgreiche Ergebnis der Möhring’schen Kompetenzentwicklung: ›Also wirklich – du hast ihn geschrieben?‹ ›Nein, geschrieben nicht eigentlich.‹ ›Aber wer denn?‹ ›Ein Unbekannter, dem ich nun zu Danke verpflichtet bin. Als wir damals das Gespräch hatten, da sah ich jeden Tag, wenn die Vossische kam, in die Wahlangelegenheiten hinein, und es sind nun wohl schon acht Tage, da fand ich das alles in einer kleinen Korrespondenz aus Myslowitz.

62 Alfred Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart/Berlin 1905, S. 246, zitiert nach Hüfner, Die Entwicklung des Humankapitalkonzepts, S. 16. 63 Walter Rüegg, Bildung und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. In: Hans Steffen (Hrsg.), Bildung und Gesellschaft. Zum Bildungsbegriff von Humboldt bis zur Gegenwart, Göttingen 1970, S. 28‒41, hier S. 35–36.



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Und danach hab ich es zurechtgemacht. Wenn man erst das Gestell hat, ist es ganz leicht, eine Puppe zu machen.‹ (MM, S. 82f.).

Bildung ist somit immer auch eine Frage des Als-gebildet-Anerkanntwerdens. Man kann diese gesellschaftliche Dimension der Anerkennung als notwendiges Resultat eines erfolgreichen Bildungsprozesses beschreiben. In ähnlicher Weise tut dies der Landrat in Woldenstein, der in einem Dialog mit Hugo Mathilde geradezu attestiert, wozu ein Bildungsaufstieg führt, nämlich zur Unerkennbarkeit der Person, die ihre Herkunft aus dem kleinbürgerlichen Milieu nicht mehr sehen lässt: »Ihre Frau, Donnerwetter, da merkt man was! Muck, Rasse, Schick ... Sagen Sie, was ist das für eine Geborene? Vielleicht Kolonie oder Familie, die den Adel hat fallen lassen.« (MM, S. 86). Nachdem Hugo die Fragen einigermaßen beantwortet hat, legt Fontane dem Landrat die Attestierung des erfolgreichen Bildungsaufstiegs in den Mund: »Na, ganz egal, schloß der Landrat, ganz egal, wos herkommt, wenn’s nur da ist. Und muß ein Bombengedächtnis haben.« (ebd.) Gleich zu Beginn heißt es von Mathilde, dass diese »scharfe Augen und Menschenkenntnis« (MM, S. 8) besitze. Mathilde ist eine gute Beobachterin, der es gelingt, jeden Zufall in eine Situation zu verwandeln, die ihrem Eigeninteresse dient. Als Hugo Großmann sich als Mieter vorstellt, beschreibt sie ihn »ohne Muck« (MM, S. 13) und als »Schlappier« (ebd.). Diese Charakterisierung Hugos im Text lässt die Ambitioniertheit von Mathilde umso deutlicher hervortreten. In der überschaubaren Forschung, die sich mit der Figur Großmann beschäftigt, hat man der intratextuellen Funktion Hugos, die man zu Recht als Mathildes Aufstiegswillen entgegenstehend beschreiben kann, eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt.64 Hugo ist, hierin Marcell Wedderkopp nicht unähnlich, einer jener Typen, in denen Fontane das akademische Prekariat zur Darstellung bringt. In einem im 19.  Jahrhundert viel gelesenen Studentenroman, Felix Schnabels Universitätsjahre, heißt es dementsprechend von den Karrieremöglichkeiten: »[D] ie juristische Carriere war überfüllt, die Aspectanten mußten zu lange bis zu einer geringen Anstellung warten«.65 Ähnliches scheint Hugo im Sinne zu ha64 Vgl. Katharina von Ruckteschell, Gefangene der Freiheit. Studien zum Typus des Studenten in der Literatur des europäischen Realismus. Frankfurt am Main/Bern et al. 1990, S. 252‒261, und Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, S. 143, der insbesondere die Nähe der Figur zu Figuren der Dekadenz in den Mittelpunkt stellt; Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 327, mit bedenklicher Tendenz, wenn er schreibt, dass »mit den vorwiegend zu Untätigkeit neigenden Menschen von der Art Hugo Großmanns eine Gesellschaft auf die Dauer nicht existieren [kann].« (ebd.). 65 A. von S., Felix Schnabels Universitätsjahre oder Der deutsche Student. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1907, S. 19.

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ben, wenn er nach dem Examen überlegt, »wenn nicht Bahnvorstand, warum nicht Güterinspizient oder Telegraphist« (MM, S. 69) zu werden. Resigniert bemerkt Hugo, dass seine Träume, nämlich »[a]usübender Künstler oder Luftschiffer […]« (MM, S. 59) oder gar »Tierbändiger« (ebd.) zu werden, ohnehin schon vorbei seien. Der Text inszeniert mit Hugos Nähe zur Bohème einen Gegendiskurs. Der instrumentelle Blick auf das Studium, der Mathilde eigen wäre, ist nicht der Hugos.  Als Mathilde in die Privatsphäre ihres Untermieters eindringt, beschreibt sie ein studentisches Arbeitszimmer. An der Beschreibung des Interieurs wird deutlich, dass Hugo sich eigentlich gar nicht für das Studium interessiert: Und die Bücher alle sehr gut eingebunden, fast zu gut, und sehen auch alle so sonntäglich aus, als ob sie nicht viel gebraucht wären, nur sein Schiller steckt voller Lesezeichen und Eselsohren. Du glaubst gar nicht, was er da alles hineingelegt hat, Briefmarkenränder und Zwirnsfaden und abgerissene Kalenderblätter. Und dann hat er englische Bücher dastehn, das heißt übersetzte, die muß er noch mehr gelesen haben, da sind so viele Ausrufungszeichen und Kaffeeflecke, und an mancher Stelle steht ›famos‹ oder ›großartig‹ oder irgend so was (MM, S. 19).

Hugos Nähe zur Kultur der Leistungslosigkeit in der Bohème66 wird, neben seiner Freundschaft zum Schauspieler Rybiniski, durch seine Lektüren in Szene gesetzt: Was er las, waren Romane, besonders auch Stücke, von denen er jeden zweiten, dritten Tag mehrere nach Hause brachte; es waren die kleinen Reclam-Bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehen (MM, S. 26).

Hugo will eigentlich nur »bequem durchkomme[n]« (MM, S. 60). Ihm widerstrebt alles »Praktische« (MM, S. 59). Hugo als Figur der Bohème67 gerät in Fontanes Text in eine Konstellation doppelter Feindschaft: Einerseits ist er der Feind des Kleinbürgertums, da er sich dessen Aufstiegswillen verweigert, andererseits ist er der Feind der Bohème, da er sich von Mathilde in die Fänge der bürgerlichen Vernunft zurückführen lässt. Die Bohème ist ein sozialer Zusammenhang, ein Milieu, das als »gegenbürgerliche Subkultur des künstlerisch-intellektuellen Lebens«68 zu

66 Vgl. Georg Stanitzek, Die Bohème als Bildungsmilieu. Zur Struktur eines Soziotopos. In: Soziale Systeme 16/2 (2010), S. 404‒418. 67 Vgl. zu Wort- und Literaturgeschichte einmal mehr: Helmut Kreuzer, Die Bohème. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1968. 68 Ebd., S. 15.



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sehen ist. Die Bohème ist ein asoziologisches69 Phänomen und als »zentrifugales Element der Menschheit«70 bestimmbar. Mit »Bohème« wird eine Welt »geistiger und gesellschaftlicher Außenseiter«71 geschildert, die sich durch eine Vermischung von Klassen und Milieus auszeichnet und von Bab als »Volk von Künstlern, Literaten und Studenten«72 bezeichnet wird, also eigentlich ein ›Volk‹ darstellt, das es so gar nicht geben kann. Der Bohémien will ein »außerklassenhaftes und außerständisches Wesen«73 sein. Fontanes Mathilde Möhring wäre unvollständig beschrieben, wenn man nicht das Ende in den Blick nähme. Bekanntlich wird Mathilde am Ende der Geschichte Lehrerin: Das war kurz vor dem Examen, das Thilde glänzend bestand, viel glänzender als Hugo damals das seine. Noch an demselben Tage sagte man ihr, daß eine Stelle für sie frei sei; man freue sich, ihr dieselbe geben zu können. Am 1. Oktober trat sie ein, Berlin N, zwischen Moabit und Tegel. Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf (MM, S. 104).

Der Text hört auf zweifache Art und Weise da auf, wo er angefangen hat: beim nunmehr erfüllten Wunsch, Lehrerin zu werden, und bei der Differenz zu Hugo, dessen Examen, wie der Leser weiß, keineswegs glänzend war (vgl. MM, S. 65), trotz des »pädagogischen Verfahrens« (MM, S. 64), dem er sich wider Willen unterzieht. Der Text schließt sich mit diesem Ende auf eine gewisse Art und Weise: Das von Anfang an deutlich gewordene, hier als ›ökonomisch‹ bezeichnende Kalkül geht auf und Hugo ist nur eine biographische Episode gewesen: »Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie aber hängt mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue« (MM, S. 105). Für Mathilde wird es Zeit für andere Geschichten.

69 Vgl. Julius Bab, Die Berliner Bohème, Paderborn 1994, o. S. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 7. 72 Ebd. 73 Paul Honigstein, Die Bohème. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 3/1 (1924), S. 60‒71, hier S. 61.

II  Grenzüberschreitungen zwischen (Auto-)Biographie und Reisebeschreibung

Reisen in den Himmel und in die Welt hinein

Unterwegssein und Ankunft in Fontanes »Meine Kinderjahre« Domenico Mugnolo In memoriam Fabrizio Cambi

I Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem vorsichtigerweise meinem Buche den Nebentitel eines »autobiographischen Romanes« gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, dass ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!1

Die abschließenden Sätze des Vorworts zu Meine Kinderjahre, weit davon entfernt, eindeutig zu erläutern, aus welchem Grund das Buch den ungewöhnlichen Untertitel »autobiographischer Roman« trägt, weisen darauf hin, dass der Versteckspieler sich ein ungewöhnliches Spiel leistet: Diesmal bedeutet er augenzwinkernd dem Leser, dass er sich vor unerwarteten Aufgaben befindet. Dabei geht es nicht darum, »Wahrheit und Dichtung zu trennen«,2 sondern sich Rechenschaft darüber zu geben, warum der Autor dem Werk den genannten Untertitel gegeben hat. Dies impliziert, dass der Dichter den Interpreten nicht nur an seinen Erinnerungen teilhaben lässt, sondern einen »autobiographischen Roman« vorlegt und darüber hinaus den Anspruch formuliert, dass seine »Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte«3 gelesen werden soll. Die zitierten Sätze machen den Leser also darauf aufmerksam, dass das Werk eine referentiell-fiktionale Doppelnatur hat.4 Es ist nicht nur deshalb nicht ausschließlich referenziell, weil man sich Teile des Textes eher in einem Roman als in einer Autobiographie vorstellen würde,5 und auch nicht nur deshalb, 1 2

Alle Zitate aus Meine Kinderjahre nach AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1. Von dieser Aufgabe geht offensichtlich Anderson aus. Siehe Paul Irving Anderson, Der versteckte Fontane und wie man ihn findet, Stuttgart 2006, S. 69. 3 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 3. 4 Diese Bezeichnung stammt von Peter Wruck. Siehe Peter Wruck, Die »wunden Punkte« in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung. In: Fontane Blätter 65–66 (1988), S. 61–71, hier S. 67. 5 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783110735710-009

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weil Fontane mit der Wirklichkeit absichtlich mehr oder weniger frei umgegangen ist; fiktional ist der autobiographische Roman m. E. vor allem, weil er mittels Elementen, die sonst fiktionale Texte charakterisieren, die erinnerten Erlebnisse keineswegs nur wiedergibt,6 sondern deutet. Die Fragestellung, die sich daraus ergibt, lautet daher: In welchem Sinn ist diese Kindheitsgeschichte gleichzeitig eine Lebensgeschichte? Wenn nun der Autor durch den Untertitel ausdrücklich verlangt, Meine Kinderjahre als Roman zu betrachten, ist es dann tatsächlich legitim, ihn auf Schritt und Tritt bei reellen oder vermeintlichen Abweichungen von der überlieferten Wirklichkeit ertappen zu wollen? Mir will es etwas fragwürdig scheinen, das Wissen, das man aus Briefen, früheren oder späteren Werken Fontanes und sonstigen Zeugnissen gewinnt, in die Welt des autobiographischen Romans hineinzuprojizieren. Das Werk ist eher ein Bild, das der Autor von seiner Kindheit (und somit von seinem Leben) dem Leser hat bieten wollen. Der Interpret hat davon auszugehen. Dieses Bild gegebenenfalls zu berichtigen, ist dem Biographen vorbehalten. Meine Lektüre geht hingegen von einem Element aus, das mir konstitutiv für Meine Kinderjahre zu sein scheint: das Motiv Unterwegssein/Ankunft.

II Die Rückkehr des zwölfjährigen Protagonisten in seine Geburtsstadt, Neuruppin, nachdem er mit seiner Familie fast fünf Jahre zuvor in eine kleine Hafenund Badestadt an der Ostsee, Swinemünde, hatte umziehen müssen, steht am Ende des autobiographischen Romans Meine Kinderjahre (und somit auch der Kindheit des Protagonisten). Abschied vom Elternhaus und Reise nach Neuruppin, die eigentlich den Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt kennzeichnen, nehmen ein unvorstellbares Ausmaß an: Sie werden zu einer Reise »in die Welt hinein«. 7 Geführt wird der Protagonist auf der Reise von seiner Mutter, Emilie, geborene Labry, wobei der Protagonist und Ich-Erzähler es für angebracht hält, zu unterstreichen: »Eigentlich wäre nun wohl die Reise nicht Sache meiner Mutter, sondern Sache meines Vaters gewesen«.8 Bei ihrer Ankunft nehmen Mutter und Sohn in einem Haus, das der Löwen-Apotheke gegenüberliegt, 6 »Die »Kinderjahre« […] erinnern einen authentischen Erlebnisraum, der eine Rückblicksutopie bewahrt.« Claudia Liebrand, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg i. Br. 1990, S. 23. 7 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 186. 8 Ebd.



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Quartier. Erinnerungen und Bedauern müssen in der Frau wach werden, denn da »traten ihr Tränen ins Auge«,9 denn auf der gegenüberliegenden Seite der Straße steht nicht bloß die Apotheke, die sie und ihr Mann gemeinsam erworben hatten und die er vor Jahren buchstäblich verspielt hatte; es war acht Jahre lang auch ihr Zuhause gewesen, in dem ihr Erstgeborener, Theodor, und drei weitere Kinder zur Welt gekommen waren. Scheinbar beiläufig teilt nun der Erzähler an dieser Stelle mit, dass sie ungern Neuruppin verlassen hatte, und verrät darüber hinaus, indem er, wie nicht selten, die zeitliche Grenze seiner Kindheit fast um ein paar Jahrzehnte überschreitet: »und ist als eine Frau von über fünfzig, äußerlich getrennt von ihrem Manne, dahin zurückgekehrt, um dort, wo sie jung und eine kurze Zeit lang auch glücklich gewesen war, zu sterben«.10 Mit abermaliger Überschreitung der genannten zeitlichen Grenze war auch schon (ausführlicher) des Lebensabends seines Vaters gedacht worden. Die Schilderung eines Besuchs bei dem alten Mann, der ein »bescheidenes Häuschen« im Oderland »mit einer Haushälterin von mittleren Jahren« teilt,11 nimmt ein ganzes Kapitel ein, wobei der Erzähler es in diesem Fall für nötig hält, seinen Vorausblick zu rechtfertigen: Es geht ihm nämlich darum, »das Charakterbild [s]eines Vaters nach Möglichkeit zu vervollständigen, will sagen nach oben hin abzurunden. Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.«12 Eine nähere Darstellung der veränderten Lebensführung des alten Vaters leitet den Bericht über den Besuch ein: In seinen alten Tagen aber – und um eben deshalb greif ich hier, in einem Exkurse, so weit vor – waren des Lebens Irrtümer von ihm abgefallen, und je bescheidener sich im Laufe der Jahre seine Verhältnisse gestaltet hatten, desto gütiger und persönlich anspruchsloser war er geworden, immer bereit, aus seiner eigenen bedrückten Lage heraus, noch nach Möglichkeit zu helfen. In Klagen sich zu ergehen, fiel ihm nicht ein, noch weniger in Anklagen (höchstens mal gegen sich selbst), und dem Leben abgewandt, seinen Tod ruhig erwartend, verbrachte er seine letzten Tage comme philosophe.13

In den verständnis- und liebevollen Worten, mit denen Fontane seiner Eltern gedenkt, kommt m. E. keine angestrengte Harmonisierung der Erinnerungen zum Ausdruck, sondern vielmehr, wohl auch dank der Arbeit an der Autobiographie, eine mit beiden Eltern erfolgte Versöhnung – als Ergebnis einer späten, reiferen Betrachtung der Dinge, da der Dichter selbst sich nicht verhehlen konnte, nicht mehr viele Lebensjahre vor sich zu haben, und seine Lebensbi9 Ebd., S. 187. 10 Ebd. 11 Ebd., S.160. 12 Ebd., S 159. 13 Ebd.

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lanz zieht. Man darf nicht vergessen, dass Meine Kinderjahre das Werk eines Menschen ist, der, trotz der den zu Recht hohen Erwartungen nicht ganz entsprechenden Aufnahme seiner Werke beim Publikum, auf die eigene Laufbahn als Schriftsteller mit Genugtuung zurückblicken durfte. Jahrzehnte früher hatte er die Tatsache, dass er selbst nicht studiert hatte bzw. keine eigene Apotheke erwerben konnte, auf die unverantwortliche Lebensführung seines Vaters zurückgeführt.14 1892 ist nicht nur die Absicht, selbst Inhaber einer Apotheke zu werden, schon längst verworfen, der Beruf des Apothekers selbst wird, seitdem sich Fontane als Schriftsteller bezeichnet, geradezu als Makel empfunden.15 Freilich »schmerzen […] bis diesen Tag«16 noch gewisse Folgen des Verhaltens der Mutter, jedoch werden auch sie milder als früher beurteilt, zumal er sie nun besser verstehen kann, seitdem er sich selbst als nervenkrank betrachten muss. Ja, er gibt ausdrücklich zu (eine weitere Überschreitung der zeitlichen Grenze): »später indes habe ich einsehen gelernt, wie richtig alles war, was sie tat, vor allem auch, was sie nicht tat, und beklage jetzt jeden gegen sie gehegten Zweifel.«17 Das ist kein bloß formelles Eingeständnis, es ist vielmehr Ergebnis einer tieferen Einsicht ins mütterliche Erbe. Ähnliches geschieht mit dem Vater: Obwohl der Protagonist davon überzeugt ist, dass dessen Weigerung, ihm Chinin zu verabreichen, an seinem »immer zum Malariafieber hinneigenden Gesundheitszustande« schuld ist, gesteht er, dass er davon schweigen würde, wenn er nicht zu seiner »herzlichen Freude hinzuzusetzen hätte«, dass der Vater doch später, »als es ihm selber schlecht ging und sein Vermögen bis auf ein Minimum zusammengeschrumpft war […] in hochherziger und rührender Weise« ihm »unter Dransetzung letzter Mittel« half.18

14 Im Brief an Bernhard von Lepel vom 05.10.1949 wirft Fontane seinem Vater »Egoismus« vor und klagt darüber, dass er nicht studieren konnte: »Man ließ mich Apotheker werden, weil man das Geld verprassen wollte, was zur Ausbildung der Kinder hätte verwendet werden können«. HFA IV/I, S. 86. 15 Siehe dazu Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, besonders das Kapitel »Bankrotte und Erbschaften«, S. 58– 74. 16 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 141. 17 Ebd., S. 11. 18 Ebd., S. 36–37. Dazu ist noch Folgendes zu bemerken: Die Richtigstellung der Überzeugung Fontanes, Chinin sei wirkungsvoller als Chinarinde, durch Gravenkamp, ist auch eine Ehrenrettung des Louis Henri Fontane. Horst Gravenkamp, »Um zu sterben muss sich Hr. F. erst eine andere Krankheit anschaffen«. Theodor Fontane als Patient, Göttingen 2004, S. 92–93.



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Dass selbst die fragwürdigsten Aspekte des Charakters und des Verhaltens beider Eltern nicht verschwiegen, sondern zwar ohne Groll, aber ausführlich geschildert werden können, ermöglicht eben die erfolgte Versöhnung.

III Zeigt der Vorausblick, dass Emilie nach der Trennung von ihrem Mann ihren Lebensabend da verbringt und so gestaltet, wo und wie sie das Leben selbst eigentlich von vornherein hätte verbringen und gestalten wollen, so steht es mit Louis Henri Fontane ganz anders. In seinem Fall ist es in gewisser Hinsicht notwendig, das Charakterbild zu vervollständigen, denn das im zeitlichen Horizont des Textes entworfene Bild erfasst nicht den ganzen Menschen: In seinen jüngeren Tagen hatte er keineswegs »comme philosophe«, sesshaft, ruhig und genügsam gelebt: denn er hatte, während ihm die Spielpassion eigentlich nur durch den Wunsch, die Zeit hinzubringen, aufgedrungen war, eine ganz aufrichtige Passion für Pferd und Wagen und sein Lebe­ lang in der Welt umherzukutschieren, immer auf der Suche nach einer Apotheke, ohne diese je finden zu können, wäre wohl eigentlich sein Ideal gewesen.19

Ob der Standpunkt vertretbar ist, dass man eigentlich so ist, wie man im Alter wird, wollen wir offenlassen: Sicherlich darf das im sechzehnten Kapitel entworfene Bild des alten Vaters auch (aber nicht nur) als dessen Ehrenrettung betrachtet werden. Unter den vielen Zügen, die Emilie und Louis Henri, die Eltern des Dichters, voneinander unterscheiden, ist das auf eine Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit hinweisende Bedürfnis nach Stabilität der Mutter (übrigens ein bei depressiven Menschen häufig vorkommender Zug) einer der auffallendsten; die Unruhe des Vaters, die in dem Wunsch, »sein Lebelang in der Welt herumzukutschieren«, zum Ausdruck kommt, weist dagegen wenn nicht auf Eskapismus, so doch auf (jugendliche?) Unzufriedenheit mit den Verhältnissen hin, unter denen man lebt. Solche Unruhe nimmt bei Louis Henri Fontane pathologische Züge an, da er offenbar kein erkennbares Ziel anstrebt. Von den pathologischen Aspekten ihrer Persönlichkeit einmal abgesehen, führt Fontane die Grundverschiedenheit seiner Eltern auf ihre Herkunft zurück: Zwar waren beide Nachfahren jener Ende des 17. Jahrhunderts aus Frankreich geflohenen Hugenotten, die in der Mark Brandenburg ein neues Zuhause fanden, und verkörperten einen »unverfälschten Kolonistenstolz«;20 19 Ebd., S. 24. 20 Ebd., S. 14.

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andererseits waren sie Sprossen zweier »Volksstämme«, deren »Verschiedenheit […] völlig unbeeinflußt durch die inzwischen erfolgte Verpflanzung ins Brandenburgische, sich auch noch in meinen Eltern zeigte«21 – selbst in ihrem Aussehen: [M]ein Vater war ein großer stattlicher Gascogner voll Bonhomie, dabei Phantast und Humorist, Plauderer und Geschichtenerzähler, und als solcher, wenn ihm am wohlsten war, kleinen Gasconnaden nicht abhold; meine Mutter andrerseits war ein Kind der südlichen Cevennen, eine schlanke, zierliche Frau von schwarzem Haar, mit Augen wie Kohlen, energisch, selbstsuchtlos und ganz Charakter, aber […] von so großer Leidenschaftlichkeit, daß mein Vater halb ernst-, halb scherzhaft von ihr zu sagen liebte: »Wäre sie im Lande geblieben, so tobten die Cevennenkriege noch«.22

IV Der idyllische Textanfang lässt den Leser von den unvereinbaren charakterlichen Gegensätzen der Eheleute weder etwas spüren noch ahnen: An einem der letzten Märztage des Jahres 1829 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichen Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr – man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh – war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahre alt. Es waren meine Eltern.23

Zu diesem Anfang ist zu Recht angemerkt worden, dass er eher in einem Roman als in einer Autobiographie seinen Platz haben könnte,24 nicht zuletzt – wie ich meinerseits hinzufügen möchte – weil Fontane die Szene gänzlich erfunden hat: Selbstverständlich ist er nicht Augenzeuge des Geschehens gewesen, denn zum Zeitpunkt der Ankunft seiner Eltern in Neuruppin war er noch gar nicht geboren. Man würde aber fehlgehen, wenn man diesen Anfang als ein beliebiges und daher überflüssiges Textornament betrachten würde, 21 Ebd., S. 13. 22 Ebd. Martin Stern geht so weit, den Standpunkt zu vertreten, dass es sich im autobiographischen Roman »um eine Versöhnung mit der Mutter, aber auch um eine ›Entschuldigung beider Eltern‹ handelt; Fontane habe »mit seiner Kindheits- und anschließenden Jugendautobiographik« grundsätzlich »Versöhnungsarbeit geleistet«; dadurch, dass er den »unüberbrückbaren und konfliktreichen Gegensatz zwischen den Eltern […] quasi naturwissenschaftlich mit der Unvereinbarkeit zweier Stammeseigentümlichkeiten« erklärte, seien sie auch »freigesprochen und entschuldigt«. Siehe Martin Stern, Autobiographik als Akt der Selbstheilung bei Theodor Fontane. In: Heinrich Detering und Ulf-Michael Schneider (Hrsg.), Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1996, S. 119–133, hier S. 128, 133. 23 Ebd., S. 4. 24 Siehe Wruck, Die »wunden Punkte«, S. 67.



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womöglich als ein Nachgeben gegenüber der Versuchung, sich auch hier als Romancier zu bewähren; vielmehr erfüllt er eine Doppelfunktion. Zunächst stellt er das Pendant zur Ankunft von Mutter und Sohn in Neuruppin im letzten Kapitel dar. Die Geschichte endet da, wo sie angefangen hat, womit Swinemünde, der Hauptschauplatz der Kinderjahre, zu einem, freilich sehr wichtigen, Interludium im Leben (nicht in der Kindheit) des Protagonisten wird. Dargestellt werden mit dieser Ankunft außerdem in einem Zug der Erwerb einer Apotheke und die Gründung einer Familie: Beides entspricht anscheinend den bürgerlichen Vorstellungen von Eintracht und Wohlhabenheit – ein von den Lesern leicht nachvollziehbarer Wunschtraum. Das erklärt auch den heiteren, gemessenen, ja fast feierlichen Charakter der geschilderten Ankunft des jungen Ehepaars in Neuruppin. Desto beunruhigender sind dann die sich gleich am Anfang des zweiten Kapitels abzeichnenden unlösbaren Kontraste innerhalb der Familie. Die in der Ankunftsszene in Neuruppin dargestellte Erfüllung des Wunschtraums des Fontane’schen Ehepaars erweist sich also als kurzlebig, illusorisch. Wenige Jahre später muss die Apotheke verkauft werden, um Spielschulden von Louis Henri zu begleichen. Miteinander verbunden werden also Apothekenverkauf (mit den Ursachen, die dazu führen: Spielsucht und Unfähigkeit des Mannes, ein Geschäft zu führen) und Krise der Familie (die Frau wird nervenkrank – was nach damaligen medizinischen Kenntnissen wohl dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zugeschrieben werden konnte). Das nun nicht mehr so junge Ehepaar muss von Neuruppin weiterziehen. Das Motiv des Unterwegsseins und der Ankunft, das einigermaßen auch den unterschiedlichen Persönlichkeiten von Louis Henri und Emilie entspricht, prägt unübersehbar den Anfang sowie auch das Ende des autobiographischen Romans Meine Kinderjahre. Vergegenwärtigt man sich den zweifachen Vorausblick auf das spätere Leben der Eltern, zeigen sich Wünsche und Lebensziele der Mutter im Gegensatz zu ihrer vielfach festgestellten psychischen Labilität25 stabil, während Anschauungen und Verhalten des Vaters einen grundlegenden Wandel erfahren, was als Beweggrund für die notwendige ›Vervollständigung‹ seines Bildnisses im sechzehnten Kapitel gilt. Und wie steht es mit dem Protagonisten der Autobiographie selbst, mit dem Kind? Mit der Überzeugung, in der Kindheit (eigentlich im ersten Le25 Am überzeugendsten von Michael Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus. ›Meine Kinderjahre‹ oder die schwere Geburt des Genies. In: Fontane Blätter 65–66 (1998), S. 87– 124.

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bensjahr) »stecke der ganze Mensch«? So dass »vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten« könne?26 Steht es damit wirklich so? Und wie ist dieser Satz zu verstehen?

V Auf das Jahr 1884 gehen Notizen Fontanes zurück, die im Laufe einer Reise nach Vorpommern und Rügen entstanden und den Titel Sommers am Meer tragen; in deren letztem Teil Swinemünde. Knaben-Erinnerungen27 ist die Absicht zu erkennen, die Erinnerungen an die eigene Kindheit aufzuzeichnen. Bemerkenswert ist, dass, obwohl sich seine Vorstellungen über den Stoff darin sonst von vornherein klar zeigen, ausgerechnet von den Eltern kaum die Rede ist: Die Mutter wird mit keinem Wort, der Vater nur am Rande erwähnt. Der Plan bleibt vorerst liegen und wird erst im Herbst 1892 wiederaufgenommen, und zwar im Zusammenhang mit der sehr schweren Krise, in die der Dichter während der Arbeit an Effi Briest im März jenes Jahres geriet und die zu einer monatelangen Lähmung seiner Arbeitskraft führte. Nachdem im Laufe des Sommers namhafte Fachärzte zu Rate gezogen wurden, die Einlieferung in eine »Nervenheilanstalt« in Betracht kam,28 bizarre Therapien erwogen (und verworfen) wurden, aber schließlich doch auch eine ursprünglich abgelehnte galvanische Kur versucht wurde (wobei die in Aussicht gestellte Wirkung offensichtlich ausblieb),29 untersuchte den Dichter nochmals dessen Hausarzt, Dr. Delhaes. Dieser erklärte ihm dabei (so die spätere Darstellung durch Friedrich Fontane), er sei gar nicht krank, ihm fehle bloß »die gewohnte Arbeit«; also empfahl er ihm, wieder mit dem Schreiben anzufangen, wenn nicht einen Roman, dann »was anderes, zum Beispiel Ihre Lebenserinnerungen. Fangen Sie gleich morgen mit der Kinderzeit an!«30 Darf man diesem Zeugnis Glau26 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 3. 27 HFA III/3/2, S. 1217–1225. Zunächst wurden die Notizen 1966 von Walter Keitel in HFA I/5, S. 809–817 veröffentlicht. 28 Brief Emilie Fontanes an den Sohn Friedrich vom 21.07.1892. In: Regina Dieterle (Hrsg.), Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz, Berlin/New York 2002, S. 428. 29 An Georg Friedlaender schreibt Fontane am 01.10.1892: »Das Elektrisieren regt mich mehr auf, als es mich beruhigt.« HFA IV/4, S. 219. 30 Friedrich Fontane, Theodor Fontane und seine Eltern. In: Das literarische Echo, 25/9–10 (1923), Sp. 481–489, hier Sp. 484. Teildruck unter dem Titel: Genesung durch Erinnern. Wie ›Meine Kinderjahre‹ entstanden. In: Wolfgang Rasch und Christine Hehle (Hrsg.), »Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst«. Erinnerungen an Theodor Fontane, Berlin 2003, S. 193–194, hier S. 194.



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ben schenken, muss Theodor Fontane die Anregung dankbar aufgenommen haben. Entgegen der Darstellung seines Sohnes nimmt der Dichter aber ausdrücklich für sich die Entscheidung in Anspruch, als autobiographischen Stoff seine Kindheit gewählt zu haben: Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, dass ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. […] Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte. Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also »to begin with the beginning«.31

Mit der Niederschrift begann er etwa um den 20. Oktober 1892,32 war schon kurz vor Weihnachten mit dem Buch »fertig geworden« und wollte, »gleich nach Neujahr […] mit der Korrektur beginnen«.33 Am 10. April 1893 teilte er seinem Freund Georg Friedlaender mit: »Gestern habe ich das letzte Kapitel meiner mit dem 12. Jahre bereits abschließenden Biographie durchkorrigiert und zur Abschrift gegeben«.34 In Fontanes Tagebuch heißt es dazu: »Ich wählte ›meine Kinderjahre‹ (bis 1832) und darf sagen, mich an diesem Buch wieder gesund geschrieben zu haben. Ob es den Leuten gefallen wird, muß ich abwarten, mir selbst habe ich damit einen großen Dienst getan«.35 Das Werk war und bleibt ein Stiefkind der Forschung. Soweit sie sich damit beschäftigt, pflegt sie vor allem einerseits von den Umständen, unter denen das Werk entstand, somit der schweren Krise des Jahres 1892, andererseits von der Tagebucheintragung, die der Arbeit an Meinen Kinderjahren eine geradezu heilende Wirkung zuschreibt, auszugehen. Die literarischen Dimensionen des Werks treten meist in den Hintergrund. Zunächst zur Krise: Kann man dafür Ursachen nennen? Und welche? Folgende Vermutungen wurden zu den die Krise auslösenden Faktoren gestellt: a) Zweifel daran, den Anforderungen des schriftstellerischen Handwerks bei fortschreitendem Alter noch genügen zu können (was selbstverständlich auch schwerwiegende Folgen gehabt hätte: hing doch die damals dreiköpfige Familie finanziell von den Einnahmen des Dichters ab); b) die durch den Sohn 31 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 3. 32 »[…] dass ich seit 8 oder 10 Tagen ins Schreiben gekommen bin, etwas das ich von mir total gebrochenen Mann nicht mehr erwartet hätte. Und zwar habe ich schon 4 Kapitel meiner Biographie (Abschnitt: Kinderjahre) geschrieben« Brief an Georg Friedlaender vom 01.11.1892, HFA IV/4, S. 227. 33 Brief an Georg Friedlaender vom 26.12.1892. Ebd., S. 243. 34 Brief an Georg Friedlaender vom 10.04.1893. Ebd., S. 249. 35 GBA, Tagebücher 1866–1882. 1884–1898. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Bd. 2, Berlin 1994, S. 258.

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Friedrich überlieferte Überzeugung des Dichters, 72-jährig sterben zu müssen, im selben Alter wie sein Vater (Ende 1891 war Fontane 72 geworden), was offensichtlich auf eine Identifikation mit Louis Henri hinweist; c) Beschäftigung mit dem Effi-Briest-Stoff.36 Dass Swinemünde, unter dem Namen Kessin, zum Hauptschauplatz des Romans wurde, so heißt es, soll eine Flut von Erinnerungen an die Kindheit und an die Eltern hervorgerufen haben. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass die Arbeit an Allerlei Glück und später an Graf Petöfy schon früher Erinnerungen an Swinemünde hätte wecken können bzw. weckte. Das problematische Verhältnis der Romanfigur Effi zu ihren Eltern, ihre Vertreibung aus dem Elternhaus hätten aber eine so enge Verwandtschaft mit Zügen der eigenen Biographie, dass der Dichter zwangsläufig dazu geführt wurde, sich mit der eigenen Kindheit, mit seinem Verhältnis zu den Eltern auseinanderzusetzen. Kurz, um es mit einem Freud’schen Wort zu sagen: Es ging darum, zu »erinnern, wiederholen, durch[zu]arbeiten«.37 Freilich eine für den Betreffenden schmerzliche Angelegenheit, die jedoch Heilung gebracht zu haben scheint, und zwar angeblich nicht von der Krise, unter der er zu dieser Zeit litt, sondern von den ihn in langen oder kurzen Abständen wiederholt plagenden Krisen überhaupt.38 Eine Erlösung, mehr als eine Heilung, wäre man versucht zu denken. Anhand von Briefen sowohl des Dichters als auch seiner Verwandten sowie von zahlreichen anderen zeitgenössischen Quellen und mit Hilfe einer Familienanamnese hat Horst Gravenkamp die Krankheitsgeschichte Theodor Fontanes mit Akribie untersucht. Besonders relevant ist in unserem Zusam36 Siehe dazu Fr. Fontane, Theodor Fontane und seine Eltern, Sp. 484; Hermann Fricke, Zur Pathographie des Dichters Theodor Fontane. In: Theodor Fontanes Werk in unserer Zeit. Hrsg. vom Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam 1966, S. 95–112; Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 143; Gisela Greve, Theodor Fontane »Effi Briest«. Die Entwicklung einer Depression. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 18 (1986), S. 195–220; Paul Irving Anderson, Der Ibykuskomplex. Fontanes Verhältnis zum Vater. In: Fontane Blätter 50 (1990), S. 120–136; Manfred Dierks, Reisen in die eigene Tiefe – nach Kessin, Altershausen und Pompeji. In: Thomas-Mann-Studien 18 (1998), S. 169–186; Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus; Walter Müller-Seidel, Alterskunst. Fontanes Roman ›Meine Kinderjahre‹ an der Epochenschwelle zur Moderne. In: Monika Hahn (Hrsg.), »Spielende Vertiefung ins Menschliche«. Festschrift für Ingrid Mittenzwei, Heidelberg 2002, S. 235–262, hier S. 246. 37 »M. E. ist der so hingeplaudert anmutende autobiographische Roman eine echte ›talking cure‹, ein Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten belastenden und bis dahin nicht wirklich zugelassenen Kindheitsmaterials.« So Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus, S. 88. 38 Siehe Paul Irving Anderson, Der versteckte Fontane und wie man ihn findet, S. 74.



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menhang, dass er unter Berücksichtigung der äußerst schweren Krise des Jahres 1892 wie auch anderer Krisen, in die der Dichter – spätestens seit 1859 – geriet, »endogene Depression« diagnostiziert.39 Unter Psychiatern herrscht inzwischen weitgehend Einverständnis darüber, dass Depression genetisch bedingt und vermutlich gewissermaßen erblich ist: Daran litten höchstwahrscheinlich Emilie, die Mutter, und mit Sicherheit Mete, die Tochter des Dichters. Ist die Depression aber genetisch bedingt, muss man Fontanes Überzeugung, sich an Meine Kinderjahre gesund geschrieben zu haben, mit Skepsis betrachten. Was die damalige Krise betrifft, so hatte er sie beim Arbeitsbeginn weitgehend überwunden (Delhaes’ Einschätzung muss richtig gewesen sein).40 Was mögliche, künftige Krisen betrifft, wäre er davor keineswegs gefeit gewesen: Dass er in den sechs Jahren, die ihm noch vergönnt waren, keine weiteren Krisen durchmachen musste, schließt keineswegs aus, dass er noch einmal in eine mehr oder weniger schwere Depression hätte geraten können, falls sein Leben länger gewesen wäre. Viel glaubhafter ist die Überzeugung des Dichters, sich »damit einen großen Dienst getan« zu haben.41 Dank der Arbeit an der Autobiographie konnte er endlich den verwirrten, schmerzlichen Knoten seines Verhältnisses zu den Eltern lösen und sich somit eines Unbehagens, das dieser Knoten bislang verursacht hatte, entledigen – und, nicht zu vergessen, des Zweifels an der Fähigkeit, weiterhin dem Schriftstellerberuf nachzugehen. Die Schwächen, die problematischen Seiten der Persönlichkeit beider Eltern, ihre Fehler, sogar die unverantwortliche Lebensführung seines Vaters und das gelegentlich sadistische Verhalten seiner Mutter werden genau und ausführlich geschildert, und trotzdem hinterlässt die Lektüre schließlich den Eindruck eines mit der Vergangenheit versöhnten Autobiographen […] und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle, »wie wurden wir erzogen«, so muß ich darauf antworten: »Gar nicht und – ausgezeichnet.« Legt man den Akzent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswaage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter als »in guter Sitte ein gutes Beispiel geben« und im übrigen das Bestreben, einen jungen Baum, bei kaum fühlbarer Anfestigung an einen Stab,

39 Gravenkamp, »Um zu sterben muss sich Hr. F. erst eine andere Krankheit anschaffen«, S. 85. Zur Möglichkeit, Ursachen für den Ausbruch depressiver Krisen zu vermuten oder gar zu ermitteln: Gravenkamp nennt vier depressive Krisen in den Jahren 1858, 1877, 1879, 1883. In keinem dieser Jahre sind besonders schmerzliche oder schwere Ereignisse in der Biographie Fontanes festzustellen. Weder beim Tod seines Vaters (1867), seiner Mutter (1869) und seines Sohnes George (1887) noch bei der Kriegsgefangenschaft in Frankreich (1870) sind dagegen depressive Krisen aufgetreten. 40 Auch dazu ebd., S. 25. 41 GBA, Tagebücher 1866–1882. 1884–1898,. Bd. 2, S. 258.

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in reiner Luft frisch, fröhlich und frei aufwachsen zu lassen, so wurden wir ganz wundervoll erzogen. Und das kam daher: meine Eltern hielten nicht bloß auf Hausanstand, worin sie Muster waren, sie waren auch beide von einer vorbildlichen Gesinnung, die Mutter unbedingt, der Vater mit Einschränkung, aber darin doch auch wieder uneingeschränkt, daß ihm jeder Mensch ein Mensch war.42

VI Unter den zwei Wörtern des Untertitels gibt die Forschung dem Adjektiv den Vorzug und widmet den literarischen Dimensionen des Textes weit weniger Aufmerksamkeit, als sie m. E. verdienen. Das mag auch der Grund dafür sein, dass dem Werk gelegentlich vorgeworfen wurde, »ein vereinfachtes, spannungsloses Bild der kindlichen Seele«43 zu bieten, oder auch, tiefe Spuren der Selbstzensur zu offenbaren.44 Eingehende, unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses des Kindes zur Mutter und zum Vater geführte Textanalysen ergeben paradoxerweise entgegengesetzte Ergebnisse.45 Den Standpunkt Margret Wal42 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 140–141. 43 Roy Pascal, Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart/Köln et al. 1965, S. 117. Wobei zu bemerken ist, dass Pascal außer Acht lässt, dass Fontane auch in seinen Romanen kaum Regungen des Herzens und der Seele schildert und lieber deren Folgen zeigt. 44 Wolfgang Paulsen schreibt: »So zeichnet er in seinem an sich so bezaubernden Kindheitsroman Meine Kinderjahre (1893), auch hier die ‘Wahrheit’ in ‘Dichtung’ gehüllt, ein recht subjektives Bild von den Erlebnissen seiner Jugend, da er hier wie in seinen eigentlichen autobiographischen Schriften weite Bereiche seines Lebens einer strikten Zensur unterwarf, die den Eindruck erweckt, dass sie im Dienste der bürgerlichen Moralvorstellungen seiner Zeit stünde«. Wolfgang Paulsen, Im Banne der Melusine. Theodor Fontane und sein Werk, Bern 1988, S. 107. 45 Claudia Liebrand bietet die Schilderung der Kaffeestunde (die sie Teestunde nennt) im fünften Kapitel Anlass, Betrachtungen über die Mutter-Sohn-Beziehung anzustellen: »Die Mutter als emotionales Zentrum der kindlichen Gefühlswelt, die auch an anderen Stellen des Textes einem durch Wärme und Feuer konstituierten Assoziationsfeld zugeordnet ist, erscheint als Hüterin eines wärmespendenden Grals (des Eisenkohlenkastens), dessen wahre Beschaffenheit hinter einer Messingverkleidung verborgen ist. […] Das ›Hitzige‹ der Mutter ist dem Sohn unzugänglich und verboten«, Liebrand, Das Ich und die andern, S. 46. Dagegen spricht Masanetz der Mutter die Fähigkeit, Liebe zu geben, grundsätzlich ab: »Emilie Fontane konnte – vielleicht von allem Anfang an, vielleicht ab einer bestimmten Zeit – gerade das ihrem ›Herzensjungen‹ nicht geben, was sie sollte, weil es vom Kind gebraucht und eingefordert wird: Liebe […], Trost und einfühlendes Verständnis. Das ›Lieblingskind mit den schönen blonden Locken‹ hat – und so wird es auch erinnert – der Mutter vielmehr in seiner ›bevorzugten Stellung‹ gleichen narzisstischen Zwecken gedient wie ihre verschwenderische Freigebigkeit: der Stabilisierung ihres aufgeblähten und doch so brüchigen Selbst«. Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus, S. 103.



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ter-Schneiders (»Ich lese die Kinderjahre, wie man ein literarisches Kunstwerk liest«)46 teilt kaum jemand.47 Es wäre aber ratsam, gerade daran anzuknüpfen. In Anbetracht der Fülle der Erinnerungen, die den kaum fünf in Swinemünde verbrachten Jahren im Text gelten, vergingen die ersten siebeneinhalb in Neuruppin erstaunlicherweise nahezu ohne Spuren zu hinterlassen, denn ihnen ist nur ein Teil des zweiten von insgesamt achtzehn Kapiteln gewidmet.48 Genauer gesagt: Die ersten siebeneinhalb Jahre seines Lebens schildert der Protagonist in Meine Kinderjahre, als hätte er kaum Erinnerungen daran. Dabei weiß er: »In ihrer Ruppiner Apotheke verlebten meine Eltern die ersten sieben Jahre ihrer Ehe, vorwiegend glückliche Jahre, obwohl sich schon damals das zeigte, was dieses Glück früher oder später gefährden musste.«49 Wurde er ihres Glücks nicht teilhaftig? Beeinflusste ihr Glück nicht die Atmosphäre zu Hause? Spürte er nichts davon? Hörte er erst später von diesem Glück, vielleicht von seiner Mutter? Es scheint, dass seine ersten Erinnerungen auf die Zeit nach dem Verkauf der Löwenapotheke und seines Geburtshauses (Ostern 1826) zurückgehen. Fast drei Monate zuvor ist er sechs geworden. Die Familie ist inzwischen in eine Mietswohnung umgezogen, mit der alle, seine Eltern und seine Geschwister, »leidlich zufrieden« sind. »Nur ich konnte mich nicht zufrieden fühlen und habe das Mietshaus bis diesen Tag in schlechter Erinnerung«.50 Das Wenige, woran er sich erinnern kann, ist fast ausnahmslos unangenehm oder sogar beängstigend. Das Mietshaus war ein Schlachterhaus, und jeden Tag bot sich ihm der Anblick von Blut oder von einem »in der Nacht vorher geschlachtete[n] Rind«. Wurden Schweine geschlachtet, »ließ sich’s mitunter nicht vermeiden«, selbst 46 Margret Walter-Schneider, Im Hause der Venus. Zu einer Episode aus Fontanes Meine Kinderjahre. Mit einer Vorbemerkung über die Interpretierbarkeit dieses ›autobiographischen Romans‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 227–247, hier S. 232. 47 Stern lehnt ihn ausdrücklich ab. Siehe Stern, Autobiographik als Akt der Selbstheilung, S. 122. In seiner großen, immer noch grundlegenden Fontane-Biographie betont Reuter, dass Meine Kinderjahre sich »bereits im Untertitel zur Romanform« bekennt, und zwar »nicht im Sinne einer Fiktion«, die Gattungsbezeichnung treffe aber »für die Anlage der ›Kinderjahre‹« zu. Siehe Hans-Heinrich Reuter, Fontane, Berlin 1968, 2. Bd., S. 762. 48 Reuter hat es nicht versäumt, darauf aufmerksam zu machen (S. Hans-Heinrich Reuter, Theodor Fontane. Grundzüge und Materialien einer historischen Biographie, Leipzig 2. Aufl., 1976, S. 24; Masanetz weist darauf hin und merkt dazu noch an: »Dieses Verfahren sieht […] wie Absicht aus. […] Der Geburtsort, der Ort der frühesten und engsten Mutterbindung, er wird, mit lauter bedrohlichen Erinnerungen verknüpf, nicht zum Identitätsort«. Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus), S. 93. 49 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 12. 50 Ebd. S. 19.

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»Zeuge der entsprechenden Vorgänge« zu sein.51 Ergriff er aber die Flucht, um sich dem grausamen Anblick zu entziehen, landete er zufällig und nichtsahnend ausgerechnet auf dem Galgenberg, wie er später mit Grauen vom Vater erfuhr.52 Die frühesten Erinnerungen an die Mutter scheinen jeder Wärme zu entbehren: Sie ist streng (»nur nicht weichlich« ist ihr Grundsatz), zeigt gern die »rasche Hand«, das »Kämmen mit dem sogenannten engen Kamm« wird zur Quälerei für den Sohn (»Eh nicht Blut kam, eh war die Sache nicht vorbei«).53 Bei einem Scheunenbrand, der gerade dann ausbricht, als sie und ihr Mann an einem Diner in der Stadt teilnehmen, wird die »sehr nervöse« Mutter von Angst befallen. Sie bangt um ihre Kinder und eilt nach Hause; sobald sie feststellt, dass sie heil sind, schreit sie »vor Glück und Freude«, bricht aber unmittelbar danach »ohnmächtig zusammen«.54 Einerseits ein Kind, das die mögliche Gefahr nicht wahrnimmt (»Es war […] nicht der Scheunenbrand selbst, der sich mir einprägte«), andererseits die Mutter, die versucht, Hilfe zu bringen, dazu sich aber als unfähig erweist und schließlich unter den Augen ihrer Kinder ohnmächtig liegt. Von dem ganzen Geschehen prägen sich dem kleinen Protagonisten nur das Bild der in Ohnmacht gefallenen Mutter, die Farben und die flackernden Lichter ein: Als im nächsten Augenblicke verschiedene Personen, darunter auch die Wirtsleute, mit Lichtern in der Hand herzukamen, empfing das Gesamtbild, das das Zimmer darbot, eine grelle Beleuchtung, am meisten das dunkelrote Brokatkleid meiner Mutter, und das schwarze Haar, das darüber fiel, und dies Rot und Schwarz und die flackernden Lichter drum herum, das alles blieb mir bis diese Stunde.55

Umgekehrt hinterlässt eine nächtliche Fahrt mit dem Vater auf der Kalesche zu den Großeltern in Berlin die einzige im Text erwähnte erfreuliche Erinnerung an die Neuruppiner Jahre. Das Kind »mit den schönen blonden Locken« wird auf der Reise mitgenommen, vielleicht um »einen guten Eindruck auf den Großvater« zu machen und ihn wohlwollend zu stimmen. Der Versuch scheitert zwar, denn der Vater und der Sohn mit ihm werden mit spürbarer »Nüchternheit« behandelt, und das Kind ist »herzlich froh, als es am Abend wieder nach Hause« geht. Unauslöschlich bleibt aber die Erinnerung, die die Hinfahrt selbst hinterlässt. Das Kind steckt einfach in einem Fußsack vorn auf dem Wa51 Ebd. 52 Ebd. In diesem Fall zeigt sich der Vater unempfindlich: Er lacht bei der Erklärung, während dem Kind ist, »als lege sich mir schon der Strick um den Hals und ich bat, vom Tisch aufstehen zu dürfen«. 53 Ebd. S. 19–20. 54 Ebd., S. 21. 55 Ebd., S. 21–22.



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gen: »Kam ein Stein oder gabs einen Stoß, so konnte ich mit Bequemlichkeit herausfliegen.« Das Gefahrvolle der Lage schien ihm unerheblich (»Aber diese Vorstellung störte meine Freude keinen Augenblick«), wichtig ist ihm offenbar das Sich-eins-mit-dem-Vater-fühlen, und als die Sterne am Himmel zu blitzen anfingen: »Entzückt sah ich in die Pracht, und kein Schlaf kam in meine Augen. Ich bin nie wieder so gefahren; mir war, als reisten wir in den Himmel«.56

VII Am Johannistag 1827 bricht Louis Henri Fontane mit seinen Kindern nach Swinemünde auf, während seine Frau Emilie sich in Berlin einer Nervenkur unterzieht. Der siebenjährige Theodor ist, ohne es zu ahnen, wieder auf einer Reise in ein Paradies – und diesmal nicht in ein eingebildetes, sondern in ein wirkliches Paradies auf Erden. Dieser Aufenthalt im Paradies ist aber schließlich ein Aufenthalt auf Zeit. Er wird fünf Jahre dauern. Unter den Erlebnissen des Protagonisten in Swinemünde sind solche, die an ähnliche in Neuruppin denken lassen. Man hat den Eindruck, dass unter den Erinnerungen aus der Neuruppiner Zeit Fontane solche ausgesucht hat, die sich der Leser später bei bestimmten Stellen ins Gedächtnis zurückrufen soll. Das befürchtete Hochwasser ist ein Pendant zum Scheunenbrand. In beiden Fällen bleibt es bei der Bedrohung, die jedoch völlig unterschiedliche Erinnerungen hinterlässt. An ein Tableau lässt das in dunkelrote und schwarze Farben und in flackernde Lichter getauchte Bild der Hilfe bringenden, aber in Ohnmacht gefallenen Mutter denken. Die Ankündigung der bevorstehenden Gefahr durch den Vater wird zu einer kleinen Szene, in der sich Charaktere und Wesensverwandtschaften enthüllen: Er glaubte es alles selber nicht recht, aber etwas, was vom Alltäglichen abwich, in Sicht zu stellen war ihm ein besonderes Vergnügen, und wir Kinder waren, wenigstens in diesem Stück, alle so sehr nach ihm geartet, daß wir ihm Dank dafür wußten und unsere Mutter nicht begriffen, die von solcher Phantasiebelastung nie was wissen wollte.57

Der Protagonist schwelgt seinerseits in der Vorstellung, »in einem Boot in die Schule fahren und unterwegs bei Bäcker Woltermann unsere Frühstücksbrötchen kaufen zu können«, denn »[e]in kleiner romantischer Hang saß uns allen tief im Geblüt und blieb uns auch für manches weitere Jahr«.58 56 Ebd., S. 22–23. 57 Ebd., S. 108. 58 Ebd.

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Die Erlebnisse während der Schlachtzeit rufen solche im Schlachterhaus ins Gedächtnis zurück. Im Laufe einiger Wochen im späten Herbst werden Gänse, Schweine und schließlich ein Hirsch in Swinemünde geschlachtet. Erfüllte der Anblick geschlachteter Rinder, fließenden Bluts und der Schlachtung selbst (»Ich stand auf dem Hausflur und sah, durch die offenstehende Haustür, auf den Hof hinaus, wo gerade verschiedene Personen, quer ausgestreckt, über dem schreienden Tier lagen«)59 den Protagonisten in Neuruppin mit Entsetzen, so dass er die Flucht ergriff, ist nun seine »Stellung dazu […] noch genau dieselbe« geblieben; er ist aber inzwischen »in die Jungensjahre hineingewachsen, wo man wohl oder übel seine Ehre darin setzt, alles mannhaft mit durchzumachen, auch wenn sich die eigenste Natur dagegen auflehnt«.60 Ganz anders ist seine Stellung zur Gänseschlachtung: Das Federvieh wird von den Dienern in großer Zahl geschlachtet, und wie verhält sich nun der Protagonist dazu? Von »mannhaft mit durchmachen« ist keine Rede. Er sieht eher neugierig zu und ist nach Jahrzehnten immer noch imstande, selbst die grausamsten Vorgänge ausführlich und genau zu schildern: Die Frauen saßen »jede mit einer Gans zwischen den Knien und sangen, während sie mit einem spitzen Küchenmesser die Schädeldecke des armen Tieres durchbohrten«.61 Nicht dass er inzwischen blutrünstig geworden wäre: »das aus Gänseblut zubereitete« pommerische Lieblingsgericht lehnt er ausdrücklich ab.62 Hinter dem, was sich da ereignet, wittert aber das Kind etwas Ungewöhnliches, unheimlich und zugleich lustvoll, das er zwar noch nicht imstande ist namentlich zu nennen, aber als alter Mensch so schildert, dass man bei genauem Lesen darauf kommt, dass es dabei um Eros und Tod geht, »sowohl von gesteigerter Lebensfülle als auch von Vernichtung und Tod, sowohl von Wollust als auch von Leid, vom Fesseln wie vom Entfesseln«.63 »Das Massakrieren« der Gänse wird so zum »Opferfest« (ein aufschlussreiches Oxymoron), dem »Schlachtpriesterinnen« vorstehen.64 Bevor die sittenstrengen Eltern »den Kampf dagegen aufgeben«, überlegen sie lange, ob dem »frechen Treiben nicht Einhalt zu tun sei«. Erst als der Vater von »Wiederholung alter Zustände« spricht, an »römische Saturna-

59 60 61 62 63

Ebd. S. 19. Ebd., S. 88. Ebd. S. 86. Ebd., S. 87. Siehe Walter-Schneider, Im Hause der Venus S. 238–239. In der psychoanalytisch orientierten Studie von Wolfgang Paulsen heißt es: »was da von ihm (d. i. Fontane) systematisch ausgespart wurde, ist das Moment des Erotischen und Sexuellen«. Paulsen, Im Banne der Melusine, S. 107. 64 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 86.



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lien« erinnert und somit das ganze Geschehen sozusagen kulturell einrahmt, gibt er »sich zufrieden« und einigermaßen beruhigt.65 Die Flucht vor dem Anblick der Schweineschlachtung in Neuruppin führte den Protagonisten zufällig auf den Galgenberg. Als er »bei Tische« später von seinem Vater erfuhr, wo er Zuflucht gesucht hatte, war ihm »als lege sich [ihm] schon der Strick um den Hals«, er bat, »von Tisch aufstehen zu dürfen«, und ging.66 In Swinemünde ist der Tod in vielen Gestalten anwesend, zumal der Tod durch Mord und der Tod der Mörder. Anders als in der Geburtsstadt wendet der Protagonist seinen Kopf nicht ab. Schon bei der Ankunft in der Stadt müssen die Ankömmlinge, Louis Henri und seine Kinder, an einem Sarg vorbeifahren; dabei erschrickt der Protagonist, das älteste Kind, wird diesmal aber durch die Worte des Vaters beschwichtigt: »Das tote Pferd bedeutet immer bloß Geld, aber ein Sarg bedeutet Glück überhaupt. Und bei allem Respekt vor Geld, Glück ist noch besser. Glück ist alles. Wir werden also hier Glück haben«.67 Worauf er die Prophezeiung aus späterer Sicht bestätigt. Etwas unheimlicher wird es am Tag nach der Ankunft, als er und sein Vater das Haus inspizieren. Auf einem Boden erblicken sie »ein schweres Rad, aber nur von geringem Durchmesser«.68 Es ist das Werkzeug, womit ein Mörder, Hannacher, gerädert wurde, teilt ihnen der Kutscher Ehm mit. Nun ist auch der Vater »wenig angenehm berührt und meinte, zu viel Glück sei auch nicht gut«. In eben diesem Zusammenhang hören sie zum ersten Mal auch den Namen Mohr: »Toletzt hedden wi joa dat mit Muhrn un sine Fru«.69 »Die Geschichte von ›Mohr und seiner Frau‹« nimmt einen großen Teil des elften Kapitels ein. Ein Vergleich des von Fontane Erzählten mit dem durch die Monatsberichte des Swinemünder Bürgermeisters Beda überlieferten Vorfall enthüllt die wichtigen Änderungen, die der Dichter vornahm, und die dazu beitragen, ein Bild des Mörders zu geben, das diesen nicht von vornherein zum prädestinierten Delinquenten stempelt;70 die ausgesparten Einzelheiten würden »ein furchtbar anschauliches Bild von der Macht und Kraft der Verzweiflung« wiedergeben.71 Mohr ist bei Fontane »von einem ehrbaren 65 66 67 68 69 70

Ebd., S. 87. Ebd., S. 19. Ebd., S. 28. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Siehe zum Vergleich mit den Monatsberichten des Bürgermeisters Beda und zur Tragweite der von Fontane vorgenommenen Änderungen Walter-Schneider, Im Hause der Venus, bes. S. 233–238. Walter-Schneider erwähnt nicht, dass das tapfere Verhalten Mohrs als preußischer Soldat im Krieg gegen Napoleon 1806 im Text noch besonders hervorgehoben wird. 71 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 100.

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Bürger nicht mehr zu unterscheiden«.72 Gerade an der Mohr-Episode bestätigt sich der Gegensatz zwischen der Mutter einerseits, dem Protagonisten und seinem Vater andererseits.  In der Nacht vor der Hinrichtung, die wie bei Hannacher durch Rädern vollstreckt wird, kann der Protagonist offensichtlich vor Erregung »die ganze Nacht nicht« schlafen. Sein Vater ist seinerseits »ausersehen, an der Spitze der bewaffneten Bürgerschaft zu marschieren und draußen, vor Beginn der Exekution, das Schafott mit seinen Leuten kreisförmig zu umstellen«.73 Nach Hause zurückgekehrt, ist er »in sichtlicher Erregung, aber diese doch auch wieder gedämpft durch das Gefühl der verantwortlichen Kommandorolle, die sein Teil bei der Sache war«.74 Anders die Mutter, die an dem Tag »merkwürdig ruhig war«, denn »sie fand alles, was vorging, nur in Ordnung. Aug um Aug, Zahn um Zahn«, und keinen Hehl daraus machte, um »falsche Sentimentalität nicht aufkommen« zu lassen.75 Der Vorfall hinterlässt bei dem Protagonisten einen lang anhaltenden Eindruck, der »bei dem geringsten Anstoß« immer wieder lebendig wird und ihn zwar veranlasst, dem verwaisten Kind des Mohr’schen Paares aus dem Weg zu gehen, ihn aber irgendwie fühlen lässt, dass sich in sein »Entsetzen viel Teilnahme über sein Geschick einmischte«:76 Wie für seinen Vater gilt auch für ihn, dass »jeder Mensch ein Mensch« ist.77

VIII Zweimal ist der Protagonist mit seiner Mutter unterwegs. Ein erstes Mal auch mit allen anderen Geschwistern auf einem Ausflug, der plötzlich wegen eines herannahenden gefährlichen Sturmes unterbrochen werden muss.  Noch knapp der Gefahr entkommen, ist ihre Ankunft zu Hause entmutigend: Wie so oft in ein Kartenspiel vertieft, hatte Louis Henri das Herannahen des Gewitters und also die Gefahr, der seine Frau und seine Kinder ausgesetzt waren, überhaupt nicht wahrgenommen. Am Spieltisch sitzend, hat er nun für sie bei ihrer Ankunft nur einen kurzen Gruß übrig. Sein grundlegender Wandel wird im sechzehnten Kapitel offenbar, als sein Sohn ihn als alten Mann besucht: Da

72 Siehe Walter-Schneider, Im Hause der Venus, S. 235. 73 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 101. 74 Ebd., S. 102. 75 Ebd., S. 101–102. 76 Ebd., S. 104. 77 Ebd., S. 141.



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beobachtet er »von der Giebelstube seines Hauses [dessen] Herankommen« und läuft ihm entgegen.78 Die zweite Reise mit der Mutter Emilie führt den Protagonisten zurück nach Neuruppin. Dass Louis Henri darauf verzichtet, seinen Sohn in die Geburtsstadt zu begleiten, müsste eigentlich stutzig machen, denn Reisen ist doch seine Passion, und auch die Aussicht auf ein sehr gutes Abendessen in Neubrandenburg hätte ihn eigentlich zur Reise bewegen müssen. Warum fährt er nicht mit? er wog aber ab zwischen angenehm und unangenehm und kam zu dem Resultat, daß das Unangenehme meiner Ablieferung in ein Prediger-, ja genauer genommen sogar in ein Superintendentenhaus, begleitet von Einführung meiner Person bei dem Direktor des Gymnasiums, doch schwerer ins Gewicht falle als das Angenehme des Soupers in Neubrandenburg.79

Offensichtlich stören die Mutter dagegen weder die »Ablieferung« in ein Superintendentenhaus noch »die Einführung […] bei dem Direktor des Gymnasiums«. Der »autobiographische Roman« ist die einzige Quelle sowohl für die Fahrt des Louis Henri Fontane mit seinen Kindern von Neuruppin nach Swinemünde als auch für die Fahrt der Emilie mit ihrem Sohn von Swinemünde nach Neuruppin. Erwiesenermaßen leistet sich Fontane in den autobiographischen Werken Abweichungen von der Wirklichkeit. In Von Zwanzig bis Dreißig will er dadurch oft (nicht immer) das Bild seiner politischen Positionen retuschieren;80 was Meine Kinderjahre betrifft, hat Walter-Schneider festgestellt, dass das im Text entworfene Bild Mohrs von den überlieferten Zeugnissen stark abweicht. Hat sich Fontane nur in jenem Punkt von der Wirklichkeit entfernt? Wir, die wir keine Zeitgenossen sind, könnten den Dichter fragen, ob es stimmt, dass der kleine Theodor von seiner Mutter nach Neuruppin geführt wurde, dass Louis Henri allein seine vier Kinder (darunter den sechsmonatigen Max mit dessen Amme) auf eine dreitägige Fahrt nach Swinemünde im Juni 1827 mitnahm, und darüber hinaus, ob es stimmt, dass Emilie sich ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt in Berlin einer Nervenkur unterzog. Aber abgesehen davon, dass es an Quellen, die eine Antwort geben könnten, fehlt, würden wir uns eines Besseren besinnen und darauf verzichten, die Fragen zu stellen, denn 78 Ebd., S. 161. 79 Ebd., S. 186. 80 Siehe dazu die Einleitung von Peter Goldammer, ebd., S. V–XCV, hier S. XX–XXI, und Hubertus Fischer, Theodor Fontane, der »Tunnel«, die Revolution. Berlin 1848, Berlin 2009. Es ist in diesem Zusammenhang nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass auch der Anfang von Ein Sommer in London, der sich ja auf Fontanes Aufenthalt in der britischen Metropole 1852 bezieht, den gewonnenen Eindruck der Ankunft bei der ersten Reise nach London 1844 wiedergibt.

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anders als den Biographen interessiert den Leser eines autobiographischen Romans weniger, ob der Autor sich Abweichungen von der Wirklichkeit erlaubt; ihn interessiert vielmehr, dass die erinnerten und dargestellten Erlebnisse sich restlos in ein Bedeutungsnetz einfügen: Die fiktionale Natur des Textes, die es erlaubt, Meine Kinderjahre als autobiographischen Roman zu betrachten, äußert sich darin, dass das Reale nicht bloß dargestellt wird, sondern gedeutet.81 Wir wollen also Fontane Glauben schenken, wenn er erzählt, dass der Vater tatsächlich allein seine vier Kinder 1827 nach Swinemünde mitnahm, und die Mutter ihn 1832 allein nach Neuruppin führte. Zu dieser Fahrt schreibt Fontane: »Und so fuhr ich denn mit meiner Mutter – die in diesen Tagen, ganz gegen ihre Gewohnheiten, ungemein weich und nachsichtig gegen mich war – in die Welt hinein«.82 Tatsächlich lautet ihr schon im zweiten Kapitel ausgerufenes Prinzip »nur nicht weichlich«. Warum zeigt sie sich denn jetzt so ungewöhnlich weich? Man ist geneigt zu denken: Sie hat dem Sohn die bittere Pille zu versüßen, denn sie führt ihn »in die Welt hinein«. Woher? Vom Elternhaus? Eher von Swinemünde, denn Swinemünde steht für mehr als seinen bisherigen Wohnort, sogar für mehr als das Elternhaus. Einige Zeilen weiter liest man den Rückblick des Protagonisten auf die hinter ihm liegenden Jahre: »Es war […] eine glückliche Zeit gewesen.«83 Unmittelbar danach wieder eine Überschreitung der zeitlichen Grenze: […] später – den Spätabend meines Lebens ausgenommen hatt ich immer nur vereinzelte glückliche Stunden. Damals aber, als ich in Haus und Hof umherspielte und draußen meine Schlachten schlug, damals war ich unschuldigen Herzens und geweckten Geistes gewesen«.84

Vom manchmal schwierigen Verhältnis zu beiden Eltern ist hier keine Rede, auch nicht von den Streitigkeiten zwischen Mutter und Vater, die zweifellos das Klima zu Hause vergiften mussten; nur von den Kinderspielen ist die Rede, und von ihnen wird Abschied genommen. Was daraufhin folgt, dient dem besseren Verständnis der Worte »in die Welt hinein«: »Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach, in allen möglichen Gestalten, oft auch durch eigene Schuld«.85 Das Kind verlässt endgültig das Reich der Poesie und tritt in das Reich der Prosa, in die Welt ein. 81 »Le langage de l’écrivain n’a pas à charge de représenter le réel, mais de le signifier.« Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957, S. 207. 82 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 186. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd. Zu den Worten über den Spätabend des Lebens ist übrigens anzumerken: Hier spricht einer, der gerade eine schwere depressive Krise überstanden hat und sich mit dem harten Brocken seines Verhältnisses zu den Eltern hat auseinandersetzen müssen.



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Abgesehen davon, was wirklich geschehen ist, in wessen Begleitung der Protagonist zunächst nach Swinemünde und später zurück nach Neuruppin fuhr – das, was im Text erzählt wird, entspricht der literarischen Wahrheit, die schwerwiegender als die Wirklichkeit selbst ist, denn in Meine Kinderjahre steht die Figur des Vaters für Swinemünde, die Stadt am Meer, Weite, freies Leben, leben und leben lassen, Kinderspiele, »Poesie«, die der Mutter dagegen für die Mark, flaches Land, ein streng geordnetes Leben, Disziplin, Regeln, Einschulung, Prosa. Es versteht sich nun von selbst, wessen Aufgabe es ist, den kleinen Theodor nach Swinemünde und nach Neuruppin zu führen. Und die Abwesenheit der Mutter – ihre Nervenprobleme eingeräumt wie auch der Verzicht des Vaters auf die Reise nach Neuruppin fügen sich ebenfalls in dieses Bild ein. Das Literarische erringt eine tiefere Bedeutung als das Faktische.

IX Bei seiner Ankunft in der Schule in Neuruppin und in der Welt wird der Protagonist vom alten Rektor Thormeyer empfangen. Im ersten Band der Wanderungen steht das bekannte Porträt dieses gefürchteten Schulmonarchen: Während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts regierte Thormeyer, der Schulmonarch, wie er im Buche steht. Ich selbst habe noch bei meinem Eintritt ins Gymnasium ein Cornelius-NeposKapitel unter seinen Augen oder richtiger unter seinen Nüstern übersetzt, und was Thackeray in seinem ›Vanity Fair‹ erzählt, ›daß ihm von Zeit zu Zeit immer noch Mr. Birch in seinen Träumen erscheine‹, das kann ich auch von meinen Beziehungen zum alten Thormeyer sagen. Er war eine Kolossalfigur mit Löwenkopf und Löwenstimme, lauter Schreckensattribute, die dadurch nicht an Macht verloren, daß man sich schaudernd erzählte, »er sei überhaupt nur von Stendal nach Ruppin versetzt worden, weil er sich an ersterem Ort an seinem Ephorus hart vergriffen habe«. Das Wort ›vergriffen‹ hatte für meine zwölfjährige Knabeneinbildungskraft etwas ganz besonders Schauerliches.86

Das später in Meine Kinderjahre entworfene Porträt ist viel weniger beunruhigend. Anstatt andere zu erschrecken, ist Thormeyer selbst trotz seiner imposanten Figur ein vom Tod bedrohter Mensch (»das Bild eines Apoplektikus – er hätte auf der Stelle vom Schlag gerührt werden können«).87 Der neue Schüler soll auch nicht »unter seinen Augen oder richtiger unter seinen Nüstern« ein ganzes Cornelius-Nepos-Kapitel lesen, der Rektor legt ihm »höchstwahrscheinlich die leichteste Stelle im ganzen Buch« vor. Die Episode in Stendal wird zwar erwähnt, aber auch gleich hinzugefügt: »Glücklicherweise wußt ich 86 AFA, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1, S. 205. 87 AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 187.

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damals noch nichts davon, ich hätte mich sonst halbtot geängstigt«.88 Sogar das Wetter scheint Thormeyer im besten Licht zeigen zu wollen (»Der Tag nach unserer Ankunft war ein heller Sonnentag«).89 Also hat der Protagonist bei seinem Eintritt in die Welt anscheinend keinen Grund zur Angst. Darf man daraus schließen, dass Fontane die Wirklichkeit verschönert, ›harmonisiert‹? Dieser Schluss scheint mir gewagt. Dargestellt wird im letzten Kapitel des autobiographischen Romans Meine Kinderjahre nicht das tragische Ende einer Kindheit, sondern der natürliche Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt. Am Anfang des letzten Kapitels wird von dem zum Scheitern verurteilten Versuch des Protagonisten erzählt, »die Fortdauer [s]einer Herrschaft«90 über die Jungen in der Stadt zu behaupten. Bei der befürchteten Niederlage, deren Folgen mit unverkennbarer Selbstironie geschildert werden (»in dem Riedgras, neben dem Erlenbusch, wo ich zu Fall gekommen war, lag der letzte Rest vom Stolz meiner Jugend«),91 naht zwangsläufig der Abschied von Swinemünde, dem er nun »mit Begierde« entgegensieht. Obwohl es ihm in seinem Elternhaus immer noch gut gefällt (zumal die Mutter und der Vater »von besonderer Güte« sind), bringt ihn das Bewusstsein des Verlustes seiner Herrschaft »um die Möglichkeit jeder echten und rechten Freude«:92 Anders als der Abschied der Romanfigur Effi Briest von Hohen-Cremmen, wird sein Abgang nicht als eine Vertreibung aus dem Paradies, sondern als beinahe ersehnt dargestellt. Dass die Jahre in Swinemünde »eine glückliche Zeit« waren, dass er dort »unschuldigen Herzens und geweckten Geistes« war, dass »alles Poesie« war, ist eher spätere Einsicht als Klage eines jungen Mannes, der sich zurücksehnt. Sein Abschied von der Kindheit, vom Reich der Poesie wird als ein notwendiger Schritt auf dem Lebensweg geschildert; von »allen möglichen Gestalten der Prosa« weiß und ahnt er noch nichts.

X Bereits ein Blick auf die Kapitelüberschriften lasse »keinen chronologisch reihenden Bericht, sondern eine thematisch strukturierte Komposition« erkennen, schrieb Hans-Heinrich Reuter zu Meine Kinderjahre.93 Dass der Autor den 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 180. 91 Ebd., S. 182. 92 Ebd., S. 183. 93 Reuter, Fontane, 2. Bd., S. 762.



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Leser dazu auffordert, diesen thematisch strukturierten Text als seine »Kindheitsgeschichte«, ja seine »Lebensgeschichte« zu betrachten, ist eigentlich beinahe eine Zumutung, denn Geschichte will chronologisch erzählt werden und hat mit Zuständlichem wenig zu tun.94 Unverständlich wäre tatsächlich seine Aufforderung, wenn nicht die Anfangs- und die abschließenden Kapitel wären. Reuters Charakteristik des autobiographischen Romans ist zuzustimmen – wenn man von den ersten drei und den letzten drei Kapiteln absieht. Der Mittelteil des Textes, in dem das Zuständliche herrscht, ist von sechs Kapiteln umrahmt, in denen Zeit und Bewegung der Geschichte ihr Recht behaupten. Die ersten drei zeigen die Vorherrschaft während der Swinemünder Jahre (und im Werk überhaupt) der Gestalt des Vaters, der in den letzten drei das Feld scheinbar zugunsten der Mutter räumt. Im Mittelteil werden weder das Leben der Familie noch das eigene Leben noch die Gesellschaft »als sich verändernd oder entwickelnd« gezeigt.95 Die Zeit scheint stillzustehen, wenn man von den Veränderungen absieht, die die Jahreszeiten mit sich bringen. Alles wiederholt sich jeden Tag bzw. zu jeder Jahreszeit: Vormittags die vor zurückgeschlagenen Gardinen auf einem Maroquinstuhl sitzende Mutter, nachmittags empfängt sie Besuch und bietet Kaffee und Kuchen an, das Spielkasino als beliebtes Wanderziel des Vaters, der nachmittags ein langes Schläfchen zu machen pflegt, das gesellschaftliche Leben, die Spiele des Protagonisten oder aber die Sommermonate, die den Besuch aus Berlin mit sich bringen, die Äquinoktialstürme im Herbst, die Schlachtzeit, die Backzeit, der jährliche Ressourcenball zu Silvester usw. Das verleitete zum Beispiel Friedrich Fontane dazu, den Kern des Werks im Zeitbildlichen zu erkennen.96 In diesem Teil herrscht Louis Henri Fontane dermaßen vor, dass er nur zu gerne als der »Held des Kindheitsromans« bezeichnet wird.97 M. E. handelt es sich um ein Missverständnis, das darin seinen Grund hat, dass hier eine herausragende Figur, wie auch in einigen Romanen (man denke an L’Adultera oder Stine), oft im Rampenlicht steht. Der Protagonist ist und bleibt aber der Autobiograph, und um dessen Entwicklung dreht sich alles. 94 Günter Niggl erkennt das strukturbildende Kompositionsprinzip im »Charakter des Zuständlichen« (S. 267), der sich erst in den beiden abschließenden Kapiteln in »den der Bewegung der Geschichte« verwandelt (S. 272). Günter Niggl, Fontanes Meine Kinderjahre und die Gattungstradition. In: Sprache und Bekenntnis. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag 27. Oktober 1971. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Günter Niggl, Berlin 1971, S. 257–279. 95 Ebd., S. 267. 96 Fr. Fontane, Theodor Fontane und seine Eltern, Sp. 483. 97 Beispielsweise von Reuter, Fontane, Bd. 2, S. 762.

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Außer den Eltern und den Geschwistern scheint der Protagonist mit keinem anderen Menschen in Neuruppin in Kontakt gekommen zu sein. Seine Sozialisation98 erfolgt grundsätzlich in Swinemünde, denn er tritt erst dort in zahlreiche, komplexe zwischenmenschliche Beziehungen ein, lernt die Bewohner und die Honoratioren der Stadt kennen, besucht einige Wochen lang zusammen mit den »Holzpantoffeljungens« die Stadtschule, nimmt dann für kurze (aber entscheidende) Zeit bei seinem Vater und schließlich zusammen mit den Kindern der Familie Krause bei Privatlehrern im Haus des Kommerzienrats Krause Unterricht, entwickelt seine Passion für Buchbinderei, Versteckspielen, entdeckt die eigenen Fähigkeiten als Akrobat, bildet und organisiert eine von den anderen Kindern der Stadt gefürchtete Truppe, lernt anderen helfen und sich mit ihnen streiten. Selbst von der Erziehung durch die Eltern ist erst in der Swinemünder Zeit die Rede. Das impliziert, dass die Sozialisation im Zeichen des Vaters, in dessen Schatten erfolgt. Immer wieder bestätigt sich im Mittelteil des Textes die Nähe zum Vater und die Wahlverwandtschaft mit ihm. Die Mutter spielt in Swinemünde keine führende Rolle: Am Mittagessen nimmt sie selten teil; anders als der Vater kommt sie kein einziges Mal mit dem Sohn ins Gespräch, und selbst wenn es darum geht, ihn zu bestrafen, überlässt sie ihrem Mann diese Aufgabe. Sie besinnt sich auf ihre Rolle und beansprucht sie erst, als ihr ältester Sohn nach Neuruppin zurückgeführt werden soll. Da tritt der Vater zurück und überlässt der Mutter die Rolle, die bislang ihm zustand. Endgültig? Kaum. Der Besuch beim alten Vater nimmt das drittletzte Kapitel ein – und somit eine Schlüsselstelle. Der Vater steht kurz davor, seine dominierende Rolle zu verlieren; aber bevor dies geschieht und die Mutter ihre Rechte endgültig zu behaupten scheint, fügt der Autor in den Text diesen Vorausblick auf ein erst 40 Jahre später stattfindendes Geschehen ein, das auf eine Bindung zum Vater jenseits jedes scheinbaren Rückzugs und jedes Abschieds hinweist. Die Schilderungen der vom Vater geleiteten Ankunft im Reich der Poesie, des von der Mutter geleiteten Abschieds vom Reich der Poesie und der Ankunft im Reich der Prosa, »in die Welt hinein«, sind nicht einfach sachliche Mitteilungen eines Geschehens, sie stellen das Modell einer Kindheit und darüber hinaus eines Lebens dar, das sich zwischen den von zwei so unterschiedlichen Eltern verkörperten Polen und auf deren Spuren bewegt.

98 Mit der Frage der Sozialisation setzt sich Masanetz eingehend auseinander. Siehe Masanetz, Vom Ur-Sprung des Pegasus.



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Auch in Meine Kinderjahre stellt sich Fontane gerne als Erbe seines Vaters dar,99 und es ist keine schwierige Aufgabe, das Ausmaß dieses Erbes festzulegen – von der Fabulierkunst bis zur Spielpassion. Ausmaß – und Grenzen. Denn wo diese Grenzen sichtbar werden, da fängt das mütterliche Erbe an. Man muss an ihren Lieblingsspruch denken: »Was ernst ist, ist eben nicht heiter«,100 der schwerlich auf ein Kind Faszination ausüben kann. Wie der erwachsene Sohn sich dessen bewusst wird, was der Spruch besagt, wird in Meine Kinderjahre nicht gezeigt; gemäß den Gesetzen eines literarischen Werks darf sich der Autor darauf beschränken, die Vorbedingungen eines solchen Aneignungsprozesses durch die Reise »in die Welt hinein« unter der alleinigen Führung der Mutter zu versinnbildlichen. Das Echo der erfolgten Aneignung erklingt nicht zuletzt in einem Zweizeiler vermutlich aus dem Jahr 1883: Unter ein Bildnis Adolf Menzels Gaben, wer hätte sie nicht? Talente – Spielzeug für Kinder. Erst der Ernst macht den Mann, erst der Fleiß das Genie.101

99 Z. B. »Ich habe diese Neigung […] von ihm geerbt, ja, diese Neigung sogar in meine Schreibweise mit herübergenommen […]. Bloß, daß ich sehr hinter ihm zurückbleibe«. AFA, Autobiographische Schriften, Bd. 1, S. 83. 100 Ebd. 101 AFA, Gedichte. Hrsg. von Joachim Krüger und Anita Golz, Berlin und Weimar 1989, S. 275.

Grenzüberschreitungen

Fontanes Frankreich-Bücher 1870/71 Roland Berbig

I. Es lohnt, ehe Fontane ins Spiel kommt, wenigstens einen kurzen Blick in das Schlagwortarsenal der wissenschaftlichen Literatur zu werfen. Deren Spannund Bandbreite ist beträchtlich. Der Grenzbegriff hat seine Geschichte, auch längst seine Forschungsgeschichte. Michel Foucault hat Wesen und Eigenart von Grenzen wie ihr Überschreiten treffsicher fixiert: Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft; dort, in dieser Schmalheit der Linie, zeigt sie sich blitzartig als Übergang, vielleicht aber auch in ihrem gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung. […] Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren […].1

In der Diskussion über das Phänomen von Grenzen ist das Übergewicht an sozialwissenschaftlichen Erklärungen kritisiert worden: auf Kosten der »Selbstund Fremdverortungen in topographischen Konstellationen«. Es gelte deshalb, so in einer Studie über »Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik«, vor allem den »ganz materiellen, physischen Strukturen menschlicher Kultur«2 Rechnung zu tragen. Homi Bhabha entwarf das Konzept eines ›dritten Raumes‹, einer »metaphorischen Topographie«, die es ermögliche, »den Grenzraum als Ort neuer Kombinationen und vielschichtiger Verknüpfungen zu betrachten«.3 Realität und Konstruktion eines solchen hybriden Raumes und dessen Wahrnehmung bewirken, worauf es immer wieder ankommt: eine 1 2 3

Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1: 1954–1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, übersetzt von Michael Bischoff et al., Frankfurt am Main 2001, S. 324–325. Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Vorwort. In: Dies. (Hrsg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1999, S. 9, 8. Christoph Kleinschmidt, Einleitung: Formen und Funktionen von Grenzen. Anstöße zu einer interdisziplinären Grenzforschung. In: Ders. und Christine Hewel (Hrsg.), Topo-

https://doi.org/10.1515/9783110735710-010

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Identität zu stiften, die permanenter Gefährdung ausgesetzt ist. Daraus leitet sich in der literaturwissenschaftlichen Arbeit die Notwendigkeit ab, genau hinzusehen, »welche Metaphern und rhetorischen Strategien zur Anwendung kommen, um die Grenzen, die beschrieben werden, zu erzeugen […]«.4 Die Grenze ist grundlegend als zeitliche Kategorie fassbar (von Augustinus bis Arendt), die als ein existentieller Aspekt des Menschseins zu begreifen ist. Sie erscheint als Zone des Übergangs und des interpersonellen Austausches, ambivalent und geprägt von »Verfransungen und Vermischungen«,5 so Kleinschmidt in seiner Arbeit über Form und Funktion von Grenzen. Übersetzt man dies ins Künstlerische, dann werden dort »Grenzen als mentale Phänomene der Sinnstiftung« definiert, als »konstitutive Momente der Codierung und Semantisierung kultureller Identität im Sinne der Herstellung eines gemeinsamen Systems von Wertordnungen und sozialen Praktiken«.6 Und noch ein Schritt weiter: Grenzen fixieren Stellen, wie Frauke Kurbacher entwickelt, »wo eins aufhört und ein anderes beginnt«.7 Das erlaubt, sie als Schnittstelle, als Übergang, als Rand und demzufolge als An- sowie Abschluss in einem zu verstehen: Grenzziehung als »Bewegungsverlauf«, als »Einbruch oder Einsetzen des Anderen und Neuen«.8 Was hier aus weitgesteckten menschheitlichen Räumen abgeleitet wird, fällt als Lichtstrahl des Erkennens in »Nahbeziehungsverständnissen« des Persönlichen. Die »anthropologische und existentielle Dimension des Liminalen« trete dann, noch einmal Kurbacher, »in Form der Möglichkeit eines Haltungswechsels«9 hervor. Das schließt ein – im Extremfall, in der Zuspitzung –, dass dieser Haltungswechsel zur »Umkehr einer bisherigen Lebensführung« ausufert oder doch der Erfahrung eines »Einhalts«, einer »Unterbrechung«, eines »Richtungswechsels«: »Wir selbst sind diese Interruption, Synkopen, Volten vor der Vorstellung eines Zeitkontinuums«.10 Hier ist innezuhalten. Das Skizzierte ist kaum mehr als ein Schlagwortpool, ein Wegweiser, der die Richtung angibt, nicht mehr. Es geht um Fontane, um eine lebensgeschichtliche Dimension, bei deren Ausmessen Limitation, graphien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg 2011, S. 12. 4 Ebd., S. 15. 5 Ebd., S. 16. 6 Ebd., S. 19. 7 Frauke A. Kurbacher, Die Grenze der Grenze. Strukturreflexionen zum Verhältnis von Denktraditionen und Performativität in menschlichen Haltungen. In: Kleinschmidt und Hewel (Hrsg.), Topographien der Grenze, S. 26. 8 Ebd., S. 28. 9 Ebd., S. 29. 10 Ebd., S. 37.



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Transgression (im Sinne von Übergang, Überschreiten) – und eben Erfahren von Grenzhaftem maßgeblich mitwirken.

II. Wer Fontanes Briefe nach dem Wort »Grenze« durchblättert, in der Hoffnung, im Epistolographischen bei ihm immer fündig zu werden, der sieht sich eher enttäuscht. Am häufigsten, so der Eindruck, begegnet ihm das Wörtchen »grenzenlos« in seinem rhetorischen Gebrauch: grenzenlos müde, grenzenlose Dummheit, grenzenlose Eitelkeit etc. Hier indes geht es um Anderes. Grenzerfahrungen sind elementar in jedem Leben: auch dem Theodor Fontanes. Sich zu sozialisieren, bedeutet Grenzen wahr- und anzunehmen und bedeutet auch, sie in entscheidenden Augenblicken zu überschreiten. Fontanes Leben ließe sich, wollte man es denn, aus dem Wechselspiel von akzeptierten und ignorierten Grenzen beschreiben. Sich in Gegebenes zu schicken einerseits und andererseits mit Vorgefundenem nicht abzufinden, zeichnet ein Wandlungsprofil seiner sozialen und schriftstellernden Existenz. Um es nur stichprobenhaft anzudeuten: Da ist der Schritt aus dem Apothekerdasein in das eines Journalisten, da ist der Wechsel vom Vormärzbarrikadenkämpfer zum Presseagenten im preußisch-ministeriellen Dienst, und da ist die Kündigung der Sekretärsstelle in der Preußischen Akademie, um als freier Schriftsteller sein Heil zu versuchen. Grenzen im sozialen und beruflichen Raum mussten überwunden werden, um aus einer individual- oder realgeschichtlichen Konfliktlage herauszukommen. Nichts Anderes in seinem literarischen Werk: Es bedürfte keines allzu großen Aufwandes, dieses schriftstellerische Œuvre in seinen Facetten als ein von Grenzen und Grenzüberschreitungen bestimmtes Schreiben auszulegen. Da ist einerseits das sich Hineindichten in die Herwegh-Zeit mit einem aufbereiteten lyrischen Arsenal und andererseits die Überführung dieser freiheitlichpolitischen Poetik in einer auf Preußisches zugeschnittenen Dichtung. Da ist einerseits das Poetisieren und Historisieren von Land und Leuten der Mark Brandenburg und andererseits ein Erzählen von Menschen, die an Standesgrenzen scheitern oder denen diese Grenzen das Lebensglück verweigern. Wir sehen den Großstädter, den es ins Ländliche zieht – als literarischer Wanderer in die Mark oder als Sommerfrischler ins Riesengebirge, an die Nordsee oder in den Harz. Uns steht der Kriegschronist gegenüber, dem Grenzlinienverläufe, abgesteckte Schlachtfelder und neu geregelte Markierungslinien im geopolitischen Raum Alltägliches und Inhalt seines Alltagsgeschäftes waren. Und – um nur noch dieses zu erwähnen ‒ mustert man Fontanes Bekanntschafts-

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und Beziehungswelt durch, wird man in ihnen Grenzüberschreitungen als Wesenszug erkennen: der Apothekengehilfe, der in ministerielle Sphären des Hauses Kugler strebt, der Feuilletonist, der Umgang mit dem märkischen Adel pflegt, oder der nicht-studierte Schriftsteller, der sich in akademisch gebildeten Kreisen von Tunnel oder Rütli bewegt. Fontanes beruflicher Erfolg spiegelt ein Aufstiegsmodell, das sowohl sozial wie politisch als auch literarisch von Grenz(durch)brüchen maßgebliche Schübe erfuhr.

III. Das ist alles nicht neu und muss an sich nicht wiederholt werden. Es gibt indes den Hintergrund einer Grenzerfahrung, die in den Mittelpunkt von Lebensund Schriftstellergeschichte Fontanes gehört: seine Kriegsgefangenschaft im Herbst 1870. Am 27. September 1870 war Fontane in Berlin aufgebrochen, um die französischen Schauplätze des dritten preußischen Krieges in Augenschein zu nehmen. Auch diesem Krieg wollte er eine ausführliche Darstellung widmen, im vaterländischen Dienst und eigener Berufung. Am 5. Oktober 1870 arretierten ihn französische Freischärler, die in ihm einen preußischen Spion vermuteten. »Seit gestern bin ich ein Gefangener […] Es muß getragen sein. […] Meine Situation beschreibe ich Dir nicht«, so seine Nachricht an seine Frau Emilie am 6. Oktober 1870. »Meine Situation beschreibe ich Dir nicht, der Hohn des Volkes ist furchtbar. Gott sei mit uns und kläre diese Nebel.«11 Sein Leben hing an seidenem Faden, nicht metaphorisch, sondern tatsächlich. Von dieser Gefangenschaft her schreibt sich sein literarisches Spätwerk, das als sein eigentliches gilt. Mit seinem Buch Kriegsgefangen und den Darstellungen des Deutsch-Französischen Krieges sei er, wird Fontane später sagen, erst zum Schriftsteller geworden. Kurz vor der Hinrichtung stehend, war er konfrontiert worden mit der äußersten Grenze – der zwischen Leben und Tod. Diese Schneide hatte ihn seit seinen Anfängen literarisch beschäftigt und war spätestens mit den sogenannten Preußenliedern auf militärisch-poetische Weise präsent. Nun, seit jenen Oktobertagen 1870, war diese Existenzschneise zu einer unmittelbaren Lebenserfahrung geworden, nicht mehr fortzudenken, nur fortzuschreiben.12 11 Theodor Fontane an Emilie Fontane, HFA IV/2, S. 338. 12 Der Tod ist in Fontanes Romanen wie in seiner Lyrik eine stets anwesende Größe – von Grete Minde, Sohn und Vater Bocholt und Schach über Graf Petöfy, Abel Hradscheck und seine Frau, Cécile bis hin zu Waldemar von Haldern, Christine Holk, Effi Briest und Dubslav von Stechlin: um nur die Hauptfiguren aufzulisten.



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Diese Umstände gaben den Anstoß für das Folgende, prägten seine Einfärbung. Sie spielten hinein in die Lektüreabsicht, ohne in ihr aufzugehen oder sie zu dominieren. Ihr lag das Interesse zugrunde, in welchem Maße sich Grenzen und das Wissen und Bewusstsein von ihnen in den Frankreich-Büchern eingeschrieben – inwieweit sie gewissermaßen diese Texte ›mit-geschrieben‹ haben. Im Zentrum steht also nicht die Makroebene des Biographischen, sondern die Mikroebene des Literarischen. Geprüft werden soll, inwieweit in den beiden Büchern Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 und Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsaß-Lothringen Grenz- und Markierungslinien das Erzählen organisieren und ihm Struktur verleihen. Zu bedenken ist: Noch hat Fontane keinen einzigen Roman und keine größere Erzählung verfasst. Der Prosaist begann als Autograph, beiläufig in Korrespondenz zu jenem journalistischen Ich vorangegangener Jahre. Finden sich, so ist zu fragen, Spuren oder doch Spurenelemente jener erfahrenen, das Leben existentiell bedrohenden Gefangenschaft? Spiegelt sich in diesen ersten autobiographischen Büchern Fontanes ein geschärfter Sinn für Trennlinien, um Leben und Erlebtes zu gestalten? Welche Grenzen geraten in den Blick, in einzelnen Kapiteln, Absätzen, wenn nicht gar innerhalb eines Satzes? Ein sichtender und wägender Streifzug wird unternommen – Ausgang und Ergebnis ungewiss.

IV. Tatsächliche Grenzen wie die französische hatte Fontane schon bei früherer Gelegenheit auf seinen Auslandsreisen passiert. Erwähnte er sie, dann beiläufig. Als er April 1852 vom westflandrischen Ostende mit einem Steamer nach Dover übersetzte, vermerkte das Diarium: »Sonderbares Gefühl im Abschiedsaugenblick, das Wasser verbindet, aber es trennt auch«.13 Es ist Grenze und Brücke in einem. Den Zollübergang tat er freundlich ab mit einem gönnerischen »Coulante Leute auf der Douane«.14 Ganz ähnlich im Oktober 1856, als er auf der Rückreise nach London ein paar Tage in Frankreich Station machte: »Die Douaniers so liebenswürdig wie möglich«.15 Bei seiner Italienreise 1874 fiel ihm eine Grenzlinie auf, die er als eine tatsächliche ansah: der Brenner-Pass ‒ »Hier scheiden sich Deutschland und Italien, wenigstens geographisch wenn auch nicht politisch«.16 Und August 1875, auf der Rückreise von seiner zweiten italienischen Reise heißt es: »Verona lag prächtig im 13 Tagebucheintrag vom 22.04.1852, GBA XI/1, S. 8. 14 Ebd. 15 Tagebucheintrag vom 14.10.1856, GBA XI/1, S. 179. 16 Tagebucheintrag vom 03.10.1874, HFA III/3.2, S. 949.

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Schein der Abendsonne da. Bei Dunkelwerden in Ala.17 Gepäck-Revision«.18 Enttäuscht wird also der sein, der auf Sätze wie die in Heines Wintermärchen hofft: »[…] / Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht! / Hier werdet ihr nichts entdecken! / Die Contrebande, die mit mir reist, / Die hab ich im Kopfe stecken. […]«.19 Und doch scheinen solche ›Frachten‹ im lebensgefährdenden Spiele gewesen zu sein, als Fontane ausgerechnet am 27. September 1870 ins noch frische französische Kriegsgebiet aufbrach. In Der Krieg gegen Frankreich 1870‒1871 wird eben dieser Tag als radikale Zäsur beschrieben – als Grenze schlechthin: und zwar die Grenze zwischen Krieg und Kapitulation. Die Schilderung erzeugt ein Zusammenklingen von Verfasserrede und Dokumentation (Fontane schlug sowohl den euphorischen Ton an als auch den eines nüchternen Berichterstatters): Es war die Capitulation. »Niemand der diesen 27. September vor Straßburg mit erlebt hat ‒ so schreibt ein Offizier der Belagerungs-Armee ‒ vermag sich einen Begriff von dem hellen Sonnenschein zu machen, der plötzlich unsere Herzen durchdrang, als der Donner der Geschütze verstummte und alle Augen gleichzeitig zu der weißen Fahne, welche auf dem Münsterthurm flatterte und ‒ zu Gott aufblickten […].20

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Fontanes Gefangennahme zusammenfiel mit unvermindert anhaltenden militärischen Kämpfen von schrecklichem Ausmaß,21 Frankreich war – im Kriegsjargon ‒ noch lange nicht gefallen. Der preußische Generalstab ordnete ein rücksichtsloses Vorgehen gegen eben jene Francs-tireurs (frz. Freikorps) an, in deren Hand Fontane geriet, und Bismarck stand nicht an, Militärs zu loben, die mit diesen Freischärlern kurzen Prozess machten.22 Die realen Grenzlinien des Krieges, über die der an Schlachtschauplätze reisende Militärschriftsteller Fontane im Bilde gewesen war, tauschte die Schilderung in eine andere Grenze, eine für das erzählte Selbstbild griffigere: die 17 Ala ist eine kleine Gemeinde an der Etsch im Trentino, unweit der Grenze zu Venetien. 18 Tagebucheintrag vom 23.08.1875, HFA III/3.2, S. 1089. 19 Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Ders., Heinrich Heine. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb, Bd. 4, München/Wien 1971, S. 579. 20 Theodor Fontane, Der Krieg gegen Frankreich 1870‒1871. Bd. 1: Der Krieg gegen das Kaiserreich, Berlin 1873, S. 683. Hervorhebungen im Original. 21 Hier muss es genügen, auf die einschlägigen Kapitel in Fontanes Frankreich-Kriegsbuch zu verweisen. Es ist, vor allem in den Dokumenten aus Tagebüchern und Erinnerungen, eine Quelle von erstaunlicher Wirkungskraft. Diese militärischen »Vorgänge im Rücken dieser [deutschen achteinhalb Armeecorps umfassenden] Offensiv-Armee« beanspruchten große Aufmerksamkeit, auch in der französischen wie deutschen und preußischen Öffentlichkeit. Ebd., S. 637. 22 Vgl. Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, München 1985, S. 631.



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zwischen dem Publizisten und dem Poeten. Mit Toul, das wenig vor Fontanes Aufbruch am 23. September 1870 sein drittes Bombardement zu überstehen gehabt hatte, setzt Kriegsgefangen ein. Vorangestellt sind dem Auftaktkapitel Motti, literarische Grenzpfähle, die mit Wucht als kompakte Leselenkung fungieren: »Ins alte, romantische Land«23 als Kapitelüberschrift, ihr unmittelbar folgend nicht zusammengehörende Verse aus Schillers romantischer Tragödie Die Jungfrau von Orleans.24 Grenzenlose poetische Verehrung jener Ikone französischer Geschichte und ihres Pendants im Schiller’schen Drama markieren im Erzählen die Grenzlinie. Deren Überschreiten, aller Vernunft zum Trotz und allen Bedenken abhold, erscheint zwanglos, Widerstand zwecklos: und koste es das Leben. Der Erzähler stattet diese Urgrenze zwischen Kunst und Leben mit Warnzeichen aus: einem misstrauisch stimmenden Blaukittel, der das Ich veranlasst, »meinen Lefaucheux-Revolver«25 zu laden, und ein heruntergekommenes Gasthaus, »das in verwaschenen Buchstaben die Inschrift trug: ›Café de Jeanne d’Arc‹«. Aber »die Reisegötter« tun scheinbar alles, »die ganze Szene künstlerisch abrunden zu wollen«.26 Die gesamte Situation wird narrativ inszeniert: hier das sich selbst vergessende poetische Wesen ‒ »[…] ich fühlte mich ganz dem Zauber dieser Stunde hingegeben […] und versenkte mich noch einmal in den Anblick dieses in Geschichte und Dichtung gleich gefeierten Ortes«,27 dort die prosaisch sich zusammenbrauende Gefahr des leichtfertigen Menschen, der »eine Gruppe von 8 bis 12 Männern auf [s]ich zukommen«28 sieht. Der der Poesie des Ortes gegenüber Wehrlose erweist sich als bewaffnet (Pistole), und dieser eine Augenblick bindet, folgt man dem Willen des Erzählers, äußerstes Glück und Unglück. Der eben noch dem auratischen Moment ergeben war, muss sich dem ergeben, »was über mich beschlossen«29 wird. Dem Erzähler ist daran gelegen, jene Linie zwischen Prosa und Poesie als waltende Größen bewusst zu halten. Er deklariert sie sogar zu einem Wesenszug seiner Existenz, der er damit einen Zug des Außerordentlichen verleiht. Das Außerordentliche basierte nicht auf Natur, sondern auf Kunst, deren Wesenhaftes auch ihm anhaftete: »Mein Leben hatte mir«, so das Ich in Kriegsgefangen,

23 Zitiert nach HFA III/4, S. 543. 24 Die Verse stammen aus dem Prolog, Dritter Auftritt und 1. Akt, Zehnter Auftritt. 25 Zitiert nach HFA III/4, S. 544. 26 Ebd., S. 546. 27 Ebd., S. 547. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 549.

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bis dahin [bis zur Gefangennahme] immer den Gefallen getan, sich nach künstlerischen Prinzipien abzurunden, derart, daß ich nicht nur Exposition, Schürzung und Lösung des Knotens jederzeit bequem verfolgen, sondern auch in einem gewissen Verwicklungsstadium genau vorhersagen konnte: nun kommt noch das, dann dämmert es wieder und dann wird es Tag.30

Damit situiert der Erzähler sein Ich jenseits des realen Daseins und platziert es in einen Kunstraum, der anderen als den weltlichen Gesetzen folgt und Folge zu leisten hat. In diesem Selbstbild ermöglicht der Ritterschlag des Poetischen, das Reale jenseits des Eigenen zu verlagern und eine Grenze zu beschwören, die das Glück des eigenen Geschicks zu garantieren verheißt. Diese Grenz- und Grenzüberschreitungsszene muss deshalb so nachdrücklich vorgeführt werden, weil das Erzählen ihr die innere Struktur und Anlage verdankt. Sie führt fortan die Regie. Was sich ihr anschließt, bekommt von ihr her den Schlüssel. Bipolar, antipodisch scheint jeder Augenblick, den das Ich im Weiteren durchlebt und durchleidet, diesem Initial unterworfen. Das Wahrnehmen von Grenzen, so gewichtigen wie unerheblichen, prägt das, was vom Ich erzählt wird und des Erzählens wert ist. Nur zwei, drei Belege, um dies zu verdeutlichen. Der Erzähler operiert, um die Unmittelbarkeit der eingetretenen Situation aufscheinen zu lassen, augenfällig mit der Differenz, die das Französische erzeugt. Es wird unübersetzt in die Schilderung eingefügt. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass die Leserschaft über diese Sprachkenntnis verfügte. Da das Ich sich leidlich im Französischen zu bewegen wusste und das sogar wiederholt thematisierte, gibt sich dieses Verfahren als narrativer Zug einer bewusst markierten Grenze zu erkennen. Das Bedrohliche des Erzählten wird verstärkt durch ein Nichtverstehen, dem der Lesende ausgesetzt ist. Eine Fülle an Belegen liefert das Erzählen in Kontrasten. In ihnen geht es dem Erzähler beinahe ausschließlich darum, existentielle Gegensätze, die auf das Ich einwirken, geradezu sinnlich vor Augen zu führen. Hier und dort, diesseits und jenseits, Leben und Tod. Michel Foucault hat in Überwachen und Strafen geschildert, wie sich am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Trennung von Urteil und Bestrafung (bis zur Hinrichtung) vollzog. Von der Züchtigung des Körpers habe sich das System auf »eine Ökonomie der suspendierten Rechte« verschoben. Der Scharfrichter als »Anatom des Leidens« sei nunmehr »von einer ganzen Armee von Technikern abgelöst: Aufseher, Ärzte, Priester, […] Erzieher«.31 Kriegsgefangen bezeugt diese realhistorische und juristische Grenzverlagerung in eindrucksvollen Szenen, die 30 Ebd., S. 565. 31 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1976, S. 19.



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immer wieder Scheidelinien thematisieren. So etwa eine unscheinbar daherkommende Beschreibung des Morgenspaziergangs auf der Zitadelle in Besançon, bei dem der Hof und eine Terrasse, die als Gartenanlage mit Petersilie und Kerbel »ein Allerheiligstes bildete, das von uns nicht betreten werden durfte«.32 Doch diese Demarkationslinie war nichts gegen die andere, von der unmittelbar darauf erzählt wird – fast als man noch ein Lächeln über jene lächerliche Gartendürftigkeit auf den Lippen hat: Der blaue Himmel, die Morgenfrische taten meinen Sinnen wohl, nur wurde dies Behagen durch unliebsame Töne aus der Ferne her, häufiger unterbrochen, als mir angenehm sein konnte. Es war in der Regel 7 Uhr; eine Salve krachte herüber; das Echo antwortete in den Bergen. Eine Gruppe trat dann zusammen, einer warf den Zigarren-Rest in die Luft und sagte ruhig: heute werden drei erschossen.33

Äußerste Gefährdung und empfundene Gefahrlosigkeit stehen hart im Raum. Sie werden als eine Welt in zwei getrennten erlebt und sind von Überlebensängsten durchdrungen. Dabei bleibt es nicht. Die essentielle Scheide zwischen den Kriegsmächten und der Macht des persönlichen Umgangs verlor im Fortgang an Schärfe, sie verwischte. Ihre Gewichtung verlagerte sich. Was die Leserschaft erwartete, unterlief die Erzählung. Französische Gendarmen, die die Gefangenenkolonne gen Marennes und Atlantikküste kommandierten, sangen Heines Loreley und, lachend, Die Wacht am Rhein.34 Der Erzähler bemüht eine Katze, die er Blanche taufte und die ihm Gelegenheit gibt, »das Modewort« eines »guerre d’extermination«35 (Vernichtungskrieg) genüsslich zu ironisieren. Die Ängste der erlebten Existenzgrenze werden auf fabelhafte Weise ausgetrieben, in dem das katzenhaft Animalische eine Brücke zum Menschlichen schlägt. Das Geschick des Erzählers will, dass das in Erscheinung tretende Wesen, gestellt neben seinen Diener, nicht gleich als Katze identifiziert und für ein weibliches Wesen gehalten wird ‒ das dann im narrativen Spiel zu einer carte blanche36 wird. Und das Ich, am Ende seiner Inhaftierung, unterließ es nicht, eine Grenze zwischen sich und seinen Mitgefangenen zu ziehen. Als man ihm antrug, nach seiner Freilassung in der Heimat »einen großen Lärm wegen schlechter Behandlung« zu machen, setzte er ihnen ‒ wie es heißt ‒ »nochmals« auseinander, »von der Vorstellung ab[zu]lassen: daß die französischen Gefangenen in Deutschland ein glückliches und die deutschen Gefangenen in Frankreich 32 Zitiert nach HFA III/4, S. 578. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 617. 35 Ebd., S. 630. 36 Eine Spielkarte (weiße Karte), die unbeschränkt eingesetzt werden kann, im übertragenen Sinne also uneingeschränkte Vollmacht und Handlungsfreiheit besitzt.

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ein unglückliches Leben führen«. Hüben und drüben würden sich »nicht viel nehmen«.37 Die semantischen Oppositionen ‒ hier die deutschen, dort die französischen Kriegsgefangenen ‒ werden im Ich, das als Vermittler, als Schlichter, als Mediator agiert, ›aufgehoben‹. Der eine äußerste Grenzsituation zu bewältigen hatte, waltete human und verwaltete neue Wertgrenzen. Sie strukturieren das Textganze und geben den Schlüsselsätzen wie nebenher strukturelles Profil. Dieses Ich hatte sich, nach so vielen erlittenen und überwundenen Grenzen, Abgrenzungen und Grenzverletzungen gefunden. Es war nicht mehr – im Sinne des lateinischen idem [dasselbe seiend] – derselbe, aber auch kein anderer. Dieser Status wird am Ausklang des Kriegsgefangen-Buches auf zweifache Weise erzählerisch ins Licht gerückt, einerseits ganz wörtlich, andererseits im übertragenen Sinn. Im Abschnitt »Der letzte Abend«, nunmehr auf der Ile d’Oléron, wird die Scheidelinie wahrhaftig illuminiert. Der Erzähler verteilte seine zusammengetragenen Wirtschaftsgegenstände der vergangenen Wochen, darunter »ein ungeahnter Reichtum an Stearinlichten«. Mit ihnen arrangierte der Diener Rasumofsky »eine feenhafte Beleuchtung«. Nachdem das Ich letzte Dinge geordnet hatte, sprang es auf, »um in meiner Lichter-Allee spazieren zu gehen. Ich bin ein schlechter Sänger und Pfeifer, aber ich glaube, ich versuchte mich als beides«.38 Im übertragenen Sinn – und erneut musste ein Grenznarrativ bemüht werden – wurde das Ich umgehend »auf eine harte Probe gestellt«,39 die die prächtige Illumination zum Erlöschen brachte: Es sollte ohne jeden Geleitschutz seine Rückreise »durch bis zum Fanatismus aufgestachelte Provinzen antreten […]. Alle Städte, die ich zu passieren hatte, hingen nur lose noch am Faden der Ordnung«. Seine erste Reaktion: »Ich hatte das Gefühl, durch meine Befreiungsordre auf einen Vulkan gestellt zu sein«.40 Bildstärker lässt sich eine Grenzmarke nicht leicht setzen. Dem Entschluss, wie diese Extremlage zu nehmen sei, ging ein Ausbalancieren voraus und schloss sich der Sprung – ein Grenzüberwindungswort! – »in die alte Sorglosigkeit hinein« an, »heiter meinem guten Stern«41 folgend. Mit dem Zuruf »›Rasumofsky, Licht‹«42 widerstand das Ich dem drohenden Dunkel, symbolisch wie real durch die halb niedergebrannten Lichter. Ganz ähnlich dann die Ausstaffierung des Abschieds, voller Grenzscheiden: hinter dem Ich die Gefangenschaft, vor ihm »im Zauber dieser Minute […] ein Vor37 38 39 40 41 42

HFA III/4, S. 682. Ebd., S. 678. Ebd., S. 679. Ebd., S. 679–680. Ebd., S. 680. Ebd., S. 681.



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geschmack der Freiheit«,43 hinter ihm die französische Insel, vor ihm das Meer und seine Überfahrt, das Jetzt im Aufbruch von der Ile d’Oléron und das Einst des Besuches der Geburtsstätte Maria Stuarts in Linlithgow. Und endlich: »Ich sprang ans Ufer. Festland unter den Füßen. Drüben auf Oléron verschwanden die letzten Schatten im Nebel«.44 Man mutet diesem Satz nicht Unzumutbares zu, hört man aus ihm mythische Wörter wie Lethe, Reich der Schatten und Seelenimagination heraus.45 Poesie und Realität einer Grenzweite.

V. Unnötig zu sagen, dass diese wenigen Bemerkungen zu Fontanes erstem Frankreich-Buch kaum mehr als Fingerzeige zum Thema »Grenze« bieten. Ein erstes Luftholen, noch lange ein Ausatmen. Noch kürzer, geradezu gnadenlos blitzlichtartig muss der Blick auf die Schilderung der zweiten Frankreich-Reise ausfallen. Was für ein Risiko: Kaum war das erste Buch über die erlittene Kriegsgefangenschaft mit ihrer glücklichen Heimkehr auf dem Buchmarkt, folgte das zweite – und für den Reisenden: Kaum war er dem so lebensgefährdenden französischen Boden entkommen, setzte er seinen Reisefuß erneut dorthin. Spielte da einer nicht mit seiner Lebensgeschichte, provozierte er nicht deren Grenzen, die ihm gerade aufgezeigt worden waren? Und wirklich, man kommt kaum ohne diesen Begriff aus, um diesen Schritt Fontanes zu begreifen oder doch sich begreiflich zu machen. In der psychiatrischen Psychologie gibt es ein Verfahren, an das Fontanes zweite Frankreich-Reise so unmittelbar nach der ersten erinnert. In ihm wird der Patient noch einmal den Umständen ausgesetzt, die seine seelische Erkrankung begleiteten. Durch die Wiederholung soll die neurotische Blockade gelöst, die psychische Grenze gesprengt werden. Fontanes Bücher erlauben ein solches Wägen. Dass das zweite Buch eine Grenze der besonderen Art schon im Untertitel anklingen lässt, ist beziehungsreich: Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsaß-Lothringen. Nicht »Eine Frühjahrsreise«, auch nicht »April 1871: Eine Reise durch […]« – nein, eine Osterreise. Das christliche Fest 43 Ebd., S. 683. 44 Ebd., S. 684. Zuvor hieß es, beziehungsreich: »An Büschen und Bojen […] glitt der Dampfer ruhig seine Straße, der Schleier über Oléron wurde dichter, nichts als der Zitadellenturm und rechts daneben das hohe Fanal ragten noch wie Schattenbilder aus dem Grau hervor«. Meine Hervorhebungen. 45 Vgl. nur stellvertretend für eine Vielzahl an Literatur Hans W. Haussig und Egidius Schmalzriedt (Hrsg.), Wörterbuch der Mythologie, Stuttgart 1965–1998, S. 1965– 1966.

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der Auferstehung Jesu, der, unschuldig gekreuzigt, den Tod überwunden hat, beherrscht den Erzählauftakt. »Ostersonntag« ist der Untertitel des Eingangskapitels, der erste Satz beginnt mit »Die Ostertage 1871 führten mich […]« und der zweite Absatz hebt mit »Es war Ostersonntag«46 an. Selbstverständlich unterließ der Erzähler jede billige Anspielung auf das eigene Geschick. Vielmehr kippt er die erzeugte Stimmung, die das Ich teilte, umgehend. Keine festlichen Glocken begleiteten die Fahrt und keine »geputzten Leute«. Stattdessen bot sich dem Reisenden ein mustergültiges Durchmischungsbild der Zeit. Das Erwartete »verschwand in den hundertfältigen Uniformen von Freund und Feind«.47 Die Symbolebene wird kontrastiert mit der realen. Indes: Sie ist installiert, wirkt, aber wie sie fortwirkt, liegt im Ermessen des Lesenden. Die reale Ebene übernimmt die Regie, und wieder geschieht das in semantischen Oppositionen. So unterschiedlich deren Gewicht, die Wichtigkeit für das Erzählen und den Erzählenden ist unzweifelhaft. Nur ein paar Belege. Das Erzähl-Ich zögerte nicht, den autobiographischen Kurs von Kriegsgefangen aufzunehmen – und dies mit einem signifikanten Werkbezug. Vorbei an dem im Landkreis Teltow-Fläming gelegenen Trebbin rollend, bemerkte es: »Meine Kapitel über ›Mark Brandenburg‹ (ach, so viele) traten wieder fragend vor mich hin; – sie sahen mich scharf an und ich schlug die Augen nieder«.48 Was für eine merkwürdige Äußerung! Genau jener Teil seiner literarischen Arbeit, dem Fontane alle Anerkennung verdankte, löst Scham aus und veranlasst abgrenzende Distanz. Kein Kommentar erläutert, kein Hinweis erklärt. Der Schnitt wird vollzogen, er reist gewissermaßen von hier an mit. Die Grenze im Lebensgeschichtlichen, so scheint es, wirft ihren Schatten auf die Schreibgeschichte. Dass das nicht weiter entfaltet wird, besagt nichts über die Tragweite der Abwertung. Oder, anders formuliert: Die Texte signalisieren ihre Unzufriedenheit mit ihrem Verfasser, sie zeigen ihm ihre Grenzen, die seine sind. Zwei Szenen in Aus den Tagen der Okkupation korrespondieren in Unmittelbarkeit mit Kriegsgefangen. Sie greifen dessen Erfahrungsraum auf, und indem sie ihn erinnern, suchen sie die Grenze, die er verursachte, zu öffnen. Die erste Szene: Auf dem Weg von Reims nach St. Denis – der Erzähler beteuert bei der Wahl der Reiseroute äußerste Vorsicht, »um nicht etwa aus Versehen in Paris und die Commune hineinzufahren«49 und also erneut in Feindeshand zu geraten – bestieg das Erzähl-Ich den Zug, der ihn nach Senlis bringen sollte,

46 Zitiert nach HFA III/4, S. 694. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 695. 49 Ebd.



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versäumte jedoch den Umstieg in Crespy (Crépy-en-Valois), die Lokomotive steuerte gen Paris. […] das Herz stand mir still. Tod, Gefangenschaft, lächerlichste Blamage starrten mich an, und alles Widerwärtige, das ich während meiner ersten Gefangenschaft erlitten […] es nahm jetzt eine graunebelhafte immer wachsende Gestalt an, eine Riesenhand fuhr in mich hinein und drehte mir, als würde rechtsum kommandiert, das Hirn im Kopf herum. […].50

Ein handfest-reales Déjà-vu drohte, die Erzählung stellt es nach – überschrittene Grenzlinien, gefährliche Schnittstellen, Reißlinien. Was zur therapeutischen Läuterung wiederholt werden sollte, lief Gefahr, den glücklichen Ausgang der ersten in unrettbares Unglück der zweiten französischen Reise zu verkehren. Auf Grenz- und Messersschneide gelang der Ausstieg und der Wechsel in den Gegenzug aus Paris, dessen Rauch »der Schein der niedergehenden Sonne vergoldete. […] Das goldne Wölkchen erschien mir als wäre es das Glück selber«.51 Wie das am Ende des mit »Ein Schreck« überschriebenen Abschnitts erzählt wird und ein Wortspiel mit historischen Ortsnamen für ein Durchheitern herhalten muss, gehört nachgelesen.52 Die zweite Szene ist ebenfalls eine Reminiszenz an die Herbstreise und ebenfalls eine Grenzgeschichte. Im Grunde ist, was geschildert wird, unerheblich, beinahe überflüssig. Der Reisende erzählt, wie er von der Stadt Ham aus mit einem Einspänner, einem Militärmantel und »Glück- und Segenswünschen« eines Hauptmanns der brandenburgischen Landsmannschaft auf eigene Faust weiter nach St. Quentin fuhr: […] es war das erste Mal, daß ich seit jenem unvergessenen Tage von Domremy, [!] wieder allein in Feindesland hineinkutschierte, allen Chancen solcher »Landpartie« preisgegeben. Ich sog indes ein Gefühl vollkommenster Sicherheit aus dem mir umgehängten Mantel, der in meinen Augen ganz den Charakter des unnahbaren Löwenfells hatte. […].53

Der Weg war nicht weit, »dritthalb Meilen«54 heißt es. Aber ihn passierend, passierte Merkwürdiges – eine märkische Assoziation stellte sich ein: »Mir war, als führe ich durch die gesegneten Anlande des Oderbruchs, durch Kunersdorf, Friedland, Gusow, und als läge das staubige, trockne, sonnverbrannte Frankreich weit hinter mir«.55 Was beim Aufbruch dieser Reise zu verfremden 50 Ebd., S. 721. 51 Ebd., S. 723. 52 Hier nur dieses Zitat, mit dem der Abschnitt schließt: »[…] und ich schritt alsbald durch das Tor, so gehobenen Herzens, als ob ich statt des Tages von Crespy meinen ›Tag von Cressy‹ gehabt hätte.« Ebd., S. 723, 1270 (Kommentar). 53 Ebd., S. 854. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 855.

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drohte, kehrte in der Fremde zurück. Jetzt, Vergangenheit und – mag sein – Zukünftiges rücken bei dieser Alleinfahrt in grenzfreiem Raum und im Einspänner zueinander. Das Deutungsbild, aus einem Daniel in der Löwengrube56 sei Herakles im Löwenfell57 geworden, ist schief, so sehr es sich aufdrängt. Schief vor allem deshalb, weil diese Reise allein glückt und weil sich ihr deutsch-französische Vergleiche auf allen Ebenen anschließen. Der als ›Sieger‹ die Kriegsschauplätze besichtigt, wird sich nicht zu schade sein, mit dem Friedensschluss für einen Schlussstrich deutsch-französischer Aus- und Abgrenzungen zu wirken. Dem die Todesgrenze konkret geworden ist, er scheut sich nicht, die radikalste aller Trennlinien, die zwischen den Toten und Lebenden, dankbar, erlöst und zünftig zu feiern – mit einem Essen: An allem ließ sich wahrnahmen, daß Ste. Marie, wie dieser ganze Teil des Schlachtfeldes überhaupt, zu einem bevorzugten Platze für die »sight-seers of all nations«, […] geworden sei. Ich eroberte mir endlich einen Eckplatz und bestellte eine Mahlzeit […]. An der Stelle, wo gehungert und gedurstet, geblutet und gestorben war, gedachte ich es mir gut schmecken zu lassen. »Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht« Heldengräber um uns her, Gräber, ohne deren furchtbare Realität wir alle, die wir da saßen und schwatzten und lachten, diese »gemütliche Fahrt über Land« nie und nimmer hätten machen können, bedankten wir uns bei ihnen durch nichts anders, als durch gedoppelten Appetit. […].58

56 Daniel 6, 2–29. 57 Vgl. Otto Gruppe, Herakles. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE), Supplementband III, Stuttgart 1918, Sp. 910–1121 (bes. 1028–1033). 58 Zitiert nach HFA III/4, S. 966–967.

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Fontane als Autor von Reisetexten in der britischen Presse Anna Fattori

I. Einführende Beobachtungen zu Fontanes Beziehung zu Großbritannien Fontane war sich bereits während seines dritten Londoner Aufenthalts über die Bedeutung der englischen Jahre nicht nur als persönliches Erlebnis, sondern auch für seine Entwicklung als Künstler im Klaren. Im April 1858 schrieb er in einem Brief an Henriette von Merckel, er habe vor, drei Bände über Großbritannien zu verfassen: einen mit Skizzen, einen über die englische Presse und einen mit Übersetzungen von Balladen. Er sei der Ansicht, dass er dann »in Achtung gebietender Korpulenz vor das Publikum treten« könne. »Ich bin eitel genug«, fuhr er fort, »mir einzubilden, daß alle drei Bücher gut sein werden«.2 Trotz seines ausgeprägten Interesses für das englische Leben und die englische Kultur gelang es ihm nicht, im Laufe seines längeren Englandaufenthaltes 1855–1859 Anerkennung in Großbritannien zu gewinnen. 1894 schrieb er in einem Brief an Wilhelm Hertz im Zusammenhang mit der dänischen Übersetzung von Unwiederbringlich, die ein Jahr zuvor erschienen war: »Meine geliebten Engländer, für die ich meinerseits so viel getan, lassen mich aber immer noch im Stich«.3 Damals – 1894 – waren noch keine englischen Übersetzungen seiner Texte publiziert worden, obwohl das Erzählwerk des preußischen Autors heute in vielen englischen Übersetzungen zu lesen ist; in einigen Fällen liegen sogar zwei oder mehrere englische Fassungen desselben Textes vor. 1

Anonym, Rezension zu Theodor Fontane, Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. In: The Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art 11 (28.04.1861), S. 406. 2 Theodor Fontane an Henriette von Merckel, zitiert nach Charlotte Jolles, Fontanes Studien über England. In: Dies., Ein Leben für Theodor Fontane. Gesammelte Aufsätze und Schriften aus sechs Jahrhunderten. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Helen Chambers, Würzburg 2010, S. 73–83, hier S. 74. 3 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, HFA IV/4, S. 409. https://doi.org/10.1515/9783110735710-011

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Tatsächlich standen und stehen die britischen Reisetexte Fontanes immer noch im Schatten seiner großen Romane – ein Umstand, der nicht überraschen darf, denn die Idee, dass Reiseberichte Teil des Œuvre eines Autors sind, hat sich erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Ohne die englischen Jahre bzw. Lehrjahre wäre Fontane nicht »der Romancier Preußens«4 – wie der Titel einer vor kurzer Zeit erschienenen Monographie von Heinz Dieter Zimmermann heißt – geworden. Ist es wirklich so, dass Großbritannien Fontane – den deutschsprachigen Autor des 19.  Jahrhunderts, der sich am intensivsten für die britische Literatur, Geschichte und Kunst interessierte und der insgesamt beinahe vier Jahre in London verbrachte – ignorierte? Diese lange Zeit geläufige Beobachtung konnte in den letzten zwei Jahrzehnten nach der Digitalisierung vieler britischen Zeitungen und Zeitschriften berichtigt werden. Charlotte Jolles und kürzlich Helen Chambers haben grundlegende Pionierarbeit über Fontane in England und auch z. T. über seine Präsenz in den bekanntesten Zeitschriften der britischen Presse geleistet,5 obwohl vieles in diesem Zusammenhang noch ausbleibt. Kein deutschsprachiger Autor des 19.  Jahrhunderts hat sich so lange in Großbritannien aufgehalten und sich mit so zahlreichen Aspekten des britischen kulturellen und politischen Kontextes auseinandergesetzt wie Fontane. Unter den deutschen Schriftstellern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist er derjenige, der am meisten seinen Blick nach Außen bzw. nach Norden – Großbritannien – und nach Süden – Italien – gerichtet hat. Geschult hat er seinen literarischen Blick an den europäischen und besonders britischen Meistern (Walter Scott, Charles Dickens, William M. Thackeray) seiner Zeit. Dadurch hat er die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass er zu ›dem‹ Romancier des deutschen Realismus werden konnte: Entgrenzung, und zwar in biographischer und in kulturell-literarischer Hinsicht, als Basis für seine Kunst. Mein Ziel ist es, anhand ausgewählter Rezensionen, Vor- und Nachworte – die meisten aus dem englischsprachigen Raum, einige wenige aus Deutschland – festzustellen, wie seine biographisch-geographische Entgrenzung im 4 Hans Dieter Zimmermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, München 2019. 5 Vgl. Helen Chambers, Spuren von Fontane in der britischen Presse 1855–1899. In: Dies., Fontane-Studien. Gesammelte Aufsätze zu Romanen, Gedichten und Reportagen, Würzburg 2014, S. 15–37; Jolles, Fontanes Studien über England, S. 73–83. Es sei außerdem auf folgende Beiträge hingewiesen: John S. Andrews, The Reception of Fontane in Nineteenth-Century Britain. In: The Modern Language Review 52 (1957), S. 403–406; Derek Glass, Fontane in English Translation: A Survey of the Publication History. In: Alan Bance, Helen Chambers et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. The London Symposium, Stuttgart 1995, S. 15–94.



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Hinblick auf sein literarisches Werk wahrgenommen wurde. Dem kritischen Kommentar ausgewählter Besprechungen und Aufsätze werde ich einige Bemerkungen über Fontanes englische Jahre voranstellen. Geographisch hat er die britische Entgrenzung in zweifacher oder dreifacher Hinsicht verwirklicht: Bedeutete damals eine Englandreise für die Deutschen, die Großbritannien besuchten, in der Regel einfach einen Aufenthalt in London, so war der Bewegungsraum von Fontane viel breiter. Während seines letzten, dreijährigen Aufenthalts in der Weltstadt besuchte er Schottland, und zwar nicht nur ›the mainland‹, sondern auch die Inseln, nämlich die Hebriden (Mull, Iona, Staffa), die er in drei Kapiteln seines Reiseberichts Jenseit des Tweed beschrieb, dessen Titel schon auf Fontanes Tendenz zur Grenzüberschreitung anspielt. Die englischen Übersetzungen des Titels dieser Sammlung machen jeweils beide sich ergänzenden sukzessiven Aspekte von Fontanes Entgrenzungen sichtbar: Weist ›across‹ (Across the Tweed lautet die 1965 erschienene Übersetzung)6 auf den Moment bzw. die Aktion des Überschreitens hin, so leitet ›beyond‹ (Beyond the Tweed, 1998)7 die darauffolgende Etappe bzw. die Erkundung des »neuen« Raumes ein. Fontanes Englanderlebnis wird oft mit Goethes italienischer Reise verglichen. Obgleich der Auslandsaufenthalt im Werk beider Autoren eine zentrale Rolle spielte, so ist (mindestens) ein wesentlicher biographischer Unterschied zu betonen: Für Goethe bedeutete die Italienreise nur eine Etappe – eine Etappe, die sicher aus seiner künstlerischen Biographie und aus der Entwicklung der deutschen Literatur nicht wegzudenken ist –, während Fontane zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens im Ausland bzw. in Großbritannien war und demzufolge seine Auffassung des britischen politischen und kulturellen Lebens nuancieren und verändern konnte.

II. Fontane in London, Fontane und London Ich werde nicht versuchen, Fontanes widersprüchliche Gefühle und Gedanken als Fremder in der englischen Metropole zu beschreiben; stattdessen möchte ich einen im Sammelband Ein Sommer in London enthaltenen Text unter die Lupe nehmen, der meiner Ansicht nach exemplarisch für die Wirkung ist, die der Kontakt mit dem britischen Kontext auf den preußischen Besucher Fonta6 Theodor Fontane, Across the Tweed. A tour of mid-Victorian Scotland. Übersetzt von Brian Battershaw, London 1965. 7 Theodor Fontane, Beyond the Tweed. A tour of Scotland in 1858. Übersetzt von Brian Battershaw, London 1998.

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ne auslöste. Es handelt sich um Gang durch den leeren Glaspalast.8 Gemeint ist der Crystal Palace, in dem 1851 die Great Exhibition stattgefunden hatte: eine Weltausstellung von Waren, Maschinen und Gütern, die beabsichtigte, den Handel voranzutreiben und die politische und wirtschaftliche Macht Großbritanniens zu demonstrieren. London war damals die Welthauptstadt nicht nur bezüglich technischer Errungenschaften, sondern auch bezüglich Kunst und Kultur. Die Great Exhibition realisierte grundsätzlich die Prinzipien des schottischen Wirtschaftswissenschaftlers Adam Smith, die Menschheit solle von Großbritannien die Idee des Fortschritts lernen. Das war der Kontext – sicher der Gegenpol zum biederen Berlin –, der den Hintergrund von Fontanes zweitem Besuch bildete. Sehr richtig bemerkt Rüdiger Görner, dass »Fontane depicted Victorian Great Britain, and, in particular, London, as the place of the over-sized, even of the gigantic«,9 eine Tendenz, die sehr deutlich aus den Texten Der Gang durch den leeren Glaspalast bzw. Kristallpalast-Bedenken hervorgeht. Der Berliner Autor besuchte den Crystal Palace 1852, also ein Jahr nach der Weltausstellung. Die Kuppel des Gebäudes wirke aus der Ferne »wie ein Berg des Lichts« (NFA SW 17, S. 10), d. h. wie der Diamant Kohinor (Berg aus Licht ist die deutsche Übersetzung des sanskritischen Namens Koh-INoor). Das Gebäude – »neu, groß, bunt und mannigfach« (ebd., S. 587) – sei ein »Glasleib« (ebd., S. 10), der sich wie »eine Riesenleiche« (ebd.) ausstrecke. Betont werden besonders die Größe – es sei »ungeheuer« (ebd., S. 11), die Säule der Räume seien »riesig hoch« (ebd., S. 588) – und die Mannigfaltigkeit, die den Palast zum Abbild Londons machen: »abschreckende Monotonie im einzelnen, aber vollste Harmonie des Ganzen« (ebd., S. 11). Der Grund, weshalb er das Glashaus als eine Leiche bezeichnet, liegt darin, dass es bald eine Ruine sein wird: Es wurde schon 1852 nicht mehr benutzt und Wind und Staub würden es – so meint der Besucher – langsam zerstören. Die Beschreibung wirkt gattungstypologisch ganz heterogen: Man findet die Pracht und den Luxus, die für die orientalische Märchentradition typisch sind (Teppiche, Shawls, die glänzende Kuppel); das die Märchengattung charakterisierende Wunderbare kommt hier vor (»der modernste Wunderbau« [ebd., S. 588], es ist auch vom »Zauber« [ebd., S. 587] die Rede); die Einzigartigkeit, die Menschenleere und das Gespenstische evozieren dystopische Darstellungen und – so würde man heute sagen – Day-After-Literatur; der mit einem Riesenkörper verglichene Pa8 9

In NFA SW 17, S. 10–11 (ab hier werden die Seitenangaben im Text und in Klammern angegeben); vgl. auch den Tagebucheintrag Kristallpalast-Bedenken, ebd., S. 587–591. Rüdiger Görner, London Fragments. A Literary Expedition. Übersetzt von Debra Marmor und Herbert Danner, London 2010, S. 1411 (die Seite bezieht sich auf die EBook-Ausgabe).



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last lässt den in englischer Literatur kundigen Leser an den überdimensionalen Körper von Gulliver in Lilliput denken. Die Konfrontation mit der englischen Alterität, die Züge des Märchens und der Dystopie trägt und die außerdem an kanonische Texte der britischen Literatur erinnert, geschieht nicht einfach von der Außenperspektive bzw. dem Blickwinkel eines Fremden her, sondern aus der Sicht – so würde man denken – von jemandem, der wie vom Mond gekommen ist. Die Episode ist sehr bedeutend für Fontanes Einstellung gegenüber der britischen Welt: Bewunderung, Staunen, Abneigung, Angst, Ratlosigkeit. Gemischte Gefühle. Die Gründe dafür lassen sich ohne Mühe eruieren. Die Reisen nach England bedeuteten für Fontane in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht die Begegnung mit einer Welt, die in vielerlei Hinsicht der Gegenpol zum mickrigen Berlin war. Diese Polarität, die sich in aller Deutlichkeit in Fontanes Reiseberichten abzeichnet, geht noch weiter, denn sie schließt auch die Zeitdimension mit ein: Fontanes Reisen waren auch Reisen in die Zukunft, nämlich in die Zukunft Deutschlands und Europas. Was er in den 1850er Jahren hier sah und erlebte, nahm das Deutschland der Gründerjahre vorweg. Die Kritik am Materialismus und an der Geldsucht, die er in den 1850er Jahren gegenüber britischen Verhältnissen ausdrückt, antizipiert die Kritik, die er am Deutschland der Gründerjahre üben wird. Eine der Great Exhibition ähnliche Ausstellung fand in Berlin erst beinahe fünfzig Jahre später statt, nämlich 1896. Das von ihm schon als Kind bewunderte und gelobte Land konnte Fontane erstmals 1844 kennenlernen, als er sich gerade einmal zwei Wochen in der englischen Hauptstadt aufhielt. Sein Urteil über den britischen Kontext fiel enthusiastisch aus: »Seit Jahren blickt’ ich auf England wie die Juden in Aegypten auf Kanaan […] Man zucke nicht die Achseln, weil ich England ein Kanaan geheißen: die Macht des Gesetzes, die Freiheit des Individuums geben ihm ein Anrecht, ›gelobtes Land‹ genannt zu werden« (NFA SW 17, S.  466–467). 1852, ein Jahr nach der Great Exhibition, unternahm er eine sechsmonatige englische Studienreise, die in Ein Sommer in London (1854) beschrieben wird. Charakterisierte ein »Gefühl der Euphorie«10 – so wie es im 18. und im 19. Jahrhundert bei vielen England-Reisenden festzustellen war, z. B. Moritz, Lichtenberg, Archenholtz, Pückler-Muskau, Georg Weerth, Fanny Lewald – den ersten Besuch, so veränderte sich seine Einstellung während des zweiten Aufenthalts und er wurde zu einem kritischen Anglophilen, obwohl er das viktorianische London – es war damals die Blütezeit von Kultur,

10 Michael Maurer, Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 409.

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Technik und Wissenschaft – zweifellos als einen wohltuenden Gegensatz zu dem biederen Berlin empfand: […] vieles behagt mir gar nicht und läßt mich, wenn ich vergleiche, deutlich einsehn, daß wir in aberhundert Dingen weit voraus sind. […] mein diesmaliges Urtheil über London [wird] anders ausfallen, als vor 8 Jahren. Ich war damals unerfahren, gutmüthig und wenn ich so sagen darf schwärmerisch genug, alles was ich anders fand auch sofort besser zu finden; dieser Standpunkt indeß ist überwunden und ich kritisire jetzt mit feiner gebildetem Sinn.11

Zum dritten Mal war er vom September 1855 bis Januar 1859 – dreieinhalb Jahre lang – als Angestellter der preußischen Regierung und als Korrespondent der preußischen Presse in London ansässig. Seine Rolle war eher die eines Politikers als eines Literaten. Ich werde hier nicht versuchen, die Wandlungen von Fontanes EnglandBild nachzuzeichnen; das ist in der Forschung oft und mit z. T. widersprüchlichen Ergebnissen gemacht worden.12 Man kann sich jeweils die entsprechenden Stellen aussuchen, um die eigene These zu bestätigen. Die Positionen der Forschung reichen von dem Bild Fontanes als Anglophoben –13 als Grundlage dafür werden Stellen aus Ein Sommer in London herangezogen, in denen der Autor den Materialismus und den ›Kult des goldenen Kalbs‹ kritisiert, außerdem Stellen aus dem Stechlin, in denen Adelheid, deren Meinung auf hermeneutisch bedenkliche Weise für die des historischen Autors gehalten wird, ihre Ablehnung der modernen britischen Welt äußert – bis zu der These von 11 Theodor Fontane an seine Mutter, HFA IV/1, S. 230. 12 Es sei hier auf einige der bedeutendsten Beiträge zu diesem Thema hingewiesen: Friedrich Schönemann, Theodor Fontane und England. In: PMLA 30/3 (1915), S. 658–671; Charlotte Jolles, »Und an der Themse wächst man sich anders aus als am Stechlin«. In: Fontane Blätter 1/5 (1967) S. 173–191; Hans-Heinrich Reuter, Zur Bedeutung und Funktion Englands für Fontanes Schaffen. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 282–299; Charlotte Jolles, Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin 1982, S. 103–140; Stefan Neuhaus, Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien, Frankfurt am Main/Berlin et al. 1996; Fritz Wefelmeyer, Bei den money-makern am Themsefluß. Theodor Fontanes Reise in die moderne Kultur im Jahre 1852. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, München 1989, S. 55–70; Maurer, Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, S. 406–411, 424–428; Albrecht Bernd Clifford, Fontane’s Discovery of Britain. In: The Modern Language Review 87/1 (1992), S. 112– 121; Gotthard Erler, An der Themse wächst man sich anders als am Stechlin. In: Die Welt (18.08.1998); Hans Ester, Theodor Fontanes London. In: Jattie Enklaar, ders. et al. (Hrsg.), Städte und Orte. Expeditionen in die literarische Landschaft, Würzburg 2012, S. 99–105. 13 D[errick] Barlow, Fontane’s English Journeys. In: German Life and Letters 6/3 (1953), S. 169–177.



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Fontane als Schwärmer für alles Englische.14 Entsprechende Zitate lassen sich in seinem Werk ohne Mühe finden. Fontanes Beziehung zu Großbritannien lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn es ist eine Mischung, wie Charlotte Jolles sehr richtig festgestellt hat, aus »Bewunderung […] Skepsis und Abneigung«.15 Dass ihn sein Englanderlebnis trotz oder gerade wegen seiner gemischten Gefühle nachhaltig beeindruckt und literarisch geprägt hat, davon zeugen seine Briefe und Tagebucheintragungen16 sowie Romane wie Frau Jenny Treibel und Der Stechlin. Dass viele essayistische bzw. feuilletonistische Reisetexte Fontanes ambivalent klingen, hängt nicht nur mit den Widersprüchen des englischen Kontextes zusammen, sondern auch mit der schwierigen Aufgabe, vor der er während seines dritten britischen Aufenthalts stand. Fontanes Lage war eine Zwangslage: Er hegte Sympathie für Großbritannien, war jedoch von der Zentralstelle für Preußische Angelegenheiten finanziell abhängig und musste dementsprechend Rücksicht auf Preußen nehmen; außerdem musste er zu seinem Bedauern einsehen, dass sein ursprüngliches, naives England-Bild revisionsbedürftig war. Eine heikle Situation, die Reuter sehr treffend mit einem ›Eiertanz‹17 verglichen hat. Zu diesem ›Eiertanz‹ gehörte z. B., dass er bestimmte Strategien in der Auswahl und der Reihenfolge der Beiträge, die im Sammelband Ein Sommer in London erschienen, entwickelte. Hier nur zwei Beispiele: Um der preußischen Regierung ein Zeichen zu geben, dass er sich von den Radikalen bzw. von den in London lebenden deutschen Flüchtlingen der 48er Revolution distanzierte, zeigte er im Text Long Acre 27 seine Bedenken gegenüber dem damals bekannten Londoner Flüchtlingshotel; um seine Kritik am englischen Materialismus der 1850er Jahre auf eine eher mittelbare Weise auszudrücken, beschloss er, einen auf den Aufenthalt von 1844 zurückgehenden Text, nämlich The Hospitable English Family, der seine idyllischen Tage als Gast einer englischen Familie dokumentiert, in den Sammelband aufzunehmen. Die Gründe dafür lassen sich ohne Mühe eruieren. Er musste sehr vorsichtig im publizistischen Umgang mit dem britischen Kontext sein. Alles, was er in dieser Zeit über britische Verhältnisse sowie über die Gegenüberstellung London-Berlin publizierte, wurde von dieser Zwangslage beeinflusst, denn er 14 Bertha Witt, Fontane, England und wir. In: Nord und Süd (1920), S. 298–305. 15 Jolles, Fontane und die Politik, S. 131. 16 Vgl. z. B. den Brief vom 15. April 1891 an Hans Hertz: »Ich bin mit Maria Stuart zu Bett gegangen und mit Archibald Douglas aufgestanden« (HFA IV/4, S. 113). 1896 schrieb er an Ernst Gründler: »Ich bin Nordlandsmensch und Italien kann, für mich, nicht dagegen an« (HFA IV/4, S. 531). 17 Reuter, Zur Bedeutung und Funktion Englands für Fontanes Schaffen, S. 296.

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war in London nicht als Privatmensch, sondern als Amtsperson, die von der preußischen Regierung bezahlt wurde. Erst wenn man die einzelnen Fäden in der komplizierten Makrostruktur des Bandes Ein Sommer in London gesondert zu sehen vermag, ergeben die z. T. (scheinbar) sich widersprechenden Beiträge einen übergeordneten Sinn. Bei einem so facettenreichen und widersprüchlichen Sammelband kann es daher nicht verwundern, dass die Rezensionen und die Kommentare von Begeisterung bis zu abschätzenden Urteilen reichen. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf einen besonderen Umstand hinzuweisen, der die Aufnahme von Fontanes Band Ein Sommer in London wesentlich beeinflusst hat: Viele Beiträge, die versuchen bzw. versuchten, die Einstellung des Berliner Autors zu England zu klären, basieren in erster Linie auf Das goldene Kalb, einem Text, in dem Fontane seine Kritik an den »Spekulationen, [dem] Rennen und [der] Jagd nach Geld« (NFA SW 17, S.  77), die er im britischen Kontext beobachtete, äußerte. Erst 1963 ist in der Forschung hervorgehoben worden, dass Das goldene Kalb sowie Lady Hamilton keine originalen Beiträge, sondern »wörtliche Übersetzung[en]« (NFA SW 17, S. 624) von Artikeln bzw. Sammelrezensionen sind, die in der Times erschienen waren. Fontane hat nämlich während seiner britischen Aufenthalte Tageszeiten und besonders die Times regelmäßig und eifrig gelesen und z. T. übersetzt, mit der Absicht, sein Englisch zu verbessern. Man kann sicher argumentieren, dass Fontane Das goldene Kalb nicht publiziert hätte, hätte er sich die darin geäußerten Meinungen nicht zu eigen machen wollen. Die Frage ist aber noch komplizierter, es gibt kein ›entweder – oder‹, es ist eine heikle und in mancher Hinsicht grotesk-peinliche Geschichte, denn eine wesentliche Rolle spielten in diesem Nachahmungs-Kunststück sicher auch – wie Fritz Wefelmeyer meiner Ansicht nach sehr treffend angenommen hat –18 Fontanes Urteil über die englische Kunst und sein Wunsch, sich als typisch englischer Autor zu profilieren. Nach der Ansicht Fontanes sei die britische Kunst und Kultur durch den Schein bzw. den falschen Schein geprägt, sie kultiviere die Nachahmungskunst bzw. die Reproduktion von Gegenständen; das Original sei nicht wichtig. Es ist die Vermutung angestellt worden, Fontane habe sich in Ein Sommer in London auf exemplarische Weise diese ›Kunst‹ angeeignet bzw. aneignen wollen, und zwar insofern, als er selber fremde Texte, nämlich aus der Times, übersetzte und stillschweigend in sein Buch aufnahm. Fontane als Nachahmungskünstler, der auf eine ironisch-spielerische Weise in seinem Umgang mit der britischen Presse sehr englisch sei, indem er Literatur als ›Ware‹

18 Wefelmeyer, Bei den money-makern am Themsefluß, S. 55–70.



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betrachte.19 Eine kühne These, die meiner Ansicht nach nicht abzulehnen ist: Fontane als Imitator zweiten Grades, er imitiere die Briten, die ihrerseits dazu neigen, Objekte nachzuahmen, statt sie zu schaffen. Aus dieser Perspektive wäre der Text performativer Art: Er verkörpere jene im Zentrum des britischen Materialismus stehende Ware, von dem im Beitrag die Rede ist.

III. »Prussian in Poet’s Corner«:20 Fontanes Reiseberichte in der britischen Presse Im Folgenden werde ich darzustellen versuchen, ob und inwiefern Fontanes britische Überschreitung und die damit verbundene Dynamik Inklusion/ Exklusion, Innenperspektive/Außenperspektive, Großbritannien/Preußen, Fremdes/Eigenes in den britischen Rezensionen ihren Niederschlag findet. Es fällt einem bei der Lektüre der britischen Rezensionen und Übersetzungen von Fontanes Texten auf, dass sie oft bereits im Titel auf die Herkunft des Autors und auf dessen Begegnung mit einer ihm fremden Welt hinweisen. A Prussian in Victorian London21 (1988), so heißt ein Sammelband mit ausgewählten Texten aus Ein Sommer in London. Eine englische Rezension des 1980 in Berlin erschienenen Buches Wanderungen durch England und Schottland heißt A Prussian’s Impressions.22 Außerdem weisen manchmal Titel bzw. Untertitel von britischen Sammelbänden auf den genauen historischen Zeitpunkt der vom Autor unternommenen Reisen hin: Journeys to England in Victoria’s Early Day23 (1939); Across the Tweed. A Tour of Mid-Victorian Scotland24 (1965);

19 »Die Fabrikanten dieser jährlichen 4 × 300 Leitartikel sind zwar ausgezeichnete Stilisten und grundgescheite Leute, aber nichtsdestoweniger ist alles, was sie schaffen (glänzende Ausnahmen zugegeben) Ware. Es klingt das hart und hochmütig zugleich, ist aber gewiss richtig. Es ist in der Politik nicht anders als in der Poesie. […] Die Times-Artikelschreiber gleichen jenen Poeten, die imstande sind, einen guten Einfall, einen überraschenden Gedanken in den glattesten Ottaverimen auszusprechen« (NFA SW 17, S. 138), so stellte Fontane in der Tagebuchaufzeichnung vom 13. September 1855 fest. 20 Philipp Blom, Rezension zu Wolfgang Hädecke, Theodor Fontane. Biographie. In: The Times Literary Supplement (02.10.1998). 21 Theodor Fontane, A Prussian in Victorian London. Übersetzt von John Lynch, London 2014. 22 S.  S. Prawer, A Prussian’s Impressions. Rezension zu Theodor Fontane, Wanderungen durch England und Schottland. In: The Times Literary Supplement (10.10.1980). 23 Theodor Fontane, Journeys to England in Victoria’s Early Day 1844–1859 (Bilderbuch aus England). Übersetzt von Dorothy Harrison, London 1939. 24 Fontane, Across the Tweed. A tour of mid-Victorian Scotland.

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Beyond the Tweed. A Tour of Scotland in 185825 (1998). Solche Titel legen dem Leser nahe, die Reiseberichte seien im Hinblick auf einen Vergleich mit dem ›modernen‹ Schottland bzw. England interessant. Damit weisen sie auf eine zweifache – geographische und zeitliche – Entgrenzung hin. Wenn ein Titel wie A Prussian’s Impressions auf die Subjektivität und die Herkunft des Beobachters verweist, so suggeriert A Prussian in Victorian London nicht nur zwei unterschiedliche geographisch-politische und gesellschaftlich-kulturelle Kontexte, sondern statt einer Begegnung den Zusammenprall zweier Welten und zweier Weltanschauungen. Mag der Titel auch bizarr klingen, fast wie Science-Fiction – etwa ein Außerirdischer auf der Erde –, so ist er gar nicht so abwegig, denn er trifft eine in englischen Texten von Fontane oft zu findende psychische Verfassung des fremden Besuchers, wie aus dem oben kurz kommentierten Text Ein Gang durch den leeren Glaspalast deutlich hervorgeht. Beim Versuch, die Aufnahme von Fontanes Texten in Großbritannien zu rekonstruieren, wird man mit der »Geschichte einer Verspätung«26 konfrontiert. Erst 1914 erschien ein ganzer Text von ihm in englischer Übersetzung, und zwar Effi Briest; 1917 folgte Irrungen ,Wirrungen und dann nach und nach, besonders seit den 1960er Jahren, andere Romane. Eine Textauswahl aus dem Bilderbuch aus England (1938 von Grote publiziert) erschien in englischer Sprache 1939 (Journeys to England in Victoria’s Victoria’s Early Day 1854–1859) also relativ früh, wenn man bedenkt, dass ein Schlüsselroman wie Der Stechlin dem englischen Lesepublikum erst in den 1990er Jahren zugänglich wurde.27 Besprechungen von Fontane-Texten waren jedoch viel früher in englischsprachigen Zeitschriften und Zeitungen erschienen, nämlich in jenen Periodika, die regelmäßig kritische Berichte über ausländische Literatur publizierten oder die mit einleitenden Bemerkungen versehene Zusammenfassungen ausländischer Literatur veröffentlichten. Die meines Wissens früheste englische publizistische Beschäftigung mit Ein Sommer in London (1852 in Berlin erschienen) geht auf 1855 zurück, als The New Quarterly Review28 in einer Bücherschau über die Reiseliteratur neben Fontanes Ein Sommer in London auch Wanderungen durch London von Max Schlesinger erwähnte. Der Vergleich ist nicht schmeichelhaft für Fontane: Schlesinger sei ein Meister der Reiseliteratur, Fontane selber sei kein Gentleman, weil er dazu neigte – wie aus dem Text Long Acre 27 hervorgeht – »the 25 Fontane, Beyond the Tweed. A tour of Scotland in 1858. 26 Hans-Heinrich Reuter, Fontane, München 1968, Bd. 1, S. 27. 27 Vgl. Glass, Fontane in English Translation: A Survey of the Publication History, S. 80. 28 Anonym, Rezension zu Theodor Fontane, Ein Sommer in London. In: The New Quarterly Review 4/17 (1855).



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inferior class of German refugees«29 zu besuchen. Kein Wort über den künstlerischen Wert des Buches ist hier zu finden, es ist eine rein weltanschaulichpolitische Bewertung. Als Verriss kann die im Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art30 vom 20. April 1861 erschienene Rezension des Buches Jenseit des Tweed betrachtet werden, das 1860 in Berlin veröffentlicht worden war. Der schottische Reisebericht sei »a handbook diluted with sentiments and sunsets«, was banal wirke, es sei »one of those gentle, harmless, worthless records of the most ordinary incidents of travel«.31 Er habe eine einschläfernde Wirkung: Man könne ihn jenen Lesern empfehlen, die »an abstract preference for being sent to sleep by German instead of English commonplace«32 zeigen. In Bentley’s Miscellany, einer angesehenen Zeitschrift, die ursprünglich von Charles Dickens herausgegeben wurde und Beiträge von berühmten Autoren wie eben Dickens, Thackeray und Longfellow publizierte, wurde 1860 eine der frühesten Rezensionen zu dem schottischen Reisebericht veröffentlicht. Nach einer Zusammenfassung einiger Stellen wird der Versuch unternommen, Fontane als Autor von Reiseliteratur zu charakterisieren. Er habe zwar »a very fair notion of the manners and customs of our northern brethren«,33 die Darstellungsweise sei aber distanziert und kalt. Dadurch erweise er dem Leser, der die von ihm beschriebenen Plätze besuchen möchte, keinen guten Dienst (»the diffusion of such […] knowledge is certainly of no advantage to the general public«).34 Wie man sieht: Der Reisebericht wird nicht als ein Kunstwerk, sondern als ein Reiseführer, als ein Mittel zum Zweck verstanden. Das Wort ›guide‹ kommt in den britischen Kommentaren oft vor. Die Ratlosigkeit des Rezensenten gegenüber Fontanes Reisetexten ist deutlich zu spüren: »[W]e hardly know in what category to place M. Fontane; perhaps, though, if we say that he devotes himself to the philosophy of history, we shall most concisely convey one meaning«.35 Außerdem lässt der Beitrag erkennen, dass er aus betont englischer Perspektive geschrieben wurde, denn die Vorurteile gegenüber Schottland scheinen an mehreren Stellen durch: »That is the worst of travelling in Scotland, everybody makes a dead set upon you, and tries to plunder you. 29 Ebd. 30 Anonym, Rezension zu Theodor Fontane, Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland, S. 406. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Anonym, Rezension zu Theodor Fontane, Across the Tweed. In: Bentleys Miscellany (1860), S. 186–194, hier S. 186. 34 Ebd., S. 194. 35 Ebd., S. 186.

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It is bad enough for Englishmen, but we sincerely pity poor foreigners who follow M. Fontane’s advice and visit the North«.36 Seine Perspektive legt der Rezensent dort offen, wo er »the distinctive dislike existing between English and Scotch«37 explizit zur Sprache bringt. Voreingenommen ist er übrigens auch gegenüber den Ausländern: »[N]o Scotch are allowed to enter the train after it has once entered their country, but strangers can do anything«.38 Ob der Artikel zur Lektüre des schottischen Reiseberichts des Berliner Autors anregen kann, ist zu bezweifeln: »It is, of course, difficult for our author to tell us something novel or strange of his visit to Melrose Abbey and Abbotsford. Every one among us who has ever crossed the Tweed has visited those two places. And has probably been disappointed«.39 Interessanter als diese frühen Dokumente zu Fontanes Rezeption in England sind die späteren englischen Rezensionen, d. h. diejenigen, die nach dem Erscheinen seiner großen Romane publiziert worden sind. In diesen Beiträgen ist nicht selten ein Bumerang-Effekt festzustellen: Sobald Fontane sich in Deutschland als der bekannteste und begabteste deutsche Romancier ausweist, richtet sich die Aufmerksamkeit der britischen Rezensenten und Autoren von Nach- und Vorworten nicht nur auf sein Erzählwerk, sondern auch auf seine englischen Reiseberichte, deren Funktion als Fingerübung, als Schule für seine Romanform betont wird. Die Besprechung von Fontanes Romanen bietet ihnen die Gelegenheit, auf die zentrale Rolle hinzuweisen, die der Kontakt zu der eigenen bzw. britischen Kultur und Literatur im literarischen Werdegang von Fontane gespielt hat. Nationalstolz ist da zu spüren. In einigen Fällen ist das Respekt, den die englischsprachigen Rezensenten und Literaturwissenschaftler Fontane zollen, eine Art (verspäteter) gebotener Widerspiegelung von Fontanes Interesse für Großbritannien. Dafür nur ein Beispiel: 1899 wird Vor dem Sturm auszugsweise übersetzt und in London in der Reihe Siepmann’s Advanced German Series40 publiziert, die darauf abzielte, dem englischen Publikum im Ausland schon bekannte Autoren näherzubringen. Der Herausgeber Aloys Weiss lobte in seinem Vorwort »the author’s unusual knowledge of the world« und dessen Fähigkeit »to paint an accurate and charming picture of any situation«.41 Zwei Aspekte aus Fontanes Biographie und Œuvre werden besonders hervorgehoben, und zwar seine Vorliebe für Großbritannien und 36 37 38 39 40 41

Ebd., S. 194. Ebd., S. 188. Ebd., S. 191. Ebd., S. 194. Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Hrsg. von Aloys Weiss, London/New York 1899. Aloys Weiss, Introduction. In: Theodor Fontane, Vor dem Sturm, S. XXV–XXVIII, hier S. XXVIII.



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sein mustergültiger Stil: »the author was a pronounced admirer of Great Britain, which he has eulogised in prose and verse. His style is pure and charming, and he well knows how to sustain the interest of his readers«.42 Weiter: »And the style! No day accuracy in matters of fact, but throughout an extraordinary degree of elegance«.43 Aufgrund seiner stilistischen Kunstfertigkeit und seines Interesses für die britische Welt wird er den englischsprachigen Studenten empfohlen: »Theodor Fontane’s style of writing – singularly lucid, graphic, and above all, entertaining – will, it may be fairly trusted, make him as dear to English students as their country has been to him«.44 [Hervorhebung A. F.] Auf die soeben beobachtete Dialektik Eigenes/Fremdes, Inklusion/Exklusion, Preußen/Großbritannien lassen sich auch die Kriterien zurückführen, die Kritiker und Literaturwissenschaftler ihrer Beurteilung von Fontanes Romanen zugrunde legen. Es ist bekannt, dass Großbritannien bahnbrechend in der Schaffung des ›modernen‹ Romans war (ohne die Pamela von Richardson hätten wir keinen Werther gehabt, um nur ein Beispiel zu nennen). Als Väter des modernen bürgerlichen Romans gelten die im 18. Jahrhundert tätigen britischen Schriftsteller Daniel Defoe, Samuel Richardson und Henry Fielding45 und aus dieser autochthonen Romantradition leiten die Rezensenten die Leitlinien zur Bewertung der deutschen Romane ab, so dass ihre Besprechungen manchmal wie präskriptive Poetiken klingen. In einem 1896 in der Zeitschrift Cosmopolis erschienenen Beitrag stellt der Literaturprofessor John B. Robertson fest, der deutsche Roman sei durch eine ausgeprägte Tendenz charakterisiert, sich eher auf die Innerlichkeit der Figuren als auf die Handlung zu konzentrieren: »the German novelists have made attempts to get into the main stream of European literature, to meet France and Britain on their own ground; but the German literary temperament has inevitably stood in the way of success, and the novel has always slipped back into old grooves«.46 Geschätzt wird der heute aus unserem literarischen Horizont verschwundene Roman Es war von Sudermann, der im Rahmen der deutschen Romankunst eher exotisch, weil lebhaft, wirke (»without a trace of the diffuseness and sentimentality usually so rampant in the Teutonic novels«)47 und merkwürdigerweise auch Effi Briest,

42 Aloys Weiss, Preface. In: Fontane, Vor dem Sturm, S. XI–XII, hier S. XI. 43 Weiss, Introduction, S. XXII. 44 Ebd., S. XXVIII. 45 Vgl. Ian Watt, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, Harmondsworth 1963. 46 John G. Robertson, Current German Literature. In: Cosmopolis. An International Monthly 3 (1896), S. 357–373, hier S. 361. 47 Ebd., S. 361.

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der als »the best German novel of the year«48 gekennzeichnet wird; die Handlung sei zwar ziemlich dünn, die Darstellung der Innenwelt insgesamt erträglich und Fontane sei ein Meister der Stimmung, besonders was die »North German Moors« anbelangt – also mutatis mutandis eine Art Emily Brontë der deutschen Literatur. Der Rezensent sieht über manche von ihm als Mängel angesehenen prägenden Merkmale des Romans nicht hinweg: »There are no brilliant climaxes, the events upon which the story turns […] are so unobtrusively suggested that one must read carefully not to miss them altogether […] these figures are so shadowy, […] Effis husband is not convincing enough, […] we cannot understand her lover’s attraction«.49 Trotzdem könne man die »greatness of the book«50 nicht leugnen. Ähnliche Bemerkungen zur Nähe von Fontanes Romanen zur Tradition findet man im Athenaeum vom 1. Juli 1899. Der Beitrag befasst sich mit einigen im Todesjahr von Bismarck (1898) erschienenen fiktionalen Texten. Der Stechlin wird hier beanstandet, ja nicht ohne Vorurteile besprochen, obwohl Fontane als der einzige lesenswerte Schriftsteller des Realismus betrachtet wird: »His Stechlin, though called a novel, has no claim to that designation. There is an almost complete lack of action«, außerdem »[t]here is hardly any composition to speak of. All the same this Stechlin is a book of the most intimate charm«.51 Fontanes Texte wurden gelegentlich in der Scottish Review kommentiert, die regelmäßig eine »Summaries of foreign Reviews« betitelte Sektion hatte, die Berichte über einige in verschiedenen europäischen und nordamerikanischen Zeitschriften erschienene Texte anbot. Unter den ausgewerteten Periodika war auch die Deutsche Rundschau, in der oft Romane von Fontane in Fortsetzungen publiziert wurden. Dass die Rezensenten die besprochenen Texte nicht immer aufmerksam lasen, mag ein einziges Beispiel zeigen: in The Scottish Review vom Juli 1892 liest man über »Theodor Fontanes excellent novel Frau Fanny [sic!] Treibel oder wo sich das Herz zum Herzen findet«: »an admirable picture of Berlin life, […] characterized by an interesting plot, as well as by some clever portraits and an attractive style«.52 Sehr positiv fällt das Urteil der Scottish 48 Ebd., S. 262. 49 Ebd., S. 362. 50 Ebd. 51 Ernst Heilborn, Germany. In: The Athenaeum 3470 (01.07.1899), S.  16–19, hier S. 16. 52 Anonym, Summaries of Foreign Reviews. In: The Scottish Review (Juli 1892), S. 180– 211, hier S.  180. Ungenauigkeiten und Missverständnisse kommen in den Besprechungen von Fontanes Texten nicht selten vor. Für eine sehr oberflächliche Kenntnis der Biographie des Berliner Autors spricht die 1893 in Das literarische Echo erschienene Rezension zu Theodor Fontane, Aus England und Schottland. Hier liest man, dass



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Review über Effi Briest aus: «a novel of exceptional interest and vigour«, der zur »lighter literature«53 [Hervorhebung A. F.] gehöre. Wie kann man sich eine solche Bemerkung erklären? Sie ist nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Wie Helen Chambers sehr treffend feststellt, gibt diese Bezeichnung »eher zu verstehen, dass das Erzählwerk der in Großbritannien stereotypischen Auffassung von deutschen Romanen als langwierige, mühsame Lektüre dankenswerterweise nicht entspricht«.54 Ähnliches liest man in dem in der Scottish Review von Januar 1895 erschienenen Beitrag, dessen Autor »the high standard of this popular writer«55 [Hervorhebung A. F.] lobt; auch diese in mancher Hinsicht Bedenken erregende Charakterisierung gehört in denselben Argumentationsgang: Fontane sei kein langweiliger, schwerfälliger Autor, seine Schreibweise sei lebhaft und auf eine europäische – lies: britische oder französische – Art ›realistisch‹. Die britischen Rezensenten scheinen sich stets bewusst zu sein, dass der deutsche Roman lange Zeit kaum mit den als mustergültig geltenden Romanen der europäischen und besonders der englischen Literatur verglichen werden konnte. Die allmähliche Verbreitung und die vertiefte Lektüre der britischen Reiseberichte rührt jedoch an die empfindlichen Seiten der britischen und der deutschen Rezensenten und Literaturwissenschaftler bezüglich der eigenen Lebensverhältnisse und der eigenen Kultur. Exemplarisch sind in diesem Zusammenhang zwei Beiträge: der eine ist 1920 erschienen; der zweite wurde 1953 in der hochkarätigen Fachzeitschrift German Life and Letters veröffentlicht. In ihrem 1920 aus deutschnationaler Perspektive verfassten und teilweise komisch-grotesk wirkenden Artikel56 ist Bertha Witt darüber entsetzt, dass Fontane in seinen Briefen eine Berliner Gesellschaft folgendermaßen beschreibt: »Ganz das alte Berlin, das man in seiner ältesten Form als eine furchtbare Mischung von Häßlichkeit und Unschönheit bezeichnen muß. Sämtliche Schönheiten dieser zwanzig Damen [der Berliner Gesellschaft, A. F.] […] wogen noch nicht eine viertel Engländerin auf. Wenn sie […] lachten, machten sie Windungen wie Laokoon unter den Schlangen. Solche Gesellschaften gibt »Fontanes fast zehnjähriger Aufenthalt in England auch für seine Entwicklung von unschätzbarem Wert gewesen [ist]«. (Richard Sternfeld, Aus Theodor Fontanes Wanderjahren. In: Das literarische Echo 6 [15.12.1893], Sp. 298–401, hier Sp. 399). 53 Anonym, Summaries of Foreign Reviews. In: The Scottish Review (April 1895), S. 380– 404, hier S. 380. 54 Chambers, Spuren von Fontane in der britischen Presse 1855–1899, S. 24. 55 Anonym, Summaries of Foreign Reviews. In: The Scottish Review (Januar 1895), S. 157– 181, hier S. 157. 56 Witt, Fontane, England und wir.

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es nur in Deutschland, und in Deutschland nur in Berlin«.57 Sie wirft Fontane »Engländerkultus«58 vor und macht keinen Hehl daraus, dass ihr eigenes Urteil ein völlig anderes sei: »Die Briten sind nicht nur das konservativste Volk, sie kultivieren auch jene Fülle von Stupidität und Ignoranz, die sie allen Kulturvölkern vorausbesitzen, jener beharrlichen Politik zufolge, daß, da sie nicht zum Krug kommen wollen, der Krug zu ihnen kommen müsse«.59 Weiter: »[W]ir haben es so weit gebracht, daß wir unsere wahren nationalen und geistigen Vorzüge leichten Herzens zu verleugnen und zu vergessen bereit sind«.60 Ein in die entgegengesetzte Richtung parteiliches Urteil ist aus dem Beitrag von Barlow61 abzuleiten, der Fontane aus seiner englischnationalen Perspektive als anglophoben Besucher betrachtet. Er fragt sich, wie er »could be so blind to English virtues and so uncharitable towards English foibles«62 und meint, dass »his denunciation of the Englishman’s alleged craze for wealth and prosperity only reveals a total misappreciation of the economic development of Britain during the early days of the Victorian era«.63 Alles in allem biete Fontane – genauso wie Heine – »an unrepresentative and much distorted picture of English life, habits and institutions«.64 Barlow legt seiner Argumentation hauptsächlich Stellen aus Das goldene Kalb (einer beißenden Kritik am britischen Materialismus und Kapitalismus) zugrunde – einem Text, den, wie oben bereits dargelegt, Fontane aus der Times fast wörtlich übernommen und in deutscher Übersetzung publiziert hatte.65 Dieser Befund war aber zum Zeitpunkt, als Barlow den Artikel schrieb, noch nicht bekannt. Sehr empfindlich zeigt sich auch Sir James Fergusson of Kilkerran, der das Vorwort zu dem 1965 erschienenen Band Across the Tweed verfasste. Er ist der Ansicht, dass die darin beschriebenen Impressionen künstlich (»prefabricated«)66 wirkten und dass die Kenntnis von Schottland oberflächlich sei; er spricht von einer »obsession of tourists with the Highlands«,67 die auf Macphersons Ossian zurückgehe. Der Text beschreibe »not a travel journey 57 Brief an seine Frau. In: Theodor Fontane, Briefe an seine Familie. Bd. 1, Berlin 1905, S. 177. 58 Witt, Fontane, England und wir, S. 301. 59 Ebd., S. 302. 60 Ebd., S. 301. 61 Barlow, Fontane’s English Journeys. 62 Ebd., S. 174. 63 Ebd., S. 172. 64 Ebd., S. 177. 65 Vgl. Charlotte Jolles, Anmerkungen. In: NFA SW 17, S. 625–616, 628–629. 66 Sir James Fergusson of Kilkerran, Introduction. In: Fontane, Across the Tweed. A tour of mid-Victorian Scotland, S. X–XV, hier S. XI. 67 Ebd., S. XII.



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but a succession of excursions recorded in episodes«.68 Fontanes Kenntnis der schottischen Geschichte sei »slight and far from accurate«69 und seine Digressionen seien unzuverlässig: »One could have wished that this cheerful traveller had given more space to describing what he saw of the life of Victorian Scotland and less to recounting unreliable history«.70 Der adlige Kommentator scheint irritiert zu sein und sein Vorwort lädt sicher nicht zur Lektüre des schottischen Reiseberichts ein.71 Sachlicher und ausgewogener ist das Vorwort der Fontane-Spezialistin Charlotte Jolles zu dem 1998 erschienenen Band Beyond the Tweed, der unter einem leicht veränderten Titel die bereits 1965 publizierte Übersetzung durch einen neuen einleitenden Aufsatz bereichert. Der Sammelband wird als »a milestone in Fontanes development as a writer […] a farewell to Romanticism« betrachtet und der preußische Autor wird als an »astute observer of the contemporary scene«72 gekennzeichnet. Außerdem betont Jolles die Rückkoppelung des Fremden an das Eigene, indem sie feststellt, dass in Beyond the Tweed Preußen als Referenzraum oft präsent sei: »Whilst acquainting the German reader with famous Scottish names he is now proud to juxtapose the famous names of his beloved homeland«.73 Auf die Beziehung zwischen den britischen und den deutschen Reiseberichten von Fontane macht Prawer in seiner im Times Literary Supplement erschienenen ausführlichen Rezension von Wanderungen durch England und Schottland aufmerksam: Fontane’s »account of his travels in Scotland is clearly a limbering up excercise for the famous Wanderungen durch die Mark Brandenburg, which it unmistakably (and at one point explicitly) foreshadows«.74 Sehr treffend spricht der Rezensent von einem ›Wiedererkennungsschock‹, den der Leser, dem die Romane von Fontane schon bekannt sind, bei der Lektüre des britischen Reiseberichtes empfinden wird: 68 69 70 71

Ebd., S. XIV. Ebd., S. XIII. Ebd., S. XIV–XV. Auch ältere englischsprachige Literaturgeschichten sind in einigen Fällen nicht zimperlich mit dem Berliner Autor umgegangen: »[T]here is some reason for the allaged pride of the ›Mark of Brandenburg‹ in him as her most remarkable poet […] His novels […] have some power and passion, which is particularly noticeable in one of his last, Effi Briest […]. But in prose and in verse alike there is something wanting. He is […] never ›on the spot‹« (George Saintbury, The Later Nineteenth Century, Edinburgh/ London 1907, S. 205). 72 Charlotte Jolles, Introduction. In: Beyond the Tweed. A tour of Scotland in 1858, S. IX– XXII, hier S. XX, XVII. 73 Ebd., S. XIX. 74 Prawer, A Prussian’s Impressions, S. 8.

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Reading the material selected by Reuter [d. h. die von diesem herausgegebenen Wanderungen durch die England und Schottland] the lover of Fontane’s novels will again and again experience a shock of recognition; he will recognize the germs, the first trial version, of scenes and conversations in such later works as Unwiederbringlich or The Stechlin.75

Wie tief der Berliner Autor dem englischen kulturellen bzw. literarischen Kontext verpflichtet sei, daran erinnert uns Prawer am Schluss des Beitrags: Der Leser »will also come to appreciate how much Fontane’s depiction of Prussian society owes to one writer, and one book, to which these pages pay a well deserved tribute: to Thackeray and his Vanity Fair«.76 Erwähnenswert sind die Versuche, Fontane nationalistisch zu vereinnahmen, und dies zu einem besonders kritischen Zeitpunkt in der europäischen Geschichte. Es sei nur ein Beispiel genannt, in dem der Rezensent auf eine paternalistische Weise Fontane als typisch deutschen Autor stilisieren möchte. In den Hamburgischen Nachrichten vom 28. Dezember 1899 werden die soeben in Berlin erschienenen Wanderungen durch England und Schottland besprochen. Obwohl der Rezensent einsieht, dass Fontane »so viel Gutes und Schönes […] aus England und Schottland zu erzählen wusste«, meint er, »er selbst hätte nie ein anderer sein mögen als ein Deutscher und mit keinem Wort verleugnete er je die ihm über alles gehende Liebe zum Vaterlande«.77 Das »südafrikanische Vorgehen« – gemeint ist vermutlich der zweite Burenkrieg, als Großbritannien nach einem Kolonialreich in Südafrika strebte – erbringe »den Beweis für die Wahrheit und Richtigkeit des Fontane’schen Urteils«78 bezüglich der Machtgier der Engländer. Und weiter: »mit Stolz empfindet man, wie Fontane […] doch immer der selbstbewusste Deutsche bleibt, der über den Glanz der Fremde niemals den Zauber der Heimath vergißt«.79 Mit »stolzer Bescheidenheit« klinge es aus dem Buch Wanderungen durch England und Schottland: »Ich bin ein Preuße«.80

IV. Schlussbetrachtung: Fontane als europäischer Autor Dass das Englanderlebnis Fontanes spätere Weltsicht wesentlich geprägt hat, kann man heute nicht bestreiten. Großbritannien stellte für ihn nicht lediglich 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Anonym, Rezension zu Theodor Fontane, Wanderungen durch England und Schottland. In: Hamburger Nachrichten 304 (28.12.1899). 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd.



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eine Schule des Realismus hinsichtlich seiner durch den Einfluss der Fremde angeregten und verfeinerten Beobachtungsgabe dar. Sicher handelte es sich auch um eine Entdeckungsreise in die englische Literatur, aber es bedeutete noch mehr. Der Ertrag seines dritten London-Aufenthalts war auch und in erster Linie eine nicht ohne Mühe erworbene Fähigkeit, zwischen den eigenen Ideen bzw. Bestrebungen und den Ansprüchen seiner Arbeitsgeber, d. h. der preußischen Regierung zu vermitteln. Es war die von Reuter als ›Eiertanz‹81 bezeichnete Einstellung, die zweifellos – wie Zimmermann sehr richtig bemerkt – in literarischer Hinsicht »eine gute Voraussetzung zur differenzierten Darstellung« war, weil sie »verhinderte, dass er eindeutige Schwarz-Weiß-Malereien vornahm«.82 Anders gesagt, wie der amerikanische Germanist Henry H. H. Remak geschrieben hat, »[he is the man] of the ›yes, but‹ and of the ›no, however‹. Noblesse oblige. Fontane’s noblesse is intelligence«.83 Seine existentiellen und publizistischen Überlebensstrategien im britischen Kontext haben zu seinem psychologischen Spürsinn und demzufolge zu der facettenreichen, komplexen und subtilen Innenwelt seiner Romanfiguren wesentlich beigetragen. Zum Schluss zwei Worte zu Fontane als internationalem, europäischem Schriftsteller. Die Dichotomie Fontane als preußischer Autor und Fontane als grenzüberschreitender, anglophiler Schriftsteller existiert nicht; ein Autor wie er, der sich am internationalen kulturellen Austausch beteiligte und der aufgrund dieser fruchtbaren Dynamik Romane schreibt, die als typisch »preußisch« gelesen und geschätzt werden, ist ein Autor der Weltliteratur; denn diese, die Weltliteratur, existiert, wie Dieter Lamping sehr treffend feststellt, »nicht neben oder über den Nationalliteraturen, sondern in ihnen«.84

81 Reuter, Zur Bedeutung und Funktion Englands für Fontanes Schaffen, S. 296. 82 Zimmermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, S. 155. 83 Henry H. H. Remak zitiert nach Peter Gay, Foreword. In: Theodor Fontane, Short Novels and Other Writings, New York 1982, S. VII–IX, hier S. VIII. 84 Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010, S. 63.

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Schottland und Italien im Spiegel von Literatur und Kunst Erika Kontulainen

I. »Der moderne Mensch« Theodor Fontane zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts, was das international gefeierte Fontane-Jahr 2019 mit seinen zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen erneut belegt hat. Bekannt ist das Bild des alten Fontane, dessen Werk die politischen, sozialen und kulturellen Geschehnisse im Preußen seiner Zeit literarisch verarbeitet. Der Romancier Fontane ist jedoch nur eines der vielen möglichen Porträts eines Literaten, der vor seinem späteren Beruf als Schriftsteller nicht nur mehrere berufliche Wege – vom Apotheker bis zum Journalisten, einschließlich unterschiedlicher Tätigkeiten wie u.  a. Auslandskorrespondent, Presseagent der preußischen Gesandtschaft in London, Kunst- und Ausstellungskritiker oder Theaterkritiker der Vossischen Zeitung – eingeschlagen hatte. Darüber hinaus hat Fontane durch sein relativ hohes Lebensalter von 78 Jahren einen beträchtlichen Teil des 19. Jahrhunderts mit seinen politischen, sozialen und technologischen Entwicklungen miterlebt. Er ist so selbst zugleich Beobachter, Teilnehmer und raffinierter Darsteller seiner eigenen, sich rasant verändernden Zeit, die in der 2018 erschienenen Fontane-Biografie von Iwan-Michelangelo D’Aprile als ein »Jahrhundert in Bewegung«1 charakterisiert wird. Besonders das moderne Reisen, ermöglicht vor allem durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Entwicklung der Dampfschifffahrt, schien Fontane ein Vergnügen zu sein. 1844 nahm der passionierte Reisende an der ersten Pauschalreise von Deutschland nach London teil;2 1873 widmete er dem modernen Reisen das kurze Prosastück Modernes Reisen. Eine Plauderei, das seinen später veröffentlichten ReiseErzählzyklus Von vor und nach der Reise (1894) einleiten sollte. 1 Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018. 2 Rudolf Muhs, Massentourismus und Individualerlebnis. Fontane als Teilnehmer der ersten Pauschalreise von Deutschland nach London 1844. In: Alan Bance, Helen Chambers et al. (Hrsg.), Theodor Fontane. The London Symposium, Stuttgart 1995, S. 159–193. https://doi.org/10.1515/9783110735710-012

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Das Bild des »modernen Menschen«3 Fontane erschließt sich somit nicht nur aus seinen Romanen und Erzählungen. Wir kennen Fontanes literarische Praktiken, die auf seine fast vierzigjährige Karriere als Journalist und damit auf seine journalistischen Schreibpraktiken zurückgreifen. Fontanes »Realismus des Journalisten«4 macht in vieler Hinsicht die Modernität Fontanes aus. In diesem Kontext kann der Auslandsreisende und Reiseschriftsteller Fontane betrachtet werden. Vor seiner Tätigkeit als Romanschriftsteller war Fontane mehrmals im Ausland unterwegs. Bis 1875 unternahm er Reisen u. a. nach England, Schottland, Dänemark, Frankreich und Italien. Mit Fontanes Reiseberichterstattungen beginnt überhaupt erst seine journalistische Karriere; mit seinen Reisefeuilletons wurde er berühmt – von den Reportagen aus England und Schottland (Ein Sommer in London, 1854; Jenseit des Tweed, 1860) über die Reiseberichte zu den Kriegsschauplätzen des Deutsch-Dänischen (1864), des Deutsch-Deutschen (1866) und des Deutsch-Französischen Krieges (1870–71) bis hin zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Reisen ist somit ein allgegenwärtiges Thema in Fontanes Leben.5 Der folgende Beitrag widmet sich Fontanes Reiseschriften mit Bezug auf seine Schottland- und Italienreisen. Sowohl Fontanes Schottlandreise von 1858 als auch seine beiden Italienreisen von 1874 und 1875 waren im Vergleich zu den meisten anderen Auslandsaufenthalten Reisen ohne Auftrag: Fontane reiste privat, obwohl seine Schottlandreise in mehreren und seine Italienreise in einem Reisefeuilleton resultierten. Stellen wir den Journalisten Fontane für den Moment etwas zurück und gehen wir näher auf den Touristen Fontane ein, der die Welt zugleich immer mit den Augen eines Poeten betrachtete. Sein schottischer Reisebericht Jenseit des Tweed: Bilder und Briefe aus Schottland (1860) und das überlieferte Material aus Italien6 bieten ein Doppelporträt einer nüchtern-realistischen und zu3 Der Begriff findet sich in Fontanes Prosastück Modernes Reisen. Eine Plauderei, das Fontanes Erzählzyklus Von vor und nach der Reise mit der Frage eröffnet, ob der »moderne Mensch, angestrengter wie er wird« (GBA I/19, S. 6), seinen Bedarf an Erholung finden kann. In diesem Aufsatz wird nach dem Wortlaut der Großen Brandenburger Ausgabe (GBA) der Werke Theodor Fontanes unter Verwendung der Siglen I (Das erzählerische Werk), IV (Das reiseliterarische Werk), V (Wanderungen durch die Mark Brandenburg) und XII (Emilie und Theodor Fontane. Der Ehebriefwechsel) zitiert. 4 D’Aprile, Fontane, S. 181. 5 Dieter Richter, Fontane in Italien. Mit zwei Städtebildern aus Fontanes Nachlass, Berlin 2019, S. 17–18. 6 Das Material aus Italien umfasst überwiegend Tage- und Notizbucheinträge sowie später verfasste Erinnerungen, die unter dem Titel »Italienische Aufzeichnungen« postum zusammengestellt und veröffentlicht worden sind. Insgesamt sind sechs Notizbücher sowie ein paar Dutzend private Reisebriefe überliefert. Ein Reisefeuilleton – Ein letzter Tag in Italien – wurde am 01.03.1875 in der Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung



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gleich subjektiv-poetischen Erfahrung des teils begeisterten, teils enttäuschten Reisenden Fontane. Es ist ein Porträt, das Fontanes Haltung gegenüber den Beschreibungen beliebter Reiseführer und standardisierten touristischen Besichtigungsprogrammen verdeutlicht. Was in den Reiseführern steht, nimmt Fontane zwar wahr, lässt sich jedoch von dem üblichen touristischen Programm nicht so leicht begeistern. Tatsächlich drückt er sowohl in Schottland als auch später in Italien sogar seine Enttäuschung über die Sehenswürdigkeiten aus – in Schottland aufgrund des Mangels an konkreten visuellen Spuren, in Italien hauptsächlich in Bezug auf die italienische Kunst. Wie wir sehen werden, lenkt diese angedeutete Enttäuschung den touristischen Blick Fontanes über das nüchtern Faktische hinaus, um stattdessen den empfindenden Menschen in seiner poetischen Begegnung mit der Welt in den Mittelpunkt zu stellen. Der Tourist, mit dem sich Fontane identifiziert, sei, wie er in seinen Wanderungen anführt, »der eigentliche Reisende, der keinen andern Zweck verfolgt, als Land und Leute kennenzulernen« (GBA V/2, S. 13). Um sich von Land und Leuten einen möglichst guten Eindruck zu verschaffen, las Fontane vor, während und nach der Reise unterschiedliche Reiseführer und -berichte sowie andere Texte über seine Reiseziele. Fontanes Reiselektüre zu Schottland und Italien ist zwar verschollen;7 als Hintergrundwissen ist jedoch in Bezug auf die Schottlandreise von Bedeutung, dass er seit seiner Kindheit ein echter Liebhaber schottischer Geschichte und Literatur war. Er war mit den historischen, mythischen und literarischen Heldenfiguren Schottlands eng vertraut, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Auslösern vor allem des literarischen Massentourismus in Schottland wurden. Dieselbe Bewunderung für Italien wie für Schottland blieb bei Fontane aus. Trotzdem waren Fontane, wie damals jedem gebildeten Deutschen, die Mythen Italiens bekannt. Durch die Berliner Kunstausstellungen war er mit der deutschen Italien-Malerei vertraut und kannte die großen Kunstgalerien Europas in Dresden, München, Paris und London. Außerdem war er mit zwei angesehenen deutschen Autoren, die über Italien schrieben, gut befreundet: mit Paul Heyse und mit seinem schottischen Reisefreund Bernhard von Lepel, dessen Lieder aus veröffentlicht. Neben Fontanes zahlreichen Italienbezügen in seinem Romanwerk plante er möglicherweise eine längere Abhandlung über Italien. 268 Blätter schrieb er nach seiner Rückkehr, die seit 1945 jedoch als vermisst gelten. Eine Abschrift wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Vgl. D’Aprile in diesem Band. 7 In Schottland dürfte Fontane den besonders einschlägigen Reiseführer Black’s Picturesque Tourist of Scotland bei sich gehabt haben. In Italien bezieht sich Fontane u. a. auf den Baedeker zu Italien, Jacob Burckhardts Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens und eventuell Ernst Försters Geschichte der italienischen Kunst. Vgl. Gotthard Erler und Christine Hehle, Anhang, GBA IV/2, S. 292; Roland Berbig, Theodor Fontane Chronik, Berlin/New York 2010, S. 1922, 1977.

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Rom (1846) Fontane gelesen hatte.8 Fontane wurde sowohl in Schottland als auch später in Italien von vorgegebenen Vorstellungen und Bildern beeinflusst. Des Weiteren kann durch die Popularisierung der Literaturgattung Reiseführer in Fontanes Zeitalter eine systematische Kanonisierung bestimmter Reiserouten und Sehenswürdigkeiten festgestellt werden. Auch Fontane hakte die empfohlenen Besichtigungs- oder Pflichtprogramme ab, besuchte die poetisch verherrlichten Stätten in Schottland, inventarisierte beflissen die italienische Kunst und praktizierte somit diese durch Literatur und touristische Lektüre vorgegebene Art des Reisens und des Betrachtens. Wie wir Fontanes Reiseschilderungen entnehmen können, wurden die touristischen Besichtigungsfahrten in raschem Tempo absolviert und waren durch eine stetige Flut an Stoff und Eindrücken geprägt. In Schottland hieß es, als Fontane die Fahrt zurück nach Edinburgh an Bord des Dampfschiffes schildert: »[Wir] kommen […] nicht mehr zu einem Festhalten all der Bilder, die an uns vorüberziehen […] es geht im Fluge daran vorüber und wir ertrinken fast im Stoff« (GBA IV/2, S. 218). Seine Eindrücke aus Rom fasst er in einem Brief mit der Aussage zusammen: »der Stoff ist endlos«.9 Die modernen Erfahrungen von Geschwindigkeit und Tempo schienen Fontane vor der Masse an Stoff besonders gefallen zu haben. In einem späteren Brief an seine Tochter Martha erinnert er sich an seine Italienreisen: Mama und ich sind vollkommen einig darüber, daß die weitaus größten Genüsse die wir in Italien gehabt haben, Fahrten aller Art: auf Eisenbahn, Dampfschiffen, Booten, in Landkutschen und Droschken und außerdem Spaziergänge waren, […] und daß alle Kunstgenüsse daneben verschwinden.10

Die neuen und schnelleren Verkehrsmittel haben das Massenreisen gefördert, das Fontane als zu »den Eigentümlichkeiten unserer Zeit« gehörend bezeichnet – »jetzt reist jeder und jede« (GBA I/19, S. 5). Wenn auch nicht unbedingt jede/r reiste, erzeugten in der Zeit des Wilhelminismus die Industrialisierung und Kapitalisierung der Gesellschaft aufseiten des aufstrebenden Bürgertums doch ein Bedürfnis nach Freizeit. Immer mehr Menschen waren in einem Angestelltenverhältnis in Büros, im Bildungswesen oder anderen gesellschaftlichen Institutionen erwerbstätig. 1873, ein Jahr vor Fontanes erster Italienreise, legten das sogenannte Reichsbeamtengesetz sowie die Tarifverhandlungen dieser Zeit die ersten Urlaubsansprüche gesetzlich fest. Der Tourismus war also schon damals eine eigene wirtschaftliche und kulturelle Branche; die Sommer8 Richter, Fontane in Italien, S. 26–27, 53. 9 Theodor Fontane an Karl Zöllner, HFA IV/2, S. 483. 10 Theodor Fontane, Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle, Berlin/New York 2002, S. 262–263.



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frische, die Spa- und Resortaufenthalte, die Pauschalreisen, der Besichtigungstourismus und der Wintersport wurden feste Bestandteile des Lebens in den bürgerlichen Schichten.11 Fontane, ein erfahrener Reisender, schildert die Nuancen des modernen Reisens und differenziert in seinem Erzählzyklus zwischen zwei unterschiedlichen Reisetypen – dem Sommerfrischler und dem Sommerreisenden –, unter denen Fontane zum letzteren gehören mochte. Während der Sommerfrischler als eher sesshaft beschrieben wird, reist der Sommerreisende, indem er sich permanent bewegt. Es herrsche ein »beständiger Wechsel von Eisenbahnen und Hotels« (GBA I/19, S. 6). Fontane schildert in seinen Reisetexten jegliche Aspekte des modernen Reisens und teilweise auch des Touristen-Daseins, die er alle persönlich und hautnah miterlebt hatte: das Leben nach Fahrplan und Reisehandbuch, das rasche Tempo, den ständigen Wechsel des Hotels. Sämtliche Komponenten erkennen wir in Fontanes schottischem Reisebericht wieder, in dem er einen intensiven, zweiwöchigen Besichtigungsmarathon schildert. Doch für den Schottland-Fanatiker Fontane ging dank der Reise in das ihm bisher nur literarisch so vertraute Schottland ein Traum in Erfüllung.

II. Fontane in Schottland Während seiner Zeit als Pressekorrespondent in London (1855–1859) unternahm Fontane im August 1858 mit seinem Freund Bernhard von Lepel eine Reise nach Schottland. Zwei Jahre später und nach der Veröffentlichung mehrerer Reisefeuilletons in verschiedenen Zeitungen erschienen seine Reiseeindrücke in Buchform unter dem Titel Jenseit des Tweed: Bilder und Briefe aus Schottland. Wir wissen nicht, ob die Reisegefährten ein Reisebüro wie Thomas Cook in Anspruch genommen hatten; dennoch waren ihre Reiserouten und Zielorte den in zeitgenössischen Reiseführern empfohlenen und standardisierten Besichtigungsprogrammen ähnlich.12 Und es sollte schnell gehen: Vor der Eröffnung des ersten grenzüberschreitenden Expresszuges der Caledonian Railway 1848 dauerte die Fahrt zwischen London, Edinburgh und Glasgow mit der Kutsche 43 Stunden. Der neue Expresszug brauchte für dieselbe Strecke nur 12,5 Stunden und war somit von zentraler Bedeutung für die Inf11 Kathrin Maurer, Mit Herrn Baedeker ins Grüne. Die Popularisierung der Natur in ›Baedekers‹ Reisehandbüchern des 19. Jahrhunderts. In: Adam Paulsen und Anna Sandberg (Hrsg.), Natur und Moderne um 1900. Räume – Repräsentationen – Medien, Bielefeld 2013, S. 89–102, hier S. 91. 12 D’Aprile, Fontane, S. 218.

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rastruktur des Tourismus.13 Angekommen in Schottland legten Fontane und Lepel in fünfzehn Tagen, zwischen dem 10. und dem 24. August, 1400 Kilometer mit Zug, Kutsche und Dampfschiff zurück14 – eine Strecke, die durch das hervorragend ausgebaute Eisenbahn- und Dampfschiffnetz in Großbritannien in solch kurzer Zeit bewältigt werden konnte. Schottland, als touristisches Reiseziel, war so gut erschlossen wie keine andere Region Europas; die Touristenströme in das Land stellen eine Frühform des Massentourismus dar.15 Der Massentourismus war zugleich die Voraussetzung für die im frühen 19. Jahrhundert vor allem durch das Zurückgreifen auf literarische Vorbilder einsetzende exzessive Romantisierung Schottlands. Der Tourismus in Schottland kann so als eine Erkundung von Raum, die durch Literatur beglaubigt wurde, beschrieben werden.16 Dazu dienten z. B. die Dichtungen von Robert Burns, William Wordsworth und Walter Scott in Verbindung mit bestimmten Sagen, Legenden und historischen Darstellungen, die mit bestimmten Lokalitäten verbunden sind. Unter den deutschen Schottland-Touristen galt das Interesse neben Walter Scott u. a. – zumindest am Anfang des Jahrhunderts – James Macphersons Mythenheld Ossian und der historischen Figur Maria Stuart, die vor allem durch Schillers Drama von 1800 bekannt wurde. Diese poetisch verklärte Vorstellung Schottlands wurde durch zeitgenössische Reiseführer verbreitet und geprägt, die bestimmte touristische Routen und Stätten kanonisierten. Schottlands industrielle Entwicklung wurde in hohem Maße von Eindrücken einer ländlich-traditionellen Region durchdrungen und von Poesie und Geschichte überschattet.17 Gleichzeitig waren die moderne Entwicklung der Infrastruktur, das kostengünstige Reisen und die Rolle, die solche Reisen für die Imagination der Touristen spielten, Anlass für eine fundamentale Spannung zwischen den Mitteln und den Zielen solcher Reisen. Obwohl Schottland eine Art Stabilität, Unveränderlichkeit und Poesie repräsentierte, die in einer industrialisierten Gesellschaft undenkbar schien, war es gerade

13 Katherine Haldane Grenier, Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia, Farnham 2005, S. 58. 14 Sie besuchten Orte wie Linlithgow, Stirling, Loch Katrine, Perth, Inverness, Culloden Moor, reisten dann von der Ostküste über den Kaledonischen Kanal zur Westküste über Oban mit Besuchen der Inseln Staffa und Iona und zurück über Loch Lomond nach Edinburgh mit einem abschließenden Besuch des ehemaligen Wohnortes Walter Scotts, Abbotsford. 15 D’Aprile, Fontane, S. 218. 16 Kristin Ott, Sublime Landscapes and Ancient Traditions. Eighteenth-Century Literary Tourism in Scotland. In: Christoph Bode und Jacqueline Labbe (Hrsg.), Romantic Localities. Europe Writes Place, London 2010, S. 39–50, hier S. 39. 17 Haldane Grenier, Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914, S. 68–69.



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diese Industrialisierung, die zum ausschlaggebenden Bestandteil des neuen touristischen Massenreisens wurde.18 Genau diese Spannung zwischen Modernität und poetischer Verklärung einer imaginierten Vergangenheit wird in Fontanes Reisebericht immer wieder thematisiert. Fontane schildert, wie mehrere dieser neuen, touristischen Orte ohne die neuen Verkehrsmöglichkeiten für ein Massenpublikum schwer erreichbar geblieben wären. Neue, zuvor unerschlossene Lokalitäten in den schottischen Highlands und an der Westküste werden von Fontane als »Schöpfung[en] der Dampfschifffahrtslinien« (GBA IV/2, S. 189) bezeichnet; zu der Schlossruine Linlithgow Palace – dem Geburtsort Jakob des Fünften und Maria Stuarts und geschildert in Scotts epischem Gedicht Marmion. A Tale of Flodden Field (1808) – bemerkt Fontane, dass sie »an der Eisenbahn die nach Glasgow führt [liegt]« (GBA IV/2, S.  87); in Bezug auf das historische Schlachtfeld Culloden Moor schreibt er, dass die »große östliche Fahrstraße nach Forres, Banff und Macduff […] mitten durch dieses Moor hindurch[führt]« (GBA IV/2, S. 172). Am Beispiel des Lochleven Castle, in dem Maria Stuart angeblich vor ihrer Flucht nach England 1568 ein Jahr lang gefangen saß – literarisch verarbeitet u. a. von Scott in seinem historischen Roman The Abbot (1820) –, reflektiert Fontane, möglicherweise etwas irritiert, dass ein Besuch am Lochleven Castle »seit vielen Jahren mein Wunsch gewesen«, im Vergleich zu dem gängigen Touristen, der sich von den unterschiedlichen Reisegesellschaften beliebig »wie ein Gepäckstück« (GBA IV/2, S. 226) treiben lässt. Als Unsitte empfindet es Fontane, wie dem Reisenden überall, auch in Schottland, von »[i] rgend eine[r] Eisenbahn- oder Dampfschifffahrt-Compagnie« praktisch »eine bestimmte Reiseroute, eine bestimmte Reihenfolge von Sehenswürdigkeiten« (GBA IV/2, S. 226) aufgedrängt wird. Was das touristische Potential der beinahe vergessenen Burgruine angeht, hegt Fontane keinen Zweifel, dass die Entrepreneurs aufgrund der gerade eröffneten Eisenbahn zwischen Edinburgh und Lochleven es schaffen werden, »den halbvergessenen Punkt wieder zu Ehren zu bringen, und mit Hilfe der Romantik die Actien steigen zu machen« (GBA IV/2, S. 226f.). Was als Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen krasser Realität und poetischer Verklärung erscheinen mag, sind für den kritischen Beobachter tatsächlich zwei Seiten derselben Münze: ohne Tourismus keine Romantik (und umgekehrt). Fontane beobachtet jedoch, wie das Schottlandbild wenigstens im Ausland weniger von Wirklichkeit als von Illusion geprägt ist: 18 Ebd., S. 50.

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Die Sache ist die, daß wir im Auslande nur die romantische Hälfte Schottlands kennen und wenig oder nichts von der Kehrseite derselben. Dichtung und Romane lesend, sind wir mit unseren Sympathieen in der Vergangenheit Schottlands stecken geblieben, während die Schotten selbst nichts ernstlicheres zu thun hatten, als mit dieser Vergangenheit zu brechen und völlig neue, völlig abweichende Berühmtheiten zu etabliren (GBA IV/2, S. 83).

Aus dem Zitat geht hervor, dass die Schotten ein im Vergleich zum Bild der stereotyp gewordenen Hochland-Romantik vielfältigeres Selbstbild pflegen. Fontane schildert in dem Zusammenhang, wie er unmittelbar vor Edinburgh auf einige Denkmäler stößt, darunter einen Tempelbau, der an die Schlacht von Waterloo und die Mitwirkung der schottischen Regimenter erinnert, ein Monument zu Ehren von Robert Burns und schließlich zwei weitere Monumente zum Andenken an den schottischen Aufklärungsphilosophen Dugald Stewart und den Mathematiker und Naturforscher John Playfair, deren Namen Fontane beide nicht bekannt sind. Ihm wird erst vor Ort klar, dass die romantische Hälfte Schottlands nur »nach außen hin einen Glorienschein, ein Ansehen« bewahrt hat, »[w]ährend im Laufe der letzten 100 Jahre der ökonomische, puritanische und prosaische Sinn der Bevölkerung die Dinge innerlich zum Besten gewandt und vor Wüstheit und unausbleiblichem Verfall gerettet hat« (GBA IV/2, S. 84). Solch eine »wüste Kraftepoche« der Vergangenheit mit ihren mittelalterlichen Highland-Kriegern, gewaltsamen Kämpfen und Clan-Schlachten, bekannt aus schottischer Geschichtsschreibung und Dichtung, musste laut Fontane wenigstens dagewesen sein, »um poetisch verherrlicht werden zu können« (GBA IV/2, S. 84). Die anachronistische Devise der Tourismusindustrie, die auf Profitbasis schottische Romantik verkauft, hat, wie die Historikerin Katherine Haldane Grenier beobachtet hat, zur Folge, dass Schottland im 19. Jahrhundert eher als ein Land der Romantik denn als ein Zentrum der Bildung und des intellektuellen Fortschritts angesehen wurde. Dass sich der Tourismus beinahe ausschließlich auf die ländliche Hochland-Romantik konzentrierte, hieß gleichzeitig, die intellektuelle und die wirtschaftliche Kraft Schottlands zu übersehen und herunterzuspielen,19 obwohl natürlich der Massentourismus zum wirtschaftlichen Aufschwung Schottlands und Großbritanniens insgesamt beigetragen hat. Aus diesem Grund sollte die Definition schottischer Identität insgesamt als ein komplexeres Gebilde betrachtet werden. Statt eine Diskrepanz zwischen dem schottischen Selbstbild im In- bzw. Ausland festzustellen, sollte davon ausgegangen werden, dass mehrere parallel existierende Schottlandbilder herrschen. Letztendlich kann aus Fontanes Beobachtungen doch herausgelesen werden, dass es tatsächlich nicht nur die Leserschaft im 19 Ebd., S. 50–51.



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Ausland, sondern auch die lokale Bevölkerung ist, die kein Problem damit zu haben scheint, das literarische und romantische Schottlandbild zu befördern. Hoteliers, »Stellwagen und Postillone, Bootsführer und Dudelsackpfeifer« (GBA IV/2, S. 226) – sie alle stellen ihre Dienste zum Wohle des Tourismus und der Gesellschaft zur Verfügung. Ein Schottlandbild im Spiegel der Literatur gibt somit Wirklichkeit in ihrer fiktiven Darstellung wieder, also eine Wirklichkeit, die es größtenteils nie wirklich gegeben hat oder die bereits in der Vergangenheit ausgelöscht wurde. Diese Einsicht könnte eine enttäuschende Wirkung auf die lesenden Touristen haben. Wie die Anglistin Nicola J. Watson festgestellt hat, gehört die Enttäuschung jedoch zur Erfahrung des Literaturtourismus dazu, gerade weil er die Fiktion zu seinem Lebenselixier gemacht hat. Zumindest verspricht der Literaturtourismus eine emotionale Erfahrung – wenn diese auch negativ sein kann.20 Auch zum Romantikbild Schottlands gehört diese Erfahrung von Enttäuschung, ausgelöst durch eine Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Realität. Fontane kann nicht immer die Orte aus seiner Lektüre wiederfinden. Die historischen Spuren auf den Schlachtfeldern bei Flodden Field und Culloden Moor sind laut Fontane eher dürftig, die von Fontane geschilderte Schlossruine Lochleven Castle ist ein bloßer Trümmerhaufen, und ein Hügel scheint das einzige Überbleibsel des ehemaligen Macbeth-Schlosses in Inverness zu sein. In der schottischen Hauptstadt Edinburgh existieren bekannte Sehenswürdigkeiten wie City Cross und das ehemalige alte Gefängnis Old Tolbooth nicht mehr, die beide durch Walter Scott bekannt wurden. Ebenso wurde der Wohnsitz von Fontanes Balladenheld Archibald Douglas zerstört. Obwohl Fontane das moderne, zukunftsorientierte Schottland der Gegenwart wahrnimmt, ist es sein Beharren gerade auf dem Unsichtbar-Imaginären und Poetischen, das seinen Reisebericht auszeichnet. Das Erzählen und Lesen historischer Anekdoten, Legenden und Poetisierungen der schottischen Landschaft macht die wirkliche Reise in Fontanes Schottland aus. Diese Literarisierung fängt schon bei der Zusammenstellung seines Reiseberichts an. Jenseit des Tweed trägt in seiner Montage unterschiedlicher historischer und literarischer Textquellen und Reiseführer (ohne jedoch diese Quellen explizit zu zitieren) in Kombination mit Fontanes eigenen Erfahrungen zur Poetisierung Schottlands bei. Fontanes Notizbuch aus Schottland ist leider nicht erhalten, aber mit Sicherheit bezieht sich Fontane auf einschlägige Reiseführer wie Black’s Picturesque Tourist of Scotland, aus dem er einzelne Sätze und Passagen übernahm. Weiter verwendete Fontane für seinen Reisebericht historische Anekdoten aus 20 Nicola J. Watson, The Literary Tourist. Readers and Places in Romantic and Victorian Britain, New York 2006, S. 132.

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Robert Chambers Traditions of Edinburgh (1824). Als literarische Quelle fungiert vor allem Walter Scott. Auch Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry und die schottische Geschichtsschreibung finden Erwähnung.21 Das poetisierte Schottland wird so das Produkt einer Montage von Literatur und imaginierter Geschichte. Diese Schreibpraxis hat Fontane von einem seiner literarischen Vorbilder übernommen: Walter Scott. Im 19. Jahrhundert war es der schottische Schriftsteller, der den literarischen Massentourismus in Schottland auslöste. Die Beliebtheit seiner historischen Romane und sein episches Gedicht The Lady of the Lake (1810) führten zu flutartigen Erkundungstouren zu den Orten, die durch Scotts Werke bekannt geworden waren.22 Kein anderer Autor spielte eine größere Rolle für die Vermarktung Schottlands – sowohl im In- als auch im Ausland – als Ort der Romantik und Geschichte.23 In seinem Walter-Scott-Essay erklärt Fontane, dass Scott derjenige war, der »dies Land zu dem gemacht, was es ist oder doch bei anderen Völkern gilt und bedeutet«; Walter Scott sei es gewesen, der »die Geschichte, die landschaftlichen Schönheiten, die Sagen und Sitten Schottlands« (NFA XXI/1, S.  419)24 erschlossen und mit poetischem Sinn aufgedeckt habe. Anlässlich seines Besuchs von Scotts Wohnhaus Abbotsford im abschließenden Kapitel seines Reiseberichts ruft Fontane aus: »Was wäre der Ruhm Schottlands ohne die Erscheinung Walter Scott’s!« (GBA IV/2, S.  255). Und es ist besonders dieser Poet, auf dessen Spuren Fontane sich bewegt. Die Bedeutung Walter Scotts für Fontanes Reisebericht kann etwa anhand Fontanes Schilderung seines Besuchs des Loch Katrine, des Schauplatzes von Scotts The Lady of the Lake, erfasst werden. Fontanes Kapitel besteht zur Hälfte aus der Nacherzählung des Gedichts. Auch wenn Fontane teilweise enttäuscht ist über den Mangel an visuellen Merkmalen – er geht etwa ein auf »das mit so viel dichterischem Aufwand geschilderte Haus des alten Douglas« (GBA IV/2, S. 139) – , ist es nicht so sehr die konkrete Lokalität als vielmehr die poetische Imagination des Ortes, d. h. Scotts Gedicht, die im Vordergrund steht. Fontane beteuert, dass man die kulturelle Signifikanz des Ortes schwer einschätzen könne, ohne Scotts Gedicht gelesen zu haben: »Um dieses Land zu verstehen und zu genießen, ist es nöthig, mit dem Inhalt der gleichnamigen Dichtung einigermaßen vertraut zu sein.« (GBA IV/2, S. 127). Solche Abschweifungen 21 Maren Ermisch, Anhang, GBA IV/2, S. 291–295. 22 Ebd., S. 274. 23 Alastair J. Durie, Scotland for the Holidays. A History of Tourism in Scotland, 1780– 1939, East Linton 2003, S. 46. 24 In diesem Aufsatz wird Fontanes Essay Walter Scott nach dem Wortlaut der Nymphenburger Ausgabe (NFA) der Werke Theodor Fontanes unter Verwendung der Sigle XXI/1 (Literarische Essays und Studien. Erster Teil) zitiert.



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sind ein gängiges Merkmal in Fontanes Reisebericht insgesamt und zeigen, wie die schottische Landschaft erst durch das Nacherzählen historischer und literarischer Ereignisse überhaupt zustande kommt und an Bedeutung gewinnt. Das Gedicht bestimmt so ebenfalls den Umfang von Fontanes Interesse am Gelände, das dort aufhört, wo keine poetische Bedeutung mehr übertragbar ist: Die Lokalität scheint eine romantische Dichtung fast wie herauszufordern, und keine Jungfrau vom See kann hier an’s Land springen, ohne auf Augenblicke für die Seejungfrau selber gehalten zu werden. […] Mit dem Moment, wo wir Ellen-Eiland passirt haben, ist das Interesse an Loch Katrine so ziemlich dahin. Die Fahrt über diesen vielbesungenen See ist wie ein Diner, das mit Champagner beginnt und nach längerem Verweilen bei schlichtem Rothwein endlich mit Zuckerwasser schließt (GBA IV/2, S. 138–139).

Ein weiteres Beispiel für die Literarisierung touristischer Stätten bei Fontane ist das Kapitel zu Flodden Field, das vornehmlich auf Scotts Marmion. A Tale of Flodden Field basiert, aus dem Fontane vor allem Scotts Fußnoten zu den historischen Ereignissen aufgreift. Auch im Kapitel zu Linlithgow zitiert Fontane aus Marmion und betont folglich die Rolle der Poesie als wahrer Ort lebendiger und guter Geschichten:25 »Die Erinnerung an diesen Tag aber haben Sage und Dichtung lebendig erhalten […]« (GBA IV/2, S. 93). Im Kapitel imaginiert Fontane den Moment vor über dreihundert Jahren, als Königin Margaret den Aufbruch ihres Ehemannes, König James des Vierten, betrauert, der 1513 mit seiner Armee in den Krieg gegen England zieht und die Schlacht von Flodden Field bestreiten sollte. Das Kapitel beschreibt somit nicht so sehr die gegenwärtige Lokalität, sondern fokussiert vielmehr die spannungsgeladene poetische Überlieferung. Solche über Dichtung, Geschichtsschreibung und Reiseführer gesteuerten Aneignungsversuche der schottischen Landschaft veranschaulichen Wege, durch die die Leser bzw. Touristen sich mit vielleicht sonst unbekannten Orten und Naturerlebnissen vertraut machen können. Obwohl Jenseit des Tweed sehr deutlich an den Wirklichkeiten der Modernisierung und einer immer größer werdenden Tourismusindustrie Anteil nimmt, überwiegt doch der Eindruck von Fontanes poetischem Interesse an der Wirklichkeit. Zwar kritisiert er die touristische Vermarktung Schottlands; am stärksten bleibt ihm jedoch das poetisch verherrlichte Schottland in Erinnerung. Noch dreißig Jahre später

25 Darüber hinaus hat Fontane u. a. Abschnitte der Unterkapitel City-Croß und Old-Tolbooth und Archibald Bell the Cat aus Scotts Fußnoten übersetzt. Vgl. Ermisch, Anhang, GBA IV/2, S. 293.

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beschreibt Fontane seine Schottlandreise als »eine der schönsten in meinem Leben, jedenfalls die poetischste, poetischer als […] alles was ich später sah«.26

III. Fontane in Italien Fontane unternahm zwei Reisen nach Italien: Im Oktober und November 1874 bereiste er Nord- und Süditalien mit seiner Frau Emilie, im August 1875 besuchte er noch einmal allein Norditalien.27 In den Gründerjahren nach der Reichseinigung 1870/71 beginnt mit der Industrialisierung eine Veränderung des Reisens: Die Eisenbahn hält Einzug, das Reisen wird schneller und bequemer. Seit 1863 gibt es eine durchgehende Verbindung von Berlin bis an den Golf von Neapel; der Italientourismus erlebt einen sprunghaften Anstieg. Fontane zählt zu den ersten deutschen Autoren, die an diesem modernen Italientourismus teilnehmen.28 Wie der eingangs zitierte Brief Fontanes verrät, bereiteten dann auch das Reisen mit den modernen Verkehrsmitteln und das ständige In-Bewegung-Sein dem Ehepaar Fontane ein besonderes und sogar mehr Vergnügen als die Kunst Italiens. Und obwohl Fontane Italien insgesamt beinahe zweieinhalb Monate und hauptsächlich der Kunst wegen bereiste, entwickelte er für Italien nicht dieselbe Begeisterung wie für Schottland. Fontanes seit seiner Jugend empfundene Faszination für die Geschichte und Literatur des Landes »jenseit des Tweed« ist mit seinem Interesse am Land jenseits der Alpen nicht vergleichbar. Fontanes literarische Vorbilder entstammen Großbritannien. Die Reisen nach Italien wirken dagegen eher wie eine Art verspätete Bildungsreise im Sinne eines Pflichtprogramms: Erst mit 54 Jahren bereiste Fontane zum ersten Mal das Land. Was auch immer die Gründe für seine Italienreisen gewesen sein mögen.29 – aus Fontanes Reisetagebüchern und Reisenotizen (teilweise auch von Emilie 26 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/3, S. 605. 27 Die erste Italienreise fand vom 30.09. bis zum 19.11.1874 statt und umfasste Aufenthalte in Venedig, Florenz, Rom und Neapel. Während der zweiten Reise, vom 03.08. bis zum 06.09.1875, besuchte Fontane Mailand, Bergamo, Gardasee, Verona, Mantua, Modena, die Toskana (Parma, La Spezia, Pisa), Genua, Bologna, Ravenna, Ferrara und Padua. 28 Richter, Fontane in Italien, S. 7–8. 29 Die neuesten Fontane-Biographien vermuten im Kontext der Annahme, dass es sich bei den Italienreisen um verspätete Bildungsreisen handelt, dass diese als Schnellläufer-Qualifikation für Fontanes Stelle an der Berliner Akademie der Künste verstanden werden können, da Italienreisen als wichtiger Bildungsnachweis im Rahmen der Aufnahme in die Akademie Pflicht waren (D’Aprile, Fontane, S.  293), und auch, dass Fontane den heimlichen Wunsch hegte, Kunstkritiker der Vossischen Zeitung zu werden; ein Amt, das damals Ludwig Pietsch innehatte (Regina Dieterle, Theodor Fontane.



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geschrieben) ist das Programm der Reise deutlich nachvollziehbar: Fontane wollte die italienische Kunst, die wichtigen historischen Gebäude, Kirchen, Kapellen und Galerien besichtigen, und zwar so, wie es in den zeitgenössischen Reiseführern für das bildungsreisende Bürgertum empfohlen wird. In der Forschung werden die Dokumente zu Fontanes Italienreisen unterschiedlich evaluiert – einerseits mögen sie Fontanes Enttäuschung über Italien und dessen Kunst ausdrücken30 und andererseits als ein »Reservoir seines Kunstdiskurses«31 gelten. Beide Perspektiven ergänzen das Bild Fontanes als eines typischen Touristen, der »mit Hilfe von Förster und Baedeker, die grün und rot aus [s]einen Seitentaschen emporwuchsen« (HFA III/3/1, S. 757),32 in raschem Tempo ein intensives Besichtigungsprogramm durchmachte, sich aber trotzdem nicht vollkommen unkritisch den vorgegebenen Routen und Sichtweisen überließ. Trotzdem ist wichtig zu beachten, dass, obwohl Fontane während seiner Reisen zahlreiche Notizen angefertigt hat, die Beschreibungen von Kunstwerken meist kurz ausfallen. Christian Grawe weist auf das stereotype Vokabular von Fontanes Kunstbeschreibungen hin, das sich meist in Urteilen wie ›schön‹, ›unschön‹, ›bedeutend‹, ›unbedeutend‹, ›langweilig‹ usw. niederschlägt und keine differenzierten Eindrücke ermöglicht. Zudem gibt Grawe konkrete Beispiele an, die Fontanes angeblich nicht vorhandene ästhetische und kunstgeschichtliche Perspektive aufzeigen, weshalb er ihm insgesamt ein defizientes Kunsturteil attestiert.33 In einem Brief aus der Zeit seiner zweiten Italienreise stellt Fontane dementsprechend fest: »[I]ch habe für diese Renaissance-Formen gar kein Organ«.34 Hier muss allerdings bemerkt werden, dass es nicht Fontanes Absicht war, in Italien den Kunsthistoriker zu spielen; seine niederge-

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Biografie, München 2018, S. 544). Vgl. auch D’Apriles weitere Auseinandersetzung mit Fontanes Verhältnis zu Italien in diesem Band. Vgl. Domenico Mugnolo, Theodor Fontanes italienische Reisen im Lichte der Wandlung des deutschen Italienbildes im 19. Jahrhundert. In: Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011, S.  141–163, hier S.  158; Richter, Fontane in Italien, S. 55. Liselotte Grevel, Italien in der Prosa Fontanes. Vom (post)romantischen zum zeitkritischen Bild des Landes in Fontanes Romanen. In: Fischer und Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, S. 101–115, hier S. 103. Siehe auch Lilo Grevel, Fontane in Italien. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 36/4 (1986), S. 414–432. In diesem Aufsatz wird Fontanes Feuilleton Ein letzter Tag in Italien nach dem Wortlaut der Hanser Ausgabe (HFA) der Werke Theodor Fontanes unter Verwendung der Sigle III/3/1 (Reiseberichte und Tagebücher) zitiert. Christian Grawe, ›Italian Hours‹. Theodor Fontane und Henry James in Italien in den 1870er Jahren. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 276–294, hier S. 285–290. Theodor Fontane an Emilie Fontane, GBA XII/3, S. 57 (Hervorhebung im Original).

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schriebenen ersten und meist spontanen Ein- und Ausdrücke waren vielmehr für seine privaten Notizbücher entstanden. Die teilweise enttäuschenden Eindrücke, die Fontane während der Reisen sammelte, können aus seinen wiederholten, scheinbar ratlosen Äußerungen zu unterschiedlichen Kunstwerken herausgelesen werden. Diese seien »ziemlich intereßlos«,35 »lassen kalt«,36 seien »ohne Wirkung auf mich«.37 In diesem Kontext übt Fontane außerdem Kritik an seinen Reise- und Kunstführern. Er stellt mangelnde Informativität fest, der er durch eigene Notizen abhilft. Die Fresken im trojanischen Saal des Palastes Corte reale in Mantua sowie viel Sehenswertes im Dom zu Pisa bekämen unverdient keine Aufmerksamkeit: »Weder Förster noch Burckhardt erwähnt dieser Fresken, die den ganzen Saal füllen«.38 und: »Siehe meine Notizen im Baedeker; alles was er angibt, hab ich gesehen; doch fehlen viele Sachen«.39 Oder die räumlichen Angaben stimmen zum Teil nicht: »Baedeker gibt dies nicht genau; man merkt immer: es ist von Personen geschrieben, die es aus Büchern und nicht aus dem Augenschein genommen haben«.40 Auch kann er die Begeisterung für manche Künstler nicht teilen. Dies verdeutlicht etwa sein Kommentar, er würde an einigen Porträts in der Galerie der Uffizien in Florenz »mutmaßlich vorübergehn, wenn mir nicht der Katalog zuriefe: ›halt, sie sind von Raphael‹«.41 Vielleicht ist es gerade diese Enttäuschung und teilweise sogar Frustration, die eine spezielle Seite Fontanes und seiner Auseinandersetzung mit der italienischen Kunst(welt) sichtbar macht – eine persönliche und poetische Seite, die wie in Schottland so auch in Italien der nüchternen Realität und (manchmal fehlerhaften) faktisch-reduzierten Welt eines Baedeker entgegenwirkt. Fontane besichtigt unzählige Kunstwerke und hält seine Beobachtungen fleißig in seinen Reisenotizbüchern durch listenartig angelegte Inventarien fest. Und dennoch findet sich neben diesen Listen und kürzeren Notizen gelegentlich auch Raum für persönliche Betrachtungen zu den italienischen Kunstwerken, die ein Licht auf Fontanes subjektive Wahrnehmung werfen und so den Normen touristischer Wahrnehmung entgegenstellt werden können. Vor diesem Hintergrund kann Lilo Grevels These verstanden werden, dass Fontane in Italien einen eigenen, subjektiven Kunstgeschmack entwickelt habe, der ebenfalls Verwandtschaften mit seinen Theaterkritiken und späteren Romanfiguren 35 36 37 38 39 40 41

Italienische Aufzeichnungen, Tagebucheintrag vom 11.10.1874, HFA III/3/2, S. 967. Ebd., Erinnerung zum 11.10.1874, S. 968. Ebd., Notizbucheintrag zum 31.10.1874, S. 997. Ebd., Erinnerung zum 16.08.1875, S. 1040. Ebd., Notizbucheintrag zum 20.08.1875, S. 1057. Ebd., S. 1062. Ebd., Tagebucheintrag vom 11.10.1874, S. 967.



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aufzeige.42 Hier muss jedoch bemerkt werden, dass Fontanes kurze Reisenotizen eher skizzenhafte als programmatische Aussagen über Fontanes Kunstverständnis zulassen. Zwei Beispiele möchte ich dennoch hervorheben – Fontanes Beschreibungen zweier Fresken des Camposanto in Pisa sowie des Freskos Die streitende und die triumphierende Kirche in der Basilika Santa Maria Novella in Florenz. Der Camposanto scheint für Fontane von besonderem Interesse gewesen zu sein: »Das Campo Santo bietet den Stoff für wochenlanges Studium; einzelne seiner Fresken sind durch innerlichen Gehalt ersten Ranges«.43 Mit vermutlich großer Bewunderung beobachtet Fontane den Gehalt oder vielleicht den ›Erzählstoff‹ beider Fresken, Triumph des Todes bzw. Weltgericht, und wie sie mehrere kontrastbildende Szenen darstellen, die zu Spannungen im Bild führen. Den Triumph des Todes nennt Fontane eine »[w]underbar großartige Leistung«, dessen Inhalt er wie folgt zusammenfasst: »›Der Tod, der dem Wohllebenden Entsetzen bereitet, ist dem Elenden und Entsagenden willkommen‹«.44 Die im Bild veranschaulichte dynamisierende Kontrastierung von Himmel und Hölle, Gut und Böse, Leben und Tod, Frömmigkeit und Elend wird von Fontane besonders hervorgehoben. Das zweite Fresko, Weltgericht, bezeichnet Fontane ebenfalls als genial, nicht nur durch die gelungene Darstellung der Maria und des Heilands und den »wundervollen Ausdruck Beider in Mienen und Haltung«45 sowie den »Reichtum der Charakteristik«46 bei der Porträtierung, sondern erneut durch die Kontrastierung und Spannung im Bild, dargestellt etwa in der »Gruppe derer die voll schlechten Gewissens und deshalb in der entsetzlichen Pein der Ungewißheit sind, ob es nach rechts oder nach links mit ihnen gehen wird«.47 Eine solch anschauliche Darstellung von Gewissenskonflikten verdeutlicht laut Grevel, was Fontanes eigentliches Anliegen in Italien sein wird: das Entdecken einer mit der deutschen Ausdruckskunst der Reformationszeit vergleichbaren Konfliktkunst, »die die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit in den Gewissenszwiespalt oder in eine extreme existentielle Situation verlegt oder aus ihr heraus entstehen läßt«.48 Es ist nach Grevel gerade diese Technik des Kontrastes, die Fontane später am zeitgenössischen Theater anziehen und Bestandteil seines Romanwerks wird.49 42 Grevel, Fontane, S. 415. 43 Italienische Aufzeichnungen, Tagebucheintrag vom 20.08.1875, HFA III/3/2, S. 1067. 44 Ebd., Erinnerung zum 20.08.1875, S. 1065. 45 Ebd., Notizbucheintrag zum 20.08.1875, S. 1066 (Hervorhebung im Original). 46 Ebd., S. 1067. 47 Ebd., S. 1066. 48 Grevel, Fontane, S. 418. 49 Ebd.

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Schließlich erläutert Fontane das Wandbild Die streitende und die triumphierende Kirche in Florenz und seine überwältigende Wirkung auf ihn; durch seine Fülle nebeneinandergestellter und gleichberechtigter Gestalten behindere das Bild jedoch »eine volle künstlerische Erhebung« (HFA III/3/1, S. 758, Hervorhebung im Original). Fontane erklärt dieses Hindernis mit dem Fehlen an dargestellter Innigkeit, die bei der Ansicht solcher mächtigen Wandbilder keine entsprechende Empfindung wecken kann: »Wir stehen vielmehr wie vor modern-historischen Bildern. Trotz all des künstlerisch-allegorischen Apparats, der in Szene gesetzt wird, ist es doch das Zeitgeschichtliche, der Tageshergang, der vornehmlich das Interesse weckt.« (HFA III/3/1, S. 758, Hervorhebung im Original). Fontanes Interesse gilt also eher dem Inhalt und dem Geschehen – den Kämpfen und dem Sieg des Dominikanertums – als der komplexen Gesamtkomposition des Bildes. Darüber hinaus erläutert er die damalige Begeisterung am Schaffen und die Freiheit der Kunst, die keine moderne Kunstkritik kannte und somit uneingeschüchtert »Allegorisches und Historisches, Kirchliches und Weltliches, Erhabenes und Satirisches scharf nebeneinander [stellte]«; die Kunst »stieg in den Himmel auf und aus ihm nieder« (HFA III/3/1, S. 758). Auch hier erkennen wir die künstlerische Technik des Kontrastes wieder, die Fontane in seinem Feuilleton jedoch nicht so explizit wie bei den Fresken des Camposanto hervorhebt. Fontane sucht nach einer historischen Realität Italiens voller »menschlichpsychologischer Momente«50 im Spiegel der Kunst des Landes, vornehmlich seiner Gemälde. Sein Anspruch ist jedoch nicht der eines Kunsthistorikers, sondern eines Poeten, der auf künstlerische Szenen aufmerksam macht, welche die Widersprüchlichkeiten unserer menschlichen Existenz reflektieren und die, wie wir bei Fontane beobachten, ein Nachdenken über die Wirkung solcher Kunst auf den Menschen veranlassen – möglicherweise vergleichbar mit den Widersprüchlichkeiten und Wirkungen innerhalb der fontaneschen Romanwelten. Schließlich schildert diese subjektive Auseinandersetzung mit der italienischen Kunst, sei sie nun von Enttäuschung oder Begeisterung geprägt, einen, wenn man will, souveränen Touristen Fontane, der teilweise unabhängig von den Normen touristischen Betrachtens und Beurteilens, wie sie durch die immer stärker wachsende Tourismusindustrie vorgeschrieben werden, handelt. Fontane ist ein kritischer Beobachter, der gleichzeitig dem Telos der frühen Ausgaben von Baedekers Handbuch für Reisende in Italien zu folgen scheint, das den modernen Italienreisenden im Sinn hat: Erste Aufgabe des vorliegenden Buches ist, die Unabhängigkeit des Reisenden so viel wie möglich sicher zu stellen, […] ihm behülflich zu sein, auf eigenen Füssen zu stehen, ihn frei zu

50 Ebd., S. 416.



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machen, und ihn so zu befähigen, mit frischem Herzen und offenen Augen alle Eindrücke in sich aufzunehmen.51

Diese Betonung der »Unabhängigkeit«, Freiheit und des individuellen Empfindens des Reisenden klingt in einem Brief desselben Jahres von Fontane aus Neapel nach: Nichts ist rarer als innerliche Freiheit den Erscheinungen des Lebens und der Kunst gegenüber, und der Muth eine selbstständig gehabte Empfindung auch auszusprechen. […] Die in die Reisebücher aufgenommenen Kunsturtheile, oft von sehr berühmten Leuten, wirken meistens unsagbar abgeschmackt. Man fühlt, daß die betreffenden Herrn wenig gefühlt und wenig gewußt, und in dieser Verlegenheit sich mit öden Redensarten aus der Affaire gezogen haben.52

Laut Kathrin Maurer schaffen Reiseführer wie der Baedeker bürgerliche Möglichkeitsräume, in denen sich ein kollektives Massenvergnügen entwickeln kann.53 Obwohl Fontane das kollektive Massenreisen insgesamt genossen hat – jedenfalls suggerieren dies seine zahlreichen Reisen und Reiseschriften –, scheint ihn das standardisierte Massenvergnügen weniger gefesselt zu haben. »Das was Baedecker nicht nennt, gefällt einem am besten«,54 schreibt Fontane in Italien. Der Bereitwilligkeit Fontanes, sich auf Reisen führen zu lassen, tritt somit insgesamt das Bestreben an die Seite, die eigene, individuelle Sichtweise und Urteilskraft zu achten. Seine kritisch-ergänzenden Reflexionen aus Schottland und Italien schaffen Freiräume, in denen der Tourist Fontane einen subjektiven, zum Teil poetischen Zugang zu den Gegenständen seiner Reisen präsentiert. Durch seine Kritik an den Reiseführern zeigt Fontane damit de facto eine Haltung, die, wie soeben dargestellt, die »[e]rste Aufgabe« des Baedeker spiegelt.

51 Karl Baedeker, Mittel-Italien, 1874, S. V., zitiert in Richter, Fontane in Italien, S. 14. 52 Theodor Fontane an Karl Zöllner, HFA IV/2, S. 486. 53 Maurer, Mit Herrn Baedeker ins Grüne, S. 92. 54 Italienische Aufzeichnungen, Notizbucheintrag zum 23.08.1875, HFA III/ 3/2, S. 1082.

III  Grenzen und Grenzüberschreitung in Sprachreflexion und Textkonstitution

Stechlinsee und Schmetterlingseffekt Theodor Fontanes Sprachauffassung und das ›tout-se-tient‹Prinzip in seinem Roman »Der Stechlin« Marina Foschi Albert Theodor Fontanes Interesse für den ästhetischen Wert der menschlichen Sprache und den sozialen Wert sprachlicher Kommunikation kommt in seiner Tätigkeit als Schriftsteller und in seiner bekannten Erzähltechnik der Causerie deutlich zum Vorschein.1 In seinem literarischen Werk, vor allem aber in seinem letzten Roman Der Stechlin, kommen zahlreiche Stellen vor, in denen die Romanfiguren Aussagen über Wortwahl, Sprachgebrauch und Sprachwandel machen. Fontanes Interesse für die Sprache ist von der Forschung aus mehreren Blickwinkeln wahrgenommen worden – u. a. als Erzählstil und Gesprächstechnik2 oder in Zusammenhang mit der verbreiteten Sprachskepsis seiner Zeit.3 Seine Sprachauffassung an sich hingegen ist bis heute noch nicht systematisch untersucht worden. Die hier vorgelegte Untersuchung versucht, diese bestehende Lücke mindestens teilweise zu füllen. Der Beitrag ist in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten Abschnitt wird das tout-se-tient-Prinzip als Indiz der möglichen Korrelation zwischen den »Fast«-Zeitgenossen Fontane und Ferdinand de Saussure betrachtet. Im zweiten wird aus den Gesprächen der 1

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Heiko Strech, Theodor Fontane: Die Synthese von Alt und Neu, Berlin 1970, S. 48‒49. Unter den neueren Arbeiten: Gerhard Neumann, Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch, Freiburg i. Br./Berlin 2011; Thomas Pfau, Metasprache und Bilderfahrung in ›Der Stechlin‹. In: The German Quarterly 86/4 (2013), S. 421‒443; Dagmar Schmauks, Zeichen, die lügen – Zeichen, die ausplaudern. Linguistische und semiotische Einsichten im Romanwerk Theodor Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 2: Sprache; Ich; Roman; Frau. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 41‒54. Michael Masanetz, »Die Frauen bestimmen schließlich doch alles« oder die Vorbildlichkeit des Bienenstaates. Vom (un)heimlichen Niedergang männlicher Macht und der Macht der Liebe im ›Stechlin‹. In: Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, S. 187‒200, hier S. 191. Liselotte Grevel, Die ›sanfte Vergewaltigung‹ im Wort. Der Held im Kräftespiel zwischen Wort und Handlung in Fontanes Erzählung ›Schach von Wuthenow‹. In: Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Würzburg 2000, S. 55‒67, hier S. 55.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-013

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Stechlin-Figuren Fontanes Sprachauffassung rekonstruiert und deren Hauptpunkte inhaltsähnlichen Grundsätzen aus Saussures Cours gegenübergestellt. Im dritten wird auf das im Stechlinsee-Motiv versinnbildlichte tout-se-tientPrinzip und auf seine Funktion im Roman fokussiert, wobei aufgezeigt wird, dass sich das heutige, auf demselben Prinzip beruhende Modell des »chaotischen Systems« im Stechlin auf mehreren Strukturebenen nachvollziehen lässt.

I. Fontane, Saussure und das tout-se-tient-Prinzip im ausgehenden 19. Jahrhundert Dem natürlichen, nahe der Nordgrenze des Landes Brandenburg liegenden Stechlinsee schreibt Theodor Fontane in einem Briefentwurf vom Mai/Juni 1897 an Adolf Hoffmann aus Berlin die Fähigkeit zu, die komplexe und geheimnisvolle Interrelation der Natur- und Weltphänomene durch eigene Zeichen zu signalisieren: Dieser See, klein und unbedeutend, hat die Besonderheit, mit der zweiten Welt draußen in einer rätselhaften Verbindung zu stehen, und wenn in der Welt draußen ›was los ist‹, wenn auf Island oder auf Java ein Berg Feuer speit und die Erde bebt, so macht der ›Stechlin‹, klein und unbedeutend, wie er ist, die große Weltbewegung mit und sprudelt und wirft Strahlen und bildet Trichter.4

Auch im Roman wird der Stechlinsee auf ähnliche Weise beschrieben: als ein Naturelement, das durch einen eigenen Zeichencode kommuniziert und in stetiger Beziehung mit den anderen Elementen ist. Somit erscheint er als Versinnbildlichung des Alles-hängt-mit-allem-zusammen-Prinzips. Im sprachwissenschaftlichen Diskurs der Zeit konnte das Prinzip des toutse-tient (›alles hängt mit allem zusammen‹) in eine moderne Sprachtheorie integriert werden. Dies führt zu einer Frage, die sich als faszinierende, wenn auch gewagt-herausfordernde Hypothese versteht, nämlich ob Saussures Theorien auch in Fontanes Reflexion über Sprache eine Rolle gespielt haben könnten. Die Frage wird dadurch legitimiert, dass Fontane und Ferdinand de Saussure »fast« Zeitgenossen waren. Saussures Cours de linguistique générale (dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft)5 wurde erst im Jahr 1916 von seinen ehemaligen Studenten Charles Bally und Albert Séchehaye (gemeinsam mit anderen) herausgegeben. 4 Hugo Aust (Hrsg.), Theodor Fontane. ›Der Stechlin‹. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1985, S. 86. 5 Zitierte Ausgabe: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Oliver Jahraus, übersetzt von Ulrich Bossier, Stuttgart 2016.



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Seine sprachwissenschaftlichen Theorien, darunter das tout-se-tient-Prinzip, entstanden aber ungefähr in denselben Jahren wie der große, postum (1898) erschienene Altersroman Fontanes.6 Saussure war Student in Leipzig in den späten 1870er Jahren, genau in der Zeit, als die Junggrammatiker eine heftige Polemik gegen die Methoden der »alten« Sprachwissenschaftler ausgelöst hatten, mit dem Ziel, eine neue positivistische Ausrichtung in der Indoeuropäistik einzuführen. Ihre innovativen Theorien über den phonetischen und morphologischen Wandel, ihre Prinzipien von Sprache als System und Erzeugnis, ihre Unterscheidung von Synchronie und Diachronie mündeten zweifelsohne in Saussures Cours und wurden darin systematisiert. 7 Es ist ein großes Verdienst des Cours, neue Theorien, die im sprachwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit zirkulierten, einer großen Leserschaft bekannt gemacht zu haben. Nicht alle Gedanken, die im Cours enthalten sind, darunter die Stellung der Sprache als System (langue) innerhalb der »Gegebenheiten von Sprache überhaupt« (langage), die Unterscheidung zwischen der abstrakten Dimension der Sprache (langue) und der »Rede« als individuelle Sprachverwendung (parole), sowie die Gegenüberstellung von synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft gehen direkt auf Saussure zurück.8 Dies gilt auch für das tout-se-tient-Prinzip. 6 Saussures Gedanken über Sprache als System sind bereits in seinem Frühwerk Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes (1879) über die vergleichende Grammatik enthalten, in dem er die Existenz »semantischer Koeffizienten« postuliert, die erst nach der Entdeckung der hethitischen Sprache empirisch festgestellt werden konnten (vgl. Reinhard Sternemann, Hethitologie und historischvergleichende Sprachwissenschaft. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 34 [1981], S. 458‒467, hier S. 458‒459). Seine Intuition über Sprache als ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken, hätte Saussure in einem Werk der theoretischen Sprachwissenschaft systematisieren wollen (vgl. Klaus Schubert, Die Schmitt’sche Omnidependenzthese. Ein Streifzug. In: Anne-Kathrin D. Ende, Susann Herold et al. (Hrsg.), Alles hängt mit allem zusammen: Translatologische Interdependenzen. Festschrift für Peter A. Schmitt, Berlin 2013, S. 31‒44, hier S. 40. Aus diesem Plan entstand dann bekanntlich kein eigenes Buch, vielmehr die Genfer Vorlesungen der Jahre 1907‒1911, die als Basis für den Cours de linguistique générale dienten. 7 Für die Junggrammatiker geschieht phonetischer Wandel unbewusst, unabhängig vom Willen der Sprecher, und nach regulären »Gesetzen«, die keine Ausnahmen zulassen. Der morphologische Wandel wird durch die Analogie stark beeinflusst: Die Sprecher führen die Regelmäßigkeit in der Grammatik wieder ein und gestalten Formen um, indem sie ihr Aufeinanderbezogensein stärker berücksichtigen (Anna Morpurgo Davies, Saussure and Indo-European Linguistics. In: Carol Sanders [Hrsg.], The Cambridge Companion to Saussure, Cambridge 2004, S. 9‒29, hier S. 16). 8 Lucio D’Arcangelo, Ferdinand de Saussure, il linguista «senza qualità». In: The Global Review 28 (2018), http://theglobal.review/it/cultura/linguistica/ferdinand-de-saussure-il-linguista-senza-qualita/, zuletzt aufgerufen am 20.07.2020.

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Die Vorstellung von Sprache als zusammenhängendes System formuliert Saussure wie folgt: »Die Sprache ist also ein System, dessen Terme allesamt solidarisch sind, d. h. einander bedingen, und in dem der Wert des einen sich einzig aus dem Vorhandensein der anderen ergibt […]«.9 Die sprachlichen Elemente im System, die hier Terme – als Synonym für Wörter,10 genannt werden, sind linear verkettet, wie das hinzugefügte Schema zeigt:11

Die berühmte tout-se-tient-Formel ist im Cours eigentlich nicht enthalten, zumindest taucht sie nicht wörtlich auf.12 Wortwörtlich kommt die Formel im Werk des Sprachwissenschaftlers Antoine Meillet Introduction à l´étude comparative des langues indo-européennes (1903) vor,13 wie das folgende Zitat zeigt: »Comme pour tout autre langue, les différentes parties du système linguistique indoeuropéen forment un ensemble où tout se tient […]«.14 Es kann vermutet werden, dass Saussure die Formulierung im Seminar verwendet hat und dass »seine Musterstudenten aus der ersten Reihe« sie aufgeschrieben haben.15 Jedenfalls erscheint eine ähnliche Vorstellung in mehreren linguistischen Werken der Jahrhundertwende, u. a. im Hauptwerk des Sinologen und Sprachwissenschaftlers Georg von der Gabelentz (Die Sprachwissenschaft, 1891): »Jede Sprache ist ein System, dessen sämmtliche Theile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Theile dürfte fehlen oder anders sein, ohne dass das Ganze verändert würde«.16 Als Saussure sein Studium der vergleichenden Linguistik (das er im Jahr 1881 abschloss) in Leipzig und für eine kürzere Zeit auch in Berlin absolvierte, hätte eine Begegnung mit Fontane stattfinden können, obwohl recht unwahrscheinlich ist, dass sich eine persönliche Bekanntschaft zwischen dem jungen Studenten und dem älteren Dichter tatsächlich ereignete. Durchaus plausibel hingegen ist jedoch, dass 9 de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 67‒68. 10 Ebd, S. 17. 11 Ebd., S. 68. 12 Schubert, Die Schmitt’sche Omnidependenzthese. Ein Streifzug, S. 39. 13 Antoine Meillet, Introduction à l´étude comparative des langues indo-européennes, Paris 1903, zitiert nach Schubert, Die Schmitt’sche Omnidependenzthese. Ein Streifzug, S. 39. 14 Ebd. »Wie jede andere Sprache bilden die verschiedenen Teile des indogermanischen Sprachsystems ein Ganzes, in dem alles zusammenhängt […].« Meine Übersetzung. 15 Ebd. 16 Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leipzig 1891, S. 481.



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Fontane Gelegenheit hatte, in den Intellektuellenzirkeln Berlins bestimmte Vertreter der Junggrammatiker, darunter vermutlich Karl Brugmann, H. Osthoff, W. Braune, E. Sievers, Hermann Paul,17 kennenzulernen und etwas von ihren innovativen Gedanken über Sprache zu erfahren. Der Frage, ob auch Fontanes Reflexion über Sprache Züge von Modernität erkennen lässt, wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.

II. Fontanes Sprachauffassung im Licht von Prinzipien der modernen Sprachwissenschaft Im vorliegenden Abschnitt werden einige zentrale Merkmale der Sprachauffassung Fontanes aus den metasprachlichen Aussagen der Romanfiguren im Stechlin-Roman rekonstruiert und unter vier Punkten klassifiziert, die an Grundlagen der Theorie Saussures denken lassen: 1. Arbitrarität und Konventionalität der Sprachzeichen; 2. Veränderlichkeit der Sprache; 3. das »solidarische« tout-se-tient-Prinzip; 4. Sprachzeichen als Zauberkunst.18

II.1 Arbitrarität und Konventionalität der Sprachzeichen Das Prinzip der Arbitrarität des Zeichens gründet bei Saussure im Gegensatz von Signifikant und Signifikat. Für Saussure ist das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, nicht motiviert: da wir unter »Zeichen« ein Ganzes verstehen, das sich aus der Assoziation eines Signifikanten mit einem Signifikat ergibt, können wir auch vereinfacht sagen: Das sprachliche Zeichen ist arbiträr. / Der Begriffsinhalt von sœur [›Schwester‹] ist durch keine innere Beziehung mit der Lautfolge

17 Herman Lommel, Vorwort zur deutschen Übersetzung. In: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, übersetzt von Herman Lommel, Berlin 1967, S. V‒VII, hier S. VI. 18 Zitate aus Theodor Fontanes Der Stechlin (1898) werden nach der Aufbau-Ausgabe des Romans unter der Sigle ›St‹, gefolgt von der Kapitel- und Seitenzahl, wiedergegeben. Theodor Fontane, Der Stechlin, Berlin/Weimar 1984. Die Grundfragen der Sprachwissenschaft bestehen für de Saussure aus drei allgemeinen Prinzipien, die im ersten Teil des Cours (St, Kap. I–III) dargelegt werden: 1. die Natur des sprachlichen Zeichens; 2. die Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Zeichens; 3. die statische und evolutive Linguistik. Der Gegenstand der synchronischen Linguistik – Sprache als zusammenhängendes Zeichensystem – wird im zweiten Teil des Cours (St, Kap. IV‒VI) behandelt: 4. der sprachliche Wert; 5. Syntagmatische und assoziative Beziehungen; 6. der Mechanismus der Sprache. Die hier genannten zwei ersten Prinzipien lassen sich vor allem im ersten Teil, St, Kap. 1 und 2, die zwei letzten im zweiten Teil, St, Kap. 4 nachvollziehen.

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s-ö-r verbunden, die ihm als Signifikat dient; genauso gut könnte irgendeine andere Lautfolge ihn darstellen; dies beweist die Tatsache, dass die Dinge in anderen Sprachen anders heißen, ja schon der Umstand, dass es überhaupt verschiedene Sprachen gibt.19

Hinsichtlich des Inhalts, den es wiedergibt, gehorcht das Zeichen keiner Bindung. Es ist jedoch der Sprachgemeinschaft auferlegt, die es gebraucht. Synchronisch betrachtet, ist die Beziehung von Inhalt und Ausdruck konventionell und unveränderlich.20 In Fontanes Werk, insbesondere im Altersroman, ist eine allgemeine Vorstellung darüber vorhanden, dass Wörter beliebige Zeichen sind, die innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft eine konventionelle Bedeutung widerspiegeln. Die Stechlin-Figuren werden durch ihren Sprachgebrauch charakterisiert. Manchen Figuren, die dem konventionellen »Wortlaut« folgen und sich durch ihre Rede als an die damaligen dominanten Diskurse angepasst erweisen, werden andere gegenübergestellt, die Sprache nicht konventionsgemäß anwenden. Beispiele für die erste Gruppe sind formelle und steife Charaktere wie Woldemar, Armgard, Rex, Adelheid. Zur zweiten Gruppe gehören leidenschaftliche, phantasievolle Figuren wie Czako, Dubslav und Melusine. Ein Beispiel dafür ist der unterschiedliche Gebrauch von Redewendungen durch Dubslav und Woldemar (vgl. St, Kap. 5, S. 45–46 und weiter unten in dieser Arbeit). Der Kontrast zeigt sich deutlich auch in den Zankereien zwischen Woldemar und Czako. So sagt z. B. der erste: Wenn Ihnen das Wort anstößig ist, so können Sie sie auch Monolithe nennen. Es ist merkwürdig, Czako, wie hochgradig verwöhnt im Ausdruck Sie sind, wenn Sie nicht gerade das Wort haben (St, Kap. 2, S. 15).

Woldemar meint, sein Freund Czako – »hochgradig verwöhnt im Ausdruck« – ziele auf den genauen Ausdruck hin, was aber nicht der Fall zu sein scheint. Czako macht einen spielerischen und kreativen Gebrauch von der Sprache, spricht durch Andeutungen, produziert amüsante Vergleiche, wie z. B. neugierig wie ein Backfisch (St, Kap. 10, S. 99), bildet neue Wörter, wie z. B. das Adjektiv wallfahrtartig (St, Kap. 10, S. 95). Als Woldemar Fräulein von Schmargendorf wissen lässt, dass sie Czakos Namen verwechselt hat, bemerkt dieser: »Lieber Stechlin«, begann er, »ich beschwöre Sie um sechsundsechzig Schock sächsische Schuhzwecken, kommen Sie doch nicht mit solchen Kleinigkeiten, die man jetzt, glaub ich Velleitäten nennt. Wenigstens habe ich das Wort immer so übersetzt. Czako, Baczko, Baczko, Czako – wie kann man davon soviel Aufhebens machen. Name ist Schall und Rauch, siehe Goethe, und Sie werden sich doch nicht in Widerspruch mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus« (St, Kap. 7, S. 81).

19 de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 29. 20 Ebd., S. 34.



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Czako zitiert dabei die zur Redewendung gewordenen Worte Name ist Schall und Rauch aus Faust I: Nenn es dann, wie du willst, Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut (Z. 3453–3458).21

Im Faust-Zitat wird die konventionelle Zuordnung von Form und Bedeutung thematisiert. In Marthens Garten (Z. 3413–3414) will Gretchen von Faust das Konventionelle hören: dass er an Gott glaubt. Davon erhofft sie sich Sicherheit: Ein »herzlich guter Mann« (Z. 3415) entspricht der allgemeinen Vorstellung von einem Menschen, der an Gott glaubt: Man muss daran glauben, meint sie (Z. 3421). Faust verweigert es ihr: Dass einer gut ist, können Worte nicht beweisen (»Laß das, mein Kind! du fühlst, ich bin dir gut«, Z. 3418). An der zitierten Stelle des Romans wird aber die Reflexion über das Verhältnis von Namen (bzw. Wörtern) und Wirklichkeit, welche das Faust-Zitat hätte hervorrufen können, nicht vertieft. Im Stechlin-Roman geht es ansonsten um bestimmte Wortklassen, darunter Fremd- und Fachwörter, die anscheinend einen genauen Sinn vermitteln. Diese Wortklassen werden bevorzugt von denjenigen Romanfiguren verwendet, die einen konventionellen, zur damaligen Zeit als modisch geltenden Gebrauch der Sprache vornehmen, Wörter bewusst und genau verwenden. So hat sich beispielsweise Rex, der zu dieser Figurengruppe gehört, einen bestimmten Fremdwortschatz als Teil seines »Aktendeutschen« angeeignet: »Stabilierung« zählte zu Rex’ Lieblingswendungen und entstammte jenem ausgewählten Fremdwörterschatz, den er sich – er hatte diese Dinge dienstlich zu bearbeiten gehabt – aus den Erlassen König Friedrich Wilhelms I. angeeignet und mit in sein Aktendeutsch herübergenommen hatte (St, Kap. 3, S. 26).

Auch Woldemar verwendet gern Fremdwörter. Die Fremdwörter, die seinem Wortschatz angehören, sind jedoch keine technischen, sie entsprechen vielmehr einem modischen Wortgebrauch, wie Dubslav hervorhebt: »Idiosynkrasie«, wiederholte der Alte. »Wenn ich so was höre. Ja, Woldemar, da glaubst du nun wieder wunder was Feines gesagt zu haben. Aber es ist doch bloß ein Wort. Und was bloß ein Wort ist, ist nie was Feines, auch wenn es so aussieht. Dunkle Gefühle, die sind fein. […]« (St, Kap. 6, S. 63).

21 Johann Wolfgang von Goethe, Faust – der Tragödie erster Teil; Faust I, Tübingen 1908. Abrufbar unter http://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust01_1808.

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Mitglieder der anderen Figurengruppe, z. B. Dubslav, können Fremdwörter »nicht leiden« (St, Kap. 6, S. 58), wenn sie konventionell gebraucht werden. Sie können allerdings »ein Segen« sein, weil sie die nackte, furchterregende Wahrheit verdecken, wie Dubslav erkennt: Wenn ich so zwischen Hydropsie und Wassersucht die Wahl habe, bin ich immer für Hydropsie. Wassersucht hat so was kolossal Anschauliches. (St, Kap. 6, S. 58).

An anderen Stellen des Romans wird gezeigt, dass Wörter und Diskurse zweideutig gebraucht werden können, so dass sie häufig nicht der Wahrheit entsprechen, wie Fußgendarm Uncke mit Bezug auf den Politiker Torgelow erklärt: »Is schon richtig, Herr Major. Herr Major denken immer das Gute von ‘nem Menschen, weil Sie soviel zu Hause sitzen und selber so sind. Aber wer so rumkommt wie ich. Alle lügen sie. Was sie meinen, das sagen sie nich, und was sie sagen, das meinen sie nich. Is kein Verlaß mehr; alles zweideutig.« »Ja, so rundraus, Uncke, das war früher, aber das geht jetzt nicht mehr. Man darf keinem so alles auf die Nase binden. Das ist eben, was sie jetzt ›politisches Leben‹ nennen.« (St, Kap. 28, S. 249).

Die Arbitrarität des Bandes, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, zeigt sich bei Fontane auch an Eigennamen. Beispielweise stellt Melusine fest, dass das scheinbar transparente Kompositum Eierhäuschen eine irreführende Vorstellung der Realität suggeriert: »[…] Freilich kann ich mir kaum denken, daß wir zu sechs in einem ›Eierhäuschen‹ Platz haben.« »Ach, Frau Gräfin, ich sehe, Sie rechnen auf etwas extrem Idyllisches und erwarten, wenn wir angelangt sein werden, einen Mischling von Kiosk und Hütte. Da harrt Ihrer aber eine grausame Enttäuschung. Das ›Eierhäuschen‹ ist ein sogenanntes ›Lokal‹, und wenn uns die Lust anwandelt, so können wir da tanzen oder eine Volksversammlung abhalten. Raum genug ist da […].« (St, Kap. 14, S. 132).

Ob ein Wein namens Lacrimae Christi besonderen Gelegenheiten gebührt bzw. bestimmten Orten angemessen ist, wird zum Gesprächsthema im Kloster: »Vornehmer, Herr von Rex«, sagte Adelheid in guter Stimmung, »eine Rangstufe höher. Nicht Montefiascone, den wir allerdings unter meiner Amtsvorgängerin auch hier im Keller hatten, sondern Lacrimae Christi. Mein Bruder, der alles bemängelt, meinte freilich, als ich ihm vor einiger Zeit davon vorsetzte, das passe nicht, das sei Begräbniswein, höchstens Wein für Einsegnungen, aber nicht für heitere Zusammenkünfte.« (St, Kap. 8, S. 87).

Im Stechlin können Eigennamen eine beschreibende Bedeutung haben und dem Charakter derjenigen entsprechen, die sie tragen. Der unterschiedliche Gebrauch von sprechenden und andersartigen Figurennamen wird im Roman



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für literarische Effekte genutzt, wobei auch die Differenz zwischen Autor- und Figurenperspektive auf Eigennamen eine Rolle spielt. Beispiele von »motivierten Zeichen« sind die Namen der beiden Gräfinnen, Melusine und Armgard, die den gegensätzlichen Charakter der Schwestern widerspiegeln, wie Woldemar in seinem Tagebuch vermerkt: Diese Gräfin, wie scharmant, und die Schwester ebenso, trotzdem größere Gegensätze kaum denkbar sind. An der einen alles Temperament und Anmut, an der andern alles Charakter oder, wenn das zuviel gesagt sein sollte, Schlichtheit, Festigkeit. Es bleibt mit den Namen doch eine eigne Sache, Die Gräfin ist ganz Melusine und die Comtesse ganz Armgard. (St, Kap. 12, S. 109).

Melusine als Bezeichnung der mythischen Wasserfee steht der germanische Name Armgard (›Beschützerin‹) gegenüber.22 Auch die Prinzessin von IppeBüchsenstein trägt den altgermanischen Namen Ermyntrude (›universale Kraft‹), welcher der Würde ihrer Familie angepasst scheint. Ihre bürgerlichen Töchter, die aus der Verbindung mit dem Oberförster Katzler stammen und zu einem frühen Tod bestimmt zu sein scheinen, werden auf tragische, »dynastisch-genealogische« Namen getauft (Dagmar, Thyra, Inez, Maud, Arabella – der letzte Name zeigt eine »gewisse Verlegenheit«) (St, Kap. 19, S. 172). Das aptum-Prinzip spiegelt sich auch in Woldemars scherzhafter Wortselektion wider, mit der er auf die Lebensgeschichte der Prinzessin anspielt: Ich sage ›vermählen‹ weil ›sich verheiraten‹ etwas plebeje klingt. Frau Katzler ist eine Ippe-Büchsenstein. (St, Kap. 6, S. 69).

Andererseits können Eigennamen auch im kompletten Gegensatz zu dem Charakter derjenigen, die sie tragen, gewählt werden. Beispiele für diese Gruppe sind die Namen Dubslav und Niels. In beiden Fällen kann ihr alltäglicher Klang kompensiert werden, wenn sie durch den jeweiligen Titel und Familiennamen ersetzt werden: Herr von Stechlin und Doktor Wrschowitz. So steht es im Gespräch zwischen Woldemar und dem Grafen Barby: »Aber was ist das nur mit Niels? Niels ist doch an und für sich ein hübscher und ganz harmloser Name. Nichts Anzügliches drin.« »Gewiß nicht. Aber Wrschowitz und Niels? Er litt, glaub ich, unter diesem Gegensatz.« Woldemar lachte. »Das kenn ich. Das kenn ich von meinem Vater her, der Dubslav heißt, was ihm auch immer höchst unbequem war. Und da reichen wohl nicht hundert Mal, daß ich ihn wegen dieses Namens seinen Vater habe verklagen hören.« (St, Kap. 13, S. 119).

22 Nebenform von Irmgard zusammengesetzt aus althochdeutsch *irmīn ›groß‹ und gart ›Garten, Gehege‹. Vgl. Gerhard Köbler, Althochdeutsches Wörterbuch, 2014. Internet gestelltes Wörterbuch. Abrufbar unter http://www.koeblergerhard.de/ahdwbhin. html.

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II.2 Veränderlichkeit der Sprache Wie Saussure einsieht, hat die Sprache einen stabilen Charakter nicht nur wegen ihrer Verankerung in der Gemeinschaft, sondern auch, weil sie in die Zeit eingebettet ist.23 Nach Saussure entwickelt sich Sprache anders als die anderen menschlichen Institutionen, die alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auf natürlichen Beziehungen der Dinge zueinander fußen.24 Sprache gründet dagegen nur auf dem Zusammenhang zwischen Arbitrarität und Konventionalität, d. h. auf Tradition: »Gerade weil aber das Zeichen arbiträr ist, kennt es kein anderes Gesetz als das der Tradition, und gerade weil es auf der Tradition gründet, kann es arbiträr sein«.25 Da Sprache zugleich in der sozialen Gemeinschaft und in der Zeit besteht, kann sie für Saussure nicht verändert werden. Andererseits kann sie sich wandeln und unter dem Einfluss all dessen, was auf den Laut oder auf den Sinn einwirkt, Verschiebungen erfahren.26 Aus den Figurengesprächen tritt Fontanes Bewusstsein bezüglich der Veränderlichkeit von Sprachzeichen und Sprachwandel deutlich hervor. Dies lässt sich u. a. auch daran feststellen, dass es Wörter gibt, die aus der Mode kommen, wie Herr von Gundermann bemerkt: Ja, Herr von Stechlin, alles Zeichen der Zeit. Und ganz bezeichnend, daß gerade das Wort ›Herr‹, so wie Sie schon hervorzuheben die Güte hatten, so gut wie abgeschafft ist. ›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr – ich meine natürlich die, die jetzt die Welt regieren wollen. (St, Kap. 3, S. 23).

Dasselbe scheint sogar für ganze Sprachsysteme zu gelten wie das Latein, das keine lebendige Sprache mehr ist. Die Anspielung auf den Lateingebrauch in der folgenden Textstelle weist darauf hin, dass in bestimmten Milieus der Gebrauch lateinischer Ausdrücke – wie z. B. alea jacta est – als nicht mehr passend empfunden wird: Dubslav schreibt: »Mein lieber Woldemar. Die Würfel sind nun also gefallen (früher hieß es alea jacta est, aber so altmodisch bin ich denn doch nicht mehr) […].« (St, Kap. 26, S. 232).

Sogar Adelheid wird vom Gebrauch neuer Wörter angesteckt, wie z.  B. des umgangssprachlichen, aus der Großstadt stammenden Verbs uzen: Du wunderst dich über das Wort, und ich wundre mich selber darüber. Aber daran ist auch unser guter Fix schuld. Der ist alle Monat nach Berlin rüber, und wenn er dann wiederkommt, dann bringt er so was mit, und wiewohl ich’s unpassend finde, nehm ich’s doch an und die

23 24 25 26

de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 39. Ebd., S. 41. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42.



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Schmargendorf auch. Bloß die Triglaff nicht und natürlich die gute Schimonski auch nicht, wegen der Taubheit. Ja, Woldemar, ich sage ›geuzt‹, und dein Freund Czako hätt es lieber unterlassen sollen. (St, Kap. 9, S. 92).

Darüber hinaus wird im Roman Sprachwandel mit Bezug auf Telegramme thematisiert. Telegramme sind eine Form schriftsprachlicher Kommunikation mittels Telegraphie, die für die zweite Hälfte des 19.  Jahrhunderts eine neue Einrichtung darstellen, um schnelle Nachrichten zu vermitteln und vom Empfänger als Klartext gelesen zu werden. Von Telegrammen ist die Rede, als Woldemar aus London zweimal denselben Kurztext, an Czako und an die Barbys, telegraphiert. Seine Freunde finden, dass diese Art, Nachrichten von sich zu geben, »wenig sei«, wie Czako sagt (vgl. St, Kap. 24, S. 2211). Der alte Graf kommentiert dazu: Es ist umgekehrt ein sehr gutes Telegramm, weil ein richtiges Telegramm; Richmond, Windsor. Nelsonsäule. Soll er etwa telegraphieren, daß er sich sehnt, uns wiederzusehen? (St, Kap. 24, S. 221).

Er scheint damit die Meinung zu vertreten, dass Woldemars Telegramm mit seiner knappen, nur stichwortartig formulierenden Ausdrucksweise den gebührenden Stil aufweist: Es repräsentiert eine gelungene sprachliche Realisierung des entsprechenden Textmusters. Dass Woldemar dabei »Dubletten« produziert, wird an dieser Stelle von Graf Barby nicht kommentiert. Die Begebenheit der zweifachen Produktion desselben Modells (zwei Telegramme mit demselben Text) verbindet sich im Roman mit dem Motiv der seriellen Industrieproduktion. Im Zeitalter beginnender Industrialisierung werden nicht nur Retorten und Ballons, die Erzeugnisse der am Seeufer liegenden Globsower Glasfabrik, sondern auch sprachliche Produkte als Telegramme seriell hergestellt, um »in die ganze Welt« zu gehen (St, Kap. 6, S. 62).

II.3 Sprachzeichen als Zauberkunst Sprache ist für Saussure – wie auch für Fontane – ein soziales Produkt. Das Sprachsystem gründet genau auf dem Zusammenhang zwischen den gegensätzlichen Momenten der Arbitrarität und der Konventionalität, d. h. auf der Tradition. Dass die Beziehung zwischen Inhalt und Ausdruck beliebig ist, für eine gegebene Gemeinschaft aber unveränderlich, erinnert nach Saussure an das Verfahren der »forcierten Karte«.27 Carte forcée ist ein Begriff aus der Zauber27 Ebd., S. 34.

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kunst, wobei durch manipulative Tricks erreicht wird, dass ein Zuschauer bei scheinbar freier Wahl genau die Karte zieht, die der Zauberer vorbestimmt hat. Im Wechselspiel zwischen Tradition und Aktualisierung scheint der Mechanismus der Sprache für Saussure etwas Zauberisches zu haben. Auf die Zauberei der Sprache wird in Fontanes Roman durch das Thema der Redewendungen hingewiesen. Darum geht es im Gespräch von Woldemar und Dubslav, die – wie bereits erwähnt – nicht zuletzt durch ihre Wortwahl als unterschiedliche Charaktere gekennzeichnet werden. Woldemars Wendung Mich beschäftigen diese Dinge findet Dubslav »nüchtern und prosaisch«. Anders als sein Sohn verwendet Dubslav gern volkstümliche Redewendungen, z. B. etwas auf dem Korn haben (›etwas vorhaben‹): »Schon wieder ›ja, Papa‹. Nun, meinetwegen, ich will dich schließlich in deinen Lieblingswendungen nicht stören. Aber bekenne mir nebenher – denn das ist doch schließlich das, um was sich’s handelt – liegst du mit was im Anschlag, hast du was auf dem Korn?« »Papa, diese Wendungen erschrecken mich beinah. Aber wenn denn schon so jägermäßig gesprochen werden soll, ja; meine Wünsche haben ein bestimmtes Ziel, und ich darf sagen, mich beschäftigen diese Dinge.« »Mich beschäftigen diese Dinge … Nimm mir’s nicht übel, Woldemar, das ist ja gar nichts. Beschäftigen! Ich bin nicht fürs Poetische, das ist für Gouvernanten und arme Lehrer, die nach Görbersdorf müssen (bloß, daß sie meistens kein Geld dazu haben), aber diese Wendung ›sich beschäftigen‹, das ist mir denn doch zu prosaisch. […].« (St, Kap. 5, S. 45–46).

An derselben Stelle des Romans erklärt Woldemar, dass er nicht zu viel über seine Heiratspläne sagen will, weil er befürchtet, dass das Gesagte sein Schicksal bestimmen kann. Die Vorstellung, dass sprachliche Zeichen Realität schaffen können, erkennt er als eine Art Aberglauben, vergleichbar mit dem »abergläubischen Zug« seines Vaters: Ich bin meiner Sache noch nicht sicher genug, und das ist auch der Grund, warum ich Wendungen gebraucht habe, die dir nüchtern und prosaisch erschienen sind. Ich kann dir aber sagen, ich hätte mich lieber anders ausgedrückt; nur darf ich es noch nicht. Und dann weiß ich ja auch, daß du selber einen abergläubischen Zug hast und ganz aufrichtig davon ausgehst, daß man sich sein Glück verreden kann, wenn man zu früh oder zuviel davon sprichst. (St, Kap. 5, S. 46).

In Fontanes Roman erscheinen volkstümliche Redewendungen als sprachliche Phänomene, die in uralten Zeiten wurzeln, in denen Menschen an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte und die Zauberkraft des Wortes glaubten. Ein Beispiel dafür ist der »Hexenspruch« der alten Heilerin Buschen: Dat Woater nimmt dat Woater weg (St, Kap. 38, S. 317). Wortwörtlich ergibt der Satz keinen eindeutigen Sinn. Im Kontext der Erzählung kann das Wort Woater (›Wasser‹) mit zwei unterschiedlichen Referenten in Verbindung gesetzt wer-



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den, woraus die eigentlich gemeinte Aussage ›der Tee nimmt die Wassersucht weg‹ entsteht. Die Zauberkraft von Redewendungen scheint darin zu liegen, dass sie Produkt einer Sprache sind, die den inneren Zusammenhang aller Dinge widerspiegelt. Aufgrund ihrer Verbreitung in der Umgangssprache und im »Volksmund« waren Redewendungen in Fontanes Zeiten kaum ein Thema für Sprachwissenschaftler. Gegenwärtig sind sie Forschungsgegenstand vor allem für Lexikologen. Redewendungen werden heute als feste Verbindungen von Wörtern angesehen, deren Bedeutung – die meist bildlich ist – aus der Verbindung der Wörter entsteht und nicht wortwörtlich, d. h. aus den Bedeutungen der einzelnen Wörter, erkannt werden kann.28 Sie werden außerdem der Form nach als recht stabile Sprachphänomene erkannt, weil ihre Bestandteile nicht oder nur begrenzt verändert oder ersetzt werden können.29 Eine ähnliche Konstellation ist im Bild des sprechenden Sees vorhanden: Der See kommuniziert nicht durch eindeutige Wortzeichen. Der Sinn seiner Botschaft kann nur in einem bestimmten Kontext erkannt werden und ergibt sich aus der Konnexion seiner Zeichen. Im Volksmund nimmt die Sprache legendäre Züge an, was sich durch das Motiv des roten Hahns zeigt. Der Sprache des Stechlinsees, die sonst aus natürlichen Zeichen (brodeln, sprudeln usw.) besteht, wird durch das Aufsteigen des krähenden Hahns ein definitiv zauberhafter Charakter verliehen.

II.4 Das »solidarische« tout-se-tient-Prinzip Saussure definiert Sprache als System, »dessen Terme allesamt solidarisch sind« (s. o.). Auch in Fontanes Roman wird das Prinzip der Interrelation der Elemente mit dem Motiv der Solidarität verbunden. Als miteinander verknüpft und solidarisch werden allerdings nicht die Elemente des Sprachsystems, vielmehr die Naturelemente am Beispiel des Stechlinsees beschrieben. Das solidarische Gefühl des Sees zeigt sich dadurch, dass er »gleich mitrumort, wenn irgendwo was los ist«. Aus diesem Grund, wie Dubslav erzählt, hält ihn Pastor Lorenzen für einen »richtigen Revolutionär« (St, Kap. 9, S. 49). Der See wird auch dadurch charakterisiert, dass er in Kontakt mit der ganzen

28 Wolfgang Worsch und Werner Scholze-Stubenrecht, Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, Berlin 2013, S. 5. 29 Ebd.

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Welt ist. Er hat, wie Woldemar im Gespräch mit Melusine sagt, »Weltbeziehungen«: Er [der See] hat genau das, was Sie geneigt sind am wenigsten zu vermuten. Er hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnisvolle Beziehungen, und nur alles Gewöhnliche, wie beispielsweise Steckerlinge, hat er nicht. (St, Kap 13, S. 127).30

Als Woldemar und Armgard in Sorrent erste Zeichen eines erwarteten Ausbruchs des Vesuvs erleben, erklärt er ihr, dass der See alles wahrnimmt, was in der Welt geschieht: […] daß, wenn’s da drüben ernstlich anfängt, unser Stechlin mittut, wenn auch bescheiden (St, Kap. 45, S. 363).

Sein »Mittun« zeigt sich dadurch, dass der Stechlin seinem Mitgefühl für die Weltereignisse Ausdruck gibt.31 Auf die Tatsache, dass der See »sprechen« kann, weist Dubslav während seiner Abschiedsrede für Armgard durch Anspielung auf sein Schweigen ex negativo hin: Ich habe nur das gute Gewissen, Ihnen während dieser kurzen Spanne Zeit alles gezeigt zu haben, was gezeigt werde konnte: mein Museum und meinen See. Die Sprudelstelle (die Winterhand lag darauf ) hat geschwiegen, aber mein Derfflingerscher Dragoner – in Krippenstapels Abwesenheit darf ich ihn ja wieder so nennen – hat umso deutlicher zu Ihnen gesprochen. (St, Kap. 30, S. 264).

Der Stechlinsee steht für den »großen Zusammenhang der Dinge« – wie Melusine im Gespräch mit Lorenzen betont:

30 Bei ihrem Besuch am See (St, Kap. 28) wird aber Melusine vom See enttäuscht, denn – wie Dubslav erklärt – das Eis macht den See still und »duckt das Revolutionäre« (S. 251). Er bietet an, das Eis aufschlagen zu lassen, aber Melusine lehnt es entschieden ab: »Um Gottes willen, nein. Ich bin sehr für solche Geschichten und bin glücklich, daß die Familie Stechlin diesen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur hat jetzt den See überdeckt; da werd ich mich also hüten, irgendwas ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich« (S. 252). Diese Stelle macht die Verbindung des Sees mit Melusine deutlich: beide Naturelemente, Wasserelemente (allerdings bewegloses Wasser, sogar vereist). 31 Die erste Beschreibung des Sees im Incipit des Romans hebt genau seine Stille hervor, welche in seiner ganzen Umgebung herausstrahlt: »Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt ›der Stechlin‹. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier.« (St, Kap. 1, S. 5).



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Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang wieder ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nicht vergessen. (St, Kap. 29, S. 255).

Nicht nur vermittelt der See die Vorstellung, dass er den inneren Zusammenhang aller Dinge wahrnehmen kann. Er kann ihn auch durch seinen eigenen Zeichencode reproduzieren. Sein natürliches Kommunikationsmittel scheint es zu vermögen, Verwandtschaften und Affinitäten auszudrücken. Seine besonderen Zeichen können Ahnungen, Mitgefühle und andere Phänomene andeuten, die sich nicht durch genaue Wörter beschreiben lassen. Beispielsweise verfügt Dubslav über kein konventionelles Wort, um seine Beziehung zu Melusine zu bezeichnen: hochverehrte Brautschwester! Ein andres Wort, um meine Beziehungen zu Gräfin Melusine zu bezeichnen, hat vorläufig die deutsche Sprache nicht, was ich bedauere. Denn das Wort sagt mir lange nicht genug. (St, Kap. 30, S. 264).

Die Zeichen, die der See verwendet, sind natürliche Zeichen. Sein Code besteht im Wesentlichen aus physischen Lauten, welche typischen Geräuschen von Wasserbewegungen (brodeln, sprudeln, strudeln, aufspringen) entsprechen – wie es am Anfang des Romans dargestellt wird: Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch hinzu: »Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn’s aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt’s hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.« (St, Kap. 1, S. 5).

Die obigen Anmerkungen aus der Figurenrede aus dem Stechlin haben manche Hinweise auf die Sprachauffassung Fontanes ermöglicht, die einige Berührungspunkte mit den Theorien von Ferdinand Saussure erkennen lassen, darunter Saussures Idee, dass Wörter – synchron beobachtet – eine konventionelle Bedeutung haben, welche mit ihrem Lautbild arbiträr verbunden ist. Im Stechlin-Roman wird das Thema der konventionellen versus nichtkonventionellen Bedeutung von Wörtern am Sprachgebrauch der Figuren gezeigt bzw. in ihren metasprachlichen Gesprächen mit Bezug auf Teilthemen wie Eigenna-

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men, Wortetymologien und Fremdwörter angesprochen.32 Auch die Vorstellung vom Sprachwandel wird im Roman mit dem Thema der Konventionalität des Sprachgebrauchs verknüpft. Aus den erkannten Affinitäten kann allerdings kein ausreichender Beweis für eine These einer direkten Verwandtschaft zwischen Fontane und den Sprachtheorien seiner Zeit gezogen werden. Anders als bei Saussure unterliegt Fontanes Sprachreflexion keinen vorrangig sprachtheoretischen, sondern vielmehr stilistischen und literarischen Zwecken. Saussure deutet auf den Zauber der Sprache hin, um die arbiträre Natur des Sprachzeichens bildlich zu veranschaulichen. Anders als bei Saussure wird das tout-se-tient-Prinzip in Fontanes Roman nicht sprachtheoretisch ausgeführt. Die Vorstellung der Interaktion aller natürlichen Elemente, die das Motiv des »sprechenden« Sees versinnbildlicht, stellt bei Fontane eine Relation zwischen dem Wahrnehmen der Dinge und ihrer sprachlichen Vermittlung dar. Das Motiv, das eine wichtige Rolle als strukturelles Prinzip im Roman spielt, verdient einen Platz in der bis heute ununterbrochenen philosophischen Tradition, deren Anfänge bei den Vorsokratikern liegen und die auf Anaxagoras’ Formel pân en pantí (›omnia in omnibus, alles in allem‹) zurückgeführt wird.33 So lässt sich das heutige, auf demselben Prinzip beruhende Modell des »chaotischen Systems« im Stechlin-Roman auf mehreren Strukturebenen nachvollziehen – wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.

III. Tout se tient: die »chaotische« Struktur des »Stechlin«-Romans und der »sprechende« See Im Stechlin tritt kein personaler, neutraler, auktorialer oder Ich-Erzähler deutlich in Erscheinung, um die Erlebnisse zu erzählen, welche die innere Entwicklung des Protagonisten bestimmen. Bei einer ersten Lektüre wirkt seine Hand32 Themen dieser Art waren in Fontanes Zeit in den bildungsbürgerlichen Salons geläufig und populär. Fontane nutzt sie als Mittel zur Stilisierung von unterschiedlichen Charakteren und Milieustudien. 33 Ulrich Beuttler, Gott und Raum – Theologie der Weltgegenwart Gottes, Göttingen 2010, S. 150. Anaxagoras mag der Erste sein, mit dessen Namen diese Idee verbunden wurde. Die Idee selbst ist aber älter, wie Aristoteles beweist: »Es scheint aber Anaxagoras auf diese seine Annahme einer unbegrenzten Vielheit dadurch gekommen zu sein, dass er die gemeine Meinung der Naturforscher als wahr zum Grunde legte, als entstehe nichts aus dem was nicht ist. […] Darum sprechen sie, dass Alles in Allem gemischt sei. Denn sie sahen ja Alles aus Allem entstehen.« (Aristoteles, Physik I, Leipzig 1829, http://www.zeno.org, zuletzt aufgerufen am 20.07.2020).



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lung bewusst minimalistisch und teilweise auch fragmentarisch. Die äußeren Vorgänge sind bekanntlich weder außergewöhnlich noch abenteuerlich. Die zentralen Ereignisse des Romans sind eine Verlobung und eine Eheschließung. Diese werden ohne jegliche Dramatik vollzogen und betreffen zwei ziemlich farblose Figuren, den jungen Herrn von Stechlin, Woldemar, und Armgard, die junge Comtesse von Barby. Auch der Tod des alten Herrn von Stechlin, das Schlussereignis des Romans, erfolgt ohne jegliche Tragik.34 Wie der Autor selbst in einem oft zitierten Brief an Adolf Hoffmann schreibt, geschieht im Roman eigentlich so gut wie nichts. Seine Handlung und Charaktere ergeben sich dagegen aus den Figurengesprächen: Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts. Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andrerseits in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte.35

Wenn wir den Worten des Autors Glauben schenken, geht es im Roman vor allem darum, dass sich verschiedene Personen treffen und »Gott und die Welt« durchsprechen. Die Redewendung über Gott und die Welt reden bedeutet laut Röhrich36 »über alles Mögliche reden, wobei Gott nicht unbedingt vorkommen muß«. In Fontanes Brief verweist der Ausdruck Gott und die Welt auf die Vielfältigkeit der Gesprächsthemen, die seine Romanfiguren behandeln, und auf den häufigen Themenwechsel im gesamten Roman. Geschichte entfaltet sich im Roman dadurch, dass jede sprechende Figur über »alles« spricht. Dabei tritt der »sprechende« Stechlinsee, der »die große Weltbewegung mitmacht«, als eigenartige Romanfigur hervor. Als Naturelement, das in stetiger Verbindung mit der ganzen Welt ist, versinnbildlicht Fontanes Bild des Sees das Allessteht-in-Zusammenhang-mit-allem-Motiv. Auf einem ähnlichen Prinzip des ›Alles hängt mit allem in der Natur zusammen‹ beruht die heutige »Chaos-Theorie«, die besagt, dass in einem kom34 Er erscheint als die natürliche Konsequenz einer unheilbaren Krankheit. Beide für die Romanhandlung zentralen Ereignisse werden durch eine damit verbundene Begebenheit vorbereitet: die Eheschließung durch die Verlobung, Stechlins Tod durch seine politische Niederlage. Sein Schicksal – politische Niederlage und unheilbare Krankheit – akzeptiert Stechlin mit Gelassenheit. Der Vertreter des märkischen Junkertums nimmt beide als Zeichen des unaufhaltbaren Wandels der Zeit und aller Dinge wahr. Sein Tod steht im Roman für das Untergehen einer langdauernden sozialen Ordnung im Zeitalter der frühen Industrialisierung und des Aufstiegs der Sozialdemokratie. 35 Theodor Fontane an Adolf Hoffmann, HFA IV/4, S. 493–494. 36 Lutz Röhrich, Gott, Götter. In: Ders., Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Berlin 2000, S. 2283.

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plexen System kleine Änderungen der Anfangsbedingungen unvorhersehbare Entwicklungen bewirken können. Fontanes Beschreibung des Stechlinsees ist derjenigen erstaunlich ähnlich, die der Mathematiker und Meteorologe Edward N. Lorenz 1972 benutzte, um den »Schmetterlingseffekt« anschaulich zu machen: Wenn ein Schmetterling in Brasilien seine Flügel bewegt, kann er einen Tornado in Texas auslösen.37 Den Schmetterlingseffekt benutzt Lorenz als Beispiel der sogenannten Chaostheorie, um das Verhalten nichtlinearer Systeme zu erläutern, welches durch ihre »sensitive Abhängigkeit« von den Anfangsbedingungen determiniert ist.38 Die Ähnlichkeit der Bilder veranlasst den Versuch, die Erzählstruktur des Stechlin-Romans als »chaotisches System« darzulegen, dessen Zusammenhang der »sprechende« Stechlinsee ist.39 Das vorwiegend als Figurengespräch konfigurierte Erzählmaterial ist – wie der Ausdruck Gott und die Welt suggeriert – tatsächlich sehr heterogen. Als Beweis dafür gilt die Betrachtung der Romanstruktur, die – wie die folgende Übersicht (Tabelle 1) deutlich macht – keine ersichtliche Symmetrie aufweist:

37 Der Originaltitel des Vortrags lautet Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil Set Off a Tornado in Texas?, den Lorenz 1972 während der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science hielt. 38 Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dient die Chaostheorie auch als Modellbildung für die mathematische Linguistik, die sich mit dem nichtlinearen Charakter des Sprachwechsels befasst (Wolfgang Wildgen und Peter Jörg Plath, Katastrophenund Chaostheorie in der linguistischen Modellbildung. In: Reinhard Köhler, Gabriel Altmann et al. [Hrsg.], Quantitative Linguistics/Quantitative Linguistik. Ein Internationales Handbuch, Berlin/New York 2005, S. 688–705). 39 Die Themenkonstellation des Romans ist allerdings so breit und verschiedenartig, dass je nach perspektivischen Anfangsbedingungen die Suche nach dem Hauptthema zu anderen Resultaten führen kann. Beispielsweise läuft die Erzählzeit im Roman – von Woldemars Besuch bei seinem Vater bis zu dessen Tod – linear ab. Dies kann als Beweis dafür gelten, dass das große Thema des Romans der Wechsel vom Alten zum Neuen, d. h. die unaufhaltsame Bewegung der Zeit, ist – wie die Forschung oft betont hat (u. a. Strech, Theodor Fontane: Die Synthese von Alt und Neu, S. 187; Masanetz, »Die Frauen bestimmen schließlich doch alles«, S. 187‒200). Charlotte Jolles (›Der Stechlin‹: Fontanes Zaubersee. In: Hugo Aust (Hrsg.): Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks. Zehn Beiträge, München 1980, S. 239–257, hier S. 249) weist dagegen auf die Zentralität der Figur von Dubslav Stechlin für die Romanhandlung hin und auf seine Funktion, »die diversen Stränge der Themen des Romans mit allen Widersprüchen im Hin und Her der Meinungen zusammenzuhalten«.



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Tabelle 1: Übersicht über die Romanstruktur

Teil Überschrift der Teile Schloß Stechlin Kloster Wutz Nach dem »Eierhäuschen« Wahl in Rheinsberg-Wutz In Mission nach England Verlobung Weihnachtsreise nach Stechlin Hochzeit Verweile doch Tod Begräbnis Neue Tage

im Teil enthaltene Kapitel Kap. 1–6 Kap. 7–10 Kap. 11–15 Kap. 16–20 Kap. 21–24 Kap. 25–31

Anzahl der Kapitel =6 =4 =5 =5 =4 =6

Kap. 32–39 Kap. 40–46

=8 =7

Der Stechlin-Roman besteht aus acht betitelten Teilen, die eine unterschiedliche Anzahl von Kapiteln enthalten (letzte Spalte rechts). Die Überschrift des jeweiligen Romanteils (zweite Spalte links) gibt Hinweis auf das Hauptthema bzw. die Hauptthemen: Teil VI hat eine doppelte Überschrift, Teil VIII eine vierfache Überschrift. Insgesamt scheint die äußere Romanstruktur »chaotisch«, die thematische Struktur recht heterogen: Die Überschriften der einzelnen Teile verweisen auf unterschiedliche Orte (I–II); Bewegungen bzw. Fahrten (III, V, VI2); soziale/menschliche Ereignisse (IV, VI1, VII, VIII2, VIII3); Zeiten (VIII1). Der »chaotisch« strukturierte Roman wird unter einem Titel, Der Stechlin, subsumiert, der keinen eindeutigen Referenten hat. Im Roman verweist der Name Stechlin nicht nur auf den natürlichen See, der diesen Namen trägt,40 sondern auf mehrere Referenten: den Wald, der den See umgibt, das Dorf mit seinem sich an der Südspitze des Sees entlangziehenden Weg, das in der Nähe liegende Schloss der adligen Familie und die Familie selbst (vgl. St, S. 7). Auch die im Romantitel enthaltene Bezeichnung der Stechlin wirkt polysemisch. Sie kann auf den See sowie auf einen männlichen Vertreter der Familie Stechlin verweisen: Im Roman gibt es davon gleich zwei: den alten Herrn von Stechlin, Dubslav, und den jungen, Woldemar.

40 Der Name Stechlin kommt von dem slawischen Wort steklo, dessen Bedeutung ›Glas‹ ist. Er verweist somit auf die Klarheit des Wassers des natürlichen Sees, der diesen Namen trägt.

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Es liegt nahe zu vermuten, dass die Bezeichnung im Titel nicht auf den alten Herrn von Stechlin hinweist,41 sondern auf den See – wie es im Incipit des Romans der Fall ist: Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt »der Stechlin«. (St, Kap. 1, S. 5).

Dasselbe gilt für die Schlussworte des Romans (die in einem Brief Melusines an Lorenzen enthalten sind): Es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin. (St, Kap. 45, S. 367).

Der in diesen Worten enthaltene Kontrast zwischen der Pluralform die Stechline und dem Singular der Stechlin macht deutlich, dass Dubslav »ein« Stechlin ist, während »der« Stechlin nur der See sein kann. Der Plural-SingularKontrast spielt erneut auf das Prinzip Vielheit-Einheit an, wobei alles, was im Roman den Namen Stechlin trägt, das Prinzip Vielheit vertritt, während der Stechlinsee für das Prinzip Einheit steht. Der See selbst trägt aber Züge von Polymorphismus: Er tritt im Roman als still und als »sprechend« auf. In seiner ersten Variante übernimmt er die Rolle der verbindenden Instanz auf verschiedenen Ebenen der Romanstruktur. Die dem See gewidmeten Incipit und Excipit bilden die Einrahmung für die (scheinbar chaotische) Gesamtarchitektur des Romans. Der See ist Schauplatz für die parallelen Besuche Woldemars bei seinem Vater, zunächst in Begleitung seiner Freunde Rex und Czako, dann in der seiner Frischverlobten Armgard und ihrer Schwester Melusine:42 Dadurch werden der (scheinbar fragmentarischen) Romanhandlung ein geographischer Anhaltspunkt und gewisser narrativer Takt verliehen.43 Der See wirkt als Leitmotiv in den mannigfaltigen Figurengesprächen. Die Seesymbolik, egal in welche Richtung ausgedeutet,44 kann den Leitfaden für die Interpretation des vielschichtigen Romans bilden. 41 Was u. a. die italienische Übersetzung von Clara Becagli Calamai, Il signore di Stechlin, Milano 1985, vermuten lässt. 42 U. a. Jolles, ›Der Stechlin‹: Fontanes Zaubersee, S. 244. 43 Dass der See als Anhaltspunkt für die mehrfachen thematischen Richtungen des Romans und als Barometer der unterschiedlichen sozialen Einstellungen, die die Romanfiguren repräsentieren, wirkt, ist von der Fontane-Forschung früh erkannt worden (u. a. Edward Frank George, The Symbol of the Lake and Related Themes in Fontane’s ›Der Stechlin‹. In: Forum for Modern Language Studies IX/2 [1973], S. 143‒152, hier S.  143; Christian Grawe, Führer durch Fontanes Romane. Ein Lexikon der Personen, Schauplätze und Kunstwerke, Stuttgart 1996, S. 292‒293) weist darauf hin, dass der Stechlinsee den Kern einer geographischen und zugleich sozialen Einheit darstellt. 44 Die See-Symbolik im Stechlin-Roman ist u. a. als eine kosmische oder politische ausgelegt worden, der See wurde als Sinnbild für mehrere Prinzipien angesehen, u. a. Solidarität, Engagement, Interaktion. Beispielweise interpretiert Vincent J. Günther den



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In seiner zweiten Version wird der See als sprechend dargestellt – wie alle Romanfiguren des auf den Figurengesprächen aufgebauten Romans. Die Sprache des Sees konfiguriert sich anders als die verbale Sprache. Die Romanfiguren werden im Stechlin als soziale Wesen dargestellt. Als solche unterstehen sie Konventionen, die auch ihren Sprachgebrauch beeinflussen. Die Sprache des Sees untersteht keinen sozialen, sondern nur natürlichen Bedingungen. Der Stechlinsee versinnbildlicht die Fähigkeit, durch nicht konventionelle Zeichen den inneren Zusammenhang aller Dinge zu veranschaulichen. In seinem »sprechenden« Auftreten versinnbildlicht der See das Alles-stehtin-Zusammenhang-mit-allem-Prinzip und das Vermögen, das auch die poetische Sprache hat – durch außerordentliche Zeichen den inneren Zusammenhang aller Dinge zu kommunizieren. Die natürlichen Laute, die der See produziert, wirken für das Alltägliche. Wenn der See etwas Großes kommunizieren muss, produziert er besondere Laute: das Krähen des roten Hahns. Dies wird im Roman allerdings nicht durch den Erzähler berichtet: Das Hahn-Motiv ist vielleicht nur Volkserfindung, Legende. Damit wird eine thematische Verbindung zwischen der Sprache des Stechlinsees und der Poesie hergestellt. Wie in der Poesie geht durch die Sprache des Stechlinsees aus den sonst versteckten Weltbeziehungen etwas hervor: Dadurch, dass es kommuniziert wird, wird dieses Etwas wahr.

See als Symbol für »die potentielle Bedrohung des Menschen durch das Elementare« (Vincent J. Günther, Das Symbol im erzählerischen Werk Fontanes, Bonn 1967, S. 99). Jolles (›Der Stechlin‹: Fontanes Zaubersee, S. 245) betont dagegen die politische Symbolik, die der stille See im entlegenen Teil Preußens durch seine Verkettung mit der Außenwelt vermittelt.

Grenzüberschreitungen und Konnexion in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« Ein Versuch am Beispiel von ›und‹ in »Spreeland« Claudia Buffagni Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Phänomen der Konnexion in Theodor Fontanes Reisetext Wanderungen durch die Mark Brandenburg aus einer syntaktisch-semantischen Perspektive.1 Untersucht wird der Konnektor und im Band Spreeland mit dem Ziel zu überprüfen, an welchen Stellen er welche Rollen übernimmt und welche Art von Grenzüberschreitung – im Sinne Eichingers – er signalisieren kann.2 Die Wanderungen stellen aus verschiedenen Perspektiven einen geradezu idealen Untersuchungsgegenstand für die Grenzüberschreitung dar: Aus topographischer, zeitlicher, texttypologischer Sicht bieten sie verschiedene Arten der Schwellenüberwindung dar.3 Dazu kommt noch die differenzierte Wirkungsgeschichte, die auf die unterschiedliche Rezeption des Werks in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen ist.4 1 Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg bestehen aus folgenden Teilen: Erster Teil Die Grafschaft Ruppin (1862), Zweiter Teil Das Oderland (1863), Dritter Teil Havelland (1873), Vierter Teil Spreeland (1882). Als fünfter Band erschien Fünf Schlösser. Altes und Neues aus der Mark Brandenburg (1889). Die Angaben beziehen sich auf die Buchausgabe im Verlag Wilhelm Hertz. Vgl. Gotthard Erler, in Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Große Brandenburger Ausgabe, Vierter Teil Spreeland, hrsg. v. Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Berlin 1997, S. 452–453. 2 Laut Eichinger können Konnektoren als Grenzsignale betrachtet werden, von denen Räume eröffnet werden. Ludwig Eichinger, Übergänge: Grammatik im Grenzbereich. In: Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik, Stefan Engelberg, Anke Holler et al. (Hrsg.), IDS, Mannheim 2011, S. VII–XIII (hier S. XI). 3 Die Wanderungen bestehen aus Texten, die über verschiedene Landschaften im Gebiet der Mark Brandenburg berichten, im Laufe von über 30 Jahren entstanden sind und sehr unterschiedlichen Charakter haben: Darin sind etwa Briefe, fiktive Szenen, Passagen aus Geschichtsbüchern, Zeichnungen, Lieder, Gedichte repräsentiert. (Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Hamburg 2019, S. 248–263, hier S. 252). 4 Nach der Wiedervereinigung wurden die Wanderungen vom westdeutschen Lesepu­ blikum neu entdeckt, das anhand des Fontane’schen Reisetextes die darin beschriebenen, nun problemlos erschließbaren Gebiete besuchen konnte. Christian Grawe und https://doi.org/10.1515/9783110735710-014

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Stilistisch5 gebührt den Wanderungen innerhalb Fontanes Œuvre eine zentrale Stelle: An ihnen übte der Autor Techniken und Schreibstrategien auf der Suche nach einem eigenen Romanstil.6 Unter den fünf Wanderungen-Bänden ist Spreeland einer, an dem er besonders lang arbeitete: Sorgfältig durchkomponiert, wurde er stilistisch immer weiter revidiert.7 Sprachgeschichtlich gilt Fontane als Vertreter einer Zeitepoche an der Schwelle zur Gegenwart:8 In seinem Stil zeichnen sich bedeutende Merkmale von Autoren der Moderne ab, nicht zuletzt durch eine gewisse Nähe zur Umgangssprache.9 Von einem syntaktischen Standpunkt ist in der deutschen Sprachentwicklung ab etwa 1850 ein Zurücktreten der Hypotaxe zugunsten der Parataxe zu erkennen, was gleichzeitig von einer Erhöhung der Komplexität in den Nominalphrasen begleitet wird: Viele Informationen werden in der Nominalklammer komprimiert. Der erhöhten syntaktischen linearen Einfachheit entspricht somit eine größere Komplexität in den verschachtelten Nominalgruppen.10

Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 939ff. Vgl. dazu Maria Paola Scialdone, Mental maps: la Marca di Brandeburgo come Erinnerungsort fra BRD e DDR. In: Antonella Gargano und Daniela Padularosa (Hrsg.), Paesaggi della memoria. Memoria dei paesaggi, Roma 2018, S. 189–214. 5 Laut der Textlinguistik ist Stil Bestandteil von Texten (Barbara Sandig, Textstilistik des Deutschen, Berlin 2010; Marina Foschi Albert, Il profilo stilistico del testo. Guida al confronto intertestuale e interculturale (tedesco e italiano), Pisa 2009). 6 Michael White, Objektivität und Dichtertum. Fontanes Stilauffassung und ihre Kontexte. In: Andrew Cusack und Michael White (Hrsg.), Der Fontane-Ton: Stil im Werk Theodor Fontanes, Berlin 2020, S. 21–46 (hier S. 22). 7 1861–62 begann die Veröffentlichung der Feuilletons zu einzelnen Besuchen in der Gegend, erst 1881 erschien der fertige Spreeland-Band (mit Jahrangabe 1882). 8 Hans-Werner Eroms, Gerhard Stickel et al., Grammatik der deutschen Sprache, Berlin 1997, Vorwort, S. 2: »Gegenstand ist die Grammatik des gegenwärtigen Deutsch, wie es etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts – kurz: seit der Zeit Fontanes – gesprochen wird«. 9 Unter den Autoren des späten 19. Jh. zeichnet sich Fontanes Stil laut Admoni ähnlich wie Raabes durch die Nähe zur Umgangssprache aus. Wladimir Admoni, Historische Syntax des Deutschen, Tübingen 1990, S. 223. 10 Kirsten Adamzik, Syntax und Textgliederung. Hypotaktischer Stil, Nominalstil, graphischer Stil. In: Götz Hindelang, Eckard Rolf et al. (Hrsg.), Der Gebrauch der Sprache: Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag, Münster 1995, S. 15–41 (hier S. 16ff.); Vilmos Ágel, Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Werner Besch, Anne Betten et al. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 2. Teilbd., Berlin/New York 2000, S. 1855–1903 (hier S. 1879).



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Fontane verstand sich als Stilist, wobei er einen differenzierten Stilbegriff erkennen ließ: Einerseits vertrat er in Briefen und Aufsätzen11 die Ansicht, dass das Thema (bzw. der »Stoff«) selber jeweils nach einem bestimmten Stil verlange, den der Autor erkennen und entsprechend wiedergeben solle, andererseits glaubte er gleichzeitig auch, dass der echte Dichter im Text seine eigene unverwechselbare Stimme durchklingen lassen solle.12 Diese schwierige Balance hat Fontane in seinem eigenen Werk gesucht, wobei er auch in der gegenwärtigen Forschung immer noch besonders für seinen Plauderton, seine Leichtigkeit und seine Dialogizität gepriesen wird. Bei der Konstitution des Fontane’schen Stils spielt der Konnektor und eine bedeutende Rolle: Zum einen leistet er einen wichtigen Beitrag zur Schaffung des Dualismus, der für Fontanes Stil typisch ist.13 Zum anderen kann und darüber hinaus – je nach Kontext – auch andere Funktionen übernehmen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist und im Deutschen der prototypische additive Konnektor,14 der als »Universalkoordinator […] im Zentrum des Additivitätsfelds [steht]. Die übrigen additiven Konjunktoren (so wie, als auch …) beruhen auf einer Vergleichskonstruktion, die eine Reihe von formalen und semantischen Einschränkungen gegenüber und bedingt«.15 Dank seiner semantischen Vagheit kann und zur Konstitution unterschiedlicher Bedeutungen beitragen; die syntaktischen Teile,16 die durch und verbunden werden, sind symmetrisch.17 Doch ist die Veränderung der Reihenfolge der Konnekte nicht 11 Vgl. die Kritik an dem gleichbleibenden »Keller-Ton«: HFA III/1, S. 495. Gegenüber Otto Brahm rühmte er den Individualstil (HFA IV/4, S. 368–369). 12 Vgl. dazu Andrew Cusack und Michael White, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Der Fontane-Ton, S. 1–19. 13 Clarissa Blomqvist, Der Fontane-Ton. Typische Merkmale der Sprache Theodor Fontanes. In: Sprachkunst. Wien. 1. Halbband 2004, S. 23–34; Cusack und White, Einleitung, S. 11–12. 14 In diesem Zusammenhang soll betont werden, dass, anders als weitere additive Konnektoren, und eingliedrig ist (Duden, Die Grammatik. Hrsg. von Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion, 9. Aufl., Mannheim 2016, S.  632). Zum KoordinationBegriff vgl. auch Renate Pasch, Ursula Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren 1. Linguistische Grundlagen der Beschreibung und syntaktische Merkmale der deutschen Satzverknüpfer (Konjunktionen, Satzadverbien und Partikeln), Berlin 2003, S. 264–305. Zu und vgl. Eva Breindl, Anna Volodina et al., Handbuch der deutschen Konnektoren 2. Semantik der deutschen Satzverknüpfer, Berlin 2015, S. 393–425. 15 Eva Breindl, Additive Konjunktoren und Adverbien im Deutschen. In: Joachim Buscha und Renate Freudenberg-Findeisen (Hrsg.), Feldergrammatik in der Diskussion. Funktionaler Grammatikansatz in Sprachbeschreibung und Sprachvermittlung (Sprache – System und Tätigkeit 56), Frankfurt am Main 2007, S. 141–164 (hier S. 146–147). 16 Im Folgenden wird die Rede von Konnekten sein. 17 Und kann Konnekte unterschiedlichen Umfangs miteinander verbinden: »von kommunikativen Minimaleinheiten […] [d. h. sprachliche Einheiten, die, nicht unbedingt

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immer unproblematisch.18 Das Beispiel »Hat es gehagelt und die Mohnblumen sind ruiniert?« zeigt etwa, dass die Reihenfolge der durch und verbundenen Konnekte bestimmten Restriktionen unterliegt: Der Satz *»Die sind ruiniert und hat es gehagelt?« ist nicht akzeptabel. Das betrifft etwa Satzverbindungen, die temporaler oder kausaler Natur sind:19 In diesen Fällen muss als Erstes das Konnekt vorkommen, das die zeitlich als erste stattgefundene Handlung bzw. die Ursache der im folgenden Konnekt dargestellten Handlung beschreibt. Nach einer Pause im mündlichen Bereich oder nach einem Interpunktionszeichen im schriftlichen kann und ferner eine pragmatische Funktion einnehmen. Im Falle von anderen, zurzeit besser untersuchten Konnektoren (wobei, obwohl, weil …) oder komplexeren Ausdrücke (ich mein …) herrscht inzwischen in der Forschung Konsens, dass es sich um Diskursmarker handelt.20 Solche Verwendungsweisen von und sind von besonderem Interesse, denn darin werden Grenzüberschreitungen im Text erkennbar. aus vollständigen Sätzen bestehend, dazu bestimmt sind, eine sprachliche Handlung zu vollziehen, vgl. https://grammis.ids-mannheim.de/terminologie/1370] über vollständige Sätze […] bis zu Einheiten unterhalb der Satzgrenze […] und sogar unterhalb der Wortgrenze […]«. Vgl. Eva Breindl, Handbuch der deutschen Konnektoren. Additive Konnektoren, IDS Mannheim, hdk2_Additive Konnektoren (ids-mannheim.de), S. 9. Vgl. auch Alessandra Tomaselli, Introduzione alla sintassi del tedesco, Bolzano 2013, https://grammis.ids-mannheim.de/konnektoren/406924. Es kommen aber auch Konnekte unterschiedlicher Art (also unsymmetrisch) vor: »Ich komme wegen der Gitarre und weil ich deine Kusine treffen wollte«. 18 Vgl. Eva Breindl, Additive Konnektoren, S. 3; Marina Foschi, Complessità e coordina­ zione, Firenze 2014. 19 Vgl. Hardarik Blühdorn, Semantische Unterbestimmtheit bei Konnektoren. In: Ders. und Inge Pohl (Hrsg.), Semantische Unbestimmtheit im Lexikon, Frankfurt am Main et al. 2010 (Sprache – System und Tätigkeit 61), S. 205–221 (hier S. 211ff.) 20 Vgl. Wolfgang Imo, »Versteckte Grammatik«: Weshalb qualitative Analysen gesprochener Sprache für die Grammatik(be)schreibung notwendig sind. In: Rudolf Suntrup, Kordula Schulze et al. (Hrsg.), Usbekisch-deutsche Studien III: Sprache – Literatur – Kultur – Didaktik. 4. usbekisch-deutsche Tagung Münster, 23.–25. November 2009, Münster 2010 (Deutsch-usbekische Studien 3), S.  261–284 (hier S.  268–269). In mündlichen Äußerungen wird zwar eine höhere Frequenz und Vielfalt von Diskursmarkern erwartet als in schriftlichen, vgl. Peter Auer und Susanne Günthner, Die Entstehung von Diskursmarkern im Deutschen – ein Fall von Grammatikalisierung? In: Torsten Leuschner, Tanja Mortelmans et al. (Hrsg.), Grammatikalisierung im Deutschen, Berlin 2004, S. 335–362; Wolfgang Imo, Diskursmarker im gesprochenen und geschriebenen Deutsch. In: Hardarik Blühdorn, Arnulf Deppermann et al. (Hrsg.), Diskursmarker im Deutschen. Reflexionen und Analysen, Mannheim 2017, S. 49–71. In der Forschung geht man aber inzwischen davon aus, dass Diskursmarker auch in der geschriebenen Sprache vorkommen (Hardarik Blühdorn, Diskursmarker: Pragmatische Funktion und syntaktischer Status. In: Blühdorn, Deppermann et al. (Hrsg.), Diskursmarker im Deutschen, S. 311–335, hier S. 312–313).



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›Und‹ als stilistisches Element in den »Wanderungen« Und verbindet wie gesehen sprachliche Elemente unterschiedlichen Umfangs. In vielen Fällen leitet und bekanntlich das letzte Glied von Auflistungen ein.21 In Fontanes Spreeland kommt das und besonders häufig vor: Es verbindet Konnekte unterschiedlicher Komplexität. Herausragend ist etwa sein Vorkommen in komplexen Nominalgruppen,22 wie in Text 1.23 Just an der Stelle, wo zwei Flußarme fast in spitzem Winkel einander berührten, stand ein Bauern- oder Kätnerhaus, dessen weißgetünchtes Fachwerk aus Geißblatt und Fischernetzen freundlich hervorblickte, während sich uns in Front des Hauses, in einem halb ans Ufer gezogenen Kahn, (1) ein streng und doch zugleich auch freundlich aussehender Mann präsentierte, der, von eben diesem Kahn aus, dem Treiben (2) seiner im Flusse badenden und nach allen Seiten hin jubelnd umherplätschernden Kinder zusah. Es waren ihrer sieben, das älteste elf, das jüngste kaum vier Jahr alt, und aus Lachen und Kinderunschuld wob sich hier ein Bild, das uns auf Augenblicke glauben machte, wir sähen in eine feenhafte Welt. Und daß wir diese Welt nicht störten, das war ihr höchster Zauber. (3) Ungeängstigt und von keiner Scham überkommen, spielten die Kinder weiter und tauchten unter und prusteten das Wasser in die Höh’ wie junge Delphine. Das älteste Mädchen war eine Schönheit; ihre Augen lachten und das lange, aufgelöste Haar schwamm wie Sonnenschein neben ihr her. Text 1 – und in Nominalphrasen – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (In Kätner Posts Garten)24

In der Passage, die bildhaft-plastisch eine heitere Kinderszene beschreibt, lassen sich zwei komplexe Nominalkonstruktionen (1 und 2) und die linke Herausstellung einer Adjektivalgruppe (3) erkennen, die sich auf das später vorkommende Substantiv »Kinder« bezieht. Trotz der syntaktischen Komplexität und der Informationsdichte lässt sich dank der sorgfältig ausgewogenen Lexik, den phonologischen Effekten und dem ausgeprägten Rhythmus der Passus leicht lesen. Die Nominalphrasen zeichnen sich durch das Vorkommen des

21 Es sei dabei bemerkt, dass mehr als zweigliedrige Auflistungen, in denen und das letzte Glied einleitet, überraschenderweise in Spreeland-Band nicht anzutreffen sind: Im Text herrschen aus zwei Konnekten bestehende Strukturen vor, was wiederum den Dualismus im Stil Fontanes belegt. 22 Zu den Rollen von und in komplexen Nominalphrasen in den Wanderungen vgl. Claudia Buffagni, Komplexe Nominalgruppen des Deutschen: eine exemplarische Untersuchung der funktionalstilistischen Verwendung von und-Attributen in Fontanes Spreeland (Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1882). In: Christian Fandrych, Marina Foschi Albert et al. (Hrsg.), Attribution in Text, Grammatik, Sprachdidaktik. (Studien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache 13), Berlin 2021, S. 89–110. 23 Hervorhebungen und Unterstreichungen der Autorin. 24 HFA II/2, S. 464.

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Konnektors und aus, der zum Ausdruck von Wissensvermittlung und Meinungsbildung funktional ist. 25 Über den stilistischen Wert vom Konnektor und äußert sich Fontane übrigens explizit, wie aus einem Brief an den Verleger Karpeles zu ersehen ist [M]eine »und’s«, wo sie massenhaft auftreten, müssen Sie mir lassen. Ich begreife, daß einem himmelangst dabei werden kann, und doch müssen sie bleiben, nach dem alten Satze: von zwei Uebeln wähle das kleinere. […] Ich bilde mir nämlich ein, unter uns gesagt, ein Stilist zu sein, nicht einer von den unerträglichen Glattschreibern, die für alles nur einen Ton und eine Form haben, sondern ein wirklicher. Das heißt also ein Schriftsteller, der den Dingen nicht seinen altüberkommenen Marlitt- oder Gartenlaub-Stil aufzwängt, sondern umgekehrt einer, der immer wechselnd, seinen Stil aus der Sache nimmt, die er behandelt. Und so kommt es denn, daß ich Sätze schreibe, die 14 Zeilen lang sind und dann wieder andre, die noch lange nicht 14 Sylben, oft nur 14 Buchstaben aufweisen. Und so ist es auch mit den »und’s«. Wollt’ ich alles auf den Und-Stil stellen, so müßt’ ich als gemeingefährlich eingesperrt werden, ich schreibe aber Mitund-Novellen und Ohne-und-Novellen, immer in Anbequemung und Rücksicht auf den Stoff. Je moderner, desto und-loser, je schlichter, je mehr sancta simplicitas, desto mehr »und«. »Und« ist biblisch-patriarchalisch und überall da, wo nach dieser Seite hin liegende Wirkungen erzielt werden sollen, gar nicht zu entbehren. Text 2 – Fontanes Brief an Gustav Karpeles (3. März 1881)26

Fontane verteidigt (Text 2) seine Verwendung von und in den Erzählwerken: Er macht deutlich, dass er ihnen eine bestimmte stilistische Funktion zuschreibt. Der wiederholte Einsatz von und zeichnet somit ›einfachere‹ Texte, das seltenere Vorkommen des Konnektors »modernere« Texte aus. In seinen Werken, einschließlich der Wanderungen, erscheint der Konnektor in den diversesten Verwendungen und es ergeben sich tatsächlich quantitative Unterschiede, die Fontanes Aussage untermauern (so ist Ellernklipp, worauf sich das Zitat bezieht, deutlich reicher an und als andere Erzählwerke des Autors).27 Die Wanderungen scheinen quantitativ zu den ›und-freudigeren‹, also ›einfacheren‹ Werken Fontanes zu gehören, in denen er einen altertümlich-biblischen28 Ton bevorzugt hat. Im vorliegenden Aufsatz wird das Vorkommen von und am Satzanfang fokussiert. An dieser herausragenden Stelle29 mag und – nicht zuletzt aufgrund 25 26 27 28

Vgl. Buffagni, Komplexe Nominalgruppen, S. 89–110. Theodor Fontane, HFA IV/3, S. 120. Vgl. Cusack und White, Einleitung, S. 1–10. In seiner Textgrammatik erkannte auch Weinrich die Produktivität von und in der Verbindung von größeren Texteinheiten und gerade in der Konstituierung des – von Fontane bezweckten – »biblischen Stil[s] (nach hebräischem Vorbild): ›Und Gott sprach: Es werde Licht!‹« (Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Hildesheim/ Zürich/New York 2003, S. 806. Originale Unterstreichung des Autors). 29 Die unmarkierte Stellung von und ist innerhalb eines Satzes zwischen den Konnekten (https://grammis.ids-mannheim.de/konnektoren/406924). Am Satzanfang übt und keine Konnektorfunktion im eigentlichen Sinne aus.



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der Tatsache, dass die einzelnen Wanderungen-Episoden zuerst eine Veröffentlichung in unterschiedlichen Zeitungsblättern erlebten und sich an eine Zeitungsleserschaft wandten – eine textkonstitutive Funktion als Einleitung der relevanten Pointe bzw. eines wichtigen Arguments ausüben.

›Und so‹ und ›Und nun‹ am Satzanfang in »Spreeland« als Signale der Grenzüberschreitung Im Band sind insgesamt 351 und-Vorkommen am Satzanfang30 zu verzeichnen. Es wurden beide Varianten und und un31 berücksichtigt: Das Letztere dient zur Belebung mancher Gespräche zwischen dem Erzähler, seinen Begleitern und sonstigen Figuren, die ihnen begegnen. Interessanterweise begleitet und in vielen Fällen adverbiale Angaben im Vorfeld: etwa Adverbien und Partikeln (Und so –33, Und nun –23, Und dabei –6, Und wirklich –8, Und zwar –5, Und damit –5, Und in der Tat – 4;32 Und doch –733) oder, seltener, Präpositionalgruppen (Und mit – 3; Und von – 2).34 Häufig begleitet und adverbiale Angaben im Vorfeld: Man kann deshalb erwarten, dass solche und-Sätze eine wichtige Information oder eine Veränderung des Sachverhalts signalisieren. Im Folgenden wird diese Hypothese anhand von Und so und Und nun am Satzanfang überprüft. Beide Kombinationen kommen im Text am häufigsten vor und stellen einen erkennbaren Stilzug Fontanes dar.35 30 Das absolute Vorkommen von und im Band beträgt 5.628 Okkurrenzen. 31 Un bzw. un’ ist die durch Apokope abgekürzte (dialektale) Form. (Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 2002, S. 87). In Spreeland kennzeichnet sie die Sprechbeiträge von einigen Gesprächspartnern des wandernden Erzählers. 32 In der Tat, lexikalisierter Mehrwortausdruck, gilt als Adverb. 33 Und doch gilt als syntaktischer Einzelgänger, konnektintegrierbar, vgl. https://grammis.ids-mannheim.de/konnektoren/406926. Seltener kommen im Text Und immer (3), Und vielleicht (2) vor. 34 Deutlich seltener begleitet er Pronomen sowie Interrogativ bzw. subordinierende Konnektoren (Und das – 10, Und da – 4; Und dies – 4, Und was – 7, Und wenn – 6, Und wo – 3, Und wie – 5, Und warum –1, Und ich – 6, Und wir –2, Und daß –2). Außerdem ist in einzelnen Okkurrenzen die Wendung Und siehe da (9) zu treffen. In einzelnen Fällen kommt er in den Dialogen an Anfangsstelle mit Verberststelle vor. Z.B.: »Und tun auch recht daran. Es liegt doch immer was drin«. 35 Dass solche Kombinationen und + Adverb typisch für bedeutende Erzählschritte in Erzähltexten sein und größere Texteinheiten verknüpfen können, hat Weinrich an und da und und dann erkannt: »So findet man in erzählenden Texten besonders oft die Erweiterungen und da oder und dann als Signale der Erzählfolge« (Weinrich, Textgrammatik, S. 806). In Spreeland kommen Und da und Und dann an Anfangsstelle allerdings äußerst selten (jeweils einmal) vor und scheinen somit diese Funktion nicht

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In anderen Fällen begleitet und36 eine Konstituente, die meist nicht mit dem grammatischen Subjekt identisch ist:37 Dadurch mag der Autor eine Veränderung der unmarkierten SVO-Konstituentenstellung38 zum Zwecke der stilistischen Variatio erzielen wollen. Und so am Satzanfang (33 Vorkommen) tritt sowohl in den Berichten des erzählenden Wanderers als auch in den dialogischen Passagen zwischen diesem, seinen Begleitern und den am Ort getroffenen Figuren auf, wie aus den Texten 3 und 4 zu ersehen ist. Als ich ihr mein Anliegen vorgetragen hatte, sagte sie kurz aber nicht unfreundlich, »sie habe nur den Jungen zu Haus, ob ich mit dem fahren wolle?« »Gewiß.« Und so stieg ich denn ins Boot und setzte mich so, daß ich dem Jungen, der rückwärts saß, grad’ in die Augen sah. Als wir schon abstießen, kam auch noch seine jüngere Schwester, nahm rasch ein zweites Ruder und setzte sich neben ihn. Ich sah bald, daß der Junge seiner Sache vollkommen sicher war und den Schermützel ohne sonderliche Mühe bezwingen würde, trotzdem uns der Wind entgegenwehte. Text 3 – Und so – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (Am Schermützel)39

In Text 3 markiert Und so den Übergang vom Dialog zum nächsten Handlungsschritt (dem Einstieg in das Boot): Die Veränderung des Szenarios führt eine Wandlung in der Wahrnehmung des wandernden Erzählers herbei, wodurch sich eine Grenzüberwindung vollzieht. Der Wagenplatz, auf dem ich saß, war höher als das Steinmobiliar und gönnte mir einen freieren Umblick. Alles in der Welt aber hat sein Gesetz, und wer auf der »Schönen Aussicht« ist, hat nun mal die Pflicht, sich auf den Steintisch zu stellen, um von ihm aus und nur von ihm aus die Landschaft zu mustern. Und so tat ich denn wie mir geboten und genoß auch von diesem niedrigen Standpunkt aus, eines immer noch entzückenden Rundblicks, ein weitgespanntes

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gehabt zu haben. Und so und Und nun, die hingegen quantitativ relevant sind, können aus derselben Perspektive untersucht werden. Weitere, nicht (nur) additive Verwendungen von und wurden erkannt, indem auf frühere Sprachgeschichtsstadien fokussiert wurde: Gisella Ferraresi und Helmut Weiß, ›Al die die wîle und ich lebe‹. Und nicht nur koordinierend. In: Eva Breindl, Gisella Ferraresi et al. (Hrsg.), Interaktion von Form, Bedeutung und Diskursfunktion (Linguistische Arbeiten, 534), Berlin 2011, S. 79–106. Z. B. »Und denselben Spruch hat auch der Schmöckwitzer Tischler auf das Grabkreuz unseres Freundes geschrieben«, »Und dieser Vorstellung Ausdruck zu geben, hatte er sich beflissen gezeigt«, »Und dieser Stattlichkeit begegnen wir überall«. Mit »Konstituenten« sind »unmittelbare Konstituente» gemeint, die eine bestimmte syntaktische Funktion einnehmen und die Form von Phrasen haben können. Vgl. https://grammis.ids-mannheim.de/terminologie/781. HFA II/2, S. 480. Hervorhebungen in den Texten 3–9 von der Autorin.



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Panorama. Die Dürftigkeiten verschwanden, alles Hübsche drängte sich zusammen und nach Westen hin traten die Türme Berlins aus einem Nebelschleier hervor. Text 4 – Und so – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (Rauen und die Markgrafensteine)40

Auch in Text 4 signalisiert Und so das Einsetzen einer Bewegung im Raum, die wiederum zu einer Veränderung der Aussicht führt, somit eine Grenzüberschreitung markierend. Die Wendung scheint eine unterschiedliche Bedeutung einzunehmen als das alleinige So (112 Vorkommen), wie die Texte 5 und 6 zeigen. An einer Stelle Erdtrichter und Krater, wo die Leine des Senkbleis den Dienst versagt, und gleich daneben Pfuhle und Tümpel, wo auch das flachgehendste Boot durch den Sumpfgrund fährt. (1) So diese Wasserstraße. An ihren Ufern hin, ähnlich wie im Spreewald, hielten sich, bis in unsere Tage hinein, die wendischen Elemente. Wer die Gegend kennt, nennt sie deshalb die »Wendei«. Sie hat wenig Dörfer, keine Städte; selbst der Eisenbahnzug geht nur wie eine Erscheinung durch sie hin. (2) So ungefähr waren die Resultate, die mir Buch und Karte bei flüchtigem Studium an die Hand gaben. Text 5 - So – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (Die wendische Spree. An Bord der »Sphinx«)41 Die Falkoniere aber bringen den Reiher dem Ober- oder Hofjägermeister, und dieser präsentiret ihn dem Könige, von dem er mit einem Ring gebeitzet und sodann wieder in die freie Luft gelassen wird. Manchmal geschiehet es, daß der Reiher von zwei, drei und vier Falken in der Luft gestoßen und angefallen, dadurch aber die Lust desto größer wird. Ist der Tag glücklich, so werden fünf, sechs und noch mehr Reiher gefangen und gebeitzet.« So war es in den Tagen Friedrich Wilhelms I. An die Stelle dieser »Reiherbeitzen« ist jetzt ein ebenfalls dem Mittelalter entstammendes Reiherschießen getreten […]. Text 6 - So – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (Von Dolgenbrod bis Teupitz – Zweiter Reisetag)42

In Text 5 erscheint das unbegleitete So zweimal am Ende von beschreibenden Passagen und zeigt lediglich einen abschließenden Charakter: Es leitet an beiden Stellen Sätze mit dem Charakter einer Schlussbemerkung ein, bevor ein neues Thema einsetzt. In einem Fall (1: »So diese Wasserstraße.«) kann man beobachten, dass die Beschreibung des folgenden Landschaftselements (des Ufers) erst im nächsten Satz einsetzt. Auch im zweiten Fall (2: »So ungefähr waren die Resultate […]«) wird die Beschreibung der Wendei abgeschlossen. Analog leitet So im Text 6 eine abschließende Bemerkung über die vergangene Zeit ein: Im darauffolgenden Satz erfolgt dann erst die Überleitung zur Gegenwart – durch 40 HFA II/2, S. 476. 41 HFA II/2, S. 507. 42 HFA II/2, S. 527.

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das Adverb jetzt markiert – (»An die Stelle dieser »Reiherbeitzen« ist jetzt ein ebenfalls dem Mittelalter entstammendes Reiherschießen getreten«). Von Und nun am Satzanfang (23 Vorkommen) werden in den Texten 7 und 8 einige Beispiele präsentiert. Die wendische Predigt entzieht sich unserer Kontrolle, das Schluchzen aber, das laut wird, ist wenigstens ein Beweis für die gute Praxis des Geistlichen. […] (1) Und nun schweigt die Predigt, und eine kurze Pause tritt ein, während welcher der Geistliche langsam und sorglich in seinen Papieren blättert. Endlich hat er beisammen, was er braucht, und beginnt nun die Aufgebote, die Geburts- und Todesanzeigen zu lesen, alles in deutscher Sprache. Bemerkenswert genug. […] (2) Und nun ist der Gottesdienst aus, und steif und stattlich gehen die Männer und Frauen an uns vorüber. Ihre Köpfe sind charaktervoll, aber nicht hübsch; ihre Haltung voll Würde. Wir warteten die letzten ab und kehrten dann erst in unsern Gasthof zurück[…]. Text 7 – Und nun – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (In den Spreewald)43 Eine größere, von einem Eisengitter eingefaßte Grabstätte liegt in der Mitte des Kirchhofs, fast dem Tabea-Hause gegenüber. [...] Blumen und Efeu wachsen über die Gräber hin und Trauereschen umstehen das Gitter. In den Sockel des Kruzifixes aber sind folgende Namen und Daten eingetragen: »Johanna von Scharnhorst, geborne Gräfin von Schlabrendorf, geboren am 22. April 1803, gestorben am 6. Januar 1867.« Und links daneben: »Johanna von Scharnhorst, den 16. November 1825 zu Trier geboren, den 13. Oktober 1857 zu Wildbad dem Herrn entschlafen.« Und nun nehmen wir Abschied und schreiten ohne weitere Säumnis aus dem Dorf auf die schmale Dammstelle zu, die, genau halbenwegs zwischen den Schwesterdörfern, eine mit wenig Bäumen bestandene Landenge bildet und nach rechts hin einen Blick auf den Siethener und nach links hin auf den Gröbener See gestattet. Text 8 – Und nun – Erzählerbericht – Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Spreeland (Gröben und Siethen)44

Und nun kommt zweimal in Text 7 in Anfangsposition vor; es kündigt jedesmal einen Zeitwechsel an: Das erste Mal (1) signalisiert es das Ende der Predigt in wendischer Sprache und den Anfang der Lektüre der praktischen Informationen auf Deutsch. Der Satz dient gleichzeitig als Überleitung zum Kommentar des Erzählers über die unterschiedliche Funktion der Mitteilungen in den zwei Sprachen. Auch das zweite Mal (2) signalisiert Und nun einen Zeit- und Situationswechsel: Der Gottesdienst ist zu Ende, der Erzähler beschreibt die bunte Gesellschaft, die die Kirche verlässt. Kurz danach (nach einem weiteren Satz) 43 HFA II/2, S. 458. 44 HFA II/2, S. 830.



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wechselt das Tempus: Der Erzähler berichtet im Präteritum über das Fortschreiten der eigenen Reise. In Text 8 markiert Und nun den Abschied von dem eben besichtigten Dorf und das Fortschreiten auf das nächste Ziel zu.45 Und so und Und nun bilden eine Zäsur zwischen zwei Momenten der Erzählung bzw. die Überleitung von der sich in der Vergangenheit abspielenden Erzählung zur Gegenwart des wandernden Erzählers: Indem sie diese textkonstitutiven Grenzüberschreitungen markieren, erweisen sie sich als textgestaltende Elemente, die der Wissensvermittlung dienlich sind. Es scheint an dieser Stelle angebracht, das Vorkommen dieser Ausdrücke auch in der Figurenrede zu betrachten: »Ja, wie soll ich es sagen? Es is damit wie mit dem Schiffsjungen, dem der silberne Teekessel ins Meer gefallen war, und der dann ärgerlich und pfiffig fragte: >Is das verloren, wovon man weiß, wo’s is?< Und so kann man auch beim richtigen Kugelfang fragen. In’n Sand stecken sie drin, und jeder weiß ganz genau, wo sie sind. Aber weg sind sie doch. Und nun sehen Sie sich die klugen Rauener an! An den Granit schlägt die Kugel und klatsch, da liegt sie. Und wenn sie mit Schießen fertig sind, suchen sie die platten Kugeln wieder auf. Und liegen alle da wie die Pflaumenkerne.« »Hören Sie, Moll, das gefällt mir. Können wir diesen Kugelfang nicht sehen? Ich meine den Stein.« »O gewiß. Er liegt ja hier gleich nebenan. Und ich brauch’ auch nicht abzusträngen. In den Sand hier stehen die Pferde wie ’ne Mauer.«[…] »Und dies ist also der große Stein. War er viel größer als der andere?« »Nein, ich hab’ ihn zwar nicht mehr gesehn, aber die Leute sagen es ja.« »Was?« »Nu, daß er nich viel größer war... Und so um die zwanziger Jahre rum wurd’ er in drei Stücke gesprengt, gerad so wie Sie ’ne Birn in drei Stücke schneiden: links ’ne Backe un rechts ’ne Backe, und in der Mitte das Mittelstück. […].« Text 9 – Und so und Und nun – Figurenrede – (Rauen und die Markgrafensteine)46

45 HFA II/2, S. 474–475. In Anfangsposition kommt Nun im Spreeland deutlich seltener vor (12-mal), davon 4-mal in den – meist dem jeweiligen Kapitel vorangestellten – eingestreuten Liedern. In einzelnen Fällen wird das Adverb zur Einleitung eines zeitlich später eintretenden Abschnitts verwendet. Die Funktion von Nun scheint sich – anders als bei So vs. Und so – nicht deutlich von derjenigen von Und nun zu unterscheiden. Diese Okkurrenzen wurden als Ausnahmen betrachtet. Zu nun an Anfangsstelle im Spreeland-Band wird darauf hingewiesen, dass es immer als nichtpositionsbeschränkter Adverbkonnektor mit temporaler Bedeutung anzutreffen ist. Es tritt nie in der als veraltet geltenden (jedoch noch bei Th. Mann anzutreffenden) Variante als anteponierbarer, postponierbarer oder eingeschobener Subjunktor auf (z. B. »Nun die Ernte eingebracht war, begannen stillere Tage«, hier anteponierbar). https://grammis. ids-mannheim.de /konnektoren/407081. 46 Aus dem Dialog ist darüber hinaus ersichtlich, wie oft und, allein und in Begleitung von Adverbien, in der Figurenrede auch am Satzanfang vorkommt.

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Im obigen Dialog (Text 9) zwischen dem wandernden Erzähler und dem Kutscher Moll dienen Und so und Und nun der Hinzufügung von Informationen und der Weiterführung des Gesprächs, zeigen aber – anders als im Erzählerbericht – keine Funktion im Sinne einer Veränderung des Erzählszenarios.

Schlussfolgerung Der Beitrag hat anhand von Und so und Und nun gezeigt, dass und am Satzanfang in den Wanderungen unterschiedlich eingesetzt wird: Von dem wandernden Erzähler werden Und so und Und nun in seinem Bericht am Satzanfang häufig als Signal einer Grenzüberschreitung (von Raum oder Zeit) eingesetzt,47 in den Dialogen der Figuren hingegen eher als einfache Floskel oder als Einschub, um zu signalisieren, dass man den Turn behalten und etwas Weiteres hinzufügen möchte. Und erscheint insofern – insbesondere im Erzählbericht – in den Verbindungen Und so und Und nun am Satzanfang nicht als rein additiv. Die durch und verbundenen Glieder werden nämlich gewichtet: Beide untersuchten Ausdrücke leiten eine Grenzüberschreitung in der Szene ein, entweder räumlicher (durch das Fortschreiten des Reisenden) oder zeitlicher Art, die betont wird. Fontane wählt bewusst die Verknüpfung zwischen und und den alltäglich vorkommenden Adverbien so und nun, um den Lesern unauffällig über die Grenzüberwindungen hinwegzuhelfen und den Erzählrhythmus konstant zu halten. Die scheinbare Einfachheit und Zufälligkeit der Verwendung am Satzanfang von Und so und Und nun in den Wanderungen scheint nicht unwesentlich zur Herstellung jenes angenehm unverbindlichen Plaudertons beizutragen, der Fontane als Journalist (und Feuilletonautor)48 mit Fontane als Verfasser seiner späteren Romane (einschließlich der hochgepriesenen Causerie 47 Dadurch wird die enge Verbindung zwischen sprachlichem Gewebe und erzählter Geschichte deutlich, was sich orientierend auf den Lesevorgang auswirkt. Vgl. Eichinger, Übergänge: »So wird offenbar das Verstehen von Texten im Fall von Konnektoren durch die Indizierung argumentativer Abläufe gesteuert – oder unter einem anderen Blickwinkel: gefördert – und zwar nicht nur über die semantische Wegweisung durch diese Elemente, sondern darüber hinaus über Muster, die mit ihnen eröffnet werden« (S. XI). Der textuellen Grenzüberschreitung, die sich durch und an der untypischen Stelle von »und plus Adverb« am Satzanfang ereignet, entspricht eine Grenzüberwindung auf der Ebene der Erzählung. 48 D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, betont den journalistischen Charakter der Fontane’schen Prosa (S. 248–263). Vgl. zur »feuilletonistischen Form der meisten seiner [theoretischen] Äußerungen« schon Hans-Heinrich Reuter, Einleitung. In: Ders. (Hrsg.), Theodor Fontane, Schriften zur Literatur, Berlin 1960, S. LI.



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seiner großen Figuren) verbindet. Das unauffällige Funktionswort und gehört somit – in den verschiedensten syntaktischen Konstellationen, die noch weiterer Untersuchung harren – zu den zentralen stilistischen Mitteln, die Fontane sehr differenziert und nuancenreich einsetzt. Darüber hinaus hat die Analyse gezeigt, dass und in den Wanderungen sehr häufig – auch an der Anfangsstelle – vorkommt, einer bewussten stilistischen Entscheidung des Autors folgend. Darin zeigt sich die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten von und, das in der traditionellen Grammatikschreibung meist lediglich als additive Konjunktion beschrieben wird, die zwischen den verknüpften Einheiten steht und deren Anfangsposition nicht vorgesehen ist.49

49 Vgl. etwa Gerhard Helbig und Joachim Buscha, Deutsche Grammatik, Leipzig 1972, S. 424. Neuere deskriptive Ansätze erwähnen auch diese Verwendungsweise. Eroms, Stickel et al., Grammatik der deutschen Sprache, S. 2390–2396 (hier S. 2394) sehen die Anfangsstelle von und in Begleitung von daher/folglich/so/somit bzw. jetzt vor und verstehen eine solche Verwendung als »konsekutiv«. Ulrich Engel berücksichtigt auch das »gelegentliche« Vorkommen am Textanfang und meint diesbezüglich, dass dadurch »ein weiterer Vortext suggeriert [wird], an den die konkrete Äußerung angeschlossen wird, so ist auch hier die typische Verbindungsfunktion des Konjunktors erfüllt« (Ulrich Engel, Deutsche Grammatik – Neubearbeitung, München 2004, S. 430).

Grenzüberschreitungen anhand von ›als‹Adverbialnebensätzen in Theodor Fontanes »Spreeland« Patrizio Malloggi

Einleitung Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Aufsatzes sind Adverbialneben­ sätze,1 d. h. satzförmige Ausdrücke, die als Konstituente des übergeordneten Satzes, des Matrixsatzes, auftreten. Satzförmig sind Ausdrücke, die ein finites Verb als syntaktischen Kern und in aller Regel zugleich ein explizites Subjekt enthalten. Die prototypischen Beispiele für Adverbialnebensätze sind Subjunktorsätze, die Endstellung des Finitums aufweisen.2 Adverbialnebensätze sind satzförmig realisierte Adverbialia, also Lokal-, Temporal-, Konditional-, Kausal- oder Konzessivangaben. Sie sind valenzunabhängig, können deshalb frei zum Matrixsatz hinzugefügt werden, soweit sie mit seiner Bedeutung verträglich sind, und können meist auch weggelassen werden, ohne die Grammatikalität des Satzes zu beeinträchtigen. Das Augenmerk wird auf Adverbialnebensätze gerichtet, die durch den Subjunktor als eingeleitet werden3 und in Theodor Fontanes Spreeland, dem vierten Band der Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1882), vorkommen. Fontanes Spreeland kann der Reiseliteratur als literarische Gattung zugeordnet werden;4 allerdings zielt Fontane in ihm nicht vorrangig darauf ab, die Landschaft der besichtigten Orte ausführlich zu beschreiben, sondern viel1 Die Bezeichnung Adverbialnebensatz bzw. -sätze verwende ich in Anlehnung an die Dudengrammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch. Bd. 4, Berlin 2016, S. 1039. 2 Hardarik Blühdorn, Syntaktische Nebensatzklassen im Deutschen. In: Pandaemonium Germanicum. Revista de Estudos Germanísticos 21 (2013), S.  149‒189, hier S.  150; Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch, S. 1035‒1037; Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann et al., Grammatik der deutschen Sprache, Berlin/New York 1997, S. 2237. 3 Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch, S. 1031‒1032. 4 Wolfgang Albrecht, Kulturgeschichtliche Perspektivierung und Literarisierung des Regionalen in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd. 1), S. 95–110. https://doi.org/10.1515/9783110735710-015

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mehr von ihrer Geschichte und von dem zu erzählen, was die durchreisten Gegenden aus historischer Sicht heraufbeschwören. Daraus folgt, dass Spreeland ein hohes Vorkommen an sprachlichen Ausdrücken wie beispielsweise Adverbien, Präpositionen und Subjunktoren5 aufweist, die zeitliche (und nicht hauptsächlich räumliche) Relationen herstellen, wie man es von einem Reisebericht erwarten würde. Dabei spielt der Subjunktor als – als Kodierungsmittel für zeitliche Verhältnisse, die auf einmalige Ereignisse in der Vergangenheit verweisen – bei der Erzählung eine wichtige Rolle. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die semantische Funktion des temporalen Subjunktors als zu untersuchen, die er in der erzählten Zeit erfüllt, das heißt in der Zeitspanne, über die sich das Handlungsgeschehen erstreckt. Dabei wird festgestellt, dass der Subjunktor als eine Betrachtzeit liefert, aus welcher heraus über Sachverhalte berichtet wird, die einmalig in der Vergangenheit geschehen sind und historische Informationen über die vom Erzähler besichtigten Gegenden vermitteln. Um sich der Semantik dieses Subjunktors zu nähern, ist es aber wichtig, zunächst auch seine syntaktische Verhaltensweise zu betrachten. In Anlehnung an den Titel des Aufsatzes können als-Adverbialnebensätze in Spreeland syntaktische und semantische Grenzüberschreitung aufweisen; in syntaktischer Hinsicht können als-Adverbialnebensätze auch eine desintegrierte Stellung außerhalb der Grenze der Satzfelder einnehmen, die als Vorvorfeld bezeichnet wird.6 Unter semantischem Blickwinkel liefert der Subjunktor als eine Betrachtzeit, durch die der Erzähler Rückblicke auf einmalige Sachverhalte in der Vergangenheit macht; dabei findet meistens ein abrupter Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum statt, der die Haupthandlung im Gegenwartstempus unterbricht. Dieser Aufsatz setzt sich aus vier Abschnitten zusammen: Abschnitt 1 führt in die Erzähltechnik und in die Textstruktur des Werks Spreeland ein. In Abschnitt 2 werden die Datengrundlage und die Untersuchungsmethode beschrieben. Abschnitt 3 ist mit der Beschreibung des syntaktischen Verhaltens und der semantischen Funktion von als-Adverbialnebensätzen der Kernabschnitt des Aufsatzes. In Abschnitt 4 werden die Schlussbemerkungen formuliert. 5 Subjunktor ist eine Sammelbezeichnung für Junktoren, die miteinander gemeinsam haben, dass sie einen Verbletztsatz einleiten, d. h. einen Satz, in dem das finite Verb an der letzten Stelle steht (grammis, Subjunktor, https://grammis.ids-mannheim.de, zuletzt aufgerufen am 19.06.2021); Renate Pasch, Ursula Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren. Linguistische Grundlagen der Beschreibung und syntaktische Merkmale der deutschen Satzverknüpfer (Konjunktionen, Satzadverbien und Partikeln), Berlin/New York 2003, S. 353‒354. 6 Hardarik Blühdorn und Miriam Ravetto, Satzstruktur und adverbiale Subordination. Eine Studie zum Deutschen und zum Italienischen. In: Linguistik online 67 (2014), S. 3‒44, hier S. 8‒9.



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I. Zum Werk »Spreeland« Spreeland ist der Titel des vierten Bandes von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1882), dem umfangreichsten Werk des preußischen Schriftstellers. Die Wanderungen sind gekennzeichnet durch Heterogenität, die sich sowohl inhaltlich und stilistisch als auch in der Vielfalt der Diskursformen findet.7 So bedient sich Fontane biographischer und chronikalischer, aber auch romanhafter und anekdotischer sowie balladesker und journalistischer Darstellungsformen. Er schreibt über unterschiedliche Themenbereiche wie Geschichte, Architektur und Kunst, aber auch über Landwirtschaft und Industrie, Natur als Landschaft, Sitten und Bräuche. Man findet Beschreibungen von Gebäuden oder Sehenswürdigkeiten, dann wieder Lebens- und Charakterskizzen der märkischen Bevölkerung, Landschaftsbilder, kunstvoll eingeflochtene Anekdoten oder auch sachlich-informative Berichte.8 In Spreeland führt Fontane den Lesenden auf viele Ausflüge zu Orten südöstlich von Berlin bis in den Spreewald; darin beschreibt der Autor Schlösser, Klöster und Landschaften der Mark Brandenburg und ihre Geschichte. Fontane erzählt von Wanderungen bzw. Ausflügen, die er tatsächlich unternahm. Dies erlaubt es, das Werk u. a. der Reiseliteratur zuzuordnen. Neben der Beschreibung von Landschaftsbildern berichtet Fontane in ausführlichen Abschnitten von den besichtigten Gegenden sowie dem märkischen Landadel und bedeutenden Familien – in vielen Passagen besteht die Geschichte aus »Familiengeschichte«.9 Auf der Ebene der Textstruktur ist Spreeland, wie übrigens die ganzen Wanderungen, in Kapitel bzw. Unterkapitel eingeteilt. Jedes Kapitel fängt mit der Beschreibung einer Wegstrecke an, die eine Wanderung fast immer einleitet. Sie beginnt zumeist mit einer knappen Beschreibung des Weges, auf dem man sich zu einem Ort begibt (per Kutsche, Eisenbahn usw.), und der natürlichen Umgebung. Der Weg führt in den meisten Kapiteln von außen (Landschaft) nach innen (Detail), zu einem Detail, das beispielsweise auf die Biographie einer historisch wichtigen Person oder auf ein (prächtiges) Möbelstück in einem Herrenhaus verweist und den Schwerpunkt der entsprechenden Unterkapitel darstellt. »Der Weg also lenkt die Schritte des Wanderers direkt zu den histo7 Walter Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818‒850, hier S. 826. 8 Ebd., S. 826. 9 Albrecht, Kulturgeschichtliche Perspektivierung und Literarisierung des Regionalen in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹, S. 100.

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rischen Geschichten und Erzählungen, die sich mit der Landschaft und der Natur verbinden und daraufhin ausführlich ausgebreitet werden.«10 Die Unterkapitel versetzen den Lesenden in die Geschichte des besichtigten Ortes, indem sie die Lebensgewohnheiten und Biographien berühmter Persönlichkeiten sowie Gemälde und Anekdoten aus der Vergangenheit thematisieren.11 Die räumliche Verschiebung bzw. der Besuch eines Ortes ist nur ein ›Vorwand‹ für eine Zeit-, Kultur- und Geschichtsreise: Am Anfang steht das ganz persönliche Reiseerlebnis; von diesem ersten Eindruck, der gewöhnlich mit einer einprägsamen Landschaftsschilderung verbunden ist, leitet er zielstrebig über eine Anekdote zu Geschichte und Sage.12

Das geographische Prinzip wechselt sich mit dem historischen ab und beeinflusst auch Fontanes Erzähltechnik, die sich aus Haupthandlung und Abschweifungen bzw. Digressionen zusammensetzt. Die Haupthandlung dient der Beschreibung der durchreisten Landschaft und findet immer in der Gegenwart durch den Einsatz des Tempus Präsens statt. Sie wird oft durch Abschweifungen unterbrochen, die in Erklärungen, historischen Nachrichten bestehen und die Funktion erfüllen, die Geschichte, von der die besichtigten Landschaften zeugen, auszuführen und das Leben ihrer früheren Bewohner so anschaulich wie möglich zu schildern. Die Abschweifungen in die historische Landschaft haben auch die Funktion, den Lesenden über die preußische Ortsund personengebundene Ereignisgeschichte aufzuklären und ihn zu amüsieren.13 Die Naturbeschreibungen dienen der Vermittlung der kulturgeschichtlichen Perspektive, die den ganzen Text kennzeichnet; die Landschaft wird zum Medium für Geschichte. Die Landschaftsästhetik der Mark ist für Fontane in erster Linie durch ihre Geschichte bedingt und der Wanderer bewegt sich in Spreeland wie auf einer historischen Landkarte.14 Der Wechsel des geographischen Prinzips mit dem historischen führt in der erzählten Zeit meistens zu einem abrupten Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum.

10 Walter Erhart, ›Alles wie erzählt‹: Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 229–254, hier S. 235. 11 Claudia Buffagni, Theodor Fontane. Viaggi non straordinari di un romanziere tedesco, Pasian di Prato (Udine) 2004, S. 41‒43. 12 Ebd., S. 49. 13 Christine Hehle, Les Promenades à travers la ›Marche de Brandebourg‹ de Theodor Fontane: un paysage et son invention littéraire. In: Fédération des maisons d’écrivain et des patrimoines littéraires (Hrsg.): Le voyage littéraire. Actes des 5e Rencontres de la Fédération des maisons d’écrivain et des patrimoines littéraires. Bourges 2003, S. 87–94, hier S. 94. 14 Ebd.



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II. Datengrundlage und Untersuchungsmethode Die Datengrundlage bildet Theodor Fontanes Spreeland (1882). Der Text ist durch eine deskriptive Sprache gekennzeichnet, die landeskundliche Informationen über die besichtigten Gegenden sowie über ihre Geschichte vermittelt. Unter syntaktischem Blickwinkel ist die Satzstruktur durch einen häufig vorkommenden hypotaktischen Stil gekennzeichnet: Diesen erkennt man daran, dass der Satzbau ziemlich komplex ist und sich durch zusammengesetzte Sätze auszeichnet; diese bestehen aus zwei bzw. aus mehr als zwei Teilsätzen, von denen einer der Haupt- bzw. Matrixsatz ist, der oder die anderen Nebensätze sind. Die meisten Nebensätze, die im Text vorkommen, lassen sich syntaktisch näher als Adverbialnebensätze bezeichnen; sie können weggelassen werden, ohne dass der Matrixsatz ungrammatisch wird. Unter semantischem Blickwinkel modifizieren sie den zugehörigen Matrixsatz als Ganzes im Hinblick auf Zeit, Ort, Ursache, die Art und Weise usw.15 Die folgende Grafik 1 zeigt die Verteilung adverbialer Nebensätze im Text Spreeland: Gesamtzahl der Vorkommen: 351

Grafik 1: Verteilung der Adverbialnebensätze in Spreeland

15 Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch, S. 786‒793.

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Grafik 1 zeigt, dass die in Spreeland16 vorkommenden Adverbialnebensätze durch Subjunktoren eingeleitet werden, die unterschiedliche Lesarten haben können. Zur Illustration einige Beispielsätze: (1) a. [Als wir schon abstießen], kam auch noch seine jüngere Schwester (Sp, S. 25). b. In diesem Zimmer war es auch wohl, daß Graf Schmettau die letzten Augenblicke zubrachte, [bevor ihn das Jahr 1806 aus der Stille von Schloß Köpenick wieder in den Lärm des Krieges rief ] (Sp, S. 79). c. Schloß Köpenick war tot, [bis es der soldatische Sohn Sophie Charlottens zu neuem Leben erweckte] (Sp, S. 74). d. Bei starkem Regen saßen wir bis an die Waden im Wasser, [da der Platz vertieft war] (Sp, S. 189). e. Konrad von Burgsdorf starb bald, [nachdem er in Ungnade gefallen war] (Sp, S. 147). f. Er ist eifersüchtig und aufgeregt, [sobald Julie einmal nicht da ist oder sich ihr jemand nähert] (Sp, S. 133). g. Und nun schweigt die Predigt, und eine kurze Pause tritt ein, [während welcher der Geistliche langsam und sorglich in seinen Papieren blättert] (Sp, S. 8). h. An der einen Wand hingen ein paar Totenkronen und Immortellenkränze, [während über dem Altar ein Abendmahlsbild paradierte] (Sp, S. 26). i. Der Dreißigjährige Krieg kam nicht hierher, [weil ihm die Gegend zu arm und abgelegen war] (Sp, S. 59). j. [Wenn sie mit Schießen fertig sind], suchen sie die platten Kugeln wieder auf (Sp, S. 21). k. Aber hier rechts neben dem Altar, [wenn Sie mit Ihrem Stock aufklopfen wollen], da können Sie’s noch deutlich hören (Sp, S. 27). Die Subjunktoren als (1a), bevor (1b), bis (1c), nachdem (1e) und sobald (1f ) können nur temporal interpretiert werden,17 da (1d) oder weil (1i) können nur 16 Edgar Gross (Hrsg.), Theodor Fontane. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 4. Teil: Spreeland, München 1963. Die Beispiele in diesem Aufsatz sind in manchen Fällen gekürzt und teilweise bearbeitet, um das Wesentliche deutlich hervortreten zu lassen. Auf Nachweise von Fundorten wird verzichtet. Die in eckige Klammern eingerahmte Konstituente ist der Adverbialnebensatz. Durch Kursivschrift ist der einleitende Subjunktor hervorgehoben. Ab hier werden die Seitenangaben im Text in Klammern mit der Abkürzung ›Sp‹ angegeben. 17 Claudio Di Meola, La linguistica tedesca. Un’introduzione con esercizi e bibliografia ragionata, Roma 2014, S. 124; Hardarik Blühdorn, Syntax und Semantik der Konnek-



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kausal gelesen werden, während andere mehrere Lesarten haben, etwa wenn, das temporal (1j) oder konditional (1k) gelesen werden kann, oder während, das eine temporale (1g) und eine adversative (1h) Lesart erlaubt. Grafik 2 zeigt, dass die meisten Adverbialnebensätze durch einen Subjunktor eingeleitet werden, der eine temporale Lesart erlaubt:

Grafik 2: Verteilung der temporalen Adverbialnebensätze in Spreeland

Wie man sieht, überwiegen mit 60% der Vorkommen die Adverbialnebensätze, die durch den Subjunktor als eingeleitet sind. Der Kontext, in den der als-Adverbialnebensatz eingebettet ist, wird für seine syntaktische und semantische Untersuchung genutzt. Im Fokus der Untersuchung steht aber durchweg der Satz mit dem als-Adverbialnebensatz, der nach den folgenden zwei Kriterien ausgewertet wird: (i) Syntaktisches Verhalten des als-Adverbialnebensatzes Als-Adverbialnebensätze können das Vor-, Mittel- und Nachfeld des Matrixsatzes einnehmen. Sie können aber auch außerhalb der Grenzen der Satzfelder vorkommen; in derartigen Fällen nehmen als-Adverbialnebensätze eine syntaktisch desintegrierte Position ein, die in der Grammatikschreibung als Vorvorfeld bzw. Linksversetzung bezeichnet wird.18 toren. Ein Überblick, Mannheim 2008, S. 1‒63, hier S. 29 (http://www1.ids-mannheim.de/fileadmin/gra/texte/blu_ueberblick.pdf, zuletzt aufgerufen am 13.10.2020). 18 Hardarik Blühdorn und Miriam Ravetto, Satzstruktur und adverbiale Subordination. Eine Studie zum Deutschen und zum Italienischen, S. 9‒11.

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(ii) Semantische Funktion des als-Adverbialnebensatzes Der Subjunktor als hat temporale Bedeutung und drückt Sachverhalte aus, die einmal in der Vergangenheit festgelegt sind. Dabei wird das Augenmerk auf solche Textpassagen gerichtet, in denen als eine Betrachtzeit liefert, aus welcher heraus der Erzähler temporale Abschweifungen von der Haupthandlung in die vergangene Geschichte der besichtigten Gegend einsetzt.

III. Syntax und Semantik von als-Adverbialnebensätzen In diesem Abschnitt werden Syntax und Semantik des Subjunktors als auf der Grundlage von Beispielsätzen illustriert. Untersuchen werde ich zunächst die Stellung des Subjunktors als in der Satzstruktur und dann die syntaktischen Beziehungen von als-Adverbialnebensätzen zum Matrixsatz. Es bietet sich an, zunächst die syntaktischen Eigenschaften von als zu untersuchen, und zwar deshalb, weil Subjunktoren ihren Beitrag zur formalen Kohärenz von Texten nicht nur kraft ihrer semantischen, sondern auch kraft ihrer syntaktischen Eigenschaften leisten. Die semantische Leistung von Konnektoren wird erst richtig verständlich, wenn man sich zuvor ihrer syntaktischen Eigenschaften versichert hat.19

III.1 Syntax von als-Adverbialnebensätzen In der Linearstruktur des Satzes, die gewöhnlich mit dem sogenannten Felderschema20 beschrieben wird, nimmt der Subjunktor als die linke Klammerposition ein. Das finite Verb muss in seiner Grundstellung am rechten Rand der rechten Klammerposition verbleiben: VF

LK Als

MF wir schon

RK abstießen

NF

Abb. 1: Linearstruktur eines als-Subjunktorsatzes (VF – Vorfeld, LK – linke Klammerposition, MF – Mittelfeld, RK – rechte Klammerposition, NF – Nachfeld)

19 Blühdorn, Syntax und Semantik der Konnektoren. Ein Überblick, S. 2. 20 Wolfgang Sternefeld, Syntax. Eine morphologisch motivierte generative Beschreibung des Deutschen, Tübingen 2008, S. 286‒290.



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Der Kopf des Adverbialnebensatzes ist der Subjunktor als, der Satzrest ist seine Ergänzung. Der Subjunktor und seine Ergänzung bilden eine Subjunktorphrase.21 Als-Adverbialnebensätze übernehmen die Funktion eines adverbialen Adjunkts in Bezug auf den Matrixsatz (seinen Wirt). Adverbiale Adjunkte sind erweiternde Konstituenten, die keine syntaktischen Leerstellen sättigen und die syntaktische Kategorie ihres Wirtes nicht verändern. Durch die Hinzufügung eines Adjunkts ändert sich die grammatische Kategorie des Gesamtausdrucks nicht. Der Gesamtausdruck ist von der gleichen Kategorie wie der Wirt,22 wie Beispiel (1) zeigt: (1) [Es kam niemand], V2-Satz - Wirt [als [ich klopfte] ]SjP – Adjunkt ] V2-Satz (Sp, S. 26)

Der V2-Satz bleibt nach Hinzufügung des Adjunkts weiterhin ein Satz. Als Nächstes prüfe ich, welche syntaktischen Beziehungen als-Adverbialnebensätze zum Matrixsatz haben können.23 Die folgenden Beispielsätze zeigen, dass als-Adverbialnebensätze das Vor-, Mittel- und Nachfeld des Matrix­satzes besetzen. Ich gebe je ein Beispiel für einen als-Adverbialnebensatz: einmal vor­ angestellt (im Vorfeld) (2), einmal in Mittelfeldstellung (3) und einmal nachgestellt (im Nachfeld) (4): (2) [Als ich oben war,]VF grüßte ich noch einmal zurück. (Ebd.)

In (2) ist der als-Adverbialnebensatz dem Matrixsatz anteponiert, das heißt, er kommt im Vorfeld vor. (3) Aber der Herr von der Marwitz hat es, [als er das letzte Mal hier war,]MF ins Schloss bringen lassen. (Sp, S. 34)

In (3) nimmt der als-Adverbialnebensatz die Mittelfeldstellung ein. (4) Gleich die erste halbe Meile ist ein landschaftliches Kabinettstück und wird insoweit durch nichts Folgendes übertroffen, [als es die Besonderheit des Spreewaldes, seinen Netz- und Inselcharakter, am deutlichsten zeigt]NF. (Sp, S. 9)

21 Pasch, Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren, S. 50. 22 Blühdorn und Ravetto, Satzstruktur und adverbiale Subordination, S. 4. 23 Hardarik Blühdorn, Zur Syntax adverbialer Satzverknüpfungen: Deutsch – Italienisch – Portugiesisch. In: Lutz Gunkel und Gisela Zifonun (Hrsg.), Deutsch im Sprachvergleich. Grammatische Kontraste und Konvergenzen, Berlin 2012, S. 301‒332, hier S. 302; Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch, S. 1062.

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In (4) ist der als-Adverbialnebensatz dem Matrixsatz postponiert; er steht im Nachfeld. Als-Adverbialnebensätze können auch an der linken Peripherie ihres Matrixsatzes vorkommen, wie die folgenden Beispielsätze (5a/b) verdeutlichen: (5)

a.

Und [als er nun das junge Fräulein geheiratet hatte,]VorVF da wurde er Minister und regierte den preußischen Staat. (Sp, S. 33) b. [Als sie den Sarg niederließen,]VorVF da, zum ersten Male, kam ein Schwanken in sein Herz. (Sp, S. 57)

In (5a/b) nimmt der als-Adverbialnebensatz eine syntaktisch desintegrierte Position ein, die als Vorvorfeld bezeichnet wird.24 Die traditionelle Grammatik spricht in derartigen Fällen von Linksversetzung: Als Linksversetzung bezeichnet man eine syntaktische Konstruktion, bei der zu einer Konstituente, die das Vorfeld eines Satzes besetzt, vor diesem Satz ein dazu korreferenter Ausdruck existiert, der nicht in die Linearstruktur des Satzes integriert ist, sondern an dessen Nullposition steht.25 In den Beispielsätzen (5a/b) ist der korreferente Ausdruck das temporale Adverb da.

III.2 Semantik von als-Adverbialnebensätzen Der Subjunktor als ist ein lexikalisches Ausdrucksmittel für temporale Verknüpfungen, die durch Sätze kodiert werden. Er drückt eine chronologische Beziehung zwischen zwei Ereignissen aus, indem er einen zeitlichen Kontext für den im Matrixsatz beschriebenen Sachverhalt angibt.26 Dies soll auf der Grundlage des folgenden Beispiels näher verdeutlicht werden: (6)

[Als er mich kommen sah], kam er mir entgegen.

Als bildet zusammen mit dem Satz (6a) Er sah mich kommen

24 Eva Breindl und Maik Walter, Der Ausdruck von Kausalität im Deutschen. Eine korpusbasierte Studie zum Zusammenspiel von Konnektoren, Kontextmerkmalen und Diskursrelationen, Mannheim 2009, S. 49‒50. 25 Hardarik Blühdorn, Syntaktische Nebensatzklassen im Deutschen, S. 155‒156; Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch, S.  1067; Pasch, Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren, S. 256‒257. 26 Blühdorn und Ravetto, Satzstruktur und adverbiale Subordination, S. 25; Di Meola, La linguistica tedesca. Un’introduzione con esercizi e bibliografia ragionata, S. 124.



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einen Nebensatz, der semantisch dasselbe leistet wie ein temporales Adverbiale: Er liefert eine Betrachtzeit27 für den Matrixsatz (6b) Er kam mir entgegen,

indem er das Wahrheitsintervall von (6a) als Betrachtzeit für den Matrixsatz (6b) bereitstellt. In (6) überlappt das Wahrheitsintervall von (6b) mit der Betrachtzeit. Die Bedeutung des Subjunktors als besteht darin, dass er die Ereigniszeit, also das Wahrheitsintervall des von ihm eingeleiteten Satzes, als maximal mögliches Betrachtzeitintervall an den Matrixsatz weitergibt.28 Kennzeichnend für Fontanes Erzähltechnik ist die Unterbrechung des linearen Haupthandlungsgeschehens im Präsens durch Abschweifungen, die den Lesenden in die vergangene Geschichte der durchreisten Landschaften und Örtlichkeiten versetzen. Die subordinierende Konjunktion als liefert dabei eine Betrachtzeit, aus welcher heraus historische Nachrichten über den besichtigten Ort bzw. über die Personen, die dort gelebt haben, vermittelt werden. Die gelieferte Betrachtzeit dient auch der Erzählung von Anekdoten bzw. von persönlichen Erlebnissen aus der Vergangenheit. Die ausgewählten Textabschnitte29 sollen veranschaulichen, wie der Erzähler temporale Abschweifungen von der Haupthandlung aufgrund von als-Adverbialnebensätzen in die Erzählung einfügt. In diesen Textabschnitten drückt die subordinierende Konjunktion als aus, dass der Nebensatz-Sachverhalt zeitlich mit dem Matrixsatz-Sachverhalt übereinstimmt. In dieser Hinsicht kontrastiert sie mit den temporalen Subjunktoren bevor, der Vorzeitigkeit ausdrückt, und nachdem, der eine temporale Bedeutung im Sinne der Nachzeitigkeit hat.30 In (7) handelt es sich um den Anfang des Kapitels Buch: 27 Betrachtzeit verweist auf einen von der Sprechzeit verschiedenen Zeitabschnitt als für die Deutung einer Äußerung relevanten Zeitabschnitt. Die Betrachtzeit bezeichnet den Zeitabschnitt, aus welchem heraus das Ereignis betrachtet wird, über das berichtet wird (Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann et al., Grammatik der deutschen Sprache, S. 1691). 28 Ebd., S. 1145. 29 Ausgewählt wurden die Textabschnitte, die sich für meine Zielsetzung besonders eignen. Hierfür werden folgende Notationskonventionen verwendet: Mit Fettdruck werden die als-Adverbialnebensätze markiert. Fettdruck wird dazu verwendet, eine Betonung im Sinne eines Äußerungsakzents anzuzeigen. Finite Verbformen im Präsens werden unterstrichen, durch Kursivschrift werden die finiten Verbformen im Präteritum hervorgehoben. 30 Hardarik Blühdorn, Zur Semantik der Konjunktion als. Paradigmatische und syntagmatische Aspekte. In: Elke Hentschel (Hrsg.), Particulae Collectae. Festschrift für Harald Weydt zum 65. Geburtstag. In: Linguistik online 13/1 (2003), S. 11‒53, hier S. 33.

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(7) Zwei Meilen nördlich von Berlin liegt das Dorf Buch, reich an Landschaftsbildern aller Art, aber noch reicher an historischen Erinnerungen. […]. Gleich der Eintritt ins Dorf ist malerisch. Eine Feldsteinbrücke wölbt sich über ein Wässerchen, das schäumend einen Bergabhang herniederkommt, die Häuser steigen in leiser Schlängellinie bergan, und nach links hin, als woll er das Dorf in seinen Arm nehmen, zieht sich, waldartig, ein ausgedehnter Park. Es war neun, als wir aus dem Park in das Wirtshaus zurückkehrten und uns an den gedeckten Tisch setzten, der unsrer schon wartete. Müdigkeit sorgte für Schlaf, und statt unsrer Träume sei hier die Geschichte Buchs und seiner vier alten Familien: der Röbel, Pöllnitz, Viereck und Voß, erzählt. […]. (Sp, Kapitel Buch, S. 123).

In der ersten Zeile wird das Dorf Buch zunächst einmal lokalisiert. Der Erzähler weist dabei auf seine abwechslungsreiche Landschaft und zugleich auf seine historische Bedeutung hin. Darauf folgt eine ausführliche landschaftliche Beschreibung des Dorfes im Präsens. Nach der landeskundlichen Beschreibung wird der Lesende in die Geschichte dieses Dorfes versetzt, indem der Erzähler vom Präsens zum Präteritum wechselt. Der thematische bzw. zeitliche Wechsel ist syntaktisch durch einen zusammengesetzten Satz gekennzeichnet, in dem der Nebensatz durch den Subjunktor als eingeleitet wird; dieser liefert eine Betrachtzeit, die mit dem Wahrheitsintervall des Matrixsatzes (»Es war neun«) überlappt, das heißt, das im Nebensatz ausgedrückte Ereignis verläuft simultan mit dem des Matrixsatzes.31 Der zusammengesetzte Satz führt den Lesenden in die temporale Abschweifung von der Haupthandlung ein; dadurch wird die Gegend nicht mehr landschaftlich beschrieben, sondern aufgrund dessen, was sie historisch heraufbeschwört. Der Subjunktor als liefert die Betrachtzeit, aus welcher heraus der Erzähler sich der Geschichte des Dorfes Buch am Beispiel von vier angesehenen alten Familien – Röbel, Pöllnitz, Viereck und Voß – widmet. Der folgende Textabschnitt bestätigt weiterhin, dass es sich bei Spreeland um Reisebeschreibungen handelt, die durch den Blick des Erzählers gefiltert werden. Der Erzähler interessiert sich nicht so sehr für den sachlichen, geographischen, sondern eher für den historischen Aspekt, der mit einem bestimmten Ort verbunden ist: (8) Wen ein Sommernachmittag ausnahmsweise vor die Tore der östlichen Stadtteile, beispielsweise nach Friedrichsfelde, führt, dem werden sich daselbst in Landschaft und Genre die gefälligsten und in ihrer heitern Anmut vielleicht auch unerwartetsten Bilder erschließen. Friedrichsfelde darf als das Charlottenburg des Ostens gelten, und allsonntäglich wandern Hunderte von Residenzlern hinaus, um sich »Unter den Eichen« daselbst zu divertieren. […]. Er wird auch überrascht sein durch das reiche Stück Geschichte, das ihm an diesem Ort entgegentritt. Wir erzählen davon. Friedrichsfelde war bis zum Jahre 1700 gar kein Friedrichsfelde. […]. Diese (Prinzessin von Holstein-Beck) war fünfzig Jahre, eine kluge, heitere, noch hübsche Frau, als sie

31 Elke Hentschel und Harald Weydt, Handbuch der deutschen Grammatik, Berlin 1990, S. 274‒275.



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in Schloß Friedrichsfelde einzog. Die Prinzessin von Holstein-Beck kam 1800 oder vielleicht auch erst 1801 zu uns. […]. (Sp, Kapitel Friedrichsfelde I, S. 98–107).

Dem Textabschnitt entnimmt man, dass Friedrichsfelde östlich von Berlin liegt und das Charlottenburg des Ostens genannt wird. Dieser Ort ist bei »Hunderten von Residenzlern« wegen seiner Landschaft, die reich an Eichen ist, sehr beliebt. Im Text heißt es zudem, dass der Besucher aber auch »durch seine reiche Geschichte überrascht sein werde«. Der Lesende wird durch den Tempuswechsel Präsens > Präteritum von der geographischen in die historische Beschreibung des besichtigten Ortes versetzt. Der Erzähler verwendet das Präteritum, um zunächst über den Ursprung des Namens Friedrichsfelde und dann über eine wichtige Persönlichkeit zu berichten. Durch den zusammengesetzten Satz wird die Figur der Prinzessin von Holstein-Beck näher charakterisiert. Der Subjunktor als liefert eine Betrachtzeit für den im Matrixsatz beschriebenen Sachverhalt: Die Prinzessin war fünfzig Jahre alt und eine kluge, heitere, noch hübsche Frau, als sie ins Schloss Friedrichsfeld einzog. Der Einzug der Prinzessin in das Schloss gilt als Betrachtzeit, aus welcher heraus im weiteren Verlauf des Textes historische Informationen über das Leben dieser wichtigen Persönlichkeit vermittelt werden. Nicht nur Orte und Persönlichkeiten, sondern auch Denkmäler dienen in Spreeland dazu, historische Informationen zu vermitteln, die den Lesenden auf der Reise durch die Geschichte des durchreisten Ortes begleiten. Wie es für Fontanes Erzähltechnik typisch ist, wird das Denkmal zunächst einmal im Gegenwartstempus geschildert und erst danach wird über die Geschichte, von der es zeugt, im Präteritum berichtet. Im folgenden Textabschnitt geht es um die Besichtigung des Schlosses Köpenick: (9) Schloß Köpenick ist eines der vielen Hohenzollerschen Schlösser, die sich unter den mannigfachsten deutschen und französischen Namen im Spree- und Havellande vorfinden und von deren Nochvorhandensein die wenigstens unter uns eine Kenntnis haben. […]. Das alte Schloß Köpenick stand schon, als die Deutschen unter Albrecht dem Bären ins Land kamen. Jaczko oder Jasso, der letzte Wendenfürst, an dessen Bekehrung die schöne Schildhornsage anknüpft, residierte daselbst. Nach seiner Unterwerfung wurde seine Residenz, eine Wendenveste, zur markgräflichen Burg. […]. (Sp, Kapitel Schloß Köpenick, S. 69)

Nach einer kurzen Lokalisierung des Schlosses wird auf seine Charakterisierung in der Vergangenheit hingewiesen. Der Subjunktor als stellt durch den eingeleiteten Nebensatz die Betrachtzeit für den Matrixsatz bereit, von der aus das Schloss Köpenick beschrieben wird, wie es zur Zeit von Albrecht dem Bären war. Die Betrachtzeit dient ferner der Schilderung von geschichtlichen Sachverhalten, von denen das Schloss zeugt.

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Dieselbe Erzähltechnik charakterisiert auch den folgenden Abschnitt zu Anfang des Kapitels Werneuchen. Es beginnt mit der Lokalisierung und der landschaftlichen Schilderung des Städtchens Werneuchen im Gegenwartstempus. Die landschaftliche Beschreibung von Werneuchen gibt dem Erzähler Anlass, im Anschluss daran historische Nachrichten über diesen Ort zu vermitteln: (10) Inmitten des Barnim, halben Wegs zwischen Berlin und Eberswalde, liegt das Städtchen Werneuchen. […]. Werneuchen gehörte wie Zossen, Trebbin, Baruth u. a. m. zu jenen bevorzugten Örtern, die sich ohne besonderes Verdienst, in jener kurzen Epoche, die zwischen dem Sandweg und dem Schienenweg lag und die man das Chaussee-Interregnum nennen könnte, zu einer gewissen Reputation emporarbeiteten. […]. Einmal erschien auch eine junge, durchreisende Dame, und als er sich bücken wollte, um ihr eine Rose zu pflücken, sank er tot zwischen die Blumenbeete nieder (Sp, Kapitel Werneuchen, S. 156).

Die Ankunft in diesem Städtchen gibt dem Erzähler Anlass, eine Anekdote aus der Vergangenheit zu erzählen, die den Propst Gloerfeld zum Protagonisten hat. Unter syntaktischem Blickwinkel wird die Anekdote durch einen zusammengesetzten Satz im Präteritum eingeführt, in dem ein als-Adverbialnebensatz vorkommt; die subordinierende Konjunktion als liefert dabei die Betrachtzeit, von der aus der Sachverhalt des Matrixsatzes, das heißt der Tod von Propst Gloerfeld, in den Blick genommen wird. Der Erzähler berichtet auch über persönliche Erlebnisse aus der Vergangenheit: (11) Rahnsdorf und Friedrichshagen blicken mit ihren schmucken roten Dächern auf den See hinaus, aber es sind nicht eigentliche Seedörfer; sie liegen am Ufer der Spree, nicht am Ufer der Müggel. Am Müggelsee selber, den nichts wie Sandstreifen und ansteigende Fichtenwaldungen einfassen, erhebt sich oder erhob sich wenigstens in den sechziger Jahren, als ich den See zum ersten Male sah, ein einziges Haus: die Müggelbude. […]. (Sp, Kapitel Der Müggelsee, S. 86).

In (11) beginnt die Textpassage mit der Beschreibung der Dörfer Rahnsdorf und Friedrichshagen im Präsens. Der Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum findet in der Erzählung durch einen zusammengesetzten Satz statt, in dem der Subjunktor als den Nebensatz einleitet. Der Subjunktor als gibt die Betrachtzeit vor, von der aus die Beschreibung der Gegend um den Müggelsee in den Blick genommen wird, wie sie in der Vergangenheit, das heißt in den 1860er Jahren, war. Der nächste Textabschnitt hat den Ort Blankensee zum Gegenstand: (12) Eine halbe Stunde südlich von Saarmund, immer am Ufer der Nuthe hin, fahren wir in einen schmalen, spitz auslaufenden Landesteil ein, den wir am besten als den »Thümenschen Winkel« bezeichnen. […]. Die Residenz dieses Fleckchens Erde heißt Blankensee. Hier haben die Thümens ihr Herrenhaus, hier ihre Kirche, ihre Gruft. […]. Wir werden in der Folge noch davon zu erzählen haben. Es war Mittagsstunde, als wir vor dem Gasthause hielten. Der Wagen fuhr



Grenzüberschreitungen anhand von ›als‹-Adverbialnebensätzen

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in den breiten Schatten einer Linde, während wir uns rüsteten und mit den Augen überallhin umherfragten. Unser erstes war ein Gang durch das Dorf. […]. Das Gesträuch des Parkes wuchs weit über das Wässerchen hin und schuf einen Laubengang, unter dem die Enten auf und ab fuhren und sich’s wohl sein ließen. […]. (Sp, Kapitel Blankensee, S. 307).

Das Kapitel Blankensee beginnt mit der Lokalisierung dieses Ortes bzw. mit der Beschreibung der Wegstrecke, die dorthin führt. Die Charakterisierung der Landschaft dient dem Erzähler als Anknüpfungspunkt, um auf die Familie Thümen, die hier lebte, zu kommen und von ihr zu erzählen. Der Erzähler führt den Lesenden in den Rückblick auf die Vergangenheit durch den Tempuswechsel (Präsens > Präteritum) und unter syntaktischem Blickwinkel durch einen zusammengesetzten Satz, in dem der Nebensatz durch den Subjunktor als eingeleitet wird. Dieser erfüllt die Funktion, die Betrachtzeit zu liefern, aus welcher heraus der Erzähler über ein persönliches Erlebnis aus der Vergangenheit berichtet. In Textabschnitt (13) führt der Erzähler den Lesenden durch den als-Adverbialnebensatz in den Bericht über den genauen Moment ein, in dem er einem Angehörigen der Familie Thümen zum ersten Mal begegnet: (13) Der Zufall wollt uns wohl, und am Dorfrande wurden wir alsbald eines Mannes ansichtig, der, in einem offenen Torwege stehend, unserm unsichren Umhersuchen schon seit einiger Zeit gefolgt zu sein schien. Als er uns auf sich zukommen sah, kam er uns seinerseits unter artigem Gruß entgegen. Es war ein großer, schöner Mann von militärischer Haltung, dabei zugleich von jener ruhigen Sicherheit wie sie die bibelfesten Leute zu haben pflegen (Sp, Kapitel Blankensee, S. 307‒308).

Die untersuchten Textabschnitte zeigen, dass der Subjunktor als bei der erzählten Zeit in Spreeland eine wichtige Rolle spielt, weil er dem Bezug auf einmalige Sachverhalte in der Vergangenheit dient und dabei eine Betrachtzeit liefert, aus welcher heraus historische Informationen über die durchreisten Orte und Landschaften bzw. über persönliche Anekdoten und Erlebnisse aus der Vergangenheit vermittelt werden. Dies fördert den Einbezug von Abschweifungen vom Haupthandlungsgeschehen, das in der Erzählung im Gegenwartstempus wiedergegeben wird.

IV. Schlussbemerkungen Fontane beschreibt in Spreeland nicht nur die Landschaften zwischen Spreewald und Müggelsee, sondern auch die Schlösser, Burgen und Ortschaften, ihre Bewohner und ihre Geschichte. Dieses Verfahren der Landschafts- und Kulturberichterstattung entspricht Merkmalen der Reiseliteratur. Bezeichnend

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Patrizio Malloggi

für Spreeland ist ein »historisierendes Interpretationsverfahren«,32 also die immerwährende kulturgeschichtliche Perspektive. Dafür macht sich Fontane die Natur zunutze, da er sie oft als Vermittlerin zwischen Gegenwart und Vergangenheit agieren lässt: Landschaft erhält den Charakter des Transitorischen – nicht nur im buchstäblichen Sinne des Durchwanderns –, sondern auch als bloßer Übergang zur geschichtlichen Erfahrung. Der Erzähler beginnt fast immer mit der Beschreibung einer Wegstrecke, die zu einem ausgewählten Ort und zu einer historisierenden Betrachtung führen soll. Der natürliche Raum, den der Wanderer durchschreitet, öffnet sich für die Dimension der Geschichte, die den Touristen in sich aufnimmt. Die narrativen Passagen haben eine Authentizitäts- bzw. Zeugnisfunktion, während die deskriptiven Passagen eine Informationsfunktion erfüllen. Dass die Zeitdimension in diesem Werk eine wichtigere Rolle als die des Raums spielt, wird auch durch häufig vorkommende sprachliche Mittel bestätigt, wie beispielsweise durch die vielen Subjunktoren, die semantisch sehr oft zeitliche und nicht räumliche Relationen herstellen. Hierfür ist der Subjunktor als beispielhaft, der 155 der insgesamt 321 im Text vorkommenden Adverbial­ nebensätze einleitet. Unter semantischem Blickwinkel liefert der Subjunktor als eine Betrachtzeit, aus welcher heraus der Erzähler zeitliche Digressionen von der Haupthandlung einsetzt; dabei erfolgt meistens ein Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum in der Erzählung. Auf der Grundlage der durchgeführten Untersuchung kann man verallgemeinernd schlussfolgern, dass die Darstellung von Ereignissen und Erlebnissen aus der Vergangenheit, die der Erzähler mit den von ihm besichtigten Gegenden bzw. Landschaften verbindet, typisch für den ›Reisebericht‹ als Textsorte und für die ›Reiseliteratur‹ als literarische Gattung ist. Das deskriptive Moment der Landesbeschreibung und Informationsvermittlung wird verbunden mit dem narrativen des Reisens und der Erlebnisschilderung aus einer früheren Zeit. Diese Erzähltechnik kennzeichnet nicht nur Fontanes Spreeland, sondern auch andere literarische Werke, die ebenfalls der Reiseliteratur zugerechnet werden, wie beispielsweise Heinrich Heines Reisebilder (1826).

32 Erhart, ›Alles wie erzählt‹: Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹, S. 235‒247.

Die Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod in drei ausgewählten Erzählwerken Theodor Fontanes

Syntaktische, semantische und informationsstrukturelle Analyse einer tabuisierten Erzählhandlung1 Sabrina Ballestracci

Es gibt auf diesem Gebiet nichts Plötzliches, sondern nur ein Allmähliches, auch die geistige Genesung ist ein stilles Wachsen, und je tiefer Sie sich mit dem Glauben an den Erlösertod Jesu Christi durchdringen, desto sicherer und fester wird in Ihnen der Friede der Seele sein.2

I. Einleitendes Das Thema des Sammelbandes, Grenzüberschreitungen bei Theodor Fontane, dekliniere ich in meinem Aufsatz als Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod, also als Augenblick des Sterbens. Sowohl philosophisch als auch anthropologisch gesehen wird der Tod als ein Tabu betrachtet, d. h. als ein Erlebnis, über das meist geschwiegen oder aber mittels Metaphern und Euphemismen gesprochen wird, wobei die benutzten metaphorischen Ausdrücke u. a. auf die zeitliche Dimension – genauer gesagt: auf das Ende der irdischen Zeit und auf den Beginn der Ewigkeit – hindeuten: Daß menschliche Existenz mit dem T. unwiederbringlich zu Ende gehen könne, ist ein kulturgeschichtlich später Gedanke, der erstmals im ›Gilgamesch‹-Epos seinen Ausdruck findet. In den meisten archaischen, europäischen und außereuropäischen Kulturen wird der T. nicht als Ende der Existenz, sondern als Übergang in eine andere Seinsform verstanden und mit der Idee der Reinkarnation in Verbindung gebracht […]. Die gängigsten Begriffe für den T. sind darum

1 An dieser Stelle möchte ich den Herausgeberinnen, dem/r anonymen Gutachter/in, Marina Foschi Albert, Serena Grazzini und Lucia Salvato für den anregenden Austausch über dieses Thema danken. Ein besonderer Dank für die bibliographischen Empfehlungen geht an Enrico De Angelis. 2 C, S.  440. In diesem Aufsatz wird unter Verwendung der Siglen ›C‹ (Cécile), ›EB‹ (Effi Briest) und ›DS‹ (Der Stechlin) zitiert. Die zitierte Ausgabe ist: Theodor Fontane, Romane und Erzählungen in acht Bänden. Bd. 4: Cécile, Bd. 7: Effi Briest, Bd. 8: Der Stechlin, Berlin/Weimar 1973. https://doi.org/10.1515/9783110735710-016

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Metaphern des Übergangs, der Wanderung oder der Reise, der Befreiung oder des Abschiednehmens, des Schlafs, der Krankheit.3

Diesen Gegenstand möchte ich am Beispiel von drei ausgewählten Erzählwerken Theodor Fontanes untersuchen: Cécile (1886), Effi Briest (1894/95) und Der Stechlin (1897/98). In den drei Romanen betrifft der Tod die Hauptfigur, ein Schicksal, das »viele Gestalten in Fontanes Romanen, wenn sie in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft unterliegen«,4 gemeinsam haben: »Von seinen siebzehn Romanen [enden] sieben mit dem Selbstmord […] und in sechs weiteren [spielt] der unfreiwillige Tod der Hauptgestalten eine große Rolle […]«.5 Es handelt sich bei Fontane nicht nur um ein rekurrierendes und somit wichtiges Thema seiner literarischen bzw. erzählerischen Werke, d.  h. der Fiktion: Wie Privatschriften und lyrische Texte (Briefe und Gedichte) bestätigen, spielt der Tod – als Dimension der Ewigkeit verstanden – auch in den intimen Überlegungen des Menschen Fontane eine bedeutende Rolle und diese Konzeption spiegelt sich wiederum in seiner literarischen Produktion wider.6 Diesen Untersuchungsgegenstand, der aus unterschiedlichen Perspek3 Anton Hügli, „Tod“. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10, Darmstadt 1998, S.  1227-1241, hier S.  1227. Diese den Tod kennzeichnenden kulturgeschichtlichen Begriffe spiegeln sich auch in der Gemeinsprache wider: Auf den Tod wird im gemeinen Sprachgebrauch oft durch rhetorische Figuren hingedeutet, wobei für die Verwendung metaphorischer Ausdrücke eine konzeptuell-kognitive Metaphorisierung wiederum grundlegend ist. Eine häufig benutzte rhetorische Figur ist der Euphemismus, durch den das Geschehen von der Realität sprachlich sowie konzeptuell entfernt wird. Man denke an Verbalausdrücke wie sich verabschieden, in den ewigen Frieden/in die Ewigkeit eingehen, bei denen die Semantik der verwendeten Wörter zwar auf den Abschied und den Übergang, aber auch auf das Weiterleben und auf die Ewigkeit (also auf eine ›andere‹ zeitliche Dimension) hinweist und den Tod selbst nicht direkt expliziert. Zum metaphorischen Gebrauch der Gemeinsprache vgl. u. a. die Theorie der konzeptuellen Metapher in George Lakoff und Mark Johnson, Metaphors We Live By, London 2003. 4 Christian Grawe, Nachwort. In: Theodor Fontane, Cécile, Stuttgart 1982, S. 253–276, hier S. 267. 5 Ebd. 6 Auch viele andere Werke Fontanes haben den Tod zum Thema, z.  B. die Gedichte Memento, Einem Todten oder Umsonst. Der Gedanke an den Tod, an die »ewige Trennung«, begleitet ihn das ganze Leben: Als Fontane der Redaktion der Stuttgarter Zeitschrift Über Land und Meer seinen letzten Roman, Der Stechlin, schickt und in seinem Brief den berühmten Satz »Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht« (Theodor Fontane an Adolf Hoffmann, HFA IV/4, S. 493) schreibt, ist er sich dessen bewusst, dass er ebenso wie Dubslav in den »Sonnenuntergang« sieht und dass sich bald »ein ewig Gesetzliches« vollziehen wird. Vgl. Norbert Mecklenburg, ›Bleibt also bloß noch der liebe Gott‹. Die Kunst, vom Tod zu erzählen. In: Ders., Theodor Fontane: Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018, S. 268–293.



Die Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod

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tiven von Interesse sein kann (z. B. aus thematisch-textinterpretatorischer, aus literaturtheoretischer und aus religiös-philosophischer Sicht),7 behandle ich in meinem Aufsatz aus einem linguistischen Blickwinkel: Ich möchte nämlich untersuchen, durch welche sprachlichen Strategien Theodor Fontane den Augenblick des Sterbens in den drei oben genannten Werken wiedergibt. Da Fontane der repräsentativste Autor des deutschen Realismus ist, wobei der Begriff Realismus im Prinzip und pauschal ausgedrückt eine realistische Darstellung der Ereignisse suggeriert, und da die ausgewählten Erzählwerke zu den repräsentativsten Romanen Fontanes zählen, könnte auch angenommen werden, dass der Tod in den drei analysierten Texten wirklichkeitstreu – also als nackte Wiedergabe des körperlichen Sterbens und als äußerliches Ereignis ohne intime Dimension – dargestellt wird und dass der Augenblick des Sterbens darin einen expliziten sprachlichen Ausdruck findet. Dass Fontane unter realistisch nicht »das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten«8 versteht, ist jedoch schon in seinen frühen essayistischen Schriften klar ausgedrückt. Dies ist auch in den drei hier untersuchten Werken der Fall: Der Tod der Hauptfigur wird nicht direkt dargestellt und bleibt in einem Nicht-Gesagten impliziert. Der Leser erfährt, dass die Hauptfigur gestorben ist, wenn es schon geschehen ist, und durch indirekte Hinweise, welche den Augenblick des Todes selbst nicht explizit, nämlich nicht lexikalisch-semantisch, versprachlichen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Leser bestimmte Details der Art und Weise, wie die Figuren gestorben 7

8

Bei Fontane geht der Tod oft die Hauptfiguren an und ihr Sterben hat Konsequenzen für die gesamte erzählte Geschichte und deren thematische Entwicklung sowie deren Interpretation. Der Übergang vom Leben zum Tod trifft mit dem Übergang von der zweiten Wirklichkeit des Romans zur ersten Wirklichkeit, d. h. zur Realität, zusammen: Die Hauptfigur stirbt und die erzählte Wirklichkeit geht allmählich zu Ende; im gleichen Augenblick beginnt die erste Wirklichkeit wieder und so kehrt auch der Leser zum Leben zurück. In den Werken Fontanes wird oft bezüglich des Todes auf religiöse bzw. philosophische Fragestellungen hingewiesen. Ein Beispiel dafür stellt der Tod von Cécile dar: Wenn sie stirbt, hält »ihre Linke […] das kleine Kreuz mit dem Christuskopf, das sie beständig trug« (C, S. 497), und bevor sie sich das Leben nimmt, entscheidet sie, dem Prediger Dörffel das katholische Kreuz zu hinterlassen, zusammen mit den Worten: »Ihre hundertfach erprobte Milde wird nicht Anstoß daran nehmen, daß es ein katholisches Kreuz ist, und auch daran nicht, daß ich, eine Konvertitin, meine letzten Gebete an eben dies Kreuz und aus einem katholischen Herzen heraus gerichtet habe. Jede Kirche hat reiche Gaben, und auch der Ihrigen verdank ich viel; die aber, darin ich geboren und großgezogen wurde, macht uns das Sterben leichter und bettet uns sanfter« (C, S. 498). Theodor Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: NFA XXI/1, S. 7–15. Zum Begriff Realismus vgl. auch Johannes F. Lehmann, Der deutsche Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Versuch einer Hinführung. In: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen 24 (2015), S. 233–268.

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sind, nicht wahrnimmt. Darin besteht ein für die Fontane’sche Schreibweise typisches stilistisches Kennzeichen, das in literaturwissenschaftlichen Studien als »disguised symbolism«9 oder ›versteckte Symbolik‹10 bekannt ist. In enger Beziehung mit dem Nicht-Gesagten bei der Fontane’schen Darstellung des Todes steht außerdem mit verschiedenen Nuancen in den einzelnen Werken die zeitliche Dimension, sowohl im Sinne von literarischer Darstellung der wirklichen Zeit bzw. erzählten Zeit als auch als religiös-philosophischer Begriff. Diese beiden der Darstellung des Todes zugrunde liegenden Konzepte – das Nicht-Gesagte und die Zeitlichkeit – werden im Folgenden anhand sprachwissenschaftlicher Kategorien untersucht. Es handelt sich um spezifische literaturtheoretische und philosophische Begriffe bzw. Fachtermini, die in der Sprachwissenschaft nicht benutzt werden, jedoch ähnlichen Konzepten und Kategorien entsprechen: dem Impliziten und der zeitlichen Kohärenz. Die Analyse geht von der Hypothese aus, dass sich das Nicht-Gesagte und die Zeitlichkeit auf verschiedenen sprachlichen Ebenen realisieren: auf lexikalischsemantischer, syntaktischer sowie informationsstruktureller Ebene. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die linguistische Analyse der sprachlichen Wiedergabe eines Tabus, wie jenes des Todes, nämlich eines Phänomens, das sowohl mit der zeitlichen Dimension als auch mit dem Nicht-Gesagten tief verknüpft ist, per se interessant: Denn Temporalität und Implizites sind zwei wichtige Themen der linguistischen bzw. grammatischen Beschreibung jeder beliebigen Sprache – so auch des Deutschen.11 In literarischen Texten, bei denen die Sprache gleichzeitig Mittel, Stoff und Zweck ist, gewinnt dieselbe sprachliche Dimension einen Mehrwert, der in anderen Textsorten schwierig zu finden ist: In dieser Hinsicht stellt die sprachliche Kreativität der literarischen Sprache ein für die sprachwissenschaftliche Forschung reiches Untersuchungsfeld dar, aus dessen Analyse wichtige Ergebnisse für die Bereicherung der grammatischen Beschreibung einer natürlichen Sprache gewonnen

9

Vgl. Peter-Klaus Schuster, Theodor Fontane: ›Effi Briest‹ – Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen 1978, S. 10–26. 10 Vgl. z. B. Grawe, Nachwort, S. 259; Mecklenburg, Theodor Fontane: Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. 15. Über diesen Fontane’schen stilistischen Zug scheinen alle literaturwissenschaftlichen Interpretationen einig zu sein, auch diejenigen, die den Begriff der versteckten Symbolik nicht explizit nennen, jedoch die außerordentliche Symmetrie und harmonische Komposition der Romane Fontanes hervorheben (vgl. z. B. Enrico De Angelis, L’Ottocento letterario tedesco, Pisa 2002, S. 351–352). 11 Vgl. Harald Weinrich, Tempus: besprochene und erzählte Welt, München 2001; Georg Bossong, Ausdrucksmöglichkeiten für grammatische Relationen. In: Martin Haspelmath, Ekkehard König et al. (Hrsg.), Sprachtypologie und sprachliche Universalienforschung. Ein internationales Handbuch. Bd. 1, Hbd. 1, Berlin 2001, S. 657–668.



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werden können.12 Es lässt sich also erwarten, dass einerseits Fontanes Texte hinsichtlich der beiden Begriffe (Zeit und Implizites) einen – sprachwissenschaftlich gesehen – wertvollen Untersuchungsstoff darstellen, und dass andererseits die sprachwissenschaftliche Analyse von Textstellen, die das Implizite in den Vordergrund stellen, hervorheben kann, welcher Sprachstrategien sich die Fontane’sche ›versteckte Symbolik‹ bedient. Die vorliegende Untersuchung kann demzufolge sowohl für die Beschreibung der deutschen Grammatik als auch für verwandte wissenschaftliche Bereiche Reflexionsanregungen anbieten, wie z. B. für die stilistische Textanalyse und die Übersetzungswissenschaft sowie für die Fontane-Forschung und für Disziplinen, die sich mit dem Begriff Tod als Tabu beschäftigen. Die Arbeit gliedert sich im Folgenden in vier Abschnitte: In Abschnitt 2 und Abschnitt 3 werden die Ausdrucksmittel beschrieben, die die deutsche Sprache besitzt, um die beiden mit dem Tod verbundenen Begriffe – Zeit und Implizites – auszudrücken. Die Beschreibung erfolgt auf der Basis von zwei renommierten Grammatiken des Deutschen13 und der zahlreichen Studien zu den deutschen Satzverknüpfungen bzw. Konnektoren und deren syntaktischen, semantischen sowie informationsstrukturellen Eigenschaften, die in den letzten beiden Jahrzehnten im Bereich der germanistischen Linguistik veröffentlicht wurden.14 Bei der Beschreibung wird hervorgehoben, dass die bei12 Vgl. Michael Dobstadt und Marina Foschi Albert, Poetizität Interdisziplinär. Poeticità/ letterarietà: dibattito interdisciplinare tra linguistica, letteratura, didattica L2. Poetizität/ Literarizität als Gegenstand interdisziplinärer Diskussion: Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Fremd- und Zweitsprachendidaktik, Loveno di Menaggio 2019. 13 Vgl. Angelika Wöllstein und Duden-Redaktion (Hrsg.), Grammatik, Berlin 2016; Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl et al., Hildesheim/Zürich et al. 2005. Aus diesen Grammatiken stammen die meisten Beispiele in Abschnitt 2 und Abschnitt 3. Von hier an werden sie unter folgenden Abkürzungen zitiert: ›DG‹ (Duden-Grammatik) und ›TG‹ (Textgrammatik). Die Beispiele ohne bibliographischen Hinweis sind meine Umformulierungen. 14 Konnektoren sind eine weite semantische Klasse von Wörtern, die in den traditionellen Grammatikbeschreibungen als Präpositionen, Adverbien, koordinierende und subordinierende Konjunktionen sowie Partikeln klassifiziert werden. Sie gehören zusammen mit anderen Verknüpfungsstrategien zu den wichtigsten Sprachmitteln, die u. a. zum Ausdruck der zeitlichen Kohärenz und des Impliziten beitragen. Grundlegend für die hier skizzierte Beschreibung sind folgende Arbeiten: Renate Pasch, Ursula Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren. Linguistische Grundlagen der Beschreibung und syntaktische Merkmale der deutschen Satzverknüpfer (Konjunktion, Satzadverbien und Partikeln), Berlin/New York 2003; Hardarik Blühdorn, Eva Breindl et al. (Hrsg.), Brücken schlagen. Grundlagen der Konnektorensemantik, Berlin 2004; Hardarik Blühdorn, A Semantic Typology of Sentence Connectives. In: Theo Harden und Enke Hentschel (Hrsg.), 40 Jahre Partikelforschung, Tübingen 2010, S. 215–231; Eva

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den untersuchten Phänomene auch sprachlich in einem sehr engen Verhältnis zueinander stehen. Abschnitt 4 illustriert die linguistische Analyse der drei ausgewählten narrativen Werke von Theodor Fontane, wobei insbesondere die Kapitel bzw. Textausschnitte unter die Lupe genommen werden, in denen die Hauptfigur des Romans stirbt. Ein kurzes zusammenfassendes Fazit schließt die Arbeit ab.

II. Zeitliche Ausdrücke im Deutschen Um zeitliche Kohärenz auszudrücken, besitzt das Deutsche unterschiedliche Sprachmittel, sowohl Konnektoren oder konnektorähnliche Strukturen wie Präpositionen, Nominalphrasen, Adverbien und subordinierende Konjunktionen bzw. Subjunktoren als auch Verbformen. Jedes Sprachmittel ist durch bestimmte morphologische und syntaktische sowie semantische Eigenschaften charakterisiert und trägt zu einer mehr oder weniger expliziten oder impliziten Sinnkonstitution der zeitlichen Kohärenz im Text bei. Zu den lexikalischen Sprachmitteln, die zeitliche Kohärenz also explizieren, gehören in erster Linie Präpositionen, Nominalphrasen, Adverbien und Subjunktoren, während Verbformen Sprachmittel sind, die die zeitliche Dimension meistens implizit – d. h. nicht auf lexikalischer, sondern auf grammatischer bzw. morphologischer Ebene – wiedergeben.15 Temporale Präpositionen leiten üblicherweise eine Nominalphrase ein, weisen ihr einen Kasus zu und bilden mit ihr eine Präpositionalphrase, die eine Adverbialfunktion im Satz annimmt bzw. als temporale Adverbialangabe oder -ergänzung fungiert, z. B.: (1) Am 1. November hat sie Geburtstag.16 (2) Seit dem Essen sind vier Stunden vergangen.17

Sowohl syntaktisch als auch semantisch betrachtet ist die Nominalphrase für die Ergänzung der Funktion und der Bedeutung der Präposition sowie für deren temporale Interpretation unentbehrlich. Als alleinstehendes Wort kann eine Präposition keine Satzgliedfunktion haben und nicht im Vorfeld stehen, wie die Umformulierungen in (1a) und (2a) verdeutlichen: Breindl, Anna Volodina et al., Handbuch der deutschen Konnektoren 2. Semantik der deutschen Satzverknüpfer, Berlin/München et al. 2014. 15 Es sind hier die Verben im Allgemeinen gemeint. Es gibt auch Verben, die lexikalisch explizite Zeitindikatoren sind, wie dauern und verlängern. 16 DG, S. 796. 17 Ebd.



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(1a) *Am hat sie 1. November Geburtstag. (2a) *Seit sind vier Stunden dem Essen vergangen.

Darüber hinaus bestimmt die semantische Domäne des durch die Nominalphrase ausgedrückten Objekts die semantische Lesart derselben Präposition, welche mit anderen Objektstypen eine andere semantische Funktion annimmt. Die Präposition an kann z. B. nicht nur Nominalphrasen einleiten, die Zeitpunkte, Zeitintervalle oder Ereignisse bezeichnen, wie 1. November, sondern auch physische Objekte mit räumlicher Bedeutung wie z. B. die Wand: In diesem Fall nimmt die Präposition eine räumliche Lesart an (Bsp.: an die Wand, an der Wand). Somit spielt die lexikalische Ebene der Nominalphrase beim Ausdruck der temporalen Bedeutung eine wesentliche Rolle. Übrigens liefert die Nominalphrase der gesamten Struktur, d. h. der Präpositionalphrase, einen genauen Bedeutungsinhalt: Sie expliziert genau, wann ein Ereignis geschieht. Ähnliche formale und syntaktische Eigenschaften kennzeichnen temporale Nominalphrasen: Auch in diesem Fall wird die temporale Bedeutung lexikalisch ausgedrückt. So bezeichnet die Nominalphrase den ganzen Nachmittag in (3) ein genaues Zeitintervall: (3) Die Katze schlief den ganzen Nachmittag.18

Ein ganz anderes Verhalten haben Adverbien, die syntaktisch angesehen satzglied- und vorfeldfähig sind und nicht durch andere Strukturen ergänzt werden müssen, um Bedeutungsträger zu sein: (4) Morgens ist er müde.19

Lexikalisch betrachtet zeigen Temporaladverbien unterschiedliche Besonderheiten: Es gibt Adverbien wie morgens in (4), die genau das Zeitintervall ausdrücken, in dem ein bestimmtes Ereignis stattfindet (in diesem Fall ›er ist müde‹), und Adverbien, bei denen die Situierung des Geschehens eher unbestimmt bleibt, wie im folgenden Beispiel: (5) Einst gab es noch feste Rollenzuweisungen.20

Einst in (5) expliziert nicht genau, wann es noch feste Rollenzuweisungen gab. Das Bezugsereignis kann bei den Adverbien dennoch oft aus dem Kontext erschlossen werden, wie in (6): (6) Wir gehen erst ins Kino, dann in die Disco.21

18 19 20 21

Ebd., S. 798. Ebd., S. 588. Ebd., S. 587. TG, S. 579.

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Bezugsereignis von erst in (6) ist ›bevor wir in die Disco gehen‹, Bezugsereignis von dann ist umgekehrt ›nachdem wir ins Kino gegangen sind‹. Wann die beiden Ereignisse genau geschehen, bleibt jedoch unbekannt. Bei den Adverbien können also explizitere und implizitere Sprachzeichen unterschieden werden. Noch komplexer sind die syntaktischen und semantischen Eigenschaften von temporalen Subjunktoren: Sie leiten eine komplexere Struktur, etwa einen Nebensatz, ein, der den Zeitpunkt oder das Zeitintervall ausdrückt, in dem das im Hauptsatz angegebene Ereignis erfolgt. Wie die Präpositionen eine Nominalphrase brauchen, so brauchen Subjunktoren einen ein finites Verb enthaltenden (Neben)Satz, der dazu dient, den Subjunktor sowohl syntaktisch als auch semantisch zu erfüllen: (7) Als das Lämpchen aufleuchtete, drehte ich den Schalter.22

In (7) bestimmt der durch als eingeleitete Nebensatz, wann das im Hauptsatz genannte ich den Schalter drehte. Das Beispiel zeigt auch, dass Temporalnebensätze impliziter als Präpositional- und Nominalphrasen sowie als einige Adverbien sind: Wann das ich genau den Schalter drehte, wird nicht angegeben. Die bisher genannten Strukturen können verschiedene Stellungen im Satz besetzen und ihre Stellung beeinflusst die informationelle Struktur des Satzes bzw. der Äußerung. So kann z. B. am 1. November im Vorfeld wie in (1) stehen und eine thematische Funktion (T) annehmen, aber auch im Mittelfeld wie in (1b) stehen und eine rhematische Funktion (R) haben:23 (1) [Am 1. November]T [hat sie Geburtstag]R. (1b) [Sie]T [hat am 1. November Geburtstag]R.

In diesem Sinne kann die Zeitangabe auch mehr oder weniger in der syntaktischen Struktur des Satzes integriert24 sein: Sie kann im Hauptsatz wie in (1) und (1a), aber auch in einem Nebensatz stehen, der als solcher eine dem Hauptsatz untergeordnete Struktur ist. In (8) kommt z. B. seit Jahrzehnten in 22 DG, S. 1063. 23 Es wird hier auf die Theorie der Funktionalen Satzperspektive hingewiesen: »Das Modell der Funktionalen Satzperspektive (FPS) (auch als ThemaFSP-Rhema-Gliederung [TRG] bezeichnet) untersucht, wie textuelle Kohäsionsmittel und satzsyntaktische Zeichen wie Intonation und Wortstellung bei der Verteilung von Informationen in Sätzen und Texten zusammenwirken. Für den Informationsfortschritt im Satz werden (neben anderen wie ›Hintergrund‹ und ›Fokus‹) die Begriffe ThemaFSP (T) (griech. ›das Hingestellte‹) und Rhema (R) (griech. ›das Ausgesagte‹, verwandt mit dem lat. ›verbum‹) verwendet« (ebd., S. 1136). 24 Integration betrifft den syntaktischen Status und die Komplexität der Konnekte, die der Konnektor verknüpft (vgl. Pasch, Brauße et al., Handbuch der deutschen Konnektoren, S. 37).



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einem Relativsatz vor, dessen informationelle Funktion darin besteht, zu definieren, was für ein Mann der Jubilar ist: (8) [Der Jubilar]T [ist ein Mann, der sich seit Jahrzehnten für seine Mitmenschen engagiert]R.25

In (8) kann die Darstellung der Thema-Rhema-Gliederung auch noch raffinierter skizziert werden, wie es durch (8a) veranschaulicht wird: (8a) [Der Jubilar]T1 [ist ein Mann] R1 , [der] R1 = T2 [sich seit Jahrzehnten für seine Mitmenschen engagiert] R2.

Die Funktionale Satzperspektive, die insbesondere Gegenstand des nächsten Abschnitts ist, spielt auch bei den impliziten temporalen Sprachzeichen, den Verbformen,26 eine große Rolle. So hat z. B. die Reihenfolge der beiden Sätze in (9) auch eine temporale Dimension und zeigt eine bestimmte Reihenfolge von Ereignissen. Werden die beiden Sätze umgestellt, so ergibt sich eine ganz andere Bedeutung, wie (9a) veranschaulicht: (9) Im Hausflur war es still. Ich drückte erwartungslos auf die Klingel.27 (9a) Ich drückte erwartungslos auf die Klingel. Im Hausflur war es still.

Erstes Zwischenfazit: Das Deutsche besitzt unterschiedliche Sprachzeichen, die zum Ausdruck der zeitlichen Kohärenz dienen und die mit Bezug auf ihre Implizitheit bzw. Explizitheit auf einer Skala eingeordnet werden können. Verbformen sind die implizitesten unter den Sprachzeichen: Ihre zeitliche Funktion kann oft nur aus dem Textzusammenhang erschlossen werden. Tendenziell sind Präpositional- und Nominalphrasen die explizitesten, weniger explizit sind Adverbien im Allgemeinen, noch impliziter sind einige besondere Adverbien und die Subjunktoren.

III. Das Implizite im Deutschen Das Implizite stellt ein ›weites linguistisches Feld‹ dar. Keine sprachliche Äußerung kann im Endeffekt völlig explizit sein, oder umgekehrt: Jede Äußerung 25 DG, S. 1148. 26 Verbformen tragen zum Ausdruck der Temporalität in erster Linie auf grammatischer Ebene bei (Formen der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft). Das grammatische Tempus signalisiert jedoch nicht unbedingt die wirkliche Zeit. Zukunft wird z. B. oft durch Präsens ausgedrückt (Bsp.: »Morgen kann ich wieder zur Arbeit gehen«; TG, S. 575). Nicht die Verbform, sondern das Adverb morgen drückt im angeführten Beispiel zeitliche Kohärenz aus. 27 DG, S. 1033.

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enthält immer einen impliziten Bedeutungsinhalt. Damit beschäftigt sich seit Jahrzehnten die Pragmatik, insbesondere die Sprechakttheorie, die für implizite Bedeutungen, »die nicht behauptet, aber dennoch kommuniziert werden«,28 die Konzepte der Präsuppositionen und der Implikaturen entwickelt hat.29 So enthält ein Satz wie Satz (1) u. a. folgende Präsuppositionen: 1. Es existiert eine Person; 2. Diese Person ist weiblich; 3. Sie wurde am 1. November geboren; 4. Sie lebt noch. Es handelt sich in diesem Fall um Präsuppositionen oder pragmatische Implikationen, auch Implikaturen genannt. Implikaturen lassen sich von den semantischen Implikationen unterscheiden: Die Letzteren stammen aus behaupteten Implikationen und haben mit der lexikalischen Bedeutung der Inhaltswörter zu tun. So hat z. B. das Modalverb können zwei lexikalische Bedeutungen: ›Möglichkeit‹ und ›Fähigkeit‹. Im Satz »Morgen kann ich wieder zur Arbeit gehen«30 wird ›Fähigkeit‹ realisiert. Für den Zweck des vorliegenden Beitrags sind diese Implikationsarten nur teilweise relevant. Wesentlich relevanter sind syntaktische und informationsstrukturelle Implikationen, also Implikationen, die sich aus der syntaktischen Gestaltung einer beliebigen Äußerung und aus deren Thema-Rhema-Gliederung oder Informationsstruktur31 erschließen lassen. Unter den Phänomenen, die das Implizite betreffen und sich sowohl auf syntaktischer als auch auf informationsstruktureller Ebene auswirken, steht die Ellipse, insbesondere die Ellipse in Reihungen, auch Koordinationsellipse genannt. Sie wird durch die Beispiele (11)–(11b) illustriert, in denen das Zeichen _ die Position des elidierten Wortes (Katze) anzeigt: (11) Hier schläft die rote _, dort die schwarze Katze.32 (11a)

Hier schläft die rote Katze, dort die schwarze _.33

(11b)

Die rote _ und die schwarze Katze schlafen.34

Durch die Beispiele (11)–(11b) können auch weitere Merkmale des Impliziten erläutert werden. Zunächst zeigen die Beispiele, dass die Koordination 28 Ebd., S. 1176. 29 Vgl. dazu John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. In: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Berlin 2002, S.  63–71; John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Massachusetts 1969; Herbert Paul Grice, Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Berlin 1993, S. 243–265. Vgl. auch DG, S. 1176–1178. 30 TG, S. 575. 31 Vgl. Anm. 23. 32 DG, S. 909. 33 Ebd. 34 Ebd.



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nicht nur durch und, sondern auch durch Interpunktion (in diesem Fall durch Komma) realisiert werden kann, wobei die Koordination durch Komma impliziter als diejenige durch und ist. Außerdem realisieren sowohl das Komma als auch der Konnektor und in (11) und (11a) noch einen impliziten Inhalt, etwa eine implizite semantische Relation zwischen den beiden Relaten oder Konnekten,35 die sie verknüpfen, wobei das erste Relat hier schläft die rote Katze, der zweite dort schläft die schwarze Katze ist. Die Relation, die zwischen den Relaten besteht, ist eine adversative,36 wie es durch die Umformulierung in (11c) gezeigt wird: (11c)

Die rote Katze schläft hier, die schwarze dagegen dort.

Auch die Informationsstruktur einer beliebigen Sprechäußerung kann implizite Inhalte zum Ausdruck bringen. In den Beispielen (11)–(11c) kann aus der Thema-Rhema-Gliederung eine bestimmte Reihenfolge von semantischen Inhalten erschlossen werden: So ist z. B. das Thema in (11) hier, während es in (11c) die rote Katze ist.37 Durch die Koordination von zwei Sätzen wird die Thema-Rhema-Gliederung noch komplexer: Man könnte z.  B. in (11a) zwischen einem thematischen Satz (hier schläft die rote Katze) und einem rhematischen (dort die schwarze) unterscheiden. Da es sich in diesem Fall um eine adversative Relation handelt, gibt es zwischen den beiden Konnekten kein Bedingungsverhältnis, d. h. die Tatsache, dass die rote Katze hier schläft, und die Tatsache, dass die schwarze Katze dort schläft, sind voneinander ganz unabhängig. Die erste Tatsache beeinflusst nicht die zweite, so dass Umformulierungen wie die schwarze Katze schläft dort und die rote hier, also Satzumstellungen, keine evidente Bedeutungsveränderung verursachen. Ganz anders verhält es sich jedoch bei anderen Relationstypen, bei denen die beiden Konnekte in 35 Relate oder Konnekte sind die durch den Konnektor verknüpften Ausdrücke. 36 Unter ›adversativ‹ werden Verknüpfungen von Sprachausdrücken mit einer bestimmten semantischen Charakteristik verstanden: Die verknüpften Ausdrücke stehen zueinander im Verhältnis eines Doppelkontrasts. Das eine Konnekt enthält zwei Ausdrücke A und x, zu denen im anderen Konnekt die Kontrastausdrücke B und y enthalten sind. Vgl. Horst Lohnstein, Variable und Invariante Strukturmerkmale von Satzkonnektoren. In: Blühdorn, Breindl et al. (Hrsg.), Brücken schlagen, S. 154–155; Hardarik Blühdorn und Miriam Ravetto, Die Subjunktoren während und mentre. In: Lucia Cinato, Marcella Costa et al. (Hrsg.), Intrecci di lingua e cultura. Studi in onore di Sandra Bosco Coletsos, Roma 2012, S. 43–64, hier S. 52–53. Die Paare A/B und x/y fallen unter gemeinsame Oberbegriffe (common integrators; vgl. Ewald Lang, The Semantics of Coordination, Amsterdam 1984): In (11)–(11d) fallen rot und schwarz unter den Oberbegriff ›Farben‹, hier und dort unter den Oberbegriff ›Ort‹. 37 Das Thema besetzt im deutschen Deklarativsatz das Vorfeld, d. h. die präverbale Position. Das Verb und die übrigen Satzglieder bzw. Konstituenten im Mittelfeld und Nachfeld entsprechen dem Rhema.

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einem semantischen Bedingungsverhältnis (Grund-Ursache, Handlung-Ziel usw.) stehen,38 oder bei komplexen Satzgefügen, die temporal angeordnete Ereignisse enthalten, wie (12) und (12a) veranschaulichen: (12) In diesem Fach kann der Magistergrad sowie eventuell zusätzlich der Doktorgrad erworben werden.39 (12a) ?In diesem Fach kann eventuell zusätzlich der Doktorgrad sowie der Magistergrad erworben werden.

Zwei Sonderfälle, bei denen das Implizite sowohl die lexikalische Bedeutung der Wörter als auch die Informationsstruktur betrifft, sind Spalt- und Passivsätze. Der Spaltsatz verdeutlicht die Gliederung im Fokus und Hintergrund40 und dient so zur Hervorhebung. Seine Struktur wird als es ist X + Relativsatz dargestellt und seine Thema-Rhema-Gliederung kann folgendermaßen schematisiert werden: (13) [Es]T1 war [die Sonne]R1 → T2, [die]R2 → T3 [mir am meisten fehlte]R3.41

Die thematische Position in (13) ist durch das Pronomen es besetzt, das keine lexikalische Bedeutung vermittelt und seinen Referenten (die Sonne) im Mittelfeld hat. Der semantische Inhalt des Satzes in (13) beginnt erst in rhematischer Position bzw. im Mittelfeld mit dem eigentlichen Thema der Äußerung (die Sonne) und wird durch den Relativsatz abgeschlossen. Der gleiche semantische Inhalt könnte auch anders formuliert werden, etwa durch einen deklarativen Hauptsatz. Semantisch betrachtet ergäbe sich keine evidente Bedeutungsänderung, stilistisch betrachtet wäre der Effekt ganz anders: (13a) Mir fehlte am meisten die Sonne. (13b) Die Sonne fehlte mir am meisten.

Auch Passivkonstruktionen haben eine besondere Thema-Rhema-Gliederung. Dabei wird das Agens (die handelnde Person) rhematisch weit fokussiert (kursiv in 14), während das Objekt des entsprechenden Aktivsatzes im Passiv zum thematischen Subjekt wird: (14) Dass Karin B. noch lebt, scheint wie ein Wunder. [Sie]T [wurde acht Kilometer von einem Zug mitgeschleift]R!42

38 39 40 41 42

Vgl. Blühdorn, A Semantic Typology of Sentence Connectives, S. 219–222. TG, S. 804. Vgl. Anm. 23. DG, S. 1056. Ebd., S. 1144.



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Zweites Zwischenfazit: Auch das Implizite hat wie die zeitliche Kohärenz, mit der es sich oft überschneidet, verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten, welche nicht direkt versprachlicht werden, jedoch durch eine syntaktische und informationsstrukturelle Analyse hervorgehoben werden können. In der deutschen Sprache hat die Thema-Rhema-Gliederung wegen des besonderen syntaktischen Satzbaus – mit seiner Aufteilung in Satzfelder – oft eine konsistente Prägnanz. Daneben spielen für alle Sprachen typische Strukturen wie Koordination mit oder ohne Konnektor und im Allgemeinen Satzgefüge eine wichtige Rolle.

IV. Zeit und Implizites bei der Darstellung des Todes in »Cécile«, »Effi Briest« und »Der Stechlin« Auf der Basis des in Abschnitt 2 und Abschnitt 3 illustrierten Analyse-Instrumentariums werden nun zeitliche Sprachausdrücke und Ausdrücke des Impliziten bei der Darstellung des Todes in den drei ausgewählten Romanen Theodor Fontanes – Cécile, Effi Briest und Der Stechlin – untersucht. Den drei Romanen ist gemeinsam, dass die Hauptfiguren sterben, ihr Tod nicht direkt dargestellt wird und nicht unmittelbar mit dem Ende der erzählten Geschichte zusammentrifft. Unterschiedlich sind aber sowohl die Länge des textuellen Stoffes nach dem Tod der Hauptfigur sowie die sprachliche bzw. erzählerische Modalität, die die letzten Seiten der Romane charakterisiert: 1. Bei Cécile handelt es sich um ein relativ kurzes Kapitel, in dem die erzählerische Form unterbrochen und durch andere sprachliche Modalitäten bzw. Textsorten ersetzt wird, so dass die Beschreibung des Todes auch eine relativ stark markierte Textsortenüberschreitung darstellt. Im letzten Kapitel wird die Erzählung durch die Zeitungsnachricht vom Duell zwischen St. Arnaud und Gordon und zwei bzw. drei Briefe ersetzt: der Brief von St. Arnaud an seine Frau Cécile, der Brief des Hofpredigers Dörffel an St. Arnaud, der wiederum einen Ausschnitt aus einem Brief von Cécile an den Hofprediger enthält. 2. Auf den Tod von Effi Briest folgt knapp eine Seite am Ende des letzten Kapitels. Auch in diesem Fall ändert sich die erzählerische Instanz an der Textstelle, an der der Leser erfährt, dass Effi Briest gestorben ist. Der Roman schließt mit einem Gespräch zwischen Effis Eltern: Die Erzählung wird demnach durch einen Dialog ersetzt; auch die Stimme des Erzählers

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ist nicht mehr direkt hörbar, sie wird durch die Stimme der beiden Figuren ersetzt, die am Dialog beteiligt sind.43 3. Ganz andere Merkmale zeigt der Roman Der Stechlin: Dem Tod der Hauptfigur folgen noch drei Kapitel, in denen das Leben nach dem Begräbnis des alten Dubslav zumindest anscheinend weiterläuft und keine evidenten stilistischen Änderungen im Verhältnis zu den vorherigen Kapiteln auftreten. Im Folgenden möchte ich mich auf diese Textstellen konzentrieren und einige sprachliche Phänomene analysieren, die in den drei Werken die Darstellung des Übergangs vom Leben zum Tod charakterisieren. Die Analyse knüpft an die Reflexionen an, die am Anfang des Aufsatzes erwähnt wurden, nämlich dass der Tod als Ewigkeit bzw. Ende der Zeitlichkeit und als Tabu, also als Nicht-Sagbares oder Nicht-Gesagtes, gekennzeichnet wird. Diese beiden Teilbegriffe – das Ende der Zeitlichkeit und das Nicht-Gesagte – spiegeln sich in Fontanes literarischer Darstellung wider und sind durch bestimmte sprachliche Strategien charakterisiert. Auch hier lassen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen den drei Werken feststellen. Allen drei Werken gemeinsam ist z.  B. das Vorkommen von zeitlichen Hinweisen, die die Reihenfolge der erzählerischen Sequenzen vor dem Tod der Hauptfigur skandieren. In Tabelle 1 sind einige zeitliche Hinweise aufgelistet, die die letzten Lebensmomente der Hauptfiguren signalisieren; in jeder Spalte markiert der letzte Satz die Stelle, an der expliziert oder darauf hingedeutet wird, dass die Hauptfigur (schon) gestorben ist:

43 Die einzige Textstelle, in der die erzählerische Stimme wiederauftaucht, ist fast am Ende des Gespräches: »›Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen. […] denn ich will nicht schuldlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?‹ Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig ›Ach, Luise, laß... das ist ein zu weites Feld.‹« (EB, S. 310; Kursivierung von mir).



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Tabelle 1: Ausgewählte zeitliche Ausdrücke, die die letzten Lebensmomente der Hauptfiguren skandieren (kursiv).

Werk Cécile

Zeitliche Hinweise Am andern Morgen brachten alle Zeitungen folgende gleichlautende Notiz […].44 Vier Tage danach traf unter der Adresse der Frau von St. Arnaud nachstehender Brief in Berlin ein […].45 Drei Tage nach Eintreffen dieses Briefes richtete der Hofprediger Dörffel das folgende Schreiben an den Obersten von St. Arnaud […].46 Ihre Frau Gemahlin war schwer leidend seit dem Tage, wo die Zeitungsnachricht eintraf […].47 Vorgestern, bei meinem Erscheinen, fand ich die Jungfer in Tränen und erfuhr, die gnädige Frau sei tot.48 Effi Briest Der Mai war schön, der Juni noch schöner […].49 So verging der Sommer, und die Sternschnuppennächte lagen schon zurück.50 Es war das erste Mal, daß sie Innstettens Namen nannte […].51 Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige.52 Der Und als Lorenzen aufbrach, fühlte sich der Alte wie belebt […].53 Stechlin Die Nacht verlief schlecht, und als der Morgen da war und Engelke das Frühstück brachte, sagte Dubslav […].54 Es war wohl schon sieben – die Parkbäume hinter dem Vorgarten lagen bereits in einem hellen Schein –, als Engelke zu dem Kinde herantrat und es weckte.55 Es war Mittwoch früh, daß Dubslav, still und schmerzlos, das Zeitliche gesegnet hatte.56

44 C, S. 495. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 496. 47 Ebd., S. 497. 48 Ebd. 49 EB, S. 304. 50 Ebd., S. 305. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 308. 53 DS, S. 395. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 398.

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Der Liste der zeitlichen Hinweise können einige stilistische Unterschiede zwischen dem ersten Werk, Cécile, und den anderen beiden Romanen entnommen werden, die es auch ermöglichen, unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen zu fokussieren. Die sprachlichen Besonderheiten werden anhand von Tabelle 2 illustriert, wiedergegeben nach der Theorie der Satzfelder und der Thema-Rhema Gliederung: Tabelle 2: Zeitliche Hinweise in den drei Werken (kursiv markiert). Satzfelder- und Informationsstruktur ausgewählter prototypischer Sätze.

Cécile

Vorfeld

Vorverb

Mittelfeld

(T) Drei Tage nach Eintreffen dieses Briefes

(R…) richtete

(…R…) der Hofprediger Dörffel das folgende Schreiben an den Obersten von St. Arnaud: das erste Mal Mittwoch früh

Effi Briest Es Der Es Stechlin

war war

Nachverb Nachfeld (…R…) (…R) Ø



Ø Ø

, daß... , daß...

In Cécile wird die zeitliche Dimension typischerweise durch Präpositionalphrasen ausgedrückt, die am Satzanfang, also im Vorfeld bzw. in thematischer Stellung, stehen. Somit wird die zeitliche Dimension des Ereignisses direkt bestimmt. Auf die Zeitangabe folgt das Ereignis. So z. B.: Am anderen Morgen ist präpositionale Zeitangabe und steht im Vorfeld des Satzes. Der Restsatz – brachten alle Zeitungen folgende gleichlautende Notiz – drückt das Ereignis aus; das Finitum (brachten) und seine obligatorischen Komplemente (Subjekt und Akkusativobjekt) besetzen die Zweitstellung bzw. das Mittelfeld. Linear gesehen entwickelt sich die informationelle Struktur des Satzes zwischen Vorfeld und Mittelfeld, also in der ersten Hälfte der Tabelle sowie der Äußerung. In Effi Briest und Der Stechlin überwiegen andere zeitliche Ausdrucksformen sowie andere Satzstrukturen, die ein feineres, raffinierteres Stilprofil sichtbar machen und Formen einer komplexeren informationellen Struktur bilden. Die erste Hälfte der Tabelle ist durch es war besetzt; im Vorfeld steht das Pronomen es, an der zweiten Stelle die Präteritum-Form von sein. Der zeitliche Hinweis kommt als Prädikativ erst im Mittelfeld vor; das Ereignis steht als Subjektsatz im Nachfeld. Es handelt sich dabei um einen Spaltsatz. Ein Beispiel dafür, dem Roman Effi Briest entnommen, ist der Satz in Tabelle



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3, der auf der thematischen Ebene im Rahmen der erzählten Geschichte eine sehr wichtige Rolle spielt: Tabelle 3: Satzfeldanalyse eines Beispielsatzes.

VF VV MF NV NF Es war das erste Mal Ø , daß sie Innstettens Namen nannte, was einen großen Eindruck auf die Mama machte und dieser klar zeigte, daß es zu Ende sei.57

In Effi Briest und Der Stechlin haben die Sätze, die zeitliche Hinweise enthalten, üblicherweise eine komplexere grammatische Struktur als in Cécile: 1. Linear betrachtet steht der Informationskern tendenziell im Nachfeld (also: am Ende des Satzes). 2. Syntaktisch-hierarchisch betrachtet steht der Informationskern in Nebensätzen (also: in untergeordneten Strukturen). 3. Zusammenfassend wird die wichtigste Information am Ende des Satzes und in einer nebengeordneten Struktur begrenzt bzw. ausgegrenzt. Es handelt sich nicht völlig um Nicht-Gesagtes, trotzdem wird der Informationskern – die Informationen, die auf den nahenden Tod hinweisen – durch diese sprachstrukturelle Strategie ›verspätet‹ bzw. im Nachfeld ›versteckt‹ (vgl. den Ausdruck »zu Ende sei« in Tabelle 3). Die große Bedeutung der zeitlichen Dimension, die übrigens auch in literaturwissenschaftlichen Interpretationen der Fontane’schen Werke hervorgehoben wird,58 taucht in den analysierten Werken auch bezüglich semantisch-lexikalischer Einheiten auf, die nicht unbedingt direkte zeitliche Hinweise sind, das heißt: Sie sind nicht Zeitangaben, sondern andere Satzkonstituenten. Sie dienen dann nicht immer dazu, die zeitliche Dimension als wahrnehmbare Kategorie zu versprachlichen, sondern ganz im Gegenteil: Sie versprachlichen mit ihrer Indirektheit, mit ihrem Implizit-Bleiben das Nicht-Sagbare, das Ende der Zeitlichkeit und die Art und Weise, wie die Hauptfiguren gestorben sind. Im Folgenden beziehe ich mich auf die genauen Textpassagen, in denen der Leser über den Tod der Hauptfiguren informiert wird, wobei unter den drei Werken immer noch Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede und somit verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen beobachtet werden können. Als Ausdrucksmittel für den impliziten Hinweis auf den Tod und auf die Umstände, unter denen die Figuren gestorben sind, werden besondere Substantive und 57 EB, S. 306. 58 Vgl. Anm. 12.

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Verb(form)en verwendet. Mit Bezug auf Substantive weisen diesmal Cécile und Der Stechlin stärkere Parallelen auf, während in Effi Briest andere Strategien deutlich werden. In Cécile und Der Stechlin kommen trotz der Ähnlichkeit an der Oberfläche, d. h. trotz der Verwendung ähnlicher lexikalischer Mittel, Unterschiede vor, die immer noch implizite Inhalte zum Ausdruck bringen: (15) Der Ausdruck ihrer Züge war der Ausdruck derer, die dieser Zeitlichkeit müde sind.59 (16) Es war Mittwoch früh, daß Dubslav, still und schmerzlos, das Zeitliche gesegnet hatte.60

In Cécile kommt das abstrakte Substantiv Zeitlichkeit vor, im Stechlin die genauso abstrakte Nominalphrase das Zeitliche. Bei Cécile steht das Wort Zeitlichkeit aber in Verbindung mit dem Begriff der ›Müdigkeit‹: Das Wort Zeitlichkeit ist Teil des Verbalprädikates einer Sache müde sein. Wenn auch das Verb nicht passiv ist, drückt es doch eine gewisse Passivität aus. In Cécile charakterisiert die Passivität nicht nur diesen Satz, sondern die ganze Textpassage, in der der Hofprediger das Bild der toten Frau beschreibt, worauf später nochmals eingegangen wird (vgl. Bsp. 18 unten). Im Stechlin steht die Nominalphrase das Zeitliche in Verbindung mit dem Begriff der ›Segnung‹. Übrigens hat die Nominalgruppe das Zeitliche Objektfunktion: Sie ist Akkusativobjekt des aktiven Verbalprädikates hatte gesegnet, dessen Subjekt Dubslav ist. Im Gegensatz zu Cécile spielt Dubslav gegenüber dem Tod eine aktive Rolle, die auch versprachlicht wird: ›Dubslav hatte das Zeitliche gesegnet‹ vs. ›Cécile ist der Zeitlichkeit müde‹. In Effi Briest wird der Abschied von der Zeitlichkeit durch andere syntaktisch-informationelle Strategien versprachlicht. Ein Beispiel dafür ist folgende berühmte Textpassage (römische Zahlen zeigen den Anfang der einzelnen Teilsätze; der Buchstabe a signalisiert einen koordinierten Teilsatz): (17) (I) Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, (II) die Sonnenuhr war fort, und

(IIa) an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte,



(III) darauf stand nichts als »Effi Briest« und darunter ein Kreuz.61

Es handelt sich um ein komplexes Satzgefüge, das vier durch Kommata und/ oder die Konjunktion und koordinierte Sätze enthält. Trotz der Koordinierung besteht unter den vier Sätzen eine hierarchische Anordnung, die die wichtigste Information verspätet und erst am Ende des Satzgefüges auftreten lässt (Abb. 1). 59 C, S. 496. 60 DS, S. 398. 61 EF, S. 308.



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Abb. 1: Darstellung der hierarchischen Informationsstruktur von (17).

Der erste Satz hat eine einleitende Funktion und informiert darüber, dass sich auf dem Rondell eine kleine Veränderung vollzogen hat. Die nachfolgenden Sätze beschreiben diese ›kleine‹ Veränderung und sind ebenfalls hierarchisch angeordnet: Die ersten beiden Sätze sind durch ein Komma und und miteinander koordiniert und scheinen somit gleichwertig zu sein, sie sind es jedoch nicht. Abgesehen davon, dass sie z. B. eine unterschiedliche syntaktische Struktur haben, sind sie auch semantisch betrachtet nicht gleichwertig: Sie können nicht umgeordnet werden, weil der zweite Satz ein anaphorisches Pronomen enthält (sie), durch das die vorhergehende Nominalphrase (die Sonnenuhr) wiederaufgenommen wird. Eine umgekehrte Anordnung der Sätze wäre kaum verständlich, wie durch (17a) veranschaulicht wird: (17a) an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, und die Sonnenuhr war fort.

Der deiktische Charakter von sie trägt zur Realisierung einer Substitutionsrelation bei, die durch die komplexe Raumangabe an der Stelle, wo sie gestanden hatte ausgedrückt wird. So nimmt die Substitutionsrelation auch den Charakter einer Entgegensetzung ein. Das gilt auch für die räumlichen Ausdrücke darauf und darunter, mit denen jeweils Bezug auf die Marmorplatte und auf „Effi Briest“ genommen wird. Auch hier entspricht die Anordnung der Sätze nicht nur einer syntaktischen, sondern auch einer linear-informationellen Hierarchie, wobei der direkte Hinweis auf das Kreuz, d. h. auf Effis Tod, am Ende des Satzes steht. Die Sonnenuhr, die nicht mehr auf dem Rondell steht, symbolisiert natürlich das Ende der Zeitlichkeit und darüber hinaus das Ende der Zeit der Hauptfigur und somit auch das Ende des Romans, der erzählten

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Geschichte. Das wurde auch schon in vielen literaturwissenschaftlichen Analysen erläutert, wie auch hervorgehoben wurde, dass die Gegenstände, die am Anfang der Geschichte in einer bestimmten Reihenfolge auftreten, am Ende des Romans in der umgekehrten Reihenfolge wiederaufgenommen werden. Nur die Sonnenuhr steht nicht mehr da.62 An dieser Stelle scheint es genauso wichtig, zu unterstreichen, dass auch einige subtilere Sprachdetails zur gesamten Darstellung, d. h. zur Versprachlichung des Bildes des Todes, beitragen. Besonders relevant sind hier Verben und räumliche Hinweise. Beide dienen zum Ausdruck von Gegensätzen und Substitutionen, die insgesamt die genannte Veränderung darstellen, welche eine kleine und doch große Veränderung ist. Besonders bedeutungsvoll ist die Opposition der Verben stehen und liegen: Diese Verben stehen sowohl auf semantischer als auch auf morphologischer Ebene im Gegensatz zueinander, und zwar steht das Verb stehen, das die Vertikalität des Lebens impliziert, im Plusquamperfekt, während liegen, das die Horizontalität des Todes repräsentiert, im Präteritum steht. Die Analyse des Textausschnitts aus dem Roman Effi Briest ist ein klares Beispiel für die Strategien, die in der Fontane’schen Prosa benutzt werden, um den Leser über den Tod der Hauptfigur zu informieren, ohne diesen zu explizieren. Strategien des Nicht-Gesagten sind auch in den beiden anderen Werken vorhanden. Im Stechlin wird der Leser durch einen wenn auch kurzen, so doch komplexen Satz darüber informiert, dass Dubslav gestorben ist: Die Information ist in einem einzigen Satz kondensiert (vgl. Beispiel 16), in dem die wichtigste Information (das Zeitliche gesegnet hatte) am Ende des Satzes, sogar des Nachfeldes steht. Der Hinweis auf den Tod ist in diesem Sinne sogar ausgeklammert bzw. ausgegrenzt. Noch eine weitere Strategie dient der Ausgrenzung bzw. Verzögerung der Information: Es wird eine Parenthese benutzt, die typisch für die Schreibweise von Fontane ist63 und hier dazu dient, zu beschreiben, wie Dubslav gestorben ist – still und schmerzlos, zwei Adjektive, die Abwesenheit, nämlich Abwesenheit von Geräuschen und Abwesenheit von Schmerz, ausdrücken. Die durch Kommas markierte Parenthese verzögert die Nachricht des Todes.

62 Vgl. Anm. 10. 63 Die Parenthese kommt in den Fontane’schen Texten in verschiedenen Formen vor. Besonders häufig sind Appositionen, z. B. appositive Adjektive wie in (16). Auch Relativsätze können als Parenthese fungieren. Bei Fontane enthalten Parenthesen oft Äußerungen, die Implikationen erzeugen: Sie deuten auf einen Bedeutungsinhalt, ohne ihn zu explizieren. Ein Beispiel aus dem Roman Cécile: »›Thale. Zweiter …‹ ›Letzter Wagen, mein Herr.‹ Der ältere Herr, ein starker Fünfziger, an den sich dieser Bescheid gerichtet hatte, reichte seiner Frau den Arm« (C, S. 313; Kursivierung von mir).



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Das Nicht-Gesagte kommt auch im Roman Cécile vor, aber in anderen Formen, die durch den Beispielsatz in (18) illustriert werden: (18) Es war mir nicht zweifelhaft, auf welche Weise sie sich den Tod gegeben.64

Es handelt sich hier um einen komplexen Satz, der aus einem Obersatz mit Platzhalter-es im Vorfeld und einem nachgestellten Subjektsatz besteht und welcher eine syntaktische Besonderheit aufweist: Das Finitum im nachgestellten Satz fehlt, es bleibt implizit. Das implizite hatte hätte dazu dienen sollen, den Satz zu vervollständigen, aber nicht nur: Es hätte auch das Ereignis genauer bestimmt, nämlich welche Rolle die Hauptfigur bei ihrem Tod spielte. Der Satz ist ein Beispiel für das Implizite, nicht so sehr, weil er elliptisch ist – ein stilistisches Merkmal, das in der literarischen Sprache des 19. Jahrhunderts besonders verbreitet war65 –, als vielmehr wegen der durch das fehlende Hilfsverb implizit vermittelten Information: Die fehlende Verbform hatte unterstreicht eben wegen ihrer aktiven Form die Passivität der Hauptfigur gegenüber dem Leben: Handelnd ist Cécile nur bei ihrem Tod.

V. Fazit Die hier durchgeführte Analyse hat gezeigt, dass der Tod in den drei ausgewählten Erzählwerken Theodor Fontanes ebenso wie im allgemeinen anthropologischen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Wissen tabuisiert wird und eng verbunden mit der zeitlichen Dimension ist. Der Augenblick, in dem die Hauptfigur stirbt, wird nicht direkt dargestellt und tendenziell nicht expliziert, sondern durch ›euphemistische‹ Sprachstrategien wiedergegeben, die mehr oder weniger indirekte Zeitausdrücke miteinbeziehen. In diesen impliziten Sprachstrategien versteckt sich dennoch eine außerordentliche evokative bzw. hindeutende Kraft, die es dem Leser ermöglicht, genau zu erfahren, unter welchen Umständen die Hauptfigur gestorben ist. So z. B. wird in Cécile durch formal aktive, aber funktional passive Verbformen auf den passiven Charakter der Hauptfigur gegenüber dem Leben hingewiesen. 64 Ebd., S. 496. 65 Satzkonstruktionen ohne Finitum waren für die Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts typisch. Sie kommen im Lauf der Geschichte auch in der literarischen Sprache verschiedener Autoren, insbesondere am Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert, wieder vor. (Vgl. Monika Schönherr, Satzkonstruktionen ohne Verbum Finitum: Diachrone, synchrone und panchrone Zugriffe auf ein vergessenes Phänomen der deutschen Syntax. In: Kwartalnik Neofilologiczny 65/4 [2018], S. 565–579). In Cécile, hauptsächlich im letzten Kapitel, sind sie besonders häufig.

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Ganz anders im Stechlin: Hier wird durch aktive Verbformen auf eine aktive Auseinandersetzung Dubslavs mit dem Leben und mit seinem eigenen Tod hingedeutet. Passive Kennzeichen hat die Darstellung des Todes auch in Effi Briest, die Passivität bleibt jedoch hinter Substitutionsrelationen (an der Stelle wo, Sonnenuhr/Marmorplatte), der Morphologie und Semantik von Verben wie hatte gestanden und lag, räumlichen deiktischen Hinweisen wie darauf und darunter sowie hinter anaphorischen Pronomen versteckt. Über die stilistischen Unterschiede zwischen den einzelnen analysierten Werken hinaus ist die Darstellung der Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod durch gemeinsame sprachliche Strategien gekennzeichnet, die weitere Stilmerkmale der versteckten Symbolik Fontanes und teilweise bisher noch nicht beschriebene Ausdrucksmöglichkeiten der zeitlichen Kohärenz und des Impliziten im Deutschen zum Vorschein bringen: Direkte und indirekte zeitliche Hinweise skandieren die letzten Lebensmomente der Hauptfiguren und dienen dazu, durch verschiedene informationsstrukturelle Varianten das Ende der Zeitlichkeit selbst zu betonen; syntaktische Strukturen und Hierarchien wie Koordination, Ausklammerungen, Ellipsen und Parenthesen sind Mittel zum Ausdruck des Impliziten oder zur Verzögerung der Information; die kalibrierte Verwendung all dieser Strategien verleiht der Satzinformationsstruktur eine außerordentliche Harmonie, die sich in der ebenso harmonischen Komposition des gesamten Textes widerspiegelt.

»›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr« Höflichkeit und Umgangsformen in Fontanes Romanen Claus Ehrhardt

I. Einleitung Schon ein flüchtiger Blick auf die Titel macht deutlich, dass Fontanes Romane protagonistenzentriert sind. Ein Individuum steht im Mittelpunkt. Der Stechlin (dies ist hier natürlich auch ein Toponym), Effi Briest, Stine, Cécile und andere werden in den Romanen aber nicht als Heldinnen präsentiert, die als Einzelne durch ihre Handlungen die Geschichte des Romans, die Gesellschaft oder gar die Welt vorantreiben; sie werden vielmehr dezidiert in ihrer Interdependenz mit anderen Menschen und vor allem mit gesellschaftlichen Konventionen dargestellt. Fontane charakterisiert seine Figuren u. a. auch durch die Beschreibung ihres Umgangs mit Konventionen, durch das mehr oder weniger ausgeprägte Bewusstsein dafür, in ein Netz von vorgegebenen Handlungsmustern eingewoben zu sein – oder aber durch die Fähigkeit, sich notfalls auch über diese hinwegzusetzen bzw. sich sogar davon zu emanzipieren. Ein zentraler Teil dieser gesellschaftlichen Konventionen lässt sich unter dem Begriff ›Höflichkeit‹ zusammenfassen. Auch das wird in Fontanes Büchern deutlich thematisiert, beispielsweise in der Charakterisierung der Familie Gundermann durch Dubslav von Stechlin: »Das sind natürlich Gundermanns; die kommen immer zu früh. Der arme Kerl hat mal was von der Höflichkeit der Könige gehört und macht jetzt einen zu weitgehenden Gebrauch davon. Autodidakten übertreiben immer.«1 Hier treffen alter Adel und Neureiche aufeinander. Der Unterschied zwischen diesen gesellschaftlichen Klassen wird u. a. anhand ihres Verhältnisses zu Höflichkeit markiert, anhand der Charakterisierung dessen, was sie für höflich halten, und anhand ihres Umganges mit den entsprechenden Normen und Konventionen: Der Parvenu Gundermann und seine Frau kommen pünktlich (also zu früh) zu einem Empfang, weil sie gehört haben, dass Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist und weil sie 1

HFA I/5, S. 24.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-017

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beweisen wollen und müssen, dass sie das verstanden und verinnerlicht haben. Stechlin muss niemandem etwas beweisen und kann einen ziemlich nonchalanten Umgang mit der Etikette pflegen – höflich ist er sicher trotzdem. Solche Passagen finden sich in vielen Romanen Fontanes. Höflichkeit wird von den Figuren regelmäßig praktiziert, erwähnt und kommentiert. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Tatsache zum Anlass, diese Texte aus der Perspektive der linguistischen Pragmatik, insbesondere der Höflichkeitstheorie zu behandeln. Es soll vor allem um die Frage gehen, auf welcher Grundlage die Figuren ihr Verhalten in der Beziehungskommunikation modellieren – wie und warum sie höflich sind. Dabei wird unterschieden zwischen Umgangsformen auf der einen und (als allgemeinerem Begriff) Höflichkeit auf der anderen Seite. Die These, die diskutiert werden soll, lautet: In den Romanen bewegen sich die Personen an der Grenze zwischen formaler Höflichkeit (im Sinne von Etikette und Umgangsformen) und Höflichkeit als weniger geregelter Form von Beziehungsgestaltung. Damit wird eine Besonderheit der von Fontane mit fast schon soziologischer Gründlichkeit analysierten Epoche beschrieben, andererseits aber auch eine Unterscheidung, die vom Autor zur Charakterisierung der Figuren herangezogen wird. Fontanes Romane werden hier also zuerst als Zeitzeugnis gelesen. Dieser Blick soll im folgenden Abschnitt (II) kurz begründet werden. Das darauffolgende Kapitel (III) wird das zugrunde gelegte Verständnis von Höflichkeit kurz umreißen und die Fragestellung des Beitrages genauer erläutern. In den nachfolgenden Abschnitten wird es um Umgangsformen gehen (IV), und schließlich um die von einigen Figuren praktizierte Höflichkeit, die eine Überwindung aristokratischer Umgangsformen oder zumindest einen Ansatz dazu darstellt. Insgesamt soll dadurch ein Eindruck davon entstehen, welche Rolle und Bedeutung der Höflichkeit in der Kommunikation zukommt und wie sie mit deren soziokulturellen Rahmenbedingungen verbunden ist. Im Mittelpunkt der Betrachtungen werden Der Stechlin und Frau Jenny Treibel stehen. Ersterer ist auch für Fontanes Verhältnisse in besonderer Weise »ein Roman der Sprachen und des Sprechens«2 und eignet sich daher gut als Gegenstand für sprachwissenschaftliche Ansätze. Frau Jenny Treibel ist in einem aufstrebenden bürgerlichen Milieu angesiedelt und ist daher eine interessante Sozialstudie, die auch soziolinguistisch gelesen werden kann. Da das Thema jedoch breiter angelegt ist und nicht in die Analyse eines einzelnen Ro2

Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Hamburg 2018, S. 428. D’Aprile zitiert hier Charlotte Jolles, Theodor Fontane, Stuttgart 1993, S. 97– 98.



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mans münden soll, werden bei Gelegenheit auch andere Werke von Fontane herangezogen, um ein umfassenderes Bild zu zeichnen.

II. Fontane als Gegenstand sprachpragmatischer Überlegungen In der Literaturgeschichte gilt Fontane als der wichtigste deutsche Vertreter des realistischen Gesellschaftsromans. Seine Schilderungen der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind so realitätsnah, dass auch Historiker, die sich mit dieser Epoche beschäftigen, die Romane als Quellen heranziehen. Nipperdey beispielsweise beschreibt die Ausnahmestellung Fontanes im deutschen Kontext so: »Dem Typus des großen Gesellschaftsromans hat in Deutschland einzig Fontane entsprochen.«3 Fontane hat die Romanhandlungen – auch unter massiver Zuhilfenahme von Zeitungen – nicht nur an den Gegebenheiten der Epoche orientiert, er hat auch die Figuren möglichst realitätsnah gezeichnet. Das gilt auch für deren Kommunikationsgewohnheiten; die Romane spiegeln vergleichsweise detailliert wider, wie Menschen damals miteinander umgegangen sind. Fontanes Romane sind auch Dialogromane, in denen Gespräche zwischen den Protagonisten schon rein quantitativ einen großen Raum einnehmen, in denen aber auch viele für die Handlung extrem wichtige Themen eingeführt und behandelt werden. Für Sprachwissenschaftler, die ansonsten versuchen, authentische Äußerungen zum Gegenstand ihrer Überlegungen zu machen, sind die Romandialoge Fontanes – auch in Ermangelung wirklich authentischer zeitgenössischer Daten – ein geeigneter Zugang zu einer interessanten Phase in der Geschichte der deutschen Sprache. Es handelt sich immer um fiktive, literarisch inszenierte Dialoge. Aber eben auch um vom Autor bewusst realitätsnah gestaltete Kommunikation, um eine »Angleichung der Dialoge an tatsächlich mögliches umgangssprachliches Sprechen«.4 Besonders im Stechlin wird gerade das als Stilmittel eingesetzt, um den Figuren Konturen zu geben, wie D’Aprile hervorhebt: »Nicht zuletzt positionieren sich die Figuren durch ihr Sprach- und Kommunikationsverhalten und ihre Haltung zum Diskurs.«5 Dabei wiederum spielen Höflichkeit und Umgangsformen eine herausragende Rolle.

3 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866‒1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 764. 4 Hans-Martin Gauger, Sprachbewußtsein im ›Stechlin‹. In: Günter Schnitzler (Hrsg.), Bild und Gedanke. Festschrift für G. Baumann, München 1980, S.  311‒323, hier S. 316. 5 D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, S. 431.

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Höflichkeit und Umgangsformen werden nämlich schwieriger, weil die von Fontane dargestellte Welt eine Welt im Umbruch ist – darin liegt ein weiterer Reiz der Auseinandersetzung mit diesem Material. Der Autor zeigt und reflektiert auf vielen Ebenen, was da gerade vor sich geht: Die beginnende Industrialisierung wird thematisiert und damit die Ökonomisierung des Alltagslebens, in dem plötzlich Fabriken oder Börsen eine Rolle spielen. Die Welt wird internationaler, die Realität des Deutschen Reiches steht auch in Verbindung mit der Realität in China. Auch die Romanfiguren reisen oder kommen aus anderen Ländern und Kontinenten – ein geheimnisvoller Chinese geistert in Effi Briest durch Kessin, der weltgewandte Herr von Gordon in Cécile kommt aus Kanada zurück und in diesem Zusammenhang wird von »Europens übertünchter Höflichkeit«6 gesprochen. Darüber hinaus zeichnen sich in Deutschland neue soziale Bewegungen und Parteien ab, gerade im Stechlin sind die Sozialdemokraten immer wieder Thema, sie haben über Lorenzen sogar Einfluss auf die Familie von Stechlin. Und natürlich verbreiten sich neue Medientechnologien wie die Telegraphie und bringen Veränderungen in den Kommunikationsgewohnheiten mit sich. Vor allem aber wird von zunehmender vertikaler Mobilität in der Gesellschaft erzählt. Die Vertreter des (niedrigen) Adels, Barone oder Grafen, oft mit militärischem Hintergrund, die häufig die Protagonisten stellen, bleiben nicht mehr unter sich. Das Habitat der Romane Fontanes wird auch von ganz anderen Figuren belebt: Kommerzienräte, also Bürgerliche auf dem Sprung in den Adelsstand, Ingenieure wie den schon angesprochenen von Gordon, aber auch Vertreter des Kleinbürgertums (Stine oder die Lene aus Irrungen, Wirrungen) – und natürlich Dienstboten. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Schichten und Klassen sind durchlässiger geworden, ein Fräulein Bürstenbinder und Tochter eines Kolonialwarenhändlers kann etwa zur Kommerzienrätin Jenny Treibel werden. Und Begegnungen zwischen Vertretern sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen werden häufiger und unausweichlich. Das stellt das kommunikative Geschick aller Beteiligten auf eine harte Probe. Etablierte Rituale im Umgang mit Personen der gleichen gesellschaftlichen Bezugsgruppe können hier nicht ohne weiteres reproduziert werden. Es kommt auf beiden Seiten zwangsläufig zu einer Art kommunikativer Verunsicherung, wenn z.  B. ein Graf von Haldern mit einer kleinbürgerlichen Stine kommunizieren muss und will. Hier müssen sich neue Rituale, Umgangsformen und Realisierungen von Höflichkeit herausbilden. 6

HFA I/2, S. 300.



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III. Höflichkeit Höflichkeit hat sich zu einem der zentralen Themen der pragmatischen Sprachwissenschaft entwickelt.7 Die Fachdiskussionen dazu sind sehr differenziert, eine klare und von allen Forschern akzeptierte Begriffsbestimmung ist nicht in Sicht. Unstrittig ist, dass Höflichkeit ein wichtiges theoretisches und praktisches Bindeglied zwischen individuellem Verhalten und kollektiven, gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen darstellt. Einigkeit besteht auch über die Annahme, dass Höflichkeit nicht mit der Verwendung bestimmter sprachlicher oder nicht-sprachlicher Formen (Anrede mit Sie, Dank, Verwendung von Begrüßungsformeln etc.) gleichgesetzt werden kann. Strittige Fragen beziehen sich zum Beispiel auf die Bedeutung von Höflichkeit für die Möglichkeit von Kommunikation, auf das Verhältnis von Höflichkeit und Unhöflichkeit, auf die Verankerung der Höflichkeitstheorie in einer breiter angelegten Theorie der Kommunikation oder auf die Universalität bzw. Kulturspezifik von Aussagen über Höflichkeit. Die Fachdiskussionen können im Rahmen dieses Beitrages hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. An dieser Stelle soll nur versucht werden, den Höflichkeitsbegriff kurz zu skizzieren, der im Folgenden für die Auseinandersetzung mit den Romanen Fontanes angewendet wird. Höflichkeit ist zunächst zu unterscheiden von Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und ähnlichen Begriffen. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Höflichkeit kommuniziert wird, also immer ein Teil des intentionalen Verhaltens von Sprechern ist. Mit anderen Worten: Wenn wir jemanden als freundlich einstufen, dann beschreiben wir eine seiner Charaktereigenschaften; wir nehmen an, dass er so ist und nicht, dass er uns das zeigen will. Wenn wir dagegen von einer Person sagen, sie sei höflich, dann beurteilen wir ihr Kommunikationsverhalten, wir nehmen an, dass sie etwas gesagt oder getan hat, um damit einen bestimmten Effekt in der Interaktion zu erzielen. Man kann nicht unabsichtlich höflich sein. Eine erste Annäherung an eine Definition könnte also sein, dass Höflichkeit so etwas ist wie ostentativ simulierte Freundlichkeit. Diese Annäherung geht natürlich von der in der Pragmatik unbestrittenen Grundannahme aus, dass Kommunikation nicht einfach als Austausch 7 Vgl. z. B. Bruce Fraser, The form and function of politeness in conversation. In: Klaus Brinker, Gerd Antos et al., Text- und Gesprächslinguistik, Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York, 2001, S. 1406‒1425; Jonathan Culpeper, Michael Haugh et al. (Eds.), The Palgrave Handbook of Linguistic (Im)Politeness, London 2017; Claus Ehrhardt, Höflichkeit. In: Frank Liedtke und Astrid Tuchen (Hrsg.), Handbuch Pragmatik, Stuttgart 2018, S. 282‒292.

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von Informationen analysiert werden kann, sondern als komplexer und facettenreicher Prozess. In manchen Äußerungen (etwa einem Gruß) spielt die Sachebene so gut wie keine Rolle, es handelt sich um Kommunikation auf der Beziehungsebene. In den meisten Äußerungen lässt sich zeigen, dass kommunikative Handlungen Informationen vermitteln, aber eben auch Botschaften auf der sozialen Ebene, die sich wiederum in die Aspekte Selbstdarstellung und Beziehung (oder Image und Beziehung) unterteilen lassen.8 Beides ist auch in der Interaktionssoziologie Goffmans gut begründet, wo Image (oder face) definiert wird als »[…] der positive soziale Wert […], den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion«.9 Hier geht es also um das Ich des Sprechers, um die Identität, die dieser in bestimmten Situationen annehmen will und annimmt. Dieses Selbstbild ist vermittelt durch die Spiegelung durch andere, steht also in einem Wechselverhältnis mit den Reaktionen und Einstellungen der Interaktionspartner. Um Kommunikation überhaupt zu ermöglichen, muss ein Sprecher sich aber zusätzlich noch auf die anderen am Gespräch Beteiligten beziehen, die wechselseitige Wahrnehmung als Partner in der betreffenden Situation muss gewährleistet sein und qualifiziert werden. Das heißt auch, dass der Sprecher zwangsläufig eine Beziehung zu seinen Ansprechpartnern aufbaut und dass er dies durch geeignete Signale kommunizieren muss: »Alle diese Bekundungen über Beziehungen, das heißt über Verbindungen zwischen Personen […] werde ich ›Beziehungszeichen‹ nennen«.10 Es ist in der linguistischen Höflichkeitstheorie umstritten, wie sich Höflichkeit zu Image und Beziehung verhält. Von der Antwort auf diese Frage hängt es auch ab, welche kommunikative Funktion der Höflichkeit zugeschrieben wird. Einerseits wird Höflichkeit als kommunikative Maßnahme zum Schutz des Images vor potentiell riskanten Verletzungen angesehen; Höflichkeit ist dann eine Art prophylaktische Maßnahme zur Vermeidung von Gesichtsverletzungen: Man mildert etwa eine Bitte ab, um die Freiheit des anderen nicht zu stark einzuschränken und damit sein Image als autonomes Individuum zu gefähr-

8

Vgl. etwa das Kommunikationsquadrat in Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden: Störungen und Klärungen. Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation, Reinbek 1981 oder aus linguistischer Perspektive: Rudi Keller, Zeichentheorie. Eine pragmatische Theorie semiotischen Wissens, Tübingen 2018, S. 291. 9 Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1971, S. 10. 10 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main 1974, S. 262.



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den.11 Die Gegenposition sieht Höflichkeit nicht als fakultative, nur in Fällen von akuter Bedrohung des Gesichts anzuwendende Strategie, als kommunikative Begleitmaßnahme von potentiell das interaktionale Gleichgewicht bedrohenden Sprechhandlungen, sondern vielmehr als nahezu notwendigerweise kommunizierten Aspekt jeder Äußerung. Dieser Aspekt wäre die Konzeption der Sprecher-Hörer-Beziehung, die durch die Äußerung vermittelt wird. Wer höflich ist, sagt demnach, wie er sein Verhältnis zu den Partnern sieht, er etabliert eine bestimmte Form von Beziehung, bestätigt eine in vorangegangenen Treffen etablierte Beziehung oder versucht, diese zu modifizieren.12 Im Folgenden wird Höflichkeit als Beziehungszeichen im Sinne Goffmans betrachtet – und zwar als das zentrale Mittel der Beziehungskommunikation. Die Ausführungen gehen von der Annahme aus, dass im Sinne von Grice13 Kommunikation als ein vom Kooperationsprinzip und von Maximen geleitetes Handeln beschrieben werden kann. »Sei höflich« ist die Maxime, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption der Beziehungsaspekte von Äußerungen leitet. Die Höflichkeitsmaxime beschreibt also – analog etwa zur Maxime der Qualität im Bereich der inhaltsbezogenen Aspekte von Kommunikation – was Kommunikationsteilnehmer auf der Beziehungsebene voneinander erwarten. Sie erwarten, dass der andere seine Äußerung so gestaltet, dass seine Konzeption der Beziehung zum Ausdruck gebracht wird. Eine Sprecherin kann emotionale Nähe zum Hörer kommunizieren, sie kann z. B. zeigen, dass der Partner für sie einer hierarchisch niedriger stehenden sozialen Klasse angehört oder dass sie die am Gespräch beteiligten Personen alle auf einer Ebene sieht. Jede Äußerung enthält für die Fortsetzung der Interaktion ein Angebot auf der Beziehungsebene. Wenn der Adressat mit dem Angebot einverstanden ist, dann stuft er die Äußerung als höflich ein. Wenn er die Beziehung anders definieren würde, dann klassifiziert er die Sprecherin als unhöflich. Höflichkeit wird hier also verstanden als tief in den Bedingungen der Möglichkeit für menschliche Kommunikation angelegte Grundbedingung. Sie ist »[…] something that human communication would find it hard to do without«.14 Höflichkeit muss unterschieden werden von Phänomenen wie Eti11 Das entspricht dem Höflichkeitsbegriff der Höflichkeitsklassiker: Penelope Brown und Stephen C. Levinson, Politeness: Some Universals in Language Usage, Cambridge 1987. 12 Zur Präzisierung des Beziehungsbegriffes vgl. Werner Holly, Beziehungsmanagement und Imagearbeit. In: Klaus Brinker, Gerd Antos et al. (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/New York 2001, S. 1382‒1393. 13 Paul Grice, Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt am Main 1979, S. 243‒265. 14 Geoffrey Leech, The Pragmatics of Politeness, Oxford 2014, S. IX.

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kette und Umgangsformen. Bei diesen handelt es sich um Epiphänomene von Höflichkeit, um etablierte, standardisierte sprachliche und nicht-sprachliche Verhaltensmuster für bestimmte Typen von Situationen, die sich in einer gesellschaftlichen Gruppe zur Norm entwickelt haben, eine Art Leitfaden für das angemessene Verhalten in bestimmten Kontexten darstellen und durch Erziehung tradiert werden. Als normierte Verhaltensdisposition wirken sie natürlich auf die Normalitätserwartungen von Individuen in bestimmten sozialen Kontexten zurück und stehen dann in einem dialektischen Verhältnis mit Höflichkeit. Dieses Verhältnis lässt sich anhand der Romane Fontanes genauer beschreiben und analysieren.

IV. Umgangsformen bei Fontane Die Wörter Höflichkeit und höflich kommen bei Fontane nicht besonders häufig vor. Ein erster Überblick lässt sich aus einer E-Book-Ausgabe seiner Werke gewinnen, die zwar keine wissenschaftlichen Editionskriterien erfüllt, für die hier verfolgten Zwecke aber ausreichen mag. Die folgende Tabelle zeigt die Okkurrenzen von Höflichkeit und einiger bedeutungsverwandter Wörter. Tabelle 1: Wortokkurrenzen bei Fontane

Wort Höflich Höflichkeit Politesse Galanterie Courtoisie Umgangsformen Artigkeit Manierlich

Gesamtwerk 13 9 9 5 13 9 39 17

Romane und Novellen 1 4 6 3 5 5 24 12

Die Zahlen deuten zuerst einmal darauf hin, dass Fontane im Hinblick auf die Metasprache zur Höflichkeit weniger festgelegt war als wir es heute sind – Lehnwörter aus dem Französischen sind noch recht gebräuchlich. Das heute kaum noch gebräuchliche Artigkeit ist das mit Abstand am häufigsten verwendete Wort aus der Liste. Alle Wörter betonen eher den förmlichen, konventionellen Aspekt von Höflichkeit, der heute unter Etikette subsumierbar wäre. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man sich auf Wortkombinationen wie das schon zitierte »Europens übertünchter Höflichkeit« konzentriert, das



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nicht nur in Cécile, sondern auch in Frau Jenny Treibel 15 vorkommt – Corinna erwähnt hier im Gespräch mit Marcell »die berühmte Stelle von dem Kanadier […], der noch Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte«. Damit kontert sie den Verweis des Verehrers auf das vom Glockenspiel intonierte »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Im weiteren Verlauf des Dialogs stellt sie dem die Tugend der Aufrichtigkeit gegenüber. Höflichkeit wird von Corinna verstanden als Überformung der Kommunikation durch unnötige Konventionen, die in Europa noch üblich, in anderen Teilen der Welt aber schon überwunden sind. Corinna zeigt hier ein dezidiert bürgerliches Verständnis von Höflichkeit, das Ehrlichkeit höher bewertet als die im Adel praktizierte und diesen charakterisierende förmliche Etikette. Auf diesen bürgerlich aufgeklärten Blick auf Höflichkeit werden wir zurückkommen. Zunächst ist aber zu bemerken, dass bei Fontane Höflichkeit auf der metasprachlichen Ebene zwar keine große Rolle spielt, dass sie aber ständig praktiziert wird – und hier auch in der aristokratisch verfeinerten Form, die Corinna abzulehnen scheint. Als genauer Beobachter des gesellschaftlichen Verkehrs erfasst und beschreibt Fontane sehr genau die Beziehungszeichen, die seine Figuren austauschen. Diese manifestieren sich besonders deutlich in Begrüßungs- und Abschiedsritualen (wo vom Handkuss über den Hofknicks bis hin zum »herzhaften Schmatz«, den Treibel seiner Schwiegertochter verpasst, viele Möglichkeiten variiert werden), bei Vorstellungen, bei Sprechhandlungen wie Dank, Entschuldigung oder Komplimenten oder einfach durch das Auslassen von möglichen Gesprächsthemen, etwa den unangenehmen Erfahrungen, die Hedwig, die schöne Nichte des Portiers im Stechlin, als Hausangestellte in verschiedenen Familien gemacht hat. Ganz besonders vielfältig und aussagekräftig sind Anredeformen. Darauf hatte schon Lüger in einem detaillierten Überblick über Anredeformen im Stechlin hingewiesen. Er kommt dabei zum folgenden Schluss: »Im Stechlin von Fontane sorgt das Anredeverhalten nicht nur für eine erste Markierung der interpersonellen Beziehungen, sondern ebenso für die Kennzeichnung des jeweiligen sozialen Status und damit für die Zuordnung zu bestimmten Gruppen von Protagonisten«.16 An diesen Befund soll hier angeknüpft werden, um die Überlegungen zu Höflichkeit und Etikette zu exemplifizieren und zu vertiefen.

15 HFA I/4, S. 342. 16 Heinz-Helmut Lüger, Höflichkeit und Textstil. In: Zofia Bilut-Homplewicz, Agnieszka Mac et al. (Hrsg.), Text und Stil, Frankfurt am Main 2010, S. 261‒277, hier S. 267.

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Auch hier ist bei Fontane eine große Vielfalt zu erkennen. Natürlich finden sich die Anredepronomen du und Sie, daneben aber auch viele verschiedene Kombinationen von Namen und Titeln, die Anrede in der dritten Person (Erlauben der Herr Oberst, dass ich die Tête nehme?) oder auch Nähe indizierende Formen wie der Diminutiv von Eigennamen (Corinnchen). Das folgende Bild zeigt als Beispiel die Gesprächspartner von Corinna in Frau Jenny Treibel und die jeweils verwendeten Anredeformen. Je größer die Namen der Figuren gedruckt sind, umso wichtiger sind sie als Gesprächspartner von Corinna in quantitativer Hinsicht. Die fettgedruckten Anredeformen sind die am häufigsten verwendeten.

Abb. 1: Anredeformen in Dialogen mit Corinna Schmidt

Auffällig ist, dass sich die verwendeten Anredeformen in manchen Fällen im Laufe des Romans ändern. Zwischen Corinna und Leopold Treibel wird im Moment der Verlobung von Sie zum du gewechselt. Das ist sicherlich nicht überraschend und dieser Übergang von der formelleren zur informellen Form ist auch in anderen Kontexten konventionalisiert und ritualisiert. Ungewöhnlicher ist der umgekehrte Weg; Jenny schlägt ihn ein: Am Anfang des Romans duzt sie Corinna und verwendet sehr vertrauliche Anredeformen; als sie von der Verlobung ihres Sohnes mit Corinna erfahren hat, geht sie aber zum distanzierten Sie und Fräulein Corinna über. Die anfangs asymmetrische Anrede wird also später symmetrisch. Dafür gibt es keine gesellschaftlichen Rituale, die Umgangsformen sehen das nicht vor und der Wechsel könnte leicht als Af-



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front verstanden werden. Dass das hier nicht der Fall ist, hängt mit der Natur von Höflichkeit zusammen und den Unterschieden zwischen Höflichkeit und Etikette. Wir kommen darauf zurück. Ungewöhnlich sind auch die asymmetrischen Anredeformen zwischen Corinna und Frau Schmolke: Corinna siezt die Hausangestellte ihres Vaters. Anders als im Stechlin, wo es zwischen der Gräfin Melusine und dem alten Diener Engelke zu einer ähnlichen Konstellation kommt,17 duzt Frau Schmolke, also die hierarchisch untergeordnete Person, Corinna aber konsequent. Die verschiedenen Anredeformen und -konstellationen tragen dazu bei, dass die Beziehungen zwischen den Figuren profiliert werden. Fontane macht sich hier die Tatsache zunutze, dass Anredeformen mehrere kommunikative Funktionen haben

Abb. 2: Die kommunikativen Funktionen der Anredeformen

Wie aus der Übersicht in Abb. 3 hervorgeht, haben Anredeformen zunächst einmal eine referentielle Funktion, sie signalisieren, wer gemeint ist.18 Deiktische Ausdrücke wie Personalpronomen müssen disambiguiert werden. Vor 17 Vgl. Claudia Buffagni, Weibliche und männliche Dienerfiguren im ›Stechlin‹: Soziale Identitäten in der Kommunikation. In: Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011, S. 23‒48, hier S. 39. 18 Zu den Anredeformen im Deutschen liegen zahlreiche Studien vor. Vgl. z. B. Ulrich Ammon, Zur sozialen Funktion der pronominalen Anrede im Deutschen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 7 (1972), S.  73‒88; Werner Besch, Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen 1996; Armin Kohz, Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens. Untersucht am Beispiel des Deutschen und Schwedischen, Tübingen 1982; Horst J. Simon, Für eine grammatische Kategorie ›Respekt‹ im Deutschen, Berlin/Boston 2003.

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allem in Situationen, in denen mehrere potentielle Adressaten anwesend sind, kann das sehr wichtig und manchmal auch problematisch sein. In Fontanes Romandialogen verwenden die verschiedenen Sprecher auffällig oft, und nicht nur zu Beginn der jeweiligen Beiträge, den Namen der angesprochenen Person. Damit wird dem Leser die Orientierung erleichtert, es bleibt immer klar, wer mit wem spricht. Die Anredeformen haben dann auch eine appellative Funktion; die angesprochene Person wird aufgefordert, für die Dauer des folgenden Gesprächsbeitrages die Hörerrolle zu übernehmen. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu Umgangsformen und zur Höflichkeit bei Fontane sind aber die dritte und die vierte kommunikative Funktion zentral. Anredeformen werden auch genutzt, um zum Ausdruck zu bringen, wie der Sprecher seine Beziehung zum Adressaten einschätzt. Die Wahl des Anredepronomens du ist eine Art Angebot an den Hörer, die Beziehung auf einer freundschaftlichen Ebene anzusetzen. Der Sprecher kommuniziert damit u. a., dass er den Angesprochenen für einen (potentiellen) Freund hält, dass er sich ihm nahe fühlt usw. Bei der Wahl der Anredeform wird der Sprecher natürlich auch in Betracht ziehen, was seiner Meinung nach vom Adressaten erwartet wird. Wer du wählt, kommuniziert also zusätzlich zu dem eben Gesagten auch noch, dass er denkt, dass der Angesprochene damit einverstanden sein wird. Die Wahl der Anredeformen basiert auch auf einer Hypothese über die Erwartungen und Einschätzungen des Partners. Mit anderen Worten: Der Sprecher denkt, dass der Hörer denkt, eine freundschaftliche Ebene der Kommunikation sei angemessen. Holly19 führt vier Variablen an, mit deren Hilfe sich Beziehungskonstellationen beschreiben und einordnen lassen: 1. Horizontale Distanz: Bekanntheitsgrad, Intimität, kommunikative Distanz 2. Vertikale Distanz: Macht, Status, kommunikativer Rang, Grad an Förmlichkeit 3. Kommunikative Wertschätzung (evaluative Komponente): Bewertung/ Wertschätzung des Partners und der eigenen Person 4. Sympathie (affektive Komponente): Gefühle gegenüber dem Partner. Die Wahl einer Anredeform ist das Resultat von Abwägungen auf diesen Ebenen und ein Versuch, die Ergebnisse dieser Abwägungen zu gewichten. Dabei sind die Einschätzungen natürlich nicht objektiv gegeben, sondern sie sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, sie können in jeder Interaktion bestätigt oder neu justiert werden. Eine Einschätzung der Beziehungs19 Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, S. 130–131.



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konstellation seitens der Teilnehmer ist eine Voraussetzung für den Eintritt in eine Interaktion, ihre Entwicklung ist auch das Ergebnis der Verwendung von Beziehungszeichen. Der Prozess der Abwägung und Aushandlung wird dadurch vereinfacht, dass Individuen in Interaktionen sehr häufig nicht nur als individuelle Personen auftreten, sondern auch Rollen übernehmen. Person und Rolle sind eng aufeinander bezogen: »Man kann nie völlige Unabhängigkeit und nie völlige Abhängigkeit zwischen Individuum und Rolle erwarten«.20 Wenn Engelke und Dubslav von Stechlin sich in ihren Rollen als Hausdiener und adeliger Schlossherr gegenübertreten, dann ist die Beziehungskonstellation durch die gesellschaftlichen Gegebenheiten vordefiniert. Die Beteiligten müssen nicht in jeder neuen Situation kalkulieren, wie sie dem Partner begegnen sollten, welche Wortwahl, welche Grußformel, welche Anredeform angemessen ist. Dafür haben sich gesellschaftliche Konventionen herausgebildet, die in Form von Umgangsformen verinnerlicht und in das Verhaltensregime der Einzelnen und der Gesellschaft eingeschrieben werden – zum Teil nehmen sie in geschriebener Form als Etikette einen normativen Charakter an. Fontanes Romane können auch als Exemplifizierung für die Umgangsformen der Epoche gelesen werden. Sie spiegeln auch in dieser Hinsicht die gesellschaftlichen Strukturen im ausgehenden 19. Jahrhundert wider. Die soziale Distanz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen war noch relativ groß. Eine Fabrikantengattin und Kommerzienrätin kann erwarten, von Kleinbürgern oder von der Tochter eines Gymnasialprofessors mit besonderem Respekt behandelt zu werden. Konkreter: Jenny kennt Corinna schon ziemlich lange und gut. Sie empfindet auch eine gewisse Sympathie für die Tochter ihres früheren Beinahe-Verlobten. Aber der Statusunterschied zwischen den beiden ist groß und das ist in der Klassengesellschaft des Kaiserreichs der entscheidende Faktor für die Konzeption der Beziehung und die Wahl der sprachlichen Mittel, die diese zum Ausdruck bringen. Corinnas Kalkül könnte also etwa so aussehen: Ich spreche mit einer Kommerzienrätin, die in der gesellschaftlichen Ordnung eine hohe Stellung einnimmt und der ich deswegen zeigen muss, dass ich ihre Position und die gesellschaftliche Ordnung respektiere. Für solche Konstellationen hat sich die Anrede meine gnädigste Frau eingebürgert. Jenny kann es sich leisten, Anredeformen wie Kind, meine liebe Corinna und du zu verwenden, ohne dass das eine Störung auf der Beziehungsebene auslösen würde.

20 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1980, S. 297.

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Gesellschaftsfähigkeit oder (moderner ausgedrückt) pragmatische Kompetenz besteht in dieser Epoche darin, dass man die soziale Situation, insbesondere den sozialen Status der Beteiligten angemessen einschätzen kann und dann die entsprechende Anredeform wählt. Die Umgangsformen und die Etikette sind konventionalisierte, standardisierte Lösungen für rekurrente kommunikative Probleme mit typisierten Beziehungskonstellationen. Wenn Höflichkeit als situationsgerechte Gestaltung von Äußerungen auf der Beziehungsebene verstanden wird, dann gehört die Fähigkeit, solche Abwägungen vorzunehmen, sicher dazu. Höflich sein heißt eben auch, die Erwartungen der anderen in Bezug auf die Beziehungsgestaltung zu kennen und zu berücksichtigen. Und die Erwartungen orientieren sich u. a. auch an der jeweils gültigen Etikette. Aber die Kenntnis der Etikette ist weder notwendig noch hinreichend, um höflich sein zu können. So wie man eine verständliche Äußerung produzieren kann, ohne die Regeln der Grammatik anzuwenden, kann man höflich sein, ohne sich an die Etikette zu halten – man muss nur eine Ausdrucksform finden, mit der man seine Beziehungskonzeption so ausdrückt, dass die Partnerin dies versteht und akzeptieren kann. Umgangsformen fallen auch deswegen nicht mit Höflichkeit zusammen, weil diese das ursprünglichere und umfassendere Phänomen ist. Etikette hat sich – wie alle Konventionen – als Lösung für kommunikative Problemlagen unter verschiedenen Alternativen etabliert. Ein solcher Prozess lässt sich in den Zeiten des Coronavirus anhand von Begrüßungskonventionen sehr gut beobachten: Wenn man davon ausgehen muss, dass eine Person, mit der man in eine Interaktion eintreten möchte, ein gewisses Interesse daran hat, Abstand zu halten und Berührungen zu vermeiden, dann kann und muss man andere Ausdrucksformen finden, um zu kommunizieren, dass man ein friedliches Gespräch beginnen möchte und die Gesprächspartner respektiert. Die Menschen werden hier sehr kreativ, praktiziert werden etwa verschiedene Formen von aus asiatischen Kulturen inspirierten Verbeugungen, das ›Ebola-Greeting‹, bei dem man die Hüften seitlich zusammenstößt, der ›Wuhan-Shake‹, bei dem sich die Füße berühren, oder auch die Berührung mit den Ellenbogen. Diese scheint sich durchzusetzen und in kürzester Zeit zum von den Umgangsformen gebotenen sowie von der Etikette akzeptierten, wenn nicht sogar vorgeschriebenen Ersatz für das (in formelleren Situationen) vorher obligatorische Händeschütteln zu werden. Der Wunsch, auf der Beziehungsebene etwas auszudrücken, war zuerst vorhanden, die allseits akzeptierte Form, das zu realisieren, bildet sich später heraus, etabliert sich und wird zur Norm. Höflichkeit ist das Prinzip, das hinter der Ausformung und Etablierung von Umgangsformen steht, von Gesten und Worten, die als allgemein anerkannte und mit einer



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recht stabilen interaktiven Bedeutung versehene Lösung für kommunikative Aufgaben dienen. Die Norm, die sich etabliert hat, ist auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung. Was ein geeignetes Mittel ist, eine konsensfähige Beziehungskonzeption auszudrücken, hängt auch von den Werten, Hierarchien und Machtverhältnissen ab, die eine Gesellschaft in einer bestimmten historischen Epoche charakterisieren. Zu Fontanes Zeiten waren die Beziehungen auf Ehrerbietung ausgerichtet. Es handelt sich um eine Ausprägung von Höflichkeit, die man – in Termini von Jucker 21 – als deference oder positive politeness darstellen kann. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass von Kommunikationsteilnehmern erwartet wird und erwartet werden kann, dass sie beim Ausdruck ihrer Auffassung von der Beziehung zu den Gesprächspartnern deren gesellschaftlichen Status relativ zum eigenen zu würdigen wissen. Andere theoretische Entwürfe zur sprachlichen Höflichkeit bevorzugen eine Beschreibung solcher Zusammenhänge in Form von Maximen im Sinne von Grice – hier Untermaximen zur allgemeinen Höflichkeitsmaxime.22 Die von Corinna und anderen Figuren praktizierte Höflichkeit folgt einer Maxime wie: »Unterstreiche die Qualitäten des Gesprächspartners«. Diese Form von Höflichkeit setzt voraus, dass in den meisten Gesprächssituationen klar ist, welche gesellschaftliche Rolle die Beteiligten jeweils einnehmen, welche Qualitäten ihnen deswegen zugeschrieben werden können und wer welches Ausmaß an Ehrerbietung verdient. Sobald diese Gewissheiten ins Schwanken kommen, geraten Umgangsformen und an Ehrerbietung orientierte Verhaltensrichtlinien an ihre Grenzen. Dann erst zeigt sich, was Höflichkeit in der Kommunikation leistet bzw. welche Bedeutung der Höflichkeitsmaxime für die Beschreibung und Interpretation von Interaktion zukommt. Auch davon erzählt Fontane.

V. Jenseits der Umgangsformen: Höflichkeit Wie viele andere Konventionen sind mehr oder weniger normative Umgangsformen nur grobe Verhaltensrichtlinien, die nicht in allen Situationen, in die ein Individuum geraten kann, anwendbar sind und die an Einzelfälle angepasst werden müssen. Aus der Sicht der Handelnden reicht es nicht, die Etikette zu kennen und vorgeprägte Verhaltensmuster zu wiederholen, man muss auch 21 Andreas H. Jucker, Changes in politeness cultures. In: Elisabeth C. Traugott und Terttu Nevalainen (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of English, Oxford 2012, S. 422‒433. 22 Vgl. z. B. Leech, The Pragmatics of Politeness, S. 91.

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in der Lage sein, sie anzuwenden – auch hier zeigt sich eine Parallele mit der Grammatik. Aus der Sicht von Beobachtern, die Höflichkeit beschreiben und erklären wollen, reicht es nicht, das Verhalten der beobachteten Personen als Anwendung von Etikettenregeln zu analysieren. Wenn man verstehen will, was Individuen tun, dann müssen auch deren Intentionen, Einstellungen, Handlungsorientierungen in konkreten Situationen in Betracht gezogen werden. Es ist sicher in keinem Buch über Etikette vorgesehen, dass eine Hausangestellte die Tochter ihres Chefs duzt und von dieser gesiezt wird. Im Fall von Corinna und Frau Schmolke verursacht das aber keine Konflikte auf der Beziehungsebene. Die beiden Figuren sind höflich zueinander, obwohl sie etwas tun, was im Wesentlichen nur in dieser besonderen Figurenkonstellation kommunikativ erfolgreich sein kann. Was damit ausgedrückt wird, ist die mütterliche Nähe der Schmolke gegenüber Corinna und der Respekt der Tochter des Hauses gegenüber der langjährigen Begleiterin. Fontane nutzt diese außergewöhnliche Kombination der Anredepronomen, um zu unterstreichen, wie außergewöhnlich die Beziehung zwischen den beiden Figuren ist. Ebenso ungewöhnlich ist Jennys Übergang von der du- zur Sie-Anrede im Gespräch mit Corinna. Auch das ist in keinem Lehrbuch für gutes Benehmen vorgesehen. In der real existierenden Kommunikation kann es aber durchaus effizient sein. Jenny bewirkt damit eine Neuorientierung der Beziehung. In Hollys Termini kommuniziert sie damit, dass ihre kommunikative Wertschätzung für Corinna gesunken ist und dass die (mütterliche) Nähe, die sie vorher zu Corinna zum Ausdruck gebracht hatte, nicht mehr vorhanden ist. Die Kommunikation in dieser Sache (Corinnas Verlobung mit Leopold) nimmt deutlich einen kompetitiven Charakter an. Die Beziehung zwischen den beiden ist aus Jennys Sicht eine andere geworden. Das wird auch dadurch deutlich gemacht, dass sie am Ende des Gesprächs eine Art Drohung ausspricht, sich verbeugt und das Zimmer verlässt, ohne sich von der Gesprächspartnerin wirklich zu verabschieden. Corinna war darauf vorbereitet. Sie zeigt sich in der Szene überhaupt nicht erschüttert, legt sachlich ihre Position dar und bleibt bei der vorher praktizierten Anredeform. Sie scheint Jennys Vorschlag der Neudefinition ihrer Beziehung zu bestätigen und anzunehmen. Insofern ist das Gespräch auf der Beziehungsebene erfolgreich verlaufen. Es gibt keinen Dissens über die Definition der Beziehung und über die Wahl des Anredepronomens, die diese neue Konstellation einerseits bewirkt, andererseits zum Ausdruck bringt. Corinnas (Nicht-)Reaktion auf diesen potentiellen Affront hängt natürlich damit zusammen, dass sie sich einerseits der Tatsache bewusst ist, dass ihre Verlobung mit Leopold gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstößt, und dass sie andererseits die gesellschaftliche Ordnung im Wesentlichen akzeptiert. Es



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käme ihr auch in dieser Situation nicht in den Sinn, in Sachen Beziehungsmanagement einer Kommerzienrätin zu widersprechen. Vielleicht schätzt sie Jennys Aufrichtigkeit sogar – man kann diese ja auch als eine Wiederannäherung der Fabrikantengattin an ihre kleinbürgerliche Vergangenheit und die in diesen Kreisen im Vergleich zum höfisch inspirierten Protokoll höher geschätzte Ehrlichkeit werten. Die Beziehung der beiden Frauen ist auch nur für kurze Zeit eingetrübt und nicht nachhaltig beschädigt. Die Einladung zu Corinnas Hochzeit mit Marcell empfindet Jenny in einem ersten Moment als »Taktlosigkeit und Affront«, kommt dann aber zu dem Schluss, dass die Episode als »Kinderei«23 eingestuft und vergessen werden kann. Fontane beschreibt hier in doppeltem Sinne eine Ausnahmesituation: Es handelt sich einerseits um eine Konfliktsituation, also kompetitiv ausgerichtete Kommunikation, und andererseits um einen klassenübergreifenden Dialog – und dazu auch noch um einen klassenübergreifenden Dialog mit einer Person, nämlich Jenny, die in sich schon eine klassenübergreifende Persönlichkeit ist. Die Etikette und die Umgangsformen reichen hier nicht mehr als Orientierungsrichtlinie für das kommunikative Verhalten, die Personen müssen, jenseits der ausgetretenen, konventionalisierten Gesprächspfade, neue Wege finden, um zu verstehen zu geben, was sie auf der Beziehungsebene sagen wollen. Derartige Ausnahmesituationen kommen bei Fontane häufig vor. Vor allem liegt das daran, dass in den Romanen die bereits angesprochene neue vertikale Mobilität und die damit zunehmende Bedeutung von klassenübergreifenden Begegnungen aufmerksam registriert und im Hinblick auf ihre sozialen und kommunikativen Folgen analysiert wird. Einige von Fontanes Figuren entwickeln eine ausgeprägte Sensibilität dafür, dass die überkommenen Verhaltensorientierungen nicht mehr in die neue, kommende Zeit passen und dass sich in Sachen Umgangsformen und Höflichkeit einiges ändert. Ein Beispiel dafür ist der Baron »Papageno«, den Waldemar in Stine wegen seiner nicht-standesgemäßen Heiratsabsichten konsultiert und der die aristokratischen (diplomatischen) Umgangsformen explizit für obsolet erklärt, weil sie sich eben nicht in Ausnahmefällen anwenden lassen: Aber das Diplomatische, das Offizielle, das liegt nun hinter uns, und ich kann nun sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Und da will ich Ihnen denn aufrichtig sagen, aber nur so ganz unter uns, Sie brauchen sich nicht auf mich zu berufen, ich freue mich immer, wenn einer die Courage hat, den ganzen Krimskrams zu durchbrechen. Es gilt auch von dieser Ebenbürtigkeitsregel, was von jeder Regel gilt, sie dauert so lange, bis der Ausnahmefall eintritt. Und Gott sei

23 HFA I/4, S. 474.

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Dank, daß es Ausnahmefälle gibt. Es lebe der Ausnahmefall. Es lebe … Noch ein halbes Glas, Waldemar.24

Vom Rand der aristokratischen Gesellschaft (dem der etwas kauzige Baron zweifellos zuzurechnen ist) wird deren Verhaltensregime in Frage gestellt. Etikettenvorschriften sind nicht nur deswegen problematisch, weil sie nie für alle Kommunikationssituationen einsetzbar sind, sondern ihnen wohnt ein zweites grundsätzliches Problem inne: Sie laufen irgendwann leer, sie werden zu einem Korsett, das die Sprecher in ihren Ausdrucksmöglichkeiten einschränkt, und sie verlieren ihren Sinn, wenn sie nur noch als Rezitation von formelhaften Wendungen empfunden werden. Wo die Etikette nicht mehr ausreicht, bleibt allerdings die Notwendigkeit bestehen, Beziehungen einzuschätzen und das Ergebnis der Einschätzung zu kommunizieren. Dafür müssen die Kommunikationsteilnehmer jetzt neue, (noch) nicht konventionalisierte Mittel und Wege finden. Solche neuen Wege machen die Kommunikation schwieriger und unberechenbarer: Sprecher müssen erst einmal mehr Energie dafür aufbringen, ihre Äußerungen in eine akzeptable Form zu bringen, und Hörer müssen sich verstärkt auf Zwischentöne konzentrieren, müssen – auf der Grundlage der Höflichkeitsmaxime, also der Hypothese, dass das Gegenüber eine seiner Einstellung und seiner Einschätzung der Kommunikationssituation angemessene Form der Äußerung wählt – versuchen zu verstehen, was der oder die andere auf der Beziehungsebene kommunizieren wollte. Die situationelle Angemessenheit einer Äußerung und der Grad an Höflichkeit, den sie enthält, sind schwieriger einzuschätzen, wenn man sich nicht mehr auf vorgefertigte Kommunikationsmuster stützen kann. Hier kommt Höflichkeit als Teil der kommunikativen Kompetenz ins Spiel – eine Kompetenz, die weit über das Aufrufen der richtigen (im Sinne der Etikette) kommunikativen Lösung für das gerade anstehende Problem hinausgeht. Höflichkeit wird also vor allem dann wichtig, wenn gesellschaftliche Dynamik auftritt. Anders gesagt: Umgangsformen und Etikette repräsentieren die statische Komponente der Beziehungskommunikation, Höflichkeit die dynamische. Typischerweise erzeugen dynamische Situationen auch Widerstände. Das ist auch bei Fontane nicht anders. Die langsame Lockerung der starren Verhaltensregeln wird von einigen Romanfiguren mit großer Skepsis und Besorgnis gesehen. Ganz besonders emblematisch verkörpert Herr Gundermann die Beharrungskräfte des bisher gültigen Höflichkeitskodex. In einem Gespräch mit Dublav von Stechlin weist er auf einen aus seiner Perspektive verhängnisvollen Wandel der Anredekonventionen hin: 24 HFA I/2, S. 530–531.



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Ja, Herr von Stechlin, alles Zeichen der Zeit. Und ganz bezeichnend, daß gerade das Wort ›Herr‹, wie Sie schon hervorzuheben die Güte hatten, so gut wie abgeschafft ist. ›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr, – ich meine natürlich die, die jetzt die Welt regieren wollen. Aber es ist auch danach. Alle diese Neuerungen, an denen sich leider auch der Staat beteiligt, was sind sie? Begünstigungen der Unbotmäßigkeit, also Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie. Weiter nichts. Und niemand da, der Lust und Kraft hätte, dies Wasser abzustellen. Aber trotzdem, Herr von Stechlin – ich würde nicht widersprechen, wenn mich das Tatsächliche nicht dazu zwänge –, trotzdem geht es nicht ohne Telegraphie, gerade hier in unsrer Einsamkeit. Und dabei das beständige Schwanken der Kurse. Namentlich auch in der Mühlenund Brettschneidebranche ...25

In dem Gespräch ging es vorher um Telegraphie und die Tatsache, dass die notwendige Kürze der auf diesem Weg versendeten Nachrichten es unmöglich macht, den Adressaten so anzusprechen, wie es angemessen wäre. Die Texte müssen auf das unbedingt Notwendige reduziert werden, Höflichkeitsfloskeln wären da nur als nutzlose Verzierung zu verstehen. Neben dem sozialen Wandel wird hier eine weitere Quelle der neuen Verunsicherung angesprochen: der Wandel der Medientechnologie, der ebenfalls dazu beiträgt, dass sich die Kommunikationsgewohnheiten schnell und merklich ändern. Der Mühlenbesitzer Gundermann ist in der adeligen Gesellschaft gerade erst angekommen. Er repräsentiert hier den Parvenu, der vor allem deshalb im Hause Stechlin akzeptiert wird, weil es in der Gegend an standesgemäßen Gesprächspartnern mangelt. Herrn Gundermann fehlt der aristokratische Habitus, das muss er durch eine überzogene Anpassung an die Gepflogenheiten in adeligen Kreisen kompensieren. Für ihn sind die Umgangsformen der alteingesessenen Familien nicht nur Formen der ritualisierten Kommunikation im oben angesprochenen Sinne, sie sind auch ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Ohne Verhaltensprotokoll würde ihm einerseits der symbolische Wert der Umgangsformen abhandenkommen, andererseits wäre er auf sein nicht vorhandenes kommunikatives Geschick im Umgang mit anderen Menschen zurückgeworfen und käme damit wahrscheinlich schnell in Schwierigkeiten. U. a. aus diesen Gründen macht er sich hier zum entschiedenen Verfechter der Umgangsformen, die Papageno, Corinna und andere Figuren bei Fontane im Begriff sind zu verabschieden. Für Menschen wie Gundermann würde es eine mittlere Katastrophe darstellen, wenn jedermann einen Menschen wie Herrn von Stechlin ansprechen könnte, wie er es in einer bestimmten Situation für richtig hält. Gundermann malt sogar den sozialdemokratischen Teufel (im Allgemeinen sein Steckenpferd) an die Wand.

25 HFA I/5, S. 26‒27.

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Fontane nutzt das mehr oder weniger stark ausgeprägte Festhalten an Umgangsformen versus eine Tendenz zur Höflichkeit im Sinne einer freieren Form des Ausdrucks von Beziehungsintentionen, um seine Figuren zu charakterisieren. Dubslav sieht die Neuerungen deutlich entspannter, er kommentiert seine eigenen Ausführungen nach dem Beitrag von Gundermann so: »Was ich da gesagt habe ... Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig. Der Teufel is nich so schwarz, wie er gemalt wird, […]«.26 Auch das macht die Altersweisheit und die Nonchalance des Protagonisten von Der Stechlin aus. Eine vergleichbare Position vertritt im bürgerlichen Milieu Wilibald Schmidt, der im Gespräch mit Distelkamp darauf hinweist, dass früher durchaus nicht alles besser war, nur weil es strengere Reglementierungen gab. Wo Gundermann und andere Figuren (wie Adelheid von Stechlin) einen Verfall der Sitten und der Umgangsformen konstatieren, sind andere schon weiter und sehen auch die Chancen einer verbürgerlichten Höflichkeit. Damit treiben sie einen Prozess des gesellschaftlichen und kommunikativen Wandels voran, der in Juckers Termini in Richtung der »Non-imposition politeness«27 geht. Mit Haferland und Paul könnte man auch von »reflektierter Höflichkeit« im Unterschied zur »kodifizierten Höflichkeit« sprechen, wobei letztere hier vor allem als Orientierung an Umgangsformen und Etikette beschrieben wurde.28 Höflichkeit besteht für die fortschrittlicheren Figuren darin, die kommunikative Distanz einzunehmen, die der Beziehung zum anderen Individuum angemessen ist und nicht mehr nur seiner sozialen Rolle.

VI. Konklusion Höflichkeit wurde hier sehr allgemein als kommunikative Anstrengung definiert, die darauf abzielt, eine konsensuelle Definition der Sprecher-Hörer-Beziehung vorzuschlagen, zu bestätigen oder zu modifizieren. Diese Definition wurde als ein notwendiger Bestandteil jedes kommunikativen Austauschs behandelt; ohne eine Beziehung zu dem Gesprächspartner aufzubauen und diese zu qualifizieren, kann Kommunikation nicht stattfinden. Als höflich werden Äußerungen dann angesehen, wenn die Adressaten den Beziehungsvorschlag des Sprechers akzeptieren. Höflichkeit entsteht damit im Zusammenspiel von Sprecherintentionen, Hörerurteilen und natürlich Eigenschaften der Kommunikationssituation. Man kann nicht höflich sein, ohne es zu wollen, und man 26 Ebd., S. 27. 27 Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, S. 130–131. 28 Harald Haferland und Ingwer Paul, Eine Theorie der Höflichkeit. In: OBST 52 (1996), S. 7‒69.



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ist nur dann höflich, wenn der Adressat das durch sein Verhalten bestätigt. Ob er das tut oder nicht, hängt auch davon ab, in welcher Situation sich die Interaktion abspielt. In allen Gesellschaften gibt es standardisierte Lösungen für die Definition der Beziehungen. Bestimmte sprachliche und außersprachliche Zeichen haben sich eingebürgert, um eine Einordnung der Sprecher-Hörer-Beziehung zu kommunizieren, etwa die Anrede mit du, Sie oder mit einem militärischen Titel oder auch bestimmte Grußgesten. Solche Formen haben sich etabliert, können von anderen erwartet werden und nehmen teilweise normativen Charakter an. Umgangsformen werden zur Etikette. Wer das Vokabular dieser Zeichen kennt und in der Lage ist, es situationsadäquat einzusetzen, der hat gute Chancen, einerseits keine kommunikativen Unfälle zu verursachen und andererseits das, was die anderen sagen, richtig zu verstehen. In den Romanen Fontanes spielt dieses Zeicheninventar eine wichtige Rolle. Viele Figuren werden als Personen gezeichnet, die großen Wert auf gute Umgangsformen legen und in der Lage sind, virtuos mit dem diesbezüglichen Zeichenvorrat umzugehen. Es gibt aber auch Ausnahmen wie z. B. den Kommerzienrat van der Straaten in L’Adultera, der mit seinen Gesprächsbeiträgen regelmäßig »daneben liegt« und seine Umgebung in Verlegenheit bringt – er löst so etwas wie Fremdscham aus. Fontane zeigt aber auch die Grenzen von Umgangsformen. Sie können erstens nie Verhaltensrichtlinien für alle möglichen Kommunikationssituationen liefern. Vor allem in historischen Momenten, in denen Klassenschranken durchlässiger werden, finden sich Sprecher immer wieder in Situationen, für die kein standardisiertes Verhaltensprogramm zur Verfügung steht. Dann müssen sie die Höflichkeitszeichen variieren oder neue Ausdrucksformen erfinden. Das Risiko für Missverständnisse steigt. Es dauert eine Weile, bis sich neue Prozeduren etablieren. Gesellschaftlicher Wandel ist also ein Katalysator für Umstellungen in den Konventionen zum Ausdruck von Beziehungskonzeptionen. Das Bedürfnis, höflich zu sein, also eine akzeptable Definition der Beziehung vorzuschlagen, bleibt bestehen, die Formen, die dafür geeignet sind, ändern sich. Die zweite Grenze der Umgangsformen (die in enger Wechselwirkung mit der ersten steht) sprechen Personen wie Papageno oder Wilibald Schmidt an: Standardisierte Ausdrucksformen werden irgendwann bedeutungsleer, sie werden als bloßes Abspulen von Ritualen interpretiert und verlieren damit ihr Ausdruckspotential. Die Hörerin nimmt dem Sprecher die Intention, eine für die laufende Interaktion tragfähige Beziehung konstruieren zu wollen, nicht mehr ab, wenn sie den Eindruck gewinnt, er sage nur das, was man in solchen Situationen eben sagt.

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Beide Limitationen der Umgangsformen führen zu Verschiebungen im Verhaltensregime. Fontane beschreibt eine solche Übergangszeit und er tut das auch durch die Profilierung seiner Figuren im Hinblick auf Höflichkeit und Umgangsformen. Er zeigt den Übergang von Umgangsformen zu Höflichkeit in einem breiteren Verständnis oder den von konventionalisierter, an Ehrerbietung orientierter Höflichkeit zu reflexiver, die darauf ausgerichtet ist, die Handlungsspielräume anderer Individuen möglichst wenig einzuschränken. Insgesamt zeigt sich, dass Umgangsformen und Etikettevorschriften extrem vergänglich sind und als Oberflächenphänomene eingestuft werden müssen. Höflichkeit ist dagegen eine Bedingung, die eng mit der Möglichkeit von Kommunikation verbunden ist und immer wieder neue Ausdrucksformen generiert.

Fontanes ›Kriminalgeschichten‹ oder ›Kriminalnovellen‹ Die Frage nach ihrer Textsortenzuschreibung Marianne Hepp

I. Einleitende Bemerkungen Fontanes vier Erzählungen Grete Minde (1880), Ellernklipp (1881), Unterm Birnbaum (1885) und Quitt (1891)1 werden von der Literaturkritik oft mit der Bezeichnung ›Kriminalgeschichten‹2 versehen. Eine gattungsgeschichtliche Zuschreibung dieser Art erweist sich aber gleich auf den ersten Blick als unzureichend. Sie scheint nämlich ausschließlich thematisch begründet zu sein, d. h. als eine Gruppierung von Prosaerzählungen, die eine Art Ausnahme bilden, da ihr Handlungskern in einem Mordfall besteht. Eine von der einschlägigen Forschung festgelegte Klassifizierung allein auf dieser thematischen Grundlage3 kann für das Werk Fontanes als problematisch gelten, da in diesem der forcierte Tod insgesamt gesehen ein charakteristisches Motiv darstellt: Man denke etwa an das Duell in Effi Briest oder den Suizid in Schach von Wuthenow. Das bedeutet letztendlich, dass nicht nur die vier Kriminalgeschichten das Thema des forcierten Lebensendes in sich tragen. Es müssen in den erwähnten vier Texten vielmehr weitere thematisch-strukturelle Merkmale ausfindig gemacht werden, die zu einer genaueren Gattungszuordnung führen können. Diese Zuordnung kann gleichzeitig mit dem textsortenlinguistischen Argument gestützt werden, dass Textsorten in der Regel prototypischen Charakter tragen. Gattungszuschreibungen beruhen nach Zymner »auf der Wahrnehmung von ›besten Beispielen‹ (Prototypen) und derjenigen von weniger trennscharfen als eher ›verschwimmenden Grenzen‹ zu ›besten Beispielen‹ an-

1 2 3

Die Seitenzahlen der Zitate beziehen sich durchgehend auf die Hanser Fontane-Ausgabe, die von nun an mit HFA I/1 abgekürzt wird. Vgl. Peter Demetz, Formen des Realismus: Theodor Fontane, München 1964, S. 85 und Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane, Reinbek bei Hamburg 1997 (1968), S. 133. Vgl. etwa Demetz, Formen des Realismus, S. 85 und Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1989 (1955), S.  433. Für neuere Literatur zu diesen Erzählungen vgl. das neulich erschienene Theodor Fontane Handbuch, hg. v. R. Parr, G. Radecke, P. Trilcke und J. Bertschik, De Gruyter 2023.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-018

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derer Kategorien«.4 Nach den Textlinguisten Fandrych und Thurmair können Textsorten »unterschiedlich stark standardisiert und konventionalisiert«5 sein, und damit neben prototypischen auch weniger typische Exemplare aufweisen, die unscharfe Ränder offenbaren. Durch die Kenntnis von Textmustern als Prototypen von (Alltags-)Textsorten wird es Textrezipienten ermöglicht, die Hauptcharakteristiken einer bestimmten Textsorte zu erkennen – auch wenn einzelne Textsortenexemplare sich vom prototypischen Kern des jeweiligen Textmusters mehr oder weniger entfernen können. Dasselbe gilt für literarische Gattungen, die sich um einen prototypischen Kern bewegen und sich von diesem in einzelnen inhaltlichen und strukturellen Aspekten distanzieren können, ohne ihn deswegen jedoch zu verlassen.6 Fontane selbst, um auf ihn zurückzukehren, bezeichnet seine hier behandelten vier Texte nämlich keinesfalls als ›Kriminalgeschichten‹, sondern als ›Novellen‹. Es liegt hier also eine gewisse Nicht-Übereinstimmung zwischen den Benennungen des Autors selbst und denjenigen der Fontane-Forschung vor. Meines Erachtens kann dieser Widerspruch nur durch einen genaueren Blick auf die Textstrukturen, in Verbindung mit dem Ansatz des Textmusters, bzw. des Prototyps und der damit verbundenen Skalierungen, zu beheben versucht werden. Im Folgenden sollen zu diesem Zweck zuerst Fontanes Eigenbenennungen der vier Texte berücksichtigt werden (Abschnitt II), um dann näher auf die Strukturebenen der ›Novellen‹, als die der Autor sie ja zuvorderst bezeichnet, einzugehen (Abschnitt III). Es folgt ein Blick auf die damalige Tradition der ›Kriminalgeschichte‹, mit dem Ziel, ihre Hauptzüge mit Fontanes Texten abzugleichen (Abschnitt IV). Schlussbemerkungen über eine geeignet erscheinende Textsortenzuordnung folgen in Abschnitt V.

4

Vgl. Rüdiger Zymner (Hrsg.), Einleitung. In: Ders., Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar 2010, S. 3. 5 Vgl. Christian Fandrych und Maria Thurmair, Textsorten im Deutschen. Linguistische Analysen aus sprachdidaktischer Sicht, Tübingen 2011, S. 16. 6 Kirsten Adamzik betont hinsichtlich der Fragestellung nach einer Abgrenzung zwischen Textsorten und Gattungen: »Ich sehe keinen systematischen Grund, literarische Texte von textlinguistischen Betrachtungen auszuschließen, und soweit man sich auf der allgemeinsten Ebene, dem Text überhaupt, bewegt, werden sie dort auch regelmäßig als Beispielmaterial herangezogen«. Vgl. Kirsten Adamzik, Sprachwissenschaftliche Gattungsforschung. In: Zymner (Hrsg.), Handbuch Gattungstheorie, S. 295‒298, hier S. 296.



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II. Fontanes Eigenbezeichnungen für die vier Erzählungen Die folgende Übersicht über die Eigenbenennungen der Texte ist auf der Grundlage der einschlägigen Briefe des Autors, der wichtigsten Quelle an Aussagen über sein eigenes Werk, zusammengestellt.7 Was Grete Minde (1880)8 betrifft, um der Chronologie der ›Kriminalgeschichten‹ folgend zu beginnen, so kann man in Fontanes Briefen, vor allem in der ersten Hälfte des sich insgesamt vom 6. Mai 1878 bis 4. November erstreckenden Briefwechsels,9 so gut wie ausschließlich die Benennung ›Novelle‹ finden. Fontane unterstreicht in diesem Zusammenhang gleichzeitig auch, dass es sich bei Grete Minde um sein »Novellen-Debüt« handle, um den Beginn seiner »Novellencarrière«.10 In den Briefen der zweiten Hälfte dieser Zeitachse fällt auf, dass keine ›Gattungsangabe‹ mehr gemacht, vielmehr nur noch der Titel ›Grete Minde‹ oder, nach dem Erscheinen im Frühherbst 1880 in gebundener Form, auch die Bezeichnung ›kleines Buch‹11 angeführt wird. Im selben Jahr des beginnenden Ausklammerns der Gattungsbezeichnung, 1883, distanziert sich Fontane in einem Brief an seine Frau Emilie entschieden von der Aussicht, künftig in der Öffentlichkeit »als deutscher Novellist proclamirt zu werden«.12 Gemeint ist bei dieser Briefstelle der Einbezug von Grete Minde in Heyses Deutschen Novellenschatz, an dem Fontane nach seiner eigenen Aussage »nicht das Geringste«13 lag. Fontane unterscheidet demnach zwischen der Textsortenbezeichnung ›Novelle‹, die er kritisch betrachtet, gleichzeitig jedoch stets beibehalten wird, und der Künstler-Bezeichnung ›Novellist‹, die er für sich selber als völlig unpassend abtut. Hinsichtlich dieser Bezeichnung weist er vor allem entschieden von sich, in die Nähe gewisser anderer Autoren gestellt zu werden, die er als weit unter seinem eigenen Rang ansieht. Die Tatsache, dass Fontane in der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ eine Gefahr für sich selber sieht, da zu viele mittelmäßige Dichter seiner Zeit diese Form anwenden, kommt schon zu Beginn des Briefwechsels um sein ›Novellen-Debüt‹ Grete Minde zum Ausdruck. In einem Brief vom 11. Juli 1879 an 7

Die Zitate aus den Briefen werden nach dem Kommentar von Keitel und Nürnberger in der Ausgabe von Grete Minde, Ellernklipp, Unterm Birnbaum und Quitt in der HFA zitiert. 8 Die Jahreszahlen der vier Werke beziehen sich auf die jeweils erste Buchausgabe derselben. Die einzelnen Vorabdrucke in unterschiedlichen Zeitschriften werden hier nicht mit angeführt. 9 Für die Briefe zu Grete Minde vgl. HFA I/1, S. 875‒886. 10 Ebd., S. 879 und 885. 11 Theodor Fontane an Hans Hertz, HFA I/1, S. 882. 12 Theodor Fontane an Emilie Fontane, HFA I/1, S. 883. 13 Ebd.

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seine Frau Emilie erwähnt Fontane die Reaktion des langjährigen Freundes Karl Zöllner, Mitglied der literarischen Gesellschaft Tunnel über der Spree, auf Grete Minde (»is ganz hübsch, Noel«) – und schreibt sich seine Enttäuschung darüber von der Seele: Au fond ist es aber doch besonders traurig. Es erwächst nämlich alles aus der Vorstellung, daß ich mit einem Dreier abzuspeisen bin; Ludowika schreibt eine Novelle, Frau von Gelow schreibt eine Novelle, Noel schreibt eine Novelle. Novelle ist Novelle, d. h. gar nichts, etwas unsagbar Gleichgültiges und Überflüssiges. Dass dies ein Kunstwerk ist, eine Arbeit, an der ein talentvoller, in Kunst und Leben herangereifter Mann fünf Monate lang unter Dransetzung aller seiner Kraft thätig gewesen ist, davon ist nicht die Rede.14

Der Übername »Noël« für Theodor Fontane findet sich in einem Brief von Friedrich Eggers, einem bekannten Mitglied des Tunnel über der Spree.15 Es handelt sich nämlich bei Zöllners ›Noel‹ um eine Anspielung auf diesen Spitznamen, einem in Frankreich beliebten Vornamen, der ursprünglich eine Verbindung zu Weihnachten und dem Neugeborenen aufweist. Fontane spielt hier mit der Assonanz von »Noel« und »Novelle« und weist in diesem Zusammenhang ein Gleichsetzen seiner Grete Minde mit trivialen Produkten (»is ganz hübsch«) völlig unbedeutender Zeitgenossen von sich. Für ihn ist Grete Minde, und damit die Form der Novelle, mit der er diese Erzählung bezeichnet, ein »Kunstwerk«. Insgesamt gesehen scheint für Fontane die Bezeichnung ›Novelle‹ eine Art Münze mit Doppelseite zu bilden. Auf der einen Seite, von außen, wird diese Gattungsbenennung auf triviale Prosastücke angewandt. Auf der anderen Seite, von innen, sieht er sie als geeignete Form und Gattung für sein eigenes Kunstschaffen, das von Talent (»ein talentvoller […] Mann«) und hohem Einsatz (»unter Dransetzung aller seiner Kräfte«) gekennzeichnet ist. Trotz der Problematik, die für ihn in der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ liegt, wird Fontane zeitlebens an dieser Benennung festhalten. Auch in seinen einschlägigen Briefen zu Ellernklipp, die den Zeitrahmen vom 8. Juli 1879 bis zum 4. Juli 1893 umfassen, führt Fontane die Textsortenbezeichnung ›Novelle‹ an. Gleichzeitig unterstreicht er hier jedoch das Vorhandensein des Balladesken, dem er wiederum eine eigene Form gibt, sich auch hierdurch von anderen Autoren unterscheidend. Fontane sieht im Balladesken die Möglichkeit einer deutlichen Hervorhebung der Charaktere und stellt sich dabei polemisch in den Gegensatz zu Storm, der seiner Meinung nach die handelnden Figuren zu geheimnisvoll-unscharf zeichnet: 14 Ebd., S. 879‒880. 15 In einem Wochenbericht schreibt Eggers: »ging mit Noël nach Hause, machte Verse« (vgl. Luise Berg-Ehlers, Helmuth Nürnberger, Henry H. H. Remak: Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Der Briefwechsel. Berlin/New York 1997, S. 23.



Fontanes ›Kriminalgeschichten‹ oder ›Kriminalnovellen‹

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Dies Balladeske herrscht auch in »Ellernklipp« vor; aber das Balladeske, das hintergründlichverschwommen, ossianisch-nebelhaft sein kann, braucht es nicht zu sein und ist es nicht immer. […] Storm deutet in Ekenhof, Renate, Aquis submersus nur an, und will nur andeuten, mein Haidereiter aber erhebt die Prätension, ein so faßbarer Kerl zu sein, wie nur je einer über die Haide gegangen ist. Ebenso habe in Hilde, und zwar bis in die kleinsten Details gehend, ein vornehm-bleichsüchtig-languissantes Menschenkind und den halb räthselhaften Zauber eines solchen schildern wollen […].16

Die Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ wird sodann auch dem dritten der vier Texte verliehen, wobei gerade hier eine entscheidende Variante auftritt. Der Briefwechsel zu Unterm Birnbaum (1885), der sich vom 18.  August 1884 bis zum 4. September 1893 erstreckt, enthält gleich im ersten Schreiben eine auffallende Präzisierung der Gattungsbenennung. In diesem Brief bezeichnet Fontane Unterm Birnbaum als »Kriminal-Novelle«.17 In den weiteren Schriftzeugnissen ist wieder einfach von ›Novelle‹ oder ›Buch‹ die Rede, beide auch zusammengefasst: »Mein Buch (die Novelle) erscheint in den nächsten Tagen […]«.18 Aber die nähere Beleuchtung der Novelle durch das Attribut ›Kriminal-‹ ist erfolgt und kann für die Textsortenzuschreibung dieser Novelle, womöglich aber auch für diejenige der anderen drei ›Kriminalgeschichten‹, eine gewichtige Rolle spielen. Im Briefwechsel um den vierten und letzten Text, Quitt, der die Zeitspanne 26. März 1885 bis 19.  März 1896 umfasst, steht abermals die Bezeichnung ›Novelle‹ im Vordergrund, präzisiert durch ›neue Novelle‹19 und ›lange Novelle‹.20 Eine erste Variante stellt hier die Bezeichnung ›Die FreyGeschichte‹ dar,21 gefolgt von ›Geschichte‹22 und, interessanterweise, von ›Mordgeschichte‹.23 Der Tatsache des besonders hohen Seitenumfangs dieses Textes (240 S.) wird durch die Bezeichnung ›Roman‹ Rechnung getragen.24 Soweit eine erste Übersicht über die Eigenbenennungen des Autors. Es fällt auf, dass seine Bezeichnung ›Novelle‹ für alle vier Texte eindeutig an erster Stelle steht, gleichzeitig aber auch Präzisierungen, Ergänzungen und den Anspruch auf ein Alleinstellungsmerkmal, also fern von anderen Novellen, 16 Theodor Fontane an Alfred Friedmann, HFA I/1, S. 901. 17 Theodor Fontane an Georg Friedländer, HFA I/1, S. 945. 18 Ebd. 19 Theodor Fontane an Emilie Fontane, den 3. Juni 1885, HFA I/1, S. 919. Fontane bezieht sich mit diesem Attribut auf den Entstehungsmoment des Textes, nicht auf eine neue Form der Gattung. 20 Theodor Fontane an Elisabeth Friedlaender, den 5. September 1886, HFA I/1, S. 921. 21 Theodor Fontane an Georg Friedlaender, den 11. November 1889, HFA I/1, S. 923. 22 Ebd. 23 Theodor Fontane an Adolf Kröner, den 16. Januar 1890, HFA I/1, S. 924. 24 Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 28. Januar 1890, HFA I/1, S. 924, sowie an Hermann Pantenius, Ende Februar 1891, HFA I/1, S. 926.

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enthält. Auch ihre balladesken Züge, wo vorhanden, sind dem Autor selbst zufolge auf eine besondere, nur seiner Erzählkunst eigene Weise geschaffen: Die handelnden Figuren werden ›faßbar‹, also detailliert und als Individuen mit ihrem jeweils besonderen Charakter und Erscheinungsbild dargestellt. Damit unterscheiden sie sich schon von ihrer Konstruktion her grundsätzlich vom »monolithischen Charakter des Handelnden«,25 welcher von der Literaturkritik den Figuren der Kriminalgeschichte zugesprochen wird. Die ›Novelle‹, wie Fontane sie sieht, ist eine erzählerische Form, die sich mit denjenigen der ›Geschichte‹ und des ›Romans‹ durchaus überschneiden kann. Und sie wird vom Autor, wie schon angedeutet, auf nicht wenige seiner Erzählungen angewandt, darunter auch auf Schach von Wuthenow26 oder Graf Petöfy.27 Das Bewusstsein des Autors vom Vorhandensein einer kriminalgeschichtlichen Basis, die für die Gattungsbenennung angewandt werden könnte, ist eigentlich nur für einen Fall nachweisbar: Für die Erzählung Unterm Birnbaum, von Fontane als ›Kriminal-Novelle‹ bezeichnet. Diese eine ›Novelle‹ scheint für den Autor also ganz besondere Eigenschaften aufzuweisen. Hier stellt sich nun, als ein erstes Zwischenfazit gewissermaßen, die Frage, inwiefern die Literaturkritik nicht nur von einer, sondern von ganzen vier ›Kriminalgeschichten‹ Fontanes ausgehen konnte und kann. Eine mögliche Erklärung für diese Zuordnung von außen ist eine inhaltliche: Die Literaturkritik gruppiert die vier Texte um den darin vorkommenden Mord, im Unterschied zu den anderen bei Fontane auftretenden Formen des forcierten Todes (Suizid, wie etwa in Schach von Wuthenow; Duell, wie etwa in Effi Briest). Dabei wäre es, jedenfalls in zwei der vier Texte, auch durchaus akzeptabel, dass bei der Zuordnung Bezug auf die Bezeichnung ›Mordgeschichte‹ genommen würde, die Fontane selbst für Quitt und Ellernklipp28 notiert hatte. Verbunden mit der obigen Frage, gilt es nun als nächsten Schritt zu überlegen: Soll der Autor in seinen Bezeichnungen ernst genommen, können die vier Texte vielleicht unter dem gemeinsamen Begriff der ›Novelle‹ gefasst werden, mit der Besonderheit, dass nur eine einzige darunter für Fontane eine ›Kriminal-Novelle‹ ist? Um dieser Frage nachzugehen, sollen im folgenden Abschnitt die vier Texte im Lichte der literarischen Textsorte ›Novelle‹ betrachtet werden.

25 26 27 28

Vgl. Demetz, Formen des Realismus, S. 84. Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 22. November 1992, HFA I/1, S. 975. Theodor Fontane an Emilie Fontane, den 18. Juli 1883, HFA I/1, S. 1009. Eintrag in ein Notizbuch: ›Mordgeschichte‹ (vgl. Charlotte Jolles, Theodor Fontane, Stuttgart/Weimar 1993, S. 4).



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III. Eine Strukturanalyse der vier Texte aus der Perspektive der literarischen Textsorte ›Novelle‹ Einer der bedeutendsten Zeitgenossen Fontanes, Theodor Storm, definierte die Novelle 1881 mit den bekannten Worten: Die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosa-Dichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens. Gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen.29

Diese Novellentheorie eines Dichters, dessen Werk Fontane kannte und mit dem er sich durchaus vergleichend auseinandersetzte, ist der Novellentheorie Goethes verbunden. 1827 bezeichnete Goethe Johann Peter Eckermann gegenüber die Novelle »als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit«.30 Storm ging gewissermaßen einen Schritt weiter, indem er konstatierte: »[D]ie heutige Novelle […] duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen der Kunst«.31 Das novellistische Erzählen lässt sich also nicht nur mittels spezifischer textstruktureller Merkmale festlegen, sondern auch durch den Anspruch auf eine gehobene Ebene der Textkomposition und des Stils. Wir wenden uns im Folgenden aber zunächst der Textstruktur zu. Bei dieser wiederum spielt alles eine besonders wichtige Rolle, was geradlinig zum erwähnten Konflikt hinführt: »Geraffte Exposition, konzentriert herausgearbeitete Peripetie, Abklingen, das die Zukunft der Personen eher ahnungsvoll andeutet, als gestaltet«.32 Greifen wir zuvorderst den zentralen Aspekt der Novelle auf: ihr Wendepunkt der Handlung, die Peripetie. In einer Novelle mit dem Attribut ›Kriminal-‹ muss die Peripetie zwangsläufig mit einem Mordfall verbunden sein, bildet der gewaltsam verursachte Tod die ›unerhörte Begebenheit‹. Dieser steht auch bei der ›Kriminalgeschichte‹ im Mittelpunkt des Geschehens, wobei in dieser literarischen Textsortengruppe aber gewöhnlich nicht von ›Peripetie‹ gesprochen wird. Zum Wendepunkt des Geschehens in der Novelle führt oft (nicht in jedem Fall) ein »Dingsymbol, ein äußeres gegenständliches Zeichen des Angel-

29 Theodor Storm, Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881. In: Albert Köster (Hrsg.), Theodor Storm. Sämtliche Werke. Bd. 8, Leipzig 1923, S. 122. 30 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Heinz Schlaffer, München/Wien 1986, S. 203. 31 Storm, Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881, S. 122. 32 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989.

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oder Drehpunkts«.33 Nach einer Novelle von Boccaccio, in der ein Falke diese Rolle spielt, stellte Paul Heyse 1870 die ›Falkentheorie‹ auf: Gleichwohl aber könnte es nicht schaden, wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten Stoff sich zuerst fragen wollte, wo ›der Falke‹ sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet.34

Für Heyse bildet der Falke nicht nur ein äußeres Objekt, er steht vielmehr gleichzeitig als Symbol für äußere wie innere Vorgänge. Die dramatische Zuspitzung der Novellenhandlung, der zentrale Konflikt der Geschichte und ihr überraschender Wendepunkt können durch einen ›Falken‹ begleitet, d. h. mit Hilfe eines prägnanten Motivs markiert werden. Unter dem für Novellen entscheidenden textstrukturellen Merkmal der (Mord-)Peripetie, die in Verbindung mit einem Falkenmotiv stehen kann, sollen nun die vier Texte Fontanes betrachtet werden.35 In die Darstellung wird auch ihr tektonischer Aufbau (Umfang, Einteilung in Kapitel, Makrostruktur, Positionierung der Peripetie) mit einbezogen.36

III.1 »Grete Minde« Hinsichtlich der Textstruktur der ersten Novelle, Grete Minde, ist zuerst einmal ein Umfang von 95 Seiten mit einer Untergliederung in 20 Kapitel festzustellen.37 Die Peripetie erfolgt erst ganz am Ende der erzählerischen Handlung. Erzählte Zeit: sechs Jahre. Die Makrostruktur des Textes besteht aus den folgenden Hauptteilen: Exposition mit Darstellung der Figuren (Kap. 1‒4) in der Dauer von drei Tagen; Entwicklung Gretes vom Kind zum jungen Mädchen (Kap. 5‒10) in der erzählten Zeit von drei Jahren; Familienkonflikt und Flucht (Kap. 11‒14) in der erzählten Zeit von drei Tagen. Es folgt ein erzählerischer Zeitsprung von drei Jahren. An diese Zeitlücke schließen (erneut) drei Tage Erzählzeit an, die inhaltlich mit Valentins Tod, Gretes Heimkehr, ihrer Enterbung durch den Meineid des Bruders Gert und ihre Racheaktion gefüllt sind: eine dreitägige 33 Vgl. Ivo Braak, Poetik in Stichworten, Unterägeri 1990, S. 26. 34 Vgl. Paul Heyse, Einleitung. In: Ders. und Herman Kurz (Hrsg.), Deutscher Novellenschatz. Bd. 1, München 1871, S. XXIV. 35 Eine ausführliche sprachstilistische Analyse der vier Texte würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 36 Auch in diesem Abschnitt, wie in allen weiteren, beziehen sich die Angaben zu den vier behandelten Texten auf die Hanser Fontane-Ausgabe von Keitel und Nürnberger, abgekürzt mit HFA I/1. 37 HFA I/1, S. 7‒102.



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zeitliche Zusammenballung der Schlüsselereignisse, die zum tragischen Umkehrpunkt der Novellen führen, zu ihrer Mord-Peripetie. Die Ereignisse laufen somit in einer kunstvoll konstruierten zeitlichen Symmetrie mit gleichzeitigen kontrapunktischen Stauungen und Beschleunigungen ab. Der entscheidende Wendepunkt der Handlung, die Peripetie durch das zerstörerische Feuer, das die Protagonistin aus Rachsucht in ihrer Heimatstadt Tangermünde legt, und in dem sie, ihr Kind und viele andere den Tod finden, erfolgt erst fast ganz zum Schluss, auf der vorletzten Seite des Werks. Der Text führt stringent auf dieses tragische Ende hin. Die eigentliche Handlung, Flucht aus gespannten Familienverhältnissen, Enterbung und Rache, wird durch das Theater- und Puppenspiel Das Jüngste Gericht begleitet. Dieses durchzieht strukturbildend den Text (Kap. 1, Kap. 15, Kap. 20), indem es ganz zu Anfang die Protagonistin Grete zur schaudernden Zuschauerin hat, danach Grete und ihren einzigen Freund und Geliebten Valtin (nach beider Flucht aus den abweisenden Elternhäusern) als aktiv Mitwirkende, und ganz zuletzt dazu dient, Gretes Brandstiftung und Zerstörung Tangermündes, verbunden mit gewaltsamen Todesfällen, symbolhaft mit der Szene des ›Sündenfalls‹ aus dem ›Jüngsten Gericht‹ zu verbinden. Ein Dingsymbol der Novelle kann im Hänfling gesehen werden, einem kleinen Vogel, der die erste Begegnungsszene von Grete und Valtin symbolhaft begleitet (Kap. 1, S. 7). Im Gegensatz zu den gefühlskalten Familien der beiden Halbwaisen bietet der Hänfling seiner Brut nach den Worten Gretes »Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein Krähen- oder Storchennest […]«.38 Nach dem Tod Valtins durch Auszehrung begegnet Grete erneut einem Hänfling, dieses Mal auf dem Fliederbusch über der künftigen Grabstätte des Geliebten im Kloster von Arendsee (Kap. 16, S. 83). Das Nest als mögliches rettendes Gegenstück zur Familienkälte bleibt eine Illusion. Eine entsprechende Parallele findet sich auch in den Schwalbennestern im Flur des Elternhauses von Grete, die von der Protagonistin nach ihrer Rückkehr vernichtet vorgefunden werden (Kap. 1, S. 7 und Kap. 19, S. 89). Das friedliche Bild des Hänflings wird am Ende der Novelle, kurz vor der Peripetie, durch das bedrohliche Bild der Dohlen ersetzt, die – parallel zu Grete selbst – vergeblich nach einem geeigneten Bleibeort suchen: Erinnerungen kamen ihr, Erinnerungen an ihn, der jetzt auf dem Klosterkirchhof schlief, und ihr schönes Menschenantlitz verklärte sich noch einmal unter flüchtiger Einkehr in alte Zeit und altes Glück. […] Über die Stadt hin aber, von Sankt Stephan her, flogen die Dohlen, unruhig, als ob sie nach einem anderen Platz suchten und ihn nicht finden könnten.39

38 HFA I/1, S. 7. 39 Ebd., S. 98.

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Grete Minde unterscheidet sich von den anderen drei Texten dadurch, dass die mit Mord und Brandstiftung verbundene Peripetie erst ganz am Ende der Novelle auftaucht. Zwischen dem Anfang und Ende wird die Handlung in einem erzählerischen Spannungsbogen entwickelt, dessen Zeitgefüge Symmetrien, aber auch Sprünge vorweist.

III.2 »Ellernklipp« Die (chronologisch gesehen) zweite Novelle, Ellernklipp, weist einen Umfang von 109 Seiten mit einer Untergliederung in 18 Kapitel auf. Die Peripetie findet sich in Kap. 12, also kurz vor Beginn des letzten Drittels der Handlung.40 Erzählte Zeit: zehn Jahre. Makrostruktur des Textes: Exposition mit ungefährer Angabe der Handlungszeit (gegen 1760) und Darstellung der Figuren. Die frisch verwaiste Protagonistin Hilde ist etwa zehn Jahre alt, der Heidereiter Baltzer Bocholt, der sie auf Wunsch des Pastors Sörgel adoptieren wird, dreißig Jahre älter.41 Der Sohn des Heidereiters, Martin, ist etwa im Alter Hildes (Kap. 1‒3, Sept. bis Weihnachten desselben Jahres). Die folgenden Kapitel (4–5) enthalten, mit zwei größeren Zeitsprüngen, die Einschulung Hildes, ihr Erreichen des 14. Lebensjahrs und ihre Einsegnung. Zeitgleich mit der Vorbereitung auf die Einsegnung ereignet sich auch der erste vermutete, nur durch berichtete Rede wiedergegebene ›Mord‹, die Erschießung eines Wilderers durch den Heidereiter (S. 133). Es folgen die Beschreibungen der zunehmenden Zuneigung der beiden Adoptivgeschwister und des gleichzeitig zunehmenden Begehrens des Heidereiters, das sich auf die inzwischen 18-jährige Hilde richtet (Kap. 6–11), gefolgt vom Mord an seinem Sohn aus Eifersucht (Kap. 12, Peripetie). Der Heidereiter erkrankt daraufhin schwer (Kap. 13). Nach einem Zeitsprung von drei Jahren, in denen der ermordete Sohn erst als vermisst gemeldet und dann offiziell vom Vater als für tot befunden erklärt wird, erfolgt die Hochzeit des Heidereiters mit Hilde, die nur indirekt als ›fait accompli‹ erwähnt wird (Kap. 13). Bald darauf wird ihr gemeinsames Söhnchen geboren, als kränkliches und müdes Geschöpf (Kap. 15). Eine Fahrt nach Ilseburg zum Arzt (Kap. 16) hat die bedrückende Bestätigung der Lebensunfähigkeit des Kindes zum Ergebnis. Auf dem Rückweg hört der Heidereiter auf Ellernklipp die geisterhaften Rufe 40 HFA I/1, S. 103‒212, Peripetie auf S. 176. 41 Die Altersangaben von Hilde und dem Heidereiter erfolgen in Kap. 6 (»Also wegen der Hilde. Sie ist nun achtzehn, […]«) und Kap. 7 (»Denn es sei sein letzter Geburtstag, den er noch als Vierziger feiere; mit fünfzig aber sei Spiel und Tanz vorbei.«), HFA I/1, S. 139 und 143.



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seines von ihm ermordeten Sohnes Martin aus dem Moor unter den Klippen her, er holt seine Flinte hervor und erschießt sich an der Stätte seiner Untat (Kap. 17). Diesem Zeitpunkt (Oktober) folgen nur noch wenige Monate, es stirbt das Neugeborene und im Frühsommer des Folgejahres stirbt auch Hilde (Kap. 18). Die Handlung erstreckt sich über gut zehn Jahre. Die Peripetie der Novelle ist auf das sechste Jahr der erzählten Zeit und strukturell auf den Beginn des letzten Drittels (Kap. 12 von 18) angesetzt. Der Heidereiter selbst kann, trotz der Heirat mit Hilde, die er durch den Mord erzwingen konnte, seines Lebens nicht mehr froh werden. In Ellernklipp geschehen eigentlich zwei Morde, der erste stellt jedoch keine wirkliche Peripetie dar, vielmehr eine der zahlreichen Antizipationen des Vater-Sohn-Mordes. Der erste Mord ist hier der Auslöser aller nachfolgenden Ereignisse, die der Erzählung ihren tödlichen Rhythmus geben: Nach und nach sterben daraufhin alle Protagonisten. Das strukturbildende Symbol ist Ellernklipp, der Ort des Mordes.

III.3 »Unterm Birnbaum« Die dritte Novelle, Unterm Birnbaum, weist einen Umfang von 101 Seiten mit einer Untergliederung in 20 Kapitel auf, Peripetie in Kap. 6. Erzählte Zeit: ein Jahr. Makrostruktur: Die Exposition mit der Charakterdarstellung der beiden Protagonisten, Abel Hradscheck und seiner Frau Ursel, ein nach außen hin gutsituiertes, in Wahrheit aber tief verschuldetes Gasthofbesitzerpaar im Oderbruchdorf Tschechin (Kap. 1), geht im Text geradlinig in den Mordplan über (Kap. 2 und 3). Auslöser desselben ist das am Horizont stehende Schreckgespenst der Armut, personifiziert durch den Reisenden Szulski. Dieser wurde von der Firma Olszewski-Goldschmitt aus Krakau abgesandt, um längst überfällige Forderungen bei den hoch Verschuldeten einzuziehen. Um der unvermeidlichen Armut zu entkommen, die für beide »schlimmer als [der] Tod«42 wäre, entsteht im Kopf Abels ein ausgefeilter Mordplan. Diesem zufolge soll Szulski vor Zeugen das Geld zwar erhalten, aber dann nicht behalten, vielmehr auf der Weiterreise ›verunglücken‹. Damit nicht auffällt, dass Hradschecks plötzlich zu Geld gekommen sind, werden Versicherungssummen unterschlagen und eine Erbschaft der Frau fingiert (Kap. 4). Szulski trifft ein, das Geld wird vor Zeugen ausbezahlt, ein weinseliger Abend schließt die Verhandlungen ab, die Gesellschaft löst sich um Mitternacht auf (Kap. 5). Eine Stunde 42 HFA I/1, S. 467.

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nach Mitternacht hat Hradscheck die Mordtat ausgeführt, was verdeckt geschieht (Kap. 6). Gleich danach gräbt er unter dem Birnbaum in seinem Garten, unter dem er kurz zuvor das Skelett eines französischen Soldaten entdeckt hatte, geheimnistuerisch etwas ein, dies bewusst als falsche Fährte und Ablenkung für die erwartete spätere Fahndung. Diese setzt planmäßig ein, nachdem die Kutsche des Verunglückten, die von Ursel unerkannt gelenkt worden war (Kap. 7), in der Oder gefunden wird, nicht aber die Leiche Szulskis (Kap. 8). Das Ablenkungsmanöver erweist sich für längere Zeit als erfolgreich (Kap. 9–16), aber der Ort, an dem Hradscheck die Leiche in Wahrheit begraben hat, der Weinkeller des Gasthofs, wird zunehmend zu einem Spukort (Kap. 17‒19). Nachdem ein Knecht einen schwarz übersponnenen polnischen Knebelknopf dort vorgefunden hat, häufen sich Spukgeschichten und Indizien, weshalb Hradscheck eines Abends daran geht, die Leiche des Ermordeten aus seinem Haus zu schaffen. Durch ein Versehen bringt er dabei ein großes Ölfass ins Rollen und versperrt sich die Falltür für den Rückweg aus dem Keller, der somit auch für ihn selber zur Gruft wird. Abel wird am nächsten Tag tot aufgefunden, nur wenige Schritte neben dem von ihm Ermordeten (Kap. 20). Die Handlungszeit erstreckt sich über ein Jahr, vom Frühherbst 1831 bis Anfang Oktober 1832.43 Die Peripetie ist hier schon gegen Ende des ersten Drittels der Erzählung eingebaut, wodurch dem Aufdecken des komplexen, mit »Verhüllungs- und Irreführungsstrategien«44 gespickten Mordplans genügend Handlungsspielraum gewährt wird. Die Novelle enthält zahlreiche Dingsymbole, welche die Fabel strukturbildend hinsichtlich der Mord-Peripetie und des Mörder-Todes begleiten: Als Beispiel für Abels Lebensweg kann das Ölfass erwähnt werden, mit dem die Handlung einsetzt, seine alltägliche Geschäftigkeit unterstreichend, für das er, wie für den Wein in den anderen Fässern, unter drohendem Bankrott seine Schulden abbezahlen muss, und das ihm am Ende durch das tragische Blockieren der Kellerfalle die Tür ins Leben und in die Freiheit verschließen wird.45 Zusammen mit dem Birnbaum ist der Spaten das eindrücklichste Dingsymbol für den gewaltsamen Tod Szulskis. 43 Als einzige konkrete Datumsangabe findet sich der Todestag Ursels, von dem aus sich die Zeiteinteilung berechnen lässt: »gest. den 30. September 1832«, HFA I/1, S. 533. 44 Vgl. Klaus Lüderssen, Der Text ist klüger als der Autor. Kriminologische Bemerkungen zu Theodor Fontanes Erzählung ›Unterm Birnbaum‹. In: Jörg Schönert (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1993, S. 429‒448, hier S. 438. 45 Gleich zu Beginn erfolgt die Antizipation der Todesursache Abels: »[…] Ölfässer, deren stattliche Reihe nur durch eine zum Keller hinunterführende Falltür unterbrochen war. Ein sorglich vorgelegter Keil hielt nach rechts und links hin die Fässer in Ordnung, so dass die untere Reihe durch den Druck der oben aufliegenden nicht ins Rollen kommen konnte«, HFA I/1, S. 454.



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Mit dem Spaten gräbt Abel die ganze Erzählung hinweg die Erde unter seinem Birnbaum um und er soll zum »Grabscheit«46 gleichermaßen für das Opfer wie am Ende für den Mörder werden.

III.4 »Quitt« Der Textumfang der vierten Novelle, Quitt, beträgt 239 Seiten mit einer Untergliederung in 37 Kapitel, die Peripetie erfolgt in Kap. 11.47 Erzählte Zeit: Acht Jahre. Hinsichtlich der Makrostruktur ist festzustellen, dass der Text sich allein schon von seinem hohen Seitenumfang her dem Roman annähert; er wird auch überwiegend als solcher bezeichnet.48 Quitt weist eine Zweiteiligkeit auf, die diesen von den anderen drei Texten unterscheidet, vor allem, da hier keine kreisförmige Rückkehr an den Ort der Heimat und des Mordes erfolgt – an den Protagonisten wird im abschließenden 37. Kapitel nur mehr vage und aus der Sicht Dritter erinnert. Der erste Teil spielt im Sommer 1877 an der Nordseite des Riesengebirges (Kap. 1–16), der zweite, nach einem Zeitsprung von sechs Jahren, vom Sommer 1883 bis Juni 1885, in den Vereinigten Staaten (Kap. 17–37). Der 27-jährige Protagonist, Lehnert Menz, ein Handwerker, politischer Rebell und ehemaliger Wilderer, erschießt den Förster Opitz als typischen Repräsentanten des preußischen Autoritätsstaats. Die Tat »ist zugleich persönliche Feindschaft und politischer Protest, Aufwieglertum und Selbsthilfe zur Wahrung seiner menschlichen Würde«.49 Amerika bildet mit Freiheit und Republik für Lehnert die ideale Gegenwelt zu Preußen, der Aufenthalt dort kann allerdings das endgültige Scheitern des Geflüchteten nicht verhindern. Sein einsames Sterben im Gebirge in Folge eines Unglücks bildet eine Parallele zum Verbluten seines Opfers, seine letzten hingekritzelten Worte sind der Wunsch nach wettmachender Sühne: »[…] Ich hoffe: quitt«.50 Die Handlungszeit erstreckt sich über acht Jahre. Die Peripetie ist, wie bei Unterm Birnbaum, schon im ersten Drittel des Textes (und in den ersten Wochen der erzählten Zeit) angelegt und lässt viel Platz für die Aufarbeitung des Mordgeschehens, die hier vor allem durch den Protagonisten selbst erfolgt, in seinem eigenen Ich. Dieser legt sich zuerst das Geschehen zurecht, indem 46 Ebd., S. 551. 47 HFA I/1, S. 213–452. 48 So etwa im Überblickskapitel von Christian Grawe, ›Quitt‹. Roman. In: Ders. und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 584‒594. 49 Ebd., S. 586. 50 HFA I/1, S. 443.

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er die Mordszene, die sich tatsächlich als eine Art Duell im Gebirge abspielte, als »Akt der Notwehr« und »Gottesurteil«51 bezeichnet. Später häufen sich die Schuldgefühle und finden erst im eigenen Tod ihre Katharsis. Ein ›Falkenmotiv‹ bildet das Gewehr, das sowohl vom Förster als auch von Lehnert benutzt wird, als Objekt der täglichen Arbeit (Lehnert hatte zuvor als Soldat gedient), als Mordwaffe und als Instrument, mit dem man in höchster Not seine Mitmenschen zu Hilfe ruft.52

III.5 Zwischenfazit: Fontanes Kriminalerzählungen als ›Novellen‹ Die bisher vorgenommenen Einzelanalysen lassen zunächst einmal erkennen, dass die Textstruktur aller vier Erzählungen jeweils den Anforderungen der literarischen Textsorte Novelle zu entsprechen scheint: Alle laufen stringent auf die (jeweils unterschiedlich im Textaufbau und in der erzählten Zeitabfolge positionierte) Peripetie zu, alle enthalten handlungsmarkierende ›Falkenmotive‹ und Dingsymbole. Der »streng tektonische Aufbau der Novelle, den sie mit dem Drama gemeinsam hat«53 ist in der regulären Strukturierung der Texte zu erkennen. Bei allen liegt eine Zweiteilung vor, mit einem Zeitsprung zwischen den beiden Teilen, der eine (die vier Texte ebenfalls strukturell verbindende) Zahlensymmetrie von 3 – 3 – 6 Jahren und 3 Tagen erkennen lässt. Im zweiten Teil der Novellen erfolgt jeweils eine Rückkehr zum Ort der Kindheit und des Verbrechens, das dort begangen (Grete Minde) oder gesühnt wird (Ellernklipp und Unterm Birnbaum), wobei letzteres in einem übertragenen Sinne auch für Quitt gilt, da die beiden Todesstätten im Innern des Protagonisten zu einer einzigen verschmelzen. Zur hier vorgenommenen, vor allem auf die Textstruktur fokussierten Detailanalyse gesellen sich weitere typische Novellen-Bestandteile: Alle vier Texte bauen auf historischen Quellen auf bzw. geben sich als chronikalische Erzählung aus. Der Untertitel von Grete Minde lautet »Nach einer altmärkischen Chronik«,54 derjenige von Ellernklipp »Nach einem Harzer Kirchenbuch«.55

51 HFA I/1, S. 289. 52 Hier liegt eine Parallele vor, indem sowohl Opitz als auch Lehnert in ihrer Sterbestunde durch Gewehrschüsse eine Rettungsaktion auslösen wollen. Vgl. HFA I/1, S. 295 und 439. 53 Vgl. von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 629. 54 HFA I/1, S. 7. 55 Ebd., S. 103.



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Die beiden folgenden Texte enthalten zwar keine chronikalische Einrahmung, gründen aber ebenfalls auf historischen Begebenheiten.56 Der Berichtstil ist, wie ebenfalls für die Novelle erforderlich, »nahezu objektiv, ohne Einmischung des Erzählers, [ohne] epische Breite und Charakterausmalung des Romans«.57 Auch haben sich bei allen Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die prototypische Gestalt der Novelle doch auch Unterschiede zu dieser in den vier Texten gezeigt, vor allem die epische Breite, die sich in Quitt zum romanhaften Umfang entfaltet. Des Weiteren geben auch die detailreichen Schilderungen der Erzählorte und der Figuren den Texten einen epischen Rhythmus. Diese Merkmale der ›Mordgeschichten‹ Fontanes haben möglicherweise dazu geführt, dass die Literaturkritik ihren novellistischen Charakter in den Hintergrund gestellt und sie bevorzugt als ›Kriminalgeschichten‹ bezeichnet hat.

IV. Fontanes Texte als ›Kriminalgeschichten‹ Die von der Literaturkritik verwendete Bezeichnung »Kriminalgeschichten«58 bezieht sich allgemein auf die Tradition der Kriminalerzählung, eine Tradition, die auch in Fontanes Zeit bekannt war. Die deutsche Kriminalgeschichte des 19. Jahrhunderts gründet dabei auf zwei Haupt-Traditionsschienen. Die erste, neuere und bald verbreitetere, ist die ›Ermittlungsgeschichte‹ à la Edgar Allan Poe, die durch seine 1841 erschienene Erzählung The Murders in the Rue Morgue begründet wird. Die Handlung setzt ein nach einem bereits erfolgten, gerade entdeckten Doppelmord an zwei Frauen in einer Pariser Privatwohnung, der Täter wird von dem Detektiv Auguste Dupin mit Hilfe einer Reihe hochrationaler Überlegungen entlarvt. Diese »neue Gattung [ist …] aufs engste an die Figur des Analytikers, des Detektivs geknüpft […]«.59 Der Detektiv ist geboren, die Aufdeckung des Verbrechens tritt in den Vordergrund. Auf den 56 Die Quelle von Unterm Birnbaum bildet ein Bericht über einen Mord im Dorf Letschin im Oderbruch, das Fontane in seiner Jugend mehrfach besuchte. Handlungen, Namen, Figuren und vor allem die Ortsschilderungen stimmen in vielem überein (vgl. HFA I/1, Anhang, S.  943). Zur Entstehung von Quitt: Fontane erfuhr vermutlich bei seinem Aufenthalt im Riesengebirge im Sommer 1884 die Geschichte von dem Förster Wilhelm Frey aus Krummhübel, der 1877 im Gebirge von einem Wilddieb erschossen worden war (vgl. ebd., S. 916). 57 von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 629. 58 Demetz, Formen des Realismus: Theodor Fontane, S. 85 und Nürnberger, Theodor Fontane, S. 133. 59 Vgl. Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. Bd. 1, München 1992, S. 13.

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damit verbundenen radikalen Wandel der Gattung macht Nusser aufmerksam: »Die populäre Literatur orientierte sich im Zeitalter der Französischen Revolution unter anderem an dem allgemeinen Verlangen nach Darstellung großer Verbrecher, […], schließlich (seit der Mitte des 19. Jahrhunderts) dem Wunsch nach Darstellung großer Detektive«.60 Die zweite, ältere Schiene geht auf die »Criminalgeschichten«61 von August Gottlieb Meißner zurück, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche Erzählungen aus dem Bereich der praktischen Justiz veröffentlichte. Eigentlich handelt es sich bei diesen um Exemplare der älteren ›Verbrechensliteratur‹, denen die detektorischen Elemente der eigentlichen Kriminalliteratur noch fehlen, die aber teilweise schon einen Übergangsbereich zur neueren Schiene bilden.62 Ihre Besonderheit liegt darin, dass die Umstände und Motive der Tat in den Mittelpunkt rücken (nicht die Tat selbst) und der Täter schon vor seiner kriminellen Handlung dem Leser bekannt gemacht wird. Der Erzählfokus wird auf die psychologischen und sozialen Wurzeln des Verbrechens verlagert.63 Was findet man nun in Fontanes Texten von diesen charakterisierenden Gattungszügen der ›Kriminalgeschichte‹ beider Traditionsschienen? Ein Einsetzen der Handlung nach abgeschlossenem Mordfall, um mit der neueren Gattungsvariante seiner Zeit zu beginnen, liegt in keinem der vier Texte vor. Die Morderzählung selbst entfaltet sich vielmehr auf dramatische Art, als stringentes Hinführen zu einer Peripetie, wie es einer Novelle eigen ist. Die Aufklärung des Mordes, das detektorische Element, spielt im Grunde allein in der ›Kriminal-Novelle‹ Unterm Birnbaum eine Rolle, steht aber auch hier nicht im Vordergrund, sondern erweist sich im Gegenteil als »außerordentlich lückenhaft und wenig intensiv«.64 Im Mittelpunkt aller vier Texte stehen dagegen die sozialen und psychologischen Rahmenbedingungen des Verbrechens, die teilweise detailreich dar60 Vgl. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart 1980, S. 84. 61 Meißner schrieb das Wort »Kriminal-« noch mit ›C‹. Vgl. ebd., S. 2. 62 Ebd. 63 Neben dieser Tradition der fiktiven Kriminalgeschichte ist das Textphänomen der ›authentischen Kriminalgeschichte‹ zu nennen. Es handelt sich um die Darstellungen von Kriminalfällen, die als institutionelle Dokumente in Archiven und Gerichten aufbewahrt werden, einst auch in Stadt- und Kirchenbüchern. Früher wurden diese Berichte von Kriminalfällen teilweise in Sammlungen publiziert. Als besonders typisches Beispiel ist hier der ›Pitaval‹ zu nennen, eine Sammlung von historischen Strafrechtsfällen, die der französische Jurist und Autor François Gayot de Pitaval 1734 bis 1743 zusammenstellte. Auch diese Sammlung war zuerst als juristische Fachlektüre intendiert, wurde aber bald auch als allgemeine Publikumslektüre beliebt und erlebte ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert, besonders gegen Ende desselben, also parallel zur Entstehungszeit der hier behandelten vier Erzählungen von Fontane. 64 Vgl. Lüderssen, Kriminologische Bemerkungen zu ›Unterm Birnbaum‹, S. 436.



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gestellt werden. Zwei der vier mörderischen Protagonisten, d. h. Grete Minde und Lehnert Menz (in Quitt) erscheinen dabei als Opfer der sie umgebenden Gesellschaft, ihre Tat entwickelt sich jeweils stringent in Form eines unumgänglichen Befreiungsprozesses von ungerechten Fesseln. Die um ihr Erbe betrogene Grete zündet ihre Heimatstadt an und reißt zwei Kinder mit in den Tod. Lehnert erschießt den Förster als Personifikation des preußischen Autoritätsstaats. Der mörderische Vater in Ellernklipp und das verschworene Mord-Ehepaar in Unterm Birnbaum dagegen werden zu Opfer ihrer eigenen Charakteranlagen, der Eifersucht auf der einen, der Habgier auf der anderen Seite. Abschließend kann festgestellt werden: Obwohl die Texte nicht dem prototypischen Muster der Kriminalgeschichte à la Edgar Allan Poe entsprechen, zeigen sie gleichwohl Züge der älteren, anlagebedingt ausgerichteten und auf die menschliche Psyche im Zusammenhang mit der sie umgebenden Gesellschaft bezogenen ›Criminalgeschichten‹ auf. Ihre Anknüpfung an die bestehende Tradition der Textsorte wird dabei ersichtlich. Dennoch kommen bei Fontane Elemente hinzu, die seine literarischen Produkte auch in diesem Fall von der sie umgebenden Literatur unterscheiden: Neben einer kunstvollen Textarchitektonik sind dies beispielsweise auch die erwähnten Züge des Balladesken, verbunden mit volkstümlichem Sagenmaterial, Naturdämonie und Züge von Schicksalhaftigkeit.

V. Abschließende Bemerkungen Der im vorliegenden Beitrag angestellte Vergleich der vier Texte Fontanes mit vorhandenen Beschreibungen der literarischen Textsorten ›Kriminalgeschichte‹ und ›Novelle‹ hat gezeigt, dass beide Textsorten-Zuschreibungen an und für sich zutreffend sind. Aus der Tradition der Erzählgeschichte wird der Fokus auf die psychologischen und sozialen Wurzeln als Ursache der Mordtat verlagert: ungerechte Behandlung als sozial-gesellschaftlicher Auslöser in Grete Minde und Quitt, Eifersucht und Habgier als psychologische Auslösemomente in Ellernklipp und Unterm Birnbaum. Aus der Tradition der Novelle wird die festgefügte Textstruktur mit ihrem stringenten Hinführen auf die Peripetie übernommen. Die novellenartigen Elemente überwiegen eindeutig. Gleichzeitig wird jedoch ersichtlich, dass die Texte schon von ihrem Umfang her (insbesondere Quitt), vor allem aber auch durch das Vorhandensein von zahlreichen detaillierten Einzelbeschreibungen, die den geforderten stringenten Handlungsver-

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lauf immer wieder verzögern oder verlangsamen, nicht ohne Einschränkungen mit der Textstruktur der Novelle in Einklang gebracht werden können. Fontane selber sieht sich als Novellendichter in einer Situation mit Alleinstellungsmerkmal, also mit einem Anrecht auf eine poetisch individualisierende Behandlung der Novellen. Das textsortenlinguistische Argument des prototypischen Charakters der Textsorten kann diesen poetischen Anspruch stützen, einzelne Novellen oder Kriminalgeschichten können sich vom prototypischen Kern des jeweiligen Textmusters mehr oder weniger entfernen. Ein Abgleich der beiden literarischen Textsorten mit den Texten Fontanes hat aufgezeigt, dass die Elemente der Novelle vor denjenigen der Kriminalgeschichte deutlich überwiegen. Wir können daher abschließend Fontanes vier durch einen gewaltsamen Mordfall verbundene Texte als ›Kriminalnovellen‹ bezeichnen, mit dem Zusatz, dass sie sich frei um den prototypischen Kern der Gattung Novelle bewegen.

Wo endet das Incipit?

Anfangskonstruktionen in Fontanes Romanen Emilia Fiandra

I. Der Keim als Anfang Dass jede Narration eine durch den Anfang begrenzte Sequenz formt, die den Übergang aus dem offenen Kontinuum der Noch-nicht-Geschichte in die Geschlossenheit des Erzählten markiert, ist in der narratologischen Forschung allgemeiner Konsens. Ebenso unstrittig ist in der Fontane-Forschung die Bedeutung, die Fontane selbst diesem Übergang beimaß. In vielen von der Kritik oft zitierten Aussagen setzte sich der Autor mit der Rolle des Incipits explizit auseinander. Für ihn war »[d]er Anfang […] immer das entscheidende«.1 Dazu äußerte sich Fontane eingehend in Briefen und Artikeln und profilierte den Romananfang in seinen handlungsnarrativen und leserbezogenen Voraussetzungen. In einer zoomartig sich verengenden Fokussierung auf den Texteingang lässt Fontane im bekannten Brief vom 18. August 1880 an Gustav Karpeles die prinzipielle Funktion des Anfangs als strukturbestimmendes Element erkennen, das die poetologischen Komponenten des Gesamttextes sichtbar macht: »Das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinah die erste Zeile. […] Bei richtigem Aufbau muss in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken«.2 Bekanntlich verband Fontane diese Perspektive des Anfangs als des embryonalen Kerns der Handlung mit der rezeptionsorientierten Aufgabe, den Leser mit den Koordinaten der erzählten Geschichte vertraut zu machen, ihn sozusagen über den Anfang unter Vertrag zu nehmen. Mit seiner besonderen Sensibilität für erzähltechnische und kompositorische Aspekte wies er immer wieder auf die Notwendigkeit hin, dass im Anfang schon alles angelegt sein muss, was eine Romanfigur zur Hochzeit oder zur Einsamkeit, zum Mord oder zum Suizid führen soll. »[H]at mans darin gut getroffen«, schrieb er 1879 an Mathilde von Rohr, »so muß der Rest mit einer Art innerer Nothwen-

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Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/3, S. 23. Theodor Fontane an Gustav Karpeles, HFA IV/3, S. 101.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-019

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digkeit gelingen«.3 Deshalb wusste Fontane prägnante Erzählpräliminarien zu schätzen, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten wecken und ihn auf den erzählten Plot einstimmen konnten; »um der Leser willen«, wie es im ebenfalls berühmten Brief an Georg Friedlaender vom 8. Juli 1894 heißt,4 warnte er immer wieder vor dem Risiko eines ›verfehlten‹5 Eingangs, der den Text gleich zu Beginn der Lektüre unattraktiv machen würde. Dementsprechend gehöre es zu den Aufgaben des Schriftstellers, bereits am Anfang alles zu tun, um den Leser davon abzubringen, das Buch ungelesen in die Schublade zu legen. Denn »[a]n den ersten 3 Seiten«, wie Fontane in demselben Brief an Friedlaender apodiktisch bemerkte, hänge »immer die ganze Geschichte«. Dabei kritisierte er scharf Alfred Doves misslungenen Anfang im historischen Roman Caracosa, bei dessen erstem Band er »bloß bis auf die dritte Seite« gekommen sei. Freilich, die Relevanz des Textanfangs, die Fontane hier betont, ist nicht besonders originell für die Literaturwissenschaft. Im Gegenteil, Romananfänge sind ein viel behandeltes Feld, auf dem schon beachtenswerte Forschungsergebnisse nicht nur im Bereich der deutschsprachigen Literatur erzielt worden sind.6 Hingegen ist die Fontane-Kritik, die sich mit diesem speziellen Themengebiet beschäftigt, verhältnismäßig spärlich. Angesichts der nachgerade fast unübersehbar gewordenen Forschung zu allen möglichen narrativen Aspekten im Romanwerk Fontanes ist die Anzahl der Untersuchungen, die Fontanes Romananfänge explizit aus produktionstheoretischer und textwissenschaftlicher Perspektive betrachten, relativ gering. Zwar sind die ersten Seiten seiner 3 4

Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, HFA IV/3, S. 23. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, in: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender. Hrsg. und erläutert von Kurt Schreinert, Heidelberg 1954, S. 259–262, hier S. 260. 5 Vgl. ebd.: »ja, es ist schlimm, wenn ein Buch so verfehlt anfängt«. Daraus auch die folgenden zwei Zitate. 6 Eine genauere Analyse dieser umfassenden Frage, ihrer Ergebnisse und Methoden kann in diesem Beitrag nicht geleistet werden. Es sei hier nur auf einige wichtige Untersuchungen verwiesen: Victor Brombert, Opening Signals in Narrative. In: New Literary History 11 (1979–1980), S. 489–502; Peter Erlebach, Theorie und Praxis des Romaneingangs. Untersuchungen zur Poetik des englischen Romans, Heidelberg 1990; Willi Hirdt, Incipit. Zu einer Poetik des Romananfangs. In: Romanische Forschung 86 (1974), S. 419–436; Hartmut Kraft, Seite eins – ein Beitrag zur inhaltsbezogenen Formalanalyse von Romananfängen. In: Johannes Cremerius, Wolfram Mauser et al. (Hrsg.), Psychoanalyse der literarischen Form(en), Würzburg 1990, S.  135–152; Norbert Miller (Hrsg.), Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965; Friedrich Pfäfflin (Hrsg.), Vom Schreiben. Das weiße Blatt oder Wie anfangen?, Marbach 1994; Hermann Piwitt, Zum Problem des Romaneingangs. In: Akzente 8 (1961), S. 229–243; Andrea Polaschegg, Der Anfang des Ganzen: Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst, Göttingen 2020; Andreas Wolkerstorfer, Der erste Satz. Österreichische Romananfänge 1960–1980, Wien 1994.



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bekanntesten Romane, Cécile, Irrungen, Wirrungen, Effi Briest, Der Stechlin, Gegenstand bedeutender textkritischer Einzelanalysen gewesen, so etwa der Beiträge von Becker, Brinkmann, Hawkes Velardi, Hertling, Heuser, Oz, Schuster, Waniek, um einige Beispiele zu nennen.7 Und vereinzelt finden sich interessante Bemerkungen und Teilanalysen in verschiedenen Monographien. Doch fehlen in der Literatur über Fontane ausführliche Gesamtuntersuchungen, die Funktion und Typologie des Eingangs im Spannungsverhältnis zur Entfaltung des Plots problematisieren, um dabei eine möglichst vollständige Systematik seiner Anfangskonstruktionen zu erstellen. Dies hier zu tun würde natürlich den Umfang dieses Aufsatzes sprengen. Ich möchte dennoch versuchen, auf einige wenige Themen einzugehen, die mir im Rahmen unserer Grenzproblematik am relevantesten erscheinen und als Anregung im Sinne der oben erwähnten Fragestellung dienen können. Zum Schluss wird am Beispiel von Fontanes Schach von Wuthenow ein interpretatorischer Ansatz versucht, der das Incipit als semantischen Kennzeichnungsträger mit dem ›Folgetext‹ und dem weiteren Handlungsverlauf verbindet.

7 Siehe Julia Becker, Erzähltechnische Analyse der Romananfänge von Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und E.T.A. Hoffmanns ›Die Elixiere des Teufels‹, München 2007; Richard Brinkmann, Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53/3 (1979), S. 429–462; Friedrich Christian Delius, Fontane und die Anfänge. Zur Verleihung des Fontane-Preises, Neuruppin 30.12.2004. In: Mitteilungen der Theodor Fontane Gesellschaft 28 (2005), S. 17–20; Carol Hawkes Velardi, Techniques of Compression and Prefiguration in the Beginnings of Theodor Fontane’s Novels, Bern/New York 1992; Gunter H. Hertling, Theodor Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹: Die »Erste Seite« Als Schlüssel Zum Werk, New York 1985; Magdalene Heuser, Fontanes ›Cécile‹. Zum Problem des ausgesparten Anfangs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), S. 36–58; Amos Oz, Das unmerkliche Fortschreiten des Schattens. Über den Anfang von Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: Ders., So fangen die Geschichten an, Frankfurt am Main 1997, S. 19–25; Rolf Parr, Die nahen und die fernen Räume: Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013, S.  53–76; Ders., Kleine und große Weltentwürfe: Theodor Fontanes mentale Karten. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber et al. (Hrsg.), Theodor Fontane: Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland Europa und die Welt, Würzburg 2014, S. 11–40; Ingrid Schuster, Akribie und Symbolik in den Romananfängen Fontanes. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles in Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S.  318–324; Erdmann Waniek, Beim zweiten Lesen: Der Beginn von Fontanes ›Effi Briest‹ als verdinglichtes ›tableau vivant‹. In: The German Quarterly 55 (1982), S. 164–174.

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II. Die erste Grenze Wer sich heute der Aufgabe unterzieht, Fontanes Romananfänge zu untersuchen, steht nicht nur vor dem prinzipiellen Problem des Mangels an spezifischer Forschung zu diesem Aspekt, sondern auch vor der Heterogenität von Eingangsszenen, die meistens als Schauplätze in einem vorherrschend topographischen Sinn ausgelegt worden sind. Jedoch sind Fontanes Anfänge nicht immer und nicht unbedingt nur ortsbezogen, wie allzu oft behauptet wird. Vielmehr kommt in den Anfangsteilen, einschließlich der Titel und Überschriftenfelder, eine semantische Vermischung von Raum- und Zeitbezogenem zum Ausdruck, welche interpretatorische Schwierigkeiten bereitet und eine Reflexion verdient. Geht man von Titel und Untertitel von Fontanes Romanen aus, so stellt man leicht fest, dass diese ersten paratextuellen Signale, die Fontane – bei aller Dominanz des Räumlichen in seinem Narrativ – aussendet, recht selten topographisch oder ortsorientiert, sondern fast immer personenorientiert sind.8 Obwohl sich nämlich in Fontanes Textanfängen minutiöse Raumbeschreibungen zur Anlage der Häuser, ihren Fassaden, Gärten und umliegenden Straßen befinden, verwendet der Autor kaum Ortsverweise in seinen Titeln. Wo ein Ortsname explizit erscheint, wird er mit starker Symbolik in ein Konzept eingebunden, das eine beinahe mythische Verwurzelung der Gestalten mit dem Ort, an dem sie leben, verdeutlicht. Mit solch einer Symbolik operiert z. B. der toponymische Titel Ellernklipp, der schon lexikalisch dazu bestimmt ist, ein düsteres, unglückverheißendes Bild zu vermitteln. Ebenfalls symbolisch konnotiert ist die vage örtliche Angabe (Wo? Unter welchem Baum?) im Titel der Kriminalgeschichte Unterm Birnbaum, der seine grammatische Entsprechung in der Präpositionenkombination (»Vor dem in dem großen und reichen […] Tschechin […] eröffneten Gasthaus«)9 findet, mit der das Incipit einsetzt und die rätselhafte Topik zu zeichnen beginnt, durch die die Romanhandlung hindurchgeht. Diese Kohäsion von topographischem und symbolischem Raum kommt aber in keinem anderen Titel Fontanes so zur Geltung wie in seinem letzten Roman, Der Stechlin. Das Toponym, das hier auch Familienname ist, wird bekanntlich gleich am Textanfang vom Autor mit einer solchen Poly8 Zum Phänomen des Titels finden sich viele Anmerkungen in Regina Mühlenweg, Studien zum deutschen Romantitel (1750–1914), Diss. Wien 1960 (zu Fontane siehe besonders S. 172–174) und Arnold Rothe, Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte, Frankfurt am Main 1986. Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen Titel und Incipit (mit interessanten Bemerkungen auch über Fontane) vgl. Annette Retsch, Paratext und Textanfang, Würzburg 2000. 9 HFA I/1, S. 719 (kursiv meine Hervorhebungen).



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valenz aufgeladen, dass sich dem Leser eine Vielfalt von Zusammenhängen erschließt, die das rein Lokale in den Hintergrund rückt und den Ort selbst zu einem metonymischen Netz verschmelzen lässt. Sieht man jedoch von diesen wenigen, auf den ersten Blick realistisch anmutenden, doch eher symbolisch besetzten raum- bzw. ortsbezogenen Titeln ab, sind Fontanes knappe Überschriften in der Mehrheit auf die Nennung einer Person beschränkt. Nur einmal verwendet Fontane eine temporale Angabe im Titel, im Roman Vor dem Sturm, aber dieser Titel ist viel mehr als eine bloße Zeitangabe. Er beschreibt eine entscheidende geschichtliche und humane Dimension, nämlich die des historischen ›Gestern‹ der Befreiungskriege im Verhältnis zum ›Heute‹ des Lesers, für den die erzählten Ereignisse zwei Generationen zurückliegen. Nicht von ungefähr gibt der fast stichwortartig gehaltene einführende Satz »Es war Weihnachten 1812, Heiliger Abend«10 die Koordinaten einer Geschichte an, bei der die symbolisch-sakrale, antizipative Bedeutung des ›Vorabends‹ eines epochalen – ›stürmischen‹ – Geschehnisses mit Sinn und Botschaft des Titels korrespondiert. Außer diesem Einzelfall finden sich in Fontanes Titeln keine temporalen Angaben. Die meisten Titel enthalten, wie gesagt, einen Personennamen, der oft, um der realistischen Vollständigkeit willen, aus Vornamen und Nachnamen besteht. Auf die Vielschichtigkeit der Problematik der Namensnennung in Fontanes Titeln kann im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich eingegangen werden. Versucht sei hier nur die Herausarbeitung einiger wesentlicher Merkmale. In der Mehrzahl der Fälle sind bei Fontane die Titelfiguren und die Protagonisten identisch, so dass die Namensnennung im Sinne der Fontane’schen Attraktivität des ›Keims‹ eine Identifikationsfunktion erfüllt. Sie soll den Leser sofort mit der Hauptfigur vertraut machen und ihm dadurch den Einstieg in den Hauptstrang der Geschichte ermöglichen. Doch das passiert nicht immer. Bei Stine hat z. B. Fontane selbst betont, dass nicht die Titelfigur, »sondern deren ältere Schwester: Witwe Pittelkow«11 die Hauptperson sei. Als erste narrative, signifikantenbezogene Grenze provoziert der Name im Titel auch die allerersten Fragen. Bei Stine wird sich der Leser zu fragen beginnen, wofür die niedliche Abkürzung steht, ob Stine ein Kind, ein Mädchen, eine junge Dame ist. Aber warum hat sie keinen Nachnamen? Steht vielleicht keine Familie hinter ihr? Minimale Titel eröffnen oft gewichtige Fragen nach der Identität der bei Fontane meistens weiblichen Titelgestalten, unter denen nur zwei, Cécile und eben Stine, nicht einmal die Würde des Familiennamens haben. Hingegen 10 HFA I/3, S. 7. 11 Theodor Fontane an Emil Dominik, HFA IV/3, S. 578.

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sollen alte Nachnamen quasi a priori für einen identitären Status bürgen, oder mindestens für die Suche danach, wie der (übrigens erfundene)12 Name Poggenpuhl gerade durch die ironische Hervorhebung jenes ›Poggenpuhlschen‹ Lebensstils aufzeigt, der als standesgemäßes Lebensideal fast refrainartig in den ersten Seiten des Romans Die Poggenpuhls wiederkehrt. Angesichts dieser Bedeutungsschwere des Familiennamens zeichnet sich Effis Schicksal bereits im Titel deutlich ab: Effi, aus der sich, wie ihre Mama tadelt, keine Dame machen lässt, ist im ganzen Roman nur die ›Briest‹, in die sie der Romantitel einzwängt. Sie ist und bleibt auf ihren ursprünglichen Mädchennamen festgelegt. Anders als die französischen und russischen Vorbilder der Bovary und der Karenina lässt sie Fontane im Titel nicht den Namen des Ehemannes annehmen, als wäre dieser von Anfang an nur dazu bestimmt, eine Parenthese in ihrem Leben zu sein, die nicht zum Narrativ der Kind-Frau passt. Unter Fontanes Anthroponymen als Titeln fällt es auf, dass männliche Hauptgestalten selten auftauchen. Treten sie auf, so zeigt die Analyse des Plots, dass dem dahinterstehenden Milieu als Gegenstand der Erzählung eine übergeordnete Rolle zukommt. In Graf Petöfy stattet der Autor seine aus berühmter adliger ungarischer Familie stammende Hauptfigur nicht mit der individuellen Angabe des Vornamens, sondern nur mit einer Adelsbezeichnung aus, die Signalwirkung als narratives Konnotat erhält: Steinschwer liegt hier die Bürde gräflicher Tradition und adliger Vergangenheit auf der Entfaltung der Geschichte. Im Roman Schach von Wuthenow folgt dem Eigennamen des Protagonisten der hinsichtlich der zu erwartenden Handlung vielleicht schlagkräftigere Untertitel Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Wie später zu zeigen sein wird, verspricht er dem Leser das programmatische Exempel einer epischen Narration ›aus alter Zeit‹, die ganz im Zeichen geschichtlicher Dekadenz und altmodischer Wertvorstellungen steht. Abgesehen von den schon erwähnten Ortstiteln und vom Roman Vor dem Sturm, weicht der Autor bezeichnenderweise nur in drei anderen Fällen vom Grundmuster des Titels mit Personennamen ab: Irrungen, Wirrungen, Unwiederbringlich und Quitt. Alle drei sind – wenn auch auf verschiedene Weise – kommentierende Titel, deren Botschaft sich im dilatorischen Raum zwischen den Fragen des Anfangs und jenem Ende des Wartens situiert, das jeder Schluss mit sich bringt.13 Der Roman Irrungen, Wirrungen weist bereits im Titel selbst12 Eine Erfindung, auf die Fontane sehr »stolz« zu sein gestand. Vgl. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, in: Theodor Fontane, Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hrsg. von Kurt Schreinert, vollendet von Gerhard Hay, Stuttgart 1972, S. 338. 13 Eine erzähltheoretische Perspektive auf Konstruktionen des Wartens und des Aufschubs entwickeln das immer noch faszinierende und fundamentale Buch von Peter Brooks, Reading for the Plot: Design and Intention in Narrative, New York/Oxford



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reflexiv auf das ›Und/oder‹ des Erzählens hin, d. h. auf die Pluralität der Wege und Irrwege, der eingeschlagenen und der nicht einzuschlagenden – der Illusionen und der betrügerischen Glücksphasen der zwei Liebenden, Botho und Lene –, die zur abgeschlossenen Handlung und zur einzig möglichen narrativen Lösung führen: der Trennung des Barons und der kleinbürgerlichen jungen Frau. Der durch Abwege und Deviationen verzögerte Schluss ersetzt den von der sozialen Norm abweichenden romantischen Liebesplot durch das gesellschaftlich ›Machbare‹, streicht buchstäblich in den letzten Worten Botho zugunsten Gideons aus der Geschichte heraus und stellt dadurch, trotz und nach allen ›verwirrenden‹ Handlungsalternativen, die standesgemäße Ordnung wieder her. Auch Unwiederbringlich und Quitt sind glänzende Beispiele dafür, wie Titel Themen abgrenzen und Fragen aufwerfen können, deren Beantwortung der Plot kunstvoll verschiebt und verzögert. Im Titel des Romans Unwiederbringlich überwiegt schon die handlungskonstitutive Spannung zwischen dem Beginn der Geschichte und dem ultimativen Charakter des Adverbs, das von vornherein die Möglichkeit eines Anfangs verleugnet und einen Code des Schon-Vergangenen, des Verlusts und Todes in Bewegung setzt. Und verzichtvoll bis schicksalhaft klingt auch das umgangssprachliche Wort im Romantitel Quitt. Das Adjektiv führt direkt auf jenes für das Leben des Protagonisten Lehnert entscheidende biblische Schwert-Zitat hin, das an Schlüsselstellen sowie am Schluss des Textes die Erweckung von Lehnert und die Talionslogik signalisiert, in der das Schicksal der erzählten Gestalten den abschließenden Ausgleich findet. Mit der langen aufgeschobenen Strafe ist Lehnert endlich quitt. Diesen drei abstrakten, im Grunde aber eher auf die Handlungslösung anspielenden Titeln könnte man einen vierten hinzufügen, L’Adultera, der zwar ein Nomen enthält, das jedoch bekanntlich keine Romanfigur, sondern ein Gemälde ist, oder besser: eine Gemäldekopie, eine der zahlreichen Repliken nach Tintorettos Adultera, die das Titelmotiv sozusagen ins Quadrat setzt. Unter den letztgenannten Titeln ist es vielleicht gerade diese Überschrift, die besondere Ansprüche an den Leser stellt. Und nicht nur wegen der Fremdsprache. Es lohnt sich deshalb, dazu einige zusätzliche Überlegungen anzustellen. Die grammatisch als feminin konnotierte Wortform ›Adultera‹ bringt vor allem zwei aussagekräftige Implikationen mit sich. Erstens charakterisiert sie für den gebildeten Leser durch das spezifische Morphem des -a am Schluss des Wortes sofort das Weibliche. Insofern wirkt der auf den männlichen Protagonisten Van der Straaten fokussierte Romananfang zwar Neugier weckend, 1984, und die sehr interessante und gut dokumentierte Untersuchung von Andrea Erwig, Waiting Plots. Zur Poetik des Wartens um 1900, München 2018.

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jedoch auch deplatzierend auf den Leser, der nach dem Titel mit dem Erscheinen einer Frau rechnet. Zweitens liefert das Wort, als Titel einer Kopie, auf semantischer Ebene eine Anspielung auf die Problematik der per Definition ›grenzenlosen‹ Reproduktion, die im Handlungsgewebe verarbeitet ist. So gesehen kündigt der Titel das Wiederholbarkeitsprinzip an, das die Ehebruchsthematik durchzieht: Im Kopie-Motiv resümiert sich schon die iterative Falle, die dem prätendierten Einmaligkeitsschwung, der auch der Romanheldin Melanie wie allen übrigen Ehebrecherinnen des Realismus anhaftet, mit repetitiven Klischees und Stereotypen begegnet.14 Der Titel L’Adultera stellt also das wahre Incipit einer hermeneutischen Sequenz dar, die erst später dechiffriert zu werden beginnt. Zugleich dementiert er aber durch das angedeutete Wiederholungsmuster, d. h. durch die potentiell infinite Repetition, die Möglichkeit selbst des Schlusses und des Schließens.

III. Der endlose Anfang und das ›finale‹ Erzählen Drücken viele Romantitel bei Fontane eine Intentionalität aus, die eine vorwiegend symbolische, auf das Ende ausgerichtete Auslegung ermöglicht, so vermögen auch seine detailreichen ersten Seiten trotz (vermeintlicher) realistischer Präzision die Romane motivisch abzurunden und symbolisch zu finalisieren. Narratologisch bedeutet das, dass die Anfänge für den weiteren Romanverlauf als Verdichtungspunkte funktionieren, in dem bestimmte Erzählelemente Spuren hinterlassen und Signifikate bilden, die sich dem Leser allmählich (und freilich oft erst bei wiederholter Lektüre) erschließen. Fontanes Anfangsbeschreibungen sind meistens sehr ausführlich, die Erzählergegenwart tritt hinter den Einzelheiten zurück. An die Stelle der auktorialen Bürgschaft scheint die Bürgschaft sorgfältiger Lokalisierung und historisch-kartographischer Glaubwürdigkeit zu treten. Damit besetzt Fontane eine Position, die leicht im Kontext des realistischen Strebens nach Wirklichkeitsnähe zu verorten ist, das im späten 19. Jahrhunderts um sich greift. Fontanes realistisch anmutende Darstellungen am Romananfang sind aber manchmal so akribisch, dass man sich fragt, ob sie beim Rezipienten wirklich jene Lesemotivation zu fördern vermögen, die der Romancier laut dem oben erwähnten Brief an Friedlaender anvisierte. Man denke nur an die vielen Straßennamen, die durch Anhäufung und Vertiefung von Details die Leserwahrnehmung so14 Was dieses antiromantische Wiederholbarkeitsmotiv in den realistischen Ehebruchsromanen betrifft, erlaube ich mir auf mein Buch hinzuweisen: Emilia Fiandra, Desiderio e tradimento. L’adulterio nella narrativa dell’Ottocento europeo, Roma 2005.



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gar erschweren können. Selbst den damaligen Lesern des Autors dürfte es nicht immer leichtgefallen sein, sich alle genannten Örtlichkeiten anschaulich vorzustellen. Ganz zu schweigen von den langen, zumeist syntaktisch verschachtelten Satzkonstruktionen vieler erster Absätze, in denen die Beschreibung nicht unmittelbar mit dem Handlungsort einsetzt, der das grammatische und thematische Subjekt des Satzes bildet, sondern zuerst mit dem, was ihn umund einschließt bzw. versteckt. Wie gelang es dem Autor, mit seinen akkuraten und komplizierten Eingangsschilderungen den Leser zu fesseln und den semiotisch dichten ›Mikrokosmos‹ des Anfangs – nach Norbert Millers Argumentation in seiner berühmten Aufsatzsammlung zu Romanbeginnen –15 in den ›Makrokosmos‹ eines Romans zu verwandeln? Analysiert man Fontanes umständliche Anfangsszenerien, so zeigt sich schnell, dass sie für die Konstruktion des Textes als konstitutive Elemente dienen sollen, die eine den Leser aktivierende Funktion haben und ihm retrospektiv die Gratifikation der Entschlüsselung bieten. In der Anfangssequenz vieler Romane tauchen Zeichen auf, die sich gezielt in der nachfolgenden Handlung entfalten und die der Leser bei der weiteren Lektüre wiedererkennen soll. Fontanes Texte werden in der Regel mit signalhaften Details eröffnet, die als Initiatoren für spätere Signalfolgen verwendet werden und aus der Perspektive des Schlusses in ihrer Vollständigkeit verstanden werden können. So fungiert z. B. die anfängliche Darstellung von Petöfys Stadthaus in Wien als eine Art Auftakt der dramatischen Handlungsfäden, die der Roman fortführen soll. In den drei genannten Ortsangaben, Graben, Josephsplatz und Augustinerstraße, an deren Zusammentreffen sich das altmodische und mit allen Requisiten des »längst [T]ot[en] und [A]usgestorben[en]«16 ausgestattete Haus befindet, sind, wie Ingrid Schuster herausgestellt hat,17 schon die Handlungslinien gegeben, durch die Handlungsverlauf, Stimmungslage und Schluss des Romans festgelegt sind: die Todesthematik, der Liberalismus josephinischer Prägung des Protagonisten und der Katholizismus der beiden weiblichen Hauptfiguren, Petöfys Schwester Judith und seiner ebenfalls zum Katholizismus bekehrten Witwe Franziska. Ähnliches gilt auch für die Flucht- und Reisesemantik der Bahnhofsszene am Anfang des Romans Cécile, in der die Titelgestalt ihre vergebliche, unvermeidbar tragische »Reise nach dem Glück«18 antritt, oder für den allzu berühmten Eingang von Effi Briest. Der Roman beginnt genau dort, wo sich das Ende schon abzeichnet: im hufeisenförmigen Herrenhaus in 15 16 17 18

Vgl. Miller, Romananfänge, S. 8. HFA I/1, S. 685. Vgl. Schuster, Akribie und Symbolik in den Romananfängen Fontanes. HFA I/2, S. 144.

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Hohen-Cremmen, mit jener Sonnenuhr auf dem Rondell, die schließlich Effis Grab Platz machen wird. Die Reihe dieser Beispiele ließe sich fortsetzen, aber schon aus dieser knappen Auswahl wird klar, wie viel Textenergie bei Fontane in den anscheinend statischen, den Raum betreffenden Incipits liegt, denen eine ausgeprägte vektorielle Dimension des Textes zukommt. In den sorgfältig komponierten Romananfängen verdichtet sich eine treibende Kraft des Plots, die ihn vorwärtsbewegt und ihre Auflösung im Abschluss der Geschichte findet. Evident dabei ist, dass die an den semantisch immer stark beladenen Raum der Romananfänge gebundenen Titelfiguren in den räumlichen Anfangskonstruktionen gar nicht ausgeklammert werden. Im Gegenteil, als Bezugselemente eines Beginns, in dem schon ihr Schicksal angelegt ist, sind die menschlichen Gestalten in dem Raum mit eingeschlossen. Und wenn auch Straßen und Behausungen das quantitativ überwiegende (logische und grammatische) Subjekt in Fontanes ersten Sätzen sind,19 ist die Beschreibungsperspektive dezidiert personenzentriert.

IV. Der Salon als Raum der Grenzen Die Relevanz eines figurenorientierten Erzählens innerhalb der weit aufgefächerten Dimension der Räumlichkeit bei Fontane lässt sich an einem Beispiel zeigen, bei dem der Handlungsschauplatz zu Beginn des Romans nicht wie üblich durch eine Fülle topographischer Angaben abgesteckt wird: Schach von Wuthenow. Nach dem ›personalen‹ Titel und dem Untertitel, der, wie bereits erwähnt, programmatisch eine überholte Geschichte ankündigt, begegnet dem Leser in der Überschrift des ersten Kapitels, Im Salon der Frau von Carayon, ein Raum, dessen Bedeutung stricto sensu nicht in den Bereich der Lokalisation gehört. Vielmehr bietet die Situierung der Handlung im Salon eine Verquickung von urbanem und gesellschaftlichem Ambiente, die einerseits die gehobene soziale Stellung der Romanfiguren hervorheben soll und andererseits auf jene Konventionalität hinweist, die – wie der weitere Verlauf des Romans zeigt – aufgrund konservativer und historisch überholter Einstellungen auf die im Text geschilderte Welt ihre ganze negative Wirkung entfalten wird. 19 Hier nur einige Belege: in Ellernklipp ein in die Bergwand eingebautes Haus im Harz, in Graf Petöfy das Wiener Palais der Familie, in Irrungen, Wirrungen eine abgelegene Gärtnerei in Berlin, in Stine ein Mietshaus in der Invalidenstraße, in Unwiederbringlich ein Schloss am Meer, in Effi Briest das Herrenhaus in Hohen-Cremmen, in Die Poggenpuhls ein Neubau in der Großgörschenstraße, in Mathilde Möhring ein Wohnhaus dicht an der Friedrichstraße.



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Schach von Wuthenow ist der einzige Roman Fontanes, der am unmittelbaren Romananfang keine ausführliche, nach außen projizierte Raumangabe enthält. Die erste Szene spielt in einem elegant-diskreten Interieur. Der einzige topographische Hinweis, den sich der Autor an dieser Stelle gönnt, ist die schlichte Nennung, gleich im Eröffnungssatz, der schicken Behrenstraße, die ein mit Berlin vertrauter Leser leicht in der Gegend des Regierungsviertels und seiner schönen Adelspalais lokalisieren konnte. In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon und ihrer Tochter Victoire waren an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend einige Freunde versammelt, aber freilich wenige nur, da die große Hitze des Tages auch die treuesten Anhänger des Zirkels ins Freie gelockt hatte. Von den Offizieren des Regiments Gensdarmes, die selten an einem dieser Abende fehlten, war nur einer erschienen, ein Herr von Alvensleben, und hatte neben der schönen Frau vom Hause Platz genommen unter gleichzeitigem scherzhaftem Bedauern darüber, daß gerade der fehle, dem dieser Platz in Wahrheit gebühre.20

Die sonst übliche kartographische Schilderung von Straßen und Gebäuden fehlt hier. Auch die Angabe der Adresse taucht nicht als logische und ›lokale‹ Ergänzung des Hauses auf, sondern innerhalb einer Partizipialkonstruktion, die den vornehmen Ort direkt auf die Salondame und deren Tochter bezieht (»In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon und ihrer Tochter …«). Zugleich stellt der Autor, wie noch zu sehen sein wird, durch die Erwähnung zweier Sonderumstände – die extrem hohe Temperatur und die Nichtteilnahme eines Gastes – das Außergewöhnliche der Konstellation heraus und unterstreicht, rezeptionsästhetisch gesehen, was dem Narrativ einen erzählenswerten Sinn verleiht. In Kohärenz zum ersten Kapiteltitel sind die im Incipit genannten Personen völlig in das Muster der Salontradition eingefügt, das dem damaligen Leser wohl vertraut war. Deshalb genügen ihm wenige Zeilen, um sich die besondere Atmosphäre des Salonlebens in jenen Eigenschaften vorzustellen, die Peter Seibert als Erkennungskriterien der Geselligkeitsform Salon21 beschreibt. Dazu gehören die vom Autor bereits im Kapiteltitel hervorgehobene Zentrierung auf die Salondame, die Präsenz von Stammgästen (»die

20 HFA I/1, S. 555 (kursiv meine Hervorhebungen). Hier auch das folgende Zitat. 21 Vgl. Peter Seibert, Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart/Weimar 1993, besonders S. 8–24. Dazu siehe auch Roberto Simanowski, Horst Turk et al. (Hrsg.), Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999. Zu Fontanes Schilderung des CarayonSalons vgl. darin den Beitrag von Anke Detken, Mme de Staël und Zacharias Werner: Formen der Geselligkeit in Coppet und Berlin und ihr Einfluß auf den Stellenwert eines deutschen Schriftstellers in Deutschland und Frankreich, S. 232–250.

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treuesten Anhänger des Zirkels«),22 die Regelmäßigkeit der Zusammentreffen (»an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend«), die doppelte Natur des Privathauses, das zur Öffentlichkeit erweitert ist und zugleich diese Öffentlichkeit intimisiert (»einige Freunde«). Hinzu kommen im Text weitere Faktoren, die sich ebenso gut in eine salonartige Atmosphäre einreihen lassen, wie die Gemischtgeschlechtlichkeit der Gäste – unter denen der Erzähler in expliziter Anknüpfung an den Untertitel des Romans »den Offizieren des Regiments Gendarmes, die selten an einem dieser Abende fehlten«, den Vorrang zuspricht –, und die erotisch aufgeladene Stimmung, die sofort durch den Hinweis auf die Attraktivität der Salonnière angedeutet und durch die komplizenhafte Anspielung auf den Sondergast verstärkt wird, dem der Sitzplatz neben der schönen Dame gehören sollte. Der Romananfang hat hier vor allem die Aufgabe, dem Leser eine gesellschaftliche Welt vor Augen zu führen. In dem ersten, ungefähr zehn Zeilen langen Absatz betritt der Leser einen sozial kodierten Raum und erfährt einiges über die Dynamik der in den Plot involvierten Figuren. Im zweiten, etwas längeren Absatz wird die für den Plot zentrale Bülow-Figur eingeführt, die sich im Verlauf des Romans als der Gegenspieler der Titelfigur erweist. Auf diese Weise beginnt die erste Seite, die Machtpositionen der Gäste zu skizzieren, und dadurch das Bild der zwischenmenschlichen Beziehungen zu entwerfen, aus denen der tragische Schluss seine Spannung bezieht. Entsprechend der mondänen Konnotation der Tisch- und Salonkultur23 konstituiert sich der Text als szenische Erzählsituation, die beinahe theatralische Züge annimmt. Damit kreiert Fontane eine an und für sich literarische Kulisse, auf der die Figuren ihre Gespräche wie vor einem Publikum vortragen, wie vom Autor selbst gleich einführend in Bezug auf Bülows Konversationsstil betont wird: »Er konnte, wie seine Freunde sagen, nur sprechen, um Vortrag zu halten, und – er sprach eigentlich immer«.24 Nach der Präsentation des Salons und der Einführung der Personen, die später in die Sprechsituation mit einbezogen werden sollen, kündigt der dritte Absatz das einsetzende politische Gespräch an (»das Gespräch, das eben geführt wurde«),25 und die Konversation kann endlich die Rolle erhalten, die ihr zusteht. Das progressive Überhandnehmen der Dialoge, das dem von Konventionen und Regeln bestimmten Salonton eignet, führt auf narrativer Ebene nicht nur zur Reduktion der bei 22 HFA I/1, S. 555. Hier auch die folgenden drei Zitate aus dem Incipit. 23 Auch der Tisch, um den die Dame des Hauses und ihre Gäste sitzen (und der ein unverzichtbarer Bestandteil der Salonkultur ist), wird von Fontane auf der ersten Seite explizit erwähnt (»an der der Mitte des Zimmers zugekehrten Tischseite«, ebd.). 24 HFA I/1, S. 555. 25 Ebd., S. 556.



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Fontane üblichen Dominanz von Straßen- und Hausbeschreibungen, sondern es akzentuiert auch die semiotische Relevanz dessen, was es ausschließt: das alltägliche Leben draußen. Der geschlossene Zirkel um Frau von Carayon ist ein Kreis für Eingeweihte, in den die Titelfigur als willkommener Gast Aufnahme findet. Und das tut er – bezeichnenderweise noch bevor der Autor die eigentliche Handlung einsetzen lässt – sofort als dominante Figur, deren unbestrittene Vorrangstellung der Romananfang gerade durch die rhetorische Art und Weise der Markierung seiner Abwesenheit hervorhebt. Ohne seinen Namen zu nennen, erzeugt das Incipit die notwendige Mischung aus Spannung und Neugier. Alvenslebens scherzhafte Bemerkung über den ausbleibenden Gast (»daß gerade der fehle, dem dieser Platz in Wahrheit gebühre«)26 ist eine Vorausdeutung, die beim Leser Erwartungen und Ahnungen über das Kommende hervorrufen soll. Ebenso spannungserzeugend soll der meteorologische Hinweis auf die abnorme Hitzewelle der Zeit wirken, auf die das Kapitel Bei Sala Tarone mit der vorzeitigen Vorbereitung der Maibowle (»Aber wir haben erst April«)27 explizit zurückgreift. Das Hitzemotiv, das, wie Walter Paul Guenther28 zu Recht hervorgehoben hat, als politisches Bild eingesetzt wird, löst im Text eine Kette weiterer Anspielungen aus, die auf dem semantischen Feld des Brennens beruhen. Aus Raumgründen sei hier diesbezüglich nur auf die Charakterisierung der französischen Politik als »Höllenbrodem, der jetzt über die Welt weht«,29 und auf die häufigen Nero-Erwähnungen im siebten Kapitel hingewiesen. Ohne den gewöhnlichen Reichtum an topographischen Details liefert also die Eingangsszene im Salon die wichtigsten Informationen zur Bildung einer Erzählsituation, die durch Geschlossenheit, sozial und ideologisch geprägte Umgangsformen und traditionsverwurzelte Inhalte konnotiert ist, und bereitet den Leser auf die Steigerung der narrativen Spannung vor. Als geschlossener Raum, in dem eine großbürgerliche und aristokratische Elite Besuche empfängt, Abendgesellschaften gibt und große politische und kulturelle Themen anschneidet, über die oft ganz entgegengesetzte Meinungen vertreten werden, profiliert sich der Salon als ein Ort der Grenzen und Begrenzungen, der Gegensätze und Spannungen. Innerhalb des Salonlebens spielt sich der für die Romanhandlung zentrale Konflikt zwischen dem Modernen und dem Altpreußischen ab, den Frondeuren und den konservativen Offizie26 Ebd., S. 555. 27 Ebd., S. 569. 28 Guenther setzt das Motiv mit der ›Hitze‹ der politisch-historischen Lage gleich. Vgl. Walter Paul Guenther, Preußischer Gehorsam. Theodor Fontanes Novelle ›Schach von Wuthenow‹. Text und Deutung, München 1981, S. 243. 29 HFA I/1, S. 596.

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Emilia Fiandra

ren, zwischen zynischem Relativismus (»le laid c’est le beau«)30 und konventioneller Moralität, zwischen Amoralität und Aufrechterhaltung von altmodischen Wertprinzipien, die nur strengen gesellschaftlichen Normen verpflichtet sind. In dieser Welt, die zwischen »Unnormalität« und »Normalität«,31 zwischen Originalität und formaler Konventionalität changiert, gedeiht auch das Konglomerat von Urteilen und Vorstellungen, die die eigentliche ›Schwäche‹ der Hauptfigur ausmachen und ihr Schicksal bestimmen: Schach »ist krankhaft abhängig, abhängig bis zur Schwäche, von dem Urteile der Menschen, speziell seiner Standesgenossen«.32 Der Zusammenhang dieser Thematik der leeren Konventionalität mit der Repräsentation umklammert wie ein Rahmen Anfang und Schluss des Romans und schließt dem Leser den Sinn des dramatischen Finales der Geschichte auf. Wie Victoire in dem Brief urteilt, mit dem der Roman endet, fällt Schach der Anhäufung seiner historisch überkommenen, milieubedingten Wertvorstellungen zum Opfer: »Er sah ein kleines und beschränktes Leben vor sich«, so Victoire im letzten Kapitel, »und war, ich will nicht sagen auf ein großes gestellt, aber doch auf ein solches, das ihm als groß erschien«.33 Mit dem Texteingang schafft Fontane in Schach von Wuthenow einen Innenraum, der zugleich ein Raum der ›Exteriorität‹ ist. Ein Raum der Grenze, der durch Inklusion und Exklusion gekennzeichnet ist. Von Anfang an wird der Salon zum symbolischen Ort, an dem die eitle Beschränktheit des Offiziersmilieus, das der bedeutsame Untertitel als den historischen Gegenstand des Romans ausweist, ihre widersprüchliche, tragische und fatale Gestalt gewinnen kann.

30 Ebd., S. 608. 31 Ebd., S. 571. Daraus auch das folgende Zitat über Schach. 32 Zu diesem Aspekt siehe u. a. John Osborne, ›Schach von Wuthenow‹. »Das rein Äußerliche bedeutet immer viel …«. In: Christian Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 92–112. 33 HFA I/1, S. 683.

Was nicht zu lesen ist

Das Implizite als Stilmittel der Textkonstitution zur Darstellung der Sexualität in Theodor Fontanes Romanen Nicolò Calpestrati

I. Einleitung In den zeitgenössischen künstlerischen Repräsentationen, d.  h. in Literatur, Kunst und Filmen, erkennt man eine Überbelichtung des Themas der Sexualität, die explizit und enttabuisiert dargestellt wird, was zu interessanten Diskussionen nicht nur in der Literatur- sondern auch in den Sozialwissenschaften geführt hat.1 In der von Theodor Fontane dargestellten bürgerlichen Gesellschaft unterlag die Sexualität den Ansprüchen einer »bürgerlich-männlichen Selbstbeherrschung«2 und von ihrer Thematisierung war noch keine Rede: Es handelte sich um ein sozial inakzeptables Thema, das aus moralischen Gründen besser zu verschweigen war.3 Unter den in der bürgerlichen Weltsicht des 19. Jahrhunderts diskutierten sozialen Themen, z. B. die Kontaktunfähigkeit zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten bzw. das Scheitern der Institution der Ehe usw., spielte die Sexualität kaum eine Rolle. Mit seinem poetischen Realismus4 werden von Fontane nicht nur die einengenden gesellschaftlichen Dogmen beschrieben, sondern er deutet auch auf verdrängte menschliche Bereiche wie die Sexualität hin, ohne sie ausdrücklich zu thematisieren. Von einem stark mimetischen Charakter der Figurenrede geprägt, versuchen Fontanes Dialoge, die gesprochene Sprache sowie die kommunikative Interaktion zwischen den Sprechern realitätsnah zu reproduzieren. Unter den 1 Zum Thema Sexualität in der Literatur vgl. u. a. Stefan Neuhaus, Sexualität im Diskurs der Literatur, Tübingen/Basel 2002 und zum Thema Sexualität in den Sozialwissenschaften vgl. Oliver König, Sexualität. In: Bernhard Schäfers und Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, S. 552‒562. 2 Ebd., S. 552. 3 Helmut Scheuer, Singularität und Typik – Epische Planspiele zwischen Adel und Bürgertum in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.), Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne, Berlin/New York 2008, S. 1‒8, hier S. 8. 4 Lothar Bluhm, Das literarische Umfeld. In: Stefan Neuhaus (Hrsg.), Effi Briest-Handbuch, Berlin 2019, S. 9‒12, hier S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110735710-020

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von ihm verwendeten Verfahren, die prototypisch für die interaktive mündliche Kommunikation sind, z. B. Interjektionen, (Selbst-)Berichtigungen, Umbzw. Neuformulierungen, Ellipse usw.,5 ist auch die Verwendung vom Impliziten. Implizite Strategien sind demzufolge auch in fiktiven Welten zu finden und dienen als Stilmittel zur thematischen Strukturierung des Textes.6 Das Implizite7 gilt als rhetorisches Verfahren des interaktiven mündlichen Gesprächs und das Entwerfen fiktiver Gespräche gilt als die prototypische Erzähltechnik des Autors. Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, das tabuisierte Thema der Sexualität in Fontanes Werken zu untersuchen, um zu zeigen, wie ein Thema, das gesellschaftlich unpassend bzw. inakzeptabel war, mittels besonderer Stilmittel, wie des Impliziten, trotzdem behandelt werden kann. Besonders beobachtet wird hier, wie implizite informative Inhalte zur Textkonstitution dienen und wie informative Lücken von den Lesern rekonstruiert und gefüllt werden, um dem Text das vom Autor Mitgemeinte zu entnehmen. Diese Arbeit ist in sechs Teile gegliedert: Nach einer Einleitung zum Thema der Sexualität mit Rücksicht auf die von Fontane dargestellte Gesellschaft (I) folgt eine Annäherung in sprachwissenschaftlicher Hinsicht an das Thema des Impliziten in der Textkonstitution (II) und ihr Zusammenhang mit der textlichen Ebene am Beispiel eines Fontane’schen Dialogs (III). Danach wird das Implizite am Beispiel von zwei Romanen von Theodor Fontane untersucht: Nach den Analysekriterien (IV) werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert und diskutiert (V). Ausblick und Desiderata schließen die Arbeit ab (VI).

5 Vgl. Johannes Schwitalla, Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, Berlin 2003; Marcella Costa und Marina Foschi Albert (Hrsg.), Grammatica del tedesco parlato. Con un saggio introduttivo di Reinhard Fiehler, Pisa 2017. 6 Marina Foschi Albert, Il profilo stilistico del testo, Pisa 2016, S. 121; Sabrina Ballestracci, Stili e testi in lingua tedesca. Strumenti per l’analisi, Roma 2013, S. 101. 7 In der linguistischen Pragmatik unterschieden wird zwischen zwei Haupttypen von impliziten Aussagen, nämlich einerseits informativen Inhalten, deren Wahrheit und Akzeptabilität als solche angenommen werden (Präsuppositionen), und andererseits informativen Inhalten, die der Rezipient mittels inferentieller Prozesse erschließen kann und die als Ergänzung der schon ausgedrückten Aussagen dienen (Implikaturen); vgl. Claus Ehrhardt und Hans Jürgen Heringer, Pragmatik, Paderborn 2011, S.  44–45; Angela Ferrari, Linguistica del testo. Principi, fenomeni, strutture, Roma 2014, S. 63–64; Marina Sbisà, Presupposition, Implicature and Context in Text Understanding. In: Paolo Bouquet, Luciano Serafini et al. (Hrsg.), Modeling and Using Context. Second International and Interdisciplinary Conference CONTEXT 99, Berlin 1999, S. 324‒338, hier S. 328–329. Für die Zwecke dieser Arbeit wird diese Unterscheidung nicht berücksichtigt und mit dem Begriff „Implizit“ sind beide Formen gemeint.



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II. Annäherung an das Thema des Impliziten in der Textkonstitution und seine Funktionen Das Textverstehen ist ein automatischer kognitiver Prozess, der aus einer physiologischen Aktivität entsteht, d. h. dem Lesen, bei dem die Augen sich über sprachliche Stimuli graphischer Natur (Grapheme) bewegen, um informative Inhalte in verschiedenen Etappen wahrzunehmen und zu erarbeiten.8 Beim Leseprozess erkannt werden zuerst Gruppen von Buchstaben, die als Wörter wahrgenommen werden und die im Zusammenhang mit anderen Wörtern stehen, um Phrasen bzw. Sätze konsequent zu bilden (textgrammatische Ebene). Phrasen und Sätze werden dann in Form von Propositionen eingeordnet (textsemantische Ebene), die dazu verhelfen, im Textweltmodell der Leserschaft Objekte bzw. sachliche Repräsentationen darzustellen (textreferentielle Ebene).9 Einen Text zu verstehen, heißt mehr als rein schriftliche Zeichen zu entziffern, denn sie müssen auch in pragmatischer Hinsicht interpretiert werden10 und mit den mentalen Repräsentationen des Lesers übereinstimmen. Das Textverstehen schließt demzufolge einen kontinuierlichen Austausch von sowohl textbasierten als auch wissens- bzw. weltbasierten Informationen ein.11 8 Weiterhin gültig sind die Beobachtungen in Liesel Hermes, Leseverstehen. In: Johannes-Peter Timm (Hrsg.), English lernen und lehren, Berlin 1998, S.  229‒236, hier S.  229 und darüber hinaus vgl. Günther Nold und Henning Rossa, Leseverstehen. In: Bärbel Beck und Eckhard Klieme (Hrsg.), Sprachliche Kompetenz. Konzepte und Messung, Weinheim/Basel 2007, S. 197‒211, hier S. 197; Helene Decke-Cornill und Lutz Küster, Fremdsprachendidaktik, Tübingen 2010, S.  229; Marc Wittmann und Ernst Pöppel, Neurobiologie des Lesens. In: Bodo Franzmann, Klaus Hasemann et al. (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 224‒239, hier S. 227f. 9 Monika Schwarz-Friesel und Manfred Consten, Einführung in die Textlinguistik, Darmstadt 2014, S. 63; Gert Rickheit und Hans Strohner, Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung, Tübingen 1993, S. 70. 10 Das Verstehen betrifft nicht nur das reine Dekodieren der schriftlichen Zeichen, sondern bedeutet auch, einen Sinn aus dem Text zu entnehmen. Vgl. Hans Hörmann, Der Vorgang des Verstehens. In: Wolfgang Kühlwein und Albert Raasch (Hrsg.), Sprache und Verstehen. Kongreßberichte der 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (Mainz 1979). Bd. 1, Tübingen 1980, S. 17‒29. 11 Solche Prozesse werden in der Forschung als Bottom-up- und Top-down-Prozesse bezeichnet. Die ersten sind Prozesse, bei denen die Leserschaft zuerst Grapheme und Phoneme, dann Wörter, Sätze und schließlich den ganzen Text im Wahrnehmungsprozess erarbeitet. Die zweiten sind Prozesse, bei denen das Weltwissen, persönliche Erfahrungen usw. in Bezug auf den Text und in den Verstehensprozess integriert werden. Vgl. Hörmann, Der Vorgang des Verstehens, S. 18; Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2013, S. 34; Christina Gansel und Frank Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik, Göttingen 2009, S. 163; Heinz Vater, Referenz-Linguistik, München 2005, S. 64.

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Die im Text explizit ausgedrückten Informationen werden vom Leser in den Textverstehensprozess integriert, um aktive Kohärenzbeziehungen zwischen einzelnen Sätzen (lokaler Textkohärenz) und größeren Textabschnitten (globaler Textkohärenz) herzustellen,12 mit dem Ziel, das vom Autor Gemeinte zu erfassen. Es fällt aber schwer zu glauben, dass es Texte gibt, sowohl schriftliche als auch mündliche, deren übermittelter informativer Inhalt nur aus den explizit ausgedrückten Informationen erschlossen werden kann: Texte, die komplett explizit sind, sind kaum vorstellbar.13 In jedem Text sind implizite Informationen unterschiedlicher Art enthalten, die im Text nicht deutlich ausgedrückt werden, die aber vom Leser mittels Inferenzen14 im Textverstehensprozess zu integrieren sind, um aus dem Text kohärente Schlussfolgerungen zu ziehen.15 Eine große Menge von Informationen fällt auch in der Alltagskommunikation ›unter den Tisch‹ und implizite Inhalte dienen dazu, den Redefluss natürlicher und verständlicher zu machen. Würden alle informativen Inhalte explizit ausgedrückt, wäre der Redefluss fast unverständlich und semantisch überlastet. a) Der Müll muss entsorgt werden; b) Unsere Familie hat diese Woche viel Müll produziert. Normalerweise, wenn die Mülltonnen voll sind, entleert man sie und man entsorgt den Müll. Wenn man das nicht macht, entsteht ein schlechter Geruch und es kann unhygienisch werden. Aus diesem Grund muss jemand die Aufgabe übernehmen, den Müll zu entsorgen […]. 12 Schwarz-Friesel und Consten, Einführung in die Textlinguistik, S. 92–93. 13 Hardarik Blühdorn und Marina Foschi Albert, Leseverstehen für Deutsch als Fremdsprache. Ein Lehrbuch für die Lehrerausbildung, Pisa 2012, S. 11–12. 14 Unter dem Begriff Inferenz wird ein Prozess verstanden, mit dem der Leser neue Schlussfolgerungen sowohl aus den schon elaborierten Informationen als auch aus dem Weltwissen zieht. Vgl. Hans Strohner, Textverstehen: Kognitive und kommunikative Grundlagen der Sprachverarbeitung, Opladen 1990, S. 36; ders., Textverstehen aus psycholinguistischer Sicht. In: Hardarik Blühdorn, Eva Breindl et al. (Hrsg.), Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin/New York 2006, S. 187‒204, hier S.  197; Wolfgang Schnotz, Was geschieht im Kopf des Lesers? Mentale Konstruktionsprozesse beim Textverstehen aus der Sicht der Psychologie und der kognitiven Linguistik. In: Blühdorn, Breindl et al. (Hrsg.), Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, S. 222‒238, hier S. 236. 15 Angelika Linke und Markus Nussbaumer, Konzepte des Impliziten: Präsuppositionen und Implikaturen. In: Klaus Brinker, Gerd Antos et al. (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Bd. 1, Berlin/New York 2000/2001, S. 435‒448, hier S. 435; Foschi Albert, Il profilo stilistico del testo, S. 121; dies., Lesestrategien zur Ermittlung der Textkohärenz in fremdsprachigen Texten. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als Fremdsprache 17/1 (2012), S. 25‒39, hier S. 26.



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Die Äußerung (a) scheint die übliche Äußerung, die jeder sagen bzw. hören könnte und die möglicherweise einen perlokutiven Effekt verursachen würde, d. h. die Mülltonne wird entleert und der Müll entsorgt. Der informative Inhalt wird in dieser Äußerung auf ein Minimum verdichtet und alle Informationen, die aus persönlicher Erfahrung bzw. aus dem Weltwissen gewonnen werden können, bleiben implizit. Eine explizite Formulierung aller informativen Inhalte wie in (b) wäre dagegen unnötig bzw. würde als unnatürlich wahrgenommen. Implizite Inhalte befriedigen in (a) das Prinzip der Sprachökonomie, bei dem ein großer Teil der Informationsmenge unter der kommunikativen Oberfläche bleibt und mittels inferentieller Prozesse erschlossen werden kann, damit der größte kommunikative Effekt mit dem geringsten kommunikativen Energieaufwand erzielt wird16 und außerdem kommunikative Redundanz (meist in der geschriebenen bzw. literarischen Sprache) vermieden wird. Eine andere Funktion vom Impliziten betrifft die interaktive Verständigung zwischen den Gesprächspartnern und die korrekte Balance zwischen kommunikativer Intention und perlokutivem Effekt. Man stelle sich vor, in einem kalten Raum mit anderen Leuten zu sitzen; das Fenster ist geöffnet und ausgesprochen wird die Aussage (c), die einen möglichen impliziten Inhalt enthält: c) Es ist ziemlich kalt hier; d) Mach (bitte) das Fenster zu; (r1) Der Sprecher wird ignoriert und niemand steht auf; (r2) Jemand steht auf und macht das Fenster zu. Kontextuelle Faktoren17 helfen dabei, eine implizite Botschaft unterhalb der lokutiven Oberfläche zu identifizieren und der Aussage zu entnehmen. (c) und (d) zielen auf den gleichen perlokutiven Effekt ab, d. h. das Fenster zuzumachen, aber sie unterscheiden sich in der Modalität, mit der sie ausgedrückt werden. (c) ist ein Aussagesatz mit dem modus verbi im Präsens und enthält einen hohen Grad an Indirektheit, der mit dem neutralen Pronomen ›es‹ ausgedrückt wird; (d) ist ein Aufforderungssatz mit dem modus verbi im Imperativ und richtet sich an eine bestimmte Bezugsperson. Nun fragt man sich, warum man eine implizite Aussage wie (c) ausdrücken sollte, statt sie explizit 16 ›Sprachökonomie‹ in Helmut Glück (Hrsg.), Metzler Lexikon. Sprache, Stuttgart/Weimar 2010, S. 648. 17 Der Begriff ›kontextuelle Faktoren‹ bezieht sich hier auf contextual cues im Sinne von John Gumperz, d. h. sprachliche und nicht-sprachliche Elemente, die zur Bildung der gesamten Bedeutung beitragen. Vgl. John Gumperz, Discourse Strategies, Cambridge 1982, S. 131–132.

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zu formulieren wie in (d). Sowohl (c) als auch (d) müssen zuerst unter der Perspektive der Höflichkeitstheorie18 betrachtet werden: Wenn auch Aussagen wie (d) kommunikativ effektiver scheinen, ist mit ihnen immer das Risiko vorhanden, dass sie die Kommunikation stören bzw. unterbrechen, weil sie als Befehl wahrgenommen werden können. Eine indirekte kommunikative Strategie wie (c) hilft dem Sprecher dabei, sich dem Gesprächspartner nicht aufzudrängen19 und einen möglichen ›gesichtsbedrohenden Akt‹20 zu vermeiden. Für eine erfolgreiche interaktive Kommunikation ist die korrekte Erarbeitung von impliziten Inhalten wesentlich: Falls die implizite Bedeutung in (c) (d. h. hier ist es kalt bzw. mir ist kalt) von der Hörerschaft aus unterschiedlichsten Gründen nicht erschlossen wird, dann folgt (r1) als plausible Reaktion. Nimmt man (r2) als konsequente Reaktion auf (c), dann begreift man, dass die impliziten Informationen in (c) mittels automatischer inferentieller Prozesse an den Kontext angepasst wurden (jmd. meint, es sei kalt; wir sitzen gerade in einem Raum; das Fenster ist geöffnet) und einen perlokutiven Effekt verursacht haben (d. h. das Fenster wird zugemacht). Implizite Informationen gehören also zum Text, sei er schriftlich oder mündlich, und inferentielle Prozesse müssen seitens des Rezipienten aktiviert werden, um sie zu entschlüsseln und sie so in den (Text)Verstehensprozess zu integrieren. Insbesondere in der geschriebenen literarischen Sprache zählt das Implizite zu den stilistisch-rhetorischen Strategien, die der Verfasser in seinem Text verwenden kann und die zur Textkonstitution dienen.

III. Grammatische und lexikalische Mittel zum Ausdruck des Impliziten in der Fontane’schen Prosa Unter dem Begriff Implizit versteht man in der Alltagssprache etwas, das »mit enthalten, mit gemeint, aber nicht ausdrücklich gesagt« wird und das »nicht aus sich selbst zu verstehen […], sondern logisch zu erschließen« ist.21 Die expliziten Inhalte im Text stellen nur den kleinsten Teil des informativen Inhaltes dar, der mittels sprachlicher Formulierungen zum Ausdruck gebracht wird. Der größere Teil informativer Inhalte bleibt unter der perzeptuellen sichtbaren Oberfläche des Textes, und nicht explizit ausgedrückte Informationen tragen 18 Penelope Brown und Stephen Levinson, Politeness. Some Universals in Language Usage, Cambridge/New York et al. 1978; Claus Ehrhardt und Eva Neuland, Sprachliche Höflichkeit, Tübingen 2021. 19 Vgl. Geoffrey Leech, Principle of Pragmatics, London/New York 1983, S. 104–105. 20 Brown und Levinson, Politeness. 21 Duden-Redaktion, Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015, S. 912.



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wesentlich zur gesamten Textkonstitution bei. Sie werden mit inferentiellen Prozessen und konstanten Verweisen zum enzyklopädischen Wissen konsequent in den Textverstehensprozess integriert.22 Literarische Texte weisen hermeneutische Schwierigkeiten23 auf und knüpfen an den Erfahrungsschatz der Leser an mit dem Ziel, kognitive-affektive Reaktionen auszulösen.24 Aus diesem Grund spielt die Anerkennung und Interpretation impliziter Passagen im literarischen Leseverstehen eine wichtige Rolle. Im folgenden Beispiel aus dem zwölften Kapitel von Irrungen, Wirrungen befinden sich die zwei Hauptfiguren, Lene und Botho, im Gasthaus in Hankels Ablage. Lene fühlt sich nicht wohl und geht auf das Zimmer. Die Wirtin begleitet sie und beginnt ein Gespräch mit ihr: Damit verabschiedete sie25 sich und stieg in die mittlerweile hergerichtete Giebelstube hinauf, begleitet von der in durchaus irrigen Vermutungen befangenen Wirtin, die sofort neugierig fragte, was es denn eigentlich sei, und, einer Antwort unbedürftig, im selben Augenblicke fortfuhr: Ja, das sei so bei jungen Frauen, das wisse sie von sich selber, und eh ihr Ältester geboren wurde (jetzt habe sie schon vier und eigentlich fünf, aber der Mittelste sei zu früh gekommen und gleich tot), da hätte sie’s auch gehabt. Es flög’ einen so an und sei dann wie zum Sterben. Aber eine Tasse Melissentee, das heißt Klostermelisse, da fiele es gleich wieder ab, und man sei mit eins wieder wie’n Fisch im Wasser und ordentlich aufgekratzt und fidel und ganz zärtlich. Ja, ja, gnädge Frau, wenn erst so vier um einen ’rumstehn, ohne daß ich den kleinen Engel mitrechne ... Lene bezwang nur mit Müh’ ihre Verlegenheit und bat, um wenigstens etwas zu sagen, um etwas Melissentee, Klostermelisse, wovon sie auch schon gehört habe.26

Diese Passage enthält verschiedene implizite Elemente, die in unterschiedlicher Art und Weise zur Textkonstitution beitragen. Grammatische Elemente wie Personalpronomen und Ellipsen dienen einerseits der Textkohärenz, und andererseits verhelfen lexikalische Elemente zu einer pragmatischen Interpretation des Kontextes bzw. der Szene und ihrer Weiterentwicklung. Das Zusammenspiel von grammatikalischen und lexikalischen Elementen dient also dazu, bei den Lesern inferentielle Prozesse auszulösen und ihnen Zusammenhänge zwischen den Textpassagen zu verdeutlichen, damit sie nicht explizit formulierte Inhalte entschlüsseln. Grammatische Elemente dienen meistens der Sprachökonomie und dazu, genaue Textreferenzen zu schaffen, und sie können in der Regel aus dem vor22 Linke und Nussbaumer, Konzepte des Impliziten: Präsuppositionen und Implikaturen, S. 435. 23 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 391. 24 Decke-Cornill und Küster, Fremdsprachendidaktik, S. 186. 25 Kursiv meine Hervorhebungen. 26 Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen, HFA I/2, S. 319–475, hier S. 380. Im Folgenden wird das Werk nach dieser Ausgabe mit der Sigle ›IW‹ zitiert.

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herigen Ko- bzw. Kontext erschlossen werden. Das Personalpronomen sie am Anfang des Beispiels dient z.  B. zur Vermeidung der Wiederholung des Eigennamens und erstellt eine anaphorische Beziehung zu der einzigen in den vorherigen Zeilen zitierten weiblichen Figur, d. h. Lene, auf die schon in der vorherigen Passage mit einem Personalpronomen hingewiesen wurde.27 Auch elliptische Formen können in dieser Kategorie vorkommen, denn sie helfen, Redundanz zu vermeiden. Verweise auf ein fehlendes Subjekt bzw. Verb, oder auf beide, können einfach in den vorherigen Sätzen gefunden werden: Man geht bis zu dem Punkt zurück, wo ein menschlicher Referent zu finden ist. Die Personalellipse am Ende des Beispiels kann z. B. sowohl mit dem vorherigen Eigennamen Lene als auch mit dem nachstehenden Personalpronomen sie assoziiert werden (»Lene bezwang nur mit Müh’ ihre Verlegenheit und sie bat um wenigstens etwas zu sagen, um etwas Melissentee, Klostermelisse, wovon sie auch schon gehört habe […]«). Die verbalen Formen im Präteritum (bezwang und bat), und im Konjunktiv I (gehört habe) werden in der dritten Person Singular konjugiert und beweisen, dass die elliptische Form des Subjektes sich auf die Hauptfigur Lene bezieht. Präpositionen sowie Verbformen dienen dann zur Herstellung der temporalen bzw. lokalen Kohärenz und zur Positionierung der Akteure in Bezug auf die Szene und auf die vergangenen, gegenwärtigen bzw. zukünftigen Ereignisse. Das Verb hinaufsteigen bezieht sich z. B. auf eine schon determinierte Positionierung der Figuren: Nach ihrer Ankunft saßen Botho und Lene an einem Tisch auf der Veranda des Gasthauses. Als Lene sich von Botho verabschiedet, steigt sie in ihr Zimmer hinauf. Das heißt, dass das Zimmer sich oben befindet und Lene sich vom Erdgeschoss (der Veranda) nach oben, Richtung erste Etage (das Zimmer) bewegt.28 Fehlende Informationen grammatischer Art (z. B. Ellipsen) werden meist automatisch beim Lesen in den Textverstehensprozess integriert. Im Text sind aber auch andere Informationsarten zu finden, die nicht explizit sind und der Leserschaft eine höhere kognitive Anstrengung abverlangen. Es geht in diesem zweiten Fall um fehlende Informationen nicht-grammatischer Art, die zur Textkonstitution dienen und deren Entschlüsselung bzw. Erarbeitung stärker auf geteiltem bzw. Weltwissen basiert. Dazu gehören nicht nur grammatische, sondern auch lexikalische Elemente. Im obigen Beispiel wird die Wirtin als 27 » ›Laß uns diesen Tisch nehmen‹, sagte Botho, während sie wieder unter die Veranda traten: ›Hier trifft dich kein Wind, und ich bestelle dir einen Grog oder Glühwein, nicht wahr? Ich sehe ja, du hast es kalt.‹ Er schlug ihr noch allerlei anders vor, aber Lene bat, auf ihr Zimmer gehn zu dürfen, wenn er dann komme, sei sie wieder munter. Sie sei nur angegriffen und brauche nichts, und wenn sie nur Ruhe habe, so werd’ es vorübergehen.« (In Kursiv meine Hervorhebungen) (Ebd.). 28 IW, S. 416.



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»neugierig« beschrieben und ihr Gespräch von »irrigen Vermutungen« geleitet. Eine solche Charakterisierung der Figuren hilft dabei, die Passage nicht wörtlich zu interpretieren: Die von der Wirtin ausgesprochenen irrigen Vermutungen verwirklichen sich, als sie auf ein unbenanntes Ereignis mit dem Fokus-Pronomen »das«29 hindeutet. Es dient in der Regel einer rhemathischen Funktion, d. h. es bezieht sich auf einen in dem vorherigen Kontext erwähnten Sachverhalt bzw. eine Situation und dient als unspezifische Referenz, um weitere auffällige Informationen hinzuzufügen.30 Hingedeutet wird nämlich in dem Beispiel auf eine vermutete Schwangerschaft von Lene, ohne sie explizit zu nennen: Das Fokus-Pronomen »das« ([…] das sei so bei jungen Frauen) dient als grammatikalisches Mittel, das sich auf ein vorheriges Konzept bezieht, das nicht formuliert wurde und mittels ko- bzw. kontextueller Faktoren zu rekonstruieren bzw. zu interpretieren ist.31 Die Beschreibung der einfachen Figur der Wirtin, ihr Gespräch über ihre vier Kinder und das damit verbundene Unwohlsein von Frauen, das mit Schwangerschaft assoziiert ist, lässt den Leser dann inferieren, dass die Wirtin glaubt, Lene sei schwanger. Die verlegene Reaktion von Lene (»[…] bezwang nur mit Müh’ ihre Verlegenheit und bat, um wenigstens etwas zu sagen, um etwas Melissentee […]«) suggeriert dann zuletzt, dass die Wörter der Wirtin wirklich eine Schwangerschaft andeuten.

IV. Analysekriterien Im Folgenden werden einige Passagen aus Fontanes Prosa ausgewählt und analysiert, die implizite Inhalte enthalten. Ziel ist es, die sprachlichen Verfahren zu identifizieren, die für die Leser hilfreich sein können, um einen angedeuteten und nicht explizit formulierten Inhalt zu entschlüsseln und ihn in den Textverstehensprozess zu integrieren. Die Analyse stützt sich auf zwei von Theodor Fontane verfasste Romane, Irrungen, Wirrungen32 und Effi Briest.33 Besonders beobachtet wird, wie hier das Implizite im Text unterschiedlich ausgedrückt wird, um den Bereich Sexualität darzustellen, d. h. ein Thema, das 29 Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim/Leipzig et al. 2007, S. 401. 30 Ebd., S. 403. 31 Solche Fokus-Pronomen kommen besonders häufig vor, wenn Konsequenzen aus einer Situation gezogen werden sollen bzw. um eine Kommentierungsfunktion auszuüben. Ebd. 32 HFA, I/2, S. 416. 33 Theodor Fontane, Effi Briest, HFA, I/4, S. 7–296. Im Folgenden wird das Werk mit der Sigle ›EB‹ nach dieser Ausgabe zitiert.

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im 19.  Jahrhundert als Tabu wahrgenommen wurde34 und das dank dieser stilistischen Strategie leichter im Text behandelt werden kann. Grammatische und lexikalische Verfahren werden gleichzeitig beobachtet: Zuerst werden im Text Auszüge identifiziert, in denen das Thema Sexualität angedeutet wird, und dann werden sowohl der Ko(n)text als auch die inferentiellen Prozesse rekonstruiert, die die Leserschaft erkennen sollte, um die mitgemeinten Informationen zu entschlüsseln.

V. Implizite Inhalte in Theodor Fontanes Romanen Drei Beispiele werden in diesem Abschnitt berücksichtigt. Insbesondere wird die Konstruktion impliziter informativer Inhalte mittels verschiedener linguistischer und paralinguistischer Verfahren erörtert sowie ihre unterschiedliche Auswirkung auf den Textaufbau. Der erste Typ Implizit (V.1) lädt die Leserschaft durch grammatische und graphematische Elemente ein, den Satz zu vervollständigen und die plausibelste Fortsetzung aus den schon vorhandenen kotextuellen Elementen zu inferieren. Der zweite Typ (V.2) bezieht sich auf konkrete Verweise, die extratextuell bzw. aus Erfahrungswissen zu gewinnen sind, und der letzte Typ (V.3) basiert darauf, einen lustigen Effekt zu bewirken.

V.1 Grammatische und graphematische Elemente In diesem Beispiel wird gezeigt, wie grammatische und graphematische Elemente als Anreiz zur Rekonstruktion impliziter Inhalte dienen. Der folgende Auszug stammt aus dem neunten Kapitel des Romans Irrungen, Wirrungen. Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker gehen spazieren; Lene ist ein junges nachdenkliches und einfaches Mädchen aus bürgerlichem, nicht adligem Stand, das sich in Botho verliebt. Botho ist Baron und stammt aus einer adligen Familie; er beginnt mit Lene eine Liebesbeziehung. Bei diesem Anlass werden beide von Frau Dörr begleitet, eine redselige und extrovertierte Frau, die oft sexuelle Anspielungen macht. Der Weg, den die drei entlanggehen, ist reich an Pappeln, deren weiße Blüten verwendet wurden, um Matratzen auszustopfen und dann zu verkaufen. Lene äußert gegenüber Frau Dörr, dass die Leute sich bemühen, Nutzen aus allem zu ziehen, und dass Frau Dörr nie etwas Ähnliches gemacht habe. Frau Dörr ist mit Lenes Worten einverstanden 34 Theodor Fontane selbst schrieb in einem Brief an eine Bekannte, eine direkte Darstellung der Sexualität sei für ihn unmöglich gewesen. Vgl. Rolf Selbmann, Ehe, Erotik und Sexualität. In: Neuhaus (Hrsg.), Effi Briest-Handbuch, S. 161–165, hier S. 163.



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und versucht dann durch eine Metapher zu erklären, dass sie eine praktisch veranlagte Frau ist und im Leben auf das Wesentliche sieht: Unmittelbar hinter dem Schutthaufen bog der Pfad nach links hin ab und mündete gleich danach in einen etwas größeren Feldweg ein, dessen Pappelweiden eben blühten und ihre flockenartigen Kätzchen über die Wiese hin ausstreuten, auf der sie nun wie gezupfte Watte dalagen. »Sieh Lene«, sagte Frau Dörr, »weißt du denn, daß sie jetzt Betten damit stopfen, ganz wie mit Federn? Und sie nennen es Waldwolle.« »Ja, ich weiß, Frau Dörr. Und ich freue mich immer, wenn die Leute so was ausfinden und sich zunutze machen, Aber für Sie wär’ es nichts.« »Nein Lene, für mich wär’ es nicht. Da hast du recht. Ich bin so mehr fürs Feste, für Pferdehaar und Sprungfedern, und wenn es denn so wuppt...«35 »Oh ja«, sagte Lene, der diese Beschreibung etwas ängstlich zu werden anfing (IW, S. 364–365).

Frau Dörr stimmt mit der Ansicht Lenes überein, und um das Konzept zu vereinfachen, erwähnt Frau Dörr drei sachliche Gegenstände, die miteinander durch Satzzeichen und koordinierende Konjunktionen verbunden sind, d. h. das Feste (Dinge), Pferdehaar und Sprungfedern als Metapher für ihre einfache und konkrete Persönlichkeit. Dann geht sie weiter, aber sie beendet ihren Satz nicht: Mittels einer weiteren koordinierenden Konjunktion folgt dann eine konditionale Struktur,36 von der nur die epistemische wenn-Junktion vorhanden ist. Die restliche nachgestellte Basis mit dem adverbialen Korrelat dann bzw. so wird nicht explizit ausgedrückt. Die Auslassungspunkte dienen als graphematisches Zeichen, das den Leser auffordert, die logisch-syntaktische Struktur, wenn X-dann Y zu vervollständigen, um die Bedeutung von Frau Dörrs Worten zu erschließen. Der Leser kann verschiedene Vermutungen anstellen, was eine mögliche Fortsetzung des Satzes sein könnte, die mit unterschiedlichen semantischen Domänen verbunden ist. Einige mögliche Fortsetzungen und die damit verbundenen Domänen sind in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1

»Und wenn es denn so wuppt, […]« Mögliche Fortsetzungen Bezug auf Domäne a) dann gefällt es mir sehr – Sexualität b) dann erinnere ich mich an meine Kindheit – Kindheit, Erinnerungen c) dann wird mir übel – physische Reaktionen, Realität d) dann ... – ...

35 Kursiv meine Hervorhebungen. 36 Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, S. 739; Duden-Redaktion, Die Grammatik, Mannheim 2016, S. 1084.

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Sobald man mit der Lektüre fortfährt, sind weitere Indizien zu erkennen, die zum Verstehen des Impliziten hilfreich sind. Es ist nämlich die Reaktion von Lene (»[…] der diese Beschreibung etwas ängstlich zu werden anfing«), die dem Leser verrät, dass der frühere nicht vollständige Satz von Frau Dörr eine sexuelle Anspielung ist. Demzufolge gibt es nur eine mögliche Interpretation, die kohärent mit der peinlichen physischen Äußerung von Lene ist. Alle anderen möglichen vom Leser aufgestellten Hypothesen (Tabelle 1) wären in Beziehung zu Lenes Reaktion weniger vernünftig. Darüber hinaus lässt sich eine konzeptuelle Relation zwischen dem Verb »wuppen«37 und dem Substantiv »Sprungfeder« beobachten, die auf das gleiche semantische Feld zurückzuführen sind, d. h. das Bett; dies hilft dabei, die Hypothese zu bestätigen, dass hier auf den Bereich Sexualität angespielt wird. Nach der Wahl einer der n Hypothesen kann der Leser dann die ganze Passage zum Textverstehen umgekehrt rekonstruieren und feststellen, dass Lenes Reaktion eine logisch konsequente Folge eines mehrdeutigen Satzes ist, der in der Domäne der Sexualität angesiedelt ist.

V.2 Konkrete extratextuelle Verweise Nachfolgend wird gezeigt, wie implizite Inhalte mittels konkreter extratextueller Verweise bzw. Erfahrungswissen rekonstruierbar sind. In diesem Beispiel geht es um Effi Briest, die Hauptfigur des gleichnamigen Romans. Sie ist ein junges Mädchen voller Lebenslust und dem Drang nach Freiheit. Sie heiratet mit dem Baron von Innstetten jemanden, dessen Persönlichkeit der ihren entgegengesetzt ist, denn er ist ein nachdenklicher, ausgeglichener Mann, der immer auf die Etikette achtet. In der folgenden Passage aus dem dritten Kapitel sind Effi und ihre Mutter nach Berlin gefahren, um die Aussteuer zu kaufen. In Berlin treffen sie sich mit dem Cousin Dagobert, einem humorvollen jungen Leutnant, der seine Cousine Effi und seine Tante Luise von Briest während ihres Aufenthalts begleitet. Als die drei die Aktivitäten der folgenden Tage planen, schlägt Dagobert vor, Effi das Gemälde Insel der Seligen zu zeigen. Effi steht im Begriff sich zu verheiraten und Dagobert meint, es sei daher richtig, es bereits jetzt anzuschauen. Daraufhin wird Dagobert von der Tante mit einem Fächer leicht geschlagen. Jeder Tag verlief programmäßig, und am dritten oder vierten Tage gingen sie, wie vorgeschrieben, in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Cousine die »Insel der Seligen« zeigen wollte. »Fräulein Cousine stehe zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht

37 Norddeutsche Variante für wippen, schaukeln.



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gut, die ‚Insel der Seligen‘ schon vorher kennengelernt zu haben«38. Die Tante gab ihm einen Schlag mit dem Fächer, begleitete diesen Schlag aber mit einem so gnädigen Blick, daß er keine Veranlassung hatte, den Ton zu ändern (EB, S. 23).

Aus der Beschreibung der Situation und aus der böse wirkenden Reaktion der Tante kann man folgern, dass es sich um ein Gemälde handelt, das zügellose bzw. unpassende Aspekte aufweist. Das von Dagobert in seiner Aussage zitierte Gemälde zeigt sich für den Leser als Schlüssel, um seine Äußerung und die Reaktion der Tante richtig zu interpretieren. Bezug genommen wird hier auf ein tatsächlich von Arnold Böcklin 1878 gemaltes Kunstwerk, das in der Berliner Nationalgalerie wegen öffentlicher Proteste nur kurze Zeit ausgestellt wurde. Die im Vordergrund auf dem Rücken eines Zentaurs sitzende dargestellte nackte Figur löste damals starke Kritik aus, denn sie weist selbstverständlich auf die Domäne der Sexualität hin.

Arnold Böcklin, Die Gefilde der Seligen, 1878, Ölskizze, Kunstmuseum Winterthur39

Das Bild enthält verschiedene Elemente, die die Reaktion von Dagobert und der Tante ausgelöst haben können: a) Naturelemente; b) eine kleine Gruppe von Personen im Hintergrund; c) die Schwäne im Vordergrund; d) die nackte Figur im Vordergrund auf dem Rücken eines Zentaurs. 38 Kursiv meine Hervorhebungen. 39 Das von Arnold Böcklin gemalte Bild Die Gefilde der Seligen ist seit 1945 verschollen. Erhalten sind nur Fotografien in Schwarz-Weiß. Im Kunstmuseum Winterthur befindet sich die Ölskizze des Gemäldes. Vgl. Klaus Müller-Salget, Kunst und Musik. In: Neuhaus (Hrsg.), Effi Briest-Handbuch, S. 204–206, hier S. 204.

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Nach dem Relevanzprinzip40 werden hier von der Leserschaft nur die kontextrelevanten Informationen ausgewählt, die zu einem kohärenten Interpretationsprozess beitragen, und der propositionale Inhalt wird nachfolgend mit dem Weltwissen integriert. Dagobert deutet hier auf die Jungfräulichkeit von Effi hin und die nackte Figur auf dem von ihm zitierten Gemälde zeigt sich demzufolge als relevantestes Element, das zum Kontext passt. Darüber hinaus helfen die Reaktion der Tante sowie die Beschreibung der Figur von Dagobert41 dabei, die Hypothese zu unterstützen, dass er sich auf die nackte Figur bezieht, um eine sexuelle Anspielung zu machen. Die Erarbeitung des Impliziten erfordert eine größere kognitive Anstrengung, denn hier werden inferentielle Prozesse gebraucht, um inter- und extratextuelle Verweise zu verbinden: Zuerst müssen textinterne Elemente richtig erarbeitet werden, d. h. die Reaktion der Tante auf eine Aussage von Dagobert, die sich auf Effis Jungfräulichkeit und auf ihre Hochzeitsnacht bezieht. Dann müssen auf dem Weltwissen basierende textexterne Elemente analysiert werden, d. h. das Gemälde, auf dem eine nackte und auf die Sexualität anspielende Figur dargestellt ist. Erst die korrekte Erarbeitung der zusammenspielenden textinternen bzw. textexternen Elemente erlaubt eine sinnvolle Interpretation der impliziten Inhalte dieser Textpassage.

V.3 Die Ironie Stilfiguren unterstützen teilweise die Schaffung von impliziten Inhalten: Ironie besteht per Definition aus einem bestimmten Grad an Implizitheit, es wird nämlich ein Konzept durch sein Gegenteil ausgedrückt.42 Explizite Indikatoren43 der Ironie, seien sie linguistischer oder paralinguistischer Natur, dienen

40 Dan Sperber und Deirdre Wilson, Relevance: Communication and Cognition, Oxford 1986. 41 Dagobert wird als lustiger Mann dargestellt: »[…] der hatte nicht bloß den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe jener eigentümlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren beinahe traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen und aufzuheitern gewußt, und diese gute Stimmung dauerte bis zuletzt« (EB, S. 24). 42 Die Stilfigur der Ironie wird als »contrarium quod dicitur intelligendum est« (»das Gegenteil von dem [ist] zu verstehen, was ausgesprochen wird«). Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Teil II, Buch VII–XI, Darmstadt 1975, S. 288. 43 Christian Burgers und Margot van Mulken, Humor Markers. In: Salvatore Attardo (Hrsg.), The Routledge Handbook of Language and Humor, New York 2017, S. 385‒399.



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dazu, inferentielle Prozesse zu aktivieren und die semantische Inversion zu erkennen, mit dem Ziel, so einen lustigen Effekt zu kreieren.44 Im dreizehnten Kapitel von Irrungen, Wirrungen treffen Lene und Botho bei einem Ausflug drei Männer, die mit Botho befreundet sind, Serge, Pitt und Balafré. Die Gruppe wird von drei Damen begleitet, und zwar Isabeau, Johanna und Margot. Isabeau wird »Königin« genannt, sie ist 15 Jahre älter als die anderen beiden Frauen und seit ihrem 15. Lebensjahr Mätresse. Sie ist die stärkste weibliche Figur der Gruppe und alle scheinen auf die von der »Königin« getroffenen Entscheidungen immer positiv zu reagieren, aber sie wird auch oft von den anderen parodiert. In der folgenden Passage hat Isabeau gerade eine Einladung zu einem weiteren Ausflug abgelehnt und der Gruppe gesagt, dass sie sich gern entspannen möchte. Ab jetzt fängt Balafré an, sich über sie zu mokieren. »Isabeau hat immer recht«, lachte Balafré und gab ihr einen Schlag auf die Schulter. »Wir machen ein Jeu. Der Platz hier ist Kapital; ich glaube beinah, jeder muss hier gewinnen. Und die Damen promenieren derweilen oder machen vielleicht ein Vormittagsschläfchen. Das soll das Gesundeste sein, und anderthalb Stunden wird ja wohl ausreichen. Und um zwölf Uhr Reunion. Menu nach dem Ermessen unserer Königin. Ja, Königin, das Leben ist doch schön. Zwar aus Don Carlos. Aber muß denn alles aus der ›Jungfrau‹ sein?«45 Das schlug ein, und die zwei jüngeren kicherten, obwohl sie bloß das Stichwort verstanden hatten. Isabeau dagegen, die bei solcher antippenden und beständig in kleinen Anzüglichkeiten sich ergehenden Sprache groß geworden war, blieb vollkommen würdevoll und sagte […] (IW, S. 364–392).

Aus den Worten von Balafré sowie aus seinen Handlungen erkennt man sofort, dass das Gespräch eine informelle und spaßige Dimension entwickelt. Ein expliziter Verweis auf den von Schiller verfassten Jungfrau von Orleans drückt einen Parallelismus zwischen Johanna, einer der Hauptfiguren des Schiller’schen Werkes, und der fiktiven Königin Isabeau aus. In Schillers Werk wird die Liebesgeschichte zwischen Johanna und Lionel nicht vollzogen und Johanna wird also als jungfräuliche Figur bezeichnet. Isabeau wird dagegen schon am Anfang des Kapitels als Mätresse präsentiert, die sich Johanna gegenüber antonymisch zeigt. Graphische Zeichen, d.  h. die Anführungszeichen für ›Jungfrau‹, die44 Zur Erlangung eines lustigen Effektes mittels Ironie vgl. Helga Kotthoff, Responding to Irony in Different Context: On Cognition in Conversation. In: Journal of Pragmatics 35/9 (2003), S. 1387‒1411; Nicolò Calpestrati, Sprachliche Mittel der Komik im gesprochenen Deutsch: Eine Projektskizze. In: Laura Auteri und Marina Foschi Albert (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Germanistik, Bern 2020, S.  131–144, hier S.  136–137; Nicolò Calpestrati, Ironie als Verführungskunst: Kommunikative Funktionen und pragmatische Effekte ironischer Äußerungen zur Schaffung von Gruppenbildung in halbstrukturierten Gesprächen. In: Linguistik Online 106 (2021), S. 47–65. 45 Kursiv meine Hervorhebungen.

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nen hier als typographische Kennzeichen46 für Ironie, die der Leserschaft dabei hilft, den Widerspruch zwischen den zwei Figuren wahrzunehmen und einen lustigen Effekt zu erzielen, d. h. Isabeau stellt sich als Gegenteil vor in Bezug auf die jungfräuliche Figur von Johanna. Lexikalische Verfahren dienen außerdem dazu, die von Balafré gemachte sexuelle Anspielung nachzuweisen, d. h. der Spitzenname »Königin« verrät Einverständnis zwischen den Mitgliedern der Gruppe, die ihren fiktiven hochgestellten, jedoch belächelten Status akzeptieren und dulden, denn Johanna und Margot fangen nach dem Witz an, zu kichern. Balafrés Witz wird nachfolgend explizit als »Stichwort« bezeichnet und gemeint ist, dass Isabeau solche Anzüglichkeiten gewohnt sei. Die spaßhafte Dimension wird auch von dem Verhalten Balafrés unterstrichen, denn er lacht und gibt ihr dann auch einen Schlag auf ihre Schulter, was ein Vertrauensverhältnis zwischen den Figuren voraussetzt. Die Domäne der Sexualität wird in dem obigen Beispiel mittels einer impliziten Strategie angedeutet, die auf einer humoristischen Dimension basiert.

VI. Ausblick Diese Arbeit hat gezeigt, wie die Tabuisierung des Themas der Sexualität in Fontanes fiktiven Dialogen durch gesprächsanalytische Verfahren analysiert werden kann. Das Textverstehen betrifft nicht nur die Verarbeitung der einzelnen Grapheme, sondern es bezieht auch informative Inhalte mit ein, die nicht auf dem Papier stehen, die aber trotzdem in den Textverstehensprozess integriert und erarbeitet werden. Das Implizite stellt sich als produktive Technik dar, um verdrängte Themen zur Sprache zu bringen, ohne sie ausdrücklich zu benennen. Die Analyse impliziter Inhalte fördert das Textverstehen, denn sie hilft dabei, die vom Verfasser mehr oder weniger absichtlich zwischen den Zeilen hinterlassenen Spuren zu rekonstruieren. In den analysierten Werken von Theodor Fontane wird Sexualität mittels verschiedener impliziter Strategien angesprochen, z. B. durch die Verbindung zwischen grammatischen und graphematischen Mitteln (V.1), den Bezug auf Extratextuelles, in dem explizite Hinweise auf den Bereich Sexualität zu finden sind (V.2), oder die Verwendung von Stilfiguren wie Ironie (V.3), die dank ihres kennzeichnenden antiphrastischen Merkmals auf das Thema der Sexualität hindeuten, ohne sie explizit auszudrücken. Die beschriebenen Beispiele zeigen

46 Burgers und van Mulken, Humor Markers, S. 387; Marina Mizzau, L’ironia. La con­ traddizione consentita, Milano 1984, S. 22.



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die Komplexität der Rekonstruktion und Integration des unausgedrückten informativen Inhaltes mit dem im Text enthaltenen propositionalen Inhalt. Die Verfahren der Sprachwissenschaft leisten einen wichtigen Beitrag zur Analyse spezifischer Aspekte von literarischen Texten: Die Analyse eines größeren Korpus von Werken Fontanes mit diesem Ansatz könnte nützlich sein, um zu überprüfen, welche anderen Formen vom Impliziten zur Darstellung von tabuisierten Themen – nicht nur im Rahmen der Sexualität – von Fontane verwendet werden, um die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts darzustellen. Die in dieser Arbeit präsentierten Ergebnisse stellen eine erste Klassifikation eines besonderen Stilmittels zur Beschreibung der Sexualität dar, aber das Thema des Impliziten in der literarischen Textkonstitution bleibt, mit Fontanes Worten, ein weites Feld, das weiterer Untersuchungen wert ist.

Fontanes Anwendung der erlebten Rede in »Unterm Birnbaum«: stilistische Grenzüberschreitungen zwischen Ereigniserzählung und Figurencharakterisierung Lucia Salvato

I. Einleitendes Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht eine linguistische Analyse des literarischen Phänomens der erlebten Rede (ER) in Theodor Fontanes Kriminalerzählung Unterm Birnbaum (1885).1 Analysiert werden aus einem grammatischen Gesichtspunkt die sprachlich-linguistischen Merkmale, die zwar die Grenze zwischen dem Beschriebenen und dem Erzählten signalisieren sollten und doch zur typischen polyphonen bzw. zweistimmigen Verschmelzung der ER-Wiedergabeform beitragen, die der Autor in seiner Umsetzung des ›direkten‹ Rede- und Gedankeninhalts der Figuren in die indirekte Erzählperspektive bewirkt. Die Anwendung der ER in literarischen Texten zielt nicht darauf ab, den Rede-Inhalt zu kennzeichnen, sondern vielmehr unter der Steuerung der Erzählerstimme einen Blick wie ein »Schlaglicht auf die geistigseelische Situation«2 der Figuren zu werfen; sie eignet sich besonders zur Vermittlung subjektiver und affektiv geprägter, aber eher flüchtiger und in sich oft widersprüchlicher Zustände und Reflexe der Psyche.3 Die Dudengrammatik definiert die ER deshalb als »Gedankenrepräsentation« und, mit einer »angemesseneren Bezeichnung«, als »Erlebtes Denken«.4 Der Begriff Rede selbst umfasst »im engeren Sinne« mündlich oder schriftlich formulierte Äußerungen und »im weiteren 1 Theodor Fontane, Unterm Birnbaum. GBA I/8. Von hier an wird der Text mit der Sigle ›UB‹ zitiert. 2 Werner Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil, London/The Hague et al. 1965, S. 22. 3 Vgl. Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa: eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Opladen 1998, S. 166–173. 4 Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann et al. (Hrsg.), Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 3, Berlin/New York 1997, S. 1775; vgl. Angelika Wöllstein und Duden-Redaktion (Hrsg.), Die Grammatik, Berlin 2016, S. 536; von hier an wird die Duden-Grammatik mit der Sigle ›DG‹ zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110735710-021

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Sinne« auch Gedanken und Empfindungen,5 die aber in literarischen Texten doch wohl sprachlich ausgedrückt werden und dadurch oft Passagen in ER oder innerem Monolog (IM) bilden. Unterm Birnbaum veranschaulicht dies auf eine besondere Weise: Es wird in der Literaturgeschichte generell als klassisches Beispiel der deutschen Kriminalgeschichte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet; trotzdem geht es darin nicht so sehr um »das rein Detektivische«,6 sondern vielmehr um den Entstehungsprozess von Taten auch verzweifelter Menschen, der in Fontanes Werk als eine psychologische Aufgabe verstanden werden kann. Fontanes Stil ist somit das Ergebnis seiner durchaus scharfsinnigen Studie weniger der Tat als des Täters und seiner Überführung und der Motive für jene Tat; diese psychologische Aufgabe beeinflusste den Stil seiner erzählerischen Prosa; der Leser kann auch dank der Redewiedergabeformen an der Vorbereitung und Ausführung des Verbrechens und somit oft an der seelischen Entwicklung des Verbrechers teilnehmen. Eine der letzten interessanten Studien über die Redewiedergabe und mehrstimmige Prosa bei Fontane stammt von Norbert Mecklenburg.7 Wie schon in einer vorigen Untersuchung8 analysiert er Fontanes Poetik und Narratologie auf der Basis des Dialogizitätsbegriffs von Michail M. Bachtin, nach dem jede Rede »immer schon mit fremder Rede ›besetzt‹« ist,9 denn die Erkenntnis der Vielstimmigkeit sei »nirgendwo in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts so reichhaltig und nuanciert erzählerisch umgesetzt« wie im Werk Fontanes.10 Der Gebrauch der ER ist zwar eine Eigentümlichkeit der erzählerischen Prosa Fontanes, doch in diesen Gebrauch werden mehr grammatisch-linguistische Strukturen als in der Literatur üblich involviert; solche Strukturen markieren 5 DG, S. 534. Auch nach Weinrich umfasst literarische Rede sowohl »lautsprachliche Äußerungen« der Figuren als auch ihre »Bewußtseinsinhalte aller Art« (Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl et al., Hildesheim/Zürich et al. 2007, S.  895. Von hier an wird Weinrichs Textgrammatik mit der Sigle ›TG‹ zitiert). 6 Eda Sagarra: Unterm Birnbaum. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 554–563, hier S. 514. 7 Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018. 8 Norbert Mecklenburg, Zur Poetik, Narratologie und Ethik der Gänsefüßchen: Theodor Fontane nach der Postmoderne. In: Klaus Beekman und Ralf Grüttemeier (Hrsg.), Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 165–186. 9 Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel, Frankfurt am Main 1979, S. 185; vgl. Mecklenburg, Zur Poetik, Narratologie und Ethik der Gänsefüßchen, S. 166. 10 Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. IX.



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oft eine stilistische Grenze zwischen einer Erzählweise und einer anderen. Das Kennzeichen der erzählerischen Leistung Fontanes besteht jedenfalls in seiner literarischen Meisterschaft, die von ihm immer scharf ermittelten Merkmale der alltäglichen Spontaneität beim menschlichen Reden und Denken in die schriftliche Erzählung zu integrieren. Fontane war nämlich ein unermüdlicher Beobachter der wirklichen Kommunikation, die er in einem breiten Spektrum von Formen mit zahlreichen Feinheiten dargestellt hat. In seinen Werken widmete er der alltäglichen mündlichen Kommunikation stets viel Raum, denn sein Ziel und auch seine Stärke war es, »die Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen«.11 Das Resultat dieser Mimesis des alltäglichen Redens und Denkens innerhalb der Erzählerrede ist oft eine Verschmelzung beider Ebenen – der Figur und des Erzählers – innerhalb des meist in präteritaler Form geschriebenen Erzählerberichts, also eine ER-Form. Bei Fontane geht es um eine vielstimmige Prosa, die als »künstlerische Bearbeitung der sozialen Redevielfalt« sowie der Pluralität von »Denk- und Lebensformen« als eine »Kunst der sprachlichen Modellierung der Figuren« definiert wird.12 Mit dieser künstlerischen Bearbeitung haben sich zwar ältere und neuere Studien immer beschäftigt, doch Fontanes Erzählwerk und die verwandten Phänomene der Figurensprache wurden bisher von der Fontane-Forschung nur vereinzelt beachtet.13 Man hat die Aufmerksamkeit vor allem seinen Hauptromanen und darin den zahlreichen Dialogen – oft in Plattdeutsch und meist in Form der direkten Rede (DR) – gewidmet.14 Die ER ist ein noch zu wenig untersuchtes Gebiet, und eine eingehende Fokussierung des Themas

11 Als Kernpunkt der erzählerischen Leistung Fontanes gelten einige Selbstzeugnisse des Autors, die in seinen Briefen enthalten sind. Vgl. Theodor Fontane und Martha Fontane, Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle, Berlin/New York 2002, S. 248; Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. 9, 39; Katharina Mommsen, Hofmannsthal und Fontane, Frankfurt am Main 1986, S. 37. 12 Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. 9. 13 Vgl. u. a. Mecklenburg, ebd., S. 69. 14 Fontanes Romanwerk ist so stark von direkter Rede durchdrungen, dass die Forschung über seinen Romandiskurs sich vor allem auf die direkte Wiedergabe der alltäglichen mündlichen Kommunikation als typisches Merkmal konzentriert hat. Mecklenburg hat jedoch die erzählerischen »Finessen« von Fontanes Erzählen, darunter die Vielstimmigkeit, mit seiner einzigartigen Sensibilität für gesellschaftliche »Redevielfalt« verbunden (Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. 5–8). Vgl. Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998, S. 11 und Anja Kischel, Soziale Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen, Frankfurt am Main 2009, S. 17–18.

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›Grenze‹ im Bereich der stilistischen Grenzüberschreitung zwischen Erzähler und Figuren fehlt noch zu Fontanes Werk. Auf der Basis des auch von Mecklenburg konstatierten polyphonen Charakters der meisten Werke Fontanes zielt der vorliegende Beitrag darauf ab, den spezifisch linguistischen Aspekt der ER möglichst genau in Fontanes Kriminalgeschichte hervorzuheben. In diesem Sinne ist es interessant zu analysieren, wie der deutsche Schriftsteller das linguistische ER-Phänomen in einem kürzeren Werk wie Unterm Birnbaum realisiert, und insbesondere, wie viel Platz er innerhalb des Erzählerberichts der erlebten Rede- und Gedankenwiedergabe gewidmet hat. Die aus zweifacher Perspektive dargebotene sprachliche Qualität des erzählerischen ER-Verfahrens soll innerhalb der hier vorgeschlagenen Forschungslinie der stilistischen Grenzüberschreitung beleuchtet werden. Der methodische Ansatz der Untersuchung ist linguistisch-analytisch und soll aufzeigen, durch welche sprachlichen Mittel eine – wenn auch nur leichte – Grenze zwischen Erzählerstimme und Figurenstimme signalisiert wird oder ob wegen der Verschmelzung beider Stimmen keine Grenze festgesetzt werden kann. Es soll der Frage nachgegangen werden, was der Gebrauch der ER in Unterm Birnbaum als grammatisch-linguistisches Element bedeutet und was sie über ihre Isolierung hinaus bzw. in der stilistischen Grenzüberschreitung zwischen Erzählerbericht und Figurenrede für linguistische Auslegungen leisten kann. Eine detaillierte – deskriptive und selektive – Analyse der Wirkung linguistischer Elemente in den hervorgehobenen Textteilen soll pointieren, was die Einordnung der grammatischen Zeichen für die Perspektivierung leistet,15 denn benennbare Effekte können »exakt auf bestimmte Elemente im Text« zurückgeführt werden, so dass die Wirkung eines Textes sowie die unterstellte Absicht seines Verfassers »konkret aus den Sprachzeichen – und zwar in besonderem Maße aus den grammatischen Sprachzeichen«16 herausgelesen werden können. Der Beitrag gliedert sich in drei weitere Abschnitte: Abschnitt II erläutert die Hauptmerkmale der deutschen ER auf der Basis der aktuellen Hauptgrammatiken der deutschen Sprache.17 Abschnitt 3 enthält die Analyse einiger 15 Fontanes Werke sind ein deutlicher Beweis dafür, dass jeder Text eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Anordnung der Sprachzeichen ist (oder i. A. sein sollte); die Grammatik ist somit »das Perspektivierungs- und Justierungsinstrument« zu dieser genauen Anordnung, durch die eine spezifische Textbedeutung und Sprecherabsicht zum Ausdruck gebracht wird: Wäre sie anders, würde sie eine andere Bedeutung und eine andere Sprecherabsicht zum Ausdruck bringen (Mechthild Habermann, Gabriele Diewald et. al. [Hrsg.], Grundwissen Grammatik. Für den Bachelor, Berlin 2015, S. 144. Fettdruck im Original). 16 Ebd, S. 145. Fettdruck im Original. 17 Vor allem DG und TG.



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gewählter Textauszüge von Unterm Birnbaum und illustriert die linguistisch interessantesten Merkmale der ER-Wiedergabeform, wie sie Fontane in seiner Kriminalgeschichte verwendet; die Analyse basiert auf den zitierten Grammatiken und auf den wesentlichen linguistischen Studien zur deutschen ER bzw. zu deren grammatischen, syntaktischen sowie semantischen Eigenschaften, die im Laufe der Arbeit zitiert werden. Einige Betrachtungen in Abschnitt 4 schließen die Arbeit ab.

II. Grammatisch-linguistische Ausdrucksmittel der deutschen ER Die meistverwendeten Wiedergabeformen des Gesichtspunkts anderer Sprecher oder Schreiber sind die DR und die indirekte Rede (IR). Unter ›Redewiedergabe‹ versteht man im alltäglichen Sprachspiel die direkte oder indirekte Reproduktion geäußerter Worte anderer; doch obwohl die ER als Form der Personenrede auch in öffentlicher Verständigung zur Vermittlung anderer Ansichten eingesetzt wird, wo sie sogar zu einer »gefährlichen Form« werden kann,18 spielt diese Redewiedergabeform in der modernen erzählenden Literatur eine noch größere Rolle. Im Vergleich zur IR unterliegt die ER jedoch anderen Regeln und Konventionen und als »Mischform oder hybride Form« stellt sie auf eine direkte Weise die Figurenreden bzw. Gesprächsbeiträge – »gefiltert durch das Bewußtsein des Reflektierenden« – in den Vordergrund sowie gleichzeitig das, was der reflektierenden Figur durch den Kopf geht.19 Nach Weinrich geht es bei der ER um eine Form der IR, in welcher der Leser die seelischen Zustände, Beobachtungen sowie leidenschaftlichen Äußerungen des Protagonisten zusammen mit dem Erzähler erlebt.20 Eine der frühesten und interessantesten Definitionen des im Französischen als »style indirect libre«21 abgegrenzten Phänomens der ER hat Theodor 18 Pascal Roy, The Dual Voice. Free Indirect Speech and Its Functioning in the Nineteenthcentury European Novel, Manchester 1977, S. 136. Berühmt wegen des darauffolgenden internationalen Skandals ist der Fall des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags Philipp Jenninger (CDU), der in seiner Rede anlässlich des 50-jährigen Gedenkens an die Pogrome der sog. ›Reichskristallnacht‹ 1938 durch die Verwendung der ER »die historischen und ideologischen Zusammenhänge zu skizzieren suchte« (Vogt, Aspekte erzählender Prosa, S. 177, Fußnote 22). 19 Zifonun, Hoffmann et al., Grammatik der deutschen Sprache, S. 1775. 20 TG, S. 909–911. 21 Charles Bally, Le style indirect libre en français moderne. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 4 (1912), S. 549–556, 597–606. Zu einer ausführlichen Auslegung des Forschungsstandes über die ER als literarisch-linguistisches Phänomen und ihre in-

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Kalepky am Ende des 19. Jahrhunderts gegeben, als sie zwar noch nicht eingehend analysiert worden war und der deutsche Grammatiker darin doch die Unbestimmtheit und Verschwommenheit der Grenze zwischen Erzähler und Figuren schon erkannte; für seine Begriffsbestimmungen verwendete er nämlich Ausdrücke wie »verschleierte«, »verhüllte«, »verkleidete« und »verkappte Rede«,22 mit denen er die Vermischung zweier ineinander verwickelter Figuren – der Roman- bzw. Novellenfigur und des Wiedergebenden bzw. des Erzählers – hervorhob. Da die ER eher in präteritalen indikativischen Erzähltexten begegnet, unterscheidet sie sich im Tempusgebrauch nicht vom umgebenden Erzähltext;23 der Erzähler übernimmt die Rolle der handelnden bzw. denkenden Figur geschickt und füllt sie oft zusammen mit ihr aus, um deren Gedanken und Gefühle eindrücklich wiederzugeben. Obwohl er aber noch als Erzähler spürbar bleibt, kann die Abgrenzung zwischen Erzählerbericht und Figurenstimme auch sehr schwierig sein, da der Autor oft Ausdrücke aus der DR in den Erzählerbericht integriert und auf die Signalwirkung von Inhalts-Junktoren bzw. Indikatoren indirekter Redewiedergabe verzichtet,24 und weil darin die gleiche Sprache wie im Bericht des Erzählers gesprochen wird, der meistens seine Anwesenheit zusammen mit jener der Figuren spüren lässt. Zur Kennzeichnung der spezifischen Merkmale der ER weist Weinrich25 darauf hin, dass die ER vom Erzählerbericht durch feine, aber nur gelegentlich auftretende Abgrenzungs- bzw. ›bestimmte‹26 Referenzsignale getrennt ist,27 deren (ge-

22 23 24 25 26

27

haltlichen und linguistischen Merkmale vgl. u. a. Lucia Salvato, Polyphones Erzählen. Zum Phänomen der Erlebten Rede in deutschen Romanen der Jahrhundertwende, Bern 2005, S. 29–160. Vgl. Theodor Kalepky, Mischung indirekter und direkter Rede oder Verschleierte Rede?. In: Zeitschrift für romanische Philologie 23 (1899), S. 507–508. Vgl. DG, S. 537. Diesbezüglich kennzeichnet die Dudengrammatik die ER als »die typische Erscheinung der syntaktisch unabhängigen indirekten Gedankenwiedergabe« (DG, S. 536). Fettdruck im Original. TG, S. 576. Weinrich widerspricht sich selbst, wenn er die Referenzsignale erläutert; einerseits schreibt er, dass »alle« Formen der Redewiedergabe von »bestimmten« Referenzsignalen abhängig sind; andererseits schreibt er, dass die ER »auf die Signalwirkung von Inhalts-Junktoren und konjunktivischen Verbformen« verzichtet (TG, S. 898, 909). In meinem Beitrag werde ich darauf hinweisen, dass nicht alle Formen der Rede- oder Gedankenwiedergabe durch eine genaue Bestimmung leicht abgrenzbar sind, insbesondere wenn es sich um ER handelt. In den meisten Fällen dienen nach Weinrich die sog. »Kommunikationsverben« als Referenzsignale. Darunter sind nicht nur die »Verben des Sagens (verba dicendi)«, sondern auch – nach dem weiteren Sinn des Begriffs ›Rede‹ – die »des Fühlens (verba sentiendi) und des Meinens (verba putandi)« gemeint. Unter pragmatischem und



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naue) Erkennung zum Verständnis des Textes beiträgt.28 Da in einer ER nicht mehr nur der Erzähler spricht, sondern eher die Gedanken und Gefühle der erzählten Figuren vom Erzähler und somit vom Leser ›erlebt‹ werden, kennzeichnet Weinrich als auffällige Signale der Authentizität und Spontaneität der Rede- und Gedankenwiedergabe einige häufig wiederkehrende Elemente: die vornehmlich eine Denkpause markierenden drei Punkte, den Apostroph bei Verbformen, das enklitische Horizont-Pronomen es (wie in sieht’s, wenn’s, bin’s), fragmentarische bzw. elliptische Ausdrücke wie Verben ohne Subjekt oder Zeitangaben ohne Verb.29 Gleichzeitig geht es jedoch um ein Stück erzählter Welt, in dem der Autor die Tempusformen des indikativischen Präteritums verwendet, so dass »Präsens und Präsensperfekt« die Form der Erzähltempora »Präteritum und Präteritumperfekt« annehmen,30 während das Futur und das Präsens mit Zukunftsbezug durch die Form ›würde + Infinitiv‹ wiedergegeben werden. Indikativ und Konjunktiv bleiben somit unverändert, wie auch die raum- und zeitbezüglichen Angaben, die ebenfalls nicht umgeformt werden, »da die Sichtweise der Figuren in Bezug auf Zeit und Raum gewahrt bleibt«.31 Auch Selbstfragen sind ein sicherer Indikator für einen erlebbaren psychischen Zustand wie Nachdenklichkeit oder Selbstzweifel, und da eher keine konjunktivischen Verbformen verwendet werden, kommen indirekte Fragen nicht im synthetischen, sondern im analytischen Restriktiv mit dem Kommunikationsverb ›würde + Infinitiv‹ vor. Auch die besprechenden Positions- und Tempus-Adverbien, welche typisch für die Figuren-Innenschau sind, werden beibehalten: Würde der Autor anstatt der besprechenden Tempus-Adverbien (wie heute oder morgen) Präpositional-Adjunkte wählen, die dem erzählenden Register entsprechen, bliebe die Erzählung auf einer objektiveren Ebene und die Nuance der ER würde verloren gehen. Geändert werden dagegen die Personal-Pronomen der direkten Rede- und Gedankenwiedergabe, die nicht in der ersten, sondern in der dritten Person erscheinen müssen, um gleichzeitig die Erzählerperspektive zu bewahren und somit das Beschriebene mit dem semantischem Gesichtspunkt unterscheidet er zwar zwischen verschiedenen verbalen Referenzsignalen, doch auch Nomina, die von einem Kommunikationsverb abgeleitet sind, und Junktionen, die einen Hinweis auf ein Kommunikationsverb enthalten, seien ebenfalls zu den Referenzsignalen der Redewiedergabe zu zählen (TG, S. 898– 900). 28 Die Dudengrammatik unterscheidet zwischen abhängiger und unabhängiger IR, wobei erstere vornehmlich als Nebensatz einem »Prädikat des Sagens, Denkens, Hoffens, Fürchtens o. Ä.« untergeordnet sei (DG, S. 536; vgl. Fußnote 28). 29 TG, S. 576, 909–911. 30 DG, S. 1132. 31 Ebd.

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Erzählten zu mischen. Was wiedergegeben wird, ist zwar etwas, »was in einer anderen Situation als der aktuellen Sprechsituation geäußert oder gedacht worden ist«,32 was aber doch in die ›Erzählsituation‹ eingetragen werden muss.

III. Die Analyse Die folgenden Beispielanalysen sollen zeigen, dass und wie bestimmte grammatische Sprachzeichen, die als – auch wenn flexibles – »Justierungsinstrument« die genaue Einordnung des Satzes bzw. Textes steuern, gleichzeitig zu seiner »Perspektivierungsleistung«33 beitragen. Es geht im Folgenden darum, exemplarisch an einigen Textstellen aus Fontanes Erzählung die Effekte einiger Perspektivierungsfunktionen linguistischer Zeichen und Regeln nachzuvollziehen. Die deskriptive Analyse der Wirkung bestimmter grammatischer Entscheidungen des Autors soll auch dazu beitragen, an für die ER prototypisch gewählten Textstellen Alternativen für die im Text getroffene Wahl zu diskutieren – vor allem, wenn diese nicht der grammatisch-linguistischen Norm entspricht – und diesbezüglich, welche anderen Effekte die normierten Alternativen leisten würden. Von den nach der DG und der TG prototypischen Merkmalen der ER ausgehend wird jedoch die Analyse zeigen, dass Fontanes Gebrauch der ER noch mehr linguistische Elemente enthält, die dieses polyphone literarische Phänomen kennzeichnen und bereichern. Da die ER eine Form der Personenrede ist und als eine »spezielle Kontextform« definiert wird,34 trägt zu einer genauen Analyse und Interpretation der jeweils getroffenen Wahl nicht nur der außersprachliche Kontext bzw. die Situation, in der die Figuren sich befinden, sondern auch der genaue sprachliche Kotext35 bei. Diesbezüglich sind die linguistischen Interpretationsmöglichkeiten nicht nur auf lexikalischer Ebene wegen des polysemischen Charakters von Verben, Äußerungen oder Ausdrücken vielfältig; auch linguistische Elemente sowie grammatische Bedeutungen und Funktionen – wie z. B. Tempus- und Modusverwendungen, Ellipsen bzw. umgangssprachliche Ausdrücke, das Vorhandensein spezifischer Zeichen (Ausrufe- und Fragezeichen), Modalverben, Abtönungspartikeln oder Interrogativpronomina sowie Verschiebungen in den Kategorien Person und Adverb (temporal bzw. lokal) – können je nach dem 32 Ebd., S. 535. 33 Habermann, Diewald et al. (Hrsg.), Grundwissen Grammatik. Für den Bachelor, S. 144; vgl. DG, S. 144–145. 34 Zifonun, Hoffmann et al., Grammatik der deutschen Sprache, S. 1775. 35 Dem »Rahmentext« in DG, S. 535.



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spezifischen Kontext bzw. Kotext unterschiedlich bewertet werden und zu einer unterschiedlichen Perspektivierungsleistung beitragen. Von diesen Prämissen ausgehend werden im Folgenden einige grammatisch-linguistische Merkmale hervorgehoben, die die ER signalisieren, um somit das polyphone Phänomen in Fontanes Erzähldiskurs exemplarisch zu beleuchten.

III.1 Responsivpartikeln in Kombination mit Modalverben und Impersonalformen Im Mittelpunkt des folgenden Textauszugs steht die vergangene und gegenwärtig immer noch erkennbare Schönheit von Hradschecks Frau. Nach dem Tod der beiden Kinder trägt Ursel schwarze Kleider, aber sie ist immer »sorglich gekleidet« und ihr Glück und Unglück fallen ständig auf: Dabei trat er freundlich an sie heran und streichelte sie mit seiner weißen, fleischigen Hand. Sie ließ ihn auch gewähren, und als sie, wie beschwichtigt durch seine Liebkosungen, von ihrer Arbeit aufsah, sah man, daß es ihrerzeit eine sehr schöne Frau gewesen sein mußte, ja, sie war es beinah noch. Aber man sah auch, daß sie viel erlebt hatte, Glück und Unglück, Lieb und Leid, und durch allerlei schwere Schulen gegangen war.36

Im Sinne Weinrichs37 kommen im Textauszug weder Kommunikationsverben noch ein verbales Referenzsignal, das die Dialogfrequenz oder die Modalität der Äußerung kennzeichnet, vor; vielmehr weisen hier weitere verbale und nominale Referenzsignale auf die subjektive Stellungnahme bzw. auf ein positives – wenn auch nicht direkt geäußertes – Gefühl hin, als ob eine Filmkamera den Blick und die Haltung der Figur immer detaillierter fokussierte; darunter sind das dreimal vorkommende Verb (auf )sehen, das Modalverb müssen, die »Responsivpartikel« oder »Antwortpartikel«38 ja und die umgangssprachliche adverbiale Form beinah. Das in dieser kurzen Passage dreimal wiederholte Verb sehen kennzeichnet ein für die Erkennung der Gedankenwiedergabe wesentliches Blickspiel, das sich auf den Sinn des Sehens, nämlich auf einen ersten Blickaustausch zwischen Ursel und Hradscheck gründet. Die Szene ist klar: Ursel sitzt in der Hinterstube und flicht »eifrig an einem Kranz«. Als Hradscheck an sie herantritt und sie streichelt, hebt sie den Blick (als sie … aufsah) und lässt sich bewundern 36 UB, S. 10. Die für die Analyse wesentlichen grammatisch-linguistischen Merkmale in den ausgewählten Textauszügen werden kursiv markiert. 37 TG, S. 898–900. 38 DG, S. 608.

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(sah man …). Aber von wem? Wen bezeichnet das Indefinitpronomen man in dem Satz sah man, daß …? Deutet es nur Hradscheck an, der allein mit seiner Frau ist und sie gerade mit einer Neigung streichelt, die die beiden »vor länger oder kürzer zusammengeführt hatte«?39 Oder – wie es »meist«40 geschieht – bezieht es sich auf »mehrere Personen, die der Sprecher nicht näher bestimmen will oder kann«,41 d. h. sowohl auf Hradscheck als auch auf den Erzähler und somit auf den Leser? Nicht nur kennzeichnen das Modalverb mußte und der darauffolgende Satz mit Anfangspartikel (ja) das ›polyphone‹ Blickspiel und verschleiern somit die Grenze zwischen Figuren- und Erzählerstimme, sondern auch das dritte und letzte Vorkommen des Verbs sehen (Aber man sah auch …) deutet auf eine Verschmelzung der Blickwinkel hin, denn darin erleben Erzähler und Leser zusammen mit Hradscheck die erneute Wahrnehmung der vergangenen Schönheit und des glücklich-unglücklichen Schicksals der Frau. Die Szene ist deshalb nur scheinbar allein durch die Augen der Figur geschildert und die mit dem Indefinitum man gemachte Aussage bezieht sich nur scheinbar auf die »besondere Situation« zwischen Mann und Frau und so allein auf den Blickwinkel des Mannes; die Aussage ist »eher allgemeingültig gemeint«42 und das Indefinitpronomen man kennzeichnet zugleich die beiden Perspektiven der Figur und des Erzählers. Da das Indefinitpronomen man (sah man, daß) eine Verschmelzung (mindestens) dreier Blickwinkel – Figur, Erzähler, Leser – andeutet, kann auch die epistemische Folgerungsvalenz des Modalverbs müssen43 (gewesen sein mußte) nicht nur Hradscheck betreffen (er weiß längst, wie schön seine Frau ihrerzeit bzw. in früheren Zeiten aussah), sondern muss auch den Erzähler einschließen, der durch die Augen der Figur die Schönheit der Frau ›plötzlich‹ erkennt und den Leser erkennen lässt. Die temporale Subjunktion als bezeichnet nämlich das Zeitverhältnis zwischen dem Geschehen im Nebensatz (als sie … aufsah) und dem im darauffolgenden übergeordneten Satz (sah man); in diesem Kotext drückt sie aber auch eine vorzeitige Zeitrelation aus, denn man (bzw. Erzähler und Leser durch Hradschecks Augen) sieht (sah) die Schönheit der Frau erst, nachdem Ursel ihren Blick zu ihrem Mann erhoben hat.44 Mit dem »modalisierten Satz« (gewesen sein mußte) macht der Erzähler keine unmittelbare Aussage über die von Hradscheck schon gekannte Wirklichkeit, sondern über einen höchstwahrscheinlich früheren Umstand, der aus der Perspektive ande39 UB, S. 10. 40 DG, S. 321. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. ebd., S. 570–572. 44 Vgl. ebd., S. 638.



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rer Beobachter nur als möglich im Vergleich zum bestimmten bzw. sicheren Wissensbestand Hradschecks angenommen werden kann.45 Formal betrachtet begegnet »die epistemische Verwendungsweise« des finiten Modalverbs müssen vornehmlich, weil es »sich mit dem Infinitiv Perfekt (›Infinitiv II‹) verbindet«;46 inhaltlich betrachtet ist aber »der relevante Redehintergrund« epistemisch, weil er auf das vergangene und gegenwärtige sichere Wissen der Figur bezogen ist. Gleich neben dem Modalverb müssen begegnet im vorliegenden Textauszug die ›Responsivpartikel‹ ja, die eine Art Verbindung zwischen zwei Sätzen darstellt, nämlich dem über die höchstwahrscheinliche frühere Schönheit (eine sehr schöne Frau gewesen sein mußte) und dem über den tatsächlichen vergangenen und noch gegenwärtigen Charme der Frau (sie war es beinah noch). Demgemäß ertönt ja zwar als eine bestätigende Antwort, doch nicht typischerweise auf eine Entscheidungsfrage, sondern auf die im vorigen Satz mit dem epistemischen Modalverb ausgedrückte Bewertung über die frühere Schönheit der Frau (gewesen sein mußte): Als »sehr häufig gebrauchte Form« zeigt sie – wie die entsprechende Modalpartikel – dem Hörer, dass er den Sachverhalt »als bekannt ansehen soll«,47 und drückt somit Zustimmung aus. Im Gegensatz zu den meisten anderen Partikelarten, und wie die zwei Kommas um sie zeigen, ist ja auch hier satzwertig und bildet eine vollständige und betonte Äußerung.48 In einer DR hätte nämlich der Autor sie wahrscheinlich als Abtönungspartikel vorher im Satz eingeführt (*es/sie muß ihrerzeit ja schön gewesen sein) – und zwar im Mittelfeld und vor der rhematischen Information –, während er sie in einer entsprechenden IR (wie hier mit daß-Satz) wahrscheinlich ausgelassen hätte (*es/sie muß ihrerzeit schön gewesen sein). Dementsprechend kommt im Textauszug vor allem diese kleine Partikel als der Vermittler von Hradschecks Einstellung vor, d. h. von seiner Bewertung bezüglich des vom Erzähler gerade geäußerten Sachverhalts, nämlich die noch gegenwärtige Schönheit der Frau; hätte der Autor sie nicht wiedergegeben und an ihrer Stelle z. B. den koordinativen Junktor und bevorzugt (*und sie war es beinah noch), hätte der Satz keine auf die Stimme der Figur verweisende Funktion gehabt und wäre Teil nur des Erzählerberichts geblieben. In präteritalen Kontexten können Adverbien wie beinahe sich mit dem Vergangenheitstempus sowohl des Konjunktivs als auch des Indikativs verbinden, aber »unter Umständen geht der Modusunterschied mit subtilen Bedeutungsunterschieden einher«; ihrer Bedeutung entsprechend verbinden sich 45 46 47 48

Vgl. ebd., S. 570. Ebd., S. 571. TG, S. 844; vgl. auch ebd., S. 836. Vgl. DG, S. 608.

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aber diese Adverbien regelmäßig mit dem des irrealen Konjunktivs II, womit ausgedrückt wird, dass es »nicht zu dem beschriebenen Geschehen kam«.49 Anders als bei dieser regelmäßigen Norm wird im Text die umgangssprachliche adverbiale Form beinah im indikativischen präteritalen Kotext zur Betonung eines wirklichen Sachverhalts verwendet, nämlich der den Augen ihres Mannes noch auffallenden Schönheit der Frau.

III.2 Ausrufe- und Fragesätze in Kombination mit Ellipsen Hradscheck ist im Garten und bewundert glücklich und friedlich seinen kleinen Besitz, auf den er sehr stolz ist. Er schaut sich um und bleibt eine Weile in seine Gedanken versunken: [Hradscheck] ging vielmehr rechnend und wägend zwischen den Rabatten hin und her und kam erst zu Betrachtung und Bewusstsein, als er, am Ende des Gartens angekommen, sich umsah und nun die Rückseite seines Hauses vor sich hatte. Da lag es, sauber und freundlich, links die sich von der Straße her bis in den Garten hinziehende Kegelbahn, rechts der Hof samt dem Küchenhaus, das er erst neuerdings an den Laden angebaut hatte. Der kaum vom Winde bewegte Rauch stieg sonnenbeschienen auf und gab ein Bild von Glück und Frieden. Und das war alles sein! Aber wie lange noch? Er sann ängstlich nach und fuhr aus seinem Sinnen erst auf, als er, ein paar Schritte von sich entfernt, eine große, durch ihre Schwere und Reife sich von selbst ablösende Malvasierbirne mit eigentümlich dumpfem Ton aufklatschen hörte.50

Hradschecks Gedanken sind von den Stimuli begleitet, die er durch seine drei Sinne des Sehens, Riechens und Hörens bekommt. Unter semantischem Gesichtspunkt kann man hier dementsprechend drei Typen von verbalen Referenzsignalen einer erlebten Redewiedergabe erkennen, unter denen die semantische Kennzeichnung des Sehens vorherrscht. Nach den zwei Kommunikationsverben bzw. Verben des Meinens in der Partizip-I-Form (rechnend und wägend), denen am Ende der Passage noch eine zweifache Referenz auf das Meinen folgt (sann … nach; fuhr aus seinem Sinnen auf), kommen zwei von Kommunikationsverben abgeleitete Nomina (Betrachtung und Bewusstsein) vor, dann vier Referenzsignale auf das Sehen (sich umsah, vor sich hatte, da lag es …, links … rechts), eines auf den Sinn des Riechens (Der Rauch stieg … auf) und ganz am Ende eines auf das Hören (aufklatschen hörte). Das ganze Bild des Gartens – das allmählich »ein Bild von Glück und Frieden« wird – ist somit durch Hradschecks Augen gegeben und der Hinweis auf das Innere der Figur ist zwar deutlich, doch auch in diesem Fall kommen Signale vor, die die Grenze zwischen Beschriebenem und Erzähltem verhüllen; zwei Sätze, ein 49 Ebd., S. 532. 50 UB, S. 7.



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Ausrufesatz und ein Fragesatz, sollen deshalb als ein weiteres Beispiel der ERWiedergabe erkannt werden. Der Ausrufesatz (Und das war alles sein!) ist ein Exklamativsatz mit finitem Verb an zweiter Stelle, »der mit Nachdruck geäußert wird«.51 Dass es hier um eine polyphone ER-Wiedergabeform geht, ist an drei im Satz enthaltenen linguistischen Merkmalen erkennbar, nämlich dem Ausrufezeichen, dem Possessivpronomen sein und der Präteritum-Form war. Das Ausrufezeichen signalisiert, dass die fünf Wörter als ein spontaner innerer Ausruf der Figur zu erkennen sind, die beim Rechnen und Wägen im Garten »zu Betrachtung und Bewusstsein« kommt. Das Possessivpronomen sein und die Präteritum-Form war werden dagegen an die Perspektive des Berichtenden angepasst52 und signalisieren, dass der Erzähler sich mit seinem äußeren Gesichtspunkt in die Betrachtung und das Bewusstsein der Figur einmischt und so gleichzeitig ihre ›eigene‹ und doch in der dritten Person wiedergegebene Perspektive spüren lassen will. Für die Wiedergabe eines direkten Ausrufs der Figur, also in DR, hätte nämlich der Autor nicht nur das Tempus in der Präsens-Form (*ist), sondern auch das Pronomen in der ersten Person Singular (*mein) verwendet und selbstverständlich das Ausrufezeichen beibehalten; denn deiktische Pronomen, d. h. sprecherabhängige Ausdrücke in einer DR, sind immer aus der SprecherPerspektive gewählt53 und können nur u. U. »unversetzt« aus der DR in eine andere indirekte Wiedergabe-Form übernommen sein.54 Der mit Fragezeichen gekennzeichnete Fragesatz (Aber wie lange noch?) ist ein w-Interrogativsatz mit adversativer Konjunktion (aber) und einer w-Phrase (wie) im Vorfeld.55 Die Konjunktion drückt einen Zweifel, d. h. eine Art fragwürdiger, wenn nicht schon enttäuschter Erwartung des Sprechers bzw. der Figur aus. Dazu entspricht der Interrogativsatz »in der Form nicht dem prototypischen schriftsprachlichen Satz mit Referenz und Prädikation«, weil dieser Typus »nicht satzförmiger Äußerungen«56 kein finites Verb enthält. Die zwei zuvor genannten sind aus folgenden Gründen Merkmale der direkten mündlichen Kommunikation, welche die Stimme der Figur erkennen lassen: das für direkte Fragestellungen typische Fragezeichen und die Auslassung des finiten Verbs. Der Satz lautet nämlich auf dieselbe Weise, wie sie in einer DR 51 DG, S. 902. Vgl. Peter Eisenberg, Grundriss der deutschen Grammatik, Stuttgart/Weimar 2013, S. 52–54, 372–379. 52 Vgl. ebd., S. 1059. 53 Vgl. ebd., S. 549. 54 Vgl. ebd., S. 539. 55 Vgl. ebd., S. 900, 902. Nach Weinrich geht es um ein Satzglied mit Frage-Morphem (TG, S. 883–884). 56 DG, S. 1229, 1230.

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(wie auch in einem IM) lauten würde, da kein Tempus oder Modus die ›indirekte‹ Gedankenwiedergabeform begrenzen. Trotz der Verb-Auslassung werden jedoch derartige Interrogativsätze »nicht in dem Sinne ›unvollständig‹«57 verstanden, dass der Leser eine Vervollständigung erwarten könnte; da der Zweifel der Figur und so der ganze Satz als eine ›direkt‹ von ihr ausgedrückte Frage wahrgenommen wird, wird der Satz jedenfalls als eine vollständige kommunikative Handlung empfunden. Die Form und die Bedeutung dieser elliptischen Satzstruktur lassen sich schließlich am besten durch den Bezug auf eine ausformulierte Struktur verstehen, nämlich durch die Ausführung einer Erweiterungsprobe, die deutlich machen soll, »dass der elliptische Ausdruck Satzwert hat«.58 So ist der elliptische Fragesatz (Aber wie lange noch?) im Sinne einer direkten Frage aus der mündlichen Kommunikation (*Aber wie lange wird das alles noch mein sein?) zu verstehen. Auch im folgenden Textauszug hat die ER-Wiedergabe zwar die Form eines Frage- und Aussagesatzes, doch wieder führen keine spezifischen Referenzsignale die Figurenstimme im vorausgehenden oder nachfolgenden Kotext ein. Eher der situative Kontext, aus dem der Leser weiß, dass der Gendarm Geelhaar gerade allein in Hradschecks Haus zurückgeblieben ist, bietet den Umstand für ein »Erlebtes Denken«59 an. Hradscheck ist gerade im Keller »allem Anscheine nach« tot gefunden worden, aber Geelhaar macht »nicht viel von der Sache«, weil er diese nicht anders als »ein[en] Fall mehr« beurteilt. Seinen »Polizei-Kehrmichnichtdran« gibt Fontane durch drei hintereinanderstehende Sätze in ER wieder, einen Fragesatz (Was war es denn auch groß?) und zwei Aussagesätze (Ein Fall mehr / Darüber ging die Welt …): Geelhaar war im Hradscheckschen Hause zurückgeblieben. Er hatte den Polizei-Kehrmichnichtdran und machte nicht viel von der Sache. Was war es denn auch groß? Ein Fall mehr. Darüber ging die Welt noch lange nicht aus den Fugen. Und so ging er denn in den Laden, legte die Hand auf Edes Kopf und sagte: »Hör, Ede, das war heut ein bißchen scharf. So zwei Dodige gleich morgens um neun! Na, schenk mal was ein. Was nehmen wir denn?« »Na, ’nen Rum, Herr Geelhaar.« »Nei, Rum is mir heute zu schwach. Gib erst ’nen Kognak. Und dann ein’ Rum.« Ede schenkte mit zitternder Hand ein. Geelhaars Hand aber war um so sicherer. Als er ein paar Gläser geleert hatte, ging er in den Garten […].60

Während das Präteritum im ersten und dritten Satz auf die äußere Perspektive des Erzählers deutet, der sich gerade in die Gedanken der Figur einmischt, ist 57 58 59 60

Ebd., S. 905. Ebd., S. 906. Ebd., S. 536. UB, S. 126.



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der elliptische Satz das Signal für die Stimme der Zentralfigur, nämlich des Gendarmen Geelhaar; ferner, da die Anführungszeichen fehlen, soll eher eine ER erkannt werden. Die drei vom Autor in ER wiedergegebenen Sätze haben also die Funktion, beide Stimmen – die der Figur und die des Erzählers – hören zu lassen: Die Figur rechtfertigt dadurch die zwei Gläser Kognak und Rum, die sie kurz hintereinander leert; der Erzähler berichtet darüber (Als er ein paar Gläser geleert hatte …) und folgt ihr in ihrer Rechtfertigung mit der Präteritum-Form (Was war es …; Darüber ging …); trotzdem sind die beiden Stimmen auch in diesem Fall nicht einfach abgrenzbar, denn die Eigentümlichkeiten der einen mischen sich mit jenen der anderen. Das Fragezeichen am Ende des Interrogativsatzes (Was war es …?) ist das erste Merkmal einer direkt ausgesprochenen w-Frage, die textuell durch das Schlusszeichen »zum Weiterdenken und Weiterlesen« auffordert;61 darin erklingen die zwei nebeneinanderstehenden Abtönungspartikeln (denn auch) als Ausdruck der Sprecher- bzw. Figureneinstellung. Als textuelle Kontaktsignale und wichtigste Vermittler von sehr differenzierten Einstellungen, Bewertungen oder Erwartungen des Sprechers bezüglich des geäußerten Sachverhalts werden nämlich Abtönungspartikeln bzw. Modalpartikeln vorzugsweise im mündlichen Sprachverkehr gebraucht;62 hier beziehen sie sich eher auf den gesamten Satz, sind aber syntaktisch auf das Mittelfeld der Verbalklammer beschränkt, in dem sie meist vor der rhematischen Information stehen und folglich keine Antwort auf Fragen bilden.63 Da aber der Autor als Tempus ein Präteritum (war) verwendet, lässt die direkte Frage gleichzeitig auch die Stimme des Erzählers hören und kommt vielmehr als eine polyphone bzw. zweistimmige ER-Wiedergabeform vor. Auch die Auslassung des finiten Verbs im elliptischen Satz (Ein Fall mehr) kann als Signal für einen direkt geäußerten Ausdruck gelesen werden, in dem weder das Tempus noch der Modus eine indirekte Gedankenwiedergabeform begrenzen. Der Bezug auf eine ausformulierte Struktur durch die Ausführung einer Erweiterungsprobe (Das ist/war nur ein Fall mehr; Es geht/ging nur um einen Fall mehr) soll schließlich auch hier die direkte Formulierung aus der mündlichen Kommunikation verdeutlichen.64 Schließlich ist der umgangssprachliche Ausdruck bzw. die idiomatische Wendung über die Unmöglichkeit der Weltzerstörung (Darüber ging … aus 61 DG, S. 1080. 62 Vgl. TG, S. 841–843; DG, S. 603. Die Dudengrammatik kennzeichnet sie als sowohl »Abtönungspartikeln« wie auch »Modalpartikeln« (ebd., S. 602–606), Weinrich nur als »Modalpartikeln« (TG, S. 841–857). 63 Vgl. DG, S. 603; TG, S. 841. 64 Vgl. DG, S. 131–132, 905–906.

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den Fugen) das letzte Merkmal eines von der Figur geäußerten Satzes, der sich jedoch gleichzeitig wegen der Präteritum-Form (ging) mit der berichtenden Erzählerstimme vermischt und wieder einen zweistimmigen ER-Satz bildet. Ferner, da das Adverb lange in Verbindung mit einem nachgestellten nicht vorkommt, nimmt es die Bedeutung von bei weitem, längst, weitaus65 an.

III.3 Weitere Elemente der gesprochenen Sprache Im folgenden Textauszug ist Hradscheck wieder in seinem Garten, aber er fürchtet, dass die Nachbarin Mutter Jeschke – die im Dorf für ihre Rätsel, Anspielungen und Geistergeschichten bekannt ist und als ›Hexe‹ bezeichnet wird – seine Gedanken und sogar seinen Plan erfassen kann: Und er lugte wirklich nach der Zaunstelle hinüber. Gott sei Dank, die Jeschke war nicht da. Aber freilich, wenn sie sich unsichtbar machen und sogar Tote sehen konnte, Tote, die noch nicht tot waren, warum sollte sie nicht die Gestalten sehn, die jetzt vor seiner Seele standen? Ein Grauen überlief ihn, nicht vor der Tat, nein, aber bei dem Gedanken, daß das, was erst Tat werden sollte, vielleicht in diesem Augenblicke schon erkannt und verraten war. Er zitterte, bis er, sich plötzlich aufraffend, den Spaten wieder in den Boden stieß.66

Das Verb hinüberlugen gilt hier zwar als Referenzsignal der Figurenperspektive, die jedoch sofort von der Erzählerstimme gesteuert und mit dieser gemischt wird: Elemente aus der mündlichen Kommunikation wie ein Ausruf, ein Artikelwort, ein Orts- und ein Zeitadverb, welche die Figurenperspektive bzw. ihre innere Überlegung kennzeichnen sollen, mischen sich mit dem vom Präteritum gekennzeichneten Erzählerbericht und bilden somit eine zweistimmige ER-Passage. Die Figurenperspektive wird durch spezifische Ausdrücke betont, nämlich einen Wunschsatz, das Artikelwort vor Personennamen, drei Adverbien und einen Bedingungssatz. Die Gestalt eines Wunschsatzes oder ›Desiderativsatzes‹ kann unterschiedlich sein und der Wunsch des Sprechers kann z. B. die Form eines Verberst-, Verbzweit- oder Verbletzt-Satzes annehmen;67 in diesem Textauszug hat er die Form eines Verbzweit-Wunschsatzes (Gott sei Dank). In kurzen und selbständigen Verbzweitsätzen wie diesem, in denen das Verb in der dritten Person steht, verwendet der Sprecher den »volitiven« Konjunktiv I,68 um zwar einen Wunsch, 65 Die in der Dudengrammatik als prototypisch gegebenen Beispiele lauten folgendermaßen: »das ist [noch] lange nicht alles«; »er spielt lange nicht so gut wie du«; »dort ist es längst nicht so schön wie hier« (DG, S. 990–991, 1796). 66 UB, S. 16. 67 Vgl. DG, S. 904–905. 68 Ebd., S. 548.



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eine Bitte oder Aufforderung auszudrücken, die jedoch an keinen Gesprächspartner gerichtet sind, sondern eher an sich selbst. Gott sei Dank ist nämlich ein umgangssprachlicher »Ausruf der Erleichterung«69 von Hradscheck, dessen synonymische Termini – zum Glück, erfreulicherweise, glücklicherweise – in der alltäglichen mündlichen Kommunikation verwendet werden. Zur Benennung der Nachbarin, Frau Jeschke, verwendet Hradscheck den Personennamen mit Artikelwort (die Jeschke). Im Bereich der Personennamen ist kein Artikel – weder der anaphorische noch der kataphorische – als Begleiter im Gebrauch;70 infolgedessen sollte zwar der artikellose Gebrauch vorherrschen, doch in der gesprochenen (Umgangs-)Sprache hat sich »der primäre Artikelgebrauch auf Kosten der Artikellosigkeit«71 immer mehr ausgebreitet, wie z.  B. in der heutigen Jugendsprache, so etwa in der schriftgebundenen Kommunikation der Internetforen. Diese umgangssprachliche Gewohnheit drückt gelegentlich Bewunderung, Abwertung oder – wie in Fontanes Textpassage – Distanz aus;72 Hradscheck verwendet den Eigennamen zur Referenz auf die offenbar abwesende alte Frau: Seine Anwendung des Artikels präsupponiert, dass die betreffende Person bekannt ist, aber sie hat auch einen stärker hinweisenden Charakter als die einfache Verwendung des Namens.73 Die drei Adverbien sind da, freilich und jetzt. Das statische Orts- bzw. Lokaladverb da74 situiert das Geschehen bzw. das ›Nicht-da-Sein‹ einer Person – hier Frau Jeschke – in dem von der Figur gemeinten Raum, d. h. hier in Hradschecks Nähe bzw. in dem daneben liegenden Garten. Das Adverb kommt so als eine »adverbiale Ergänzung«75 vor, da es in der Semantik des Verbs vorangelegt ist und deshalb nicht weggelassen werden kann: Ohne es hätte der Satz einen unvollendeten Sinn. Als Kommentaradverbial drückt es aus, wie die Figur – und nicht der Erzähler – »die Gültigkeit des berichteten Sachverhalts« beurteilt, d. h. welche Einstellung sie hat und »welche Absicht sie mit der Äußerung« verfolgt.76

69 Duden-Redaktion (Hrsg.), Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim/Leipzig et al. 2003, S. 668. 70 Vgl. TG, S. 423–426. 71 DG, S. 301. 72 Der Artikelgebrauch entfaltet seine Wirkung vor allem dort, wo sonst die Artikellosigkeit im Gebrauch dominiert; dazu variiert die Personenreferenz mit Artikelwort regional: Im Süddeutschen ist sie häufiger, doch gelegentlich wird – als dialektale Form – auch im nördlichen Plattdeutsch gebraucht. Vgl. DG, S. 301; TG, S. 424. 73 DG, S. 299–302; vgl. auch TG, S. 423–426. 74 Vgl. DG, S. 585–586. 75 Ebd., S. 799. 76 Ebd., S. 794.

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Das Adverb freilich kann eine doppelte Bedeutung haben: Einerseits kann es jedoch, hingegen, allerdings bedeuten, deren Synonyme doch, dennoch, dagegen sind; andererseits kann es ja, natürlich, selbstverständlich, gewiss doch bedeuten, deren Synonyme auf alle Fälle, auf jeden Fall, bestimmt, sicher, unbedingt sind.77 In dieser Passage (Aber freilich) trägt das Adverb zur Verstärkung der Figureneinstellung bei und wird im Sinne der ersten Verwendungsweise mit der Konnotation allerdings verwendet. Schließlich stellt auch das Temporaladverb jetzt die temporale Beziehung hinsichtlich des Zeitpunkts der Figur78 dar, weil die direkt wiedergegebene zeitbezügliche Angabe nicht umgeformt wird und somit die Sichtweise der Figur in Bezug auf die von ihr erlebte Zeit wie bei einer ursprünglichen DR gewahrt bleibt, denn wie die meisten Adverbien (jetzt hier, dort, damals, heute, gestern) gehört auch dieses Adverb zu den deiktischen Mitteln der Sprache.79 Hier geht es aber um keine erzählte Zeit – in der das Temporaladverb jetzt einem Ausdruck wie in jenem Augenblick entsprechen würde –, sondern um eine besprochene Zeit, in der das phorisch-deiktische Adverb den erzählten Sachverhalt temporal in die Zeit bzw. in das Moment der Überlegung Hradschecks situiert und folglich den Bezugspunkt deiktisch bei der Figur und phorisch im Text setzt.80 Das Adverb freilich führt seinerseits ein »faktisches wenn« ein (wenn … warum), das als konditionaler, bedingender Konnektor »einen gedachten wenndann-Zusammenhang zwischen zwei Aussagen«81 versprachlicht. In diesem Fall steht aber der Bedingungssatz im Indikativ, einer Form, die alltagssprachlich auch dazu genutzt wird, um »eine notwendige Konsequenz aus einem nicht infrage stehenden Sachverhalt im bedingenden Satz zu formulieren«.82 Die Formulierung ist deshalb auf die Figurenperspektive zurückzuführen. Das gleichzeitige Eingreifen des Erzählers in die Stimme der Figur ist an weiteren linguistischen Signalen zu erkennen, welche die Mischung des Beschriebenen mit dem Erzählten, d. h. die Umsetzung des Gedankeninhalts der Figur in die indirekte Perspektive des Erzählers belegen; es sind die PräteritumFormen, das Possessivadjektiv sein und die Ausdruckspartikel nein. Die ERForm begegnet auch hier (wie regelmäßig) in einem indikativischen präteritalen Erzähltext (war; machen/sehen konnte; waren; standen) und unterscheidet 77 78 79 80 81 82

Duden-Redaktion (Hrsg.), Deutsches Universalwörterbuch, S. 573. Vgl. DG, S. 587. Vgl. ebd., S. 507. Vgl. ebd., S. 589. Ebd., S. 1102, S. 1099. Ebd., S. 1102.



Fontanes Anwendung der erlebten Rede in »Unterm Birnbaum«

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sich deshalb nicht von dem umgebenden präteritalen Erzähltext im Indikativ,83 weil Präteritum-Formen eher das Tempus der Erzählerstimme kennzeichnen.84 Es geht hier wieder um die typische Erscheinung der »syntaktisch unabhängigen indirekten Gedankenwiedergabe«, also um »erlebtes Denken«:85 Der grauenerregende Gedanke der Figur wäre nämlich als Originalstimme in einer DR durch das Präsens wiedergegeben (ist; machen/sehen kann; sind; stehen). Dasselbe würde dem Possessivadjektiv sein in dem Ausdruck seiner Seele geschehen, denn in einer direkten Gedankenwiedergabe sollte die erste Person des Possessivpronomens (mein) verwendet werden, eine Form, die auch für einen IM gebraucht würde. Schließlich, wer spricht jenes nein plötzlich aus? Sollte es als einstimmig oder als zweistimmig interpretiert werden? Hier soll es eher einer ER entsprechen, in der die Partikel der Vermittler des doppelten Blickwinkels, der Figur und des Erzählers, ist und so polyphonisch ertönt. Dieses nein kommt nun als eine direkt von der Figur geäußerte Bewertung vor, hier als ihre emotionale Reaktion auf den vom Erzähler geäußerten Sachverhalt, nämlich dem plötzlichen Grauen vor einem Gedanken (nicht vor der Tat / aber bei dem Gedanken). Da es jedoch der Erzähler ist, der in der dritten Person von diesem plötzlichen Grauen der Figur berichtet und seine eigene Unterscheidung zwischen Tat und Gedanke beschreibt, kann das nein gleichzeitig auch als Teil des Erzählerberichts gelesen werden und somit als zweite Verdeutlichung einer wiederholten Einmischung der Erzählerstimme in die Perspektive der Figur.

IV. Schlussbetrachtungen Die grammatisch-linguistische Analyse der ER-Wiedergabeform in der Kriminalerzählung Unterm Birnbaum hat gezeigt, dass Fontanes Prosa durch die Mimesis mündlicher Rede, d.  h. durch die Mimesis der Figurenrede bzw. Figurensprache, mit der Erzählerrede bzw. Erzählersprache oft zu einem »zweistimmige[n] Wort« wird.86 Die Analyse verschiedener Textauszüge hat deutlich gemacht, wie oft die Stimme der Figur und die des Erzählers zwar miteinander verschmolzen vorkommen und dennoch irgendwie getrennt bleiben, weil die Merkmale der ›direkten‹ Figurenrede bzw. des Figurenbewusstseins innerhalb der grammatischen Form der Erzählerrede verwendet werden. 83 Vgl. ebd., S. 537. 84 Vgl. ebd., S. 507. 85 Ebd., S. 536. 86 Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. 41.

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Die Geschichte in Unterm Birnbaum spielt in der typischen Fontane-Gesellschaft in Preußen, in welcher der Autor dank seines Plauderstils »teils offen, teils versteckt die Menschen in ihrer gesellschaftlichen und zeitgebundenen Abhängigkeit« darstellt.87 Die Perspektive der ER-Wiedergabe hat sich als ein besonderer Weg zur Gestaltung der gesellschaftlichen Individuen bewiesen, die Fontane in seinem eigenen gesellschaftlichen Gewebe dargestellt hat. Die feinen Unterschiede innerhalb dieses Gewebes konnte er mit seiner menschlichen und literarischen Sprachsensibilität durch die Vielstimmigkeit gesellschaftlicher Sprachspiele in die Redevielfalt seiner Romanfiguren meisterhaft inszenieren.88 Auch in Fontanes Kriminalerzählung erzeugt die ER eine erzählerische Spannung zwischen »Identifikation und Distanzierung«,89 die Fontane als eine Spannung von »Psychographie und Kritik«90 erkannte, in welcher er eine »Orchestrierung«91 des sprachlichen Mikrokosmos der Figuren mit dem historisch-sozialen Makrokosmos realisierte. Demgemäß kann man wohl mit Mecklenburg92 abschließend sagen, dass das Geheimnis der Erzählkunst Fontanes darin besteht, immer wieder Spannungsfelder zwischen einer »mimetischen Mündlichkeit« und einer »poetisch bearbeiteten Schriftlichkeit« aufzubauen.

87 Brüchert, Platt neben Hoch in der deutschen Literatur, S. 28. 88 Vgl. Mecklenburg, Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, S. IX. 89 Ebd., S. 54. 90 Zitiert nach ebd., S. 51. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 9–10.

IV  Grenzen und Grenzüberschreitungen in topographischen und gesellschaftlichtopologischen Konstellationen

Spiel und Ernst der Grenzen

Zur Grenzproblematik in Fontanes Roman »Unwiederbringlich« Maja Razbojnikova-Frateva Orte, Landschaften, Architektur und Interieur im literarischen Werk von Theodor Fontane bilden nicht nur realistische Kulissen oder einen stimmungsvollen Hintergrund der Handlung. Sie sind so sorgfältig ausgesucht und so bedacht geschildert, dass ihnen eine symbolische Fracht aufgeladen wird und sie die Bedeutung der sich davor oder darin abspielenden Ereignisse oder Gespräche mitzugestalten beginnen. Der kulturwissenschaftliche spatial turn in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts legte es nahe, sich mit dem Werk Fontanes intensiver gerade unter diesem Blickwinkel auseinanderzusetzen. Die spezielle Affinität Fontanes zur raffinierten Nutzung und Gestaltung des Räumlichen schließt unvermeidlich auch die Einbeziehung von Grenzen mit ein, da diese grundsätzlich den Raum bilden und gestalten. Seine Stoffe bezog Fontane bekanntlich vielfach aus der Chronique scandaleuse seiner Zeit und im literarischen Werk finden sich überall Fälle und Figuren, die die geltenden Normen und Regeln herausfordern und überschreiten. Somit gelangen auch metaphorische Grenzen und Grenzüberschreitungen in den Blick. Dazu spielen in Fontanes Texten die feinen Unterscheidungen, die kunstvoll aufgebauten Oppositionen, das umsichtig geknüpfte Netz von offensichtlichen oder nur angedeuteten Regelverletzungen und Normenverstößen eine wichtige Rolle. Vom Räumlich-Gestalterischen, vom Inhaltlichen und vom Erzählerischen her dürfte sich die Grenze bei der Betrachtung der Romane als ergiebiger Untersuchungsgegenstand erweisen. Der Begriff der Grenze selbst gewinnt infolge der besonderen politischen Entwicklungen und Situationen im ausgehenden 20. Jahrhundert eine neue Aktualität für Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaften, die im neuen Jahrhundert nicht nur anhält, sondern sogar intensiviert wird und Ausdruck in der ausufernden Begriffsbildung mit dem Präfix ›trans‹ findet: Transkulturalität, Transnationalität, Transmigration, Transdifferenz etc. In der Fontane-Forschung kreuzen sich die angeführten allgemeinen Tendenzen und fördern neue Betrachtungsperspektiven, Interpretationen und überraschende Entdeckungen zutage. https://doi.org/10.1515/9783110735710-022

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I. Grenzen, Karten, Raum in der Fontane-Forschung Von den Romanen Fontanes, die meistens den Namen einer Hauptfigur oder einer Lokalität tragen, tanzen nur sein Erstlingswerk Vor dem Sturm (1878) und der 1891 erschienene Roman Unwiederbringlich aus der Reihe. Der späte Roman führt bereits in seinem Titel einen Verlust oder eine Tat ein, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die radikale Überschreitung ohne Umkehr und somit auch die Präsenz von Grenzen werden nahegelegt. Es ist daher verständlich, dass die Aufmerksamkeit der Fontane-Forscherinnen und Forscher, die das Interesse für die geistes- und literaturwissenschaftliche Raumforschung und die Grenzproblematik teilen, vor allem diesem Werk gilt.1 Anke Kramer thematisiert die Grenzen im Roman unter dem Blickwinkel des Zusammenhangs zwischen Tradition und Transgression und stellt fest: Topographie und Handlung des Texts eröffnen als bestimmende Struktur den Gegensatz zwischen einem Bereich der bestehenden symbolischen Ordnung und einem Bereich, in dem diese Ordnung nur eingeschränkt gültig ist […].2

Rolf Parr lenkt die Aufmerksamkeit auf die geographisch-kulturellen Konstruktionen bei Fontane: Sie basieren alle »auf kombinierbaren Sets von topographischen und nicht-topographischen Gegensätzen wie ›gebildet‹ versus ›nicht gebildet‹, ›Norden‹ versus ›Süden‹, ›Ferne‹ versus ›Nähe‹, ›bekannt‹ versus ›fremd‹, ›alt‹ versus ›neu‹, ›Kultur haben‹ versus ›keine Kultur haben‹«3 und formieren einen narrativen »Baukasten«.4 An einer Reihe von Texten veranschaulicht Parr Fontanes Arbeit mit solchen eigenständig konstruierten Karten. Die Opposition »altes« versus »neues Schloss« steht im Roman Unwiederbringlich im Zusammenhang mit der Semantisierung von Schleswig-Holstein und Dänemark als einer weiteren Opposition; in Dänemark werde im Verlauf der Handlung eine andere imaginäre Karte entlang des Gegensatzes von »Natur« und »Kultur«, von »Hofetikette« versus »Selbstbestimmung« entworfen, um letztendlich »eine ganz anders perspektivierte Anschauung von der Welt«5 1

Im Weiteren wird nur eine repräsentative und für meine Forschungszwecke interessante Auswahl von wissenschaftlichen Texten zum Roman Unwiederbringlich getroffen. 2 Anke Kramer, ›Ganz wie ein Meerweib‹. Tradition und Transgression in Fontanes ›Unwiederbringlich‹. In: Sabina Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Göttingen 2005, S. 207–226, hier S. 208–209. 3 Rolf Parr, Kleine und große Weltentwürfe. Theodor Fontanes Mentale Karten. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland und die Welt, Würzburg 2014, S. 17–40, hier S. 19. 4 Ebd., S. 35. 5 Ebd.



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zu vermitteln. Der Beitrag von Parr sammelt und strukturiert die Erkenntnisse für diese spezifische, gleitende Semantisierung von Räumen und Grenzen bei Fontane und deren Überwucherung mit Bedeutungen, die praktisch das ganze Werk rhizomatisch erfassen. 2010 bringt Michael James White seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass eine spezifische Untersuchung der Grenzproblematik im Roman Unwiederbringlich bislang dennoch ausgeblieben ist.6 Seine Untersuchung geht von der durch Briefe und journalistischen Texte verbürgten räumlichen Sensibilität Fontanes aus. Äußere Topographie verbinde sich in Fontanes Texten nach White mit inneren Veranlagungen und bekomme dadurch einen symbolischen Charakter. Die Grenze als »a spatial detail«7 werde im Roman besonders komplex und intensiv erzählerisch eingesetzt und sorge sogar für ironische und abgründige Wenden. Die im Roman präsenten geographischen und historischen, »temporalen«8 Grenzen hätten neben dem konkreten auch einen moralischen, ethischen und biologischen Stellenwert. White gruppiert seine detailliert ausgearbeiteten Oppositionen um die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen zwischen Holkenäs und Dänemark.9 Der Roman erhebe unübersehbar die Frage nach der Überschreitungsmöglichkeit von Grenzen und der Folgen davon. Im grenzenreichen Dänemark seien Grenzen überquerbar, während im grenzenarmen Holkenäs Grenzen nicht passierbar erschienen. Demgegenüber wird an der Analyse der Opposition »offen – geschlossen« (in Architektur und Interieur) nachgewiesen, dass für Dänemark die geschlossenen Räume, das Drinnen bevorzugt dargestellt werden, während für Holkenäs das Offene, das Draußen, die Natur als Hauptcharakteristikum erarbeitet wird. Holks und Christines Ähnlichkeit baue darauf, führt White aus, dass beide keine Grenzen anerkennen und als »boundaryless« interpretiert werden können, während Ebba und Brigitte »associated with boundaries«10 seien. Holk müsse einsehen, dass die Freiheit nicht dort, wo alle Grenzen passierbar 6

»Given the focus on difference and distinctiveness in the scholarly discourse, it is however surprising that the border as a spatial expression of separation in this novel of divorce has not been examined specifically in the past. This apparent oversight is all the more puzzling given the thematic prominence of thresholds in a novel that deals with middle age and adultery, and the relative frequency with which the reader’s attention is directed towards boundaries in the representation of buildings and landscapes.« (Michael James White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹: Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 [2010], S. 109–123, hier S. 111) 7 Ebd., S. 110. 8 Ebd., S. 112. 9 Über die symbolische Konnotation der Grenzen vgl. ebd., S. 121. 10 Ebd., S. 118.

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werden können, zu erreichen ist, sondern dort, wo Grenzen respektiert bzw. neu kreiert werden. Die Grenzüberschreitung, so das Fazit, mache den Protagonisten unfrei. Diese im Roman entfaltete Vorstellung hänge grundsätzlich mit den Prinzipien des bürgerlichen Realismus zusammen.11 Whites überzeugende Analyse lässt nur den Wunsch nach einer schärfer umrissenen Verwendung des Grenzbegriffs übrig, denn bei der so analysierten Struktur der Oppositionen und Unterscheidungen, bei den vielschichtigen Deutungen ihrer Symbolik erfährt er eine enorme Erweiterung. Dessen ungeachtet ist die Bedeutung der vieldimensionalen Figur der Grenze im Roman reichlich nachgewiesen. Eigentlich ist die festgestellte Neigung zur Entgrenzung des Begriffs ›Grenze‹ eine Tendenz in kultur- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Überall, wo Unterschiede auftreten und Vergleiche möglich sind, wird von Grenzen gesprochen: Der Begriff der Grenze ist in den aktuellen Literatur- und Kulturwissenschaften nahezu ubiquitär und die mit ihm gebildeten Komposita Legion. […] Philologen untersuchen die Grenzen zwischen den verschiedenen Gattungen, Epochen oder Stilen, Kulturwissenschaftler die zwischen Mensch und Tier, Religiösem und Säkularem, den Geschlechtern oder Leben und Tod, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Grenze ist dabei zusehends zu einer universalen Metapher für all das geworden, was zuerst dichotomisch aufgespalten und anschließend auf die verschiedensten Arten und Weisen wieder miteinander verschränkt werden kann.12

Mein Interesse gilt im Folgenden der Funktionalisierung der Grenze im erzählerischen Gewebe des Romans und ich möchte mich auf den differenzierten Umgang der Figuren mit Grenzen unterschiedlicher Natur konzentrieren, um durch die sich daraus ergebenden Charakteristika der Figuren ihre Handlungsund Kommunikationsweise zu begründen. Meine Ausgangsthese in diesem Beitrag ist, dass der Umgang mit Grenzen ein wichtiges Instrument zur Charakterisierung der Figuren im Roman Unwiederbringlich ist. Der Titel Spiel und Ernst der Grenzen deutet die Skala an, auf der der Umgang der Figuren mit Grenzen positioniert werden kann. In einem ersten Schritt bemühe ich mich um einige begriffliche Klärungen, um dann den Umgang mit Grenzen bei drei Hauptfiguren unter die Lupe zu nehmen.

11 Ebd., S. 122. 12 Eva Geulen, Vorwort. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 1–4, hier S. 1.



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II. Der Begriff der Grenze Nach dem Fall der Berliner Mauer wird der Begriff der Grenze besonders intensiv diskutiert.13 Konstruiertheit von Grenzen, Durchlässigkeit, Verschiebbarkeit, Überschreitung und Aufhebung stellen zentrale Themen dar.14 Sich globalisierende Gesellschaften diskutieren nationale, politische und kulturelle Grenzen und deren Überlebtheit. Auf die abstraktere und basale Präsenz des Begriffs im menschlichen Denken und in der Geschichte der Philosophie verweist unter anderen Konrad Paul Liessmann, der Unterscheidung und Grenzziehung als grundsätzliche gedankliche Operationen und Hauptvoraussetzung jeglicher Erkenntnis definiert: Was ist eine Grenze? Vorab nicht mehr und nicht weniger als eine wirkliche oder gedachte Linie, durch die sich zwei Dinge voneinander unterscheiden. Wer immer einen Unterschied wahrnimmt, nimmt auch eine Grenze wahr, wer immer einen Unterschied macht, zieht eine Grenze. Philosophisch gesprochen bedeutet dies, dass die Grenze überhaupt Voraussetzung ist, etwas wahrzunehmen und zu erkennen. […] Jede Erkenntnis beginnt mit dem einen, den entscheidenden Akt: Dieses ist nicht jenes.15

Globalistischem Denken, das Grenzen für verzichtbar erklärt, wird die Unüberwindbarkeit von Grenzziehungen als gedankliche Operation gegenübergestellt. Nach Liessmann sei mit Hegel anzunehmen, dass der Begriff der Grenze »nur Sinn macht, wenn das, was auf der anderen Seite liegt, immer schon mitgedacht wird«.16 Die Schwierigkeit, Grenzen zu systematisieren und den Begriff festzulegen, belegen die zahlreichen Herangehensweisen und Ergebnis13 Vgl. z. B. Markus Bauer und Thomas Rahn (Hrsg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997; Monika Fludemik und Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999; Rüdiger Görner und Suzanne Kirkbright (Hrsg.), Nachdenken über Grenzen, München 1999; Claudia Benthien und lrmela Marei Krüger-Fürhoff (Hrsg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1999. 14 2019 schreibt Ilja Trojanow: »Die Zukunft der Menschheit hängt von der Überwindung von Grenzen ab, von der visionären Stärke des kosmopolitischen Denkens und Handelns.« (Nova Gorica, Gorizia, Gurize, Görz. Erinnerung an die ersten Stationen der Flucht. In: Literatur und Kritik 531/532 [2019], S. 60–61, hier S. 61) 15 Konrad Paul Liessmann, Grenzen und Grenzüberschreitungen. In: Erhard Busek (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Wien 2005, S.  12–28, hier S.  12–13. Über die philosophische Karriere des Begriffs und die mangelnden Definierungsversuche im Gegensatz zur breitgefächerten Verwendung vgl. auch Norbert Wokart, Differenzierungen im Begriff ›Grenze‹. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs. In: Richard Faber und Barbara Naumann (Hrsg.), Literatur der Grenze, Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 275–289, bes. S. 278–279. 16 Liessmann, Grenzen und Grenzüberschreitungen, S. 15.

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se.17 Der ausgesprochene Hang des Grenz-Begriffs zu Metaphernbildungen18 sorgt für weitere begriffliche Verwirrungen, hat aber den Vorteil, zur erkenntnisstiftenden Funktion der Operation »Grenzziehung« auch die erkenntnisstiftende Funktion der Metapher als solche hinzuzufügen.19 Die Grenze in ihrer räumlich-geographischen Präsenz, real markiert als Limes oder als Linie auf einer Karte, besitzt eine Konkretheit, die die zahlreichen metaphorischen Verwendungen des Begriffs nicht mehr aufweisen. In der Verwendung des Begriffs ›Grenze‹ konstituiert sich schon eine abstrakte Grenze zwischen Konkretheit und Metaphorik, wobei die metaphorischen Grenzen die konkreten räumlichen aus dem Diskurs zu verdrängen drohen.20 Die Grenzen, real oder gedacht, konkret-räumlich oder metaphorisch, provozieren Fragen und Handlungen und Hegel habe, Liessmann erinnert daran, die moralische Dimension der Grenze besonders betont.21 Die Einschränkung durch eine Grenze reizt zu deren Überschreitung und dann sind Entscheidungen fällig, die das Sollen oder Nicht-Sollen erwägen. Dadurch wird die Frage nach dem Ethischen und nach den Folgen der Überschreitung aufgeworfen. Um für die Zwecke dieses Beitrags eine gewisse Übersichtlichkeit zu erreichen, möchte ich die Unterscheidung zwischen der Grenzziehung als Operation der Scheidung zweier oder mehrerer Größen voneinander und der Grenze als gefestigtes Endergebnis gedanklicher Operationen einführen. Das ermöglicht es, eine im Moment existierende Grenze von den Operationen und Ereignissen, die ihre Entstehung real oder erzähltechnisch herbeigeführt haben, zu differenzieren. Demnach sind vorhandene Grenzen ehemals vollzogene Unterscheidungen, die zu Konventionen erstarrt sind, und neue Unterscheidungen 17 Vgl. Hans-Joachim Gehrke, Einleitung: Grenzgänger im Spannungsfeld von Identität und Alterität. In: Fludernik und ders. (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, S. 15– 24. Auch Monika Fludemik, Grenze und Grenzgänger: Topologische Etuden. In: ebd., S. 99–108. 18 Geulen spricht von der Grenze-Metapher als einer »universalen« und »vagierenden« Metapher. Vgl. Geulen, Vorwort, S. 1. 19 Vgl. Karl Nikolaus Renner, Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept Jurij M. Lotmans. In: Gustav Frank und Wolfgang Lukas (Hrsg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zur Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann, Passau 2004, S. 357–381. 20 Die kulturwissenschaftliche Raum-Forschung hat die Grenze als topographisches Konkretum und als Werkzeug der Strukturierung vom Raum erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dies mit der Erkenntnis: »All jene Gattungs, Epochen-, Sprach- und Geschlechtergrenzen, die zuerst einmal ausdrücklich in die zweite Reihe zurückgestellt werden sollten, tauchen in zahlreichen Re-Entrys wieder in den Diskussionen der konkreten Texte und ihrer konkreten Grenzen auf […]«. (Geulen, Vorwort, S. 2) 21 Vgl. Liessmann, Grenzen und Grenzüberschreitungen, S. 16.



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bilden zwar (gedankliche) Grenzen, die aber nicht sofort und unbedingt zur Konvention werden und es vielleicht nicht werden müssen, denn die Unterscheidungen sind zunächst unsicher und situationsgebunden. Von Grenzen wird im Weiteren im räumlichen Sinn gesprochen und im metaphorischen Sinn bei Unterscheidungen, die bereits den Charakter einer sozialen Konvention besitzen.

III. Grenzen im Roman »Unwiederbringlich« Von Bedeutung für die Fabel und die Figurenkonstellation sind im Roman die historischen staatlichen Grenzen, die zum Zeitpunkt der Romanereignisse durchaus unstabil waren. Die schleswig-holsteinische Frage war kompliziert genug:22 Nach dem Ripener Privileg (1460) sollten die Herzogtümer Schleswig und Holstein als eine Einheit in ewiger Eintracht existieren. Nach den vielen historischen Brüchen und Wenden war der dänische König seit 1773 Herzog von Schleswig und Holstein, aber im Gegensatz zu Schleswig gehörte Holstein nach dem Wiener Kongress 1815 zum Deutschen Bund. Die nationale Zugehörigkeit als Basis für die modernen Staaten des 19. Jahrhunderts verwandelte die schleswig-holsteinische Frage in einen gordischen Knoten. Letztendlich gingen Schleswig und Holstein 1852 wieder in dänische Regierungsmacht über. Allerdings vertieften die unterschiedlichen Verfassungen für Dänemark und für die Herzogtümer die Widersprüche und auch die Konflikte zwischen Dänemark und dem Deutschen Bund, der bei Verhandlungen häufig von Preußen vertreten war, nahmen zu. Die Handlung im Roman ist also in einer konfliktreichen Zeit angesiedelt, wenige Jahre nach dem Schleswig-Holsteinischen Krieg (1848–1852) und kurz vor dem Deutsch-Dänischen Krieg (1864), nach welchem Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen abgetreten wurden. Das fiktive Schloss Holkenäs befindet sich auf der schleswigschen Halbinsel Angeln. Die Hauptfigur, der schleswigsche Adlige Holk, ist schleswigholsteinisch eingestellt, aber traditionsmäßig und durch seinen Dienst dem dänischen Hof direkt verbunden. Um seine Pflicht als Kammerherr der dänischen Prinzessin zu erfüllen, muss er von Schleswig nach Dänemark reisen und somit schon die Grenze des Herzogtums überqueren, die beim Übergang von den alten zu den neuen Herrschafts- und Regierungsformen im 19. Jahrhundert in ihrer Bedeutung keineswegs sicher ist. Die Grenzen zwischen den eu22 Vgl. in diesem Zusammenhang Christine Hehle, Stoff. Ehe, Politik und Pietismus. In: GBA I/13, S. 299–318, bes. S. 304–305.

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ropäischen Staaten spielen eine Rolle im Zusammenhang mit den politischen Positionen der Protagonisten, die sich an der Frage über die Zugehörigkeit des Herzogtums scheiden. Auf der einen Seite befinden sich die deutsch-orientierten Christine und Arne, auf der anderen Seite der dem dänischen Hof verbundene Holk. Metaphorisch könnte hier von einer politischen Grenzlinie, die auch inmitten der Familie verläuft, gesprochen werden. Schleswig, das umstrittene Herzogtum, dessen Norden und Süden in unterschiedliche Richtungen ziehen, wird zum Symbol der Unbeständigkeit von politischen Grenzen. Von Holkenäs aus ist Kopenhagen nur auf dem Seeweg zu erreichen, somit wird zwischen den beiden Handlungsorten auch die natürliche Grenze des Meeres bedeutungstragend. Die realen Grenzen werden, wie die Analyse von Kramer, Parr und White nachweist, erzählerisch in Bezug zu einer ethisch-moralischen Grenze gesetzt. Diese Grenze trennt die an herrnhuterischen Idealen orientierte Lebensweise auf Holkenäs von den lockeren Sitten am dänischen Hof, das Ernste vom Leichtlebigen, die Treue vom Ehebruch, die Liebe von der Leidenschaft. Die Welten auf beiden Seiten der Grenze haben Kenntnis voneinander, die Romanfiguren kennen sich gegenseitig. Jenseits der Grenzen im Roman gibt es also kein geheimnisvolles Fremdes und es ist eine Frage der freien Entscheidung, wie man mit den sichtbaren und unsichtbaren Grenzen und deren Überschreitungsmöglichkeiten umgeht. Der Roman thematisiert aber auch die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit konkreter Grenzziehungen durch die Figur des Seminardirektors Schwarzkoppen. Der Geistliche weigert sich auf die Bitte von Christines Bruder Arne einzugehen und mit seiner Autorität gezielt auf sie einzuwirken. Er möchte nicht zum »Eindringling«23 in das fremde Leben gemacht werden und nur »innerhalb vorsichtig zu ziehender Grenzen irgend etwas […] tun« (U, S. 38). Der respektvolle Umgang der Menschen miteinander ist also für ihn durch situative und individuelle Grenzziehungen zu pflegen. Es wird im Roman noch ein weiterer Typ von Grenze installiert, dem allerhand symbolische Bedeutungen zuwachsen. Man könnte diese Grenzen als naturgegebene bezeichnen. Sie werden erst durch die Wahrnehmung und Empfindung der Figuren, d. h. durch die menschliche Interpretation, als Grenzen konstituiert. Eine solche räumliche und natürliche Grenze wäre die Linie, an der Festland und Wasser aufeinanderstoßen, in diesem Fall die schleswigsche Küste bei Holkenäs. Und es gibt noch eine andere Unterscheidung, die eine besondere Grenze markiert, auf die keinerlei Kriterien zutreffen: die Unterscheidung zwischen Leben und Tod. Auf diese Grenze zielt auch Schwarzkop23 GBA I/13, S. 17. Alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe, im Folgenden zitiert unter ›U‹.



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pen, wenn er über den alten Pastor Petersen sagt: »Er ist nun nah an der Grenze der uns hienieden bewilligten Zeit und hat hellere Augen als wir, vielleicht in all und jedem und in Dingen von dieser Welt schon ganz gewiß«. (U, S. 39)

IV. Holk und die Grenzen: Ignoranz und Halbheiten Wenn ich mit der Figur von Holk anfange, so folge ich Charlotte Jolles, die Holk als Mittelpunkt des Romans betrachtet.24 Vom beobachtenden Erzähler sei Holk als eine »durchschnittliche« Figur installiert, ausgestattet mit zwei Leidenschaften – für Bauten und für seine Tiere. Die Interessen der Eheleute werden schon zu Beginn als ziemlich unterschiedlich dargestellt: Während Christine über die Errichtung einer Familiengruft nachdenkt, spekuliert Holk über das Anbringen von Marmorkrippen für seine Tiere. Die immer deutlicher hervortretenden Unterschiede zwischen den beiden folgen einem tragischen gemeinsamen Erlebnis, dem im Text wenige Zeilen gewidmet sind. Der Tod des Sohnes ist eigentlich die erste gewichtige Konfrontation der Ehepartner mit dem unumkehrbaren Übertritt einer Grenze. Ihre Überschreitung wird in der Forschungsliteratur meistens im Zusammenhang mit Christines Selbstmord diskutiert, eigentlich ist diese Grenzerfahrung der beiden schon zu Beginn des Romans präsent. Ihr Denken ist davon mitbestimmt. Die Ehepartner entwickeln unterschiedliche Strategien, um mit dem Verlust des Kindes und der Trauer fertigzuwerden: Holk baut, sucht neuen Platz für ein neues Glück, während Christine Trauer und Jenseits priorisiert, hiesiges Glück als Aufgabe der pflichtbewussten Ehefrau empfindet und sich dazu willentlich zwingen muss. Hierin wurzelt das Sich-Auseinanderleben der Eheleute und hier setzt auch der Roman ein: Ab nun finden sich ausschließlich Zeichen der Differenzen zwischen den beiden, während von dem sie Verbindenden meistens im Erinnerungsmodus die Rede ist. Das Hauptthema des Holk’schen Seins, wie es bereits auf den ersten Seiten des Romans eingeführt wird, ist das Glück. In seinem Tun wird Holk von einem Glücksanspruch vorangetrieben, den er für sich, aber auch für seine Frau erhebt. Er stemmt sich gegen die Erfahrung des Todes und möchte Dinge unternehmen, die ihn glücklich machen – damit hängt auch seine Bauleidenschaft zusammen. Die Bauwerke sind sein Aufstand gegen die Unwiederbringlichkeit des verlorenen Lebens, symbolische Wälle an der Grenze zwischen 24 Charlotte Jolles, ›Unwiederbringlich‹: der Irrweg des Grafen Holk. In: Monika Hahn (Hrsg.), ›Spielende Vertiefung ins Menschliche‹. Festschrift für Ingrid Mittenzwei, Heidelberg 2002, S. 203–218, hier S. 205.

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Leben und Tod. Christine ist guten Willens, im neuen Schloss glücklich zu werden, innerlich trauert sie aber weiter der alten Zeit, dem alten Schloss – und dem Kind – nach. Holk, der glücklich sein möchte, steht einer Frau gegenüber, die sogar »eigentlich nie heiter« (U, S. 25) ist. Im Kreis der Familie ist Holk in politischer Opposition. In den Gesprächen wird die Spannung in Bezug auf die Zukunft sichtbar und auch das Bewusstsein eines Lebens in politischen Grenzgebieten und dynamischen Grenzzeiten. Aus der Warte des Jahres 1891 wissen der Erzähler und die Leserschaft, dass bald eine neue staatliche Grenze gezogen werden wird. Die Romanfiguren leben im Vorgefühl der anstehenden Veränderungen. Sie haben ihre Vorlieben und Argumente für ein selbständiges Schleswig-Holstein, für die Zugehörigkeit zu Dänemark oder zu Preußen. Holk gibt zu Hause »de[n] altdänische[n] Patriot[en], der für die Zugehörigkeit der deutschen Provinzen zum Königreich Dänemark Partei ergreift und von Christine und Arne von einer preußischen Position kritisiert [wird]«.25 In diesen politischen Gesprächen thematisiert Holk die Grenze als politisches Faktum im Zeitalter des Nationalstaates: »Ein Staat [Preußen – M. R.-F.], der sich halten und mehr als ein Tagesereignis sein will, muß natürliche Grenzen haben und eine Nationalität repräsentieren.« (U, S. 28) Die Achillesferse Preußens liege in der fehlenden natürlichen Grenze, die von einem Meer oder einer anderen natürlichen Schranke gebildet werden soll. Dänemark dagegen habe den Vorteil, als Inselstaat über solche natürlichen Grenzen zu verfügen. Interessant an dieser Bemerkung im Kontext dieses Beitrags ist die Betonung und Überschätzung von natürlichen Grenzen, die den staatlichen vorausgehen und sie untermauern müssen. Holk erkennt solche natürlichen Grenzen bereitwillig an und interpretiert sie positiv. Die diffizilen politischen Dissonanzen in Bezug auf die Zukunft sind nur ein Bruchteil der familiären Meinungsdifferenzen, die sich bei mehr oder weniger bedeutenden Anlässen abzeichnen. Aus der immer wachsenden Isolation im neuen Schloss rettet sich Holk dank der vorzeitigen Berufung an den Hof der dänischen Prinzessin. Arne weiß ganz genau, dass Holks Dienst ihm vor allem eine Fluchtmöglichkeit bedeutet: Ja, Sie können hinzusetzen, und halb entspricht es auch der Wahrheit, daß er die ganze Kopenhagener Stellung wahrscheinlich längst aufgegeben hätte, wenn er nicht froh wäre, dann und

25 Peter-Uwe Hohendahl, Eindringliche Beobachtung. Zur Konstitution des Sozialen in ›Unwiederbringlich‹. In: Ders. und Ulrike Vedder (Hrsg.), Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg i. Br./Berlin et al. 2018, S. 161– 185, hier S. 189. Für den altdänischen Patriotismus Holks zu Hause gibt es natürlich auch die Erklärung, dass er dadurch seinen Dienst bei der Prinzessin und seine Aufenthalte in Kopenhagen begründet.



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wann aus dem Druck herauszukommen, den die Tugenden seiner Frau, meiner geliebten und verehrten Frau Schwester, auf ihn ausübten (U, S. 36).

Die Opposition zwischen Holkenäs und dem Hof wird schon lange vorher von Christine ausgebaut. Ihre Bemerkungen und Kommentare verwandeln die unstabile politische Grenze zwischen Herzogtum und Königreich und die sie trennenden Wassermassen in eine Grenze, die zwei Lebensmodelle voneinander trennt.26 Kopenhagen erscheint Holk als Abwechslungsmöglichkeit, für Christine ist die Stadt ein Ort, wo man besondere moralische Festigkeit braucht, die Holk ihrer Meinung nach gerade nicht hat. Im Unterschied zu Christine erfüllt ihn die Reise aber mit Erleichterung und freudiger Erwartung. Die Darstellung seiner Ankunft in Kopenhagen lässt keinen Zweifel daran, dass hier eine andere Welt betreten wird. Es ist keine unbekannte Welt, hier ist er auch zu Hause, aber die subtilen Darstellungen verleihen der überschrittenen realen Grenze eine Symbolik in dem von Christine bereits angedeuteten Sinn. Holk, zu Hause der altdänische Patriot, wird am Hof als »Vertreter des renitenten deutschen Adels, der sich der Eingliederung in einen modernen dänischen Staat widersetzt«,27 betrachtet. Dazu ist er für die Hofleute ein liebenswürdiger Landadliger, der sich in den Intrigen des Hofes schlecht orientiert und die Raffinessen des geübten Hofmanns nicht besitzt, aber gerade dadurch frischen Wind mitbringt. Diese brüchige Dazugehörigkeit stört Holk nicht und er genießt seinen Aufenthalt und die Freiheiten der Großstadt. Die Überschreitung der Grenzen zwischen Holkenäs und Kopenhagen besitzt für ihn nicht jene metaphorische Dimension, die von Christine festgelegt und erzählerisch untermauert wird. Praktisch versucht der Protagonist durch sein zwischen Holkenäs und Kopenhagen aufgeteiltes Leben eine Existenz auf beiden Seiten einer realen und einer metaphorischen Grenze aufzubauen und zwei unterschiedliche Lebensmodelle unter einen Hut zu bringen. Holk ist kein heroischer Grenzenstürmer und -überwinder, denn er blendet das Wissen über die metaphorische Grenze zwischen Kopenhagen und Holkenäs aus und seine Handlungen bedienen nur seinen individuellen Glücksanspruch.

26 »Ach, Holk, welche Frage! […] Es sind lauter Lebeleute; sie haben sich nie recht quälen und mühen müssen, und das Glück und der Reichtum sind ihnen in den Schoß gefallen. Die Zuchtrute hat gefehlt, und das gibt ihnen nun diesen Ton und diesen Hang zum Vergnügen, und der Hof schwimmt nicht nur bloß mit, er schwimmt voran, anstatt ein Einsehen zu haben und sich zu sagen, daß der, der herrschen will, mit der Beherrschung seiner selbst beginnen muß. Aber das kennt man in Kopenhagen nicht, und das hat auch deine Prinzessin nicht […]« (U, S. 5). 27 Vgl. Hohendahl, Eindringliche Betrachtung, S. 179.

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In der erotischen Atmosphäre des Hofes28 ist er leichte Beute für eine Verliebtheit, die nur in Kopenhagen möglich wäre. Ebba in der Romanwelt ist nicht die Frau, mit der er seinen Glücksanspruch verwirklichen kann, aber in seiner Grenzen-Ignoranz verkennt er die Tatsachen und die Unterschiede zwischen sich und dem Hoffräulein. Kramer beschreibt die Situation zutreffend: »Ebba ist nicht das Gegenüber, anhand dessen sich das Selbst seiner selbst versichern könnte, sondern stellt die Grenze, die das Eigene vom Anderen trennt und durch die sich das Eigene als Eigenes konstituiert, in Frage«.29 In die Phase von Holks Verliebtheit und Werbung fällt eine dramatische Szene, in der er zum zweiten Mal im Roman »die Grenze« thematisiert. Bei einem Schlittschuhlauf mit Ebba, bei dem die beiden ins offene Meer steuern, stellt Holk die Frage: »Hier ist die Grenze, Ebba. Wollen wir drüber hinaus?« (U, S.  189) Die Schlittschuheskapade wurde von ihm und nicht von Ebba initiiert, wie alle Teilnehmer am Ausflug annehmen. Auch hier geht es um eine natürliche Grenze, deren Überschreitung gleichzeitig eine Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod bedeuten würde. Es bestätigt sich, dass Holk natürliche Grenzen respektiert, vielleicht gerade durch ihre Nähe zum Unwiederbringlichen. Er unterbricht den Lauf, als möchte er sich zuvor des symbolischen Mehrwerts dieser möglichen Überschreitung vergewissern. Die Entscheidung überlässt er Ebba und sie weiß den Spieß umzudrehen, die Frage unbeantwortet zu lassen und ihm die Rückkehr als Unentschlossenheit anzulasten: »Ebba stieß den Schlittschuh ins Eis und sagte: ›Wer an zurück denkt, der will zurück. Und ich bin’s zufrieden‹« (Ebd.). Auf sein Recht auf Glück bestehend, überquert Holk die gültige Grenze der sittlichen Toleranz und begeht Ehebruch. Die Möglichkeit, das eigene Glück durch abwechselnde Partizipation an den von Holkenäs und Kopenhagen symbolisierten Lebensmodellen durch Verkennung der Grenzen zwischen den beiden zu sichern, wird aufgegeben. Verankert in den Tugenden des Edelmanns, der er in Holkenäs ist, verkennt Holk erneut den Unterschied zwischen sich selbst und der höfischen Welt und malt sich ein neues Eheglück mit Ebba aus, bei dem Holkenäs und Kopenhagen eine Einheit bilden würden. Die Verabsolutierung seines Glücksanspruchs, sichtbar in den Überlegungen und der Selbstreflexion des Protagonisten, motiviert die Ignoranz den Grenzen der Lebensmodelle und der allgemeinen sittlichen Norm gegenüber und recht28 Die erotische Atmosphäre am Hof wird erzählerisch durch die Einbeziehung anderer Paare, die die öffentliche Moral suspendieren, suggeriert: König Friedrich VII. mit der Gräfin Danner, Herluf Trolle und Brigitte Goje, Christian IV. und Christine Munk werden mehrfach Gegenstand der Hofgespräche. Vgl. Jolles, ›Unwiederbringlich‹: der Irrweg des Grafen Holk, S. 208. 29 Kramer, ›Ganz wie ein Meerweib‹, S. 212.



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fertigt auch die Rücksichtslosigkeit Christine und den Kindern gegenüber. Die Abweisung durch Ebba besiegelt Holks Scheitern bei seinem Streben, die Lebensformen von Kopenhagen und Holkenäs zu verbinden. Nach dem Missglücken seines Abenteuers beginnt für Holk ein Herumirren durch Europa, ohne dass er jedoch auf glückliche Momente im Theater und in der Kunstszene verzichten muss. Bald beginnt er sich nach Hause zurückzusehnen und, schon wieder über alle Grenzen hinweg denkend, auf Christines Ja-Wort und die Rückkehr zu warten. Es treten die gleiche Grenzen-Ignoranz und die Unterschätzung der Tragweite der Überschreitung hervor. Die Verkennung und Missachtung der existierenden gesellschaftlich-sozialen Grenzen folgt aus Holks Unfähigkeit, in einem begrenzten Lebensmodell Wurzeln zu schlagen, und seinem inneren Bedürfnis danach, an verschiedenen Lebensmodellen zu partizipieren. Dieser Umstand wird sowohl in Holkenäs als auch in Kopenhagen erkannt: Auf beiden Seiten, sowohl von Christine30 als auch von Ebba,31 wird ihm Halbheit vorgeworfen. Ebba spricht ihm in ihrer brüskierenden Weise sogar Männlichkeit ab. Der Vorwurf wiegt schwer, denn Holks weibliche Umgebung hier wie dort scheint dem gleichen Ideal von Männlichkeit zu huldigen, dem er nicht genügen kann. Im Hintergrund erkennt man die hegemoniale Vorstellung von Männlichkeit im vorgeschrittenen 19. Jahrhundert, die sowohl für das Hoffräulein und die Prinzessin als auch für die herrnhuterisch erzogene Christine ihre Gültigkeit zu haben scheint und eine entschlossene, am Militär geschulte »Ganzheit« favorisiert. Holks lebensbejahende Liebenswürdigkeit, die emotional aufgeladene Entscheidungsmotivation, sein trotziger und der Realität nicht angepasster Glücksanspruch passen nicht zum »ganzen« Mann des Hof- und Landadels. Es ist der Schwager Arne, der im Unterschied zu den Frauen die Kompromissbereitschaft, die Freundlichkeit und die Liebenswürdigkeit von Holk nicht als Halbheit und Mangel, sondern als Vorteil erkennt: Er schätzt Holks glückliche Gabe, »mit dem, was andere tun, einverstanden zu sein«, und mehr noch die »glücklichere, wenn der Ausnahmefall eintritt, fünf gerade sein zu lassen« (U, S. 175). Somit ist man wieder bei Fontanes »halben Helden«,32 auf die bereits Müller-Seidel hingewiesen hat. Es muss noch ergänzt werden, dass im Vergleich 30 Christines Vorwürfe sind auf S. 15, 47–48, 59 nachzulesen. 31 »O durchaus nicht. Ich will vielmehr eine noch viel gewichtigere Halbheit nennen. Er ist moralisch, ja beinah tugendhaft und schielt doch begehrlich nach der Lebemannschaft hinüber. Und diese Halbheit ist die schlimmste, schlimmer als die Halbheit in den sogenannten großen Fragen, die meistens keine sind« (U, S. 133). 32 Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1980, S. 372.

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zu anderen Helden Fontanes Holks Halbheit am intensivsten exponiert wird, sie wird mehrfach auch von ihm selbst und vom Erzähler nahegelegt. Dabei ist Holk im Vergleich zu den Protagonisten anderer Fontane’scher Romane am wenigsten bemüht, Halbheiten zu überwinden und gängigen Erwartungen von Männlichkeit zu entsprechen. Er leidet nicht an seinem nicht-heldenhaften Wesen. Die ihm zugesprochenen Halbheiten korrespondieren mit keiner inneren Zerrissenheit, mit keiner dramatischen Spannung zwischen »HalbSein« und »Ganz-Sein-Wollen«, sondern deuten auf die ruhige Selbstakzeptanz der Figur, die die Welt in Einklang mit sich selbst zu bringen versucht und nicht umgekehrt. Diesem so motivierten Umgang mit Grenzen wohnt eine stille Grenzverweigerung inne, die Menschen das Recht abspricht, Grenzen zu ziehen. Durch ihre unreflektierte Selbstbezogenheit entfaltet Holks Missachtung der Grenzen aber ein destruktives Potential.

V. Das Spiel mit den Grenzen – Ebba Nach Anke Kramer ist Ebba grundsätzlich als eine transgressive Figur angelegt, die »durch das Raster der Zuordnungen, über welches Holk verfügt – Nationalität, Stand, Konfession […] fällt«.33 Sie verletzt Standes- und Verhaltensgrenzen. Mit ihrer jüdischen Herkunft und Vergangenheit als Prinzengeliebte befindet sie sich außerhalb der adligen Gesellschaft, jedoch verschafft ihre Präsenz dieser Gesellschaft etwas Extravaganz und die Illusion einer aufgeklärten, sittlichen Toleranz und Menschenliebe. Unter diesen Umständen ist Ebba fast verpflichtet, ihre Existenz auf beiden Seiten einer sozialen Grenze aufrechtzuerhalten; sie positioniert sich durch ihr Verhalten und ihre Redeweise immer dicht an der Überschreitung des guten Tons. Auch ihre Beziehung zu Holk hat viel von einer sorgfältig inszenierten Unterhaltung für das Publikum und für sie selbst.34 Ebba ist sich im Klaren über ihre Stellung am dänischen Hof. Ihr Umgang mit Grenzen ist durchaus bewusst und raffiniert. Ihr Unterscheidungsvermögen lässt sie ihre eigene Rolle recht gut erkennen und ihre Optionen in einer Welt realistisch einschätzen, in der die Standesgrenzen geachtet werden und bei aller adligen Großzügigkeit Verletzungen der Grenze des moralisch Zulässigen bestraft werden.35 Das Abenteuer mit Holk, das den Hof 33 Kramer, ›Ganz wie ein Meerweib‹, S. 212. 34 Vgl. ebd., S. 211. 35 Sie ist fähig dazu, »weil sie sich als Grenzgängerin zugleich innerhalb und außerhalb der Ordnung bewegt. Während auf der Handlungsebene erzählt wird, wie Holk zunächst geographische und später sittlich-moralische Grenzen überschreitet, wird Eb-



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amüsierte, aber nicht zu einem Eklat führen sollte, stürzt auch sie in eine Krise; es bleibt offen, ob aus Liebe oder aus Angst vor einer erneuten Kompromittierung. Durch Holk droht ihr das Spiel mit und an der Grenze des guten Tons und der adligen Toleranz in Dänemark zu entgleiten. Ebbas spielerischer Umgang mit Grenzen ist ein Teil ihres Lebenskalküls und zehrt von dem Wunsch, ihr eigenes Grenzgängertum zu beenden, auf der einen Seite der sozialen Grenze Wurzeln zu schlagen und letztendlich die Sicherheit zu genießen, die ein adliger Titel und ein adliges Haus gewähren. Dass sie ihr Spiel erfolgreich zu Ende geführt hat, beweist eine spätere Zeitungsannonce, die ihre Verheiratung in den englischen Adel bekannt gibt.

VI. Der Ernst der Grenzen – Christine Eine Hauptleidtragende von Ebbas Spiel mit Grenzen ist Christine, die kluge und schöne, strenge und liebende, die verlassene und wiedergeheiratete Ehefrau Holks. Christine lebt in einer Welt, die über eine feste Ordnung, ihr vom Bruder und der herrnhuterischen Erziehung vermittelt, verfügt. Sie ist auf festen Vorstellungen von Ehe, Liebe, Pflicht, Ernsthaftigkeit, Religiosität, unbedingtem Vertrauen, Ausharren und Ertragen aufgebaut. Diese Prinzipien prägen das Leben auf Holkenäs und ordnen es der Pflicht und dem religiösen Weltbezug unter. Ihr Moral- und Verhaltenskodex sieht keine Verschiebungen und Lockerungen vor, auch wenn die Zeit mittlerweile für solche gesorgt hat. So sieht sie die Grenzen ihrer Welt als Voraussetzung ihrer Erhaltung und Aufbewahrung an und ist von den Vorwürfen ihres Bruders verletzt, aber nicht verwirrt: […] du bist ein anderer geworden in deinen Anschauungen und Prinzipien, nicht ich. […] Weil du mittlerweile die Fahne gewechselt hast. Ich will es respektieren, daß du, der du mit dreißig an der Grenze des äußersten Aristokratismus warst, jetzt, wo du beinah sechzig bist, die Welt mit einem Male durch liberalgeschliffene Gläser siehst […] (U, S. 59).

Christine hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wie es in der anderen Welt, zu der ihr Mann als Kammerherr gehört, zugeht. Mit Holk nach Kopenhagen zu fahren, dazu kann sie sich aus persönlicher Abneigung gegen die Welt drüben nicht entschließen, aber auch aus einer fatalistischen Resignation (vgl. U, S. 64). Die unüberbrückbare Zweiteilung der Welt in Holkenäs und Kopenhagen bringt Christine bereits vor Holks Abreise zum Ausdruck: bas Grenzgängertum ihr auf einer symbolischen Textebene als Wesenseigenschaft zugeordnet«. (Ebd.)

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Tanzsaal, Musik, Feuerwerk. […] Alles in Kopenhagen ist Taverne, Vergnügungslokal. […] Ich kann diesen Ton nicht recht leiden und muß dir sagen, es ist der Ton, der nach meinem Gefühl und fast auch nach meiner Erfahrung immer einer Katastrophe vorausgeht (U, S. 45–46).

Bei Christine wird die Rolle der Frau als Ehefrau mehrfach angesprochen, denn sie zeigt sich, trotz der religiösen Erziehung, durchaus in der Lage, über die Grenzen eines normativen weiblichen Verhaltens zu gehen.36 Ihre deklarierte Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren, entspricht ihrer Weigerung, Verschiebungen im Normensystem zu akzeptieren. Christine weiß, dass Holk ihre Welt gefährdet, und macht ihn daher häufig zum Gegenstand einer scharfen Kritik. Ihr fehlt die Welterfahrung ihres Bruders, die ihm nicht mehr erlaubt, »Standpunkte zu verwerfen« (U, S.  59). Es ist Arne, der als Kriterium für das Gute und das Böse in menschlichen Beziehungen »das Maß der Dinge« (ebd.) einführt. Wo die Grenze gezogen werden kann, hinter der das Gute sich in ein Übel verwandelt, entscheiden eben das Maß der Dinge und die Balance. Das Zünglein an der Waage, das Gleichgewicht bestimmt, wo die Grenze der moralischen Toleranz oder der partnerschaftlichen Duldsamkeit gezogen werden soll. Der Ernst, mit dem Christine das Tun ihres Mannes als eine Verletzung von Normen und Grenzen erlebt, verweist noch einmal auf ihre totale Verankerung diesseits von allen Grenzen, die ihr Mann auf der Suche nach Glück zu überqueren bereit gewesen ist. Christine lässt sich vom Bruder und den beiden Geistlichen überreden, in die zweite Ehe mit Holk einzuwilligen, die ihr als christliches Gebot erscheint, dem sie sich beugt. Holks Rückkehr nach Holkenäs und zur Familie, die wiederholte Hochzeit und das Leben danach zeigen ihr seine neue Entschlossenheit, die Grenzen eines Daseins auf Holkenäs zu akzeptieren, diese Lebensweise und die begrenzte Existenz anzunehmen. Sein ganzes Verhalten zeugt von Rücksichtnahme und gutem Willen, seine Schuld zu büßen. Nun ist er da, wo sie ihn haben wollte, von seinen grenzenmissachtenden Glücksvorstellungen geheilt und nun auch ganz ohne Fluchtmöglichkeiten. Das ist der Liebesbeweis, den er Christine gegenüber erbringen will: Selbstaufgabe, die er durch gesteigerte öffentliche Aktivitäten zu vertuschen sucht, Resignation, die er auf keinen Fall bekennen möchte. In dieser Situation, in der Holk endlich Grenzen akzeptiert und ein Glück nach seinem Maß aufgibt, wählt Christine den Freitod. Die Deutung der Ereignisse durch die Freundin Dobschütz hebt die liebende Seite von Christine 36 Über ihre »Herrschergelüste« (Arnes Wort im Roman, S. 176) denkt Kramer nach, ebd., S. 215–216.



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hervor und verwandelt sie in eine an der Liebe Leidende. Christine als Liebende weigert sich demnach in einer Ehe zu leben, in der sie schon einmal verraten worden ist und in der sie sich jetzt nicht wieder geliebt fühlen kann. Freitod aus Liebesenttäuschung wäre hier das nahegelegte Fazit. Da die Figurenoptik unübersehbar die Szene dominiert, scheiden sich die Interpretationen an diesem Punkt. Reinhardt findet im Roman Indizien für »Hochmut, Eifersucht, Kränkung des weiblichen Selbstgefühls« Christines. Aus seiner Perspektive tötet sie sich aus Rachelust: »In Unwiederbringlich wird eine Frau damit nicht fertig, daß ihr Ehemann sie betrogen und damit verworfen hat – sie wird zur Selbsträcherin aus puritanischer Unbeugsamkeit«.37 Und wie das so ist bei Fontane, können die Argumente nachvollzogen werden, ohne die Gegenargumente zu entkräften. Zum Beispiel die Tatsache, dass Christine von den Bauern des Dorfes fast als Heilige verehrt und geliebt wird, hängt vielmehr mit der Anerkennung ihrer hingebungsvollen Fähigkeit zu dulden und im Namen der Liebe zu verzeihen zusammen und nicht so sehr mit dem Mitgefühl der Gemeinschaft für eine verlassene und betrogene stolze Frau. Christine als Rachegöttin zu deuten, lässt die fast groteske Diskrepanz zwischen Holk, so wie er in ihren Augen aussieht, und der Maßlosigkeit ihres Liebesanspruchs ihm gegenüber unaufgeklärt. Die Gründe für ihre Entscheidung bleiben offen. Es ist jedoch festzuhalten, dass wir am Ende des Romans eine Umkehrung des Anfangs haben. Holk ist nun derjenige, der den Anschein des Glücks und harmonischer Zustände zu erwecken versucht und für die Bewahrung der Grenzen plädiert. Christine aber, die ein Leben nur in den Grenzen ihrer Welt als möglich angesehen hat, entschließt sich zum äußersten Grenzübertritt. Ihr Freitod ist die Verletzung der einzigen Grenze, die Holk Respekt abverlangt. Christines Tod befreit ihn vor der Glücksmaskerade. Ob das ein Liebesbeweis ihrerseits ist, ob sie Holk durch diesen maßlosen Grenzen- und Tabubruch ein neues Leben schenkt oder ihn zum letzten Mal zurechtweist, bleibt dahingestellt. Vielleicht von allem etwas und demzufolge in einem intrikaten Sinne auch ›halb‹. Christines Grenzüberschreitung ist im Endeffekt die Aufhebung aller anderen Grenzen, die ihr Leben bestimmt haben, im Tod. Dadurch wird ihr bei aller Verletzlichkeit und Leidensbereitschaft fester und rigoroser Charakter evident. Fast möchte man sagen, Christine Holk sei in manchen Punkten das weibliche Pendant zu Baron Innstetten (Effi Briest) und dies wäre eine beson-

37 Hartmut Reinhardt, Die Rache der Puritanerin. Zur Psychologie des Selbstmords in Fontanes Roman ›Unwiederbringlich‹. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Würzburg 2002, S. 36–56, hier S. 50.

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dere Grenzüberschreitung der Geschlechtergrenzen seitens des Erzählers, was im Falle von Fontane durchaus denkbar wäre.

Historisch-geographische Grenzüberschreitungen in Fontanes »Der Stechlin« László V. Szabó Eines der wohl auffälligsten Zeugnisse von Theodor Fontanes narrativem Können ist sein komplexes Spiel mit Raum und Zeit, das seiner Erzählwelt eine besondere Pluridimensionalität verleiht. Letztere ergibt sich aus der Kreuzung, Überlappung, Verflechtung, dem Neben- und Ineinander von zeitlichen und räumlichen Dimensionen des Erzählens, die seine Texte durchziehen und eine komplexe Erzählstruktur ergeben. Die Pluridimensionalität von Fontanes Textwelten impliziert gleichzeitig wiederholte Grenzüberschreitungen zwischen kleineren und größeren Räumen, aber auch zwischen zeitlichen Dimensionen, d.  h. zwischen Erzählgegenwart und der erzählten bzw. immer wieder evozierten (geschichtlichen) Vergangenheit. Hinzu kommen sprachliche Grenzüberschreitungen zwischen Standard- und Dialektsprache, stellenweise auch zwischen Hochdeutsch und anderen Sprachen: Die häufigen französischsprachigen Elemente lassen sich mit Fontanes Herkunft (aus einer Hugenottenfamilie) und seinem Umgang in der damaligen Berliner Gesellschaft, die englischen mit seiner engen Beziehung zu England, seinen Englandaufenthalten und seiner Tätigkeit in London als Korrespondent der Neuen Preußischen Zeitung erklären. Diese fremdsprachlichen Elemente bereichern seine Texte mit einem umfangreichen Bildungsgut und einem fein ornamentierten Sprach- und Erzählstil, die ihn selbst unter den Realisten besonders auszeichnen. Fontanes letzter Roman Der Stechlin zeigt den Charakter einer zeitlichräumlich-sprachlichen Pluridimensionalität in virtuoser, man könnte auch sagen: synthetischer Form, insofern er darin sein ganzes narratives Repertoire zu einer großen Synthese bringt. Gleichzeitig vermittelt der Roman ein Bildungswissen, dessen Umfang und Breite nur von jenem in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg übertroffen wird, zu denen er vielfältige inhaltliche Bezüge zeigt. Dieses enorme Bildungswissen mit seinen reichen geographischen und geschichtlichen Komponenten bildet die Grundlage einer poetischen

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Topographie,1 nämlich einer vielfältigen (lokalen, regionalen, auch ›globalen‹) Raumgestaltung, einer – wenn hier ein Spiel mit Worten und Begriffen erlaubt ist – Topoetik, die aber immer wieder auch die Merkmale einer Gedächtnispoetik aufweist: Einzelne geschichtsträchtige Orte in der Mark Brandenburg verwandeln sich nicht selten in Erinnerungsorte, in denen sich diverse Geschichten, geschichtliche Ereignisse, kulturgeschichtliche Begebenheiten usw. offenbaren. Geo- und Topographie geht im Roman an mehreren Stellen in eine Art Historiographie über, indem einzelne Räume und Orte durch ihre historische Relevanz eine zusätzliche Bedeutungsdimension erlangen. Die Raumgestaltung im Stechlin-Roman ist mannigfaltig strukturiert.2 Es lassen sich dabei mehrere Raumebenen nachzeichnen, deren Grenzen aber nicht immer scharf konturiert sind, so dass sie stellenweise ineinander übergehen können. Auf der ›unteren‹ Ebene lassen sich kleine oder Mikroräume beobachten, deren Beschreibung mit Fontanes Detailkunst und überhaupt mit der Vorliebe des Realisten für quasi-fotografische Einzelheiten und minutiöse Schilderungen korrelieren. Zu diesen Mikroräumen lassen sich kleine geschlossene Räume wie beispielsweise ein Zimmer zählen, aber auch etwas größere, offene Räume, wie z. B. der Garten, in dem häufig Spaziergänge und Unterhaltungen der Figuren stattfinden. (Allerdings ist auch der geschlossene Raum wie etwa das Haus von Dubslav von Stechlin ein beliebter Ort geistreicher Diskurse.) Lokale und regionale Raumkonstrukte lassen sich als eine zweite Raumebene einstufen, auf der gleichzeitig die Topographie des Romans am deutlichsten zutage tritt. Sie verleihen dem Roman eine couleur locale et régionale, mit zahlreichen Orten am Stechlinsee und seiner Umgebung, in der Mark Brandenburg bzw. in Berlin. Dass sie im Kontext Provinz versus Berlin auch bestimmte Kontraste aufweisen,3 ist nicht zu übersehen, doch auch hier 1 Der Ausdruck wurde bereits in Bezug auf Fontanes Cécile verwendet, vgl. Katharina Grätz, Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/New York 2013, S. 193–211. 2 Bereits Eric Miller argumentierte, trotz aller Vorwürfe, dass Fontanes Romane an einer gewissen Struktur- und Formlosigkeit litten, damit, Der Stechlin lasse eine deutliche Struktur erkennen: Eric Miller, Der Stechlinsee: Symbol und Struktur in Fontanes Altersroman. In: The Journal of English and Germanic Philology 97/3 (1998), S. 352–370. Nach dem häufig beschworenen spatial turn in der Literaturwissenschaft ergibt sich allerdings die Möglichkeit, die Romanstruktur eben als Raumstruktur wahrzunehmen: Sie lässt sich erkennen als eine Art narratives Spiegelbild der beschriebenen ›Außenwelt‹ bzw. ihrer Topographie. 3 Diese Kontraste zeigen sich u. a. auch darin, dass die nähere Umgebung des Stechlinsees detaillierter, ›präziser‹ beschrieben wird als etwa Berlin, worauf etwa Wunberg hinweist: Gotthart Wunberg, Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne, Tübingen 2001, S. 301.



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können Grenzüberschreitungen beobachtet werden, insofern sich einzelne Figuren zwischen den zwei Sphären bewegen und diese diskursiv (in den zahlreichen Unterhaltungen etwa anlässlich von gegenseitigen Besuchen) verbinden. Drittens öffnet der Roman stellenweise auch einen ›globalen‹ Raum, der also über regionale bzw. Kulturgrenzen hinausweist4 und etwa einen englischen oder russischen Kulturraum konturiert. Am meisten geschieht dies in der zeitlichen Dimension der Vergangenheit, so etwa bei Evozierung von Reiseerlebnissen oder Kriegsereignissen usw. Für die Interrelation bzw. Verflechtung der einzelnen Raumebenen betrachte man die folgende Beschreibung eines Berliner Offizierskasinos (der sog. Gardedragoner), das von Hauptmann Czako und seinem Freund, dem Reserveoffizier Rex, betreten wird: In dem zunächst am Flur gelegenen großen Speisesaale, von dessen Wänden die früheren Kommandeure des Regiments, Prinzen und Nichtprinzen, herniederblickten, sah man nur wenig Gäste. Daneben aber lag ein Eckzimmer, das mehr Insassen und mehr flotte Bewegung hatte. Hier, über dem schräggestellten Kamin, drin ein kleines Feuer flackerte, hing seit kurzem das Bildnis des ›hohen Chefs‹ des Regiments, der Königin von England, und in der Nähe eben dieses Bildes ein ruhmreiches Erinnerungsstück aus dem sechsundsechziger und siebziger Kriege: die Trompete, darauf derselbe Mann, Stabstrompeter Wollhaupt, erst am 3. Juli auf der Höhe von Lipa und dann am 16. August bei Mars-la-Tour das Regiment zur Attacke gerufen hatte, bis er an der Seite seines Obersten fiel: der Oberst mit ihm.5

Im Mikroraum des Speisesaals fällt zunächst der Flur mit Gemälden von Prinzen und anderen Kommandeuren an der Wand auf, während das beweglichere Eckzimmer mit dem Feuer bzw. Kamin und dem Bildnis der Königin von England6 neben einer Trompete bzw. dem Bild eines Stabstrompeters die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Die Trompete erweist sich, wie der omnisziente Erzähler berichtet, als Erinnerungsstück an die Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 zwischen Preußen und Österreich bzw. Sachsen,7 bzw. an die Schlacht bei Mars-la-Tour während des Deutsch-Französischen Krieges am 16. 4 Ähnliches meint Millers Begriff »chthonische Weltverbundenheit« in Bezug auf den Stechlinsee bzw. die Insel Island oder Java: Miller, Der Stechlinsee: Symbol und Struktur in Fontanes Altersroman, S. 356. 5 HFA I/5, S. 207. Im Weiteren wird aus dem Roman Der Stechlin unter der Sigle ›St‹ mit Seitenzahlen aus dieser Ausgabe im Fließtext zitiert. 6 Es geht um Königin Victoria, die zur Handlungszeit regierende Königin von Großbritannien, der Wilhelm II. 1889 das 1. Garde-Dragoner-Regiment verlieh (vgl. Möller, Kommentar zum Stechlin, GBA, S. 556. 7 Von der Höhe von Lipa berichtet Fontane in Der deutsche Krieg von 1866, Bd.  1, im Kapitel König Wilhelm auf der Höhe von Lipa: »Auf der Höhe von Lipa, die einen Überblick über das ganze Schlachtfeld, also auch über das Vorgehn der beiden FlügelArmeen gestattete, bot sich jetzt ein zauberhaftes Schauspiel«. Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von 1866. Bd. 1, Nikosia 2017, S. 608–609.

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August 1870. Damit wird aber der Mikroraum im Kasino zum Erinnerungsort und zugleich zu einem Chronotopos im Sinne Michail Bachtins, nämlich einem Begegnungspunkt von Raum und Zeit, wobei sich die Dimension ›Zeit‹ allerdings erst durch die Erinnerung auftut. Ein Erinnerungsort ist eine Verbindungsstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eine Verkopplung eines gegenwärtigen Ortes oder Raumes mit vergangenem, als relevant und bewusstseinsprägend empfundenem Geschehen. Fontane versäumt es selten, in die Erzählgegenwart Historisches einzufädeln und damit Geschichte (erzähl) gegenwärtig zu machen. Es ist auch ein wichtiges Merkmal seiner raffinierten Mnemotechnik, dass er selbst bei der Beschreibung eines scheinbar belanglosen Raumes oder Gegenstandes Geschichte evoziert, um seine Leser zu einer konzentrierten Erinnerungsarbeit zu bewegen. Beim Erzähler Fontane will der Historiker offenbar wiederholt das Wort ergreifen, indem sich die Grenzen zwischen Poesie und Historie verflüssigen.8 Sein imponierendes Geschichtswissen legt Fontane häufig seinen Figuren in den Mund. Es kommt sogar vor, dass einzelne Figuren kleine geschichtliche Traktate oder Essays vortragen, wie etwa Pastor Lorenzen in einem Dialog mit Gräfin Melusine. Während einer solchen Art ›Dialog-Vortrag‹ kann der dargestellte Mikroraum, in dem das Gespräch stattfindet, zumindest imaginär eine regionale Dimension erlangen, wobei auch die Zeit in Richtung geschichtlicher Vergangenheit massiv ausgedehnt wird. Der Pastor skizziert dabei drei große Epochen der preußisch-brandenburgischen Geschichte, deren erste er mit dem preußischen »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. verknüpft: Wir haben, wenn wir rückblicken, drei große Epochen gehabt. Dessen sollen wir eingedenk sein. Die vielleicht größte, zugleich die erste, war die unter dem Soldatenkönig. Das war ein nicht genug zu preisender Mann, seiner Zeit wunderbar angepaßt und ihr zugleich voraus. Er hat nicht bloß das Königtum stabiliert, er hat auch, was viel wichtiger, die Fundamente für eine neue Zeit geschaffen und an die Stelle von Zerfahrenheit, selbstischer Vielherrschaft und Willkür Ordnung und Gerechtigkeit gesetzt. Gerechtigkeit, das war sein bester ›rocher de bronce‹9 (St, S. 272).

8 An diversen Stellen des Romans (nicht nur bei der Beschwörung bestimmter Erinnerungsorte) ›kreuzt sich‹ die Geschichte – und zwar nicht Geschichte als narrative histoire im Sinne von Gérard Genette, sondern etwa die Geschichte Preußens – mit dem dargestellten Handlungsraum. Solche Schnittpunkte ließen sich wiederum als Chronotopoi bezeichnen, insofern ›Chronos‹ auch eine historische Dimension des Erzählens implizieren sollte. Erzählte Geschichte und historisches Geschehen sind jedoch unterschiedliche Zeitdimensionen – in manchen Sprachen, wie z. B. der ungarischen, werden sie tatsächlich auf lexikalischer Ebene unterschieden. In Anbetracht dieses Unterschieds ließen sich dann solche Schnittpunkte zwischen der historischen Zeit und dem erzählten Raum wohl auch als ›Historiotopoi‹ bezeichnen. 9 Eigentlich rocher de bronze, ›eherner Fels‹: Das geflügelte Wort geht zurück auf König Friedrich Wilhelm I. selbst.



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In Lorenzens (preußischer) Kulturphilosophie, die jener von Herder zu folgen und jene von Spengler vorwegzunehmen scheint, erscheint die zweite relevante Epoche als eine, in der das »ungeniale Land sich mit einem Male von Genie durchblitzt [sah]«, gefolgt von einer dritten, in der das »dem Untergange verfallene Land nicht von Genie, wohl aber von Begeisterung durchleuchtet [wurde], von dem Glauben an die höhere Macht des Geistigen, des Wissens und der Freiheit« (ebd.). Der Kulturraum ›Preußen‹ wird in einen breiten historischen Kontext gestellt, während die Zeitdimension etwa hundert Jahre umfasst, an deren Ende der Pastor zunächst einen Untergang feststellt, um dann eine Wiederkehr mit einem Sprung von Jahrtausenden (!) zu imaginieren, deren Ergebnis ein Schwinden des Interesses für Bataillen und Helden und eine Heraufkunft der Erfinder und Entdecker sein soll: Es tut es nicht. In gewissem Sinne freilich kehrt alles einmal wieder, aber bei dieser Wiederkehr werden Jahrtausende übersprungen; wir können die römischen Kaiserzeiten, Gutes und Schlechtes, wiederhaben, aber nicht das spanische Rohr aus dem Tabakskollegium und nicht einmal den Krückstock von Sanssouci. Damit ist es vorbei. Und gut, daß es so ist. Was einmal Fortschritt war, ist längst Rückschritt geworden. Aus der modernen Geschichte, der eigentlichen, der lesenswerten, verschwinden die Bataillen und die Bataillone (trotzdem sie sich beständig vermehren), und wenn sie nicht selbst verschwinden, so schwindet doch das Interesse daran. Und mit dem Interesse das Prestige. An ihre Stelle treten Erfinder und Entdecker, und James Watt und Siemens bedeuten uns mehr als du Guesclin10 und Bayard11 (St, S. 273).

Dialoge, Gespräche, Unterhaltungen,12 die in Fontanes Romanen und eminent im Stechlin reichlich vorhanden sind (und in der Fontane-Forschung oft diskutiert wurden), ermöglichen, auf einer imaginären Ebene, die Eröffnung großer Zeit- und Raumperspektiven, zeitlich-räumliche Grenzüberschreitungen, wodurch das Lokalkolorit in pluridimensionelle Kulturbeschreibungen und -deutungen übergeht. Selbst Zukunftsperspektiven der (preußischen) Kultur werden imaginiert, wie in den oben zitierten Darlegungen des Pastors Lorenzen.

10 Bertrand du Guesclin (1320–1380): bretonischer Heerführer im Hundertjährigen Krieg. 11 Gemeint ist der Ritter Bayard (Chevalier de Bayard), eigentlich der Feldherr Pierre de Terrail (1473–1524). 12 So hat Hasubeck den Dialog- bzw. Gesprächsstrukturen des Stechlin-Romans ein ganzes Buch gewidmet. Darin verwendet er die Termini ›Makrostruktur‹ (»Großbau des Romans«) und ›Mikrostruktur‹ (»einzelne Gespräche«) als durch die Dialoge bestimmte Struktureinheiten des Romantextes. Vgl. Peter Hasubek, »…wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch«. Das Gespräch in Theodor Fontanes Roman ›Stechlin‹, Berlin 1998, S. 68. Dieselben Begriffe werden hingegen in der vorliegenden Studie als narrativ-topographische Dimensionen aufgefasst.

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Ob Unterhaltungen oder Beschreibungen: Mikro- und regionale Räumlichkeiten liegen im Roman an mehreren Stellen dicht beieinander, bzw. es lassen sich im Text wiederholt Überlappungen und Übergänge beobachten. Es sei hier noch auf ein weiteres Beispiel hingewiesen, auf eine Stelle nämlich, wo sich Frau Gundermann der Karriere ihres Mannes wie folgt rühmt: Gundermann ist erst geadelt, und wenn er nicht Glück gehabt hätte, so wär es gar nichts. Er hat nämlich klein angefangen, bloß mit einer Mühle; jetzt haben wir nun freilich sieben, immer den Rhin entlang, lauter Schneidemühlen, Bohlen und Bretter, einzöllig, zweizöllig13 und noch mehr. Und die Berliner Dielen, die sind fast alle von uns (St, S. 33).

Als Symbole materiellen Wachstums und besitzbürgerlichen Stolzes werden die sieben Mühlen der Gundermanns sowie die Berliner Dielen angeführt. Sie scheinen im Roman ein regionales Spezifikum anzudeuten, ebenso wie der Rhin, der in Brandenburg entspringt, und – wie auch im Roman angedeutet – unweit vom Stechlinsee eine Reihe von kleinen Seen verbindet, bevor er bei Neuruppin in den Ruppiner See fließt. Am Ufer des Flusses vermutet Czako eine Villa, ebenfalls im Besitz der Gundermanns, und stellt sich dabei Folgendes vor: »Und darin hören Sie Tag und Nacht, wie nebenan in der Mühle die Säge geht, und die dicht herumstehenden Bäume bewegen sich leise.« (St, S.  33) Mühle, Villa, der Fluss Rhin mit den Bäumen umreißen einen mehrdimensionalen Raum, der Natur- und Kulturelemente gleichermaßen umfasst und einen Regionalcharakter erkennen lässt. Gewässer als Kultur- und Handlungsräume spielen in Fontanes Texten, zumal im Stechlin mit seinem »Wasserraum« um den Stechlinsee herum,14 eine herausragende Rolle; man kann sie wohl als Zwischen- und Übergangsräume betrachten, die Mikroräume mit regionalen Räumen verbinden, indem sie ihre Grenzen sozusagen als ›verschwommen‹ erscheinen lassen. Als ein lokal-regionaler Kulturraum lässt sich die Umgebung des Stechlinsees betrachten, die engere Heimat des Dubslav von Stechlin aus dem gleichnamigen Adelsgeschlecht, die der Topographie der Gegend um den Großen Stechlinsee herum (im Rheinsberger Seengebiet) in der Grafschaft (heute im Kreis) Ruppin entspricht. Die Gegend wird mit topographischer Genauigkeit bereits in den ersten Zeilen des Romans beschrieben: Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese

13 D. h. einen Zoll (etwa 2,3 bis 3 cm) oder zwei lang oder breit. 14 Vgl. Ann-Kristin Haude, Aquatische Erkenntnisräume im poetischen Realismus: Zur Kultur- und Motivgeschichte des Wassers, Stuttgart 2019, S. 597–598.



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Seenkette bilden, heißt ›der Stechlin‹. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und quaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren (St, S. 7).

Das Schloss Stechlin mit dem Garten als Mikroräume samt dem See schmiegt sich gleichsam in die Region ein, zu der noch weitere im Roman erwähnte Ortschaften, wie z. B. Rheinsberg, Wutz (eigentlich Lindow), Gransee, Dagow oder Globsow (eigentlich Neuglobsow) gehören. Das Territorium wird von Dubslav mit Adelsstolz bewandert und den Gästen gezeigt, indem er gleichsam die Rolle eines Cicerone (z. B. beim Besuch einer Glashütte) übernimmt. Gleichwohl kommt es vor, dass Dubslav bei einer Begegnung mit Schülern der Umgebung ihr Geschichtswissen prüft, ob sie etwa wissen, dass die Schlacht bei Fehrbellin, wo brandenburgisch-preußische Truppen gegen die Schweden kämpften, im Juni 1675, die Schlacht bei Leipzig (die berühmte Völkerschlacht) zwischen den Verbündeten Preußen, Österreich, Russland und Schweden gegen die Truppen Napoleons aber im Oktober 1813 stattgefunden hat. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg hat Fontane zahlreiche Ortschaften der Region Revue passieren lassen und ihre Geschichtsträchtigkeit mit der Akribie eines (Kultur-)Historikers offengelegt. Ähnliches begegnet aber auch an verschiedenen Stellen im Stechlin, wo er seinen Lesern kleine (kultur) geschichtliche Lektionen ans Herz legt. Sie werden zumeist in die Figurenrede bzw. in Dialoge eingebettet, so dass sich manche Figuren als sehr gebildet und damit als eminente Repräsentanten des Bildungsbürgertums erweisen. Das gilt auch für den Dorfschullehrer Krippenstapel, der beim Besuch einer Kirche in der (ehemaligen) Grafschaft Ruppin die folgende Geschichtslektion seinem Gesprächspartner (und damit auch dem Leser) erteilt: Dieser Grafschaftswinkel hier ist von mehr mecklenburgischem und uckermärkischem15 als brandenburgischem Charakter, und wenn wir für unsre Stechliner Kirche nach Vorbildern forschen wollen, so werden wir sie wahrscheinlich in Kloster Himmelpfort16 oder Gransee17 zu suchen haben, aber nicht in Dom Brandenburg. Ich möchte hinzusetzen dürfen, daß Oberlehrer Tuchebands Aufstellungen, soviel ich weiß, unwidersprochen geblieben sind (St, S. 62).

Offenbar legte Fontane großen Wert auf Ortskunde und regionales Geschichtswissen, indem er keine Gelegenheit versäumte, diese seinen Lesern zu vermitteln. Der regionale Raum, darunter der Raum der Provinz (Brandenburg), 15 Die historische Region Uckermark befindet sich in Norddeutschland und deckt sich im Großen und Ganzen mit den Landkreisen Uckermark, Oberhavel und Barnim in Brandenburg. 16 Das Zisterzienserkloster Himmelpfort (gegr. 1299) befand sich in der Uckermark, heute sind aber nur noch seine Ruinen zu sehen. 17 In Gransee (Brandenburg) wurde Ende des 13. Jahrhunderts ein Franziskanerkloster gegründet. Seine Mauern stehen bis heute.

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umfasst also nicht nur topographische Orte, denen sich ihrerseits kleinere oder Mikroräume wie eine Schule, eine Kirche oder ein Kloster subsumieren lassen, sondern auch eine breite Zeitdimension der Geschichte, die immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Erinnerungsorte als Träger (regional-)geschichtlichen Gedächtnisses sind im Stechlin-Roman Legion. Sie erstrecken sich mehr oder weniger über die ganze Provinz Brandenburg. Was Berlin anbelangt, wo der Roman teilweise spielt, so bildet es einen eigenen Raum mit einer speziellen, städtischen Topographie. Von Dubslav leicht ironisch als »echte[s] und rechte[s] Philisternest« (St, S.  307) apostrophiert, dessen Bewohner »seinen Zustand nur an seiner eignen kleinen Vergangenheit, nie aber an der Welt draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt ist, weder eine Vorstellung hat noch überhaupt haben will« (St, S. 114), erlangt Berlin samt Umgebung (etwa Treptow oder Stralau) als Handlungsort (Besuche, Kahnfahrt, politische Handlungen) doch eine eminente Bedeutung im Roman. Zur topographischen Beschreibung der preußisch-brandenburgischen Hauptstadt gehören (neben den oben erwähnten Dielen) u. a. das Kronprinzenufer, die Alsen-und Moltkebrücke,18 das Brandenburger Tor, die Ringbahn oder die Jannowitzbrücke.19 Eine besondere Physiognomie Berlins wird an einer Stelle des Romans in einem Vergleich mit München sichtbar, der regionale Unterschiede in Erscheinung treten lässt. Es geht um eine Szene am Spreeufer, wo die Baronin an einem Baum die Aufschrift »Wiener Würstel« und daneben »das gefällige Wort Löwenbräu« (St, S. 150) entdeckt, das sie mit der Behauptung, »daß man ein echtes Münchener [Bier] überhaupt nur noch in Berlin tränke« (ebd.) glossiert. Die ironische Bemerkung wird allerdings mit der Antwort konterkariert, der Sonnenuntergang sei in Berlin »ebenso gut wie woanders«. Der regionale Raum Berlin wird also auf der Ebene des Figurendiskurses jenem von München entgegengestellt, wodurch zeitgenössische Meinungen und Vorurteile zu Wort kommen. Ähnlich verhält es sich übrigens mit dem Vergleich der eigenen, brandenburgischen Region mit Süddeutschland, wiederum zu Ungunsten der ersteren: »Es ist doch merkwürdig, daß die Süddeutschen uns im Gesellschaftlichen immer um einen guten Schritt vorauf sind, nicht von Bildungs, aber von glücklicher Natur wegen. Und diese glückliche Natur, das ist doch die wahre Bildung« (St, S. 206). Ein regionaler Raum ist nicht nur die Summe von Gegenständlichkeit oder Artefakten, sondern er wird auch in (regionalen) Bewusstseins-, Gedächt18 Kleine, aber massive Brücke über der Spree auf Steinpfeilern, im heutigen Ortsteil Tiergarten, gebaut 1886–1891. 19 Eine ebenfalls die Spree überspannende Brücke, Erstbau 1822, Neubau 1881–1883.



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nis- und Identitätsformen reflektiert bzw. semantisiert. Diese werden von Fontane hauptsächlich in den Räumen der ›Provinz‹ bzw. im Raum ›Berlin‹ mehrschichtig entfaltet. Zu dieser Mehrschichtigkeit gehören auch Grenzüberschreitungen zwischen Regionalität und Globalität, die sich auf diskursivgeschichtlicher Ebene sowohl in der ›Provinz‹ als auch im Kulturraum ›Berlin‹ vollziehen. In den langen Tiraden des Majors Dubslav über Preußens Beziehung zu Russland z. B. lässt sich eine Art Transnationalität beobachten: In Ihrem Regiment, sag ich, Herr von Czako; schon sein Name bedeutet ein Programm, und dies Programm heißt: Rußland. Heutzutage darf man freilich kaum noch davon reden. Aber das ist Unsinn. Ich sage Ihnen, Hauptmann, das waren Preußens beste Tage, als da bei Potsdam herum die ›russische Kirche› und das ›russische Haus› gebaut wurden und als es immer hin- und herging zwischen Berlin und Petersburg (St, S. 44).

In den gleichen Kontext gehören Anspielungen auf »Jenseits des Njemen«,20 die »drei Alexander«21 und auf ein (russisches) Alexandertum, bzw. einen »NichtAlexander«, nämlich den Zaren Nikolaus I., den Spötter zwar den »schwarzen Niklas« nannten, dessen Kürassiere aber er, Dubslav von Stechlin, besonders schätze. Aus der Perspektive des Majors erscheinen also die Russen bzw. die russischen Zaren nicht etwa als Feinde, als das Fremde schlechthin, sondern die Kulturdifferenzen lösen sich in der erinnerten Geschichte (der Preußen und Russen) auf: Es geht hier wohl um ein transkulturelles Gedächtnis, das sich aber gleichzeitig individuell artikuliert.22 Eine globale Perspektive tritt indessen in einer Szene im Rheinsberger Wahllokal zutage, nämlich in der von Thormeyer, dem Rheinsberger Rektor, vorgetragenen Geschichte von dem König von Siam und seiner geschändeten Tochter, die erst nach einem zeremoniellen Bad in Stierblut ihre Reinheit wiedererlangt. Die kurze Geschichte, die in der Unterhaltung der Wahlberechtigten als (ironisch gefärbte) Illustration der Universalität der »Entsühnung« dienen soll, lässt sich zu den vielen Binnengeschichten und Anekdoten des Romans zählen, die gleichzeitig die Raum- und Zeitdimensionen des 20 Nämlich den Russlandfeldzug bzw. den Sechsten Koalitionskrieg von 1812–1813, als Preußen gegen das napoleonische Frankreich zu Russland überging. Njemen/Niemen ist der russische/polnische Name des Flusses Memel, der aus dem heutigen Weißrussland in die Ostsee fließt. Beim Angriff gegen Russland wurde er von der napoleonischen Grande Armée am 24. Juni 1812 überquert. 21 Anspielung auf die drei Kaiser Russlands mit dem Namen Alexander: Alexander I. Pawlowitsch Romanow (1777–1825), Alexander II. Nikolajewitsch (1818–1881) und Alexander III. Alexandrowitsch Romanow (1845–1894). 22 Dass in der Erzählwelt Fontanes »Inter- und Transkulturelles« mit einkodiert ist, darauf hat u. a. Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane: Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018, S. 171–174 hingewiesen.

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Fontane’schen Erzählens erweitern und verflechten. Der Diskurs über Globalität scheint zudem eine universell-religiöse Dimension zu berühren, die Kontinente übergreift, und bei aller Reserve, die von der leichten Ironie bzw. der Distanz zu den redenden Figuren geboten wird, die Idee religiöser Toleranz aufklärerischer Herkunft trotz der christlich-moralisierenden Diskursdominante anspricht: Ja […] so was gibt es. Und es ist ein Glück, daß es so was [wie Entsühnung] gibt. Denn die arme Menschheit braucht es. Das Wort Purgatorium will ich vermeiden, einmal, weil sich mein protestantisches Gewissen dagegen sträubt, und dann auch wegen des Anklangs; aber es gibt eine Purifikation. Und das ist doch eigentlich das, worauf es ankommt: Reinheitswiederherstellung. Ein etwas schwerfälliges Wort. Indessen die Sache, drum sich’s hier handelt, gibt es doch gut wieder. Sie begegnen diesem Hange nach Restitution überall, und namentlich im Orient – aus dem doch unsre ganze Kultur stammt – finden Sie diese Lehre, dieses Dogma, diese Tatsache (St, S. 197).

Solche Verflechtungen von Kulturräumen sind im diskursiven Kontext Berlins wohl noch häufiger. Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts war zwar noch nicht die Großstadt der späteren Jahre, dennoch zeigte es bereits Merkmale eines zunehmenden Kosmopolitismus. Das Beispiel hierfür liefert Fontane mit der Familie des Grafen Barby, deren Vorgeschichte nach England führt und deren Biographie eine transnationale oder globale Perspektive im Roman eröffnet. Es lässt sich darin sogar ein ›englischer Raum‹ feststellen, allerdings lediglich auf der diskursiven Ebene, d. h. nicht als direkter, gegenwärtiger Handlungsort, sondern als Erinnerungsraum, als Raum biographischen Erzählens, so etwa bei der Schilderung der Kindheitserlebnisse der Grafentochter Armgard Barby in London oder im (durchaus ironisch gefärbten) Reisebericht des Bildungsphilisters Herbstfelde: Statt Westminster, Oxford oder Cambridge zu besuchen, wie von seinem Dialogpartner vorausgesetzt, habe er die ganze Londoner Aufenthaltszeit von drei Wochen in Omnibussen bzw. in einer Matrosenkneipe hingebracht, wenn er eben nicht mit seiner Mary im Zimmer liebäugelte. Fontane war eine Autorität in Sachen England; die Forschung hat längst nachgewiesen,23 welch eminente Bedeutung die England-Aufenthalte für seine Schriften, einschließlich seiner Publizistik, hatten, bzw. mit wie viel Interesse er sich der Geschichte und Kultur Englands (und Schottlands) zuwandte. Auch Der Stechlin liefert diesbezüglich Belege genug: Ein nuanciertes Bild von London und England gestaltet sich etwa in den Berichten des Grafen Barby im Kontext einer merkwürdigen Kontrastierung mit der Kultur Italiens (die 23 So Charlotte Jolles in ihren Studien bereits seit den siebziger Jahren, vgl. u. a. Charlotte Jolles, Fontanes Studien über England. In: Hans-Erich Teitge und Joachim Schobeß (Hrsg.), Fontanes Realismus, Berlin 1972, S. 95–104.



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übrigens am Ende des Romans in Armgards Reisebericht aus Rom nochmals thematisiert wird): In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben ganze Kollektionen davon. Also möglichst wenig Historisches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit Ausnahme von Westminster. Ich glaube, was man so mit billiger Wendung ›Land und Leute› nennt, das ist und bleibt das Beste. Die Themse hinauf und hinunter, Richmond Hill […] und Werbekneipen und Dudelsackspfeifer. Und wenn Sie bei Passierung eines stillen Squares einem sogenannten ›Straßen-Raffael› begegnen, dann stehenbleiben und zusehen, was das sonderbare Genie mit seiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten Straßensteine hinmalt. Denn diese Straßen-Raffaels haben immer nur eine linke Hand (St, S. 215).

Wenn der beschworene Kultur- und Erinnerungsraum England seltsamerweise »wenig Historisches« vorzuweisen habe, so bleibt die Rolle der englischen Sprache im Roman eine besondere. Ihre mehrfache Präsenz im Text markiert die sprachlichen Grenzüberschreitungen im Roman, an solchen Stellen nämlich, wo sich englische Lexeme, Sätze und Syntagmen in den deutschsprachigen Kontext einschieben. So erinnert sich etwa Armgard an ihre Kindermuhme in London namens Susan, die einmal beim Anblick eines Brunnens wie folgt sprach: »›Look at it, dear Armgard. There stood Tyburn Gallows‹.« (St, S. 231). In den Dialogen werden der Tower und der Traitors Gate gerühmt, Letzterer wird sogar detailgetreu geschildert und mit Reminiszenzen aus der (blutigen) Geschichte Englands und Schottlands verknüpft: »… und wer alles stieg diese Stufen hinauf: Essex, Sir Walter Raleigh, Thomas Morus und zuletzt noch jene Clanhäuptlinge, die für Prince Charlie gefochten hatten24 und deren Köpfe, wenige Tage später, von Temple Bar herab, auf die City niedersahen.« (St, S. 220). In den Gesprächen der Barbys geht es zudem um shopping und five o’clock tea, der Gast Mr. Robinson fragt beim Anblick einer Amor-Statue, was this little fellow with his arrow tut, er spricht von widow oder virginity usw. Die Diglossie ist somit eine Form der (sprachlichen) Grenzüberschreitung in Fontanes Texten, die aber stets mit kulturellen bzw. kultur-räumlichen Entgrenzungen einhergeht. Sie zeigt in Richtung einer globalen Dimension seines Erzählens im Stechlin-Roman, dessen Textwelt allerdings vorwiegend in Fontanes berlin-brandenburgischer Heimat verankert ist.

24 Anspielung auf Charles Edward Stuart, genannt auch Bonnie Prince Charlie (1720– 1788), der als Prätendent auf den englischen Thron 1745 an der Spitze der sog. Highland-Clans den Zweiten Jakobitenaufstand in Schottland auslöste, in England jedoch scheiterte.

»Mit der alten Welt Schicht zu machen«

Topographische und symbolische Grenzverschiebungen in Theodor Fontanes Kolonialdiskurs Valentina Serra

I. Das Werk Theodor Fontanes und seine Zeit Im Laufe des 19.  Jahrhunderts entstand bekanntlich ein neues Raum- und Zeitbewusstsein, das insbesondere durch die wissenschaftlichen und geographischen Entdeckungen und technologischen Erfindungen der Zeit erzeugt wurde; geprägt wurde diese Epoche vor allem durch die industrielle Revolution, die sich ausgehend von den Britischen Inseln in Europa verbreitete. Räumliche und zeitliche Abstände verringerten sich unter anderem dank der vielen Forschungsreisen in Afrika und der neuen Verkehrsmittel wie Zug oder Dampfschiff. Das räumliche und topographische Thema wurde deshalb in der damaligen Gesellschaft, die maßgeblich von der Durchsetzung der bürgerlichen Klasse geprägt war, viel diskutiert.1 Theodor Fontanes Werk zeichnet sich durch vielfältige Informationen über Räume und Leben seiner Zeit aus, die er in einem Textgewebe miteinander verbindet, und mit deren Hilfe er Subtexte kodiert, die ihm ein feinsinnig facettiertes Spiel ermöglichen, so dass jede auch unbedeutend erscheinende Stelle eine doppelte Botschaft zu enthalten scheint.2 In diesem Sinn hat der Autor die Kategorien von Ferne und Nähe mit Bezug auf seine zeitgenössische Realität oft vor dem Hintergrund der Ironie und des Humors behandelt – nicht nur um aktuelle und modische Themen zu diskutieren, sondern auch um den Begriff von Raum und Zeit metaphorisch auf der Ebene der Machtbeziehungen zwischen den Klassen und Geschlechtern zu behandeln. Grenzen und die Erfahrung der Grenzüberschreitung sind bei Fontane Symbole für 1

2

Siehe u. a. Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 1; Vanessa Stiebeling, Kolonialismus und Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Romanen ›Effi Briest‹ und ›Irrungen, Wirrungen‹. Eine Reise in die Kultur des 19. Jahrhunderts, München/Ravensburg 2015. Siehe z. B. Xiaoqiao Wu, »Vielleicht haben wir den Kaiser vis à vis«: Neue Beobachtungen zu Theodor Fontanes Nachlassroman ›Mathilde Möhring‹. In: Neophilologus 102 (2018), S. 387–401.

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eine Gesellschaft, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend veränderte.3 Die Achtung von Grenzen und jede topographische und metaphorische Grenzüberschreitung werden, so Rolf Parr, eine »Form der Übersemantisierung von Räumen und Grenzen«,4 die auf die Realität der Zeit und deren kritische Analyse anspielt. Das Konzept des vertrauten bzw. unbekannten Raumes ist in Fontanes Werk sehr komplex. Die Sehnsucht des späten 19. Jahrhunderts nach dem Unbekannten und Fremden, die Vorliebe für Entdeckungsreisen und nicht zuletzt die Kolonialprojekte treten mit Nachdruck in sein Werk ein und werden zur Metapher für das Verlangen des Einzelnen, über die Grenzen des Erlaubten hinauszugehen und die materiellen, sozialen und moralischen Zwänge der Gesellschaft zu durchbrechen. Die Grenzüberschreitung entspricht in Fontanes Werk oft dem überwältigenden Bedürfnis des Menschen nach Befreiung vom sozialen Korsett, das im Gegensatz zu seinen Wünschen steht. Gleichzeitig schildert Fontane jedoch eine vielschichtige, komplexe und widersprüchliche Gesellschaft, in der das Konzept von ›anderswo‹ bisweilen relativiert, wenn auch nicht aufgehoben wird. Der immense und geheimnisvolle afrikanische Kontinent, der zu dieser Zeit erkundet und von vielen Forschern beschrieben wird, steht im Werk des Autors in Beziehung zu bekannten Orten, die oft Elemente außergewöhnlicher Kontinuität mit jenem fremden Kontinent offenbaren. So erscheint das ferne und mysteriöse Afrika manchmal ähnlich wie Preußen oder Berlin. In diesem Beitrag werde ich anhand einer Reflexion über die Darstellung von Grenzüberschreitungen in sozialen und zwischengeschlechtlichen Machtverhältnissen im ausgehenden 19.  Jahrhundert die Rolle der von Fontane mehrfach auch explizit thematisierten Kolonialerfahrung verfolgen. Diese Reflexion soll zum einen zur Erforschung der narrativen Strategien von Theodor Fontane und seiner Positionierung in Bezug auf die grundlegenden Themen 3 Siehe u.  a. Dirk Oschmann, ›Wo soll man am Ende leben?‹ Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes ›Stopfkucken‹ und Fontanes ›Stechlin‹. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/Boston 2013, S. 213–236; Hans Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen. In: Kodikas / Code Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics 22 (1999), S. 3–12; Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 212–228. 4 Siehe Rolf Parr, Die nahen und fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit in Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Berbig und Göttsche (Hrsg.), Metropole, Provinz und Welt, S. 53–76, hier S. 70. Über dieses Thema siehe auch Michael James White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹: Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 109–123.



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des Kolonialismus und Imperialismus beitragen und zum anderen die Untersuchung des Einflusses von Forschungsreisen und Reiseliteratur auf die Kultur und die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs vertiefen.

II. Theodor Fontane und die deutsche Kolonialerfahrung Mit der sogenannten Afrika- oder Kongokonferenz (1884–1885) fing offiziell auch das Deutsche Kaiserreich trotz anfänglicher Skepsis von Otto von Bismarck an, zu einer Kolonialmacht zu werden. Wirtschaftliche Gewinnerwartungen, die künftige Sicherung der Rohstoffbasis und Machtrivalitäten, die den deutschen Imperialismus kennzeichneten, hatten unter anderem einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Literatur, Kunst und Architektur. Wie Axel Dunker hervorhebt, ist die Kolonialerfahrung in die Struktur des Literarischen, insbesondere in das »Doppelbödige des Realismus [eingesenkt], der mit der Differenz arbeitet zwischen Außenseite und Untergrund, zwischen Oberflächendiskurs und Subtext«.5 Das kritische Interesse Theodor Fontanes an seiner Zeit und deren Neuheiten, von den technischen Innovationen bis zu den geographischen Entdeckungen und den politischen Entscheidungen, wurde von vielen Forschern betont.6 Einige Zeitgenossen (darunter Paul Meyer)7 behaupten, dass Fontane, die Karte in der Hand, den von Henry Morton Stanley eingeschlagenen Weg im Lichte seiner Reiseberichte verfolgt und es ihm Spaß gemacht habe, mit seinen Freunden in der Kenntnis afrikanischer Orte zu wetteifern, von denen in zahlreichen Reiseberichten und Zeitungsartikeln die Rede war.8 Der afri5

Axel Dunker, Das Unbehagen am Kolonialismus. In: Ders., Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, S. 167–172, hier S. 167. 6 Siehe Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 91; Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest, S. 218; Reinhard Finke, »... der Äquator läuft ihnen über den Bauch.« Namen und Geschichten zu Afrika in Fontane: ›Effi Briest‹ und anderswo. In: Bettina Gruber und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, Würzburg 1999, S. 297–315. 7 Siehe Claudius Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor. Der Kolonialdiskurs und das Hirngespinst vom spukenden Chinesen in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122/4 (2003), S. 544–563, hier S. 544–545. 8 Siehe Paul Meyer, Erinnerungen an Theodor Fontane 1819–1898, Berlin 1936, S. 23: »Über dem Sofa, auf welchem Fontane lag, mit einem großen Rohrstock in der Hand, hing eine große Karte von Afrika. Daneben stand Zöllner. Dieser rief kurz einen Ort, etwa: ›Togo‹, und sofort knallte der Rohrstock gegen die Karte. Nun wurde festgestellt, ob der Stock richtig getroffen hatte, dann gings weiter: ›Dar-es-Salaam‹ – Knall –

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kanische und der amerikanische Kontinent tauchen in verschiedenen Werken Fontanes auf und werden allmählich zu Räumen, die aus der Ferne exotisch, offen und verheißungsvoll erscheinen und in denen es möglich ist, ein durch gesellschaftliche Zwänge ersticktes Leben neu zu beginnen und sich von den strengen gesellschaftlichen Regeln zu befreien. Gleichzeitig wurde das Anderswo zum Prüfstein, um eine sich sehr schnell verändernde Realität zu verstehen. Vor allem wegen der zahlreichen Erkundungsreisen, die die Deutschen mit als Erste unternahmen, wurde der in seinen innersten Gegenden begehrte afrikanische Kontinent allmählich eine konkrete, greifbare Realität und verlor langsam die Konnotation des Geheimnisvollen. Aus dem Gedicht Afrikareisender ergibt sich beispielsweise eine wesentliche Ununterscheidbarkeit zwischen Kamerun und Berlin, indem Ferne und Nähe, Fremde und Vertrautheit – bei allen mit ihnen verbundenen Besonderheiten – als ähnlich bezeichnet werden: »Hier oder da, nah oder fern / Macht keinen Unterschied, meine Herrn«.9 Auch im Roman Effi Briest wird Afrika als ein zunehmend vertrauter Kontinent beschrieben, da die Figur Marietta Trippelli behauptet, »die Welt sei so klein und in Mittelafrika könne man sicher sein, plötzlich einem alten Bekannten zu begegnen«.10 In diesem Sinn stellt das Werk Fontanes die Gesellschaft seiner Zeit und deren Widersprüche nicht zuletzt auch in Bezug auf Kolonialismus und Imperialismus als problematisch dar. Fontane interessierte sich seit Mitte der 1850er Jahre für die kolonialen Erfolge der Engländer und beobachtete bewundernd ihren nationalen Zusammenhalt, der seine auffälligsten Manifestationen gerade im Zusammenprall mit anderen, als minderwertig betrachteten Völkern fand. Fontane pries die nationale Einigkeit und den nationalen Geist Britanniens (wie der letzte Vers des Gedichtes Fire, but don’t hurt the flag bestätigt: »Wann kommt auch für uns der goldne Tag: Fire, but don’t hurt the flag!«).11 Fontanes anhaltendes Interesse an der Kolonialpolitik trat besonders in den 1890er Jahren – mit einer zunehmend kritischen Haltung – zutage, wie die Korrespondenz mit James Morris zeigt, den er seit den 1850er Jahren kannte. Der Briefwechsel wurde wahrscheinlich ab März 1893 wieder aufgenommen und konzentrierte ›Tanganjika‹, – Knall, usw. So trieben die beiden alten Herren Erdkunde, bemüht, sich das damals neue deutsche Kolonialreich zu eigen zu machen«. 9 HFA I/5, S. 389; über dieses Thema siehe Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 74. 10 Theodor Fontane, Effi Briest, Stuttgart 1969, S. 304; über dieses Thema siehe auch Dunker, Das Unbehagen am Kolonialismus, S. 168. 11 HFA I/5, S. 389; siehe Gudrun Loster-Schneider, Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1889 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen 1986; Sebastian Conrad, Andreas Eckert et al. (Hrsg.), Koloniale Begegnungen. Deutschland und Groβbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt am Main 2011.



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sich auf politische Fragen, einschließlich der britischen Kolonialpolitik:12 Am 26.10.1896 schrieb Fontane: »Die ganze Kolonisationspolitik ist ein Blödsinn: ›Bleibe zu Hause und nähre dich redlich‹«.13 Fontanes Urteil über Imperialismus und Kolonialismus gewann gegen Ende des Jahrhunderts an Strenge, als er sich in einem weiteren Brief an James Morris anlässlich des Sudankriegs für »wilde Völkerschaften und gegen alle Kulturbringerei« aussprach.14 Schließlich kündigt er das Ende des Kolonialismus, der Fortdauer einer »europäische[n] ›Zivilisation im Pizarrostil‹«, und den Bewusstseinserwerb seitens der »nichtzivilisierte[n] Welt« an, die einen »große[n] Menschheitsauffrischungsprozeß« einleiten könnte.15 In den späten Gedichten Britannia an ihren Sohn John Bull und Die Balinesenfrauen auf Lombok16 reagiert Fontane überaus bitter auf die Verschärfung der Kolonisierungspolitik der imperial ausgreifenden europäischen Mächte und meint damit implizit auch das Deutsche Kaiserreich, das nach dem Tod Wilhelms I. und dem Ausscheiden Bismarcks aus der Regierungsverantwortung unter dem jungen Kaiser Wilhelm II. von seiner vorsichtigen Kolonialpolitik abrückte, dabei den internationalen Frieden gefährdete und alle christlichen wie humanitären Prinzipien verriet. Die Ausweitungen geographischer Grenzen im Werk Fontanes lassen sich oft als metaphorische Anspielungen auf die Notwendigkeit anderer Grenzüberschreitungen deuten, in einer Gesellschaft, die einerseits von einem starren Verhaltenskodex unterdrückt wurde und andererseits durch einen starken Willen geprägt war, soziale, ethische und moralische Grenzen zu überwinden und zu revolutionieren: ein Wille, der in seinem Werk immer negative Folgen hat.

12 Über Fontanes Interesse an Kolonialfragen siehe Axel Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«. Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. In: Ders., Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 151–165. 13 Theodor Fontane an James Morris, HFA IV/4, S. 671. 14 Ebd., S. 588. 15 Ebd., S.  687; siehe auch Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«, S. 152–153. Hans Otto Horch ist jedoch der Meinung, dass Fontane nicht unbedingt als »Apostel der Weltdemokratie und Menschheitsharmonie« gepriesen werden solle: Seine Ambivalenz gegenüber absoluten Festlegungen sei vor allem an seinem Stolz auf das Deutsche Reich, seine nationale Einheit und seine jetzt hörbare Stimme im Konzert der Weltmächte erkennbar; siehe Hans Otto Horch, ›Christlich Kulturelles‹ als Camouflage. Theodor Fontanes antikolonialistische Ballade. ›Die Balinesenfrauen auf Lombok‹. In: Helmut Scheuer (Hrsg.), Gedichte von Theodor Fontane, Stuttgart 2001, S. 246–258, hier S. 257. 16 Siehe ebd.

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III. Die Notwendigkeit, Grenzen zu überschreiten Das Vorhandensein von räumlichen und metaphorischen Grenzen, die in den meisten Werken Fontanes auf soziale und moralische Verpflichtungen verweisen, stellt das Tabu des Verbotenen dar, das viele seiner Figuren zu brechen und zu überwinden suchen. Die oft nur erträumte Überwindung von Grenzen verweist in Bezug auf Fontanes Charaktere auf eine erhoffte Veränderung ihrer gesellschaftlichen Lage, die auch ethische Implikationen hat. Topographische Grenzen erlangen symbolisch soziale und zugleich kulturelle Dimensionen. Die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird als eine Realität in Bewegung dargestellt, in der auch Ethik und Moral beweglich werden. Grenzüberschreitungen werden zum Ausdruck des Wunsches nach persönlicher Rebellion gegen eine Reihe von sozialen Regeln und Gesetzen, also »Grenzen«, die von der Gesellschaft selbst auferlegt wurden. Die Tatsache, dass diese räumlichen Elemente häufig metaphorisch aus der Kolonialwelt oder jedenfalls aus der geographischen Ausdehnung des Reiches entlehnt sind, verweist, wie bereits erwähnt, nicht nur auf die zeitgenössische Realität, auf die damals zirkulierenden Nachrichten und die modischen Interessen, sondern auch auf den Willen zur Auflehnung gegen die gegebene Realität – nicht zuletzt in der Perspektive der Außenpolitik, die der Autor durch die Gegensatzpaare »Unterdrücker«/»Unterdrückte«, »Reichtum«/»Armut«, »Überlegenheit«/»Demut« darstellt.17 Im Roman Der Stechlin finden sich Hinweise auf die imperiale und koloniale Erfahrung, die die Realität der Zeit kennzeichnete. Czako kommentiert den Aufstieg seines Freundes Woldemar (»Donnerwetter, Stechlin, wo will das noch mit Ihnen hinaus!«), indem er voraussagt, Woldemar werde in einem halben Jahr Londoner Militärattaché sein, sich als Sieger in einem Steeplechase etablieren und als Generalgouverneur nach Mittelafrika umziehen, um das Leben der Eingeborenen zu ordnen (»links die Zwerge, rechts die Menschenfresser«).18 Die rasche militärische Karriere Woldemars könnte, so Czako, im Neuen, im Anderswo, im Exotischen der afrikanischen Koloni17 Siehe Stiebeling, Kolonialismus und Grenzüberschreitungen in Theodor Fontanes Romanen ›Effi Briest‹ und ›Irrungen, Wirrungen‹. 18 Theodor Fontane, Der Stechlin, Stuttgart 1978, S. 248. Über die Beziehung zwischen den Kulturen bei Fontane siehe Krzysztof Lipinski, Fontanes ›Stechlin‹ im Schnittpunkt der Kulturen. In: Zdzislaw Wawrzyniak und Krzysztof Druzycki (Hrsg.), Germanistik als interkultureller und interdisziplinärer Brückenschlag, Rzeszow 2000, S.  101–108; Günter Häntzschel, Die Inszenierung von Heimat und Fremde in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, S. 157–166.



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en eine verdiente Krönung finden. In diesem Sinne stellt das Anderswo, das facettenreiche Neue, das unwiederbringlich in die Realität der alten Welt eingebrochen ist, die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs dar. Abgesehen von der Ironie des zitierten Kommentars wurde von verschiedener Seite der Gegensatz zwischen zwei völlig unterschiedlichen Welten und Weltanschauungen, der Gegensatz von Stadt und Land, von weiter Welt und Provinz im Werk Fontanes hervorgehoben;19 andere Beiträge haben dagegen die Durchlässigkeit der Positionen betont, die Fontanes Figuren verkörpern, sowie die Fähigkeit des Autors, alles und das Gegenteil von allem darzustellen und in diesem Sinne eine treue Wiedergabe der Komplexität seiner Zeit zu liefern.20 Die Wahrnehmung der ›neuen Welt‹, die sich Fontanes Figuren öffnete, wurde auch durch die damaligen geographischen Entdeckungen und die kolonialen Eroberungen des Deutschen Reiches ermöglicht. Das Thema kann auch auf die Ebene der ›sozialen Mobilität‹ übertragen werden, denn wenn alles in Bewegung gerät, bleibt die Moral von diesen Änderungen nicht ausgenommen. Oschmann spricht daher von »eine[r] bewegliche[n] Moral« als »Zeichen einer Zeit, in der ›Worte‹ und ›Werte‹ mobil und immer schneller austauschbar geworden sind«.21 Somit ein Zeichen der sozialen und moralischen Grenzauflösungen. Das Koloniale und das Exotische im Allgemeinen können in der Tat mit der ehelichen Beziehung von Effi und Innstetten in Verbindung gesetzt werden.22 Axel Dunkers These zufolge stellt gerade die Umgebung des Hauses Kessin das Exotische dar, das die ehelichen Fragen zwischen Innstetten und Effi und die Untreue Effis inspiriert.23 Das exotische Interieur des Hauses ist viel mehr als Dekoration, es bildet den Anlass für das Hervortreten der inneren Phantasmen, die Effis Unglück und ihren Freiheitswunsch verraten. Und nicht zuletzt kann die ganze Themenkonstellation, die sich um die legendäre 19 Siehe z.  B. Eda Sagarra, ›Der Stechlin‹. Roman. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 662–679. 20 Siehe Helen Chambers, Großstädter in der Provinz. Topographie von Theodor Fontane und Joseph Roth. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 215–225. 21 Siehe Oschmann, ›Wo soll man am Ende leben?‹, S. 231; Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Rolf Parr ist derselben Meinung, indem er behauptet: »Die topografischen Grenzen werden bei Fontane auf diese Weise zu symbolischen sozialen und zugleich mehrdimensionalen kulturellen Grenzen« (Parr, Die nahen und die fernen Räume, S. 70). 22 Siehe Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«, S. 160; Judith Ryan, The Chinese Ghost. Colonialism and Subaltern Speech in Fontane’s ›Effi Briest‹. In: William S. Donahue und Scott Denham (Hrsg.), History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke, Tübingen 2000, S. 367–384, hier S. 375. 23 Siehe Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«.

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Figur des Chinesen und dessen Spuk dreht, bekanntlich als Verbindung zu Effis affektiver, ehelicher und sexueller Sphäre interpretiert werden. In den langen Nächten, in denen Innstetten auf Dienstreise ist, glaubt die Protagonistin tatsächlich, den Geist des Chinesen in ihrem Schlafzimmer zu spüren. Die unglückliche Geschichte des Chinesen ist eine eindeutige Anspielung auf die Beziehungen zwischen unterdrückten Völkern und europäischen Kolonisatoren: Der Chinese, der im Roman nur als Erinnerung auftaucht, kam als Diener eines Militärangehörigen, der ihn während einer Dienstreise kennengelernt hatte, nach Europa. Die Überlappung eines exotischen und eines erotischen Elements tritt bei Fontane eben durch die Gestalt des Chinesen auf, der sich wahrscheinlich in die Nichte seines Herrn verliebte – mit den bekannten tragischen Folgen. Fontane benutzt den Spuk des Chinesen, um auf ein funktionierendes Angstklischee aufmerksam zu machen. Die Inbesitznahme von Frauen wird im 19. und 20. Jahrhundert zugleich als Inbesitznahme von Ländern wie Amerika, Afrika oder Südseeinseln interpretiert. Auch Innstetten versucht, Effi während seiner Abwesenheit durch die Angst vor dem Chinesen zu kontrollieren.24 Fontane arbeitet mit Angstassoziationen, da China zu dieser Zeit, so Peter Utz, ein ›Modellfall eines deutschen Handelsimperiums‹, und zugleich Chiffre für ›Verschlagenheit‹, ›Treubruch und Übervorteilung‹ war.25 Mit der Präsenz des Chinesen in den Geschichten der Dienstmädchen und in der Stadtrealität von Kessin wird unverkennbar eine Grenzüberschreitung dargestellt, insofern seine Geschichte den Bruch der sozialen und moralischen Ordnung andeutet, da er sich in eine Europäerin verliebt.26 Innstetten seinerseits nutzt den Spuk des Chinesen aus, um Effi während seiner langen Abwesenheit durch Angst in Schach zu halten. Aber genau diese Figur, die die junge Braut erschreckt und gleichzeitig anzieht, spielt auf eine Gemeinsamkeit des Chinesen und Effis, beide als Außenseiter, an: Während der Chinese als 24 Siehe Oschmann, ›Wo soll man am Ende leben?‹, S. 215. 25 Siehe Peter Utz, Effi Briest, der Chinese und der Imperialismus: Eine ›Geschichte‹ im geschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 212–225, hier S. 215, 217; Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«, S. 158–159. 26 Über die Beziehung zwischen Effi und dem Chinesen siehe u. a. Ulrike Rainer, Effi Briest und das Motiv des Chinesen. Rolle und Darstellung in Fontanes Roman. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S.  545–561; Dietmar Storch, »... unterm chinesischen Drachen ... Da schlägt man sich jetzt herum«. Fontane, der Ferne Osten und die Anfänge der deutschen Weltpolitik. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 1: Der Preuße, Die Juden, Das Nationale. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S.  113–128; Karl S. Guthke, ›Wer bin ich?‹ Fontanes Exoten. In: Ders., Die Entdeckung des Ich. Studien zur Literatur, Tübingen/Basel 1993, S. 123–145. Über den kolonialen Diskurs in Fontanes Werk siehe auch Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor.



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Fremder und Diener außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist Effi nach der Liebschaft mit Major Crampas eine von der bürgerlichen Welt verstoßene Ehebrecherin. Beide haben die Grenzen überschritten, haben die sozialen und moralischen Regeln der Gesellschaft gebrochen und wurden, konkret und metaphorisch, von ihr ausgeschlossen und bestraft. Ihre gemeinsame Position jenseits der damaligen bürgerlichen Gesellschaft wird durch ihre Ruhestätten außerhalb von christlichen Friedhöfen bestätigt.27 Innstettens Reaktion auf den Ehebruch ist zugleich eine andere Form von Grenzüberschreitung, wie sein Nachsinnen über die Verortung der ›Grenze‹ zeigt (»Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten?«).28 Er träumt letzten Endes von einem Weg jenseits der Grenzen der Gesellschaft und der von der europäischen Kultur beherrschten Welt: »weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, tut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe ...«.29 Solche Fluchtträume werden durch die kalte Reaktion von Wüllersdorf entschärft, der behauptet, dieses Schicksal passe nicht zu zivilisierten Ehrenmännern wie Innstetten, sondern zu verschuldeten Militärleuten, die einen roten Fez tragen und sich lächerlich machen, Blutsfreundschaften mit lokalen Königen schließen oder, Tropenhelm auf dem Kopf, »am Kongo entlangtasten, bis [s]ie bei Kamerun oder da herum wieder herauskommen«. All dies sei für ihn »unmöglich« und die einzige Lösung für Innstetten bestehe darin, »einfach hier[zu]bleiben« und »Resignation [zu] üben«.30 Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Möglichkeit der Flucht aus 27 Siehe Rainer, Effi Briest und das Motiv des Chinesen, S. 555: »Sobald der Orientale und die junge Frau gegen ihre untergeordnete Stellung rebellieren, indem sie selbständig handeln, und ihre Sexualität nicht verbergen, erfahren sie die Härte der Gesellschaft.« Die Bedeutung der Figur des Chinesen wird von Fontane selbst bestätigt, der ihn einen »Drehpunkt für die ganze Geschichte« nannte und sich in einem Brief an den Dichter Viktor Widmann über das mangelnde Interesse der Leser an dieser Figur beklagte; Theodor Fontane, Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler. Bd. 2, Berlin/Weimar 1968, S. 386. 28 Fontane, Effi Briest, S. 276. 29 Ebd., S. 328. Über die von Fontane dargestellte Meinung der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts über das Verhältnis von Zivilisation und Wildheit wäre vieles zu sagen. Hier sei z. B. die Haltung der Domina Adelheid im Roman Der Stechlin erwähnt: In ihrem anti-britischen Ausbruch behauptet sie, die Briten seien zu Wilden geworden, denn sie hätten in ihren Kolonien ständige Kontakte mit Wilden. 30 Fontane, Effi Briest, S.  328. Reinhard Finke hat nachgewiesen, dass Fontane sich auf historisch existierende Figuren – und insbesondere auf Hermann von Wissmann

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einer erstickenden Gesellschaft – oder besser: auf die Träume von einer solchen Flucht – charakterisieren Fontanes Figuren.

IV. Geträumte Grenzüberschreitungen Die Formen der Grenzüberschreitung und der sozialen Rebellion haben oft Auswirkungen auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern, auch in Gestalt der Mésalliance. Eine solche »Grenzüberschreitung« erfolgt in Romanen wie Stine, Die Poggenpuhls und in dem postum erschienenen Werk Mathilde Möhring, in dem der Protagonist Hugo Großmann sich in die Kleinbürgerin Mathilde Möhring verliebt.31 Auch in Irrungen, Wirrungen übertreten Botho und Lene die sozialen Grenzen, indem sie sich verlieben. Botho ist Offizier und entstammt dem Landadel; Lene arbeitet als Plätterin und stammt aus einfachen Verhältnissen. Im privaten Bereich gehören Botho und Lene einander, aber letztlich bleiben sie doch in traditionellen Rollenbildern und konservativen Gesellschaftsvorstellungen gefangen, denn Botho gibt ihre Beziehung nicht zuletzt auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft auf. Im Roman Stine verliebt sich ein junger Adliger, Graf Waldemar, in eine Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht, die Schneiderin Stine. Da die Mésalliance das Familiengleichgewicht stören könnte, plant der junge Mann, »mit der alten Welt Schicht zu machen und drüben ein anderes Leben anzufangen«.32 Waldemars Onkel Graf Haldern banalisiert aber die Fluchtträume seines Neffen trocken und entmutigt ihn. Die Möglichkeit, den ehelichen Bund mit der Angehörigen einer niedrigeren gesellschaftlichen Schicht oder, noch schlimmer, mit Eingeborenen einzugehen, bedeutet, so Graf Haldern, das adlige Blut zu ›verraten‹, die ›Rasse‹ zu barbarisieren und letztendlich Spott zu erregen. Einen neuen Lebensanfang sollte man immer innerhalb der sozialen Normen machen, nicht mit der Herkunft brechen und »bei Adam und Eva wieder anfangen«.33 Grenzen überschreiten bedeutet für Waldemar etwas völlig Neues, Verbotenes, den Wunsch nach einem Neuanfang, der hier wegen seines (1853–1905) – und auf reale Ereignisse bezog, über die in der damaligen Presse prompt berichtet wurde; siehe Finke, »... der Äquator läuft ihnen über den Bauch«. 31 Die Grenzüberschreitungen in diesem letzten Roman werden von Xiaoqiao Wu mit dem Leitmotiv der Melusine – im Sinne einer angestrebten Alliance zwischen dem Preußischen Reich und dem Wasserbereich – und mit dem Thema des Todes verbunden; siehe Wu, »Vielleicht haben wir den Kaiser vis à vis«. 32 GBA I/11, S. 76. 33 Ebd. Über dieses Thema siehe auch Dunker, »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«, S. 151.



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Selbstmordes nicht stattfinden wird, denn Stine hat ihn zurückgewiesen, obwohl sie ihn auch liebt. Auch im Roman Die Poggenpuhls ist das Anderswo eine Freizone, in der man sich von gesellschaftlichen Zwängen lösen kann.34 Leo glaubt, er könne seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwinden, indem er eine ›schöne schwarze Jüdin‹ heiratet (allerdings eine Mésalliance) oder zu den ›echten‹ Schwarzen flieht, das heißt nach Afrika, wo man auch alles frei [hat], und wenn man einen Elefanten schießt, da hat man gleich Elfenbein so viel man will und kann sich ein Billard machen lassen. Und glaube mir, so was Freies, das hat schließlich auch sein Gutes […] Nu sieh, so was wie schuldhaft giebt es da gar nicht, weil es keine Schulden und keine Wechsel gibt und keine Zinsen und keinen Wucher.35

Es handle sich um eine Freizone, so Leo, die auf keinen Fall gefährlicher sei als das alte Europa und die ihm eine Fluchtmöglichkeit und einen Neuanfang auf dem afrikanischen Kontinent biete, ohne Schulden, Wechsel, Zinsen und Schuldhaft.36 Im Wesentlichen bestätigt Leos Antwort die Aufhebung von Grenzen, von scheinbar unüberbrückbaren Unterschieden zwischen ›zivilisierten‹ und fremden, ›wilden‹ Welten, von denen in der damaligen Gesellschaft oft die Rede war. Wie bereits in Bezug auf das Gedicht Afrikareisender erwähnt, besteht hier das Risiko einer Illusion von Freiheit, also einer nur imaginären Grenzüberschreitung in einer Welt, die sich allmählich überall ähnelt und in der sich Bekannt und Unbekannt, Nah und Fern überlappen. Afrika sei »so ’n Ort zweiter Klasse, also so wie Potsdam – da kann sich’s treffen, daß mir der Aequator, von dem du wohl schon gelesen haben wirst und der so seine guten fünftausend Meilen lang ist, daß mir der gerade über den Leib läuft«.37

V. Schlussfolgerungen Die geographische, räumliche Mobilität, durch die Fontane die wesentlichen Merkmale der Realität seiner Zeit aufgreift und die oft Gegenstand von zeitgenössischen Gesprächen des Bürgertums, aber auch breiterer Bevölkerungsanteile ist, wird zu einem subtilen Kunstgriff, durch den der Autor seine berühm34 Schon der Titel des Romans spielt auf den Namen des Afrika-Forschers Paul Pogge (1838–1884) an, der mit einer Freundin von Fontanes Tochter Martha verlobt war. Pogge wurde von Hermann von Wissmann nach Afrika begleitet, worauf, wie oben erwähnt, auch in Effi Briest angespielt wird; siehe Gabriele Radecke, Stoff. Aufgepickte ›Finessen‹ und ihre poetische Fiktionalisierung. In: GBA I/16, S. 125–136. 35 Ebd., S. 36. 36 Ebd. 37 Ebd.

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te kritische Darstellung der gesellschaftlichen Realität leistet. Die in seinen Werken wiedergegebenen imperialen und kolonialen Bilder und Phantasien bieten den Lesern nicht nur die Möglichkeit, über außenpolitische Fragen nachzudenken, sondern auch die Struktur der damaligen Gesellschaft und deren Zwänge zu betrachten, die die Freiheit des Einzelnen beschränkten und jeden Rebellionsversuch zum Scheitern verurteilten. Aus diesem Blickwinkel verarbeitet Fontane nicht nur das Thema Geographie und Kolonialismus, sondern verleiht auch dem diametral entgegengesetzten Standpunkt, das heißt dem reaktionären Widerstand gegen jenen räumlichen und sozialen Freiheitswunsch Ausdruck, der ein Zeichen des Wandels der Zeit war. Diese Überlegungen bestätigen die konkrete und metaphorische Dimension der Grenze und der Grenzüberschreitung im Werk Fontanes, denn der Aufforderung »Bleib zu Hause und ernähr dich redlich« wird durch die zu jener Zeit zunehmende soziale Mobilität in mehrfacher Hinsicht zuwidergehandelt. So meint Pastor Lorenzen im Stechlin: »[Die Menschen] haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber, jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein«.38 Durch die Darstellung eines ›anderen‹ Raumes, der durch die geographischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts und die kolonialen Eroberungen des Deutschen Reichs repräsentiert ist, gibt Fontane die Realität seiner Zeit wieder. Auch und vor allem in den Phantasien seiner Bewohner, die in ›anderen‹ Räumen Zuflucht vor den sozialen Zwängen suchten, erweiterte diese immer mehr ihre Grenzen. Fontanes Fähigkeit besteht darin, die komplexe konkrete und imaginäre Realität seiner Zeit einzufangen und dem Fluchtwunsch seiner Bewohner eine metaphorische Konnotation zu verleihen, die durch die ständige Konfrontation seiner Figuren mit der Moral und mit den strengen gesellschaftlichen Gesetzen der Zeit auf den Wunsch nach sozialer Förderung und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern anspielt.

38 Fontane, Der Stechlin, S. 318.

»Glück, Glück! Wer will sagen, was du bist und wo du bist!« Zur Topologie des Glücks bei Theodor Fontane1 Susanne Vitz-Manetti Die Frage nach Glück ist im Werk Fontanes ein zentrales Motiv.2 Anleitungen, wie ein Glück auf Erden zu erringen sei, gibt Fontane allerdings nicht. Romanund Briefwerk eröffnen vielmehr eine Vielzahl oszillierender oder einander widersprechender Anschauungen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind: Sicher ist nur, dass es »wo anders als in aufgethürmten 5 Thalerscheinen«3 zu suchen ist. Schon im Fragment gebliebenen Johann der Seifensieder heißt es: »Alles läuft darauf hinaus, sich von der Vorstellung frei zu machen: Geld sei Glück. […] Geld ist alles Mögliche, Macht, Quell von Gutem und Bösem [namentlich Bösem], aber Glück ist es nicht«.4 Die Definition ex positivo gestaltet sich ungleich schwieriger. Für den prädestinationsgläubigen Calvinisten Fontane ist »jeder glückliche Augenblick eine Gnade«, Glück kommt »auf tausend Straßen«,5 liegt gleichsam »auf der Straße, und der hat’s, der’s zu finden und aufzuheben versteht«.6 Die Palette der Anschauungen reicht von Renate von Vitzewitzs pietistisch-tröstenden Worten im Erstling Vor dem Sturm: »Was gibt Glück? Treu und stetig sein«, über das Glück der Entsagung: »Das Glück – kein Reiter wird’s erjagen. / Es ist nicht dort und ist nicht hier. / Lern überwinden, lern entsagen, / und ungeahnt erblüht es dir« ‒ so etwa in ironischer Brechung in Frau Jenny Treibel ‒ bis hin 1 2

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HFA I/2, S. 549. Ulrike Tanzer verweist in ihrer Habilitationsschrift Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur (2011) im Fontane gewidmeten Kapitel zum Romanfragment Allerlei Glück darauf hin, dass der Schlüsselbegriff Glück im Werk Fontanes dermaßen ergiebig ist, dass Ulf Diederichs einen eigenen Band zum Thema herausgeben konnte (Allerlei Glück. Ein Lesebuch, München 1998). Theodor Fontane an Emilie Fontane, HFA IV/2, S. 254. HFA I/7, S. 516. Zu ›Mammonismus‹, dem ›Kult um das goldene Kalb‹ und dessen Unfähigkeit, glücklich zu machen, verfasst er einen ganzen Roman, die 1887–1891 in Berlin entstandene Gesellschaftssatire Frau Jenny Treibel. Theodor Fontane an Martha Fontane. In: Theodor Fontane, Briefe an die Familie. Bd. 2, Berlin 1905, S. 195. Theodor Fontane an Theodor Fontane jun., HFA III/3, S. 529.

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zu Leo von Poggenpuhl, diesem hedonistischen Vorboten der Moderne:7 »[S]o muß man leben, immer so die kleinen Freuden aufpicken, bis das große Glück kommt. […] Und wenn es nicht kommt, dann hat man wenigstens die kleinen Glücke gehabt«.8 Und so gilt auch hier: Fontane liebt Paradoxe, unanfechtbare Wahrheiten sucht man vergebens. Dennoch ergeben sich Konstanten. Bereits Wolfgang Nehring bemüht sich in seinem 2002 erschienenen Aufsatz zum Thema Glückserwartungen und Glücksenttäuschungen in den Romanen Theodor Fontanes,9 drei verschiedene Glückskategorien zu definieren. Da ist zuerst einmal das Glück der kleinen Dinge des Alltags: »Gott, was ist Glück! Eine Griessuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen«.10 Dies Fliegenglück ‒ so Nietzsche im Zarathustra ‒ besteht vor allem im »behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen«.11 Griessuppe und »gut sitzende Stiefel«12 rufen zwar Zufrieden- und Behaglichkeit, niemals aber ein intensives Glücksgefühl hervor. Das überschwängliche »unbedingte und ungetrübte Glück« des Augenblicks ‒ die zweite Kategorie ‒ ist durch Intensität der Empfindung charakterisiert, dauert jedoch ‒ so Fontane an seine Tochter Mete am 4. August 1880 ‒ meist nicht »länger als 5 Minuten«.13 Fünf Minuten sind cum grano salis zu verstehen, denn sicher darf man auch das intensive Liebesglück zwischen Lene und Botho, das ja immerhin einen Sommer lang dauert, zu derlei unbedingtem Glück zählen. Die zentrale dritte Kategorie bezieht Glück auf das Lebensganze, meint ein dauerhaftes Lebensglück oder ‒ wie Melanie van der Straaten es formulieren wird ‒ das wirkliche Glück14 eines gelungenen Lebens. Und um dieses fundamentale Lebensglück soll es im folgenden Beitrag gehen. In einem frühen Gedicht mit dem Titel Glück aus dem Jahr 1847, erstmals bei Cotta 1905 veröffentlicht, skizziert der damals 28-jährige Fontane eine ländliche Szene der Stille, in der »Wunsch und Hoffen« schweigen: »Sonntagsruhe, Dorfesstille, / Kind und Knecht und Magd sind aus, / Unterm Herde 7 Vgl. Peter von Matt, Wetterleuchten der Moderne. In: Ders., Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur, München 2007, S. 213–225. 8 HFA I/4, S. 507. 9 Wolfgang Nehring, »Das Glück läuft hinterher« ‒ nicht nur bei Brecht: Glückserwartungen und Glücksenttäuschungen in den Romanen Theodor Fontanes. In: Helmuth Koopmann und Manfred Misch (Hrsg.), Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans-Jörg Knobloch, Paderborn 2002, S. 91–99. 10 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, HFA III/3, S. 339–340. 11 Vgl. Innstetten in Effi Briest, HFA I/4, S. 285. 12 Ebd. 13 Theodor Fontane an Mete Fontane, HFA III/3, S. 94: »Es giebt kein unbedingtes und ungetrübtes Glück, das länger als 5 Minuten dauert.« 14 Die Formulierung »wirkliches Glück« stammt von Melanie van der Straaten, nunmehr Rubehn, in L’Adultera, die nicht länger in einer Konvenienzehe gebunden ist und mit dem geliebten Mann zusammenlebt. HFA I/2, S. 115.



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nur die Grille / Musizieret durch das Haus. ‒ Tür und Fenster blieben offen, / Denn es schweigen Luft und Wind, / In uns schweigen Wunsch und Hoffen, / Weil wir ganz im Glücke sind«.15 Im Moment des Freiseins von »Wunsch und Hoffen«, der Freiheit vom Willen ‒ möchte man mit Schopenhauer formulieren ‒ lässt sich zuerst einmal eine vierte, Nehrings Ausführungen ergänzende Kategorie erkennen, nämlich das Glück der Selbstvergessenheit. In einem Brief vom 27. Februar 1891 an Fontanes Tochter Mete heißt es genau in diesem Sinne: »Die schönste Wirkung eines Kunstwerks auf uns, […] ist die, daß wir uns dabei vergessen. Die Sprache, immer tiefsinnig, nennt das ›sich verlieren‹ und drückt damit das Höchste aus, das uns zu Theil werden kann. Auch das höchste Glück. Denn dies gerade liegt in dem ›sich verlieren‹. In unsrem gewöhnlichen Zustande sind wir immer nur mit unsrem Ich beschäftigt, das wir befriedigen wollen und je mehr wir danach ringen, je weniger fühlen wir uns befriedigt, je unglücklicher werden wir. Denn das Ich und wieder Ich ist unser Leid, unser Druck, unsre Qual. Und nun treten wir an ein Kunstwerk heran und verlieren uns darin! Das ist Erlösung vom ›ich‹, Befreiung, Glück.« So ungefähr. Man liest nicht oft so gute Stellen.16

Der Zustand der völligen Selbstvergessenheit ist jedoch nur ein »außergewöhnlicher«, keinesfalls dauerhafter. Das wirkliche Glück eines Lebensganzen zielt tiefer. Bereits die Formulierung »Im Glück sein«, also die präpositionale Verknüpfung des Glücks als situativer Ergänzung des Verbes »sein«, bedeutet, an, ja in einem Ort zu sein, der das Glück birgt. Ort ist nicht ausschließlich topographisch, sondern wohl auch metaphorisch als Seelenort zu verstehen. Im Romanfragment Allerlei Glück heißt es in diesem Sinne bereits 1865: »Ein Innerliches muß man erreichen, da liegt das Glück«.17 Und wiederum vierzehn Jahre später liest es sich in einem Brief an Gustav Karpeles vom 3. April 1879 so: »Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört«.18 Glück als Lebensglück entpuppt sich in all diesen Äußerungen gleichsam als ortsgebunden. In einer für Fontane signifikanten Verbindung zum leitmotivischen Element des Todes und Memento mori wird hierauf bereits im Romanerstling Vor dem Sturm durch den Grabstein der tragisch ums Leben gekommenen Frau von Vitzewitz angespielt, auf den ihr Gatte allein die Worte »Hier ruht mein Glück«19 gravieren lässt. Ausgerechnet ein Grabstein

15 HFA I/6, S. 303. 16 Theodor Fontane an Martha Fontane, HFA II/4, S. 102. Fontane bezieht sich in diesem Brief auf einen Aufsatz des Berliner Gymnasialdirektors Franz Kern, den er für seine Tochter zusammenfasst. 17 HFA I/5, S. 634. 18 Theodor Fontane an Gustav Karpeles, HFA IV/3, S. 19. 19 HFA I/3, S. 30.

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wird zur Metapher der Verankerung des Glücks an einem geographisch genau definierten Ort. Betrachtet man nun das erzählerische Werk Fontanes, stellt sich die Frage: Wer ist im Glück und an welche Räume ist es gekoppelt? Eine positive Definition des Glücksbegriffs im Sinne eines Lebensglücks ist anhand konkreter Textbeispiele kaum zu leisten. Am ehesten findet es sich in Form erwartungsloser resignativer Ruhe in der Riege der alten Herren Dubslav oder Briest, deren Lebenswege jedoch weitgehend abgeschlossen sind und die vor Augen führen, dass »Resignieren können […] ein Glück und beinahe eine Tugend«20 ist. Glückliche junge Menschen, glückliche Paare, die ihr Glück auch dauerhaft leben dürfen, sind die wenig Anschaulichkeit gewinnende Ausnahme: Marie Kniehase und Lewin in Vor dem Sturm, Melanie und Rubehn in L’Adultera, deren Glück jedoch um einen hohen Preis erkauft ist: nämlich Scheidung, Trennung von den Töchtern, finanzieller Ruin, gesellschaftliche Ächtung.21 Und schließlich – hier jedoch nur noch blass skizziert – Armgard und Woldemar im Stechlin. In all diesen Beispielen wird das Glück als Verheißung in eine Zukunft projiziert, von der der Roman nichts mehr erzählt. Und so bleibt es fraglich, ob das Glücksversprechen auch eingelöst wird. Ansonsten enden Liebesgeschichtefast immer unglückselig, wenn nicht in Tragödie und Unglück, so doch in Ernüchterung und Konvenienzehen. Lene und Botho müssen ihr intensiv erlebtes Liebesglück eines einzigen Sommers gegen eine lebenslange Vernunftehe eintauschen, Waldemars Versuch, sich für sein Glück gegen familiäre, ökonomische und gesellschaftliche Zwänge zu behaupten, führt zum Selbstmord. Denkt man an Tubal von Ladalinski, dessen allenfalls verbale Untreue im Tod endet, an Lehnert Menz, dessen Sünden im alten Europa ihm schuldhaft das Glück in der neuen Welt verwehren, oder an die arme Effi, die die wenigen Stunden des Glücks mit Duell, Einsamkeit, Verstoßung und schließlich Tod zu bezahlen hat, lässt sich zudem ein gewisser didaktischer Knochen22 nicht leugnen: Wer unstet ist, wer fehlt, ist im Werk Fontanes gemäß dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit »des Todes«, er verspielt sein Glück. Einer der vielleicht aufschlussreichsten Texte zum Thema Glück ist der in einem Moment der Lebenskrise 1888 verfasste und 1891 erschienene Roman 20 Theodor Fontane an Emilie Fontane. In: Theodor Fontane, Briefe an die Familie, S. 262. 21 Melanie selbst resümiert daher: »Ich habe nun mein Glück, ein wirkliches Glück; mais il faut payer pour tout et deux fois pour notre bonheur«. HFA I/2, S. 115. 22 Vgl. Gottfried Keller an Berthold Auerbach, 25.06.1860. In: Jacob Baechtold und Gottfried Keller, Gottfried Kellers Leben. Bd. 2, Norderstedt 2016, S. 466–467.



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Unwiederbringlich,23 der ausgehend von einem Glück in der Vergangenheit in nur wenigen Monaten erzählter Zeit »konturenschärfend«24 in Tragödie, Unglück und Tod mündet. Wie kein zweiter veranschaulicht dieser Roman, dass das Lebensglück der Figuren topologisch verankert, d. h. an bestimmte Orte gebunden ist und dass bei Überschreitung nicht markierter Grenzen25 der Verlust des Glücks selbst bei äußerster Willensanstrengung unaufhaltsam ist. Der Wille zum Glück allein ‒ Thomas Mann widmet diesem Thema eine gleichnamige Erzählung ‒ erweist sich als nicht ausreichend. Bereits das Eingangskapitel des Romans nimmt eben diesen Gedanken kunstvoll auf: Bei einem abendlichen Spaziergang fragt Helmuth von Holk seine Frau im Angesicht des neu gebauten Schlosses: »Und wie schön du dastehst in dem goldenen Abendrot. Ich denke, Christine, wir wollen hier glücklich sein. Willst Du? Und sie hing sich zärtlich an seinen Arm, aber sie schwieg«.26 Erst Monate später, kurz vor dem Einzug in das neue Gebäude, sagt sie: »›Bald ist es ein Jahr nun, Helmuth, daß wir zuletzt hier auf der Düne standen und du mich fragtest, ob ich hier glücklich sein wolle. Ich schwieg damals ...‹ ›Und heute?‹ ›Heute sag’ ich ja‹«.27 In Anbetracht des weiteren Verlaufs antizipiert die Formelhaftigkeit des »Ich will« und des Ja-Sagens nicht nur die zweite Eheschließung, sondern kommentiert auch unmissverständlich eine Überlegung, die Franziska in Graf Petöfy formuliert: »Vielleicht kann man glücklich sein, wenn man es will. Und ich hab’ einmal gelesen, man könne das Glück auch lernen. Das hat mir gefallen. Und wirklich, es muß Mittel dazu geben«.28 In ihrer zweiten Ehe mit Holk führt Christine ‒ um noch einmal mit Nietzsche zu sprechen ‒ allenfalls die

23 Vgl. auch Helen Chambers, die diesen Roman allerdings vor allem im Zusammenhang mit Gender-Fragen betrachtet: Die Unzulänglichkeit des Mutter-und-EhefrauModells ‒ Weibliches Glück in Theodor Fontanes ›Unwiederbringlich‹. In: Dies., FontaneStudien. Gesammelte Aufsätze zu Romanen, Gedichten und Reportagen, Würzburg 2014, S. 233–247. 24 Vgl. Hugo Aust, Allerlei Glück? Cécile und ihre Schwestern, damals (1886) und heute (2015). In: Fontane Blätter 101 (2016), S. 102–107. 25 Michael James White widmet 2010 den Grenzüberschreitungen in Unwiederbringlich eine umfassende Studie, die unter Rückgriff auf den historischen Kontext zwischen »open space and closed spaces« (S. 122), Grenzüberschreitung und dem Respekt vor Grenzen unterscheidet und in der Grenze ein »vieldeutiges und komplexes Symbol« erkennt, das »zum Medium einer literarischen Erkundung der Grenzen des Menschenlebens wird« (S. 109). Michael James White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹: Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 109–123. 26 HFA I/2, S. 570. 27 Ebd., S. 571. 28 HFA I/1, S. 820.

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»Andauer des Anscheines«29 von Liebe und Glück vor Augen. Der bloße Wille zum Glück reicht nicht aus. Die Ehe endet im Suizid. In echt Fontane’scher Manier wird bereits im Incipit, ja im ersten Satz des Romans unmissverständlich erklärt, dass Holks Wunsch, in dem neuen Zuhause glücklich zu sein, ins Leere geht: »Eine Meile südlich von Glücksburg, auf einer dicht an die See herantretenden Düne, lag das von der gräflich Holkschen Familie bewohnte Schloß Holkenäs […]«.30 Das Glück wird knapp ‒ um eine Meile nur, aber eben dennoch ‒ verfehlt. Auch ist das Schloss auf einer Düne, auf Sand erbaut, und so kaum ein sicheres Fundament für ein glückliches Leben. Dem Gebäude, einem »aus Säulen zusammengestellte[n] Oblong«, dessen genaue Konstruktion nebelhaft verschwimmt, wohnt der Charakter einer Theaterkulisse inne, die schon von Beginn an einen tragischen Ausgang suggeriert.31 Nebel und Schneeflocken lassen auch im weiteren Verlauf immer wieder die Bilder trügerisch und unwirklich vor den Augen der Figuren gaukeln, so dass das Schloss bereits im ersten Satz als eine aus der Wüstenlandschaft ins Schnee- und Nebeltreiben Schleswig-Holsteins transponierte Fata Morgana dekuvriert wird, die nichts ist als die Spiegelung eines scheinbaren »Hafens der Hoffnung und des Glücks«.32 Das neue Schloss, ein »nach italienischen Mustern aufgeführte[r] […] nachgeborener Tempel zu Pästum« wird entgegen den Wünschen und Erwartungen Holks so kein locus amoenus, sondern eher ein locus terribilis, ja funestus. Das erschreckende Ende wird zu29 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. In: Ders., Werke in drei Bänden. Bd. 1, München 1954, S. 491, Aphorismus 58. 30 HFA I/2, S. 567. 31 Der ganze Roman ist sehr reich an poetologischen Hinweisen auf den Illusionscharakter der Geschichte: Christine empfindet sich »in dieser Tragikomödie [als] faute de mieux-Rolle« (ebd., S. 793), Holk entwickelt in London eine »kleine Theaterpassion« (ebd., S. 791), und beim Auf- und Abgang der Figuren in den prinzesslichen Salon im zwölften Kapitel könnte der Leser meinen, vor einer Theaterbühne zu sitzen: Die Prinzessin tritt durch »eine ziemlich kleine Tür in der rechten Ecke der Hinterwand« (ebd., S. 647) ein, Baron Petz unter der »Portiere der Flügeltüre« (ebd., S. 649) und Ebba »von der anderen Seite her« (ebd.). Holk selbst erkennt den Illusionscharakter der eigenen Geschichte: »alles nur Spiel, alles nur Farce« (ebd., S.  788). Die Frage drängt sich auf, ob Fontane Unwiederbringlich im Sinne einer didaktischen Wirkungsästhetik als école de mœurs verstanden sehen wollte. Den Text jedoch im Sinne eines vielfach im Roman propagierten Maßhaltens, eines est modus in rebus und damit auf Christines Mahnung: »Wenn man glücklich ist, soll man nicht noch glücklicher sein wollen« (ebd., S. 569) zu reduzieren, würde dem ambivalenten Charakter aller Figuren bei Weitem nicht gerecht. Vgl. hierzu: Alexandra Tischel, »Ebba, was soll diese Komödie?«. Formen theatraler Inszenierung in Theodor Fontanes Roman ›Unwiederbringlich‹. In: Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel (Hrsg.), Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg 2003, S. 185–207. 32 Vgl. Fontanes Gedicht Fata Morgana aus dem Jahr 1844, HFA I/6, S. 756.



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dem ‒ dem naiven Sprecher selbst nicht erkennbar, seiner feinfühligen und literarisch gebildeten Frau Christine umso bewusster ‒ in Holks unglücklichem Verweis auf Uhlands Schloss antizipiert. Was Holk sich so »herrlich und ein Glück«33 denkt, entpuppt sich als malerische Kulisse für den Selbstmord seiner Frau: »Einem Klagelied aus der Halle / Hört’ ich mit Tränen zu ...«.34 Handlungen entfalten sich nicht nur aus den historischen Gegebenheiten und der Psychologie ihrer Figuren, sie bedürfen der Räume, um sich zu vollziehen, wobei weniger die topographischen Aspekte mit all ihren historisch-politischen Implikationen aufschlussreich sind als vielmehr die skizzierten »Seelenlandschaften«, die sich in Schlössern, gartenbaulichen Anlagen und landschaftlichen Szenarien widerspiegeln: Von zentraler Bedeutung sind die beiden schleswig-holsteinischen Schlösser Holkeby und Holkenäs, die in starkem Kontrast zu den dänischen Spielorten der Erzählung stehen: Kopenhagen, der Eremitage und Frederiksborg.35 Michael James White erkennt im Kontrast zwischen Holkenäs und Dänemark, vor allem Frederiksborg, die zentrale Gegenüberstellung.36 Für den Glücksbegriff jedoch noch relevanter als das von White untersuchte Gegensatzpaar Holkenäs/Frederiksborg ist die Kontraposition der beiden schleswig-holsteinischen Schlösser: des alten Schlosses Holkeby und des neuen Schlosses Holkenäs. Bevor die eigentliche Erzählzeit im September 1859 einsetzt, beginnt Fontane mit einer für sein Werk allzeit typischen Dichotomie: Alt und Neu. Die ersten Seiten des Romans geben einen gerafften Rückblick auf das Leben der Holks. Die Entwicklung von einer glücklichen Ehe über Entfremdung, Ehebruch und Scheidung bis zur Wiederverheiratung und letztendlich Selbstmord vollzieht sich über 19 Jahre in drei Stufen: gut zehn »glücklichste« Jahre in dem alten Schloss, sieben Jahre mit immerhin noch glücklichen Tagen,37 die jedoch bereits von Meinungsverschiedenheiten 33 HFA I/2, S. 569: »Ich denke es mir herrlich, und ein Glück für dich und mich.« 34 Ebd. 35 Während Holkenäs und Holkeby beiden Ehepartnern zugeordnet ist, sind Kopenhagen und Frederiksborg ausschließlich die Welt Holks. Die beiden anderen topologischen Zentren, die für Christine prägend sind: ihr Zuhause Arnewiek und die Herrnhuter Pension in Gnadenfrei, treten räumlich nicht in Erscheinung, sind aber durch Christines Bruder Arne und die Freundin Dobschütz dennoch durch charakteristische Vertreter präsent. 36 Vgl. White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹, S. 117–118. 37 »Das alles lag jetzt sieben Jahre zurück, und die ›glücklichen Tage‹, die man hier oben leben wollte, man hatte sie wirklich gelebt. Die herzlichste Neigung, die beide vor einer Reihe von Jahren zusammengeführt hatte, bestand fort, und wenn es […] gelegentlich zu Differenzen kam, so waren sie doch nicht angetan, den Frieden des Hauses ernstlich zu gefährden«. (HFA I/2, S. 572).

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und gelegentlichen Differenzen gekennzeichnet sind, und schließlich die Zeitspanne von September 1859 bis zu Christines Tod im Oktober 1861. Den Wendepunkt von glücklichen zu unglücklichen Jahren markiert ‒ zumindest im Denken Christines38 ‒ der Umzug aus dem alten in das neue Schloss. Mit dem Umzug nach Holkenäs datiert zugleich der Beginn ihrer Krankheitsgenese und damit der Anfang vom Ende der Beziehung zu Holk:39 Schloß Holkenäs hatte nicht immer auf dieser Düne gestanden, und noch der gegenwärtige Graf, als er sich siebzehn Jahre zurück, mit der schönen Baronesse Christine Arne […] vermählte, war damals in die bescheidenen Räume des alten und eigentlichen Schlosses Holkenäs eingezogen, das […] gerade der Holkebyer Feldsteinkirche gegenüber [lag]. Das alte Schloß […] ging bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück, und ein Neubau war schon unter des Grafen Großvater geplant worden. Aber erst der gegenwärtige Graf […] hatte das Schloß auf der Düne entstehen lassen, in dem sich’s nicht bloß schöner, sondern auch bequemer wohnen ließ. Trotzdem war der Gräfin eine nicht zu bannende Vorliebe für das alte […] Schloß geblieben, so groß, dass sie nie daran vorüberging, ohne der darin verbrachten Tage mit einem Anfluge von Wehmut zu gedenken. Denn es war ihre glücklichste Zeit gewesen. Jahre, während welcher man sich immer nur zur Liebe gelebt und noch keine Meinungsverschiedenheiten gekannt hatte. Hier, in dem alten Schlosse, gegenüber der Kirche, waren ihnen ihre drei Kinder geboren worden, und der Tod des jüngsten, eines Knaben, […] hatte das schöne […] Paar einander nur noch näher geführt […]. All das war seit der Übersiedlung in das neue Schloß nicht ganz so geblieben.40

Christine gedenkt »mit einem Anflug von Wehmut« der Tage im alten Schloss, als ihre Ehe mit Holk ‒ will man dem Erzählerurteil trauen ‒ offenbar unbeschwert und glücklich war. Während bereits gezeigt wurde, dass das neue Gebäude vor allem eine Fata Morgana, die Illusion eines Glücks symbolisiert, repräsentiert das alte Schloss so – wie Melanie van der Straaten es ausdrückt – das wirkliche Glück. Fontanes »lifelong sensivity to the pregnancy and meaning of space and the world around him«41 kündigt sich bereits in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg an, die seine Empfänglichkeit für den genius loci42 alter Schlösser und Kirchen vielfach belegen – ein Begriff, der ihm durchaus geläufig war, wie ein Brief an Georg Friedlaender aus dem Jahr 1890 belegt. Der genius loci des alten Schlosses Holkeby, die Scholle der Väter, ist aufs Engste 38 Der Erzählerkommentar: »ihre glücklichste Zeit« ist grammatisch ambivalent, so dass sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob der Erzähler Holk miteinschließt. 39 Die Geschichte der femme fragile Christine wird so auch zur Darstellung einer Pathogenese im Zeichen der Décadence. Vgl. hierzu auch Karla Müller, Schlossgeschichten. Eine Studie zum Romanwerk Theodor Fontanes, Paderborn 1986, vor allem das Kapitel Die Krankheitsgeschichte als Schloßgeschichte, S. 93. 40 HFA I/2, S. 567–568. 41 Vgl. White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹, S. 109. 42 Vgl. Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender. Hrsg. von Kurt Schreinert, Heidelberg 1954, S. 136.



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mit der Geschichte der Familie, die seit dem 14. Jahrhundert in dem alten, gotisch-mittelalterlichen Gebäude lebte, und mit der Geschichte ihrer letzten Bewohner verbunden. Es ist eben jener »Fleck Erde, daran [Holk] mit ganzer Seele hing, wo er geboren und durch Jahrzehnte glücklich gewesen war«.43 Die besondere Verbundenheit des alten Schlosses mit der eigenen Geschichte wird ‒ ähnlich wie schon in Vor dem Sturm ‒44 in den Familiengräbern manifest, lag das alte Schloss doch »gerade der Holkebyer Feldsteinkirche gegenüber« und damit in unmittelbarer Nähe des Friedhofs, der auch die Grabstätte des früh verstorbenen Sohnes Estrid birgt. Dezidiert weist der Text auf Christines großes innerliches Bedürfnis hin, in der Nähe ihres toten Kindes zu weilen: »Ich konnte das Kind nicht vergessen und wollte der Stelle nahe sein, wo es liegt«,45 eben jener Grabstelle, die Holk, ein Künstler der Verdrängung, der lieber »marmorne Futterkrippen« als Mausoleen baut, trotz wiederholten Bittens verfallen lässt. Christine wird durch den Umzug in das neue, zwar viel luxuriösere, aber eben geschichts- und identitätslose neoklassizistische Gebäude gleichsam entwurzelt, ja, wie Ottilie aus ihrer Bahn geworfen, und alle Schönheit, Bequemlichkeit und Repräsentanz des Neubaus vermögen diesen Mangel an Einklang mit ihrer Umgebung nicht auszugleichen. Und so steht sie, ganz wie Charlotte in den Wahlverwandtschaften, dem neuen Schloss mit Vorahnungen und Ängsten gegenüber. Dass sich der Umzug in das neue Gebäude zudem unter Veränderung der Lebenskreise vollzieht – während im alten Schloss nur die Familie selbst lebte, verändert sich diese Konstellation nach dem Umzug schon bald durch das Hinzukommen von Julie von Dobschütz –, ist ein erstes deutliches Zeichen für ihre Verunsicherung und zugleich ein Schritt zur Entfremdung von ihrem Mann. Die von der Forschung bereits seit Spielhagen thematisierten Bezüge zu Goethes Wahlverwandtschaften46 sind immer wieder zu verspüren, z. B. in dem zuweilen ironisch gebrochenen Spiel mit botanischen Reminiszenzen. Wenn Christines Bruder Arne im Anblick der Aquarellzeichnung seiner Schwester für die neue Gruft, die mit Palmenfresken: »Gotik, Engel, Palmen« geschmückt werden soll, ironisch anfragt, ob »man selbst unter diesen nicht 43 HFA I/2, S. 792. 44 Vgl. den Erstling Vor dem Sturm, der zuweilen an eine im Kontext der Geschichte befremdliche Blut-und-Bodenideologie erinnert. 45 HFA I/2, S. 570. 46 Zum Einfluss der Wahlverwandtschaften auf Fontanes Romane, speziell auf Unwiederbringlich vgl. z. B. Paul Kahl, Theodor Fontanes ›Unwiederbringlich‹ in der Romantradition der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 374–391 und die Düsseldorfer Dissertation von Anja Werth, Sprach(un) ordnung, Geschlechterinszenierung und Machtstrukturen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und Fontanes ›Unwiederbringlich‹ aus dem Jahr 2018.

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ungestraft wandeln dürfe«,47 spielt er auf Ottiliens berühmten Satz: »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen«48 an. Noch kann er nicht ahnen, dass Christines Lustwandeln unter den »Palmen des Todes« mit ihrem Selbstmord enden und dass eine weitere »Todesblume« aus den Wahlverwandtschaften, die weiße Aster, nur knapp zwei Jahre später den Zug der toten Schwester zum Friedhof in Holkeby schmücken wird. Auch Holks Lustwandeln mit Ebba unter den alten Platanen am See der Eremitage und in Frederiksborg lässt sich als botanische Reminiszenz aus den Wahlverwandtschaften verstehen. Die in Goethes Roman vor allem todeskonnotierten Platanen am See erfahren hier eine Nuancenverschiebung ins Erotische und werden zu einer botanischen Variante des Motivs Unter-Palmen-Wandeln, wie es sich bei Fontane etwa in L’Adultera im Kapitel Unter Palmen findet, als sich während Melanies Spaziergangs mit Rubehn im schwülen Gewächshaus »die Rüstung ihres Geistes […] lockerte« und sich schließlich vollends »löste und fiel«.49 Die Palmen finden sich in Frederiksborg dann noch einmal in abgewandelter Form als dekorative Stechpalmen auf den weißen Tischtüchern wieder, wo sie wohl gemeinsam mit den wächsernen Christengeln auch Holk an Christine erinnern dürften, die ja für sich die Palme als Zeichen der Friedfertigen beansprucht.50 Dass es ausgerechnet Stechpalmen sind, verweist allerdings auch auf Christines durchaus »stachelige« Seiten. Die vielen botanischen Reminiszenzen, der platanenumsäumte todbringende See in Frederiksborg wie auch die Beschäftigung mit der Archäologie – das neue Schloss erinnert an einen nachgeborenen Tempel von Pästum ‒ bezeugen eine den Wahlverwandtschaften ähnelnde allgegenwärtige Abgeschlossenheit, Rückwärtsgewandtheit und Todesnähe. Doch während der Tod im Ambiente des alten Schlosses Holkeby in einem ausgewogenen Verhältnis zum Leben steht, entwickelt sich Christines Bedürfnis, dem toten Kind nahe zu sein, in der neuen Umgebung zu einem peu à peu alle Lebensfreude erstickenden Memento mori. Die verfallende Grabstätte, ihr Plan für den Bau eines gotisch-antiken Mausoleums mit Säulengang und Totentanzfresken, der obsessive Wunsch, ihr »Haus zu bestellen«, das große Bedürfnis nach Ruhe – alle Motive verweisen auf eine schwere Depression. Thematisch verdichtet sind sie 47 HFA I/2, S. 579. 48 Vgl. von Matt, Wetterleuchten der Moderne, der aufzeigt, dass dieser Satz bei Goethe ganz anders zu verstehen ist als im Sinne der ihm immer wieder zugeschriebenen Bedeutung »Jedes (erotische) Vergnügen muss zu einem hohen Preis bezahlt werden.« 49 HFA I/2, S.  82. Vgl. hierzu Klaus-Peter Möller, »Liebstöckel und Wacholder«. Fontanes Pflanzen. Eine Augenweide zum Fontane-Jahr 2019, Neuruppin 2019, S. 11–14. 50 Vgl. HFA I/2, S. 591.



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in der ersten Strophe von Wilhelm Friedrich Waiblingers Gedicht Der Kirchhof, dem »Dreh- und Entscheidungspunkt«51 der Erzählung: »Die Ruh’ ist wohl das Beste, / Von allem Glück der Welt, / Mit jedem Wiegenfeste / Wird neue Lust vergällt, / Die Rose welkt in Schauern, / Die uns der Frühling giebt; / Wer haßt ist zu bedauern, / Und mehr noch fast, wer liebt«. In einem Brief Fontanes an seinen Sohn Theodor vom 9. Mai 1888, aus eben der Entstehungszeit des Romans, heißt es: »Die höchste Ruhegebung aber kommt einem aus dem Memento Mori, und eine Viertelstunde auf dem Lichterfelder Friedhof rückt einen immer wieder zurecht«.52 Der Gedanke an den Tod hat für Christine jedoch die das Leben relativierende und damit tröstliche Seite verloren und vermag sie nicht wieder »zurechtzurücken.« Sie hat ihre innere Ruhe und damit »wohl das Beste von allem Glück der Welt«53 ‒ an anderer Stelle heißt es gar: »Bei Lichte gesehen sind Ruhe und Glück überhaupt dasselbe« ‒ zu diesem Zeitpunkt der Erzählzeit hinter sich gelassen. Sie verliert sich stattdessen in doktrinär-asketischer Pflichterfüllung. »Das Schreckniß ihrer Vorzüglichkeit«54 vergiftet die Atmosphäre im Haus, sie wird zu einem »Engel ohne Taille«, und erst im Selbstmord findet ihr »Herz« die Ruhe, nach der es sich sehnte«.55 Ihre Lebensmaxime »[M]an lebt nicht um Vergnügen und Freude willen, sondern um seine Pflicht zu tun […] denn daran [hängt] Glück und Seligkeit«56 verfestigt sich zu todbringendem Dogmatismus. Der Text lässt wenig Zweifel daran, dass Holks Eskapade mit Ebba vor allem als eine Flucht aus eben diesem todeslastigen, depressiven Umfeld zu verstehen ist. Der arme Holk will die »quälerische Welt vergessen […], sich selbst und seiner Liebe leben«.57 Und so träumt er von »einer hellen und heiteren Welt[, in der] die Nachtigallen schlagen«,58 von einem Leben des Lachens, der Sonne in Neapel und Sorrent. Doch ist der Ort, an dem er all dies sucht, schlecht gewählt: erst im frivolen Kopenhagener Ambiente der beiden schönen Hansens und sodann auf dem nicht minder schlüpfrigen Parkett eines prinzesslichen Salons. Und so steht er schließlich im sozialen Rollenspiel der 51 Theodor Fontane an Julius Rodenberg, HFA IV/4, S. 70. Christines Abschiedsbrief rekurriert auf die erste Strophe eben jenes Gedichts, mit dem der Roman endet. 52 HFA IV/3, S. 603. 53 Mit genau diesem Satz: »Ruhe, die weniger ist als das Glück, aber auch mehr. Die Ruh’ ist wohl das Beste« wird Holk auch im Park der Eremitage in Klampenborg konfrontiert, diesmal aus dem Mund der Prinzessin. HFA I/2, S. 663. 54 Ebd., S. 698. 55 Ebd., S. 807. 56 Ebd., S. 615. 57 Ebd., S. 782. 58 Ebd., S. 778.

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Ehemänner und Liebhaber »nicht am richtigen Fleck«,59 also eben nicht da, wohin er seiner Natur nach hingehörte, wie Fontane selbst es in seinem bereits zitierten Brief an Gustav Karpeles60 ausdrückt. Holk ist ein Halber: Ehemann und Landwirt in Holkenäs und dänischer Kammerherr und verschmähter Liebhaber in Kopenhagen, wie ihm ausgerechnet Ebba deutlich zu verstehen gibt: »Sie stehen nicht am richtigen Fleck […]. Sie wollen Hofmann und Lebemann sein und sind weder das eine noch das andere. Sie sind ein Halber […]. Mutter Natur hat Ihnen, wenn man von der Beständigkeit absieht, das Material zu einem guten Ehemann gegeben, und dabei mußten Sie bleiben.«61 So Ebbas zynisches Resümee. Während er beim todesmutigen Tanz auf der dünnen Eisoberfläche in den Winterlandschaften des Nordlandsmenschen62 Fontane der Gefahr noch einmal entronnen ist: »Hier ist die Grenze, Ebba«,63 erliegt er ihr in der Feuersbrunst im morschen Schloss Frederiksborg. Vor allem aber erliegt er seinen Illusionen, die er an diese einzige Liebesnacht mit der irrlichternden Ebba knüpft. Befangen in eben diesen Trugbildern, tritt er seinen Rückweg nach Holkenäs an, um seine Frau um die Scheidung zu bitten. Doch auch diese Reise ist nur eine vermeintliche Reise nach dem Glück,64 in Wirklichkeit kommt er vollends vom Wege ab und überschreitet die letzte Grenze ins Unglück, gerade so, als wolle er das bereits zitierte Jugendgedicht Fontanes Fata Morgana aufs Anschaulichste illustrieren: »Es irrt der Mensch auf des Lebens Meer / Ein pfadloser, ratloser Schiffer umher; / Er sucht das Glück in Süd und Nord / Und findet’s nicht hier und findet’s nicht dort. // Da naht ihm, wenn er verzweifeln will, / Die Hoffnung ‒ die Fata Morgana still / Und spiegelt ihm noch am Grabesrand / Einen Hafen des Glücks, ein Wunderland«.65 Nicht hier, nicht dort, und doch: Bei seiner Ankunft in Holkenäs scheint ein Hoffnungsschimmer aufzuleuchten, dass vielleicht noch nicht alles unwiederbringlich verloren sei und Holk noch auf seine innere Stimme hören könne. Diese innere Stimme manifestiert sich zuvor im Erzählerkommentar, 59 Ebd., S. 797. 60 Vgl. Theodor Fontane an Gustav Karpeles, HFA IV/3, S.  19: »Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört«. 61 HFA I/2, S. 787–788. 62 Vgl. den Toast auf das Eisabenteuer: »Um am Rande des Todes hinzuschweben, ein Fehltritt, und die Tiefe hat uns für immer, das ist des Lebens höchster Reiz. Und dies Leben ist ein Nordlandsleben«. Ebd., S. 755. 63 Ebd., S. 749. 64 Die Fontane sicherlich gut bekannte gleichnamige Novelle seines Tunnel-Freundes Paul Heyse, Die Reise nach dem Glück, aus dem Jahr 1864 klingt in vielerlei Reminiszenzen im Text an. 65 HFA I/6, S. 756.



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als Holk die Prinzessin vor seiner Reise nach Holkenäs besucht, um ihr Placet für Scheidung und Neuvermählung mit Ebba zu erlangen. Beim Anblick ihres eingefallenen Gesichts verspürt er jedoch ganz deutlich, dass es nur das eine predigte, dass nämlich »bei Lebenskühnheiten und Extravaganzen in der Regel nicht viel herauskomme, Worthalten und Gesetzerfüllen das allein Empfehlenswerte, vor allem aber eine richtige Ehe […] der einzig sichere Hafen sei«.66 Den 23. kam die Küste […] in Sicht, und als zehn Uhr heran war, sah man […] Schloß Holkenäs auf seiner Düne. Die Linien waren verschwommen, denn ein leiser Nebel zog, und einen Augenblick begann es sogar zu schneien. […] Holk überschritt die kleine Geländebrücke […] und ehe fünf Minuten um waren, dampfte der »Holger Danske« weiter auf Glücksburg zu. Holk sah dem Schiff eine Weile nach, dann warf er den Mantel, der ihm beim Ersteigen der Terrasse nur behindert haben würde, zwischen die beiden Koffer und schickte sich an, den Steg entlang zu gehen. Dann und wann blieb er stehen und sah nach Holkenäs hinauf. Es lag jetzt, wo sich der Nebel momentan verzogen hatte, klar vor ihm, aber öd und einsam, und der dünne Rauch, der aufstieg, wirkte, wie wenn nur noch ein halbes Leben da oben zu finden sei. Die […] Sträucher in der Front der Vorhalle waren, ein paar kleine Zypressen abgerechnet, alle kahl und entblättert, und die Vorhalle selbst zeigte sich mit Brettern verkleidet und mit Matten verhängt, um die hinter gelegenen Räume nach Möglichkeit gegen den Nordost zu schützen. Alles still und schwermütig, aber ein Friede, wie der Nachglanz eines früheren Glücks, war doch darüber ausgebreitet und diesen kam er jetzt zu stören. Eine Furcht befiel ihn plötzlich vor dem, was er vorhatte; Zweifel kamen und sein Gewissen […] wollte nicht ganz schweigen.67

Wenn der Erzähler dezidiert darauf verweist, dass der Nebel sich für einen Moment verzogen habe, suggeriert er Klarsicht, keine Fata Morgana. Zwar fällt Holks Blick auf die Ruinen seines einstigen Lebens: alles »öd und einsam«, die Sträucher kahl und entblättert, zugleich aber ist klar ein zartes Lebenszeichen, ein dünner Feuerrauch, zu erkennen, notdürftig durch eine Bretterverkleidung gegen Nordost abgeschottet ‒ dem Land der Ebbas und Hansens. Dass dieser stille und schwermütige Frieden, oszillierender Nachglanz eines früheren Glücks mit Christine, letztlich trügt, klingt in den Zypressen in Front der Vorhalle an. Die Tod und Trauer verheißende Zypresse scheint der einzige grüne Baum zu sein, schon in der Antike als der »Baum der Toten« und Symbol für die Unterwelt bekannt.68 Nicht zufällig nimmt nur die nach dem alten 66 HFA I/2, S. 771. Ob dieser Satz über die personale Perspektive Holks hinaus Ausdruck einer Überzeugung des Erzählers und hinter ihm gar des Autors Fontane selbst ist, bleibt offen. 67 Ebd., S. 773–774. 68 Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 9, Berlin 1987, S. 994–995. Die immergrüne Zypresse symbolisiert bis heute z. B. als Friedhofsbaum Tod und Trauer. Als Baum des Todes figuriert sie ikonographisch etwa in Arnold Böcklins berühmter Toteninsel aus dem Jahr 1880. Vgl. hierzu: Johanna Flemming und Oskar Holl, Art. Zypresse. In: Engelbert Kirschbaum und Wolfgang Braunfels (Hrsg.), Lexikon der Christlichen Ikonographie. Bd. 4: Allgemeine Ikonogra-

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Schloss Holkeby ausgerichtete Rückfront, durch die er in den weihnachtlich geschmückten Gartensalon eintritt, sich für einen Augenblick »wärmer und wohnlicher« aus und lässt ein letztes Mal einen Schimmer einstigen Glücks aufscheinen. Dieser Schimmer verlischt jedoch sogleich, kündigt doch Holks achtloses Spiel mit dem Christkind der Weihnachtskrippe, das er erst gedankenlos aus der Krippe nimmt und dann wieder in sie zurückwirft, »gleichgültig, wo die Puppe hinfiel«,69 unmissverständlich an, dass Christine, aber auch ihm selbst keine Rückkehr in diese unwiederbringlich verlorenen Holkebyer Tage des Glücks vergönnt sein wird. Der Erzählerkommentar macht allerdings deutlich, dass auch Christine ihre »Schuld« am weiteren Verlauf trägt: »Es war nicht gut, daß die Gräfin ihr Herz nicht bezwingen konnte. Vielleicht, daß sie, bei milderer Sprache den so Bestimmbaren doch umgestimmt und ihn zur Erkenntnis seines Irrtums geführt hätte«.70 Und so nimmt das Spiel seinen Lauf. In einer der wohl eindrücklichsten Garten- und Landschaftsszenen entschwindet Christine dem Zugriff ihres Mannes ins nunc stans eines dichten Schneetreibens: Eine ganze Weile schritt er auf und ab, und dann erst trat er an die Balkontür und sah wieder auf den Parkgang hinaus, der […] in leiser Schrägung bergab und zuletzt links einbiegend nach Holkebye führte. Der Himmel hatte sich wieder bezogen und eh eine Minute um war, begann ein heftiges Schneetreiben, ein Tanzen und Wirbeln, bis der Windzug plötzlich nachließ und die Flocken schwer und dicht herniederfielen.71 Holk konnte nur wenige Schritte weit sehen, aber so dicht die Flocken fielen, sie ließen ihn doch zwei Frauengestalten erkennen, die jetzt […] in den Parkweg einbogen und auf Holkebye zu hinunterschritten. Es waren die Gräfin und die Dobschütz. Niemand begleitete sie. […] Holk, als er Christine so den Parkweg hinabschreiten und gleich danach in dem Flockentanze verschwinden sah, war erschüttert, aber doch nur in seinem Herzen, nicht in seinen Entschlüssen. Das Glück vergangener Tage lag hinter ihm, das war gewiß […].72

Die Grenze ist überschritten, der Weg zur Rückkehr verstellt. Beide Protagonisten verlassen das Schloss: Christines Weg führt bergab. In diesem kurzen Passus wird dreimal dezidiert darauf verwiesen, dass hier ein Abstieg beschriephie. S–Z. Nachträge. Rom/Freiburg im Breisgau et al. 1972, S. 591–594, hier S. 593; Manfred Lurker, Der Baum in Glauben und Kunst: unter besonderer Berücksichtigung der Werke des Hieronymus Bosch, Straßburg/Baden-Baden 1960; Félix Lajard, Recherches sur le culte du cyprès pyramidal chez les peuples civilisés de l’antiquité, Paris 1847, S. 3, 71. 69 HFA I/2, S. 776. Nirgends wird das Schicksal der Puppe Christine, die ja schon über ihren Namen mit dem Christkind verbunden ist, anschaulicher vor Augen geführt. 70 Ebd. 71 Die Schneemetapher, das Steigen und Fallen der Flocken als Symbol für das Steigen und Fallen der menschlichen Schicksale wird auch in L’Adultera in Melanies Worten in enge Verbindung mit dem Motiv der Schuld gebracht. Vgl. ebd., S. 11. 72 Ebd., S. 779.



»Glück, Glück! Wer will sagen, was du bist und wo du bist!«

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ben wird: »bergab, hinunterschritten, hinabschreiten«, während noch Holks Ankunftsweg über ein »Ersteigen der Terrasse« aufwärts führte: Die metaphorische Kurve, das Streben nach Höhe, hat einen Fall ins Nichts erlitten. Im Laufe des Romans wird zwischen den topologischen Zentren Holkeby, Holkenäs, Kopenhagen und Frederiksborg eine Vielzahl von Wegen gewandelt, und Grenzüberschreitungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Die Figuren verlieren sich im Labyrinth der Wege. Noch im Stechlin heißt es in Lorenzens oratio funebris auf Dubslav in Abwandlung der alttestamentlichen Worte aus Jesaja 57, 2: »Wer seinen Weg richtig wandelt, kommt zu seiner Ruhe«.73 Die zentrale Metapher des richtigen Wegs wird so in Koppelung an glücks- und unglückskonnotierte Räume zu einer heiklen Grenz- und schmalen Gratwanderung zwischen den Dichotomien Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit, Ruhe und Depression, Gesellschaft und Einsamkeit, Unschuld und Schuld und zum Schlüssel für Fontanes Glücksvorstellung.

73 HFA I/5, S. 377. Vgl. Jesaja 57,2: »Und die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern.«

»Irrungen, Wirrungen« von Theodor Fontane Der Blick auf die Grenze als subversive Geste1 Cesare Giacobazzi Die Geschichte der Liebenden, deren Liebe nicht in Erfüllung gehen kann, weil sie unterschiedlichen Welten angehören, ist in der Literatur ein außerordentlich beliebtes Thema. Zahlreiche Male ist diese Fabel in allen erdenklichen Varianten rezipiert worden. In Irrungen, Wirrungen,2 einem 1888 erschienenen Roman, erkennen wir sie sofort an der kargen Handlung der erzählten Liebesgeschichte: Baron Botho von Rienäcker verlässt nach einer kurzen und intensiven Beziehung die geliebte Magdalena Nimptsch, genannt Lene, und heiratet auf Wunsch seiner Familie seine Cousine Käthe von Sellenthin. Die Trennung der Liebenden in gegenseitigem Einverständnis ist jedoch ein Indiz dafür, dass das Liebesdrama in diesem Roman von Fontane nicht in Form einer Tragödie Gestalt annimmt. Tatsächlich akzeptieren die Helden des Dramas die durch Familie und Gesellschaft auferlegten Grenzen in ihrem Gefühlsleben und in ihrer Entscheidungsfreiheit ohne Widerspruch. Der Schluss mit der einvernehmlichen Trennung der Liebenden erscheint daher als Bestätigung des Status quo und stellt in diesem Sinne keine soziale Dynamik dar, die zu einem Umdenken in den Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Klassen führen könnte. Lene, die bürgerliche Heldin, will gar nicht die Schwelle ihres eigenen Horizonts überschreiten: Die Abschiedsszene, in der sie das Gartentor zu ihrem schlichten kleinbürgerlichen Haus resolut abschließt, setzt endgültig die Grenze zwischen ihrer Welt und jener der Adligen. Lene wird auch heiraten, und zwar Gideon Franke, einen praxisnahen und bodenständigen Handwerker, der sie schätzen und weiterhin lieben wird, auch nachdem er von ihrer Liebesbeziehung mit dem adligen Botho erfahren hat. Die resignierte Annahme der den Protagonisten vorgegebenen Bedingungen wurde in der zeitgenössischen Rezeption von der bürgerlichen Welt stark kritisiert. Die Bourgeoisie konnte die soziale Unbeweglichkeit, wie sie sich in einer 1 Der Beitrag enstpricht mit leichten Veränderungen einem Kapitel des Bandes, der 2019 bei Königshausen&Neumann mit dem Titel Liebeserklärungen. Poetik und Ästhetik einer pragmatischen Rede erschienen ist. 2 Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen. In: Ders., Stine. Unterm Birnbaum. Hrsg. von Edgar Gross, München 1950. https://doi.org/10.1515/9783110735710-026

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Liebesbeziehung manifestiert, in der die Mésalliance nicht gewagt wird, nicht akzeptieren.3 Doch selbst die Konservativen waren mit dieser Geschichte in keiner Hinsicht zufrieden. Zu intensiv und zu aufrichtig werden die Kontakte zwischen einem Adligen und einem Mädchen des Volkes dargestellt.4 Es ist durchaus verständlich, dass die bürgerliche Klasse, d. h. die Klasse, die während eines Großteils des 19. Jahrhunderts für politische Reformen und für sozialen Fortschritt kämpfte, Kritik an einer Geschichte übte, in der die Protagonisten soziale Barrieren bedingungslos akzeptierten. Die Tatsache, dass die Missbilligung auch von Seiten der Konservativen kommt, ist vielleicht ein erster Hinweis darauf, dass wir die Liebesbeziehung und die Figur Lene für viel komplexer halten sollten, als sie auf den ersten Blick scheinen. Insbesondere die Art und Weise, wie sich die junge bürgerliche Frau zu ihrem Geliebten verhält und wie sie ihre nur dem Anschein nach unterwürfigen Handlungen begründet, lassen Dimensionen erkennen, die den gegebenen Verhältnissen gegenüber keineswegs affirmativ zu verstehen sind. Im Gegenteil können sie ein konfliktreiches Moment mit der alten Welt darstellen, von der in Fontanes Werk immer wieder in eigentümlicher Weise erzählt wird. In der Tat können wir einen ersten Hinweis darauf bekommen, dass in der Liebesgeschichte von Botho und Lene eine subversive, nur scheinbar paradoxe Dimension vorhanden ist: die selbstbewusste, willige und heitere Haltung der jungen bürgerlichen Frau, die ihr eine individuelle Charakterisierung gibt, obwohl sie die verfestigten Grenzen zwischen den sozialen Klassen kampflos akzeptiert. Die vermeintliche Resignation der Protagonisten den gegebenen Bedingungen gegenüber wurde in der Rezeption der bürgerlichen Welt stark kritisiert. Die Bourgeoisie konnte mit der bestätigten sozialen Unbeweglichkeit, auf die der Verzicht auf die Mésalliance hinzudeuten schien, nicht einverstanden sein. Allerdings fanden die Konservativen die Kontakte zwischen einem 3

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In diesem Roman werden zwei Lebenswelten gezeigt: die des Adels, in der sich Lenes Liebhaber, der Baron Botho von Rienäcker, bewegt, und die der ›kleinen Leute‹, in der die Bürgerin Lene Nimptsch zu Hause ist. Fontane stellt hier also jenes Berliner Bürgertum dar, das sich nicht aristokratischen Lebensformen angepasst hat, sondern sich dem Adel entgegensetzt. »Das Bürgertum empörte sich über den Roman […] allein aufgrund der Tatsache des ›freien‹ Liebesverhältnisses, der Adel hingegen reagierte einzig empfindlich auf das Faktum der ›Mésalliance‹«. (Carin Liesenhoff, Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie, Bonn 1976, S. 69). So Jürgen Jahn: »Wechselweise wird der Dichter von den entgegengesetztesten literarischen Gruppierungen in Anspruch genommen oder negiert, er wird als Konservativer, als Traditionalist verstanden oder bekämpft, als Modernist, ja als vermeintlicher Naturalist verehrt oder abgelehnt« (in: Theodor Fontane, Romane und Erzählungen in acht Bänden. Bd. 5: Irrungen, Wirrungen. Stine. Quitt. Hrsg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler et al., Berlin/Weimar 1969, S. 551).



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Adligen und einem Mädchen des Volkes viel zu intensiv und zu aufrichtig, um sie gutzuheißen. Insbesondere in der Art und Weise, wie sich die junge Frau zu ihrem Geliebten verhält, in dem Bewusstsein davon, was ihre Handlungen und Unterlassungen zu Tage bringen, können wir in ihr einen Charakter erkennen, der mit einer Bestätigung der konservativen Werte keineswegs im Einklang steht. Vielmehr kann das ein sehr wichtiges Thema im Konflikt der neuen Welt mit der alten darstellen, das übrigens im Mittelpunkt vieler Werke Fontanes steht. In der Tat können wir eine erste Möglichkeit, eine subversive, nur scheinbar paradoxe Dimension in der Liebesgeschichte von Botho und Lene erkennen: den Willen der jungen bürgerlichen Frau, ihre eigene Existenz zu planen und dem eigenen Leben eine individuelle Prägung zu verleihen, obwohl sie auf eine Ehe mit einem Adligen verzichtet. Wie sie trotzdem sich selbst bestimmen kann und wie sie auf diese Selbstbestimmung kommt, drückt eine der Positionen aus, die dem konservativen Charakter der alten Adelswelt am meisten widerspricht. Im Gegensatz zu Lene verfügt der adlige Botho nicht über diese Freiheit und diese Unabhängigkeit. In Irrungen, Wirrungen können wir aus diesem Grund eine Dialektik zwischen den beiden Gesellschaftsschichten erkennen, die sich in neuen und innovativen Wegen für das bürgerliche Bewusstsein selbst manifestiert. Es ist zwar durchaus möglich, in Lenes Haltung eine Art Versöhnung mit den gegebenen Bedingungen zu erkennen. Die Art dieser Versöhnung schließt jedoch den modernen Willen, auf das Bestehende einzuwirken und es mit den eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen, keineswegs aus. Wir können zwar das Drama der Liebenden, die sich trennen müssen, als Ausdruck des Bewusstseins einer Divergenz erfassen, die das 19. Jahrhundert prägt: zwischen einer idealen Welt der Liebeserfahrung und der realen Welt der sozialen Zwänge. Sie wird aber in Irrungen, Wirrungen gerade durch eine untragische und auf ihre Weise subversive Geste der Versöhnung gelöst: Das bestehende Reale wird zwar angenommen, aber dadurch erweitert, dass darin eine Chance der Selbstentfaltung gefunden wird. Gerade aufgrund dieser Art von Kompromiss gestaltet sich die dramatische Geschichte von Lene und Botho nicht als Tragödie, sondern als Komödie. Der Konflikt zwischen den individuellen Anforderungen des Gefühlslebens und der Verteidigung konsolidierter Gesellschaftsstrukturen wird nicht ausgetragen, sondern er findet eine Lösung, wodurch das Sich-Behaupten des Bestehenden nicht mehr die Niederlage des aufkommenden neuen Bewusstseins bedeutet. Hingegen erleidet der adlige Botho eine Niederlage, und zwar als Individuum, das sich nicht durchsetzen kann, auch wenn durch seinen persönlichen Verzicht auf Lene die Dominanz der alten Welt, der er angehört, bestätigt wird. Botho spielt dabei die Rolle des dekadenten Vertreters des Adels, welcher vom Gefühl her nicht mehr der eigenen sozialen Klasse an-

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gehört und nicht die Kraft hat, sich selbst zu behaupten. Er kann nicht anders, als vor den familiären Verpflichtungen zu kapitulieren. In diesem Sinne ist er weder der alte Adlige noch der neue Bürger. Daher können wir seinen psychologischen Zustand als melancholisch bezeichnen, denn er leidet unter dem Gefühl der Leere, das ihn apathisch und unfähig macht, jegliche Entscheidungen zu treffen und sein Leben über die tradierten Grenzen hinaus zu führen. Da er sich dadurch der Liebe Lenes nicht gewachsen zeigt, wird er traurig und nostalgisch. Im Gegensatz zu ihm ist die Haltung der von ihm geliebten Bürgerstochter ausgeprägt heiter und gelassen. Gerade in dieser Gelassenheit unterscheidet sie sich aber wiederum von den Bürgern, die sich im Konflikt mit der alten Welt sehen. Schon das Fehlen einer explizit konflikthaften Dialektik in Irrungen, Wirrungen kann zu Irritationen im eigenen bürgerlichen Lager führen, denn die explizite Auseinandersetzung im Umgang mit sozialen Konflikten ist eine etablierte Praxis im 19. Jahrhundert. In der versöhnenden Charakterisierung der Figur zeigt sich aber, dass der Mangel eines Konflikts nicht einfach auf eine Entfremdung von gesellschaftlichen Dynamiken hinausläuft. Lene verlegt einfach die Gegensätze in einen Bereich, in dem das individuelle Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielt: Sie wertet die eigene gesellschaftliche Position auf, indem sie die Chance nutzt, ihre individuellen Eigenschaften zum eigenen persönlichen Wohl zu nutzen. Sie legt dabei die Fähigkeit an den Tag, sich von den tradierten und konsolidierten Normen unabhängig zu machen, welche die Liebesbeziehungen zwischen Menschen regeln, die zu unterschiedlichen sozialen Klassen gehören. Das geschieht, auch wenn ihre aufrührerische Geste nicht über die Grenzen der konsolidierten sozialen Strukturen hinausreicht. Denn das System dominanter Konventionen, Sitten und Gebräuche wird dadurch konterkariert, dass ihr Beispiel eine neue Perspektive eröffnet, die neue Werte, Möglichkeiten und Praxen nicht nur in den Liebesverhältnissen, sondern auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen suggeriert. So wird z.  B. ein modernes bürgerliches Prinzip gerade durch eine Liebesgeschichte proklamiert, in der der schwache Antiheld derjenige ist, der sich selbst vergisst und sich zum Diener des konstituierten Wertesystems macht, auch wenn er zur herrschenden sozialen Klasse gehört. Die gelassene Haltung Lenes kann hingegen als Ausdruck einer gesellschaftlichen Dynamik erkannt werden, bei der eine fremde Ordnung außer Kraft gesetzt wird und neue Formen der sozialen Beziehungen möglich werden, denn es wird ein individueller Bereich ausfindig gemacht, in dem sich die Werte und die Lebensweise der bürgerlichen Klasse entfalten können. Damit wird eine Subversion gesellschaftlicher Hierarchien möglich, obwohl sie nicht mit revolutionären Mitteln und schlagartig erfolgt.



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Dass es als ein subversives Bewusstsein verstanden werden kann, welches die Bürgerstochter vom Adligen trennt, zeigt sich in der entschlossenen Haltung, mit der Lene beim endgültigen Abschied das Gatter schließt5 und sich von dem geliebten und liebenden Botho entfernt. Ihre resolute Geste können wir als einen Hinweis darauf betrachten, dass die Unterschiede zwischen den Liebenden nicht nur sozial sind. Was sie von ihm auch unterscheidet, ist das emanzipierte Bewusstsein gegenüber den geltenden Normen, das sich in der Fähigkeit Lenes äußert, gelassen mit ihnen umzugehen. Während Botho dabei eine unruhige und niedergeschlagene Haltung zeigt, geht sie der Trennung mit Heiterkeit entgegen. Im Gegensatz zu ihm gibt es nichts in ihr, was an einen trauernden oder einfach nur sentimentalen Gemütszustand erinnern kann: kein Zögern, um den Abschied zu verlängern; keine betonte Geste der Zuneigung, um die Last der Trennung zu erleichtern; kein Versprechen eines möglichen zukünftigen Wiedersehens. Schon der Satz, mit dem die Geliebte Botho bei ihrer letzten Begegnung begrüßt hatte, »Komm, es ist ein so schöner Abend, und wir wollen allein sein«,6 ist aufgrund seiner absoluten Normalität ganz außergewöhnlich. Obwohl die Trennung noch nicht vollzogen ist, kann Lene sie als ein trauriges Ereignis begrüßen, dessen Trauer bereits vollständig verarbeitet wurde. Im Gegensatz dazu kann Botho, der vom Verlust der Geliebten schwer betroffen ist, keinen Schnitt wagen, der ihren Abschied besiegelt, und bittet sie vergeblich darum, das traurige Ritual des Abschiednehmens in die Länge zu ziehen. Die individuelle Kraft, durch die eine heitere Entgegennahme dessen, was vergeht, möglich wird, ist dem jungen Adligen nicht gegeben. 5 Indem Lene ein vergängliches Liebesglück dankbar annimmt, gewinnt sie ein Verständnis ihrer selbst, das sie frei und unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen macht, die Dauer und Bestehen sichern sollten. Insofern sabotiert sie diese Konventionen gerade dadurch, dass sie sie für ihr Glück nicht braucht. »Sie treffen sich in einem Boot im Stralau und die so realisierte Verbindung erweist sich als ein transitorisches Zusammentreffen […], eine momentane Verbindung jenseits dauerhafter Institutionen«. (Karla Müller, Schloßgeschichten. Eine Studie zum Romanwerk Theodor Fontanes, München 1986, S.  156). In Lenes gerade nicht tragischer, ja fröhlicher Einladung, den letzten gemeinsamen Abend zu genießen, steckt eine erstaunlich subversive Kraft: die Kraft eines Menschen, der sich nicht an etwas binden will und der sich stark und sicher genug fühlt, um im Provisorischen zu leben. Sie braucht weder die Anwesenheit eines Geliebten noch von Institutionen, um sich glücklich bzw. vor Unglück beschützt zu fühlen. Ein wesentlicher Grund dafür besteht also darin, »dass es sich um eine Liebesbeziehung ohne Zukunftsaussicht handelt, welche das Zeichen der Vergänglichkeit in sich trägt« (Walter Hettche, ›Irrungen, Wirrungen‹. Sprachbewußtsein und Menschlichkeit: Die Sehnsucht nach den einfachen Formen. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 136–157, hier S. 139). 6 Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 172.

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In dieser Hinsicht ist die junge Bürgersfrau diejenige, die für ihn unerreichbar ist, nicht umgekehrt. Denn Lene ist in der Lage, die schöne Zeit der Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich Neuem zu öffnen. Sie ist im Wandel und lässt die intensive und lebensfrohe Erfahrung der Liebe mit dem Adligen ohne Reue oder Verbitterung hinter sich. Baron Botho bleibt hingegen – sozusagen – innerhalb seines Horizonts stehen. Er ist aber nicht nur in der alten Welt der Adligen gefangen. Er kann sich auch nicht von seinem schlechten Gewissen und seinem Groll auf die soziale Klasse befreien, zu der er gehört. Dieser im Bewusstsein verankerte Unterschied bezeichnet die eigentliche Natur ihrer Distanz und stellt den ausschlaggebenden Grund dar, aus dem sie nicht zusammengehören. In der Tat ist der Vertreter der oberen sozialen Klasse der Schwächere der beiden: Botho legt eine ›Dienermentalität‹ an den Tag, die Lene völlig fremd ist. In diesem Sinne offenbart sich die größte Distanz zwischen ihnen als individuellen Charakteren und nicht als Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen. Das Individuelle ist auch der Bereich, in dem der Bürger seine Kraft schöpft und seine Überlegenheit gegenüber den Adligen behaupten kann. Im nichtlinearen Erzählvorgang des Romans wird implizit auf die autonome und auf ihre Weise subversive Position Lenes hingewiesen, kontrastierend durch die eingeschobene Liebesgeschichte der damals jungen Nachbarin Frau Dörr. Der wichtigste Unterschied zwischen Frau Dörrs und Lenes sozial ungleichen Beziehungen mit Adligen wird in der Haltung der beiden Frauen zu ihren Verehrern deutlich. Während Frau Dörr ihr Liebesverhältnis als Konflikt versteht und es ihr dementsprechend darum geht, aus der Beziehung so viel materiellen Gewinn wie möglich zu ziehen, harmonieren die Gefühle von Lene und Botho vollkommen. Sie teilen und vermitteln sich Freude an der gegenseitigen Anwesenheit. Dem Anschein nach sind alle Unterschiede und alle Barrieren aufgehoben, solange sie zusammen sind. Ihre Liebe versetzt sie in eine Wirklichkeit, in der das Liebesglück die Oberhand gewinnt und keinen Konflikt zulässt, sei er sozialer oder existentieller Natur: Weder Standesunterschiede noch das Vergehen der Zeit werden von den Verliebten wahrgenommen oder gar als Last empfunden. Das verliebte Paar ist mit sich selbst und mit seiner Umwelt restlos zufrieden. Ganz anders verlief dagegen Frau Dörrs Liebesaffäre: Sie sah in dieser ungleichen Beziehung die Möglichkeit, besser zu leben, sei es auch nur für kurze Zeit. Lene hat hingegen die Kraft, sich zu behaupten, denn das, was ihr ein sozialer Aufstieg durch Heirat ermöglichen würde, braucht sie nicht für ihr Lebensglück. Dabei macht sie sich auch frei für eine Liebe, die bloß ihren eigenen Gefühlen entspricht. Im Gegensatz zu ihr opferte Frau Dörr ihr Liebesglück auf dem Altar der gesellschaftlichen Konventionen, indem sie sich dem anpasste, was stillschweigend allgemein



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akzeptiert wurde.7 Die Abkehr von eigenen Liebesvorstellungen und die Bestätigung der herrschenden Machtverhältnisse fallen hier also zusammen. Ihr Beharren auf einem materiellen Gewinn ist obendrein der Beleg dafür, dass sie die herrschenden Werte verinnerlicht hat und sich mit den Krümeln begnügt, die vom Tisch der Oberschicht für sie abfallen. Frau Dörr ist deswegen irritiert von der Spontaneität von Lenes Gefühlen, von ihrer offenbar interesselosen Verliebtheit, die sie lediglich als Folge einer gefährlichen Einbildung betrachtet.8 Die ältere Nachbarin Lenes ist der Ansicht, sie dürfe sich nicht aufrichtig in Baron Botho verlieben, weil sie als Mädchen aus dem Volk keine Aussicht darauf habe, dass ihre Liebe in eine Ehe mündet, und daher nicht von einem Vertrag geschützt sei, der ihr Verhältnis mit dem Adligen auf Dauer sichert. Frau Dörr widersetzt sich also einer ›wahren‹ Liebesbeziehung auf Zeit, genauso wie die Moralisten, auch wenn sie als ehemals verführtes Bürgersmädchen ihre nicht der gängigen Moral entsprechende Verhaltensweise ausschließlich mit materiellen Argumenten begründet. Eine Liebe auf Zeit ist für Frau Dörr nur denkbar und moralisch vertretbar, wenn sich der Verzicht auf die reine Freude des Gefühlslebens in barer Münze auszahlt. Entscheidend für die Freiheit Lenes ist hingegen ihre Selbstgenügsamkeit, die sie von jeder Fremdbestimmung unabhängig macht: Ihr fehlt nichts und ihr widersteht nichts,9 denn sie leidet nicht unter der Kluft zwischen dem, was sie hat, und dem, was ihr fehlt. Der Gedanke daran beschäftigt sie einfach nicht. Sie steht vollkommen zu ihrem Leben und will dieses auch nicht gegen ein anderes eintauschen. Lenes Gelassenheit hängt also davon ab, dass sie sich zu ihrer Welt bekennen will und kann. Sie strebt nicht danach, die Grenzen ihrer Welt auszudehnen. In diesem Sinne handelt es sich bei ihr um eine Leistung des Willens – jenes Willens, der sich prinzipiell als Handlung der Selbst7

Walter Müller-Seidel dazu: »Das vor allem Anstößige in der zeitgenössischen Rezeption betrifft den Umstand, daß es jemand gewagt hat, offen zu erzählen, was ›man‹ allenfalls heimlich tut, ohne darüber öffentlich zu sprechen […]. Aber gerade an solchen Diskrepanzen zwischen Heimlichkeit und Offenheit ist Fontane interessiert« (Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 255). 8 »O du meine Güte, denn ist es schlimm. Immer wenn die Einbildung anfängt, fängt auch das Schlimme an ... mit mir war es ja eigentlich ebenso, man bloß nichts von Einbildung. Und bloß darum war es auch wieder ganz anders« (Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 96). 9 Lene zeigt sich z. B. frei von ›Bovarismus‹: Sie lebt ohne das Bedürfnis nach einem phantastischen Vermittler, durch den sie jenes Glück erfahren kann, das sie braucht. Effi Briest ist in diesem Sinne ihr Gegenbild, denn ihre Tragödie hängt womöglich mit ihrer ›bovaristischen‹ Unreife zusammen: Sie heiratet Innstetten auf Vermittlung ihrer Mutter, die einst selbst in den jungen Innstetten verliebt gewesen war, aber auf seine Liebe verzichtete, um den reiferen Herrn von Briest zu heiraten.

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beschränkung, des Nicht-Wollens ausdrückt. Gerade dieser Wille markiert den Unterschied zwischen gewollten und akzeptierten Grenzen, denn indem Lene selbst den Raum ihrer Entscheidungsmacht definiert, legt sie den Spielraum fest, in dem ihr Leben sich entfaltet. Ihre Entscheidung bezüglich ihrer Grenzen, die sich als gelassene Haltung zeigt und aus der Akzeptanz dessen entsteht, was für sie möglich sein kann, definiert ihre überlegene Position Baron Botho gegenüber. Gerade im Abschiedsgespräch kehren sich die gesellschaftlich bestimmten Machtverhältnisse zwischen den beiden ins Gegenteil um. Ausdruck ihrer Macht und ihrer Überlegenheit ihm gegenüber ist Lenes Angebot an Botho einer eben nicht gewöhnlichen Liebe: einer Liebe, aus der sich ein mögliches Ziel, sprich die Ehe, nicht ableiten lässt. Indem Lene sich davon löst, gewinnt sie ein Verständnis ihrer selbst, das sie frei und unabhängig macht. Es steht also nicht in Bothos Macht, Lene durch eine Heirat zu einer besseren Stellung zu verhelfen, denn sie hat bereits alles, was sie braucht. Nicht einmal der Verzicht auf die Liebe beraubt sie der Macht, Herrin ihrer selbst zu sein und zu genießen, was sie hat, also die Macht, ihre Lebensfreude zu bewahren. Es handelt sich also um eine Liebes- und Lebensform, in der Lene auf Bedürfnisse verzichten kann, die die gesellschaftlichen Institutionen benötigen, um fortzubestehen. Da aber Lene diese ›übermenschliche‹ Form der Liebe Botho offenbar nicht beibringen kann, ist ihre Trennung unausweichlich. Entweder hat er selbst die Kraft, auf das zu verzichten, was ihm die gesellschaftlichen Institutionen anbieten, d. h. Sicherheit und Dauer, oder er muss sich dieser Gesellschaft unterwerfen und in den von ihr festgelegten Grenzen gefangen bleiben. Die Tatsache, dass der adlige Botho diese Kraft nicht besitzt, ja dass er sich in einer ihn unterdrückenden ›Dienermentalität‹ gefangen fühlt, zeigt sich in den Ressentiments gegen seine Familie und im schlechten Gewissen Lene gegenüber.10 Da er mit der Macht seiner Familie hadert, die ihn zwingt, seine reiche Cousine Käthe zu heiraten, zeigt er, dass er für sich selbst keine Verantwortung übernehmen kann. Er ist also weder in der Lage, auf die familiäre Bindung zu verzichten, noch, sich als Angehöriger einer adligen Familie ohne Ressentiments in die ihm vorbestimmten Grenzen zu fügen. Er kann sich nicht wie Lene entscheiden, sich freiwillig den Konventionen seiner Herkunft unterzuordnen und dabei gleichzeitig Herr über sein eigenes Schicksal zu bleiben. Seine Unmündigkeit kränkt ihn und macht ihn verdrießlich. Er sehnt sich danach, ein anderer Mensch zu sein, nicht der Gehorchende, der unfähig ist, seinen Bewegungsraum selbst zu gestalten. Er wendet sich demzu10 »Sie lehnte sich an ihn und sagte ruhig und herzlich: ›Und das ist nun also das letzte Mal, daß ich deine Hand in meiner halte?‹ ›Ja, Lene. Kannst du mir verzeihn?‹ ›Wie du nur immer frägst. Was soll ich dir verzeihn?‹« (Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 173).



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folge von Lenes Liebe ab, ohne allerdings konsequent zu jenem Lebensentwurf zu stehen, dem er sich stattdessen zuwendet. Er sehnt sich nach etwas, das außerhalb seiner Entscheidungsgewalt steht. Daher empfindet er seine Position im Leben als verkehrt: Er lebt getrennt von seinen Neigungen und seinen Wünschen. Diese Veräußerung seiner Identität quält ihn, beraubt ihn seiner inneren Ruhe und der Freude, das zu genießen, was er hat. Er fühlt sich wie ein Sklave, welcher die Freiheit nur als Sehnsucht erfahren darf. Die Stellung der jungen Bürgerfrau ist also im Vergleich zu der des Adligen durch das Vorrecht der Emanzipation von den äußeren Bedingungen gekennzeichnet: Ihr liebevolles Glück kann in der zeitlichen und räumlichen Enge von begrenzten Bereichen leben und sich entfalten. Auf diese Weise wendet sie sich an ihren Geliebten und ermahnt ihn, ihre Liebe leichten Herzens zu genießen, obwohl sie so wie ein Traum verwehen muss. Auf diese Weise appelliert sie an ihn, sich mit dem Verlorenen zu versöhnen. Diese Versöhnung setzt die für Lene kennzeichnende Kraft voraus, dem, was uns eine schöne Erinnerung auf schmerzhafte Weise zurückgibt, ein ›freundliches Gesicht‹ zu zeigen Mit diesen einfachen Worten tröstet Lene Botho: »Jetzt ist es schwer, aber es vergißt sich alles oder gewinnt wieder ein freundliches Gesicht«.11 Ihr Wille, das Schöne der Vergangenheit zu bewahren, obwohl es zu Ende geht, manifestiert sich zwar als individueller Charakter, allerdings ist er keineswegs ohne soziale Auswirkungen. Lenes gelassene Haltung am Ende der Liebesgeschichte drückt im Gegensatz zu Bothos Groll und schlechtem Gewissen eine Haltung gegenüber Liebesbeziehungen aus, die frei von Ängsten und Illusionen ist. Da sie sich ein Liebesglück vorstellen kann, das nur in zeitlichen Grenzen leben darf, ist sie auch in der Lage, auf ihre Institutionalisierung in der Ehe zu verzichten. Eine solche Haltung gilt als subversiv, denn Lene hat nicht das Bedürfnis, vom gesellschaftlichen System geschützt zu werden, und daher legt sie den Mut an den Tag, eine provisorische Liebe als genauso wertvoll zu erachten wie eine, deren Dauer von der Institution garantiert ist. Das Bewusstsein, dass das, was vergeht, nicht weniger wertvoll ist als das, was bleibt, entspricht nicht einfach der bürgerlichen Mentalität, die zum Wandeln und zum Fortschritt steht. In Lenes Aufforderung an Botho, sich über den Moment zu freuen und den letzten gemeinsamen Abend in vollen Zügen zu genießen, auch wenn dadurch ihre Trennung sanktioniert wird, verbirgt sich also eine überraschend subversive Kraft. Da sie es nicht nötig hat, sich auf Instanzen zu stützen, die ihre menschlichen Grenzen transzendieren und ihr ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber irdischem Vergehen vermitteln, entwertet sie sie und macht sie überflüssig. 11 Ebd., S. 174.

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Die Emanzipation vom illusorischen Traum eines Glücks, das die Grenzen des Individuums überschreitet, drückt sich voll und ganz in ihrer Fähigkeit aus, Abschied zu nehmen. In Anlehnung an Nietzsches bildlichen Ausdruck im Prolog zu Zarathustra können wir behaupten, dass so ein mutiger Mensch im Bewusstsein lebt, sowohl ein Übergang als auch ein Untergang zu sein,12 d. h. er kann sowohl neues Land in sich selbst und in der Welt erkunden als auch fröhlich den Verzicht darauf üben. Lenes scheinbar widerstandslose Annahme des Vergehens ist nichts anderes als lebendige Bereitschaft, zu Neuem überzugehen. Für sie ist es daher nicht notwendig, auf ein Leben in seiner möglichen Fülle zu verzichten, wenn sie die Liebe von Botho aufgibt. Gerade ihre Haltung zum Vergehen zehrt von der Gelassenheit, die sie charakterisiert, und lässt sich klar von einer fatalistischen Haltung unterscheiden, welche das Untergehen resignierend akzeptiert. Das Vorrecht, das eigene Schicksal zu erkennen und seine Grenzen als neue Möglichkeit interpretieren zu können, drückt die schon erwähnte Bereitschaft aus, ›nicht zu wollen‹, die Nietzsche im Prolog zu Also sprach Zarathustra13 dem Übermenschen zuschreibt. Das Bürgersmädchen legt aber gerade im Moment des Verzichtes eine Eigenschaft an den Tag, die als Erbe seiner sozialen Klasse betrachtet werden kann: den Willen, sich selbst zu bestimmen. Paradoxerweise artikuliert sich dieser Wille als ein Nicht-Wollen, denn ein Wollen, das sich behaupten will, setzt immer ein Nicht-Wollen voraus. Lene ist trotz ihres Liebesglücks nicht bereit, über die Grenzen ihrer sozialen Lage hinauszugehen. Durch die Liebesgeschichte mit Botho hat sie einen Blick über ihre Grenze geworfen und dabei beschlossen, dass sie auf ein Leben außerhalb ihres Horizontes verzichten wird. Dem Zustand des Menschen, der sich mit seiner eigenen Bestimmung abfinden muss, kann die mögliche Erfahrung von Schmerz natürlich nicht abgenommen werden. Der Leser von Irrungen, Wirrungen kann sich leicht vorstellen, dass Lenes ›große Augen‹, die Bothos Weggang beobachten, voller Tränen sind. Die Entschlossenheit der Geste mit der Hand, die Lene nötig hat, um den Geliebten zurückzuweisen und von der ich bereits gesprochen habe, zeigt jedoch, dass sie sich nicht von der Trauer beherrschen lässt. Fontanes Heldin ist nichts an menschlicher Schwäche fremd und sie hat in diesem Sinne nicht die Eigenschaft des Helden, der die Gerechtigkeit triumphieren lässt und dadurch eine ideale Ordnung beschwört. Lene besitzt jedoch eine noch ehrgeizigere menschliche Eigenschaft: jene, die es ihr erlaubt, in den Grenzen der eigenen Welt zu leben, ohne den Anspruch zu hegen, sie zu beherrschen, 12 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Frankfurt am Main 1976, S. 16. 13 Ebd.



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allerdings auch mit dem Stolz, nicht ihr Diener zu sein. Dank dieser Eigenschaft ist sie fähig, Botho zu lieben, und gleichzeitig, ihn mit Gelassenheit in den Grenzen seines beschränkten Horizontes zurückzulassen.

Fontanes beweglicher Geschlechterkodex

Eine toxisch-männliche Perspektive in »Schach von Wuthenow« Giulia Iannucci

I. Methodische Einführung Der Kurzroman Schach von Wuthenow. Die Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes, der erstmals 1882 in der Vossischen Zeitung erscheint und dann 1883 veröffentlicht wird, spielt 1806 und erzählt nicht nur vom Ende Schachs, sondern auch vom Ende seines Regiments Gensdarmes, vom Ende des Heiligen Römischen Reiches und von der Kapitulation Preußens und König Friedrich Wilhelms III. Aus diesem Grund gilt es, ihn auch als historischen Roman immer aus dem Blickwinkel von Schachs Selbstmord zu betrachten. Im folgenden Aufsatz wird Theodor Fontanes Erzählung im methodischen Kontext der ›toxischen‹ Männlichkeit1 und deren unterschiedlicher Formen analysiert. Die Handlungen Schachs und sein Suizid stellen eine interne Grenzüberschreitung der männlichen Geschlechtergrenzen dialektisch dar: Seine Männlichkeit bewegt sich zwischen einer (selbst)obligatorischen, aber offensichtlichen Übereinstimmung mit dem hegemonialen Standard und einer endgültigen und unbewussten Überschreitung der untergeordneten männlichen Gattung. Dieses soziale Konstrukt, von dem Schach sich nicht entfernen kann, entspricht in der Hauptfigur gleichzeitig einer doppelten Praktik: einerseits aus einer sadistischen Perspektive wegen der Qual, die die Gesellschaft im Alpha-Mann erzeugt, und deren Freude, ihn leiden zu sehen; andererseits von einem masochistischen Standpunkt aus gesehen wegen des von Schach unterdrückten, doch erlebten Schmerzes, um seine Machtposition zu behaupten und die herrschenden Maßstäbe der männlichen Ethik und 1

Der Begriff wird innerhalb der mythopoetischen Männerbewegung und insbesondere von Shepherd Bliss in den 1980er und 1990er Jahren eingeführt. Durch diese Definition wird versucht, eine Liste männlicher Eigenschaften und Einstellungen (»key issues«) zu erstellen, die als toxisch gelten und in bestimmten ›Räumen‹ wiederholt werden: z. B. »the Father-Son Connection«; »Male Friendships«; »Men’s Health«; »Male Modes of Intimacy«; »Male Modes of Feeling«; »The Male Body«; vgl. Shepherd Bliss, Revisioning Masculinity. A report on the growing men’s movement. In: In Context: A Quarterly of Humane Sustainable Culture 16 (1987), S. 21.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-027

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Ästhetik zu respektieren. Diesbezüglich hält Müller-Seidel Schach für einen ›halben Helden‹,2 der angesichts der Objektivität seiner Schwächen »nicht nur ein Schuldiger, sondern wenigstens zum Teil ein Opfer der Gesellschaft [ist], die so hart über ihn urteilt«.3 Die (Grenzüberschreitungs-)Praktik wird daher in dieser beständigen Oszillation zwischen unterschiedlichen – internen und externen – männlichen Vorstellungen verwirklicht, die jedoch schon veraltete Ehrensysteme darstellen. Wie Preußen im Jahr 1806 und Deutschland im Jahr 1882 lebt Schach in einer »neue[n] Zeit« mit »alte[n] Vorurteile[n]«4 und nur die von Fontane versuchte Geschlechtergrenzüberschreitung bietet die Möglichkeit, die Liminalität der Zeit auch im Sinne von Männlichkeit wahrzunehmen.5 Um die Haltung des preußischen Offiziers Schach zu analysieren, werden hier zwei Schlüsselkonzepte der Geschlechterforschung angewandt: einerseits die bekannte Theorie der gender performativity, die von Judith Butler entwickelt wurde. Nach dieser Theorie ist Geschlecht nicht als physiologische Kategorie, sondern als soziales Konstrukt zu verstehen, das durch die Wiederholung bestimmter Handlungen und Verhaltensweisen gefördert wird. Das Geschlecht ist daher: an identity tenuously constituted in time – an identity instituted through a stylized repetition of acts. Further, gender is instituted through the stylization of the body and, hence, must be understood as the mundane way in which bodily gestures, movements, and enactments of various kinds constitute the illusion of an abiding gendered self.6

Bewusst beschließt Schach, diese Art von Männlichkeit durch eine Reihe von Entscheidungen, die sich zwischen dem öffentlichen und privaten Leben – und umgekehrt – bewegen, zu ›performieren‹. Sein persönliches doing gender7 2 Vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 143. Auch Walter Erhart spricht von »[u]nsichere[n] Passagiere[n]« und »beinah männlich«: Fontanes »halbe« Helden (ders., Familienmänner über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 172–208). 3 Walter Müller-Seidel, »Das Klassische nenne ich das Gesunde …« Krankheitsbilder in Fontanes erzählter Welt. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 31 (1982), S. 9–27, hier S. 17. 4 Theodor Fontane, Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes, HFA I/1, S. 555–684, hier S. 603. 5 Vgl. Maja Razbojnikova-Frateva, »Jeder ist seines Unglücks Schmied«. Männer und Männlichkeiten in Werken Theodor Fontanes, Berlin 2012. 6 Judith Butler, Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Theatre Journal 40/4 (1988), S. 519–531, hier S. 519. 7 Der Begriff doing gender wurde 1987 von Candace West und Don H. Zimmerman geprägt und weist auf ein soziales Konstrukt hin, d.  h. »a routine accomplishment embedded in everyday interaction. […] Doing gender involves a complex of socially



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ist nur verständlich, wenn die zu dieser Leistung führenden Handlungen in einem Familienmikrokosmos (dem Familienerbe Wuthenow) aktiviert werden, im Berufskosmos (dem Ehrenmilitarismus der Gensdarmes) wiederholt und im öffentlichen Makrokosmos (Preußen und der Figur des Königs) etabliert werden. Andererseits scheint Schach durch die Inszenierung dieser männlichen Darstellung ständig mit sich selbst und der Gesellschaft zu kämpfen, um sich perfekt an den hegemonialen männlichen Standard anzunähern: Dies verbindet den Diskurs wiederum mit der von R. W. Connell dargestellten hegemonialen Männlichkeit.8 Connell, die die Männlichkeit in die Kategorien hegemoniale, komplizierte, marginalisierte und untergeordnete Männlichkeit unterteilt, bietet einen wesentlichen Ausgangspunkt für die Analyse der von Schach repräsentierten männlichen Idee. Der Offizier, der den vom Militarismus des preußischen Staates und vom König auferlegten hegemonialen Standard erfüllen will und die notwendige soziale Position als Junker9 innehat, tritt für die Sache ein, bis er sich ihr widmet und gleichzeitig ein Modell dieser Praxis wird. Obwohl er aufgrund der Ehe mit Victoire befürchtet, in die Kategorie der ›marginalisierten Männlichkeit‹ deklassiert zu werden,10 fällt er nämlich, und zwar vollständig, in die Kategorie der Unterordnung. Er inszeniert keine subversive Handlung, sondern er performiert unbewusst alle untergeordneten Eigenschaften, die den dominanten Merkmalen widersprechen.

guided perceptual, interactional, and micropolitical activities that cast particular pursuits as expressions of masculine and feminine ›natures‹« (Candace West und Don H. Zimmerman, Doing Gender. In: Gender and Society 1/2 [1987], S. 125–151, hier S. 125–126). 8 Vgl. Raewyn Connell, Masculinities (1995), Berkeley/Los Angeles 2005, S.  76–77. Für eine eingehende Analyse und Erweiterung der Theorie siehe auch James W. Messerschmidt, Hegemonic Masculinity. Formulation, Reformulation, and Amplification, Lanham 2018; ders., Patricia Yancey Martin et al. (Hrsg.), Gender Reckonings New Social Theory and Research, New York 2018. 9 Lukács erklärt: »[D]ie Werke [Fontanes] enthalten eine vernichtende Kritik des Junkertums. Diese Kritik ist aber mit einer tief erlebten persönlichen Anhänglichkeit, mit einer starken ästhetisch-ethischen Vorliebe für die guten Exemplare des preußischen Adels, vor allem des märkischen, durchsetzt«. György Lukács, Der alte Fontane. In: Ders., Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Bern 1951, S. 262–307, hier S. 272. 10 Da die Kategorie der marginalisierten Männlichkeit der hegemonialen Norm unterliegt und durch strukturelle Hindernisse gefördert wird, werden die Ehe und Victoire, die aufgrund der Pocken im Gesicht entstellt ist, selbst als echte strukturelle Hindernisse betrachtet. Darüber spreche ich im zweiten Abschnitt.

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II. Schachs performative Geschlechterinszenierung: Einige Deutungsversuche Angesichts der oben dargestellten Methodologie und des Grundsatzes Walter Müller-Seidels, wonach die »Eindeutigkeit im Urteil […] nicht zu den Strukturprinzipien dieser Erzählung [gehört]«,11 ist es notwendig, sich auf die Worte der primären und sekundären Figuren des Romans zu beziehen, um die Natur von Schachs toxischer Männlichkeit und den schließlichen Paroxysmus zu verstehen. Die Darstellung der Männlichkeit Schachs erfolgt häufiger durch die oft voneinander abweichenden Worte anderer, und auch wenn Schach nicht anwesend ist, reden oder schreiben andere über ihn. Diesbezüglich hat Domenico Mugnolo bereits bemerkt, dass jeder und jede Schach in einem anderen Licht sieht und sich dabei auf seine bzw. ihre eigene Denkweise und seinen bzw. ihren Wertekodex bezieht.12 Der erste Deutungsversuch nimmt Bezug auf einen der zwei Briefe, die Fontane strategisch am Ende des Romans – als Kommentar zum Tod des preußischen Offiziers – platziert. Der Absender ist Herr von Bülow: Er, ein Brandenburger und ehemaliger Stabskapitän, wurde wahrscheinlich als »das Haupt jener militärischen Frondeurs angesehen […], die damals die politische Meinung der Hauptstadt machten, beziehungsweise terrorisierten« (HFA I/1, S. 555). Paradoxerweise verkörpert er gleichzeitig den Antagonisten des Romans, indem er Schach immer widerspricht, aber auch weil er sich der preußischen Leere und Künstlichkeit zutiefst bewusst ist und weiß, dass »die Tage Preußens gezählt« (HFA I/1, S. 564) sind. Der Brief, der nach Schachs Selbstmord13 geschrieben und an Daniel Sander, den Herausgeber von Bülows Schriften, geschickt wird, untersucht den »Schach-Fall« (HFA I/1, S. 678) als lokales Symptom einer universellen Krankheit: Er ist durchaus Zeiterscheinung, aber wohlverstanden mit lokaler Begrenzung, ein in seinen Ursachen ganz abnormer Fall, der sich in dieser Art und Weise nur in Seiner Königlichen Majestät von Preußen Haupt- und Residenzstadt oder, wenn über diese hinaus, immer nur in den Reihen unsrer nachgeborenen friderizianischen Armee zutragen konnte, einer Armee, die statt der Ehre nur noch den Dünkel und statt der Seele nur noch ein Uhrwerk hat – ein Uhrwerk, das bald genug abgelaufen sein wird. Der große König hat diesen schlimmen Zustand der Dinge vorbereitet […] (ebd.).

11 Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, S. 143. 12 Domenico Mugnolo, Introduzione. In: Theodor Fontane, Storia di un ufficiale prussiano, Milano 1981, S. 5–14, hier S. 9. 13 Der Brief ist auf den 14. September 1806 datiert. Vermutlich begeht Schach Selbstmord im August 1806.



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Das hegemoniale Modell, das von dem ersten König Preußens aufgestellt und in den Reihen der Armee Friedrichs II. wiederholt wurde, ist mit all seiner Viruslast bis zu Schach gekommen. Er ist bereit, ein Testobjekt der patriarchisch-preußischen ›Lehre‹ zu werden, auch wenn er nicht mehr als Prototyp, sondern als Opfertier der (falschen) Ehre und des Militarismus gelten wird: Seine Haltung ist im Motto »Ich bin ein Preuße ... will ein Preuße sein«14 enthalten. Diese untrennbare Verbindung zwischen Männlichkeit und Militarismus/Preußen wird durch ein anachronistisches ritterliches Gefühl gefördert, das Bülow ebenfalls gut kennt: »Ich habe lange genug dieser Armee angehört, um zu wissen, daß ›Ehre‹ das dritte Wort in ihr ist […]. Und dies beständige Sprechen von Ehre, von einer falschen Ehre, hat die Begriffe verwirrt und die richtige Ehre totgemacht.« (Ebd.). Diese falsche Kategorie oszilliert ständig zwischen einer externen und einer internen Spannung: einerseits der hegemoniale Standard, der von der traditionellen Männlichkeit etabliert wird; andererseits der Wunsch, diesem Standard zu entsprechen. Falsche Ehre ist daher das Banner der Nation selbst, d. h. des feudalen Preußen, das nach drei Glaubensartikeln lebt: [E]rstes Hauptstück »die Welt ruht nicht sichrer auf den Schultern des Atlas, als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee«, zweites Hauptstück »der preußische Infanterieangriff ist unwiderstehlich«, und drittens und letztens, »eine Schlacht ist nie verloren, solange das Regiment Garde du Corps nicht angegriffen hat«. Oder natürlich auch das Regiment Gensdarmes. Denn sie sind Geschwister, Zwillingsbrüder. (HFA I/1, S. 572).

Auch wenn sich Schachs performative Kraft augenscheinlich aus einem Nachahmungsprozess der Handlungen und Verhaltensweisen nährt, die von seinem Regiment und seinen Regimentskameraden kanonisiert wurden, hat doch auch der Hof seinen Charme für den Protagonisten: Zunächst lässt er sich auch von dem jungen, ausschweifenden Prinzen Louis Ferdinand von Preußen faszinieren. Wie bereits erwähnt, verschont Schachs soziale Pedanterie jedoch auch den jungen Prinzen nicht, »ein Helden- und ein Debauchenprinz. Dabei grundsatzlos und rücksichtslos, sogar ohne Rücksicht auf den Schein. Was vielleicht das Allerschlimmste ist« (HFA I/1, S. 615):15 Die Missbilligung des 14 Theodor Fontane, Effi Briest, Berlin 1896, S. 269. 15 Während dieses paradoxen Gesprächs verteidigt Victoire den Prinzen, dessen Libertinage weder angenommen noch verurteilt wird: »Was würd aus uns, ganz speziell aus uns zwei Frauen, wenn wir uns innerhalb unserer Umgangs- und Gesellschaftssphäre zu Sittenrichtern aufwerfen und Männlein und Weiblein auf die Korrektheit ihres Wandelns hin prüfen wollten? […] Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt,  gilt, was sie verwirft, ist verwerflich. Außerdem liegt hier alles exzeptionell. Der Prinz ist ein Prinz, Frau von Carayon ist eine Witwe, und ich ... bin ich« (HFA I/1, S. 615).

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preußischen Offiziers, der sich hier auf die außereheliche Beziehung von Prinz Louis Ferdinand mit Pauline Wiesel bezieht, richtet sich weniger gegen die Libertinage als vielmehr gegen die Unverschämtheit des Prinzen, der sich nicht bemüht, seine privaten Angelegenheiten zu verbergen. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Haltung des Prinzen dem öffentlichen Urteil gegenüber einem weit verbreiteten Gefühl der Gleichgültigkeit entspricht – was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass er jung, gutaussehend und mächtig ist.16 Der hegemoniale, subversive Standard wird daher kanonisiert und Schach gibt sich völlig dem Charme des skandalösen Prinzen hin, wobei er nicht versteht, von wem er sich leiten lässt. Schach muss auf seine Worte hören, weil er der Prinz ist, d. h. eine der möglichen hegemonialen Verkörperungen. Auch in seinem Handeln und Umwerben Victoire gegenüber, das ihm der Prinz vorschlägt, ist es, als ob Schach nur Befehlen gehorcht. Das ist eine notwendige und natürliche Handlung für Schachs performative Entwicklung seiner Männlichkeit: Wie Butler festhält: »the authors of gender become entranced by their own fictions whereby the construction compels one’s belief in its necessity and naturalness«.17 In Bezug darauf erklärt Bülow, dass sich Schachs Interesse an Victoire von Carayon genau nach einer bestimmten Rede von Prinz Louis über Schönheit zeigt.18 Nachdem der Prinz an die frühere Schönheit der jungen Victoire erinnert hat, wird er von Schach über den aktuellen ›pockenbedingten‹ ästhetischen Zustand des Mädchens informiert.19 Daraufhin beginnt der Prinz mit einem paternalistischen, aber etwas subversiven Ton über die beauté du diable 16 Die Wahrscheinlichkeit ist eigentlich höher, da Fontane selbst in einem dem Prinzen gewidmeten kurzen Gedicht ihn als Halbgott beschreibt: »Sechs Fuß hoch aufgeschossen / Ein Kriegsgott anzuschauen / Der Liebling der Genossen / Der Abgott schöner Frauen / Blauäugig, blond, verwegen, / Und in der jungen Hand, / Den Alten Preußendegen – / Prinz Louis Ferdinand.« (Theodor Fontane, Prinz Louis Ferdinand. In: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 20: Balladen und Gedichte. Hrsg. von Edgar Gross, Kurt Schreinert et al., München 1962, S. 219–222, hier S. 219) Das Gedicht geht weiter: »Die Generalitäten / Kopfschütteln früh und spät, / Sie räuspern sich und treten / Vor Seine Majestät, / Sie sprechen: ›Nicht zu dulden / Ist dieser Lebenslauf, / Die Mädchen und die Schulden / Zehren den Prinzen auf.‹ // Der König drauf mit Lachen: / ›Dank’ schön, ich wußt’ es schon; / Es gilt ihn kirr zu machen, / Drum: Festungsgarnison […]‹« (und Schach scheint zu den pedantischen »Generalitäten« zu gehören). 17 Butler, Performative Acts and Gender Constitution, S. 522. 18 Erhart zeigt, dass sich das Liebestreffen anhand von zwei vorhergehenden Szenen andeutet, in denen Prinz Louis von Victoire spricht (1) und Lisette, Victoires Freundin, den Bericht über den Tempelhof-Spaziergang kommentiert (2); vgl. Erhart, Familienmänner über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, S. 179. 19 »Eure Königliche Hoheit würden das Fräulein Victoire nicht wieder erkennen« (HFA I/1, S. 606), sagt Schach.



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zu sprechen. Mittels einer Praktik von mansplaining20 den ihm unterlegenen Männern gegenüber erklärt er: »[E]iner Erscheinungsform, die sich mit der des ci-devant schönen Fräuleins von Carayon einigermaßen decken würde« (HFA I/1, S. 607), d. h. einer Form von überlegener Schönheit, die eine kosmische Spannung besitzt: [… während] meine beauté du diable die Trägerin einer allervollkommensten Gesundheit ist, jener Gesundheit, die zuletzt alles bedeutet und gleichwertig ist mit höchstem Reiz. Und nun frag ich Sie, meine Herrn, wer hätte mehr davon als die Natur, die durch die größten und gewaltigsten Läuterungsprozesse wie durch ein Fegefeuer gegangen ist. Ein paar Grübchen in der Wange sind das Reizendste von der Welt […]. Das Paradoxe »le laid c’est le beau« hat seine vollkommene Berechtigung, und es heißt nichts andres, als daß sich hinter dem anscheinend Häßlichen eine höhere Form der Schönheit verbirgt (HFA I/1, S. 608).

Das Konzept zeigt eine viel weniger restriktive Vision als diejenige der anderen Männer, die offenbar vergeblich versuchen, dem Prinzen zu erklären, dass sich das ästhetische Aussehen der jungen Victoire keineswegs als ›schön‹ definieren lässt. Dagegen will er diese stagnierende Kategorie überwinden und der Förderer einer Schönheit sein, die sich von den üblichen – und sozial akzeptierten – Formen entfernt und andere Gestalten bevorzugt. Diese Strafpredigt hat eine scheinbar unerwartete, doch hierarchisch voraussehbare Wirkung auf Schach, denn die hegemoniale Struktur wird auf ›kanonische‹ Weise angewendet: Wenn Prinz Louis die junge Victoire und ihre beauté du diable lobt, werden die Dame und ihre Schönheit zu vom dominanten hegemonialen System akzeptierten ›Accessoires‹. Diese Accessoires definieren daher die Männlichkeit desjenigen, der sich auf den Kanon einstellen und seinen eigenen mit dem hegemonialen Standard in Übereinstimmung bringen will. Von diesem Zeitpunkt an beginnt Schach die Verführung, die der »süßen Betäubung« (HFA I/1, S. 617) zugrunde liegt. Beim Besuch der jungen Frau verhält er sich, als ob er durch die Worte des Prinzen dazu aufgefordert worden wäre: »Manches, was der Prinz über sie gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf. Waren das Überzeugungen oder Einfälle? War es Fieber? Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ein aufblitzendes Feuer in ihrem Auge traf ihn mit dem Ausdruck einer trotzigen Entschlossenheit« (HFA I/1, S. 615). Trotz der Gegenseitigkeit des Gefühls, das »weder gegen den äußeren Vorteil noch gegen irgendein Vorurteil verstoßen hätte« (HFA I/1, S. 679), flieht er nach Wuthenow, einfach weil das holde Geschöpf, um das sich’s handelt, ein paar Grübchen mehr in der Wange hat, als gerade modisch oder herkömmlich ist, und weil diese »paar Grübchen zuviel« unseren glatten und wie mit Schachtelhalm polierten Schach auf vier Wochen in eine von seinen Feinden bewitzelte Stellung hätten bringen können (ebd.).

20 Krasis aus den Wörtern man und explaining.

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Schließlich erlaubt der ganze Brief Bülow, den wahren Schach zu beschreiben, und nicht länger als »immer noch einer der besten« (ebd.). Er zitiert sarkastisch die Worte von Alvensleben, der Schach zu Beginn des Romans als solchen definiert hatte (HFA I/1, S. 572), und verspottet jene Kameraden, die seine Ritterlichkeit immer gelobt hatten, u. a. Leutnant Nostitz von den Gensdarmes. Er ist »ein tollkühner Reiter und ein noch tollkühnerer Cour- und Schuldenmacher, […] seit lang ein Allerbeliebtester im Regiment« (HFA, I/1, S. 570) und wurde daher von Prinz Louis Ferdinand persönlich als Adjutant angefordert. Diese Ähnlichkeit mit dem Prinzen schärft die Distanz zu Schach, dessen Wahrnehmung durch seine Kameraden jedoch seine Offenheit, Ehrlichkeit und Ritterlichkeit bezeugt. Leutnant Nostitz erklärt: Ich habe nicht viel für ihn übrig, aber das ist wahr, alles an ihm ist echt, auch seine steife Vornehmheit, so langweilig und so beleidigend ich sie finde. Und darin unterscheidet er sich von uns. Er ist immer er selbst, gleichviel, ob er in den Salon tritt, oder vorm Spiegel steht, oder beim Zubettegehn sich seine safranfarbenen Nachthandschuh anzieht (HFA I/1, S. 573).

Und so wird Schach im Verlauf des Romans vorgestellt. Seine Moral, seine Ehrlichkeit und sein daraus resultierendes Maß an Ehre werden niemals in Frage gestellt. Erst nachdem er die junge Victoire (die manchmal einem selbstbewussteren Gretchen ähnelt) ›aus Versehen‹ verführt hat, wird der neue Faust von seinen eigenen Gedanken, Ängsten und Befürchtungen überwältigt. Diese Gefühle werden durch die Verbreitung von Karikaturen verschärft, die nicht nur Victoires Un-Schönheit darstellen, sondern auch deutlich auf das Liebesdreieck (Schach-Victoire-ihre Mutter)21 anspielen. Schach ist nun der öffentlichen Schande ausgesetzt und flieht zunächst nach Wuthenow, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen. Trotz alledem ist er nach wie vor anscheinend ein Ehrenmann und aufgrund seiner sozial auferlegten Natur selbst gezwungen, der Aufforderung seines »Allergnädigste[n] König[s] und Herrn« (HFA I/1, S. 679) direkt zu folgen, um seiner Ehre zu entsprechen und Victoire zu heiraten. Wenn der König »an Pflicht und Wort erinnert und strikten Gehorsam fordert, da gehorcht er, aber 21 Nostitz weist darauf hin, dass Schach wahrscheinlich in der Vergangenheit mit der Witwe Josephine von Carayon, Victoires Mutter, eine Liebesbeziehung unterhalten hatte: »›Die schöne Mama, wie Sie sie nennen, wird 37, bei welcher Addition ich wahrscheinlich galant genug bin, ihr ihre vier Ehejahre halb statt doppelt zu rechnen. Aber das ist Schachs Sache, der über kurz oder lang in der Lage sein wird, ihren Taufschein um seine Geheimnisse zu befragen.‹ ›Wie das?‹ fragte Bülow. ›Wie das?‹ wiederholte Nostitz. ›Was doch die Gelehrten, und wenn es gelehrte Militärs wären, für schlechte Beobachter sind. Ist Ihnen denn das Verhältnis zwischen beiden entgangen? Ein ziemlich vorgeschrittenes, glaub ich. C’est le premier pas, qui coûte ...‹« (HFA I/1, S. 571).



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nur, um im Momente des Gehorchens den Gehorsam in einer allerbrüskesten Weise zu brechen« (ebd.), indem er seine falschen Vorstellungen von Verehrung und Gehorsam, d. h. den Idolen der preußischen Gesellschaft, offenbart. Gerrit Vorjans teilt die These nicht, nach der sich Schach in einer Außenseiterposition befindet. Er behauptet, dass Schach »prototypisch einer bestimmten zeitgenössischen Vorstellung vom adeligen Offizierssubjekt entspricht. Zu dieser zeitgenössischen Vorstellung zählt auch die im Text realisierte Selbsttötungsart des Erschießens«.22 Das zweite vorgeschlagene Deutungsmodell wird durch die Worte des ›ersten‹ Opfers von Schachs Handlungen, nämlich Victoire, dargeboten. Sie schreibt am 18. August 180723 aus Rom an ihre Vertraute Lisette von Perbandt. Der Brief symbolisiert die private und ›weibliche‹ gegensätzliche Lesart der Ereignisse zum öffentlichen und männlichen Brief von Bülow an Sander. Die junge Mutter von Schachs Sohn24 erklärt ihrer Freundin kurz und bündig: »Er sei, so versichern die Leute, der schöne Schach gewesen, und ich, das mindeste zu sagen, die nicht-schöne Victoire – das habe den Spott herausgefordert, und diesem Spotte Trotz zu bieten, dazu hab’ er nicht die Kraft gehabt. Und so sei er denn aus Furcht vor dem Leben in den Tod gegangen.« (HFA I/1, S. 681). Das Erscheinungsbild des Mädchens ist nicht nur eines der am meisten untersuchten Themen des Romans, sondern auch als einer der Gründe anzusehen, die Schach dazu veranlassen, die junge Frau zu umwerben.25 In der Tat wissen die Leser_innen, dass »ihr feines Profil, das einst dem der Mutter geglichen haben mochte, durch zahlreiche Blatternarben aber um seine frühere Schönheit gekommen war« (HFA I/1, S. 557), aber sie wissen noch nicht, dass Schach niemals solche Hässlichkeit in seinem Leben akzeptieren könnte. Alvensleben, indem er auf Nostitz’ Unterstellungen bezüglich einer möglichen Vereinigung von Schach mit Josephine von Carayon antwortet, behauptet mit einem grausam frauenfeindlichen Zynismus: Schach ist eine sehr eigenartige Natur, die, was man auch an ihr aussetzen mag, wenigstens manche psychologischen Probleme stellt. Ich habe beispielsweise keinen Menschen kennengelernt, bei dem alles so ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen wäre, womit es vielleicht in

22 Gerrit Vorjans, Von der Torheit wählerisch zu sterben. Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900, Bielefeld 2016, S. 74–75. 23 Ein Jahr nach dem Selbstmord Schachs. 24 Die Information wird am Ende des Romans mitgeteilt. 25 Diesbezüglich erklärt George Mosse, dass »physical appearance would now assume an importance it did not have earlier; not only comportment but looks mattered. Such an aesthetic of masculinity was crucial to the formation of a stereotype that […] must be based upon visually-oriented perceptions« (George L. Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York/Oxford 1998, S. 19); der Diskurs gilt aber auch für Victoire als Erweiterung von Schach und seinem Standard.

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einem gewissen Zusammenhange steht, daß er überspannte Vorstellungen von Intaktheit und Ehe hat. Wenigstens von einer Ehe, wie er sie zu schließen wünscht. Und so bin ich denn wie von meinem Leben überzeugt, er wird niemals eine Witwe heiraten, auch die schönste nicht. Könnt aber hierüber noch irgendein Zweifel sein, so würd ihn ein Umstand beseitigen, und dieser eine Umstand heißt: »Victoire«. […] Wie schon so mancher Heiratsplan an einer unrepräsentablen Mutter gescheitert ist, so würd er hier an einer unrepräsentablen Tochter scheitern. Er fühlt sich durch ihre mangelnde Schönheit geradezu geniert und erschrickt vor dem Gedanken, seine Normalität, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit ihrer Unnormalität in irgendwelche Verbindung gebracht zu sehen. Er ist krankhaft abhängig, abhängig bis zur Schwäche, von dem Urteile der Menschen, speziell seiner Standesgenossen, und würde sich jederzeit außerstand fühlen, irgendeiner Prinzessin oder auch nur einer hochgestellten Dame Victoiren als seine Tochter vorzustellen. (HFA I/1, S. 571–572).

Wegen seiner ›Normalität‹, d. h. seines völligen Festhaltens an der Leere des ästhetischen und ethischen Ehrenkanons Preußens, die vor der avantgardistischen Reichweite Napoleons und Frankreichs kapitulieren wird, kann er die ›Unnormalität‹ der jungen Victoire und die folgende Verlegenheit und die Nachreden nicht tolerieren. Er kämpft »zwischen konventionellem Begriff von Schönheit und jener anderen Schönheit, die sich jenseits des neuen Codes eröffnet«.26 Wenn er sich die Zukunft mit Victoire vorstellt, sieht »er […] sich in einem Kutschwagen bei den prinzlichen Herrschaften vorfahren, um ihnen Victoire von Carayon als seine Braut vorzustellen. Und er hörte deutlich, wie die alte Prinzeß Ferdinand ihrer Tochter, der schönen Radziwill, zuflüsterte: ›Est elle riche?‹ ›Sans doute.‹ ›Ah, je comprends‹« (HFA I/1, S. 646–647). Aber nicht nur: Wenn sich die private Wahrnehmung von Schachs männlichem Pantheon in der Familiengalerie in Wuthenow während der Bewunderung von Familienporträts – Angehörigen der Armee und schönen Frauen – symbolisch und wörtlich gestaltet, kann er den Gedanken nicht ertragen, sich mit Victoire porträtiert zu sehen. Er ist entsetzt und beschämt. Dennoch wird seine »narzisstische Persönlichkeitsstruktur«27 zum Mechanismus von Verteidigung. Er ist unfähig, die anderen zu lieben, da er grundsätzlich – ähnlich wie Innstetten – nur sich selbst und sein makelloses Offiziersbild des Gensdarmes-Regiments liebt:28 »[E]r wehrt sich gegen die imaginierte Männlichkeit, die ihn als Teil

26 Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, »Le laid c’est le beau«. Liebesdiskurs und Geschlechterrolle in Fontanes Roman ›Schach von Wuthenow‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 243–267, hier S. 262. 27 Petra Kuhnau, Symbolik der Hysterie. Zur Darstellung nervöser Männer und Frauen bei Fontane. In: Sabine Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Göttingen 2005, S. 17–61, hier S. 23. 28 Mugnolo, Introduzione, S. 10.



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der militärischen geprägten Genealogie seiner Väter zur Karriere verpflichtet, ebenso wie gegen die damit verknüpfte Rolle als Ehemann«.29 Die unschuldige Victoire ist sich der ästhetischen Bewertung ihres Aussehens durch ihren zukünftigen Ehemann bewusst. Bereits in einem am 3. Mai 1806 geschriebenen Brief aus Berlin, in dem sie über einen Spaziergang durch Tempelhof mit dem Offizier, der Mutter und der Tante berichtete, konnte sie vor ihrer Freundin Lisette nicht verbergen, wie schmerzhaft es war, gerade wegen ihres Aussehens durch ihre Mutter ersetzt zu werden: »In seiner Eitelkeit, von der ich ihn nicht freisprechen kann, ist es ihm unmöglich, sich über das Gerede der Leute hinwegzusetzen, und ein spöttisches Lächeln verstimmt ihn auf eine Woche. So selbstbewußt er ist, so schwach und abhängig ist er in diesem einen Punkte« (HFA I/1, S. 592). Und die Ängste von Schach, der sich jetzt in seinem narzisstischen, unsicheren und feigen Wesen zeigt, materialisieren sich in den Karikaturen, die er erhalten hat, nachdem er die von Josephine festgelegten Verlobungs- und Hochzeitspläne mit Victoire anscheinend freudig akzeptiert hatte. Die bereits in ganz Berlin verbreiteten Karikaturen sind zwar kurzlebig, doch sie nehmen Schachs Entscheidung – le choix du Schach –, Victoire zur Frau zu nehmen, vorweg.30 Dennoch glaubt Victoire nicht an die Erklärung, nach der Schach wegen der Unansehnlichkeit seiner Frau Selbstmord begangen habe. Die junge Frau kennt auch die innere Welt von Schach, d. h. eines Mannes, der sich letztendlich als streng und in ständigem Konflikt mit sich selbst erwies. Victoire erklärt dazu: Er wußte sehr wohl, daß aller Spott der Welt schließlich erlahmt und erlischt, und war im übrigen auch Manns genug, diesen Spott zu bekämpfen, im Fall er nicht erlahmen und nicht erlöschen wollte. Nein, er fürchtete sich nicht vor diesem Kampf, oder wenigstens nicht so, wie vermutet wird; aber eine kluge Stimme, die die Stimme seiner eigensten und innersten Natur war, rief ihm beständig zu, daß er diesen Kampf umsonst kämpfen, und daß er, wenn auch siegreich gegen die Welt, nicht siegreich gegen sich selber sein würde. (HFA I/1, S. 681).

Diese Erklärung dringt nicht nur in die intimste Welt von Schach vor, sondern bringt auch die Verantwortung und die Schuld für seine Handlungen – von 29 Kuhnau, Symbolik der Hysterie. Zur Darstellung nervöser Männer und Frauen bei Fontane, S. 23. 30 »Unter einem Thronhimmel saß der persische Schach, erkennbar an seiner hohen Lammfellmütze, während an der untersten Thronstufe zwei weibliche Gestalten standen und des Augenblicks harrten, wo der von seiner Höhe her kalt und vornehm Dreinschauende seine Wahl zwischen ihnen getroffen haben würde. Der persische Schach aber war einfach unser Schach, und zwar in allerfrappantester Porträtähnlichkeit, während die beiden ihn fragend anblickenden und um vieles flüchtiger skizzierten Frauenköpfe wenigstens ähnlich genug waren, um Frau von Carayon und Victoire mit aller Leichtigkeit erkennen zu lassen.« (HFA, I/1, S. 637).

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der Verführung der jungen Frau bis zu seinem Selbstmord – in Zusammenhang mit einem Mann, der mit sich selbst kämpft. Zunächst hat er Angst, sich einer der dringendsten und erstickendsten sozialen Belastungen, d. h. der Ehe, unterwerfen zu müssen: »Ein Kardinal […] läßt sich eben nicht als Ehemann denken. Und Schach auch nicht« (HFA I/1, S. 682). Victoires Worte scheinen also auch mit jenen Gedanken übereinzustimmen, mit denen sich Schach selbst auseinandersetzen musste, als er sich in einem Zustand tiefer Krise sein Eheleben und sich selbst nicht mehr als illustres Mitglied der preußischen Armee, sondern als einfachen Landadligen vorstellte: Ich sehe genau, wie’s kommt: ich quittiere den Dienst, übernehme wieder Wuthenow, ackre, melioriere, ziehe Raps oder Rübsen, und befleißige mich einer allerehelichsten Treue. Welch Leben, welche Zukunft! An einem Sonntage Predigt, am andern Evangelium oder Epistel, und dazwischen Whist en trois, immer mit demselben Pastor. Und dann kommt einmal ein Prinz in die nächste Stadt, vielleicht Prinz Louis in Person, und wechselt die Pferde, während ich erschienen bin, um am Tor oder am Gasthof ihm aufzuwarten. Und er mustert mich und meinen altmodischen Rock und frägt mich: »Wie mir’s gehe?« Und dabei drückt jede seiner Mienen aus: »O Gott, was doch drei Jahr aus einem Menschen machen können«. Drei Jahr ... Und vielleicht werden es dreißig. (HFA I/1, S. 635).

Infolgedessen sollte man aus der Tatsache, dass Schach im Alter von zirka 40 Jahren noch ledig ist, darauf schließen, dass Victoires ästhetisches Erscheinungsbild zu einer persönlichen Abneigung Schachs gegen den Bund der Ehe hinzukommt. Auch in Bezug darauf will er, ein vorbildlicher preußischer Mann, Vertreter der großen preußischen Armee, perfekt dem Standard des Männerbundes par excellence, d. h. der Armee, entsprechen, indem er unverheiratet bleibt und so die Idee eines männlichen (und frauenfeindlichen) Staates als perfekte Machtform fördert. Wie Nicolaus Sombart in Bezug auf den Männerbund erklärt: In seinen Lebensformen ist der »Männerbund« karg, asketisch, zölibatär; er definiert seine Einstellung dem Leben gegenüber in radikaler Abgrenzung gegen alles Weiche, Liebliche, Anmutige Weibliche; er grenzt sich ab gegen alles, was mit dem Weibe zu tun hat: seinen Gefahren, seinen Schrecken und seine Verlockungen. Die Welt des Weibes ist materialistisch, sinnlich, hedonistisch, eudämonisch – die Welt des Mannes, für die der »Männerbund« steht, ist geistig, heroisch, dämonisch.31

Und laut Hinrich Lühmann kann die Figur Schachs ähnlich als selbstdefinierend ausschließlich innerhalb der Gruppe der Gensdarmes – »Die Institution der ritterlichen Männergesellschaft der Gensdarmes ist Schachs Weg, der Kas31 Nicolaus Sombart, Männerbund und Politische Kultur in Deutschland. In: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte –Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Modeme, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 136–155, hier S. 141.



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tration zu entkommen, sie auf Distanz zu halten«32 – mit der daraus folgenden latenten Asexualität und Misogynie verstanden werden. Wie sein Antagonist Bülow klar erkennt, stellt Schach »die Verkörperung jener preußischen Beschränktheit« (HFA I/1, S.  572) dar und, wie Victoire schließlich versteht, »gehörte [er] durchaus, und mehr als irgendwer, den ich kennengelernt habe, zu den Männern, die nicht für die Ehe geschaffen sind« (HFA I/1, S. 682). Als »Halbgott eines prinzlichen Hofes« (ebd.) und obwohl er »weder ein Mann von hervorragender geistiger Bedeutung noch von superiorem Charakter«33 (ebd.) war, war er doch ›natürlich‹ zu »äußerliche[n] Dinge[n]« (ebd.), bspw. Anständigkeit, Gemessenheit und Würde, geneigt und dafür hätte er Victoires Unschönheit, aber nicht das ihm bevorstehende Leben akzeptiert: An dieser Laufbahn als ein prinzlicher Liebling und Plenipotentiaire hätt’ ich ihn verhindert, ja, hätt’ ihn, bei meinen anspruchslosen Gewohnheiten, aus all und jeder Karriere herausgerissen und ihn nach Wuthenow hingezwungen, um mit mir ein Spargelbeet anzulegen oder der Kluckhenne die Küchelchen wegzunehmen. Davor erschrak er. Er sah ein kleines und beschränktes Leben vor sich und war, ich will nicht sagen auf ein großes gestellt, aber doch auf ein solches, das ihm als groß erschien (HFA I/1, S. 682–683).

Victoire scheint durch die Schlussbemerkungen passiv und indirekt einen Teil der Schuld übernehmen zu wollen, indem sie »das Opfer meines Dankes«34 (HFA I/1, S. 684) in einem katholischen Rom lebt. Die Toxizität von Schachs Männlichkeit greift auch auf sie über, die sich aufgrund ihres ästhetischen Zustands dazu zwingt, nachzugeben und zu vergeben, um ihre einzige ›Schuld‹, ihre Unschönheit, abzubüßen.

III. Weitere Bemerkungen In Bezug auf die hier gewählte Methodologie und um die hier vorgeschlagene These zu untermauern, wird nachfolgend noch von ein paar weiteren hermeneutischen Versuchen berichtet. Für den angegebenen Zweck ist sicherlich die Deutung von Petra Kuhnau eine der interessantesten Interpretationen, um auf die Beweglichkeit und die 32 Hinrich Lühmann, Tempelhof, das dunkle Ziel. Zu Fontanes ›Schach von Wuthenow‹. In: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, Freud, Lacan 17/55 (2002), S. 39–64, hier o. S. 33 Ein Jahr zuvor schrieb sie an Lisette: »Ich hasse das Wort ›ritterlich‹ und habe doch kein anderes für ihn. Eines ist er vielleicht noch mehr, diskret, imponierend, oder doch voll natürlichen Ansehns […]. Er hat aber doch die beste Gescheitheit, die mittlere, dazu die des redlichen Mannes« (HFA I/1, S. 592). 34 Auf diese Weise beendet Fontane seinen Kurzroman.

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Fluidität des Geschlechterkodexes bei Fontane hinzuweisen. Sie bietet eine weitere Beobachtungsperspektive von Schachs Verhalten und der Toxizität seiner Männlichkeit als soziales Konstrukt an. Kuhnau befasst sich mit nervösen Männern, männlicher Neurasthenie, weiblicher Hysterie und deren gegenseitigen Überlappungen. Die Neurasthenie betrifft besonders Fontanes Männer, die zu den höchsten Schichten der Gesellschaft gehören. Tatsächlich streben sie, deren Existenz auf dem Trinom Kultur/Rationalität/Gesellschaft35 basiert, zunächst nach öffentlicher Akzeptanz und dann nach privater Anerkennung. Falls das erste Streben (d. h. die öffentliche Akzeptanz) nicht erfüllt wird, wird der Riss zwischen aktiver und passiver Hegemonie immer größer, bis er zu einem echten Bruch wird, der zu der sogenannten Neurasthenie führt. Trotzdem »[finden sich Fontanes Männerfiguren a]uf dem Weg der Entwicklung von der weiblichen Hysterie über die allgemeine Nervenschwäche zur männlichen Neurasthenie bevorzugt im Bereich der Hysterie wieder«.36 Schachs Selbstmord scheint also ein Paroxysmus neurasthenischer sowie hysterischer Natur zu sein, d.  h. die letzte Handlung eines Prozesses, der in einem selbstmörderischen Ausbruch gipfelt. Dieser Paroxysmus ist jedoch nicht auf Schach beschränkt, sondern erstreckt sich auf die umgebende Gesellschaft – und umgekehrt –, um schließlich durch die von Theodor Fontane implementierte chronologische Auswahl zu einer letztmöglichen Lesart sowohl des Protagonisten als auch der Ereignisse zu gelangen, der den ›Schach-Fall‹ in den ›Preußen-Fall‹ verwandelt.37 Tatsächlich entspricht die Sommersaison 1806 – und nicht das Jahr 1882, als der Roman in der Vossischen Zeitung erscheint – dem Handlungshintergrund. Die in diesem Jahr getroffene Wahl, die für das alte Preußen eher unglücklich war, will nicht nur eine Parallele zu den Ereignissen der 1880er Jahre herstellen, sondern bietet auch einen historischen Referenz- und Deutungskontext voller Ereignisse, die – durch eine Parallelität zu den Ereignissen um Schach – an die Moderne grenzen. Wie Bülow erklärt: »[W]ie die kleinen Dinge sich finden und im Zusammenhange stehen, so die großen noch viel mehr« (HFA I/1, S. 565). Die ganze Theatralik der Zeit und ihrer Protagonisten ist nämlich dazu bestimmt, kurz danach genau in ihrer Relationalität entlarvt 35 Petra Kuhnau, Nervöse Männer – Moderne Helden? Zur Symptomatik des Geschlechterwandels bei Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 2: Sprache; Ich; Roman; Frau. In Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 135–145, hier S. 137. 36 Ebd., S. 137–138. 37 Gerhard Kaiser, ›Schach von Wuthenow‹ oder die Weihe der Kraft. Variationen über ein Thema von Walter Müller-Seidel, zu seinem 60. Geburtstag. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 474–495, hier S. 492.



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zu werden. Und eben diese Demaskierungs‑/Entlarvungstechnik, die etwas an Georg Büchners modus operandi erinnert, verwendet Fontane in der von einem realen Ereignis inspirierten Geschichte von Schach und Victoire:38 »Das Spiel zwischen Zwang und Freiheit, zwischen Ritualität und Spontaneität, zwischen Konvention und Utopie […] läßt sich an der ›Liebesgeschichte‹ zwischen Schach und Victoire Schritt um Schritt verdeutlichen«.39 Wenn man also die Ereignisse wieder liest, an denen der Offizier beteiligt war, kann man die Wahl der letzten Geste oder vielmehr Schachs endgültige Erkenntnis endlich verstehen: Er konnte sein eigenes Geschlecht in einer kanonischen Weise aufgrund der Ehe mit Victoire nicht mehr performieren. In seiner ständigen selbstverletzenden Haltung entspricht die einzige Lösung daher der Verhängung einer Strafe, des Selbstmords, da »performing one’s gender wrong initiates a set of punishments both obvious and indirect, and performing it well provides the reassurance that there is an essentialism of gender identity after all«.40 Das gleiche Schicksal wird ganz Preußen und vor allem die Armee erfahren, weil der Staat Friedrichs des Großen nicht ein Land mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Lande ist. Unser Land ist nur Standquartier und Verpflegungsmagazin. In sich selber entbehrt es aller großen Ressourcen. Siegen wir, so geht es; aber Kriege führen dürfen nur solche Länder, die Niederlagen ertragen können. Das können wir nicht. Ist die Armee hin, so ist alles hin (HFA I/1, S. 596).

Tatsächlich wird das Regiment Gensdarmes aufgrund der durch die napoleonische Armee erlittenen schweren Niederlagen zwischen Oktober und November 1806 aufgelöst (ebenso wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation). Nach den Schlachten bei Jena und Auerstedt, die beide am 14. Oktober 1806 ausgetragen wurden, und der weiteren Demütigung der preußischen Armee marschierte die napoleonische Armee schließlich in Berlin ein, und Preußen war gezwungen, einen Teil seiner Gebiete aufzugeben und die französische Herrschaft zu tolerieren. Um diese Präzision in den Bezügen zwischen 38 Lühmann erklärt: »Auch geht die Handlung des Romans auf ein tatsächliches Geschehen zurück, einen Skandal, den Fontane allerdings um 10 Jahre zurückverlegt hat. Vorbild Victoires ist eine Victoire von Crayen, Vorbild Schachs ist Major Otto Friedrich Ludwig von Schack vom Regiment Gensdarmes, der zum Kreis des Prinzen Louis Ferdinand gehörte. Major Schack hatte aus finanziellen Gründen um die Hand Victoire von Crayens angehalten, sich dann aber erschossen, weil er den Spott seiner Kameraden fürchtete« (Lühmann, Tempelhof, das dunkle Ziel. Zu Fontanes ›Schach von Wuthenow‹, o. S.). 39 Brandstetter und Neumann, »Le laid c’est le beau«. Liebesdiskurs und Geschlechterrolle in Fontanes Roman ›Schach von Wuthenow‹, S. 255. 40 Butler, Performative Acts and Gender Constitution, S. 529.

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Zufällen und historischen Ereignissen zu bestätigen, wird auch Prinz Louis am 10. Oktober 1806 während des Gefechts bei Saalfeld gegen die napoleonische Armee sterben. Wie Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann zusammenfassen, handelt es sich schließlich auch um einen historischen Roman, der von dem »historischen Moment zwischen der russisch-österreichischen Niederlage gegen Napoleon bei Austerlitz, der Haugwitzschen Friedensmission, die zu einer vorübergehenden und umstrittenen Allianz Preußens mit Frankreich führt, und der Niederlage der alten ›fridericianischen‹ Armee im Herbst 1806 bei Jena und Auerstedt«41 erzählt. Wie für Schach, ist auch für Preußen der Ruf wichtiger. Aus diesem Grund wird der vom preußischen Diplomaten Christian von Haugwitz gewünschte Versuch eines Friedensschlusses mit Frankreich vom Regiment Gensdarmes und von Schach boykottiert, der diese Aktion tout court für symptomatisch für eine größere latente Schwäche Preußens hält. Aufgrund der Parallele zwischen res publica und privata ist auch der Ehrenkodex, dessen Sprachrohr Schach ist, nicht mehr als ein Rest des Feudalsystems, von dem Deutschland 1806 noch völlig geprägt ist. In illusorischer Weise glaubt man 1882 in Deutschland jedoch, es beseitigt zu haben, aber man erkennt immer noch nicht die Ursprünge der jungen deutschen Nation in derselben Form des aristokratisch-feudalen Denkens. Der immer gewissenhafte Bülow, der Haugwitz’ diplomatische Bemühungen unterstützt, sagt die Zukunft vorher, beobachtet die Gegenwart und kritisiert die Vergangenheit seiner Nation: Dies Geschick heißt Einverleibung in das Universelle. Der nationale wie der konfessionelle Standpunkt sind hinschwindende Dinge, vor allem aber ist es der preußische Standpunkt und sein alter ego, der lutherische. Beide sind künstliche Größen. Ich frage, was bedeuten sie? Welche Missionen erfüllen sie? Sie ziehen Wechsel aufeinander, sie sind sich gegenseitig Zweck und Aufgabe, das ist alles. Und das soll eine Weltrolle sein? Was hat Preußen der Welt geleistet? Was find ich, wenn ich nachrechne? (HFA I/1, S. 564–565).

Symptomatisch ist daher die Weise, in der Fontane das rationale Verfahren darstellt, durch das Schach die unaufhaltsame Entscheidung trifft, Selbstmord zu begehen. Die endgültige Verkörperung falscher Ehre und falscher Männlichkeit verwirklicht sich genau als Schach sich mit König Friedrich Wilhelm III. trifft, d.  h. der höchsten männlich-hegemonialen Repräsentation. Während des Gesprächs erklärt der König sofort deutlich: »Was mich angeht, das ist die honnêteté. Die verlang ich, und um dieser honnêteté willen verlang ich Ihre Heirat mit dem Fräulein von Carayon. Oder Sie müßten denn Ihren Abschied nehmen und den Dienst quittieren wollen« (HFA I/1, S. 665). 41 Brandstetter und Neumann, »Le laid c’est le beau«. Liebesdiskurs und Geschlechterrolle in Fontanes Roman ›Schach von Wuthenow‹, S. 249.



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Obwohl er sich dessen bewusst ist, kann Schach die Bedingungen des Königs nicht akzeptieren: »[K]eine der beiden anklingenden Möglichkeiten – Heirat mit Victoire oder unehrenhaftes Ausscheiden aus dem Offiziersstand – ist mit der Subjektivierungslogik der Hauptfigur vereinbar, weil beide Lösungen dem Grundprinzip der Haltungswahrung widersprechen«.42 Schließlich wird er sich bewusst, dass er nicht länger das Sprachrohr des preußischen hegemonialen Männerideals sein kann, bis er schließlich die Symptome der Schwere einer immer noch unheilbaren Krankheit, der toxischen Männlichkeit, zum Ausdruck bringt: »›Was ist leben? Eine Frage von Minuten, eine Differenz von heut auf morgen.‹ Und er fühlte sich, nach Tagen schweren Druckes, zum ersten Male wieder leicht und frei« (HFA I/1, S. 668).

42 Vorjans, Von der Torheit wählerisch zu sterben. Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900, S. 85.

V  Interlinguale und intermediale Grenzüberschreitungen

Versuchte Grenzüberschreitungen

Soziale Schranken im Fontane-Roman »Frau Jenny Treibel« als Übersetzungsproblem Heinz-Helmut Lüger Die Gestaltung sozialer Beziehungen spielt in verschiedenen Romanen Fontanes eine wichtige Rolle. Das verbale Aushandeln von Status und Position, der Ausdruck von Bewertungen, Emotionen und vor allem von Wertschätzung verdient daher eine nähere Betrachtung. Dies soll am Beispiel des Milieu-Romans Frau Jenny Treibel (1892) geschehen, wobei ausgewählte Personen-Konstellationen im Vordergrund stehen. Ausgangspunkt wird die Frage sein, wie die jeweiligen Protagonisten ihre soziale Herkunft sprachlich markieren, auf welche Weise sie Abgrenzungen vornehmen und diese interaktiv durchzusetzen versuchen, mit welchen Mitteln die Grenzen von Gruppen- oder Schichtzugehörigkeit überwunden werden sollen, welche Erfolge sich dabei erzielen oder nicht erzielen lassen. Eine zusätzliche Fragestellung ergibt sich insofern, als die genannten Aspekte, die betreffenden sprachlichen Aktivitäten, auch im Spiegel der Übersetzung untersucht werden sollen, und zwar anhand einer französischen, englischen und italienischen Textversion. Bekanntlich sind äquivalente Wiedergaben oft nicht möglich, und das umso weniger, je dichter, je anspielungsreicher ein Text formuliert ist.

I. Grenzen als Orientierung und Herausforderung Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geht in den Romanen Fontanes meist einher mit speziellen Erwartungen, die sich nicht zuletzt auch im sprachlichen Verhalten niederschlagen. Anders ausgedrückt: Den Handlungsmöglichkeiten sind insofern gewisse Grenzen gesetzt, und diese Grenzen können von den Romanfiguren akzeptiert werden und in Form entsprechender Rede- oder Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen; von Fall zu Fall finden sich aber auch Szenarien, in denen solche Grenzen überwunden oder übertreten werden. https://doi.org/10.1515/9783110735710-028

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Ein markantes Beispiel für die Einhaltung etablierter Grenzen sind des Öfteren die Dienerfiguren: Sie zeichnen sich nicht selten durch eine dialektale oder umgangssprachliche Ausdrucksweise aus, in der Anrede von Höherrangigen wird den konventionellen Höflichkeitsregeln entsprochen, und vor allem gibt es kein Zitierverhalten, mit dem auf literarische Ausdrücke, z. B. geflügelte Worte, Bezug genommen wird.1 Dies braucht, wie etwa in Frau Jenny Treibel die kritischen Äußerungen der Schmolke zeigen, keineswegs mit einem eingeschränkten Reflexionsvermögen einherzugehen. Im Unterschied dazu gibt es eine Reihe von Romanfiguren, für die die Überwindung gegebener Grenzen im Vordergrund steht. Geradezu exemplarisch wird dies vorgeführt mit den Aufstiegsbemühungen des Kommmerzienrats Treibel: Trotz einer erfolgreichen Unternehmerkarriere in den Gründerjahren nach dem DeutschFranzösischen Krieg konzentrieren sich seine Bemühungen darauf, durch politisches Engagement mehr soziale Anerkennung und vor allem einen Zugang zu den »höheren Kreisen« zu erreichen (vgl. Kap. III). Natürlich können solche Versuche der Grenzüberwindung auch kläglich scheitern, wie etwa im Stechlin anhand des Mühlenbesitzers Gundermann demonstriert; sein Streben nach gesellschaftlicher Aufwertung mündet in eine komplette Selbstdemontage, seinen Gesprächspartnern gilt er schließlich nur als ungebildeter »Klutentreter«, als jemand, dessen Ausdrucksvermögen über »abgedudelte Phrasen« nicht hinausreicht. Das Bemühen um Überwindung von Grenzen sorgt für neue Abgrenzungen.2 Als dritten Reaktionstyp kann man das Übertreten von Grenzen festhalten. Darunter seien Fälle verstanden, in denen das absichtsvolle Verhalten einer Person von den Handlungsbeteiligten oder aus der Sicht des Lesers als unangemessen, als unpassend eingestuft wird. In diesem Sinne dürfte die Aufstiegsbesessenheit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Jenny Treibel durchweg als übersteigert, allüren- und karikaturenhaft zu betrachten sein (vgl. Kap. IV). Ähnliche Beispiele liefern auch Figuren aus anderen Schichten, etwa das skurrile Künstler-Milieu im Stechlin, wo mit wechselseitigen Vorwürfen und Beleidigungen elementare Konversations- und Höflichkeitsnormen verletzt werden.3 1

2 3

Vgl. hierzu am Beispiel des Stechlin auch Claudia Buffagni, Weibliche und männliche Dienerfiguren im ›Stechlin‹: Soziale Identitäten in der Kommunikation. In: Hubert Fischer und Domenico Mugnolo (Hrsg.), Fontane und Italien, Würzburg 2011, S. 23– 47. Ausführlich Hans-Martin Gauger, Sprachbewußtsein im ›Stechlin‹. In: Günter Schnitzler (Hrsg.), Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann, München 1980, S. 311–323. Zu solchen Grenzübertretungen vgl. u. a.: Peter Demetz, Der Roman der guten Gesellschaft. In: Wolfgang Preisendanz (Hrsg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1985, S. 233– 264; Peter Wruck, Frau Jenny Treibel. »Drum prüfe, wer sich ewig bindet«. In: Christian



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Sprachlich kann die Markierung der genannten Grenzen wie auch deren Überschreitung sehr vielfältige Formen annehmen. Und bekanntlich weisen besonders die Romane Fontanes, wenn es um die Ausgestaltung sozialer Zuordnungen oder Abgrenzungen geht, ein breites Repertoire differenzierter Register auf. Hier könnte man zudem die Frage anschließen, in welcher Weise und mit welcher Präzision die vorliegenden Fontane-Übersetzungen entsprechende Grenzziehungen aufgreifen und mit welchen sprachlichen Mitteln das geschieht. Dem soll in den folgenden Abschnitten anhand ausgewählter Beispiele aus Frau Jenny Treibel weiter nachgegangen werden.

II. Übersetzungsproblematik Verbale Äußerungen zeichnen sich generell durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Polyfunktionalität aus. Damit sei nicht auf das Phänomen der traditionellen Polysemie verwiesen, gemeint ist vielmehr der prinzipielle Deutungsspielraum, wie er Sprachlichem zugeschrieben werden kann. Auch bei einfachen Aussagen erschöpft sich das Bedeutungspotential in der Regel nicht in einer einzigen sprachlichen Handlung. Fast immer sind auch Aspekte der Selbstdarstellung (z.  B. Herkunft, Befindlichkeit des Sprechers), der Beziehungsgestaltung (z.  B. Signalisierung von Dominanz) oder der Ablaufregulierung bzw. der Textorganisation (z. B. Eröffnung, Fortsetzung, Beendigung einer Sequenz) mit im Spiel. Zu unterscheiden ist in dem Zusammenhang, was in der Kommunikation jeweils als Haupthandlung und was als Zusatzhandlung zu verstehen ist.4 Zur Veranschaulichung der Zuschreibbarkeit verschiedener Handlungsmuster sei der folgende Textausschnitt herangezogen: (1) […] Die Gewißheit, sich verstanden zu sehen – es war doch eigentlich das Höhere. [Jenny Treibel:] »Viele beneiden mich, aber was hab ich am Ende? […] Und dabei Kommerzienrätin und immer wieder Kommerzienrätin. Es geht nun schon in das zehnte Jahr, und er rückt nicht höher hinauf, trotz aller Anstrengungen. […]«.

Grawe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 185–216; HeinzHelmut Lüger, Phraseologie, Intertextualität und Fremdverstehen. In: Ernest W.  B. Hess-Lüttich, Christoph Siegrist et al. (Hrsg.), Fremdverstehen in Sprache, Literatur und Medien, Frankfurt am Main 1996, S. 57–76; ders., Ut vir, sic oratio – Wiederholte Rede und »Geistreichigkeitssprache« bei Fontane. In: Stephan Merten und Inge Pohl (Hrsg.), Texte – Spielräume interpretativer Näherung. Festschrift für Gerhard Fieguth, Landau 2005, S. 377–393. 4 Exemplarisch anhand der Höflichkeitskommunikation bei Fontane: Heinz-Helmut Lüger, Verbale Höflichkeit in der Übersetzung. Literarische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. In: Claus Ehrhardt und Eva Neuland (Hrsg.), Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven, Tübingen 2017, S. 39–54.

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Jenny, während sie sich in süße Selbsttäuschungen wie diese versenkte, trat ans Fenster und sah abwechselnd auf den Vorgarten und die Straße. […] (JT XII, S. 408f.).5

Im Zentrum des zitierten Ausschnitts steht die Klage Jenny Treibels über den bislang ausgebliebenen sozialen Aufstieg; die kritische Äußerung über den mangelnden Erfolg ihres Mannes kann man dem Handlungsmuster ›Negativbewertung‹ zuordnen (Abb. 1). Darüber hinaus wird mit der Äußerung eine bestimmte emotionale Beteiligung verdeutlicht, die Sprecherin bringt ihren Ärger zum Ausdruck, wobei die pronominale Bezugnahme (»er rückt nicht höher hinauf«) distanzierend und zusätzlich verstärkend wirken dürfte. Damit ist ebenfalls die Ebene der Beziehungsgestaltung betroffen, der Vorwurf signalisiert ein klares Dominanzbestreben.

Abb. 1: Polyfunktionalität und Mehrebenenmodell

Berücksichtigt man die in (1) wiedergegebene nähere Textumgebung, ist weiterhin festzuhalten: Jenny Treibel zeigt mit ihrer Äußerung, wie ernst es ihr 5

Zitiert wird nach der AFA, Bd. 6, 1973; in Klammern sind jeweils Kapitel und Seiten angegeben.



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mit der Kritik an dem für sie deprimierenden Stillstand ist (= Ebene der Kommunikationsmodalität), und begnügt sich insofern nicht mit einer einzelnen Aussage, sondern leitet eine ganze Vorwurfssequenz ein (= Ebene der Ablaufregulierung). Nimmt man den rahmenden Erzählerkommentar hinzu, wird deutlich, wie wichtig hier die Orientierung an der vertikalen Schichtung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Aufstiegsmetaphorik ist.6 Nicht ohne Zufall findet sich in dem Zusammenhang eine Ausdrucks-Abfolge wie: »eigentlich das Höhere → er rückt nicht höher hinauf → sich in süße Selbsttäuschungen ... versenkte«. Der Blick des Lesers wird so auf diese Textstelle gelenkt, die Rekurrenz des Vertikalitäts-Merkmals bildet eine isotopische Relation, sie fungiert als ein Verfahren der Hervorhebung, der Aufmerksamkeitssteuerung (Abb. 1). Neben der Figuren-Kommunikation ist bekanntlich noch eine weitere Ebene von Bedeutung, die der Text-Leser-Kommunikation. Gerade in Bezug auf Jenny Treibel gibt der Autor bereits zahlreiche Rezeptionshinweise, und die Art der Personencharakterisierung mag für den Leser als amüsant, ergreifend, als überzogen oder auch karikaturenhaft erscheinen – je nach Voraussetzungen aufseiten der Leser, je nach Gruppenzugehörigkeit, je nach dem zeitlichen Kontext ist mit einem unterschiedlichen Textverstehen zu rechnen. Solche Reaktionen sind bei mehrfachadressierten Texten, zu denen literarische Beiträge prinzipiell gehören, jedoch der Normalfall. Aufgrund der skizzierten Polyfunktionalität sind Eins-zu-eins-Entsprechungen in der Übersetzung nur schwer möglich. Schwierigkeiten ergeben sich besonders dann, wenn in den betreffenden Texten Bildhaftigkeit oder Idiomatik vorliegen, wenn es kulturspezifische Normen für Routinesituationen und die Beziehungsgestaltung gibt oder wenn mit Hilfe sprachlicher Varietäten bestimmte Grenzen, Zugehörigkeiten oder Unterschiede markiert werden sollen.7 Spezielle Probleme können sich auch aus der Rekurrenz lexikalischer Einheiten oder semantischer Merkmale über den Satzrahmen hinaus ergeben. Erste Anhaltspunkte liefert bereits der Ausschnitt (1); zur Veranschaulichung 6

Vgl. bereits Harald Burger, Annelies Buhofer et al., Handbuch der Phraseologie, Berlin/ New York 1982, S. 138–140. 7 Aus dem Spektrum einschlägiger Arbeiten seien genannt: Werner Koller, Intra- und interlinguale Aspekte idiomatischer Redensarten. In: Skandinavistik 4 (1974), S. 1–24; René Métrich, Wie übersetzt man eigentlich Partikeln? In: Wolfgang Börner und Klaus Vogel (Hrsg.), Kontrast und Äquivalenz, Tübingen 1998, S. 194–207; Caroline Pernot, Le défigement de phrasèmes pragmatiques et sa traduction. In: Pratiques 159/160 (2013), S.  179–188; Françoise Hammer und Heinz-Helmut Lüger, Différences de culture et traduction: l’intraduisibilité culturelle. In: Jörn Albrecht und René Métrich (Hrsg.), Manuel de traductologie, Berlin/Boston 2016, S. 617–637.

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seien drei Übersetzungen, eine französische, eine englische und eine italienische, herangezogen: (1a) […] était pour elle la chose la plus importante. « […] Et pour le reste, madame la Conseillère par-ci, madame la Conseillère par-là. […] et il ne va pas plus loin, malgré tous ses efforts. […] » Tout en se plongeant dans ces douces illusions sur elle-même […]. (1981, S. 518). (1b) […] that was really the higher thing. “[…] And then Kommerzienrätin and forever Kommerzienrätin. […] and we don’t seem to get any higher up, despite all the effort. […]” While immersing herself in sweet self-deceptions […]. (1982, S 257f.). (1c) […] era questa effettivamente la cosa più elevata. «[…] E intanto, consigliera commerciale di qua e consigliera commerciale di là. […] e lui non sale più in alto, malgrado tutti gli sforzi. […]» Jenny, mentre si sprofondava in queste dolci illusioni personali […]. (1987, S. 140f.).8

Ins Auge fällt sogleich die unterschiedliche Wiedergabe der semantischen IsotopieRelation (vgl. die durch Fettdruck markierten Ausdrücke): In (1a) wird auf die Merkmal-Rekurrenz des Ausgangstextes vollständig verzichtet; die Abfolge »la chose la plus importante → il ne va pas plus loin → en se plongeant« kann somit weder den für Jenny Treibel so wichtigen Aufstiegsgedanken vermitteln noch den ursprünglichen Hervorhebungseffekt bezüglich dieser Passage erreichen. Auch das zentrale Handlungsmuster, die Negativbewertung, fällt weniger intensiv aus, ebenso die Emotionskundgabe. Außerdem ist der Wirklichkeitsbezug von »madame la Conseillère« (für »Kommerzienrätin«) fraglich, da im Französischen ein solcher Titel zu keiner Zeit gebräuchlich war. Einen anderen Weg wählt der englische Übersetzer: Das Vertikalitäts-Merkmal findet sich in allen drei Ausdrücken wieder, wodurch ebenfalls die Zusatzhandlungen der ausgangssprachlichen Version sehr nahekommen; die Klage der Jenny Treibel verliert so nichts von ihrer Heftigkeit bzw. – aus der Leserperspektive – von ihrer Peinlichkeit. Die zentrale Bewertung der Sprecherin wird hier sogar mit einem persönlichen Bezug formuliert (»we don’t seem«). Den deutschen Titel behält die Übersetzung in (1b) bei; das ist insofern konsequent, als es bei kulturspezifischen Realien in der Regel schwerfällt, zielsprachliche Entsprechungen zu finden.9 Die italienische Fassung in (1c) nimmt gleichsam eine Mittelstel-

lung ein: Die kohärenzbildende Rekurrenz wird umgesetzt und damit auch

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Meine Hervorhebungen, wie auch in den folgenden Beispielen. Es liegen folgende Übersetzungen zugrunde: (a) Frau Jenny Treibel ou Quand un cœur d’un cœur trouve la voie... Übersetzt von Michel-François Demet. In: Ders. (Hrsg.), Theodor Fontane. Romans, Paris 1981, S.  403–559; (b) Jenny Treibel. Übersetzt von Ulf Zimmermann. In: Peter Demetz (Hrsg.), Theodor Fontane. Short Novels and Other Writings, New York 1982, S. 135–301; (c) Jenny Treibel. Übersetzt von Maria Teresa Mandalari, Genova 1987. 9 Vgl. Erzsébet Drahota-Szabó, Realien – Intertextualität – Übersetzung, Landau 2013, S. 24.



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die Hervorhebung des gesamten Äußerungskomplexes. Die Problematik der Übersetzung nicht übertragbarer Titel wurde bereits erwähnt. Aus der kurzen Betrachtung der Übersetzungsbeispiele geht bereits hervor, wie leicht satzübergreifende Phänomene auf der Strecke bleiben können und wie schwierig es ist, neben der zielsprachigen Wiedergabe einer zentralen Handlung auch die verschiedenartigen Zusatzhandlungen angemessen zu verstehen zu geben. Diese Aspekte sollen in den folgenden Ausführungen weiter vertieft werden. Anhand ausgewählter Textauszüge und ihrer Übersetzungen geht es vor allem darum zu verdeutlichen, wie bei Fontane und in den betreffenden Übersetzungen soziale Abgrenzungen einerseits und Grenzüberschreitungsversuche andererseits sprachlich dargestellt werden und inwieweit bisweilen das Bemühen um eine kommunikativ gleichwertige Wiedergabe in der Zielsprache an Grenzen stößt.

III. »Ausbau des Kommerzienrätlichen« Wenn es um Aufstiegsbemühungen geht, stehen zwei Figuren im Vordergrund: der Kommerzienrat Treibel und seine Frau Jenny. Doch unterscheiden sich beide beträchtlich hinsichtlich der Einschätzung ihrer eigenen Position und ihrer Haltung zur gesellschaftlichen Rangordnung. Hiervon zeugt etwa die folgende Textstelle, die einem Streitgespräch über das Standesgemäße einer Verlobung ihres Sohnes mit Corinna entnommen ist: (1) [Treibel zu Jenny:] »Du sprichst da von Undank und Skandal und Blamage, und fehlt eigentlich bloß noch das Wort ›Unehre‹, dann hast du den Gipfel der Herrlichkeit erklommen. Undank. Willst du der klugen, immer heitren, immer unterhaltlichen Person […], willst du der die Datteln und Apfelsinen nachrechnen, die sie von unserer Majolikaschüssel, mit einer Venus und einem Cupido darauf, beiläufig eine lächerliche Pinselei, mit ihrer zierlichen Hand heruntergenommen hat? […]« (JT XII, S. 416).

Treibel weist hier seine Frau in recht drastischer Form zurecht und holt sie gleichsam vom »Gipfel der Herrlichkeit« herunter. Auf geradezu sarkastische Weise kritisiert er ihre Überheblichkeit und distanziert sich von ihren Worten; mit der Reihung der präfigierten Ausdrücke »Undank, Unehre, Undank« macht er sich lustig über ihre Empörung, ebenso mit der anschließenden Kontrastierung des kleinlichen Verhaltens von Jenny mit der »klugen, immer heitren, immer unterhaltlichen« Corinna. Als besonders heikel dürfte in dem Zusammenhang die Erwähnung der Apfelsinen sein, da dies auch als Anspielung auf die Herkunft Jennys interpretierbar ist. Zum Vergleich sei als Erstes ein Blick auf die französische Übersetzung geworfen:

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(2a) – Tu parles d’ingratitude, de scandale et de ridicule et il ne manque plus en vérité le mot «déshonneur» pour que tu atteignes les sommets du sublime. Ingratitude! Veux-tu à l’égard de cette personne intelligente, toujours gaie, de conversation toujours agréable […], veux-tu faire le compte des dattes et des oranges qu’elle a pu prendre de sa jolie main dans notre coupe de majolique coiffée d’une Vénus et d’un Cupidon, ce qui est d’ailleurs une niaiserie ridicule? (1981, S. 524–525).

An Unterschieden kann man festhalten: Die Wiedergabe des dreifach und aufmerksamkeitsfördernd wiederholten Präfixes un- erfolgt aus sprachstrukturellen Gründen nicht in gleichem Umfang, einer wortschöpferischen Charakterisierung als »immer unterhaltlich« entspricht »de conversation toujours agréable« nur partiell, und »faire le compte« wirkt im gegebenen Kontext gegenüber »nachrechnen« neutraler und weniger abwertend. Schematisch sei das für die einzelnen Textbildungsebenen folgendermaßen dargestellt: (2’)

Die grau unterlegten Flächen deuten einen höheren Stärkegrad der jeweiligen Sprachhandlungen an. Aufgrund der zuvor genannten Merkmalsausprägung weist also die französische Übersetzung einige Reduktionen auf. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die intendierte Herabstufung Jennys, genauer: für die Darstellung des Versuchs, sie von den abgehobenen Statusvorstellungen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Analoge Reduktionen ergeben sich auch in der englischen (1982, S.  264) und in der italienischen Textversion (1987, S. 147–148). Die pointierte, auf die Status-Fixiertheit Jennys bezogene Rede des Kommerzienrats Treibel findet damit in allen drei Übersetzungen



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nur eine abgeschwächte Entsprechung, eine Diskrepanz, die übrigens nicht den Übersetzern anzulasten ist, sondern die ihren Grund in erster Linie in sprachstrukturellen Unterschieden hat. Trotz solcher Kritik hat Treibel durchaus klare Vorstellungen von dem, was er anstrebt, wohin ihn sein Ehrgeiz führen soll und was für ihn letztlich angemessen wäre. Einen erhellenden Einblick gibt ein Gesprächsausschnitt, in dem er die Motive seiner politischen Ambitionen erläutert. (3) [Majorin Ziegenhals zu Treibel:] »[…] Überhaupt, Kommerzienrat, warum verirren Sie sich in die Politik? Was ist die Folge? Sie verderben sich Ihren guten Charakter, Ihre guten Sitten und Ihre gute Gesellschaft. […] Ich, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, lancierte mich ins Städtische hinein und ränge nach der Bürgerkrone.« [Treibel:] »[…] Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und kommt aus der Regula-de-tri gar nicht mehr heraus, aus dem alten Ansatze: ›Wenn das und das so viel bringt, wieviel bringt das und das.‹ Und sehen Sie, Freundin und Gönnerin, nach demselben Ansatz hab ich mir auch den Fortschritt und den Konservatismus berechnet und bin dahintergekommen, daß mir der Konservatismus, ich will nicht sagen mehr abwirft, das wäre vielleicht falsch, aber besser zu mir paßt, mir besser kleidet. Besonders seitdem ich Kommerzienrat bin, ein Titel von fragmentarischem Charakter, der doch natürlich seiner Vervollständigung entgegensieht. […] Der Ausbau des Kommerzienrätlichen bedeutet in meinem Spezialfalle das natürlich Gegebene ... jedenfalls mehr als die Bürgerkrone.« (JT III, S. 294–296).

Eine Position im Dienst der Allgemeinheit, z. B. sich in das Bürgermeisteramt wählen zu lassen, wird jedenfalls nicht angestrebt. Ziel ist allein die persönliche Karriere. Der bemühte Wortschatz gibt hinreichend Auskunft über die Motive Treibels. Ganz unumwunden legt er dar, in welchem Maße er sich, auch berufsbedingt, dem Kalkül, dem Dreisatz-Prinzip verpflichtet fühlt; leitender Gedanke sei immer der zu erzielende Vorteil, der Profit (»Wenn das und das so viel bringt, wieviel bringt das und das«). In diesem kalkulierenden Sinne werden auch die politischen Optionen ›berechnet‹. Treibel schränkt zwar ein, es gehe ihm nicht um den direkten Profit (»ich will nicht sagen mehr abwirft«), betont aber direkt anschließend die Bedeutung des persönlichen Vorteils. Letztlich steht der »Ausbau des Kommerzienrätlichen« im Vordergrund, das Erreichen eines höheren, prestigereicheren Rangs, und ein solcher Aufstieg wird hier als selbstverständliche Vervollständigung des Fragmentarischen, als »das natürlich Gegebene« angesehen. Diese Bestrebungen erfahren in den Übersetzungen eine recht originalgetreue Wiedergabe (3a-c). Die Abweichungen bzw. die semantischen Unterschiede zwischen der ausgangssprachlichen Fassung und den zielsprachlichen Versionen erscheinen marginal. Insbesondere die beiden Isotopieebenen auf der Basis der Merkmale /kalkulierend/ und /natürlich/ werden konsequent beachtet. Die Unterschiede betreffen meist nur Nuancen: Ob »unsereins rechnet und rechnet« durch

498 (3a-c)

Heinz-Helmut Lüger [Treibel:] »[...] Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und kommt aus der Regula-dé-tri gar nicht mehr heraus, aus dem alten Ansatze: >Wenn das und das so viel bringt, wieviel bringt das und das.< Und sehen Sie; Freundin und Gönnerin, nach demselben Ansatz hab ich mir auch den Fortschritt und den Konservatismus berechnet und bin dahintergekommen, daß mir der Konservatismus, ich will nicht sagen mehr abwirft, das wäre vielleicht falsch, aber besser zu mir paßt; mir besser kleidet. Besonders seitdem ich Kommerzienrat bin, ein Titel von fragmentarischem Charakter, der doch natürlich seiner Vervollständigung entgegensieht. [...] Der Ausbau des Kommerzienrätlichen bedeutet in meinem Spezialfalle das natürlich Gegebene ... jedenfalls mehr als die Bürgerkrone.«

non fa che calcolare non evade mai dalla sacrosanta regoletta che segue l’antica massima: «Se tanto mi dà tanto, quanto mi dà questo e quello?»

calculer, calculer toujours jamais sortir de la règle de trois

calculate and calculate never get beyond the rule of three

système: « Si ceci et cela me rapportent tant; combien me rapporteront cela et ceci ? » = système rapporter plus, convenir mieux

old statement: ‘If that and that make this much, how much do that and that make?” = same statement that pays me more, suits me better

= tale massima che mi renda di più, che mi si attaglia di più

Conseiller de commerce titre fragmentaire qui demande naturellement à être complété naturel et tout indiqué de tirer tout ce que peux de ce titre

Kommerzienrat title with a rather fragmentary character that naturally still looks toward some further fulfillment most natural thing ... to aim for an improvement on my status

(1981, S. 425-427)

(1982, S. 159-161)

consigliere di commercio un titolo dal carattere incompleto, che quindi naturalmente mira ad un completamento potenziamento dell’àmbito di consigliere di commercio rappresenta ... un percorso secondo natura (1987, S. 28-30)

»gente come noi non fa che calcolare« wiedergegeben wird, »mehr abwirft« durch »me rapporte plus, that pays me more, che mi renda di più« oder »das natürlich Gegebene« durch »naturel, most natural thing, percorso secondo natura«, beeinträchtigt das nicht den Sinn der Gesamtsequenz, auch wenn die Prägnanz nicht immer gleichwertig ausfällt. Gelegentlichen Bedeutungsabschwächungen können aber auch Intensivierungen gegenüberstehen: Ausdrücke wie »système, old statement, antica massima« kann man angesichts der klaren Handlungslogik Treibels sehr wohl als markanter auffassen als die allgemeine Bezeichnung »alter Ansatz« von Fontane. Dennoch seien zwei Punkte nicht unterschlagen: Die Redeweise Treibels ist insgesamt zweifellos stärker einer informellen Umgangssprache angenähert als die jeweiligen Übersetzungen (vgl. u.  a. die Prädikatsausdrücke »viel bringen, dahinterkommen«). Eine Grenze der Übersetzbarkeit ergibt sich jedoch generell dann, wenn sprachliche Kreativität ins Spiel kommt. So spricht Treibel in (3) am Ende seiner langen Erklärung, in der es darum geht, schließlich das Natürliche, das eigentlich Selbstverständliche seines erstrebten Aufstiegs plausibel zu machen, vom »Ausbau des Kommerzienrätlichen«. Diese



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Versuchte Grenzüberschreitungen

Wortschöpfung ist, wie die Formulierungen »tirer tout ce que je peux de ce titre, to aim for an improvement on my status, potenziamento dell’àmbito di consigliere di commercio« zeigen, zielsprachlich nur sehr eingeschränkt erreichbar.10 Damit legen die betreffenden Aussagen auch divergierende Bedeutungszuschreibungen nahe, dies besonders auf den Ebenen ‚Selbstdarstellung‘ und ‚Aufmerksamkeitssteuerung‘ (3’); die unterstrichenen Ausdruckskomponenten (3a-c) signalisieren zudem, wie hier aus der Sicht des Sprechers das »natürlich Gegebene« massiv hervorgehoben wird. (3’)

calculer, calculer toujours me rapporte plus naturel et tout indiqué de tirer tout ce que je peux de ce titre ...

Kalkül: Profit: Prestige:

calculate and calculate that pays me more most natural thing ... to aim for an improvement of my status ...

rechnen und rechnen abwerfen Ausbau des Kommerzienrätlichen, natürlich Gegebenes

non fa che calcolare che mi renda di più potenziamento dell’àmbito di consigliere di commercio

starke AufmerksamkeitsHervorhebung steuerung Aufstiegsbestreben Selbstdarstellung zeigen

Kohärenz markieren

Ablaufregulierung

schwächere Hervorhebung Aufstiegsbestreben zeigen Kohärenz markieren

IV. Vom Apfelsinenladen zum »Musterstück von einer Bourgeoise« Während man dem Kommerzienrat Treibel noch zugutehalten kann, seinen sozialen Aufstieg mit eigenen, wenn auch berechnenden Aktivitäten anzustreben, trifft das auf Jenny Treibel nicht mehr zu: Sie ist in ihrem Aufstiegsdrang ganz und gar auf Vorleistungen ihres Mannes angewiesen, und wie bereits skiz10 Auf die Problematik kulturspezifischer Realien für die Übersetzung wurde bereits oben verwiesen.

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ziert, scheut sie auch vor ungewöhnlichen Aktivitäten und entsprechenden Äußerungen nicht zurück. Kritische Verhaltenskommentare werden im Roman auf dreierlei Weise präsentiert: Zum einen im Rahmen des Erzählertexts, dann als Figurenrede (z. B. als Lob, Widerspruch oder Bloßstellung) und schließlich in Form von Selbstreflexion oder Selbstkritik. Letzteres findet sich hin und wieder ansatzweise beim Kommerzienrat Treibel, für Jenny dagegen kommen nur die ersten beiden Verfahren vor. Bezeichnend ist etwa eine Stellungnahme des Gymnasialprofessors Wilibald Schmidt zu ihrer Herkunft: […] Ach, ihre Mutter, die gute Frau Bürstenbinder, die das Püppchen drüben im Apfelsinenladen immer so hübsch herauszuputzen wußte, sie hat in ihrer Weiberklugheit damals ganz richtig gerechnet. Nun ist das Püppchen eine Kommerzienrätin und kann sich alles gönnen, auch das Ideale, und sogar ›unentwegt‹. Ein Musterstück von einer Bourgeoise. (JT I, S. 278).

Als Kind verwöhnt, durch Heirat zu Reichtum gekommen, ist Jenny Treibel sichtlich bemüht, sich auch sprachlich dem Habitus des neuen bürgerlichen Milieus anzupassen, wobei diese Bemühungen nicht selten zur Karikatur geraten. Insbesondere der Versuch, die eigene Herkunft vergessen zu lassen, stößt häufig auf kritische Reaktionen. Hierzu ein zusammenfassender Erzählerkommentar: Frau Jenny präsentierte sich in vollem Glanz, und ihre Herkunft aus dem kleinen Laden in der Adlerstraße war in ihrer Erscheinung bis auf den letzten Rest getilgt. […]. (JT III, S. 289).

Eine sehr viel deutlichere Kritik liefert u. a. auch das Streitgespräch, aus dem in (2) ein Auszug zitiert wurde. In Ergänzung dazu sei noch eine weitere Passage herangezogen: (4) [Jenny:] »[…] Ist es ein Skandal oder nicht?« [Treibel:] »Nein.« [Jenny:] »Und du wirst Leopold nicht darüber zur Rede stellen?« [Treibel:] »Nein.« [Jenny:] »Und bist nicht empört über diese Person?« [Treibel:] »Nicht im geringsten.« [Jenny:] »Über diese Person, die deiner und meiner Freundlichkeit sich absolut unwert macht, und nun ihre Bettlade – denn um viel was anderes wird es sich nicht handeln – in das Treibelsche Haus tragen will.« (JT XII, S. 415).

Ausgangspunkt des Disputs ist die heimliche Verlobung des Sohns Leopold mit Corinna. Die Weigerung Treibels, die Empörung seiner Frau zu teilen, bringt diese zusätzlich in Rage. Mit ihrer Äußerung über das Tragen einer Bettlade soll ihre Kontrahentin vollends lächerlich gemacht werden, ein Versuch, der jedoch die Sprecherin lediglich als überheblich und materiell interessiert entlarvt. Die



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gewählte Ausdrucksweise (»die deiner und meiner Freundlichkeit sich absolut unwert macht«) unterstreicht zwar das Bemühen um ein gehobenes Sprachverhalten, doch schon im nachfolgenden Satz fällt sie in alte Sprechgewohnheiten zurück: »um viel was anderes wird es sich nicht handeln«. In der Übersetzung dürfte der kurzzeitige diastratische Wechsel nur schwer wiederzugeben sein: (4a) – Cette personne qui se rend absolument indigne de ton amabilité et de la mienne et qui veut maintenant transporter sa literie, car il ne s’agit pas d’autre chose, dans la maison Treibel. (1981, S. 524). (4b) With this person who has made herself unworthy of your and my kindness and now wants to bring her bedstead – there can’t be much of anything else after all – into the Treibel house. (1982, S. 263–264). (4c) – Contro quella persona che si rende assolutamente indegna della tua e mia cordialità, ed ora intende trasportare la propria lettiera – perché di qualcosa di più non si tratterà certo – in casa Treibel. (1987, S. 147).

Interessant ist zunächst, wie der verächtlich gemeinte Ausdruck »Bettlade« übertragen wird. In (4a) und (4b) handelt es sich mit »literie« (›Bettzeug‹) und »bedstead« (›Bettgestell‹) noch um eher sachliche Bezeichnungen, wogegen in (4c) mit »lettiera« (›Streu‹) die herablassende Einstellungskundgabe verstärkt und damit

das Konfrontative, das Abgrenzende weiter unterstrichen wird. Andererseits findet der in (4a) vorhandene Wechsel vom gehobenen zum umgangssprachlichen For-

mulierungsstil keine Entsprechung; damit entfällt dann ebenfalls der Nachvollzug des nicht durchgehaltenen Sprachgestus und des plumpen Selbsterhöhungsversuchs der Protagonistin. Wie bereits mehrfach angedeutet, spiegelt sich die Aufstiegsbesessenheit der Jenny Treibel auch in den distanzierenden Kommentaren anderer Romanfiguren. Selbst die Haushälterin Schmolke charakterisiert sie als »eine geldstolze Frau, die den Apfelsinenladen vergessen hat un immer bloß ötepotöte tut« (JT XIV, S. 441). Es zeugt zudem von der Allürenhaftigkeit und übersteigerten Selbstsicherheit Jennys, wenn auch kritische Äußerungen oder mehr oder weniger direkte Anspielungen an ihr abprallen. Ein typisches Beispiel zeigt der folgende Austausch mit Wilibald Schmidt: (5) [Jenny Treibel:] »[…] Impietät ist der Charakter unsrer Zeit.« Schmidt, ein Schelm, gefiel sich darin, bei dem Wort »Impietät« ein betrübtes Gesicht aufzusetzen. »Ach, liebe Freundin«, sagte er, »Sie mögen wohl recht haben, aber nun ist es zu spät. Ich bedaure, daß es unserm Hause vorbehalten war, Ihnen einen Kummer wie diesen, um nicht zu sagen eine Kränkung anzutun. Freilich, wie Sie schon sehr richtig bemerkt haben, die Zeit ... alles will über sich hinaus und strebt höheren Staffeln zu, die die Vorsehung sichtbarlich nicht wollte.« Jenny nickte. »Gott beßre es.« (JT XIII, S. 429f.).

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Die gemeinplatzartige Äußerung »Impietät ist der Charakter unsrer Zeit« steht am Ende eines Beschwerde-Dialogs, den Jenny Treibel und der Professor Schmidt wegen des Verlobungs-Themas führen. Der angegriffene Schmidt geht auf die Vorwürfe ein, bringt sogar sein Bedauern zum Ausdruck und scheint seinen Reparaturversuch, Jenny explizit recht gebend, in der Aussage »wie Sie schon sehr richtig bemerkt haben, die Zeit ... alles will über sich hinaus und strebt höheren Staffeln zu« gipfeln zu lassen. Und als wäre das noch nicht deutlich genug, fügt Schmidt hinzu: »die die Vorsehung sichtbarlich nicht wollte«. Jenny ist nicht in der Lage, die hier intendierte Doppeldeutigkeit zu erkennen, und versteht das Gesagte, wie ihre anschließende Replik signalisiert, nur als Bestätigung, wohl als Vervollständigung der vermeintlichen Entschuldigungssequenz. Die von ihrem Gesprächspartner beabsichtigte Kritik des anmaßenden Verhaltens, die Verspottung des abgehobenen und verblendeten Status-Denkens kommt ihr als Gemeintes nicht in den Sinn, die Ironie und der mitschwingende Sarkasmus bleiben ihr folglich verborgen. Die Frage stellt sich, inwieweit die Übersetzungen in der Lage sind, die hier wiederum zugrundeliegende Aufstiegsmetaphorik und, damit verbunden, die nahegelegte indirekte Zurückweisung der Vorstellungen Jennys nachzuempfinden: (5a) – […] Certes, comme vous l’avez justement remarqué, aujourd’hui, tout le monde veut maintenant sortir de sa classe, aspire à un état plus élevé que ne l’avait visiblement voulu la Providence. (1981, S. 535). (5b) […] Of course, as you’ve so rightly observed, the times ... everybody wants to rise above himself and to attain heights providence obviously did not intend. (1982, S. 275). (5c) – […] Certo, come già lei ha osservato molto giustamente, i tempi ... tutti vogliono oltrepassare se stessi e aspirano a gradini più elevati, che la Provvidenza evidentemente non prevedeva. (1987, S. 160).

Schon auf den ersten Blick werden markante Unterschiede sichtbar, diese betreffen mehrere Ebenen (5’). Es sind vor allem drei Punkte, die es bei einer Übertragung in die Zielsprache zu beachten gilt: a) die Rekurrenz des semantischen Merkmals /nach oben gerichtet/ (»über sich hinauswollen«, »höheren Staffeln zustreben«), b) der angedeutete sprachliche Profilierungs-und Abgrenzungsversuch Schmidts (»sichtbarlich«), c) das von Wilibald Schmidt praktizierte Wendeverfahren (Aposiopese + Sprechpause nach »die Zeit«). In allen drei Beispielen fehlt auf der Ebene der Selbstdarstellung das stilistisch Markierte in der Rede Schmidts; für die genannte idiolektale Wortbildung gibt es keine analoge Entsprechung. In der französischen Version findet sich für »über sich hinauswollen« derAusdruck »sortir de sa classe«, was zwar den Sinn der Ausgangsformulierung abbildet, aber – im Unterschied zur englischen und italienischen Fassung –



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Versuchte Grenzüberschreitungen

(5’)

— [...] Certo, come già lei ha osservato molto giustamente, i tempi ... tutti vogliono oltrepassare se stessi e aspirano a gradini più elevati, che la Provvidenza evidentemente non prevedeva.

„ [...] Freilich, wie Sie schon sehr richtig bemerkt haben, die Zeit... alles will über sich hinaus und strebt höheren Staffeln zu, die die Vorsehung sichtbarlich nicht wollte.“

— [...] Certes, comme vous l’avez justement remarqué, aujourd’hui, tout le monde veut maintenant sortir de sa classe, aspire à un état plus élevé que ne l’avait visiblement voulu la Providence.

Feststellung

zentrales Handlungsschema

Feststellung

sprachlich Souveränität zeigen

Selbstdarstellung



Kohärenz deutlich markieren

Ablaufregulierung

Kohärenz schwach markieren

“[...] Of course, as you’ve so rightly observed, the times ... everybody wants to rise above himself and to attain heights providence obviously did not intend.”

Feststellung



Kohärenz markieren

auf der syntagmatischen Ebene von der etablierten Aufstiegsmetaphorik abweicht und so eine schwächere Kohärenzmarkierung bewirkt. Darüber hinaus schwächt der französische Text ebenfalls eine konversationelle Vorgehensweise von Schmidt ab: Der Sprecher ist in (5) sehr darum bemüht, bei seiner Gesprächspartnerin den Eindruck zu erwecken, als ginge es ihm um ein Bedauern des Vorgefallenen und um eine volle Zustimmung zu dem von Jenny Treibel Vorgetragenen. Es entsteht sogar der Eindruck, der Sprecher wolle sich als höflicher Gesprächspartner den Ausspruch »Impietät ist der Charakter unsrer Zeit« (und damit die Kritik an seiner Tochter) zu eigen machen, doch bricht hier die offenbar geplante Äußerung plötzlich ab. Der Redebeitrag wendet sich hinfort in eine andere Richtung; es kommt zu einer kategorisch formulierten Aussage, die nur als Negativbewertung des Werdegangs der Jenny Treibel verstanden werden kann, eine Interpretation, die der Angesprochenen jedoch in keiner Weise zugänglich ist. Durch den Verzicht auf eine Wiedergabe der expliziten Wendezeichen, also des Abbruchs und der Pause, wird ein Äußerungsverstehen als Feststellung geradezu forciert, was mit dem Original nicht mehr übereinstimmt und was die Ignoranz der hochmütigen, gegen jede Form von Selbstzweifel immunisierten Adressatin nivelliert. Die englische und die

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italienische Textfassung schlagen hier eine Lösung vor, die angemessener erscheint.11 deutsches Original

französische Übersetzung (Satz fehlt vollständig) (1981, S. 410)

gib den Sinn, der sich nach oben richtet, nicht auf (JT I, S. 275 er rückt nicht höher (Il ne va pas plus loin) (1981, hinauf (JT XII, S. 518) S. 408)

englische Übersetzung don’t give up your sense for the higher things (1982, S. 142) we don’t seem to get any higher up (1982, S. 257)

italienische Übersetzung non rinunciare alla sensibilità che tende verso l’alto (1987, S. 9) e lui non sale più in alto (1987, S. 140)

erheblich unterm Stand (JT XII, S. 410)

far beneath their tout à fait inféstation (1982, rieure à sa propre S. 259) condition à elle (1981, S. 519– 520)

können nicht von jedem […] heruntergeschüttelt werden (JT XII, S. 411)

(Teilsatz fehlt) (1981, S. 521)

can’t be shaken down by everybody that passes by (1982, S. 260)

(non possono esser catturati da chiunque passi) (1987, S. 143)

gesellschaftlich zu sich heraufzuziehen (JT XII, S. 412)

que l’on élève so- raise […] above cialement jusqu’à their own social level soi (1982, S. 261) (1981, S. 521)

(attirandole nella propria cerchia sociale) (1987, S. 144)

etwas höher hinauf- viser un peu plus haut (1981, schrauben S. 522) (JT, XII, S. 414)

di ceto inferiore (1987, S. 142)

you could look a lit- potresti […] portle higher (1982, tarti un tantino S. 262) più in alto (1987, S. 145)

Gute Übersetzungen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, auch absatz- und kapitelübergreifende Relationen eines Textes nicht aus dem Auge zu verlieren. 11 Nicht weiter thematisiert wurde bisher eine Unterscheidung der Figuren-Kommunikation und der Text-Leser-Kommunikation. Gerade bei Romanausschnitten wie (5) wird deutlich, in welchem Maße das Leserverständnis über das der Romanfiguren hinausgehen kann. Der Dialog Jenny Treibel – Professor Schmidt hat aus Leserperspektive in erster Linie eine entlarvende Funktion, wonach vielen Äußerungen eine bewertende, sarkastisch-spöttische Bedeutung und damit eine amüsierende Wirkungsabsicht zukommt.



Versuchte Grenzüberschreitungen

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Von daher seien abschließend nochmals einige Äußerungsbeispiele aufgelistet, die die Ambitionen Jenny Treibels betreffen, und im Zusammenhang hinsichtlich ihrer Übersetzbarkeit betrachtet. Mit Fettdruck sind die Ausdrücke markiert, die im Rahmen der Aufstiegsmetaphorik das Vertikalitäts-Merkmal explizit wiedergeben, in Klammern stehen Beispiele, die davon abstrahieren. Wie man sieht, ist es vor allem die englische Übersetzung, die die für den gesamten Romantext konstitutive Isotopie-Relation mit größter Konsequenz umsetzt. Deutlich weniger ist das in den beiden anderen Versionen der Fall, wobei im französischen Text auch Weglassungen zu verzeichnen sind. Angesichts der Bedeutung des genannten Merkmals für die Personencharakterisierung, insbesondere im Hinblick auf die vorgetragenen Aufstiegsbestrebungen, erscheint ein solcher Befund nicht unwesentlich.

V. Fazit Natürlich sind solche Einzelbeobachtungen noch keine ausreichende Grundlage für eine fundierte Beurteilung der Übersetzungsqualität. Aber die exemplarischen Vergleiche ausgewählter Textausschnitte ergeben jedenfalls Hinweise auf Kriterien, die für die Evaluierung der zielsprachlichen Ergebnisse relevant sein können. Dabei sollte, wie mehrfach betont, die Wiedergabe bestimmter Merkmale auch über den Satzrahmen hinaus nicht vernachlässigt werden, nur so lassen sich Faktoren wie die Textkohärenz oder die Wiedergabe von Isotopieebenen erfassen. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe sprachlicher Mittel und Verfahren, die nur schwer oder gar nicht in die Zielsprache übertragbar sind. Erwähnt wurden kulturspezifische Realien, dialektale Ausdrücke und idiolektale Wortkreationen. Zu ergänzen wären die hier nicht weiter thematisierten geflügelten Worte, literarische Anspielungen, festgeprägte Wortverbindungen und schließlich auch die oft eingestreuten französischen und englischen Elemente, deren Fremdheit im Französischen bzw. Englischen zwangsläufig entfällt.12 Ein grundsätzliches Problem für die Übersetzung speziell literarischer Texte ist deren Polyfunktionalität: Jeder Äußerung ist in der Regel wenigstens 12 Vgl. Hans-Martin Schorneck, Fontane und die französische Sprache. In: Fontane Blätter 11 (1970), S. 172–186; Lüger, Wiederholte Rede; Drahota-Szabó, Realien; Harald Burger und Peter Zürrer, Plurilinguale Phraseologie bei Theodor Fontane und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund. In: Hartmut E.  H. Lenk und Ulrike Richter-Vapaatalo (Hrsg.), Sie leben nicht vom Verb allein. Beiträge zur historischen Textanalyse, Valenzund Phraseologieforschung, Berlin 2015, S. 91–117.

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ein zentrales Handlungsmuster zuschreibbar; darüber hinaus kommen auf den verschiedenen Textbildungsebenen bestimmte Zusatzhandlungen in Betracht. So ist z. B. eine normale Sachverhaltsmitteilung immer auch interpretierbar bezüglich ihrer Bedeutung für die Aufmerksamkeitssteuerung, die Selbstdarstellung, die Beziehungsorganisation, die Kommunikationsmodalität oder die Ablaufregulierung. Wie sich das konkret darstellen kann, wurde anhand einiger Textbeispiele veranschaulicht. Wegen des offenen Spektrums an Zusatzhandlungen ist es generell problematisch, bei Übersetzungen so etwas wie Bedeutungsäquivalenz zu erwarten; realistischer erscheint es, einen zielsprachlichen Text anzustreben, der näherungsweise die Voraussetzungen für kommunikative Gleichwertigkeit erfüllt. Zu präzisieren wäre: Gleichwertigkeit auch und besonders auf der Textebene. Ein solches Resultat ist bekanntlich nicht immer gegeben, und zumindest Nuancenunterschiede lassen sich in der Regel nicht vermeiden; allzu oft sind es eben die Zusatzhandlungen, die die Suche nach einer angemessenen Lösung erschweren. Die vielschichtige Interpretierbarkeit sprachlicher Äußerungen gehört nun einmal zur kommunikativen Realität. Liegen außerdem Schwierigkeiten der oben beschriebenen Art vor, sind kommunikativ gleichwertige Übersetzungen nur begrenzt möglich und entsprechende Differenzen nicht dem Übersetzer anzulasten.

Abb. 2: Kommunikative Gleichwertigkeit als Übersetzungsziel

Die untersuchten Beispiele aus dem Fontane-Roman bestätigen durchweg die obigen Einschätzungen. Gerade die zielsprachliche Umsetzung des Sprechens



Versuchte Grenzüberschreitungen

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über Grenzen und Grenzüberschreitungen hat gezeigt, in welchem Maße sich das Bemühen um kommunikative Gleichwertigkeit in einem Kontinuum zwischen zwei Polen bewegt: der Reduktion bzw. der Verstärkung semantischpragmatischer Bedeutungen (Abb. 2), wobei Ersteres eher der Normalfall ist. Die Markierung des sozialen Aufstiegsstrebens, von Fontane stilistisch meist auf sehr subtile Weise ausgestaltet, erfährt in den zum Vergleich herangezogenen Übersetzungen naturgemäß eine unterschiedlich präzise Wiedergabe. Das durchsichtige Kalkül des Kommerzienrats Treibel liefert dafür ebenso reichhaltige Belege wie das allürenhafte und zum Teil groteske Bestreben der Jenny Treibel.

Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede in Fontanes »Effi Briest«: Ein Vergleich mit der italienischen Übersetzung Martina Lemmetti

I. Vorwort Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle der Modalpartikeln (MPn) in der Figurenrede der Hauptfigur des Romans Effi Briest. Ausgangshypothese der Untersuchung ist, dass MPn eine Rolle bei der Charakterisierung der Figuren im Roman spielen. Die MPn sind ein typisches Phänomen des Deutschen, das vor allem in der gesprochenen Sprache vorkommt. Sie können aber auch in schriftlichen Texten auftreten, die Aspekte der Mündlichkeit wiedergeben. Diese Besonderheit ist auch im Roman Effi Briest zu finden. In den zahlreichen Gesprächsteilen dieses Werkes Fontanes ist ein hohes Vorkommen von MPn1 zu bemerken. Die Figurenrede spielt eine wesentliche Rolle in der literarischen Produktion Fontanes. Es handelt sich um ein stilistisches Mittel, das die Spontaneität der gesprochenen Sprache imitiert und mit dem die Figuren in den Mittelpunkt gestellt werden. Der hohe Anteil an Gesprächsteilen in Fontanes Romanen trägt dazu bei, die Figuren zu charakterisieren und ihre Beziehungen darzustellen.2 MPn könnten in dem Sinne als ein wichtiges stilistisches Mittel verstanden werden, mit dem die Persönlichkeit der Figuren bestimmt werden kann. Um diese Hypothese prüfen zu können, wird sich der vorliegende Beitrag zunächst auf die Verteilung der MPn im Roman Effi Briest konzentrieren. In einer zweiten Phase des Beitrags wird der Verwendung der MPn in Effis Rede besondere Aufmerksamkeit gewidmet, auch in Gegenüberstellung mit 1 Vgl. Olga Lopez Sans, Trets d’oralitat en la novella ›Effi Briest‹ de Theodor Fontane i la seva traducció al català i al castellà. La traducció de la partícula Nun. Masterarbeit, Universitat Pompeu Fabra 2010; Valentina Crestani, L’Abtönungspartikel ja nelle traduzioni italiane di ›Effi Briest‹. In: Marcella Costa und Silvia Ulrich (Hrsg.), Riscritture e ritraduzioni. Intersezioni tra linguistica e letteratura tedesca, Alessandria 2015, S. 131–142. 2 Elsbeth Hamann, Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ aus erzähltheoretischer Sicht, Bonn 1984, S. 337‒346. https://doi.org/10.1515/9783110735710-029

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anderen Figuren im Roman. In dem Sinne eignet sich die Analyse der MPn in der Figurenrede gut für das Thema der Grenzüberschreitung zwischen Sprache, Kultur und Literatur, weil MPn als wichtige stilistische Mittel verstanden werden können, mit denen die sprachlichen Grenzen zwischen den Figuren des Romans markiert werden können. Die MPn des Deutschen bilden außerdem eine Herausforderung für die Übersetzungspraxis: In einigen Sprachen – wie z. B. den romanischen3 – wurde das Phänomen nicht so gut wie im Deutschen erforscht, was vermuten lässt, dass solche Sprachen über eine vergleichbare Klasse wie die MPn des Deutschen nicht verfügen. Für solche Sprachen müssen deswegen Sprachmittel unterschiedlicher Art verwendet werden, die dieselbe Funktion und dieselbe Bedeutung wie die MPn übernehmen können. Der Aspekt der Übersetzung der MPn wird auch in der vorliegenden Analyse betrachtet. Der Beitrag verfolgt somit eine zweifache Zielsetzung: Auf der einen Seite soll anhand einiger Belege aus dem Roman geprüft werden, ob MPn ein stilistisches Mittel sind, mit dem der Charakter der Figuren und insbesondere von Effi bestimmt wird. Auf der anderen Seite soll mit der Untersuchung geprüft werden, ob dieses stilistische Merkmal auch in der italienischen Übersetzung eine Entsprechung findet und – wenn ja – durch welche Strategien oder sprachliche Strukturen. Nach einer Beschreibung der MPn des Deutschen und der entsprechenden Ausdrücke im Italienischen (Abschnitt II), folgt eine Analyse des Phänomens im Roman, mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Verteilung der MPn im Text (Abschnitt III.1) und auf die unterschiedlichen Verwendungen der MPn ja und doch in Effis Rede (Abschnitt III.2). Schließlich werden die angeführten Beispiele mit ihren Übersetzungen im Italienischen verglichen (Abschnitt III.3).

II. Modalpartikeln des Deutschen und vergleichbare Ausdrücksmöglichkeiten im Italienischen Unter dem Terminus Modalpartikeln wird eine Klasse von zirka 20 Lexemen verstanden (aber, auch, bloß, denn, doch, eben, eigentlich, einfach, etwa, erst, 3

Zum Vergleich zwischen Deutsch und den romanischen Sprachen vgl. Harald Weydt, Abtönungspartikeln. Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechungen, Bad Homburg 1969; Christiane Beerbom, Modalpartikeln als Übersetzungsproblem. Eine kontrastive Studie zum Sprachenpaar Deutsch-Spanisch, Frankfurt am Main 1994; René Métrich und Eugène Faucher, Wörterbuch deutscher Partikeln. Unter Berücksichtigung ihrer französischen Äquivalente, Berlin/New York 2009.



Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede

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halt, ja, nun, nur, mal, ruhig, schon, vielleicht, überhaupt, wohl), die ein typisches Phänomen des Deutschen darstellt.4 MPn bilden eine offene Klasse, d. h. durch Grammatikalisierungsprozesse können neue Lexeme als Mitgliedselemente der Klasse der MPn verstanden werden.5 Dabei werden einige MPn offensichtlich im Vergleich zu anderen als typischer betrachtet. Den MPn werden Hauptmerkmale zugeschrieben, die vor allem dazu dienen, die Klasse zu definieren und von formgleichen Lexemen mit anderen Funktionen zu unterscheiden.6 Unter den Hauptmerkmalen der MPn sind vor allem folgende zu erwähnen:7 - MPn gelten als ein typisches Phänomen der gesprochenen Sprache, das aber auch in schriftlichen Texten zu finden ist, die Aspekte der Mündlichkeit nachahmen;8 - morphologisch sind sie unflektierbare Elemente; - sie weisen eine typische Mittelfeldstellung auf; innerhalb des Mittelfelds können sie aber an unterschiedlichen Stellen auftreten: Susanne hat (ja) gestern (ja) ihrer Tochter (ja) das versprochene Buch (ja) geschenkt;9 - sie können nicht allein im Vorfeld stehen: Und auf diesem Wege halt hat es auch Gespräche gegeben;10

4 Unter ›Modalität‹ versteht man diejenigen sprachlichen Mittel (Modal- und Modalitätsverben, Modaladverbien und MPn), die den Redehintergrund des Sprechers zur Sprechzeit widerspiegeln (vgl. Duden, Die Grammatik: unentbehrlich für richtiges Deutsch. Bd. 4, Berlin 2016, S.  603). Eine ähnliche Definition von ›Modalität‹ ist auch in der italienischen Linguistik zu finden (vgl. Raffaele Simone, Fondamenti di linguistica, Bari 2005, S. 339). 5 Maria Thurmair, Satztyp und Modalpartikeln. In: Jörg Meibaurer, Markus Steinbach et al. (Hrsg.), Satztypen des Deutschen, Berlin 2013, S. 627–651, hier S. 628. 6 Vgl. Maria Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, Tübingen 1989; Daniel Gutzmann und Katharina Turgay, Zur Stellung von Modalpartikeln in der gesprochenen Sprache. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation 2 (2016), S. 97–122; Hardarik Blühdorn, Modalpartikeln und Akzent im Deutschen. In: Linguistische Berichte 259 (2019), S. 275–318. 7 Harald Weydt und Elke Hentschel, Wortartenprobleme bei Partikeln. In: Ders. (Hrsg.): Sprechen mit Partikeln, Berlin/New York 1989, S.  3–17; Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen; Gabriele Diewald, «Same same but different» – Modal particles, discourse markers and the art (and purpose) of categorization. In: Liesbeth Degand, Bert Cornillie et al. (Hrsg.), Discourse Markers and Modal Particles. Categorization and Description, Amsterdam/Philadelphia 2013, S. 19–45; Blühdorn, Modalpartikeln und Akzent. 8 Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, S. 3–4. 9 Beispiel aus Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, S. 29. 10 Beispiel aus Blühdorn, Modalpartikeln und Akzent im Deutschen, S. 277.

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sie weisen eine Satzartsensitivität auf, d. h. jede MP kommt in bestimmten Satzarten vor (z. B. aber in Ausrufesätzen, denn in Fragesätzen):11 Das ist aber schön! / Was machst du denn hier? - sie können untereinander kombiniert werden:12 Mach doch mal das Fenster auf!13 - sie können nicht akzentuiert werden, sind nicht erfragbar, können nicht negiert oder koordiniert werden. Die MPn und insgesamt die Klasse der Partikeln wurden in der linguistischen Forschung lang vernachlässigt, weil sie als Füllwörter galten, d. h. als Elemente ohne eine spezifische Bedeutung. Das Interesse der deutschen Linguistik für die MPn hat sich vor allem nach der sogenannten »kommunikativ-pragmatischen Wende« Anfang der 1970er Jahre entwickelt, was zu einem größeren Interesse für die Sprache und ihre Funktionen in der Kommunikation geführt hat.14 Dies führte zum Aufbau einer Partikelforschung, in der unterschiedliche Aspekte der MPn (etwa semantische, interaktionale und syntaktische) untersucht worden sind, mit dem Ziel, diese Klasse bestmöglich zu definieren und zu beschreiben. In Bezug auf die Semantik der MPn haben sich im Lauf der Jahre zwei Haupttendenzen zu deren Beschreibung ergeben. Auf der einen Seite werden die MPn als Mittel zum Ausdruck der ›Sprechereinstellung‹ betrachtet, die von SprecherInnen/SchreiberInnen eingesetzt werden, um Erwartungen, Gefühle usw. auszudrücken.15 Die Funktion der MPn als Mittel der Sprechereinstellung nimmt oft Bezug auf psychologische Eigenschaften, die linguistisch schwer abgrenzbar sind. Auf der anderen Seite können MPn als grammatische Elemente verstanden werden,16 die eine Verknüpfungsfunktion aufweisen.17 11 12 13 14 15

Vgl. Thurmair, Satztyp und Modalpartikeln. Vgl. Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen. Beispiel aus ebd., S. 227. Gerhard Helbig, Lexikon deutscher Partikeln, Leipzig 1988, S. 14–16. Vgl. Aleksej F. Krivonosov, Die modalen Partikeln in der deutschen Gegenwartssprache, Göppingen 1977; Weydt, Abtönungspartikeln. Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechungen; Wolfram Bublitz, Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen, Tübingen 1978. 16 Vgl. Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen; dies., Satztyp und Modalpartikeln; dies., Zum Gebrauch der Modalpartikel denn in Fragesätzen. Eine korpusbasierte Untersuchung. In: Eberhard Klein (Hrsg.), Betriebslinguistik und Linguistikbetrieb. Akten des 24. Ling. Koll. Bremen, Sept. 1989, Tübingen 1991, S. 377–387; Gabriele Diewald und Kerstin Fischer, Zur diskursiven und modalen Funktion der Partikeln aber, auch, doch und ja in Instruktionsdialogen. In: Linguistica, 38/1 (1998), S. 75–99. 17 Diewald und Fischer, Zur diskursiven und modalen Funktion der Partikeln aber, auch, doch und ja in Instruktionsdialogen, beschreiben die MPn als grammatische Elemen-



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Obwohl die aktuelle linguistische Forschung eher zu einer grammatischen Beschreibung des Phänomens tendiert, wird für die Zwecke dieses Beitrags eine pragmatische Funktion der MPn bevorzugt, welche die Sprechereinstellung und die Interaktion zwischen Sprecher und Adressaten miteinbezieht. Diese Funktionen der MPn scheinen viel passender für die Analyse der sprachlichen Besonderheiten der Figurenrede in einem Roman zu sein.18 Im Italienischen – und im Allgemeinen in den romanischen Sprachen – sind keine MPn mit denselben grammatischen Eigenschaften wie die MPn des Deutschen zu finden. So verfügt etwa das Italienische über andere Modalitätsmittel (Verbmodi, Modalverben oder Adverbien),19 mit denen die Funktionen der MPn wiedergegeben werden können.20 Einige kontrastive Studien haben sich mit dem Problem der Existenz von vergleichbaren Elementen wie den deutschen MPn im Italienischen beschäftigt. In diesen Arbeiten werden Verstärkungsmittel des Italienischen wie mai, poi, pure, magari und figurati identifiziert und beschrieben. Einige Untersuchungen beschäftigen sich mit einer Klassifikation dieser Mittel und unterscheiden z.  B. zwischen Affirmationsverstärkern (certo, ovvio, davvero, vero), Widerspruchsverstärkern (ma, invece, anzi) und reaktiven Negationsverstärkern (proprio, affatto, per niente).21 Ande-

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21

te, die eine indexikalische Komponente aufweisen: d. h. als grammatische Elemente verbinden die MPn die Äußerung, in der sie vorkommen, mit einem Bezugselement im Kontext, der oft implizit ist. Die Funktion der MPn besteht darin, die Äußerung mit einem Sachverhalt zu verknüpfen, den der Sprecher als relevant betrachtet (dieser Sachverhalt wird als pragmatischer Prätext bezeichnet und bleibt oft implizit). Damit beschreiben die Autorinnen die MPn als Satzelemente, die einen Verweis auf etwas Vorhandenes enthalten, und die damit die Äußerung, in der sie vorkommen, als nichtinitial markieren. Vgl. Diewald und Fischer, Zur diskursiven und modalen Funktion der Partikeln aber, auch, doch und ja in Instruktionsdialogen, S. 80–82. Vgl. Weydt, Abtönungspartikeln; Bublitz, Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen; Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen; dies., Satztyp und Modalpartikeln; Helbig, Lexikon deutscher Partikeln. Lorenzo Renzi, Giampaolo Salvi et al. (Hrsg.), Grande Grammatica italiana di consultazione. Bd. 3, Bologna 2001. In der italienischen Linguistik spricht man außerdem nicht direkt von particelle modali (Modalpartikeln). Der Terminus kommt vielmehr in Werken vor, die entweder von deutschen Romanisten oder italienischen Germanisten verfasst wurden, was die Vermutung nahelegt, dass diese Bezeichnung aus der deutschen Partikelforschung eingebracht wurde. Beispielweise wird in einigen Studien eine Bezeichnung für particelle vorgeschlagen, unter der vor allem einsilbige Einheiten verstanden werden, die keine spezifische Bedeutung haben und als Mittel zur Verstärkung der Negation dienen (mica, punto). Bisher wurde für diese Elemente keine präzise Beschreibung vorgeschlagen, vgl. dazu Gian Luigi Beccaria, Dizionario di linguistica e di filologia, metrica e retorica, Torino 2004, S. 576–577. Vgl. dazu Arnim Burkhardt, Der Gebrauch der Partikeln im gesprochenen Deutsch und im gesprochenen Italienisch. In: Günter Holtus und Edgar Radtke (Hrsg.), Gesprochenes

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re Untersuchungen haben sich vor allem mit dem Problem der Übertragung der deutschen MPn ins Italienische beschäftigt.22 In diesen Analysen werden einige formale Funktionsäquivalente wie z. B. pure für nur und ruhig und un po’ für mal und einmal identifiziert, wie in (1) und (2) gezeigt wird. Funktional gesehen werden Diskursmarker wie ora, dunque, e, ma in erster Position im Satz, oder Interjektionen wie su, avanti, via, ehi als mögliche Funktionsäquivalente betrachtet, wie in (3) gezeigt wird:23 (1) Machen Sie nur weiter mit ihm / Continui pure con lui (2) Sagen Sie mal – ist sie verrückt? / Mi dica un po’, è pazza?24 (3) Komm doch! / Su, vieni!25

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23

24 25

Italienisch in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1985, S. 236–275; Gudrun Held, Kommen Sie doch! Oder Venga pure! – Bemerkungen zu den pragmatischen Partikeln im Deutschen und Italienischen am Beispiel auffordernder Redeakte. In: Maurizio Dardano, Wolfgang U. Dressler et al. (Hrsg.), Parallela. Akten des 2. österreichisch-italienischen Linguistentreffens, Tübingen 1983, S. 316–336; Edgar Radtke, Abtönungsverfahren im gesprochenen Italienisch. Zu magari, figurati und Rekurrenzstrategien. In: Günter Holtus und Edgar Radtke (Hrsg.), Gesprochenes Italienisch in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1985, S. 280–299. Vgl. Held, Kommen Sie doch! Oder Venga pure! – Bemerkungen zu den pragmatischen Partikeln im Deutschen und Italienischen am Beispiel auffordernder Redeakte; Christa Helling, Deutsche Modalpartikeln in Übersetzungsvergleich: Deutsch – Italienisch / Italienisch – Deutsch. Eine kontrastive Microanalyse von Sprechakten, Udine 1983; dies., Deutsche Modalpartikeln und ihre italienischen Entsprechungen. In: Maurizio Dardano, Wolfgang U. Dressler et al. (Hrsg.), Parallela. Akten des 2. österreichisch-italienischen Linguistentreffens, Tübingen 1983, S. 376–384; Stefania Masi, Deutsche Modalpartikeln und ihre Entsprechungen im Italienischen. Äquivalente für doch, ja, denn, schon und wohl, Frankfurt am Main/Bern 1996; Renata Buzzo Margari, Considerazioni sulle particelle modali tedesche e sulle corrispondenti espressioni italiane. In: Sandra Bosco Colestos und Marcella Costa (Hrsg.), Italiano e tedesco. Questioni di linguistica contrastiva, Torino 2004, S. 229–262. Es wird an dieser Stelle betont, dass das Phänomen der segnali discorsivi (Diskursmarker) des Italienischen sehr gut erforscht ist. Die segnali discorsivi entsprechen einer heterogenen Gruppe von Lexemen (Koordinatoren, Interjektionen, Verbalphrasen, satzförmige Ausdrücke), die meistens in der gesprochenen Sprache vorkommen und denen zwei Hauptfunktionen (eine interaktionale und eine metatextuelle Funktion) zugeschrieben werden. Lexeme wie e, ma, eh?, guarda sind Beispiele für die segnali discorsivi des Italienischen. Insgesamt weisen aber die segnali discorsivi im Vergleich zu den deutschen MPn andere Funktionen und Eigenschaften auf. Für eine Beschreibung der segnali discorsivi verweise ich auf Carla Bazzanella, I segnali discorsivi. In: Renzi, Salvi et al. (Hrsg.), Grande Grammatica italiana di consultazione. Bd. 3, S. 225–257. Beispiele aus Held, Kommen Sie doch! Oder Venga pure! – Bemerkungen zu den pragmatischen Partikeln im Deutschen und Italienischen am Beispiel auffordernder Redeakte, S. 328–329. Beispiel aus Helling, Deutsche Modalpartikeln und ihre italienischen Entsprechungen, S. 379.



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Andere kontrastive Analysen heben des Weiteren hervor, dass auch andere sprachliche Ausdrücke, darunter Modalitätsmittel des Italienischen wie z. B. epistemische Verbformen ähnliche Aufgaben wie die deutschen Modalpartikeln übernehmen können: (4) Lucy, im Ernst, du bist doch nicht so töricht und bist eifersüchtig auf Polly? / Lucy, seriamente, non sarai così pazza da essere gelosa di Polly? (5) Man muß schon eine Roßnatur haben, um in diesem Geschäft durchzuhalten / Bisognerebbe essere nati stalloni per farcela a un lavoro come questo.26

In (4) wird die MP doch verwendet, um eine Bestätigung zu bekommen. Der Sprecher hält für wahrscheinlich, dass der Sachverhalt zutrifft, möchte aber eine Bestätigung bekommen. In diesem Fall wünscht sich der Fragesteller, dass die Antwort negativ ist, und bewahrt sich mit der Frage eine letzte Möglichkeit. Etwas Ähnliches wird durch das Futur im Italienischen zum Ausdruck gebracht: Damit wird ausgedrückt, dass der Sprecher nicht annehmen will, dass seine Vermutung zutrifft. In (5) drückt schon eine partielle Zustimmung des Sprechers in Bezug auf den Sachverhalt aus, d.  h. der Sprecher ist nicht sicher, ob der Sachverhalt zutrifft. Im Italienischen wird die Formulierung einer unwahrscheinlichen Hypothese durch das Konditional ausgedrückt.27 Aus diesen Beispielen lässt sich entnehmen, dass eine deutsche MP mit unterschiedlichen Sprachmitteln des Italienischen wiedergegeben werden kann. Diese variieren normalerweise je nach Kontext und Funktion der MP in der gegebenen sprachlichen Interaktion. Für das Phänomen scheint es deswegen keine 1:1-Entsprechung zwischen den beiden Sprachen zu geben. Wenn im Originaltext MPn enthalten sind, müssen gegebenenfalls unterschiedliche Mittel in der italienischen Übersetzung eingesetzt werden, die die Bedeutung und die Funktion der deutschen MPn wiedergeben können.28

III. Die MPn im Roman »Effi Briest«: Verfahren der Analyse Effi Briest ist durch einen größeren Anteil an MPn gekennzeichnet. Aus einer ersten Analyse der Verteilung der MPn im Roman lässt sich entnehmen, dass 26 Beispiel aus Masi, Deutsche Modalpartikeln und ihre Entsprechungen im Italienischen. Äquivalente für doch, ja, denn, schon und wohl, S. 108, 176. 27 Ebd., S. 108, 176. 28 Man vergleiche die neuesten Ergebnisse und Beobachtugen der Studie von Federica Cognola und Manuela Caterina Moroni, Le particelle modali del tedesco. Caratteristiche formali, proprietà pragmatiche ed equivalenti funzionali in italiano, Roma 2022.

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die Frequenz der MPn in der Figurenrede unterschiedlich ist. In Effis Rede scheinen zum Beispiel mehr MPn enthalten zu sein. Dies lässt vermuten, dass Effi dadurch in Gegenüberstellung mit anderen Figuren charakterisiert wird. Anzunehmen ist auch, dass Effi, als Protagonistin, die Figur des Romans darstellt, die am meisten durch stilistische Nuancierungen charakterisiert wird. Diese Tendenz könnte sich auch in der Verwendung der Partikeln widerspiegeln. Außerdem scheint es in der Rede der Hauptfigur Unterschiede in der Verwendung derselben MP mit unterschiedlichen Gesprächspartnern zu geben, was für die These spricht, dass MPn ein Mittel sind, Effis Charakterzüge und ihre sprachlichen Gewohnheiten hervorzuheben. Mit dem vorliegenden Beitrag soll geprüft werden, ob MPn ein stilistisches Mittel zur Charakterisierung der Figuren sind und ob es bevorzugte MPn in der Rede der Hauptfigur zu erkennen gibt. Die Untersuchung zielt darauf ab, eine quantitative und qualitative Analyse des Phänomens durchzuführen: Auf der einen Seite soll die Verteilung der MPn im Korpus identifiziert werden, auf der anderen soll untersucht werden, welche MPn Effi benutzt. Um diese These zu prüfen, wird eine Untersuchung der MP-Vorkommen im Roman durchgeführt. Zu diesem Zweck werden einige Dialogpassagen zwischen Effi und anderen Figuren untersucht. Aus der Analyse der untersuchten Dialogpassagen ergibt sich, dass unterschiedliche MPn im Roman verwendet werden und dass diese zur Charakterisierung der Figuren beitragen. Die Analyse der Dialoge zeigt außerdem, dass einige MPn typisch für Effi sind und dass diese Effis Einstellungen anderen Figuren gegenüber hervorheben.

III.1 Vorkommen der MPn im Roman Effi Briest Wie es schon oben beobachtet wurde, ist das Vorkommen von MPn im Roman Effi Briest relativ hoch.29 Schaut man sich die Verteilung der MPn in den Dialogen an, so erkennt man, dass einige MPn, wie z. B. doch und ja, typisch für die Redebeiträge von Effi sind, was bei anderen Figuren nicht der Fall ist.30 In den untersuchten Kapiteln (1, 7, 15, 16, 27, 32, 33, 37) wurden insgesamt Beispiele für sechs MPn (samt MP-Kombinationen) identifiziert. Die Ergebnisse der Verteilung der MPn werden in Tabelle 1 dargestellt: 29 Lopez Sans, Trets d’oralitat en la novella ›Effi Briest‹ de Theodor Fontane i la seva traducció al català i al castellà; Crestani, L’Abtönungspartikel ja nelle traduzioni italiane di ›Effi Briest‹. 30 Schon in Crestani (ebd.) wurde die Beobachtung gemacht, dass die MP ja typisch für Effi ist und dass MPn ein Mittel zur Rolle der Konstruktion des Identitätsprofils der Hauptfigur darstellen.



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Tabelle 1: Verteilung der MPn in der Figurenrede

MPn Figuren Effi Hulda&Hertha Innstetten Herr von Briest Frau von Briest Crampas Wüllersdorf Roswitha Annie

denn / doch /doch denn ei- mal / doch gentlich wohl /doch vielleicht 6x 23x 3x ø 2x 2x ø 5x 1x 6x 1x 3x ø 1x ø 4x ø ø

eigentlich

ja / ja wohl

nur

wohl

1x ø ø ø ø ø ø ø ø

20x 1x 1x 1x ø ø ø 2x ø

1x ø ø ø ø ø ø ø ø

1x ø ø ø ø ø ø ø ø

Die Tabelle zeigt die Häufigkeit der aufgelisteten MPn in der Rede der Figuren des Romans. Die Ergebnisse der Analyse bestätigen die hohe Frequenz der MP ja für Effis Rede. In den untersuchten Kapiteln benutzt aber die Hauptfigur neben ja auch die MP doch, die in diesen Teilen sogar viel häufiger als ja ist (mit 23 Vorkommen). Auch die MP denn zeigt im Vergleich zu anderen MPn ein relativ hohes Vorkommen mit insgesamt 6 Belegen. Für die anderen Figuren des Romans ist keine besondere Regelmäßigkeit zu erkennen. Interessant ist aber, dass die militärischen Figuren des Romans, d. h. Innstetten, Crampas und Wüllersdorf, nur wenige MPn benutzen. Für diese Figuren sind nur seltene Beispiele für denn, doch und ja zu finden.

III.1.1 Zwischenfazit Die Analyse des Vorkommens der MPn in der Figurenrede im Roman hat die hohe Frequenz der MPn ja und doch in der Rede der Hauptfigur im Vergleich zu anderen Figuren bestätigt. Dieser Unterschied in der Verteilung der MPn kann durch die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Figuren erklärt werden. Mit der Verwendung der MPn drückt Effi ihre Gefühle und persönlichen Einstellungen aus. Dies stellt sie den männlichen und militärischen Figuren des Romans gegenüber, die im Gegensatz zu ihr nur wenige oder gar keine MPn benutzten. Dieser Mangel an MPn bei solchen Figuren könnte durch den männlichen Ehrenkodex der preußischen Gesellschaft des 19.  Jahrhunderts erklärt werden. Die MPn sind ein Modalitätsmittel, mit dem der Sprecher

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u. a. seine eigenen Gefühle äußern kann. Die Äußerung von Gefühlen kann als inkompatibel mit der militärischen Disziplin der Zeit verstanden werden. Dies könnte erklären, wieso eine Figur wie Innstetten nur wenige MPn benutzt: Für ihn ist der männliche Ehrenkodex besonders wichtig, deswegen lehnt er die Gefühle ab, die zu diesem nicht passen.31 Das spiegelt sich auch in seiner Sprache und in der Sprache der Tochter Annie wider, die von ihm sehr diszipliniert erzogen wurde: In ihren Redebeiträgen lässt sich auch kein Beispiel für MPn finden. MPn scheinen deshalb eine wichtige Rolle bei der Charakterisierung der Figuren zu spielen. Insbesondere tragen sie dazu bei, die Grenze und die Oppositionen zwischen den Figuren zu bestimmen. Diese Opposition fällt besonders zwischen Effi und den militärischen Figuren des Romans auf: In Effis Redebeiträgen dienen MPn dazu, ihre Gefühle zu äußern. Bei den militärischen Figuren hingegen ist eine nüchterne Sprache zu finden, in der nur seltene Beispiele von MPn enthalten sind. Diese nüchterne Sprache scheint die Disziplin widerzuspiegeln, die typisch für das militärische Milieu ist.

III.2 Analyse der von Effi meistgebrauchten MPn: ›ja‹ und ›doch‹ Die Analyse der Verteilung der MPn hat bestätigt, dass ja und doch typisch für Effis Rede sind. Zu prüfen ist aber noch, inwiefern diese MPn zur Charakterisierung der Figur Effi beitragen. Dies kann anhand einiger Verwendungen dieser MPn in den Dialogpassagen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern geprüft werden. Die MPn ja und doch weisen eine Bestätigungsfunktion auf. Die MP ja kommt hauptsächlich in Aussagesätzen, Aufforderungssätzen und Ausrufesätzen vor. Ja wird vom Sprecher benutzt, wenn er glaubt, dass ein Sachverhalt richtig und bekannt ist. Eventuell kann ja auch dazu dienen, dem Hörer ein neues Wissen zu unterstellen.32 Die MP doch, die in Aussagesätzen, Aufforderungssätzen, Ausrufesätzen und Wunschsätzen vorkommt, enthält genauso wie ja einen Verweis auf etwas Bekanntes, kann aber auch ein Signal von Korrektur sein, mit dem der Spre-

31 Jeffrey Schneider, Masculinity, Male Friendship, and the Paranoid Logic of Honor in Theodor Fontane’s ›Effi Briest‹. In: The German Quarterly 75/3 (2002), S. 265–281. 32 Vgl. Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, S.  104–109; Bublitz, Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen, S. 95; Helbig, Lexikon deutscher Partikeln, S. 165.



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cher dem Hörer zeigt, dass er seine bisherigen Erwartungen, Annahmen oder sein Verhalten ändern muss.33 Im Folgenden werden einige Beispiele analysiert, in denen die beiden MPn ja und doch im Gespräch zwischen Effi und ihren Freundinnen Hulda und Hertha sowie zwischen Effi und Innstetten vorkommen, mit der Absicht zu zeigen, dass Effi diese MPn unterschiedlich je nach Gesprächspartner benutzt. Beispiele (6) und (7) stammen aus dem ersten Kapitel, in dem Effi sich mit den Freundinnen Hulda und Hertha unterhält. Das erste Beispiel ist die Antwort von Effi auf Huldas Aussage, dass man sein Schicksal nicht versuchen soll:34 (6) Immer Gouvernante; du bist doch die geborne alte Jungfer. (EB, S.9).

In diesem Beispiel kommt die MP doch in einer Aussage vor. Doch wird hier in seiner üblichen Funktion als Verweis auf etwas Bekanntes benutzt. In diesem Fall ist das Element, das Effi schon bekannt ist, Huldas Charakter. In diesem Sinne könnte (6) nicht nur als reine Feststellung, sondern auch als Signal von Korrektur verstanden werden: Huldas Charakter wird nämlich verhindern, dass sie einen Mann findet. Die MP doch könnte deswegen hier als Signal von Tadel verstanden werden.35 Beispiel (7) stammt aus einem Dialog zwischen Effi und Hulda. Thema des Gesprächs sind Frauen, die in der Vergangenheit wegen Untreue von einem Boot aus versenkt worden sind: (7) Hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzählte. (EB, S. 13).

Die MP ja kommt in diesem Beispiel zweimal vor, in beiden Fällen in einer Aussage. Die Funktion von ja ist hier dieselbe für beide Belege. Ja wird benutzt, um ein Wissen zu unterstellen, das dem Hörer schon bekannt sein sollte.36 In diesem Fall sollte sich Hulda an den Inhalt der Unterrichtsstunde erinnern. Die MP ja scheint in diesem Beispiel eine negative Konnotation zu haben, weil sie als eine Art von Tadel verstanden werden kann. 33 Vgl. Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, S. 111–112; Ekkehard König, Detlef Stark et al., Adverbien und Partikeln: ein deutsch-englisches Wörterbuch, Heidelberg 1990, S. 60; Min-Jae Kwon, Modalpartikeln und Satzmodus. Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik der deutschen Modalpartikeln. Dissertation, München 2005, S. 88‒94. 34 Die Beispiele aus dem Roman stammen aus folgender Ausgabe: Theodor Fontane, Effi Briest, Berlin 2018, im Folgenden ›EB‹. 35 Thurmair, Modalpartikeln und ihre Kombinationen, S. 112–113. 36 Ebd., S. 106.

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Die Verwendung der MPn ja und doch in diesen Beispielen zeigt, dass Effi sich in der Lage fühlt, das Verhalten der Freundinnen zu kritisieren und zu tadeln. Was insgesamt daraus hervorgeht, ist eine Art Überlegenheit den Freundinnen gegenüber. Dieser Charakterzug Effis ist aber in dem Gespräch mit Innstetten gar nicht zu erkennen. In (8) und (9) werden zwei weitere Fälle der Verwendung von ja und doch gezeigt. Beide Belege stammen aus Kapitel 7, in dem das neue Leben von Effi im neuen Haus in Kessin erzählt wird. In dem Gespräch mit ihrem Mann versucht sie zu verstehen, ob es in Kessin die Möglichkeit gibt, ein gesellschaftliches Leben zu führen: (8) Um’s Himmels willen Geert, daran habe ich noch gar nicht gedacht, wir sind ja schon über sechs Wochen verheiratet, sechs Wochen und einen Tag. (EB, S. 58).

In (8) kommt ja in einer emphatischen Aussage vor, die fast die Form eines Ausrufs übernimmt. Auch in diesem Fall kommt die MP vor, um auf etwas Bekanntes zu verweisen.37 Genauer betrachtet kann ja als Signal dafür verstanden werden, dass sich Effi plötzlich bewusst wird, dass sie seit sechs Wochen verheiratet sind. Im Gegensatz zu (7), in dem ja eine Art von Tadel und Korrektur zeigte, zeigt die MP hier eher die Begeisterung für diese Feststellung. In zwei Kontexten mit unterschiedlichen Gesprächspartnern scheint ja deshalb zwei verschiedene Funktionen zu haben, die unterschiedliche Aspekte von Effis Charakter betonen: Auf der einen Seite die Überlegenheit den Freundinnen gegenüber, auf der anderen die Begeisterung für das neue Leben mit ihrem Mann. Auch die Verwendung der MP doch in dem Gespräch mit Innstetten weist eine andere Funktion im Vergleich zu (6) auf: (9) Daß hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow, das sehe ich wohl, aber wir müssen doch in dem »guten Kessin«, wie du’s immer nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft haben können. (EB, S. 60).

Die MP doch kommt hier in einem Aussagesatz vor, der jedoch die Funktion einer Frage aufweist, mit der der Sprecher eine Bestätigung erwartet.38 In diesem Fall erwartet Effi, dass es möglich ist, „Umgang und Gesellschaft in Kessin“ zu haben. Beide MPn ja und doch übernehmen in dem Gespräch mit dem Mann andere Funktionen: Die MP ja kommt in Aussagesätzen vor, die die Funktion eines Ausrufs aufweisen und die ihre Lebhaftigkeit und ihre Begeisterung für 37 Ebd., S. 107–109. 38 Ebd., S. 117.



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diese neue Phase ihres Lebens zeigen. Doch wird im Gegensatz dazu verwendet, um nach Bestätigung zu fragen. Die Überlegenheit, die typisch für das Gespräch mit den Freundinnen ist, ist in dem Gespräch mit dem Mann nicht vorhanden.

III.2.1 Zwischenfazit Die Analyse der MPn in Effis Rede hat gezeigt, dass ja und doch typisch für ihre Rede sind. Beide MPn weisen eine Bestätigungsfunktion auf und beweisen, dass Effi insgesamt einen behauptenden Charakter hat. Die Verwendung dieser beiden MPn ist in der Rede der Hauptfigur aber nicht immer dieselbe: In den Gesprächen mit den Freundinnen ist insgesamt eine Art Überlegenheit zu spüren. Mit Hulda und Hertha fühlt sich Effi in der Lage, sie zu kritisieren und zu tadeln. Im Gegensatz dazu werden dieselben MPn im Gespräch mit ihrem Mann unterschiedlich verwendet: Der behauptende Charakter von Effi scheint im Gespräch mit Innstetten gemildert zu sein. Die Behauptungen von Effi ihrem Mann gegenüber zeigen einen emphatischen Charakter oder bitten um eine Bestätigung. Diese besondere Verwendung betont Effis Lebhaftigkeit und Neugier für das neue Leben in Kessin. Die Unterscheidung in der Verwendung der MPn betont die Gegenüberstellung zwischen Effi und anderen Figuren und zeigt die pragmatische Kraft dieser beiden MPn, die je nach Gesprächssituation unterschiedliche Einstellungen der Sprecherin Effi und unterschiedliche Beziehungen zwischen Effi und den unterschiedlichen Adressaten hervorheben können.

III.3 Analyse der Wiedergabe im Italienischen In den ersten Teilen dieses Beitrags wurde geprüft, wie wichtig MPn zur Charakterisierung der Figuren im Roman Effi Briest sind. Dies wurde insbesondere am Beispiel von einigen Belegen in dem Gespräch zwischen Effi und Hulda und Hertha sowie Effi und Innstetten dargestellt. Dabei wurde gezeigt, wie die Verwendung einer MP einige Aspekte Effis Charakter betonen kann. MPn scheinen eine wichtige stilistische Rolle in der originalen Fassung zu spielen. Es ist deswegen an dieser Stelle interessant zu prüfen, ob dieses stilistische Merkmal auch in der italienischen Übersetzung beibehalten wird. Im Folgenden werden die Beispiele aus Kapitel III.2 zusammen mit ihrer Wiedergabe im Italienischen verglichen. Der Text, der für die Analyse gewählt wurde, ist die neueste Übersetzung des Romans von Silvia Bortoli. Die Wie-

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dergaben der untersuchten Beispiele im Italienischen zeigen unterschiedliche Verfahren, mit denen der Satz mit der MP ins Italienische wiedergegeben wird. Die MP ja in den Beispielen (7) und (8) wird im Italienischen unterschiedlich übersetzt: (10) Hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzählte. (EB, S. 13). Qui queste cose non succedono. Ma a Costantinopoli sì, e mi viene in mente proprio adesso che anche tu dovresti saperlo, c’eri anche tu quando il supplente Holzapfel ne ha parlato a lezione di geografia.39 (11) Um’s Himmels willen Geert, daran habe ich noch gar nicht gedacht, wir sind ja schon über sechs Wochen verheiratet, sechs Wochen und einen Tag. (EB, S.58). Per l’amor del cielo, Geert, non ci avevo ancora pensato, siamo sposati da più di sei settimane, sei settimane e un giorno.40

Beispiel (10) enthält zwei Vorkommen der MP ja. Das erste Vorkommen des Aussagesatzes du mußt ja auch davon wissen wird im Italienischen durch den condizionale (Konjunktiv II) dovresti saperlo wiedergegeben. Das Modalverb dovresti steht hier für das deutsche Modalverb müssen, das im Deutschen aber im Indikativ steht. Die Änderung des Modus in der Übersetzung kann als Strategie verstanden werden, die Bedeutung des Modalverbs zusammen mit der Partikel ja wiederzugeben. Genauso wie ja im deutschen Satz vermittelt der condizionale einen Sinn von Tadel und Vorwurf.41 Die zweite Verwendung der MP ja (du bist ja mit dabeigewesen) wird im Gegensatz dazu nicht wiedergegeben. Auch die Wiedergabe von (11) enthält kein Äquivalent für die MP, deswegen geht die Funktion der emphatischen Aussage und damit Effis Begeisterung für diesen Sachverhalt komplett verloren. Die zwei doch-Belege sind nicht einheitlich wiedergegeben: (12) Immer Gouvernante; du bist doch die geborne alte Jungfer. (EB, S.9). Sempre didattica, sei proprio una zitella nata.42 (13) Daß hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow, das sehe ich wohl, aber wir müssen doch in dem »guten Kessin«, wie du’s immer nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft haben können. (EB, S. 60). Che qui sia tutto diverso da Hohen-Cremmen e da Schwantikow lo vedo, ma in questa «buona Kessin», come la chiami sempre tu, sarà pur possibile avere delle relazioni e una vita sociale.43

39 Ebd., S. 11. 40 Ebd., S. 54. 41 Renzi, Salvi et al. (Hrsg.), Grande Grammatica Italiana di Consultazione. Bd. 3, S. 51. 42 Fontane, Effi Briest, S. 7. 43 Ebd., S. 55.



Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede

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In (12) wird die MP durch das Adverb proprio wiedergegeben, das hier eine Verstärkungsfunktion aufweist.44 Das Adverb verweist auf etwas Bekanntes, Wahres und Gültiges für den Sprecher, das aber zur Sprechzeit für den Hörer nicht präsent zu sein scheint. In (13) wird die Partikel doch durch ein epistemisches Futur (sarà possibile) zusammen mit dem Adverb pur übersetzt. Diese Verwendung des Futurs kommt vor, um eine Vermutung zu äußern.45 Diese Bedeutung wird außerdem durch das Adverb pur betont, das auch als Verstärkung einer Vermutung verstanden werden kann. Dieses Adverb wird nämlich benutzt, wenn der Sprecher gute Gründe hat zu glauben, dass ein Sachverhalt richtig ist, auch wenn er das nicht prüfen kann.46 Obwohl proprio und pur grammatisch gesehen als Adverbien einzustufen sind, führt ihre Verwendung in den obengenannten Beispielen zur Vermutung, dass diese beiden Wörter in einigen Kontexten eine andere Funktion übernehmen können. Die Verwendung von proprio und pur in den Beispielen zeigt nämlich nicht die übliche Funktion der entsprechenden Adverbien. Proprio in Beispiel (12) weist nicht die Bedeutung von precisamente auf, die in den Wörterbüchern zu finden ist. Vielmehr scheint proprio hier in Richtung von davvero zu gehen und hat eine Verstärkungsfunktion.47 Auch pur in (13) kann nicht in der Bedeutung von anche oder tuttavia verstanden werden, sondern eher als ein Mittel, mit dessen Hilfe eine Hypothese verstärkt wird.48 Die Verstärkungsfunktion, die diesen Sprachmitteln zugeschrieben werden kann, scheint Ähnlichkeiten mit der Partikelfunktion im Deutschen zu haben. Dabei handelt es sich um eine pragmatische Funktion, die zum Kontext passt und bei der nur wenig von der Bedeutung des ursprünglichen Adverbs zu spüren ist. Etwas Ähnliches ist auch an Lexemen mit MP-Funktion zu erkennen. Fast alle Lexeme, die als MPn eingestuft werden können, können – neben der Modalpartikelfunktion – in anderen Funktionen verwendet werden. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Lexemen werden als Heteroseme bezeichnet. Die Funktion als MPn wird als historisch jünger im Vergleich zu den anderen betrachtet und hat sich durch Prozesse der Grammatikalisierung und Pragmatisierung aus diesen entwickelt.49 Heteroseme weisen 44 Francesco Sabatini und Vittorio Coletti, Dizionario della lingua italiana, Milano 2007, S. 2124. 45 Renzi, Salvi et al (Hrsg.), Grande Grammatica Italiana di Consultazione. Bd. 2, S. 118– 119. 46 Marco Coniglio, Modal Particles in Italian. In: Working Papers in Linguistics 18 (2008), S. 91–129, hier S. 115–118. 47 Sabatini und Coletti, Dizionario della lingua italiana, S. 2124. 48 Ebd., S. 2154–2155. 49 Elke Hentschel, Funktion und Geschichte deutscher Partikeln. Ja, doch, halt und eben, Berlin/Boston 1986.

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syntaktische, prosodische und semantische Unterschiede im Vergleich zu den MPn auf, zeigen aber dieselbe morphologische Form.50 So hat sich die MP doch aus doch als Konjunktion oder Konjunktionaladverb entwickelt und hat sich von diesen entfernt. Es kann deswegen an dieser Stelle angenommen werden, dass ein ähnlicher Prozess auch bei der Entwicklung von proprio und pur als Verstärkungsmittel stattgefunden hat. Eine solche Entwicklung sollte aber mit Hilfe von diachronischen Untersuchungen geprüft und eventuell bestätigt werden. Die Verwendung von Adverbien wie proprio und pur in Kontexten, in denen die Bedeutung als Adverb nicht zutrifft, scheint außerdem für die These zu sprechen, dass das Italienische doch über Lexeme mit Partikelfunktion verfügt. Das würde aber nicht bedeuten, dass das Italienische über Modalpartikeln verfügt. Diese werden nämlich im Rahmen der deutschen Linguistik durch bestimmte Kriterien definiert, die für das Italienische nicht zutreffen (vgl. III.2). Die Verwendung von Lexemen wie pur und proprio zeigt aber, dass einige Lexeme des Italienischen als Partikeln betrachtet werden können. In diesem Fall wären eine Kategorisierung und eine Beschreibung solcher Wörter wünschenswert, was bislang aber ein Desiderat im Rahmen der Italianistik bleibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier untersuchten Belege fast immer ein Äquivalent im Italienischen haben. Dieselbe MP kann aber mit verschiedenen Äquivalenten wiedergegeben werden. Nur einmal wird ja durch den condizionale ausgedrückt. Die zwei Vorkommen von doch zeigen hingegen ein Äquivalent, aber nicht immer dasselbe: Einmal wird die Partikel durch proprio, einmal durch pur zusammen mit dem epistemischen Futur wiedergegeben. Die MPn des Originaltextes werden in diesen Fällen fast immer mit Modalitätsmitteln des Italienischen wiedergegeben. Obwohl Äquivalente in der Übersetzung vorhanden sind, die die Bedeutung der MP wiedergeben, geht die systematische Wiederholung der MPn des deutschen Originals tendenziell verloren, was zu einem stilistischen Verlust führt.

IV. Schlussbemerkungen Die vorliegende Analyse hat sich mit der Rolle der MPn im Roman Effi Briest beschäftigt. In den untersuchten Dialogteilen des Romans wurden zahlreiche Belege für MPn identifiziert. Diese haben sich als ein wichtig stilistisches Mittel erwiesen, um die Figuren zu charakterisieren und voneinander abzugrenzen. 50 Blühdorn, Modalpartikeln und Akzent, S. 275‒285.



Zur Rolle der Modalpartikeln bei der Charakterisierung der Figurenrede

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Durch die Analyse wurde zunächst bestätigt, dass die MPn ja und doch typisch für Effis Rede sind. Die Verwendung dieser MPn erweist sich als typisch für die Hauptfigur und trägt zur Abgrenzung derselben anderen Figuren gegenüber bei, die nur wenige oder gar keine MPn verwenden. Eine genauere Betrachtung der Verwendung der MPn ja und doch hat außerdem hervorgehoben, dass Effi diese MPn mit unterschiedlichen Nuancierungen je nach Gesprächspartner benutzt. Im Gespräch zwischen Effi und den Freundinnen werden die zwei MPn als Signal von Tadel und Vorwurf verwendet und betonen Effis Gefühl der Überlegenheit den Freundinnen gegenüber. Im Gegensatz dazu übernehmen dieselben MPn in dem Gespräch mit ihrem Mann ganz andere Funktionen und erweisen sich als Signal für Effis Begeisterung und Neugier für das neue Leben mit ihrem Mann in Kessin. Die Analyse hat insgesamt gezeigt, dass die MPn eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Figur Effis in Opposition zu anderen Figuren spielen. In diesem Sinne tragen MPn dazu bei, die stilistischen und sprachlichen Grenzen zwischen den Figuren des Romans hervorzuheben. Die Analyse der Belege hat außerdem die Polyfunktionalität dieser MPn unterstrichen: Pragmatisch gesehen weisen ja und doch unterschiedliche Funktionen auf, die je nach Gesprächspartner und Situation variieren. Diese MPn können in diesem Sinne als eine linguistische Besonderheit der Sprache von Effi verstanden werden, die mit ihrem pragmatischen Wert unterschiedliche Charakterzüge und Gefühle Effis in den Mittelpunkt stellt. Dieser Aspekt, der im Originaltext so wichtig ist, scheint in der italienischen Übersetzung insgesamt verloren zu gehen, zumindest aus stilistischer Perspektive. Die Bedeutung der MPn wird zwar im Italienischen wiedergegeben, jedoch nicht immer mit denselben Mitteln des Italienischen. Die Besonderheit der Sprache der Figuren, die der Wiederholung und Verwendung der MPn im Original zu verdanken ist, kann man in der italienischen Übersetzung nicht systematisch wahrnehmen. Die Analyse hat außerdem gezeigt, dass einige Lexeme des Italienischen, die normalerweise als Adverbien betrachtet werden, in einigen Kontexten eine andere Funktion aufweisen können, die der Partikelfunktion sehr nahe ist. Dies würde der These widersprechen, dass die italienische Sprache eine »partikelarme Sprache«51 ist. Es wäre daher wünschenswert, dass zukünftige Untersuchungen diesen Aspekt vertiefen, der sowohl für die Italianistik als auch für die kontrastiven Studien Deutsch-Italienisch von großem Interesse wäre.

51 Weydt, Abtönungspartikeln. Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechungen.

Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung von »Effi Briest« im Hinblick auf ihre Übertragung in italienische Untertitel Sara Corso

Einführung Im vorliegenden Beitrag sollen relevante sprachliche Momente der FassbinderVerfilmung von Effi Briest in Betracht gezogen werden. Der Vergleich zwischen der deutschen Originalversion der filmischen Wiedergabe des Romans und den entsprechenden italienischen Untertiteln soll einige relevante Aspekte von Fontanes Originaltext hervorheben, um Überlegungen insbesondere aus linguistischer, aber auch aus literarischer Sicht zu bieten. Der Fokus der Analyse liegt auf den sprachlichen Ausdrucksformen in den Dialogen der beiden Hauptfiguren des Romans, Effi Briest und Geert von Innstetten, wie auch in den Erzählpartien um das gegensätzliche Ehepaar. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die vom Autor verwendeten sprachlichen Mittel einerseits der Charakterisierung der beiden Protagonisten, andererseits der symbolischen Darstellung sozio-kultureller Werte und Vorschriften der preußischen Gesellschaft des 19.  Jahrhunderts dienen, die durch Effis und Innstettens Charaktere widergespiegelt werden. Um nachvollziehen zu können, wie diese sprachlichen Mittel aus dem deutschen Originaltext in die italienischen Untertitel übertragen wurden, sollen die angewandten Übersetzungsstrategien näher betrachtet werden, mit dem Ziel, konstruktive Denkanstöße im Bereich der Übersetzungswissenschaft zu liefern. Die audiovisuelle Übertragung stellt einen interessanten Gegenstand für die Übersetzungsforschung dar. Im Gegensatz zur literarischen Übersetzung unterliegt sie eigenen formalen Normen und technischen Zwängen, die einen bedeutenden Einfluss auf die Wahl der Übersetzungsstrategien und allgemein auf die Erstellung des Zieltextes ausüben.1

1

Vgl. Mariagrazia De Meo, La traduzione audiovisiva. In: Bruna Di Sabato und Antonio Perri (Hrsg.), I confini della traduzione, Padova 2014, S. 93–113, hier S. 102.

https://doi.org/10.1515/9783110735710-030

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Sara Corso

In diesem Beitrag wird somit ein Text betrachtet, der auf zwei parallelen Übersetzungsebenen hergestellt wurde: Die eine betrifft den Wechsel von der Ausgangssprache (Deutsch) in die Zielsprache (Italienisch), die andere stellt einen ›semiotischen Transfer‹ dar, der einem Übergang von einem Kommunikationskanal zu einem anderen entspricht. Das Ziel der beiden Analysen, bzw. einer intersemiotischen einerseits und einer sprachlich-kontrastiven anderseits, ist zweifach. Sie ermöglichen, wie bereits erwähnt, die Charakterisierung der Polaritätsprofile der zwei Hauptfiguren und führen gleichzeitig zur Thematisierung einer der grundlegenden Eigenschaften von Fontanes Werken, und zwar der Fähigkeit, durch Anwendung impliziten Sprachmaterials sowie eines metaphorischen Wortschatzes Bedeutungen zu vermitteln. Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: Zuerst sollen die Eigenschaften der Fassbinder-Verfilmung kurz erläutert werden, indem auf die wichtigsten im Film verwendeten Kommunikationskanäle eingegangen wird, die wichtige Motive der Geschichte vermitteln und betonen (Abschnitt I). Daraufhin wird in die audiovisuelle Übersetzung und in die entsprechenden Übersetzungsstrategien eingeführt. Anschließend wird eine semantische Kategorisierung der Wortfelder, die für die Eigenschaften der beiden Hauptfiguren verwendet wurden, vorgenommen (Abschnitt II). Schließlich werden in der empirischen Analyse Kondensations-, Antizipations-, Expansions- und Auslassungsstrategien mit Bezug auf bestimmte semantische Felder näher betrachtet (Abschnitt III). Die Schlussfolgerungen fassen die wichtigsten Übersetzungslösungen und deren Auswirkungen auf den Zieltext zusammen (Abschnitt IV).

I. Fassbinders Verfilmung von »Effi Briest« Eine erste auffallende Eigenschaft von Fassbinders Film liegt darin, dass sein Text das Original bis auf einige Auslassungen getreu wiedergibt2 und daher eine wertvolle Vergleichsebene für die Analyse der hier in Betracht gezogenen sprachlichen Mittel bietet. Nun stellt sich die Frage, ob und welchen möglichen Mehrwert der Film hat. Die Antwort liegt auf der Hand: Der mögliche Mehrwert liegt im Einfluss der im Film beteiligten Kommunikationsmittel, wie z. B. des Erzählerkommentars, der Bildkulisse und der Musik. Im Gegensatz zur Literatur, die 2

Cornelia Groebner, Das verfilmte Buch – ein zu weites Feld? Filmische Adaptionen Theodor Fontanes ›Effi Briest‹, Salzburg 2005, S. 141–142.



Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung

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monosemiotisch ist, da sie sich auf nur einen Kommunikationskanal – den schriftlichen – beschränkt, ist der Film ein polysemiotischer Text, in dem bestimmte Bedeutungen gleichzeitig auf mehreren semiotischen Ebenen vermittelt werden. Genauso wie im Roman zeigt sich in Fassbinders Film eine Dominanz des Dialogs, die u. a. durch die Verwendung einer ›Off-Stimme‹, eines Erzählerkommentars, unterbrochen wird. Fassbinder selbst fungiert als Erzähler, indem er seine eigene Stimme verwendet und dabei vollständige Passagen direkt aus Fontanes Roman vorliest. Es bilden sich gerade hier interessante Diskrepanzen zwischen dem, was der Zuschauer sieht, und dem, was er zu hören bekommt. Der Erzähler sagt uns z. B., dass Effi sich, nach einer unheimlichen Nacht voller furchteinflößender Träume vom Chinesen, aus Verzweiflung an Innstettens Hals wirft. Doch dies wird im Film visuell nicht dargestellt. Während die Off-Stimme dies mitteilt, werden einfach die Diener des Hauses in der Küche gezeigt. Somit wird ein eigentlich dramatischer Moment vom Bildschirm ausgeblendet und die emotionale Ladung der Szene abgeschwächt, indem diese Aktionsspannung durch die Banalität des Alltags ersetzt wird. Dies schafft zudem einen Abstand zwischen Handlung und Rezipient, der somit an einer Identifikation mit den Figuren gehindert wird. Diese emotionslose Erzählung Fassbinders zielt darauf ab, den Zuschauer einen distanzierten Blick behalten zu lassen, der es ihm ermöglicht, die Handlung objektiv zu beurteilen.3 Außer der Erzählerstimme werden in der Verfilmung sogenannte ›Inserts‹ eingeblendet, die zur Strukturierung der Erzählung beitragen und bestimmte Sätze und Motive des Romans betonen. Durch diese mündlichen wie schriftlichen Erzähl- und Kommentarpassagen schafft Fassbinder eine Abwechslung zwischen Dialog und Erzählung, die der Struktur von Fontanes Roman ähnelt. Was die nicht verbale akustische Ebene angeht, wird gewöhnlich während der Dialoge jeglicher Musikhintergrund vermieden. Die Musik wird dagegen eher in Übergangspassagen verwendet, insbesondere beim Übergang von einer emblematischen Szene zu den Inserts: Die Musik beginnt erst dann, wenn die Figur ihren letzten Satz ausgesprochen hat. Durch Anwendung der Überblendungstechnik löst sich sodann die Szene auf, um das Insert auf einem weißen Bildschirm mit einem Romanzitat in gotischen Schriftzeichen zu zeigen. Diese Weißblenden bringen Leerstellen hervor, die eine Pause in der Erzählung erzeugen. Sie werden verwendet, als wären sie Seiten eines Buches, die umgeblättert werden und somit zu einem neuen Kapitel führen.4 Damit versucht 3

Peter K. Tyson, Distancing Techniques in Fassbinder’s ›Effi Briest‹. In: Neophilologus 94 (2010), S. 499–508, hier S. 502–504. 4 Ebd., S. 504.

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Fassbinder den Leseprozess des Romans ebenfalls durch den visuellen Kanal nachzubilden und seine Verfilmung als ›lesbares‹ und nicht nur audiovisuelles Filmprodukt zu gestalten.

II. Die Untertitelung als Form audiovisueller Übersetzung Mit dem Begriff ›audiovisuelle Übersetzung‹ werden Formen der sprachlichen Übertragung bezeichnet, die sich mit multimedialen Texten befassen.5 Bei diesen werden die Informationen durch mehrere interagierende, semiotisch unterscheidbare Kanäle vermittelt.6 Aufgrund dieser mannigfaltigen semiotischen Natur wurde die audiovisuelle Sprachübertragung lange nicht als Übersetzungsform in Betracht gezogen und erst ab den 1990er Jahren zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung.7 Die audiovisuelle Sprachübertragung schließt sowohl bekannte Formen wie die Synchronisation und die Untertitelung als auch weitere Arten von Übersetzungstechniken ein. Diese sind z.  B. das sogenannte ›Voice-Over‹ oder ›Half-Dubbing‹ (oft bei Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen verwendet): Der Originalton ist im Hintergrund noch hörbar, während die Übersetzung um einige Sekunden verzögert und gleichzeitig in ihrer Laustärke etwas erhöht wird; Audiobeschreibungen für Blinde; Untertitel für Gehörlose; Übertitel und Amateur-Synchronisations- und Untertitelungstechniken, die als ›Fandubs‹ und ›Fansubs‹ bekannt sind.8 Was die Synchronisation angeht, ist diese ein interlinguistischer Übersetzungsvorgang, durch den die Illusion hervorgerufen wird, dass die Schauspieler in der übersetzten Sprache sprechen.9 In 5 Hier wird Gottliebs Definition für ›Text‹ in Betracht gezogen, nach der »even exclusively non-verbal communication may deserve the label ›text‹, thus accommodating phenomena as music and graphics, as well as sign language (for the deaf ) and messages in Braille (for the blind).« (Henrik Gottlieb, Texts, Translation and Subtitling in Theory and in Denmark. In: Henrik Holmboe und Signe Isager [Hrsg.], Translators and Translations, Aarhus 2001, S. 149–192, hier S. 149.) 6 Charles Barone, Silvia Bruti et al. (Hrsg.), Dallo stilo allo schermo, Pisa 2011, S. 146. 7 Die erste Tagung über Synchronisation und Untertitelung als Übersetzungsverfahren wurde 1987 von der European Broadcasting Union (EBU) in Stockholm veranstaltet. Vgl. De Meo, La traduzione audiovisiva, S. 93. 8 Ebd., S. 92–98; Ismini Karantzi, Audiovisuelle Übersetzung und ihre Grenzen: Richtlinien, Normen und praktische Anwendungen. Ein Erfahrungsbericht. In: Sigmund Kvam, Ilaria Meloni et al. (Hrsg.), Spielräume der Translation: Dolmetschen und Übersetzen in Theorie und Praxis, Münster/New York 2018, S. 125–141, hier S. 127–128. 9 Luis Pérez-González, Audiovisual Translation. In: Mona Baker und Gabriela Saldanha (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Translaton Studies, London/New York 1998, S. 13– 20, hier S. 16–19.



Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung

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vielen Ländern Mitteleuropas wie Deutschland, Italien und Spanien hat sich aufgrund der nationalistischen Politiken des 20. Jahrhunderts die Synchronisation als Hauptmethode durchgesetzt. Die Technik der Untertitelung dagegen hat sich aufgrund der geringen Kosten und Bearbeitungszeiten in kleinen Ländern wie Dänemark, den Niederlanden, Slowenien und Luxemburg entwickelt, deren Landessprachen weltweit weniger verbreitet sind.10 Untertitel sind Texteinfügungen, die synchron mit dem Filmablauf am unteren Bildrand gezeigt werden. Es wird üblicherweise zwischen intra- und interlingualer Untertitelung unterschieden. Bei der ersten Form findet eine semiotische, aber keine sprachliche Übertragung statt, da Ausgangssprache und Zielsprache identisch sind.11 Die interlinguale Untertitelung dagegen findet bei Beteiligung zweier oder mehrerer Sprachen statt.12 Bei der interlingualen Untertitelung werden die Dialoge nicht nur in eine andere Sprache übersetzt, sondern gleichzeitig vom mündlichen in den schriftlichen Kommunikationskanal übertragen. Die Untertitelung wird daher als Ergebnis eines »diasemiotischen Übersetzungsvorgangs« bezeichnet.13 Die Untertitelung ist Teil eines audiovisuellen Produkts, in dem mehrere Kommunikationskanäle an der Informationsvermittlung beteiligt sind: der verbale (Dialog, Prosodie, Hintergrundstimmen) und der nicht verbale (Musik, Geräusche) Kanal der Akustik, der verbal-visuelle (Schriftzeichen auf dem Bildschirm) und der nicht verbal-visuelle (Bilder, Aufnahmen, Körpersprache usw.) Kanal.14 Dank dieses polysemiotischen Aufbaus werden manche Elemente bereits über einen dieser Kanäle übertragen und brauchen somit nicht schriftlich expliziert zu werden. Es wird allgemein angenommen, dass die Verarbeitung von Informationen aus gleichzeitig anwesenden und zusammenwirkenden Kommunikationskanälen den Verständnisprozess eines untertitelten Films verzögert. Nach einigen Studien, die sich mit den Augenbewegungen (Eye-Tracking) der Filmzuschau10 Vgl. Martine Danan, Dubbing as an Expression of Nationalism. In: Meta 36/4 (1991), S. 606–614, hier S. 611. 11 Obwohl intralinguale Untertitel sich ursprünglich an gehörlose Zuschauer richten, wurden sie innerhalb der jüngeren Sprachdidaktik und Forschung im Bereich des Fremdsprachenlernens als Unterstützung für den Spracherwerb genützt. Dazu vgl. Claudia Buffagni und Beatrice Garzelli (Hrsg.), Film Translation from East to West. Dubbing, Subtitling and Didactic Practice, Frankfurt am Main/Berlin et al. 2012. 12 Annamaria Caimi, Cinema: paradiso delle lingue. I sottotitoli nell’apprendimento linguistico, Roma 2002, S. 26. 13 Gottlieb Henrik, Subtitling. In: Mona Baker (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Translation Studies, London/New York 2000, S. 244–248, hier S. 247; Pérez-González, Audiovisual Translation, S. 13–14. 14 Antonella Nardi, Sprachlich-textuelle Faktoren im Untertitelungsprozess. Ein Modell zur Übersetzerausbildung Deutsch-Italienisch. In: trans-kom 9/1 (2016), S. 34–57.

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er befassten, wurde festgestellt, dass die Untertitel die Aufmerksamkeit von Bild und Ton ablenken können.15 Um dies zu vermeiden, soll der auf dem Bildschirm wahrnehmbare Text so kurz wie möglich und sprachlich möglichst unmittelbar sein.16 Die jüngste Forschung hat tatsächlich beobachtet, dass die Lesegeschwindigkeit der Untertitel durch Verwendung wiederkehrender und dem Zuschauer bekannter sprachlicher Elemente (z. B. Redewendungen, häufig verwendete Wörter, syntaktische Konstruktionen aus der Umgangssprache) gefördert wird.17 Darüber hinaus ist das Untertitelungsverfahren strikt an Raum- und Zeitkonventionen gebunden. Gemäß den üblichen Standardnormen sollte jeder Untertitel nicht mehr als zwei Zeilen umfassen und höchstens 35 bis 39 Buchstaben enthalten. Außerdem ist für Untertitel eine Einblenddauer auf dem Bildschirm von mindestens einer bis maximal sechs Sekunden vorgesehen. Die Einblenddauer ist jedoch von mehreren Faktoren wie z.  B. der Länge der Szene und der Geschwindigkeit der mündlichen Dialoge abhängig.18 Diese räumlichen und zeitlichen Normen dienen, zusammen mit den oben erwähnten sprachlichen Elementen, zur schnellen Erfassung des Untertitels, ohne den Ton- und Bildinhalt des Films zu verpassen. Zusammenfassend zielt das Untertitelungsverfahren auf eine schnelle Verarbeitung ab, um seine Informations- und Unterstützungsfunktion erfolgreich zu erfüllen. Eine derartige Textherstellung bedarf der Auswahl bestimmter sprachlicher Mittel, die durch Untertitelungsstrategien realisiert werden.

II.1. Untertitelungsstrategien Als partieller und verkürzter Text soll der Untertitel ein schnelles Erfassen der sprachlichen Inhalte sowie der Informationen, die von den anderen Kommunikationskanälen vermittelt werden, ermöglichen. Die Textverkürzungsstrategien sind daher die wichtigsten, die im Untertitelungsverfahren angewendet 15 Vgl. Géry d’Ydewalle, Johan Van Rensbergen et al., Reading a Message When the Same Message is Available Auditorily in Another Language: The Case of Subtitling. In: Kevin J. O’Regan und Ariane Lévy-Schoen (Hrsg.), Eye Movements: From Psychology to Cognition, Amsterdam 1987, S. 313–321. 16 Elisa Perego, Un nuovo approccio integrato per la valutazione empirica della traduzione audiovisiva. In: Rivista internazionale di tecnica della traduzione – International Journal of Translation 16 (2014), S. 189–206, hier S. 192. 17 Steven Moran, The Effect of Linguistic Variation on Subtitle Variation. In: Elisa Perego (Hrsg.), Eye Tracking in Audiovisual Translation, Roma 2012, S. 183–224. 18 Eglantine Devos, Prozesse der Film-Untertitelung gezeigt an einem deutsch-französischen Beispiel, Berlin 2009 (http://linguapolis.hu-berlin.de/germanopolis/ff240707/1722. html, zuletzt aufgerufen am 15.11.2020); De Meo, La traduzione audiovisiva, S. 104.



Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung

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werden, um den Ausgangstext synthetisch wiederzugeben. Die Untertitelungsstrategien wurden ursprünglich von Henrik Gottlieb19 beschrieben, in dessen Studien sich jedoch zeigte, dass die Übertragung vom Originalton zu den schriftlichen Untertiteln nicht ausschließlich auf Abkürzungen des Originaltextes beschränkt ist, sondern weitere Vorgehensweisen vorsieht. Die im vorliegenden Beitrag betrachteten Untertitelungsstrategien können folgendermaßen zusammengefasst werden: a) Kondensation: Damit ist die Technik gemeint, eine Äußerung des Originaltextes synthetisch wiederzugeben, ohne seinen allgemeinen Kommunikationsinhalt zu ändern, z. B. durch Verschmelzung von Adjektiven und Substantiven, durch verbale Ellipsen usw. b) Antizipation und/oder Verschiebung: Bestimmte syntaktische Elemente kommen im Vergleich zum Originaltext in einer anderen Reihenfolge vor, um den Informationsfokus hervorzuheben und die pragmatische Valenz der Äußerung wiederzugeben. c) Omission/Auslassung: Diese Strategie sieht die Auslassung redundanter Elemente vor, die bereits über den Kontext oder das Zusammenwirken der anderen Kommunikationselemente nachvollziehbar sind. d) Eine weitere Strategie stellt die sogenannte Expansion dar, die dem Verkürzungsprinzip des Untertitelungsverfahren entgegengesetzt ist. Die Expansion besteht darin, Lexeme oder andere sprachliche Elemente durch eine höhere Anzahl von Einheiten zu übertragen. Im Allgemeinen zielt diese Strategie darauf ab, zusätzliche Informationen über komplexe Begriffe oder kulturgebundene Wörter zu vermitteln, die in der Zielsprache keine 1:1-Übersetzung finden.

II.2. Charakteristika der Hauptfiguren des Romans nach semantischen Feldern Im Folgenden soll eine allgemeine Kategorisierung der relevantesten Charakteristika der beiden Hauptfiguren des Romans vorgeschlagen werden. Die menschlichen Eigenschaften und Werte, die Effi Briest und Geert von Innstetten verkörpern, wurden für die vorliegende Arbeit in drei semantische Felder eingeordnet und dementsprechend auf sprachwissenschaftlicher Ebene untersucht. Im Laufe der Verfilmung nehmen die spezifischen Charakteristi19 Henrik Gottlieb, Subtitling – a New University Discipline. In: Cay Dollerup und Anne Loddegard (Hrsg.), Teaching Translation and Interpreting. Papers From the First Language International Conference, Amsterdam/Philadelphia 1992, S. 161–170, hier S. 166–168.

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ka nach und nach durch das Wortmaterial in den Monologen, Dialogen und Erzählkommentaren Gestalt an. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die bestimmte Werte sowie die allgemeine Weltanschauung der preußischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Durch die vorliegende Analyse soll u. a. die implizite Sprache Fontanes – und dadurch Fassbinders – beobachtet werden: Die Eigenschaften der Hauptfiguren von Effi Briest sowie die Werte, die dadurch symbolisiert werden, werden oft durch ein figuratives, metaphorisches Wortmaterial dargestellt. Wie in Tabelle 1 ersichtlich, können beide Protagonisten hinsichtlich ihrer Hauptcharakteristika in drei semantische Makrokategorien eingeteilt werden. Tabelle 1: Effis und Innstettens Eigenschaften nach semantischen Kategorien

Innstetten Effi a. Der geborene Pädagoge oder Erzieher durch Kunst d. Das jugendliche Geschöpf und Spuk b. Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas e. Das Aparte c. Die Gefühlskälte f. Die kleine Frau

Für die Figur Innstetten wurden folgende semantische Felder betrachtet: a. Der geborene Pädagoge oder Erzieher durch Kunst und Spuk Diese Kategorie geht vor allem auf Innstettens gekünsteltes Verhalten ein, mit dem er versucht, sein Leben und dasjenige der Menschen, die dazugehören, zu beeinflussen und zu dominieren. Dies erfolgt meistens durch Angstmachen und psychologische Bedrohungen. Innstetten ist somit ein ›rechnender Arrangeur‹, der Effis tägliches Leben sowie ihr gesamtes Lebensumfeld gestaltet. b. Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas Die Vorschriften und Konventionen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts spiegeln sich in Innstettens Benehmen wider. Innstettens militärische Erziehung und starre Befolgung aller entsprechenden Vorschriften haben als Ergebnis eine Einstellung, die wenig Flexibilität, Sensibilität und menschliche Gefühle zulässt. c. Gefühlskälte Aufgrund der strengen Befolgung der gesellschaftlichen Regeln hat Innstetten eine gewisse Härte entwickelt, die sich in einer scheinbaren Gefühlskälte und Gefühlsarmut ausdrückt. Diese Eigenschaft dient erneut zur Darstellung von Innstetten als sehr steifer Mensch.



Die sprachliche Darstellung von Polaritätsprofilen in Fassbinders Verfilmung

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Für die Figur Effi sind die folgenden semantischen Felder betrachtet worden: d. Das jugendliche Geschöpf Effi wird zum wilden und verspielten Naturkind stilisiert, dadurch in ein enges Verhältnis zur Natur gestellt und in der Dimension der Jugend dargestellt. e. Das Aparte Effi zeigt von Anfang an eine Vorliebe für exotische Gegenstände. Das Aparte verkörpert einerseits Effis kindliche Phantasie und ihre Vorliebe für alles, was reizvoll und ästhetisch ansprechend ist. Andererseits stellt das Aparte die unheimlichen Eigenschaften und unkonventionellen Phantasien dar, die gegen die aristokratischen Normen verstoßen. e. Die kleine Frau Effi wird oft als ›kleine Frau‹ oder ›kleine Person‹ beschrieben. Die damit angedeutete Fokussierung auf Effi als zu wenig eigenbestimmte Frau wird zwar teilweise konterkariert durch selbstbewusste Momente. Im Gegensatz zu Innstetten zeigt sich Effi jedoch als weibliche Figur, die sich passiv von den patriarchalischen Gesellschaftsvorschriften gestalten lässt. Wie die oben erwähnten semantischen Makrokategorien zeigen, stellen Innstetten und Effi zwei Polaritätsprofile dar, die durch bestimmte Motive und entsprechende sprachliche Mittel realisiert werden. Die folgende empirische Analyse soll diese nachvollziehen und nachweisen, ob und inwieweit die entsprechenden semantischen Felder in den italienischen Untertiteln beibehalten werden. Dabei soll hervorgehoben werden, wie für jede Eigenschaft der beiden Figuren stets dieselben Schlüsselwörter und ähnliche Phrasen verwendet werden, unabhängig davon, ob die Hauptfiguren über sich selbst sprechen oder ob ihre Charakterisierung anhand von Dialogen und Erzählpassagen stattfindet. Aufgrund dieser Überlegungen soll in allen Beispielen der Sprecher spezifiziert werden.

III. Kondensations- und Antizipationsstrategien In diesem Abschnitt werden Beispiele analysiert, die Kondensations- und Antizipationsstrategien aufweisen. Dazu wurden drei semantische Felder ausgewählt: »Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« mit Bezug auf Innstetten sowie »Das jugendliche Geschöpf« und »Die kleine Frau« mit Bezug auf Effi.

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III.1. III.1.1. Innstetten: »Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« Tabelle 2 weist Beispiele von deutschen Nomina (1) und einer Nominalphrase (2) auf. Tabelle 2: Beispiele aus der semantischen Kategorie »Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas«

Originaltext der Verfilmung Untertitel Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas (1) Innstetten: 1. Aber im Zusammenleben mit den a. Tuttavia, nell’umana convivenza si è Menschen definito 2. hat sich ein Etwas gebildet, das nun b. un codice preciso, in base al quale ci mal da siamo 3. ist und nach dessen Paragraphen wir c. abituati pigramente a giudicare sempre uns tutto. 4. gewöhnt haben, alles zu beurteilen,

d. Gli altri e noi stessi.

5. die andern und uns selbst. (2) Innstetten: 1. Aber jenes, wenn Sie wollen, uns 2.  tyrannisierende was,

a. Ma se vuole è la tirannide di quel codice

Gesellschafts-Et- b. sociale che non si occupa di charme né

3. das fragt nicht nach Scharm und nicht

c. d’amore e non contempla prescrizioni.

4. nach Liebe und nicht nach Verjährung.

In Beispiel 1 werden die Nomina ›Etwas‹ (Bsp. 1, Zeile 2) und ›Paragraphen‹ (Zeile 3) in dem italienischen Wort ›codice‹ (Zeile b) (›Kodex‹) kondensiert. Die Wahl dieser Übersetzung stellt auch ein Beispiel von Antizipation dar, da die Bedeutung des italienischen ›codice‹ zum Teil das folgende deutsche Nomen ›Paragraphen‹ antizipiert. Außerdem stellt ›codice‹ eine simplifizierte Übersetzung für das metaphorische Nomen ›Etwas‹ dar. Die Bedeutung dieses



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Wortes wird im weiteren Verlauf des Monologs verdeutlicht (Bsp. 2): Damit bezieht sich Innstetten auf die strenge Kontrolle, die die Gesellschaft durch Konventionen und Normen über das Individuum ausübt. Im Duden Wörterbuch wird das Substantiv ›Etwas‹ u. a. als »[n]icht näher bestimmtes Wesen oder Ding«, im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) als »[e] in nicht näher Bestimmtes« und »[b]esondere, schwer zu beschreibende Eigenschaft« beschrieben.20 Somit stellt Fontane das Gesellschaftssystem als eine ungreifbare, unheimliche Entität dar, die von den Menschen als etwas Unbestimmtes und doch furchtbar Mächtiges empfunden wird. Derartige semantische Konnotationen werden jedoch durch die Übersetzung ›codice‹ nicht in die italienischen Untertitel übertragen. Die Antizipation kann jedoch auch durch syntaktische Konstrukte erfolgen. Die Nominalphrase in Beispiel 2 wird im Italienischen durch zwei Vorgänge ausgegliedert: durch Substantivierung (›tirannide‹) des deutschen Adjektivs ›tyrannisierend‹ (Bsp. 2, Zeile 2) und durch Bildung eines expliziten Spaltsatzes (›frase scissa esplicita‹). Italienische Spaltsätze kommen sowohl in der schriftlichen wie in der mündlichen Sprache vor. Insbesondere werden sie aufgrund pragmatischer Gründe, die darauf zielen, bestimmte Elemente innerhalb des Satzes hervorzuheben, in der Umgangssprache verwendet und weisen, wie in Bsp. 2 ersichtlich, eine nicht kanonische Reihenfolge der Satzglieder auf. Italienische Spaltsätze sehen die Teilung eines einfachen SVO-Hauptsatzes vor: Der erste Teil wird durch das Kopulaverb ›sein‹ eingeführt, dem das gespaltene und somit isolierte Element folgt. Dieses Element wird folglich durch das Relativpronomen ›che‹ wiederaufgenommen.21 In Bsp. 2 wird durch diese syntaktische Konstruktion auf die italienische Nominalphrase ›la tirannide di quel codice sociale‹ fokussiert und somit auf die Konnotation, die im Originaltext den gesellschaftlichen Normen zugeschrieben wird. Zusammenfassend ermöglicht die Anwendung der Kondensationsstrategie eine signifikante Reduzierung des übersetzten Textes sowie die Hervorhebung

20 Duden, Etwas, https://www.duden.de/node/43037/revision/43066, zuletzt aufgerufen am 15.11.2020; DWDS, Etwas, https://www.dwds.de/wb/Etwas, zuletzt aufgerufen am 15.11.2020. 21 Vgl. Gaetano Berruto, Per una caratterizzazione del parlato: l’italiano ha un’altra grammatica? In: Günter Holtus und Edgar Radtke (Hrsg.), Gesprochenes Italienisch in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1985, S.  120–153, hier S.  153; Lorenzo Renzi, Giampaolo Salvi et al. (Hrsg.), Grande grammatica italiana di consultazione. Bd. 1: La frase, i sintagmi nominale e preposizionale, Bologna 2001, S.  208–213; Stefania Gavazzi, La frase scissa. Un costrutto marcato nell’insegnamento dell’italiano a stranieri. In: Revista Italiano UERJ 3/1 (2012), S. 8–35, hier S. 1–2.

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bestimmter Informationen durch typische Konstrukte aus der Umgangssprache.22

III.1.2. Effi: »Das jugendliche Geschöpf« und »Die kleine Frau« In Tabelle 3 werden Nominalphrasen aufgelistet, die innerhalb zweier semantischer Felder mit Bezug auf Effi vorkommen. Tabelle 3: Beispiele aus den semantischen Kategorien »Das jugendliche Geschöpf« und »Die kleine Frau«

Originaltext der Verfilmung Das jugendliche Geschöpf (4) Erzählerstimme: (4)

Untertitel

1. Frau von Briest aber […] warf einen a. Ma la signora Briest […]. Lanciò uno Blick sguardo 2. auf das jugendlich reizende Ge- b. all’incantevole creatura […] schöpf […] Die kleine Frau (5) (5) Effis Mutter: 1. »Du bist eine phantastische kleine

«Sei una creatura fantastica»

2.  Person«

Beispiele 4 und 5 weisen Nominalphrasen auf, die ebenfalls durch Kondensation ins Italienische übertragen werden. Doch im Gegensatz zur Übersetzung der Nominalklammer in Bsp. 1 entfaltet sich die Kondensationsstrategie hier nicht syntaktisch, sondern lexikalisch. In den genannten Beispielen werden das Substantiv und das erste der beiden Adjektive verbunden und substantiviert. Die deutsche Version ›das jugendlich reizende Geschöpf‹ (Bsp. 4, Zeile 2) z. B. wird zur ›incantevole creatura‹ (Zeile b), da das Adjektiv ›jugendlich‹ und das Nomen ›Geschöpf‹ im italienischen Nomen ›creatura‹ kondensiert werden. Effi wird innerhalb des Romans sowie in der entsprechenden Verfilmung oft als ›Geschöpf‹ beschrieben. Im Duden Wörterbuch sowie im DWDS wird ›Geschöpf‹ als »Lebewesen« und »Geschöpf Gottes«, als Person mit abwertender Konnotation (»ein armes, trauriges Geschöpf«) sowie als »künstlich 22 Fabio Rossi, Tratti pragmatici e prosodici della dislocazione a destra nel parlato spontaneo, Firenze 2000; Monica Berretta, I pronomi clitici nell’italiano parlato. In: Holtus und Radtke (Hrsg.), Gesprochenes Italienisch in Geschichte und Gegenwart, S. 185–224.



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erschaffene Gestalt« beschrieben.23 Im DWDS-Korpus zeigt sich außerdem, dass ›Geschöpf‹ üblicherweise mit bestimmten Adjektiven verbunden ist, wie z. B. »bemitleidenswert«, »willenlos, »liebenswert«, »zart« und »reizend«.24 All diese Angaben stellen sozusagen die Figur der unterworfenen Frau der preußischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dar, die im Roman durch Effi verkörpert wird. Obwohl ›creatura‹ dieselben Konnotationen wie ›Geschöpf‹ aufweist, kann das italienische Nomen insgesamt als erweitert betrachtet werden, da es gleichzeitig mit der Dimension der Kindheit verbunden ist und somit die Bedeutung von »Kind oder sehr kleines Kind« (»bambino, o figlio in tenera età«) beinhaltet.25 Die Auslassung des Adjektivs ›jugendlich‹ in den italienischen Untertiteln in Bsp. 4 ist dadurch eine nur scheinbare Omission, da das italienische Wort ›creatura‹ im Gegensatz zu ›Geschöpf‹ diese zweite Bedeutung in sich einschließt. Außerdem wird in Bsp. 5 das Wort ›creatura‹ erneut verwendet, um das deutsche ›kleine Person‹ zu übersetzen. Es ist anzunehmen, dass die Wiedergabe dieses Schlüsselwortes – das der Zuschauer mehrmals zu lesen bekommt und mit dem er daher schon vertraut ist – darauf zielt, die Verarbeitung des Textes sowie die Lesegeschwindigkeit des Zuschauers zu fördern.

III.2. Expansionsstrategien III.2.1. »Erzieher durch Spuk und Kunst« und »Das Aparte« In dem vorliegenden Abschnitt soll der Wortschatz betrachtet werden, der innerhalb der semantischen Kategorien »Erzieher durch Spuk und Kunst« und »Das Aparte« vorkommt.

23 Duden, Geschöpf, https://www.duden.de/rechtschreibung/Geschoepf, zuletzt aufgerufen am 26.07.2020. 24 DWDS, Geschöpf, https://www.dwds.de/wb/Gesch%C3%B6pf, zuletzt aufgerufen am 26.07.2020. 25 Treccani, Creatura, http://www.treccani.it/vocabolario/creatura/, zuletzt aufgerufen am 26.07.2020.

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Tabelle 4: Beispiele aus der semantischen Kategorie »Der geborene Pädagoge oder Erzieher durch Kunst und Spuk«

Originaltext der Verfilmung Untertitel Der geborene Pädagoge oder Erzieher durch Spuk und Kunst (6) Baron von Briest: (6) 1. »Aber er hat so ’was von einem Kunst- a. «Ma ha un interesse per l’arte che è fex quasi 2. und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein b. maniacale. Ed Effi, la nostra povera Effi, è 3. Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit c. una figlia della natura. Temo che Innstetten, seinem 4.  Kunstenthusiasmus wird.« (7) Crampas:

etwas

quälen d. con le sue manie artistiche, la possa e. ossessionare un po’.» (7)

1. »Er hatte eine Vorliebe, uns Spukge- a. «Aveva la strana mania di raccontarci schichten 2. zu erzählen.«

b. sempre storie di spiriti.»

Die Komposita ›Kunstfex‹ und ›Kunstenthusiamus‹ sowie die Simplexform ›Vorliebe‹ werden durch sehr freie Umformulierungen erweitert. Insbesondere wird das Wort ›Kunstfex‹ (Bsp. 6, Zeile 1) mit einer Periphrase übertragen, während ›Kunstenthusiasmus‹ (Bsp. 6, Zeile 4) und ›Vorliebe‹ in Bsp. 7 durch italienische Nominalphrasen vermittelt werden. Die Strategie der Expansion wird im Untertitelungsverfahren häufig verwendet, insbesondere bei deutschen Komposita mit einem hohen semantischen Gewicht, für die ansonsten keine wörtliche italienische Transposition möglich wäre.26 Interessanterweise wird in diesen Beispielen ein Wortschatz verwendet, der das Motiv der Manie und des Wahns stark hervorhebt. Dies ist z. B. bei ›Vorliebe‹ ersichtlich, das mit ›strane manie‹ (›ungewöhnliche Manien‹) übersetzt wird, obwohl dies nicht der originalen Bedeutung des Wortes entspricht. Ähnliche Betrachtungen gelten auch für die Beispiele in Tabelle 5, in denen der Wortschatz mit Bezug auf das Motiv des ›Aparten‹ betrachtet wird. 26 Antonella Nardi, Il sottotitolaggio come forma di traduzione audiovisiva. Esempi di trasposizione linguistica dal tedesco all’italiano. In: Buffagni und Garzelli (Hrsg.), Film Translation from East to West. Dubbing, Subtitling and Didactic Practice, S. 321–341, hier S. 333.



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Tabelle 5: Beispiele aus der semantischen Kategorie »Das Aparte«

Originaltext der Verfilmung (8) Effi:

Untertitel Das Aparte (8)

1. »Ach, Geert, wie reizend ist das alles, a. «Oh queste sì che sono storie strane… und 2. welch Alltagsleben habe ich doch in b. e che vita senza senso che conducevo a Hohen3. Cremmen geführt! Nie was Apartes.« c. Hohen-Cremmen! (9) Crampas:

d. Non succedeva mai niente!» (9)

1. »Und da Sie so was vorhaben, so a. «Si è cercato la sua bella stravaganza haben Sie 2. sich was Apartes ausgesucht und sind b. e i fantasmi le sono venuti a proposito» bei 3. der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.«

Die interessantesten Beispiele sind das Adjektiv ›reizend‹ (Bsp. 8, Zeile 1) und ›was Apartes‹ (Bsp. 9, Zeile 2), die durch Nominalphrasen erweitert werden. Beide Expansionen vermitteln mehr Informationen als die entsprechenden Passagen im Originaltext. Außerdem werden einfache und umgangssprachliche Mittel verwendet, die für den Zuschauer schneller zu verarbeiten sind: Die italienische Nominalphrase ›la sua bella stravaganza‹ (Bsp. 9, Zeile a) z. B. weist insbesondere eine emphatische Verwendung des Adjektivs ›bello/a‹ auf.27 Das Wort ›stravaganza‹ (›Extravaganz‹) sowie die Nominalphrase in Bsp. 8 ›storie strane‹ (›ungewöhnliche Geschichten‹) stellen eine Simplifizierung der figurativen Bedeutung des Motivs des Aparten dar und bringen daher eine semantische Einschränkung mit Fokus auf das Motiv des Ungewöhnlichen hervor.

27 Vor Nomina, Adverbien oder anderen Adjektiven spielt dieses Adjektiv im Italienischen eine verstärkende Rolle, wie z. B. in den Phrasen »un bel niente« (»gar nichts«) oder »un bel caldo« (»ganz schön warm«). Vgl. dazu Dizionario italiano De Mauro, Bello, https://dizionario.internazionale.it/parola/bello, zuletzt aufgerufen am 27.07.2020.

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III.3. Omissions- oder Auslassungsstrategien Als letzte semantische Kategorie soll die der »Gefühlskälte« anhand von Beispielen analysiert werden, bei denen das Zusammenwirken der verschiedenen Kommunikationskanäle zu beobachten ist. Tabelle 6: Beispiel aus der semantischen Kategorie »Die Gefühlskälte«

Originaltext der Verfilmung Die Gefühlskälte (10) Effi: Frostig wie ein Schneemann

Untertitel

Come un pupazzo di neve

In diesem Beispiel wird die sogenannte Omission angewendet, wobei das Adjektiv ›frostig‹ aufgrund des Prinzips der sogenannten intersemiotischen Redundanz28 in den Untertiteln nicht übertragen wird.

Abb.1: Bild aus der Szene »Frostig wie ein Schneemann«

Dies kann bei Abb. 1 nachgewiesen werden: Innstetten befindet sich im Vordergrund, während Effis Figur eher verschwommen ist. Die Hauptfigur dieser Szene sitzt regungslos am Klavier und starrt stumm, fast ausdruckslos ins 28 Das Prinzip der intersemiotischen Redundanz betrifft das Vorhandensein einiger Elemente, die gleichzeitig im visuellen und im schriftlichen Kanal auftreten. Die Elemente, die bereits aus dem Bildkontext ersichtlich sind, können beim Untertiteln weggelassen werden, da der Zuschauer die Information bereits über den nichtverbalen visuellen Kanal erhält. Vgl. dazu: Jan Pedersen, Subtitling Norms for Television: An Exploration Focussing on Extralinguistic Cultural References, Amsterdam/Philadelphia 2011, S. 21.



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Leere. Die Übertragung des Adjektivs ›frostig‹ ist überflüssig, erstens, weil die allgemeine Bedeutung des Untertitels auch ohne sie durch den Kontext nachvollziehbar ist, zweitens, weil der visuelle Kommunikationskanal den Verlust ausgleicht. Eventuelle semantisch-lexikalische Lücken können somit intersemiotisch gefüllt werden.

VI. Abschlussbemerkungen Die vorliegende Analyse zeigt, dass unabhängig von den angewendeten Untertitelungsstrategien die audiovisuelle Übertragung zu einer z. T. vereinfachten Übersetzung sowie zu einer semantischen Einschränkung führt, da die für das Italienische ausgewählten sprachlichen Mittel üblicherweise nur eine Dimension des entsprechenden semantischen Feldes vermitteln. Dies ist ersichtlich z. B. für die Untertitel, die sich auf die Kategorie des Aparten beziehen: Durch Verwendung von wiederkehrendem Wortmaterial wie ›mania‹ und ›maniacale‹ wird in den Untertiteln auf das Motiv der Manie und des Wahns fokussiert, unter Verlust der anderen Konnotationen des Aparten in Effi Briest. Die Wiederholung von Schlüsselwörtern zeigt sich ebenfalls in anderen Beispielen (vgl. ›codice‹; ›creatura‹; ›strana/e‹). Dieses italienische Wortmaterial bildet sich durch die Auflösung semantisch dichter Komposita (vgl. ›Kunstenthusiasmus‹ < ›manie artistiche‹) sowie durch freiere Umformulierungen von Adjektiven (›reizend‹ < ›storie strane‹), Nomina (›Vorliebe‹ < ›strana mania‹) und Phrasen (›was Apartes‹ < ›la sua bella stravaganza‹), die für die Untertitelung semantisch zu vage und dadurch am Bildschirm unauffällig wären. Die Verkürzung des Originaltextes sowie seine Erweiterung durch Expansionsstrategien bilden somit einen Ausgangstext, der unmittelbare und leicht erkennbare sprachliche Mittel enthält. Dies dient dazu, eine schnellere Vermittlung der Informationen zu gewährleisten und die Lesegeschwindigkeit zu fördern. Zu diesem Zweck werden auch sprachliche Elemente sowie syntaktische Konstrukte aus der italienischen Umgangssprache gewählt, die pragmatische Fokussierungsfunktionen ausüben (vgl. Bsp. 2 und 9). Eine derartige Sprachübertragung führt außerdem zu einer Verdeutlichung des impliziten Sprachmaterials des Originaltextes. Dieser Vorgang findet ebenfalls durch den Wechsel zwischen abstrakten Konzepten, die durch einen Wortschatz mit figurativer Bedeutung wie z. B. ›Etwas‹ vermittelt werden, und italienischen Nomina, die ebenfalls einer abstrakten Entität (›codice‹) entsprechen, doch kaum figurativ im Ausgangstext verwendet werden, statt. Daher führt die Übersetzung ins Italienische, bei der die Untertitelung auf den allgemeinen Inhalt der Aussage und daher auf den relevanten kommunikativen Kern des Textes fokussiert,

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z. T. zu einem Verlust des metaphorischen Wortschatzes Fontanes. Schließlich wurde bei der semantischen Kategorie der Gefühlskälte beobachtet, dass dieser Charakterzug Innstettens eher durch den visuellen Kanal vermittelt wird: Redundante Lexeme des Originaltextes werden somit weggelassen, ohne dass dadurch semantische Lücken entstehen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Untertitelung eigenen Übersetzungsnormen unterliegt. Diese müssen sich von den üblichen literarischen Sprachübertragungslösungen unmittelbar distanzieren. Es entsteht dadurch eine quantitative wie semantische ›Abflachung‹ des Originaltextes, die zum Erreichen der kommunikativen Funktion der Untertitelung beiträgt.

Sinnesschwellen und Grenzüberschreitungen

»Die schönste Melodie« (1840): Versuch einer intersemiotischen Analyse Cristiana Tappatà

I. Einleitung und Methode: Über die Schwelle Das Thema der Grenzüberschreitungen spielt eine große Rolle in Theodor Fontanes Œuvre, insbesondere in Romanen und Erzählungen. Auf die gleiche Weise kann man sich aber auch dem Gesamtwerk Fontanes annähern, vor allem seinen Gedichten. In der Forschung zu den Grenzüberschreitungen in literarischen Werken kann man sich die folgende Frage stellen: Was ist eine Grenze? Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm gibt zwei Bedeutungen an: Für Grenze steht »im eigentlichen Sinne […] die gedachte Linie, die zur Scheidung von Gebieten der Erdoberfläche dient«,1 eine Definition, die die Idee von Raum stark betont. Die Idee von Raum ergibt sich auch aus der anderen Bedeutung, die bereits dargestellt worden ist: Neben die geographische Bedeutung wird die Definition von »Schranke, Abschluss, Ziel, Ende«2 gestellt. Die Grenze ist nämlich eine Scheidung, eine Trennung, die zwei oder mehrere Begriffe voneinander unterscheidet. Diese sind entweder Räume, Wortfelder oder Topoi. Der Ort des Übergangs, der auch der Moment der Überschreitung und deshalb auch Ausdruck der Zeit ist, ist aber selbst ein Raum und zwar eine Schwelle. Die Schwelle, die nicht mehr ein Limes, im Sinne von Grenzwert, ist, bildet einen Zwischenraum, ›auf‹ dem man stehenbleiben könnte, wörtlich genommen könnte man ihn ›über-schreiten‹. Mit anderen Worten ist [d]ie Schwelle […] schwer zu verorten, im strengen Sinne ist sie gar nicht zu verorten. Sie bildet einen Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich lässt, aber nie ganz. […] Im Überschreiten der Schwelle befindet man sich nicht mehr hier und noch nicht dort, Ort und Zeit berühren sich. Betrachten wir das Fremde als ein

1

Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Grenze, http:// woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&le mid=GG27579#XGG27579, zuletzt aufgerufen am 10.11.2020. 2 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783110735710-031

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Anderswo, das Eigenes markiert, indem es sich diesem entzieht, so erscheint die Schwelle als ein Ort des Fremden par excellence. Sie erweist sich zugleich als ein Ort der Schwebe.3

In der Metaphorik bilden die Worte selbst eine Schwelle, weil Metaphern nicht nur Stilfiguren sind, sondern auch eine besondere Denkart wiederspiegeln,4 die eine Verbindung zwischen zwei Bedeutungsfeldern herstellt5 und die sich oft auf körperliche Erfahrungen gründet.6 Diese Abhandlung zielt darauf ab, die Analyse der Schwelle in einem lyrischen Text von Fontane fortzuführen. Das Gedicht Die schönste Melodie (1840) bietet die Möglichkeit, über die Grenzüberschreitungen zwischen Sinnen (wörtlich und metaphorisch) bzw. über Synästhesie nachzudenken. Wie schon im Titel angegeben, betrifft das Hauptthema die »Musik«, eine Sprache von Klängen, Geräuschen und Schweigen, die den ganzen Körper in den Wahrnehmungsprozess miteinbezieht, da »das Hören selbst schon ein Tun«7 ist. In seinem Beitrag Sinnesschwellen versucht Waldenfels die Beziehung zwischen Sinnen zu erklären: Phänomenologen sprechen von einer Kinästhese, einem ›ich bewege mich‹, bei dem Merken und Wirken unzertrennlich verklammert sind. Nicht nur auf Töne, sondern auch auf Farben reagiert der Organismus mit einem spezifischen Ton- und Farbverhalten, etwa mit gleitenden oder ruckartigen Bewegungen.8

Waldenfels bezieht sich auf die Theorie von Merleau-Ponty, der schon die Teilnahme des Leibes am Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozess analysiert hatte. Er findet in dieser Zusammenarbeit der Sinne »die Regel«,9 denn »die Sinne übersetzen sich in einander, ohne dazu eines Dolmetschs zu bedürfen, sie begreifen einander, ohne dazu des Durchgangs durch eine Idee zu bedürfen«.10 In Fontanes Die schönste Melodie kommt zwar kein Beispiel von Synästhesie strictu sensu als literarischer Stilfigur vor, trotzdem könnte man sich auf die 3

Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 1999, S. 9. 4 George Lakoff und Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago/London 2003, S. 3; Alice Deignan, Metaphor and Corpus Linguistics, Amsterdam/Philadelphia 2005, S. 1–2. 5 Deignan, Metaphor and Corpus Linguistics, S. 14. 6 Ebd., S. 19. 7 Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 195. 8 Ebd., S. 195–196. 9 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 274, zitiert in Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 60. MerleauPonty spricht deutlich von »Synästhesie«. In Fontanes Fall würde ich nicht von Synästhesie im strengeren Sinne sprechen, ich finde aber diesen Annährungsversuch sehr interessant. 10 Ebd.



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Grenzüberschreitung zwischen Sinnen beziehen, die die Wahrnehmung der Erfahrungen vermitteln. Die Analyse zielt darauf ab, die Räume der sinnlichen Bezüge auszuloten, um die Innenwelt des Ichs zu umreißen, die als eine Umarbeitung von der Wahrnehmung, die das Subjekt aus der Erfahrung von der Außenwelt empfängt, zu verstehen ist.

II. Theodor Fontane als romantischer Dichter Die schönste Melodie wird 1838 geschrieben und zwei Jahre später im Berliner Figaro (8. Februar 1840) veröffentlicht.11 Die Periodisierung selbst könnte als eine Schwelle angesehen werden: Das Jahr 1840 kann man als historischen »Wendepunkt«12 betrachten, da Friedrich Wilhelm III. stirbt und der Sohn des Königs, Friedrich Wilhelm IV., sein Nachfolger wird. Dass Fontane in diesem Jahr anfängt, sich selbst als Schriftsteller zu betrachten, ist eine weitere Schwelle: In jenem Moment beginnt »seine literarische Karriere«, die »für den Rest seines Lebens im Auf und Ab seiner jeweiligen Brot- und Erwerbstätigkeiten richtungweisend bleiben [wird]«.13 Er macht das Schreiben zu seinem Beruf. Schon im Titel des Gedichts scheint das Musikalische als eine Schwelle zwischen zwei sinnlichen Wortfeldern zu fungieren: »Melodie« ist mit dem Wortfeld »Gehör« in Zusammenhang zu bringen, weil sie eine »singbare, in sich geschlossene Folge von Tönen«14 ist, die nicht nur hörbar, sondern auch mündlich wiederholbar ist. Die evozierte Melodie ist hier schon durch das Adjektiv »schön« an das Wortfeld »Schauen« angenähert, das nach seiner Etymologie15 eine Idee des Schauens bezeichnet, wie die Bezüge auf die Helligkeit und den Glanz in der Definition zeigen. Aus diesem Grund scheint Musik als Medium zu agieren, bei dem die Grenzüberschreitung zwischen dem Hören und dem Sehen geschieht und die Idee des Hörens als Tun bestärkt, wie man auch bei Waldenfels liest.

11 12 13 14

Roland Berbig, Theodor Fontane Chronik, Berlin/New York 2010, S. 31, 37. Heinz Ohff, Theodor Fontane: Leben und Werk, München 1995, S. 73. Ebd., S. 73–74. Siehe Duden, Melodie, https://www.duden.de/rechtschreibung/Melodie, zuletzt aufgerufen am 26.01.2021. Hier ist „Melodie“ nicht als Synonym für „Musik“ zu verstehen, obwohl diese Begriffe auch auf das Wortfeld des Tuns anspielen. Eine tiefere musikliterarische Auseinandersetzung mit dem Thema der Beziehung zwischen den beiden Begriffen würde den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes überschreiten. 15 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Schön, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid =GS16121#XGS16121, zuletzt aufgerufen am 17.11.2020.

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Die Überschreitung der Schwelle zwischen den Sinnen ist insofern ein strukturierendes Prinzip, als sie die Strophen miteinander verbindet: Wehmutsvolle Lieder klingen Durch die sternerhellte Nacht, Schmerzen, die mein Herz umschlingen Halten einsam bei mir Wacht. 5 Und der Töne leise Schwingen

Tragen ein geliebtes Bild; Ach, wie sie zum Herzen dringen, Wie ergreift’s mich seligmild! Ja, die Hände muß ich falten

10 Bei der schönen Melodei,

Von den finstern Schreckgestalten Bin ich betend endlich frei.

Sind die Lieder auch verklungen, Sind die Töne auch verhallt, ‒ 15 Tief, ach tief ins Herz gedrungen Ist die liebliche Gestalt. In dem unermeßnen Reiche Wirkt sie ew’ge Harmonie Und die teure Liebesreiche 20 Singt die schönste Melodie.16

»Die schönste Melodie« besteht aus dem Erklingen der Lieder, die »wehmutsvoll« sind und, wenn man an die Nacht als Raum denkt, das Dunkel einer »sternerhellte[n] Nacht« durchqueren und überqueren. Dieser Gedanke wird mit der Präposition »durch« im Text eingeführt. Musik bewegt sich in zwei Richtungen: Wenn man sich auf die gesamte Räumlichkeit bezieht, verbreitet sie (Musik) sich vom Himmel in Richtung des Ichs bzw. der Zuhörer und zeichnet eine vertikale Dimension (oben-unten); wenn man aber die Nacht als Fläche ansieht, breiten sich die Lieder in die horizontale Richtung aus. Überdies stellt die »sternerhellte Nacht« noch eine weitere Grenzüberschreitung in dem Oxymoron dar, die sich durch das Anschauen ergibt: »sternerhellte Nacht« erscheint als romantischer Topos, in dem das Licht der Sterne der Dunkelheit der Nacht gegenübersteht. Dieser Topos ist im Gedicht mit der Empfindung des Ichs verbunden: Die Alliteration von [l] im ersten Vers (»Wehmutsvolle«, »Lieder«, »klingen«) und das Adjektiv »sternerhellte« schaffen eine thematische und klangliche Melodie. 16 GBA II/2, S. 13. Vgl. auch HFA I/6, S. 610 (hier lautet der zweite Vers: »durch die sternenhelle Nacht«). Vgl. auch V. 18: »Wirkt« (GBA II/2), »Winkt« (HFA I/6).



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Musik spielt hier auch im kulturellen Zusammenhang eine Rolle: 1840 hat der Komponist Robert Schumann17 die Zwölf Gedichte von Justinus Kerner, op. 35 zu Justinus Andreas Christian Kerners Gedichten (1826) veröffentlicht. Eines von diesen, und zwar Frage, stellt den Topos dar: Wärst du nicht, heil’ger Abendschein! Wärst du nicht, sternerhellte Nacht! Du Blüthenschmuck! du üpp’ger Hain! Und du Gebirg voll ernster Pracht! 5 Du Vogelsang aus Himmeln hoch! Du Lied aus voller Menschenbrust! Wärst du nicht ‒ ach! was füllte noch In arger Zeit ein Herz mit Lust? ‒18

In Kerners Gedicht überlagern sich viele Merkmale in dem Pronomen »du«: Das Ich zeigt als »du« Naturelemente und Musik, die sowohl auf die »Außenwelt« (»Du Vogelsang aus Himmel hoch«, V. 5) als auch auf die »Innenwelt« (»Du Lied aus voller Menschenbrust«, V. 6) Bezug nehmen. Hier wird durch das »Du« die Musik (VV. 5–6) der »sternerhellte[n] Nacht« (V. 2) gleichgestellt und zusammen scheinen sie manchen Wahrnehmungen des Ichs (»heil’ger Abendschein«, V. 1; »Blüthenschmuck«, »üpp’ger Hain«, V. 3; »Gebirg voll ernster Pracht«, V, 4; »Vogelsang aus Himmeln hoch«, V. 5; »Lied aus voller Menschenbrust«, V. 6) zu entsprechen, die Bilder und Klänge sind und »in arger Zeit« (V. 8) den Schmerz des Ichs durch die »Erfüllung« des Herzens (VV. 7–8) lindern. Angesichts der Tatsache, dass die Vertonung von Schumann 1840 erscheint, kann man nicht mit Gewissheit bestätigen, dass Kerners Frage ein Anstoß für Fontanes Die schönste Melodie ist, aber sicher hat Kerner spätere Werke von Fontane beeinflusst.19 17 Gertrud George-Driessler, Theodor Fontane und die »tonangebende Kunst«. (Eine späte Wiedergutmachung), Augsburg 1990, S. 10–11. George-Driessler stellt eine noch zu prüfende Hypothese bzgl. einer Gemeinschaft der Ideen zwischen Fontane und Schumann auf. 18 Justinus Kerner, Gedichte, Stuttgart 1826, S. 166 (http://www.deutschestextarchiv.de/ book/view/kerner _gedichte_1826?p=178, zuletzt aufgerufen am 10.12.2020). 19 Fontane schätzt Kerners »lyrische[n] Zauber«. Er schreibt, nachdem er Conrad Ferdinand Meyers Gedichte gelesen hat (12.  Februar 1895): »Die Sachen haben alle was Ernstes, Verständiges, Männliches, man empfindet, daß man es nicht mit einem jugendlichen Quatschpeter zu thun hat; aber der eigentliche lyrische Zauber, der bei Storm, Mörike, Justinus Kerner so groß ist, fehlt (ein paar Ausnahmen zugegeben) total« (Theodor Fontane an Hanns Fechner, HFA IV/4, S. 422, zitiert in Berbig, Fontane Chronik, S. 3410). Hervorhebungen im Original. In Bezug auf Kerners Einfluss auf Fontanes Werk schrieb Lehmann, dass »beide[…] Fontane-Autobiographien« zwei Arten von Autobiographien sind: »[D]ie bevorzugte Darstellung der eigenen Kindheit, z. B. bei Autoren wie Justinus

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Die Beziehung zwischen den Welten des Ichs bringt uns zu dem Gedicht Die schönste Melodie zurück: In dem ersten Vierzeiler erscheint eine zweite Schwelle zwischen »Außen-« und »Innenwelt« des lyrischen Ichs. Die ersten zwei Verse bestehen aus wahrnehmbaren Phänomenen, die nach den darauffolgenden letzten Gedichtzeilen mit Auswirkungen in der Innenwelt des Ichs hervortreten. Wenn einerseits das Ich die »wehmutsvolle[n] Lieder klingen« hören kann, ist andererseits die Wehmut des ersten Verses mit den »Schmerzen« (V. 3) verbunden. Die durch das Adjektiv »[w]ehmutsvoll« ausgedrückte Melancholie und die »Schmerzen« bilden eine Brücke zwischen den »Außen-« und »Innenwelten«, ebenso ist die »sternerhellte Nacht« nicht die Zeit des Schlafens oder des Todes, sondern die der »Wacht« des Leidens im Inneren des Ichs. Der romantische Topos der Nacht in Verbindung mit der Musik ist der Idee der Nacht bei Eichendorff sehr ähnlich. In seinem Gedicht Nachts entflieht der Mond dem Dunkeln der Wolke und die Stille wird durch den Gesang einer Nachtigall unterbrochen. Außerdem wird die Nacht über viele Klänge beschrieben, die einen »wunderbare[n] Nachtgesang« (V. 7) bilden: Ich wandre durch die stille Nacht, Da schleicht der Mond so heimlich sacht Oft aus der dunklen Wolkenhülle, Und hin und her im Tal 5 Erwacht die Nachtigall, Dann wieder alles grau und stille. O wunderbarer Nachtgesang: Von fern im Land der Ströme Gang, Leis Schauern in den dunklen Bäumen – 10 Wirrst die Gedanken mir, Mein irres Singen hier Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.20

Kerner (Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit), Bogumil Goltz (Buch der Kindheit), Karl Gutzkow (Aus der Knabenzeit) oder Friedrich Hebbel (Aufzeichnungen aus meinem Leben) […]. Der andere Typus ist der der historiographisch orientierten Autobiographie […]. In den Kinderjahre(n) konzentriert sich Fontane auf das eigene Ich sowie auf dessen unmittelbare räumliche und soziale Umgebung […]. In Von Zwanzig bis Dreißig hingegen dominiert die historiographische Komponente« (Jürgen Lehmann, »Was man nicht alles erleben kann!«. Biographisches und autobiographisches Erzählen bei Theodor Fontane. In: Roland Berbig [Hrsg.], Fontane als Biograph, Berlin/New York 2010, S. 41–58, hier S. 43–44). 20 Joseph Freiherr von Eichendorff, Werke in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte. Auf Grund der von Dr. phil. Ludwig Krähe besorgten Ausgabe neu bearbeitet und wesentlich erweitert von René Strasser, Zürich 1965, S. 52.



Sinnesschwellen und Grenzüberschreitungen

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Bei Eichendorff gestaltet sich der Gesang der Natur »wunderbar« (»O wunderbarer Nachtgesang«, V. 7); das Singen des Ichs ist hingegen irr (»[m]ein irres Singen hier«, V. 11). In beiden steht das Ich der Natur gegenüber: In beiden herrscht das Dunkle, das vom Licht gebrochen wird (bei Fontane durch die Sterne, bei Eichendorff durch den Mond), und die Musik, die bei Fontane aus Liedern besteht und bei Eichendorff durch eine Nachtigall zum Ausdruck kommt. Die Musik spielt in beiden Texten eine ähnliche Rolle: In Fontanes Gedicht lösen die »wehmutsvolle[n] Lieder« in dem Ich »Schmerzen« aus, die »einsam Wacht« halten. Genauso verhält es sich bei Eichendorff: »die Nachtigall« »erwacht« und danach wird die Nacht wieder »grau und stille«. Man könnte den ersten Vierzeiler folgendermaßen darstellen: Gehörsinn Sehsinn

Wehmutsvolle Lieder klingen Durch die sternerhellte Nacht, Schmerzen, die mein Herz umschlingen Halten einsam bei mir Wacht.

Außenwelt Innenwelt

In der zweiten Strophe findet eine Schwellenüberschreitung statt, die sich deutlich zwischen den Sinnen in der Erfahrung bei der Wahrnehmung von Musik vollzieht: 5 Und der Töne leise Schwingen

Tragen ein geliebtes Bild; Ach, wie sie zum Herzen dringen, Wie ergreift’s mich seligmild!

Die Konjunktion »und« verbindet die Strophen, die auch durch den Reim auf »-ingen« aneinandergekoppelt werden. Die Korrelation ist auch semantisch, da die Musik des ersten Verses (»wehmutsvolle Lieder klingen«) auf andere Weise ausgedrückt wird (»der Töne leise Schwingen«, V. 5), und zwar wird sie stärker betont, da die Lieder durch ihre kleinsten Bestandteile, »die Töne«, ersetzt werden. Durch das Schwingen gestaltet sich die Musik wie ein geflügeltes Geschöpf, das »ein geliebtes Bild« trägt. Die Musik ist ein Mittel, das im Text eine Gestalt (das Wort »Gestalt« wird in der dritten Strophe eingeführt21 und in der vierten wiederholt)22 annimmt (»Und der Töne leise Schwingen / Tragen ein 21 »Ja, die Hände muß ich falten / Bei der schönen Melodei, / Von den finstern Schreckgestalten / Bin ich betend endlich frei« (VV. 9–12). Kursiv meine Hervorhebungen. 22 »Sind die Lieder auch verklungen, / Sind die Töne auch verhallt, – / Tief, ach tief ins Herz gedrungen / Ist die liebliche Gestalt« (VV. 13–16). Kursiv meine Hervorhebungen.

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geliebtes Bild«, VV. 5–6). Hier sind der Gehörsinn und die visuelle Wahrnehmung in der Musik vereint, weil »d[ie] Töne«, die man hört, ein Bild, das man jedoch sieht, transportieren. Ebenso gibt es zwischen den Sinnen sowohl in der zweiten Strophe als auch in der ersten, eine durch den Seufzer »Ach« eingeführte Schwellenüberschreitung zwischen »Außen-« und »Innenwelt«. Das Bild (es wird als »es« bezeichnet, V. 8) findet tief im Herzen des Ichs Zutritt und mit dem metaphorischen Sinn des Tastsinns »ergreift«23 es das Subjekt »seligmild«. Die intratextuellen Beziehungen sind in der sinnlichen Schwellenüberschreitung festzustellen, weil man vom Gehörsinn über den Tastsinn zum Sehereignis, aber auch in den Raum zwischen »Außen-« und »Innenwelt« gelangt, der eine Wandlung der Gefühle mit Hilfe der Musik beschreibt. Obwohl die Musik anfangs »wehmutsvoll« (V. 1) ist und »Schmerzen« (V. 3, siehe auch »Ach«, V. 7) verursacht, wird sie danach mit dem Adjektiv »leise« (V. 5) beschrieben, als ob die von den Tönen geschaffene Flügelkreatur durch ihren Griff das Ich »seligmild« (V. 8) werden ließe: Gehörsinn Sehsinn Tastsinn

Und der Töne leise Schwingen Tragen ein geliebtes Bild; Ach, wie sie zum Herzen dringen, Wie ergreift’s mich seligmild!

Außenwelt Innenwelt

In der dritten Strophe erscheint endlich das »Tun«, wie in Waldenfels’ Zitat beschrieben, nachdem es schon in den vorherigen Verszeilen vorweggenommen wurde (denn das Lieben in »geliebtes Bild«, V. 6, kann auch als Handlung interpretiert werden). Nachdem das Ich das Bild gesehen und die Töne gehört hat, ist die Seele mild ergriffen. Mit der starken Bejahung (»Ja«, V. 9) gewährt man dem Tun Durchlass. Das Ich ist zuvor durch die Verse, in denen der kontemplative, auditive und visuelle Zustand beschrieben wird, darauf vorbereitet worden: Ja, die Hände muß ich falten 10 Bei der schönen Melodei, Von den finstern Schreckgestalten Bin ich betend endlich frei.

23 Vgl. Deignan, Metaphor and Corpus Linguistics, S.  23. Deignan geht hier von der Definition von Lakoff und Turner aus: »UNDERSTANDING IS SEIZING (Lakoff & Turner 1989) takes the vehicle grasp and seize to metaphorically express the topic of understanding. The vehicle highlights the feeling we have when we quickly understand a new idea as a whole, and the metaphor gains its effectiveness from this resemblance, which we all recognize from our experience.« Hervorhebungen im Original.



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Durch das Verb »ergreifen« in der vorherigen Strophe werden die »Hände« zum Mittelpunkt in diesem Vierzeiler, der sich auch in der Mitte des Textes befindet. Das Ich muss die Hände falten (V. 9): Das geschieht nur beim Hören der »Melodei« und deswegen stellt die Musik nochmals eine Schwelle dar, da das Gebet nur dann »bei der schönen Melodei« (V. 10) zu vernehmen ist. Das Modalverb (»müssen«, V. 9) zeigt das Bedürfnis zu beten, wenn man diese Musik hört, wie der letzte Vers mit dem Partizip I »betend« beweist. Die Melodie (hier »Melodei«, durch Metathese des Diphthongs »-ei«, statt »-ie« gekennzeichnet) bringt das Ich Gott näher: Diese Annäherung geschieht, indem das Ich die Hände faltet und den Klang der Musik in sich aufnimmt. Die gefalteten Hände haben auch auf die visuellen Wahrnehmungen Auswirkungen: Beim Beten nach dem Hören der Musik ist das Ich »von den finstern Schreckgestalten« (V. 11) »endlich frei«. Das Adjektiv »frei« reimt sich auf »Melodei«, als ob diese »Melodei« der Auslöser für die Befreiung des Ichs von den Gestalten, Bildern, die dunkel sind und Schreck verursachen, wäre. Es gibt mehrere intratextuelle Hinweise: Die Melodie ist die Schwelle, die sich aus drei Sinnen bildet. Anfangs tragen die Töne ein Bild, das das Ich berührt, aber in der dritten Strophe sind sie ›endlich‹ in der Lage, das Ich »von den finstern Schreckgestalten« zu befreien. Es wird von einer erneuerten Helligkeit gesprochen, die mit der »sternerhellte[n] Nacht« (V. 2) verbunden zu sein scheint, und die Seele kehrt, nachdem sie »das geliebte Bild« (VV. 6, 8) gesehen hat, in ihren wiedergefundenen Urzustand zurück, da die Töne das Ich »seligmild« (V. 8) zurückgelassen haben. Hände24 Gehörsinn Sehsinn Hände

Ja, die Hände muß ich falten Bei der schönen Melodei, Von den finstern Schreckgestalten Bin ich betend endlich frei.

Außenwelt Innenwelt

Die Wahrnehmung der Musik führt dazu, dass das Ich vom Zustand der Angst und des Schreckens befreit wird, bis es in einen neueren Zustand, der in der folgenden Strophe beschrieben wird, übergeht: Sind die Lieder auch verklungen, Sind die Töne auch verhallt, – 15 Tief, ach tief ins Herz gedrungen Ist die liebliche Gestalt. 24 »Tastsinn« wäre in diesem Fall ein unpassender Ausdruck, weil das lyrische Ich sich im untersuchten Gedicht bei den im Gebet gefalteten Händen nicht auf den Tastsinn als solchen bezieht.

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Das Ende des Gedichts ermöglicht einen Einblick in die Innenwelt des Ichs. Die Lieder verkl[i]ngen in der Vergangenheit (vgl. »sind […] verklungen«, V. 13) und von »wehmutsvoll[…]« (V. 1) werden sie zu still. Vergleichsweise sind die Töne auch in »diminuendo« dargestellt, wie in Vers 13 die Lieder. Der graduelle (und musikalische) Prozess hin zur Stille zieht sich vom ersten bis zum dritten Vers und die Grenze zwischen der Außen- und der Innenwelt, vom Hören der Musik bis hin zur visuellen Wahrnehmung des Bildes wird währenddessen überschritten. Hier gibt die Interjektion »ach« (V. 15), die bereits im zweiten Vierzeiler vorkam und stark mit der Wehmut und den Schmerzen der ersten Strophe verbunden ist, Einblick in die Innenwelt und wird zusätzlich durch das Adverb »tief« verstärkt. Die Bewegung ins Innere gestaltet sich durch Lieder und Töne, bis die nicht mehr gehörte Musik sich in die »liebliche[…] Gestalt« umwandelt; deshalb führt das »Diminuendo« der Musik zur Stille und am Ende der vertikalen Bewegung erscheint im Herzen die Gestalt mit voller Kraft (»tief ins Herz gedrungen / ist die liebliche Gestalt«, VV. 15–16, meine Hervorhebung). Darüber hinaus wird das Sehen (»liebliche Gestalt«, V. 16) durch das Enjambement im letzten Vers eingeführt und schafft eine Beziehung, die die mittleren Strophen (II., III., IV.) miteinander verbindet: Die »liebliche Gestalt« und das »geliebte […] Bild« (V. 6) prägen die hellen Extreme, denen das Dunkel der »finstern Schreckgestalten« (V. 11) gegenübergestellt wird: Gehörsinn Gehörsinn Sehsinn

Sind die Lieder auch verklungen, Sind die Töne auch verhallt, – Tief, ach tief ins Herz gedrungen Ist die liebliche Gestalt.

Außenwelt Innenwelt

Die letzte Strophe zeichnet sich durch ihren Reim aus. Am wichtigsten ist jedoch die Wandlung der Perspektive, die sich nach der Wahrnehmung der Melodie im Ich vollzieht. Die Melodie kehrt den Mikrokosmos der Innenwelt in den Makrokosmos der Außenwelt um: In dem unermeßnen Reiche Wirkt sie ew’ge Harmonie Und die teure Liebesreiche 20 Singt die schönste Melodie.

Der erste Vers der Strophe (V. 17) fängt mit einem »unermeßnen Reiche« an, das auf die sakrale Dimension anspielt. Als Synonym für den Raum als Ganzes erscheint die Redewendung »unermessnes Reich« in anderen zeitgenössischen Werken, wie z. B. in den Religiösen Gesängen für die öffentliche und häusliche



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Andacht, insbesondere in den Jubelfesten in Beziehung auf Religion, etwa im folgenden Kontext: »Doch wer im unermeßnen Reich der Schöpfung ist uns Menschen gleich, von dir so hoch erhoben?«.25 Die Anspielung auf das Sakrale, die schon in der dritten Strophe vorkam, wird dank des Hinweises auf das Reich fortgeführt, das unermesslich und unwahrnehmbar, weil keineswegs ergreifbar ist. Die Unermesslichkeit des Reiches löst daher die Schwelle zwischen den Welten des Ichs (Außen und Innen) auf, weil die neue Dimension nicht menschengerecht ist, da sie nicht ermessen (sinnlich und im Verstehen)26 werden kann. Gleichzeitig entsteht das „Reich“ durch das Hören, das Sehen und das Tun im Herzen, insofern der inneren Welt des Menschen angehörend. Die Beziehung zu dem Ganzen beruht auf der »liebliche[n] Gestalt«, die »tief ins Herz gedrungen« (V. 15) war. Aus Tönen bestehend wirkt sie als »ew’ge Harmonie«, die auch keinen zeitlichen Grenzen unterstellt ist (»ewig«), in einem Raum, der unermessen und ohne räumliche Grenze ist. In der Harmonie bleiben die Musikphänomene des Ganzen erhalten und die Strophe nimmt zentrale Elemente der ersten (insbesondere der Lieder) wieder auf. Die Unendlichkeit der Zeit und des Raums kann von Menschen nicht verstanden werden, aber sie durchdringt das Ganze. Die Harmonie findet in den »teure[n] Liebesreiche[n]« die Gestalt, die mit dem »unermessnen Reiche« das Morphem »Reich« gemeinsam hat. Das Gedicht endet mit dem Klang der Musik, da »die teure Liebesreiche« (V. 19) »die schönste Melodie« (V. 20) singt, die sich auf »Harmonie« (V. 18) reimt und den Gedichttitel wiederaufgreift. Das ist ein wiederkehrendes Motiv, eine Art Zyklus, ähnlich wie das zentrale Motiv der im Gebet gefalteten Hände : Gesamtwahrnehmung

In dem unermeßnen Reiche Wirkt sie ew’ge Harmonie Und die teure Liebesreiche Gehörsinn (auditive Singt die schönste Melodie. Wahrnehmung)

Außenwelt

25 Vgl. Religiöse Gesänge für die öffentliche und häusliche Andacht, Pracht-Ausgabe, Rudolfstadt 1840, S. 73. 26 »Ermessen« hat auch »intelligere, comprehendere, abnehmen, entnehmen, begreifen, überlegen, berurtheilen« als Bedeutungen (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Ermessen, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_ py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GE08142#XGE08142, zuletzt aufgerufen am 16.01.2021).

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III. Weitere Bemerkungen Am Ende dieses Zyklus, d.  h. der immer wiederkehrenden Motive und der im Gedicht erkannten kreisförmigen Bewegung, kann man bestätigen, dass die Quelle der Musik die »Liebesreiche« ist: Sie prägt den wahrnehmbaren Prozess, der mit den Klängen der Außenwelt beginnt und bis zu den Gestalten des Inneren führt. Mit anderen Worten findet diese Bewegung ihre Auflösung in der »Liebesreichen«, die am Ende des Gedichts wiederkehrt. Der dadurch abgeschlossene Zyklus ist auf verschiedenen Ebenen erkennbar: Die Musik zieht sich als roter Faden durch das ganze Gedicht; der Ausdruck »die schönste Melodie« kommt im Gedichttitel vor und wird in der letzten Zeile wiederaufgenommen; in der mittleren Strophe treten die gefalteten Hände in den Mittelpunkt. Die Musik findet immer ein entsprechendes Bild in der Innenwelt des Ichs: In den Händen und im Gebet werden sie miteinander vereint dargestellt. Man könnte den Zyklus graphisch so darstellen:



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Und im Überblick: Wehmutsvolle Lieder klingen

Gehörsinn

Außenwelt

Durch die sternerhellte Nacht,

Sehsinn

 

Schmerzen, die mein Herz umschlingen

Innenwelt

Halten einsam bei mir Wacht. Und der Töne leise Schwingen

Gehörsinn

Außenwelt

Tragen ein geliebtes Bild;

Sehsinn 

 

Ach, wie sie zum Herzen dringen,

Innenwelt

Wie ergreift’s mich seligmild! Ja, die Hände muß ich falten

Hände Hände

Außenwelt

Bei der schönen Melodei,

Gehörsinn

 

Von den finstern Schreckgestalten

Sehsinn

Innenwelt

Bin ich betend endlich frei. Sind die Lieder auch verklungen,

Hände Gehörsinn

Außenwelt

Sind die Töne auch verhallt, –

Gehörsinn

 

Tief, ach tief ins Herz gedrungen Ist die liebliche Gestalt. In dem unermeßnen Reiche

  Sehsinn Die ganzen Sinne

Wirkt sie ew’ge Harmonie

 

Und die teure Liebesreiche

 

Singt die schönste Melodie. 

Gehörsinn

Innenwelt Außenwelt

Aus dieser Perspektive zeigt sich auch eine Bewegung der sinnlich und metaphorisch wahrgenommenen Erfahrungen durch die Schwelle zwischen Sinnen, die dabei wirken. In diesem Sinn gehört der Leib in einen mittleren Bereich des Dritten: als Medium, das durchlässig ist für anderes wie Licht und Luft, als Organ, mittels dessen wir anderes erreichen und anderes uns erreicht. Der Leib antwortet auf die Frage: Wodurch?, Womit? oder Wie?, nicht auf die Frage: Wer? oder Was?. In diesem Sinne erscheint der Leib als Sinnes- und Bewegungsapparatur mit verschiedenen Sinnes- und Bewegungsorganen, die uns ein leibliches Merk- und Wirkfeld eröffnen, als Empfindungsträger, der Eindrücke erfährt und behält, und als Ausdrucksorgan, mittels dessen

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das innerlich Erlebte sich äußerlich kundtut, schließlich als Orientierungszentrum, von dem aus das, was ich bemerke und bewirke, sich nach rechts und links, oben und unten, vorn und hinten, nah und fern anordnet.27

Anders ausgedrückt existiert das Ich selbst hier als Schwelle und bewegt sich in den sinnlichen Erfahrungen auf rhythmische Art und Weise. Der Rhythmus spielt eine wichtige Rolle im menschlichen Leben, dabei sollte man sich nicht nur auf den Lebenszyklus beziehen, sondern auch auf die Sprache, da sie »zusammen mit den Höhen und Tiefen des Melos […] zur Bildung auditiver Gestalten bei[trägt], die in Klangfarbe und Lautstärke eine zusätzliche Qualifikation erhalten«.28 Die Musik ist in Fontanes Gedicht die Melodie der Lieder der »Liebesreichen« und gleichzeitig überschreitet sie die Schwelle zwischen dem Leib und den Welten (Außen- und Innenwelt) mit einem pulsierenden Übergang.

IV. Schlussfolgerungen über Fontane und die Musik Musik ist ein wichtiges Thema in Fontanes Werk: Schon Gertrud GeorgeDriessler findet in Bezug auf ihn, dass »bevor ein Lyriker sich wünschen mag, vertont zu werden, […] er danach streben [wird], selber ein ›Sänger‹ zu sein, sich als Sänger in Worten zu fühlen«.29 Die Musik spielt in Fontanes Werk eine bedeutende Rolle, vor allem in seinen frühen Texten und in manchen Gedichten ist sie auch die Sprache der Natur.30 Man kann sagen, dass die Musik auch in der Schönsten Melodie ein Verbindungsglied zwischen Natur und Gedicht ist, da die Lieder von der Außenwelt ein ihnen entsprechendes Bild in der Innenwelt finden und sich danach in Empfindungen umwandeln, was nur zwischen metaphorischen Sinneswahrnehmungen vorkommt. Als Fontane 1856 in England war, schrieb er in Bezug auf die Freischütz-Ouvertüre von Carl Maria von Weber an seine Frau: Es ist eine Musik, als ob Himmel, Erde und Hölle miteinander sprächen … Es ist großartig. Daran, daß ich anfange, an Musik Gefallen zu finden, merk ich deutlich, daß ich alt werde. ›Geist‹ hat seine angestaunte Rolle ausgespiegelt und ›Jeist‹ kann mir völlig gestohlen werden. Musik

27 Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 20–21. 28 Ebd., S. 66. 29 George-Driessler, Theodor Fontane und die »tonangebende Kunst«, S. 43–44. 30 »Daß Fontane innerlich sang, daß es in ihm klang, hat er nur in seiner Jünglingszeit offen bekannt. Später wird diese Emotion nur noch vereinzelt laut […]. Auch die Natur war ihm erfüllt mit Musik« (ebd., S. 45).



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und die schönen Linien einer Statue fangen an mir wohlzutun; die Sinne werden feiner, und die erste Regel des Genusses lautet: nur keine Anstrengung. In der Jugend ist das alles anders.31

Es verwundert nicht, dass die Musik in Fontanes Texten stark mit der weiblichen Figur in Zusammenhang steht.32 Man braucht nur an Marietta Trippelli in Effi Briest zu denken, eine Sängerin, die ein etwas anderes Frauenbild als Effi Briest verkörpert. Zusammenfassend kann man sagen, dass in einzelnen Passagen in Fontanes Werk die Musik etwas ausdrückt, was das Ich nicht gänzlich verstehen kann. Trotzdem führt sie auf direktem Weg zum Ich. Die Musik fungiert hier als Schwelle zwischen etwas, was noch nicht wahrgenommen worden ist, und dem, was sich im Herzen des Ichs abspielen wird. Man kann es auch mit den folgenden Worten zusammenfassen: Das Ich überwindet mit Hilfe der Musik und im Speziellen der »schönsten Melodie« Grenzen. Das Ich fühlt sich in diesen Momenten grenzenlos frei und von seinen Schreckgestalten befreit.

31 Theodor Fontane an Emilie Fontane, HFA IV/1, S. 519, zitiert in George-Driessler, Theodor Fontane und die »tonangebende Kunst«, S. 19. Kursiv meine Hervorhebungen. 32 »Darum läßt Fontane wohl auch die Männer seiner Romane meist eine deutliche Abwehrhaltung der Musik gegenüber einnehmen, aber alle seine Frauengestalten haben, bis auf wenige Ausnahmen, eine ›Schwäche‹ für Musik« (George-Driessler, Theodor Fontane und die »tonangebende Kunst«, S. 17).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Sabrina Ballestracci ist Professorin für deutsche Sprache und Übersetzung an der Università degli Studi in Florenz. Sie hat Germanistische und Anglistische Sprachund Literaturwissenschaft an der Universität Pisa studiert. Zu ihren Arbeitsgebieten gehören Grammatik und Lexik im Sprachvergleich, linguistische Stilistik, literarische Übersetzung und Fachübersetzung Deutsch-Italienisch sowie Fremdsprachenerwerb und Didaktik des Deutschen als Fremdsprache. Roland Berbig, Prof. Dr. phil., geb. 1954, Studium Germanistik u. Anglistik, Promotion 1981, seit 1985 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, deutsche Nachkriegsliteratur, Theorie und Praxis von Edition und Nachlass. Buchveröffentlichungen (u. a.): Ingeborg Bachmann ‒ Ilse Aichinger und Günter Eich. Der Briefwechsel (2021); Theodor Fontane Chronik. 5 Bde. (2010). Aufsätze u. a. zu Hölderlin, Heine, Storm, Fontane, Eich, Aichinger, Rühmkorf, Kempowski, Johnson. Claudia Buffagni hat 2002 an der Universität Pavia promoviert. 2000–2006 Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. 2005–2019 Dozentin, seit 2019 Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Università per Stranieri di Siena. Ihre Forschungsinteressen gelten der Textsortenlinguistik (insbesondere journalistische und literarische Texte), der DaF-Didaktik, der kontrastiven Linguistik, dem verbalen Humor und der audiovisuellen Übersetzung. Zuletzt erschienen ist Dalla voce al segno. Sottotitoli italiani di film d’autore in inglese, spagnolo e tedesco. 2017 (mit S. Bruti und B. Garzelli). Nicolò Calpestrati promovierte 2019 an der Università degli Studi di Milano. Lehrbeauftragter für germanistische Linguistik an verschiedenen italienischen Universitäten (Milano, Como, Parma und Pisa). Seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter für germanistische Linguistik an der Università per Stranieri di Siena. Forschungsinteressen: Grammatikschreibung aus kontrastiver (Deutsch/Italienisch) und didaktischer Sicht, Textlinguistik, Sprachkomik. Sara Corso, Doktorandin an der Università di Pisa (Dipartimento di Filologia, Letteratura e Linguistica), cotutelle mit der Universität Leipzig (Herder Institut). Titel der Dissertation: Mehrsprachigkeit beim universitären Spracherwerb: Ein Modell für das dreisprachig basierte Leseverstehen Italienisch L1 – Englisch L2 – Deutsch L3. Forschungsinteressen: Mehrsprachigkeit, Spracherwerb, DaF, kognitive Linguistik. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Professor für Kulturen der Aufklärung am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Gastprofessuren an den Universitäten Borhttps://doi.org/10.1515/9783110735710-032

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

deaux, Galway, München und der Duke University, Durham NC. Seit 2022 Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) und Vorsitzender der Fontane Gesellschaft e.V. Seit 2023 zusammen mit Peer Trilcke Herausgeber der Großen Brandenburger Ausgabe der Schriften Fontanes beim Aufbau Verlag Berlin. Buchpublikationen: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung (2008), Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz (2013), Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung (2018). Claus Ehrhardt ist Professor für Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Università di Urbino Carlo Bo. Er hat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Germanistik und Philosophie studiert und dort auch mit einer Arbeit über sprachliche Höflichkeit promoviert. Er ist seit 1992 in verschiedenen Funktionen an der Universität Urbino tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Linguistische Pragmatik, Höflichkeitsforschung, Phraseologie, Soziolinguistik und Interkulturelle Kommunikation. Anna Fattori ist Professorin für Deutsche Literatur an der Universität Rom Tor Vergata. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Perugia, Pavia und Zürich. Beiträge insbes. zu Robert Walser und zur deutschsprachigen Schweizer Literatur. Weitere Schwerpunkte: der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, AngloGerman Studies, Reiseliteratur, Lyrik, Erzähltheorie, Stilistik. Zuletzt erschienen ist ihre italienische Übersetzung von Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 von K. P. Moritz (2018). Emilia Fiandra studierte Germanistik an der Universität Neapel l’Orientale. Seit 2003 ist sie Ordinarius für deutsche Sprache und Kultur am Fachbereich für Politikwissenschaften der Universität Roma Tre. Zahlreiche Publikationen vorwiegend über die Zeit der Romantik und des Realismus (A. Stifter, F. Hebbel, Th. Fontane, Ehebruchsliteratur) und über das 20.  Jahrhundert (B.  v.  Suttner, Expressionismus, Mauerliteratur, Atomdrama). Hubertus Fischer, Prof. i.  R. Dr. phil.; 1982–2008 Professor für Ältere deutsche Literatur Leibniz Universität Hannover, 1989–93 Vizepräsident; Gastprofessor KairoUniversität, Adam-Mickiewicz-Universität Poznań; 2002–10 Vorsitzender Theodor Fontane Gesellschaft, 2018 Ehrenpräsident; 2002 Mitbegründer Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (CGL); 2020 stellv. Vorsitzender Pückler Gesellschaft; Bücher und Aufsätze zur Älteren und Neueren Literatur, Gartenkunst und Landschaftsarchitektur, Geschichte und Karikatur. Marina Foschi Albert hat 1991 an der University of Maryland (College Park, MD) in Germanistik promoviert. 1994–2000 Dozentin der Deutschen Literaturwissenschaft, danach Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Pisa. DAAD- und AvH-Alumna. Forschungsinteressen: Textlinguistik, Textstilistik, Poetik, Grammatik für DaF, kontrastive Linguistik, Sprachkomik.



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Cesare Giacobazzi lehrt deutsche Literatur an der Universität Modena-Reggio Emilia. Studium an der Universität Bologna, Promotion an der Universität Pavia. DAADStipendiat an der Universität Konstanz. Forschung unter Leitung von Wolfgang Preisendanz, anschließend Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten. Wissenschaftlicher Assistent (Ricercatore) an der SLIMIT Forlì-Bologna (1993–2001), dann Professor an der Unimore. Bevorzugte Forschungsschwerpunkte: das Werk von Günter Grass, der Bildungsroman, die Romantik, Didaktik und Theorie der Literatur. Marianne Hepp ist seit 2000 Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Pisa. 1993–2000 wirkte sie als Dozentin für Deutsche Literaturwissenschaft an derselben Universität. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Textstilistik, die Verbindung von Alltagstextsorten und literarischen Texten, Wortbildung und Phraseologie des Deutschen mit besonderem Fokus auf den deutsch-italienischen Sprach- und Kulturvergleich, Mehrsprachigkeit und Sprachenpolitik. Gastprofessuren und DaF-bildungspolitische Tätigkeit auf internationaler Ebene. Giulia Iannucci hat Germanistik (Sapienza, Università di Roma) und Critical Methodologies (King’s College, London) studiert. 2017 hat sie ihre Dissertation an der Sapienza verteidigt. Nach zwei Forschungsaufenthalten als Stipendiatin im Deutschen Literaturarchiv Marbach arbeitet sie als PostDoc am Istituto Italiano di Studi Germanici. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur und Kultur in Verbindung mit den Weltkriegen, der Weimarer Republik, der Nazizeit, den Gender Studies, den Urban Studies, sowie der ›Neuen Rechten‹. Erika Kontulainen hat 2020 mit einer Dissertation über das Wechselverhältnis von Landschaftsdarstellungen und Erinnerungspraktiken im deutschsprachigen Realismus an der University of Pennsylvania promoviert. Sie hat mehrere Forschungsaufenthalte, gefördert u. a. durch den DAAD, in Deutschland verbracht. Ihre Forschungsergebnisse hat sie in Publikationen und Tagungsbeiträgen zu u. a. Wilhelm Raabe und Theodor Fontane vorgestellt. Martina Lemmetti, Promotion an der Universität Pisa (2021) mit einer Dissertation über fragesatztypische Modalpartikeln und ihre Funktionsäquivalente im Italienischen. Seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin für germanistische Linguistik an der Università degli Studi di Pavia. Forschungsbereiche: Modalpartikeln und Modalität im deutsch-italienischen Vergleich in literarischen und nicht literarischen Textsorten; Didaktik der Modalpartikeln; juristische und bürokratische Fachsprachen im deutschitalienischen Vergleich; Komik und Intermedialität. Mitglied des Internationalen Promovierenden-Netzwerk (IPN) des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim. Stefan Lindinger hat in Regensburg Deutsche Philologie, Geschichte und Latein studiert. Danach absolvierte er das Ph.D.-Programm der Abteilung für Deutsche Philologie der University of Chicago. Er war Lektor (DaF) an der Universität Pisa und DAAD-Lektor am Fachbereich für deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen, wo er jetzt als Assistant Professor für Neuere Deutsche Literatur tätig ist.

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Heinz-Helmut Lüger, Studium von Romanistik, Germanistik, Sport; 1. und 2. Staatsexamen, Promotion 1977 in Romanistik (Universität Freiburg), Habilitation 1997/98 in germanistischer Linguistik (Universität Konstanz). 1998–2011 Professur für Romanistik (Universität Koblenz-Landau). Gastprofessuren für Germanistik an der Universität Szeged (2012) und an der Universität Katowice (2018). Arbeitsschwerpunkte: Text- und Medienlinguistik, Gesprächsanalyse, Phraseologie, Frankreichforschung. Patrizio Malloggi ist Dozent für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Pisa. Promotion in der Germanistischen Linguistik an der Universität Pisa im Bereich der untypischen Präpositionen aus kontrastiver Sicht (Deutsch-Italienisch). DAADStipendiat am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (2014). Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Grammatikschreibung, der Präadverbien in sprachvergleichender Perspektive (Deutsch-Italienisch) und der DaF-/DaZ-Didaktik. Domenico Mugnolo lehrte deutsche Literatur an den Universitäten Trient, Macerata und Bari. Er war Vorsitzender des italienischen Germanistenverbandes. Seine Werke wurden in Italien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland veröffentlicht. Seine Studieninteressen gelten den folgenden Bereichen: Probleme des Romans; zeitgenössische Literatur und Tradition; poetologische und dramaturgische Reflexion in der Aufklärung; Italienbild in der deutschen Literatur; Sprache, Literatur und nationale Identität. Gianluca Paolucci ist wissenschaftlicher Assistent (Ricercatore) für deutsche Literatur an der Universität Roma Tre. Seine Forschungsinteressen umfassen die Literatur der Goethezeit; Praktiken und Theorien der Medien im 18. und 20. Jahrhundert; Literatur, Raum und Kartographie. Buchveröffentlichungen (u. a.): Ritualità massonica nella letteratura della Goethezeit (2014); Letteratura e cartografia (Hrsg. mit Francesco Fiorentino, 2017); Per un atlante geostorico della letteratura tedesca (1900–1930) (Hrsg. mit Francesco Fiorentino und Milena Massalongo (2021); «Vieni! Guarda e senti Dio». Teologia performativa in Herder (2021). Er ist Redakteur der Zeitschrift Cultura Tedesca und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Studi Germanici. Evi Petropoulou ist Associate Professor für deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts und Vergleichende Literaturwissenschaft am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Athen. Sie hat Germanistik an der Universität Athen und Komparatistik an der Universität des Saarlandes studiert, wo sie als DAAD-Stipendiatin auch promovierte. Forschungsschwerpunkte: deutsch-griechische Literaturbeziehungen, vergleichende Literaturwissenschaft, vergleichende Literaturkritik, Literaturtheorie, Erinnerungstheorien. Maja Razbojnikova-Frateva ist Professorin für deutschsprachige Literatur am Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik an der St. Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Arbeitsschwerpunkte: Literatur seit dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literatur von Frauen, die Gattung der Biographie, Gender Studies, Men’s Studies,



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Interkulturalität und Transkulturalität, Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur, Realismusforschung. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und Übersetzungen. Lucia Salvato ist Dozentin für deutsche Sprachwissenschaft an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Angewandten Textlinguistik. Sie beschäftigt sich mit linguistischen Fragen auf kontrastiver Ebene. Unter ihren Publikationen: Polyphones Erzählen. Zum Phänomen der Erlebten Rede in deutschen Romanen der Jahrhundertwende (2005) und Literarisch-linguistische Besonderheiten in Wolfgang Hildesheimers Selbstübersetzungen (in Linguistik online 2021). Stefania Sbarra ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Ca’ Foscari Venezia. Sie hat Bücher zur Rousseau-Rezeption in der Goethezeit (La statua di Glauco. Letture di Rousseau nell’età di Goethe, 2006) und zur Literatur des Spätrealismus verfasst («Il confine, il confine. Dov’è?» Theodor Fontane, Friedrich Nietzsche e il Realismo tedesco, 2019). Zahlreiche Beiträge hat sie Kleist, Goethe, Heinrich Mann, Benn, der literarischen Nietzsche-Rezeption, Grass, der Gegenwartsliteratur und dem deutschen Film gewidmet. Maria Paola Scialdone ist seit 2012 Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Università degli Studi di Macerata. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen literarische Anthropologie, insbesondere Autobiographie und Selbstanalyse; Geselligkeit; Pietismus und Neuzeit; Goethezeit und inter- und transkulturelle Literatur; Literatur und andere Medien. Sie hat sich intensiv der Theodor Fontane-Forschung, insbesondere den Raumordnungen und dem Melusinischen, sowie der Wirkung von Fontanes Œuvre in der Gegenwart (bes. dem Genre „Nachwanderungen“) gewidmet.  Valentina Serra ist Professorin für Deutsche Literatur an der Universität Cagliari. Sie untersucht die Formen des Engagements der Intellektuellen in der Gegenwart (Robert Menasse. Intellettuale, scrittore e critico europeo, 2018), in den dreißiger Jahren (Parigi 1935, 2005) und in der Exilliteratur (Deutsch für Deutsche, 2001). Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich mit Reiseliteratur und Kolonialismus (Odeporica e colonizzazione tedesca in Africa – Reiseberichte und deutsche Kolonisation in Afrika, IISG 2021). Markus Steinmayr, seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen und Publizist (FAZ, Merkur, Der FREITAG u.a.). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Sozialpolitik, Ökonomie und Literatur, Bildungsroman. Aktuelle Publikationen: Identität, Intersektion, Intervention: Mithu Sanyals Identitti und Jasmina Kuhnkes Schwarzes Herz. In: Weimarer Beiträge, 68 (2022), Heft 2, S. 217 – 239. Demnächst erscheint: Gegenbildung. Eine Literaturgeschichte von Schiller bis Fontane. László V. Szabó, Dr. habil., seit 2006 Dozent für Neuere deutschsprachige Literatur an der Pannonischen Universität Veszprém, Ungarn, seit 2018 auch an der Universität J. Selyeho, Komorn, Slowakei. Promotion über den Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse, Habilitation über Rudolf Pannwitz. Forschungs-

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schwerpunkte u. a.: interkulturelle Literaturwissenschaft, deutsche Literatur des bürgerlichen Realismus, Literatur der Wiener Moderne, Komparatistik. Cristiana Tappatà hat 2021 mit einer Dissertation über Rainer Maria Rilkes musikalische Poetik in Textwissenschaft (Germanistik) an der Università Sapienza (Rom) promoviert. Sie hat Sprache, Kultur und Literaturübersetzung (Università degli Studi, Macerata) und Klavier (Conservatorio di Musica G. B. Pergolesi, Fermo) studiert. Ihre Forschungsinteressen gelten der Beziehung zwischen Sprache und Musik und der musikalischen Sprache in der Literatur, insbesondere in Rainer Maria Rilkes Werken. Susanne Vitz-Manetti, Dr. phil., geb. 1967, Studium der Germanistik, Romanistik und Erziehungswissenschaften in Heidelberg, Münster, Florenz und Düsseldorf. Mehrfache DAAD-Forschungsstipendien sowie DAAD-Lektorat in Padua, Universitätslektorin für deutsche Sprache in Padua und Florenz, Lehraufträge an den Universitäten Florenz und Düsseldorf. Seit 2004 freie Mitarbeiterin am IIK Düsseldorf. Veröffentlichungen zu Th. Fontane, J. W. v. Goethe und E. v. Keyserling sowie zur Didaktik des Übersetzens und zur deutschen Syntax.