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German Pages 298 Year 2015
Alexandra Dunkel Figurationen des Polnischen im Werk Theodor Fontanes
Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der
Theodor Fontane Gesellschaft e.V. Wissenschaftlicher Beirat
Hugo Aust Helen Chambers
Band 10
De Gruyter
Alexandra Dunkel
Figurationen des Polnischen im Werk Theodor Fontanes
De Gruyter
ISBN 978-3-11-042584-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042289-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042293-1 ISSN 1861-4396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie wurde unter dem Titel Konflikt und Wiederkehr. Figurationen des Polnisch-Nationalen im Werk Theodor Fontanes im Sommersemester 2013 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie in Teilen überarbeitet. Sehr herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Volker Hoffmann, meinem Erstgutachter und prägenden akademischen Lehrer, der die Arbeit von Beginn an mit Engagement und freundschaftlicher Ermunterung begleitet hat. Mein Dank gilt ebenso Prof. Dr. Christian Begemann für seine umgehend-interessierte Bereitschaft, als Korreferent zur Verfügung zu stehen. Für die Aufnahme der Studie in die Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft geht mein Dank an Dr. Manuela Gerlof und Susanne Rade vom Verlag de Gruyter sowie an die Gutachter der Reihe, insbesondere Prof. Dr. Hugo Aust, der mir entscheidende Impulse für die Überarbeitung gegeben hat. Herzlich danken möchte ich darüber hinaus den langjährigen Freunden aus dem Oberseminar von Prof. Dr. Volker Hoffmann, vor allem Dr. Franziska Mayer, die die Arbeit noch im Entstehungsprozess gelesen und mit einer Vielzahl wertvoller Hinweise versehen hat, sowie Franz Adam, der mir eine große Hilfe beim Korrekturlesen war. Unermüdliche Unterstützung habe ich von meiner Mutter, Renate Dunkel, erfahren. Dafür, dass sie gerade auch in der Endphase des Schreibens für notwendige Entlastungen im Alltag gesorgt hat, danke ich ihr sehr. Ein letzter, inniger Dank geht an meinen viel zu früh verstorbenen Lebensgefährten Prof. Dr. Armin Schulz – von seiner mitreißenden Begeisterung, an Texten zu arbeiten, sie in ihrer spezifischen ›Gemachtheit‹ und ihren historisch-kulturellen Zusammenhängen zu analysieren, von seiner steten Freude an Gespräch und Diskussion zehre ich noch heute. Dieses Buch, an dessen Fertigstellung er immer glaubte, ist ihm in liebevoller Erinnerung gewidmet. München, im November 2014
Alexandra Dunkel
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk: Fontanes Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der kongresspolnische Novemberaufstand 1830/31 als Referenzereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Historischer Exkurs: Die Insurrektion von 1830/31 2.1.2 Die Phantasie des Zeitzeugen: »Meine Kinderjahre« (1894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Polenlieder: Poetik der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1 Exkurs: Polenlieder in Fontanes Erzähltexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.1 »Irrungen, Wirrungen« (1888) . . . . . . . . . 2.1.3.1.2 »Stine« (1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.2 Fontanes Polenlyrik von 1840/41 . . . . . . . 2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Reichsgründung und Polenfrage: Zur Fragilität nationaler Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes . . . . . . . . 3.1 (Die) Polen im Narrativ: Einführende Bemerkungen . . . . . 3.1.1 »Schach von Wuthenow« (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Effi Briest« (1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Kulturelles Wissen: Zeitgenössische Konversationslexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 »Vor dem Sturm« (1878) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Assimilation oder Opposition: Geheimrat Ladalinski vs. Bninski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Natürliche Ordnung: Die Flucht der schönen Polin 3.2.3 Herkunftsraum und nationale Identität . . . . . . . . . . .
1 17 17 18 22 27 29 33 37 43 56 85 110 110 112 116 120 123 127 144 151
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Inhalt
3.3 »Unterm Birnbaum« (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Mord an einem »Polen«: Implikationen (sozial, politisch-ideologisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Wieder-Holung: Zur Dynamik der »Szulski-Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 »Cécile« (1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 »Gefahr von Jugend auf«: Polnische Schönheit . . . . . 3.4.2 Im Kulturkampf: Preußen und Oberschlesien . . . . . . 3.4.3 ›Polnische Wirtschaft‹ und ihre Folgen . . . . . . . . . . . 3.5 »Mathilde Möhring« (entstanden 1891/1896) . . . . . . . . . . . 3.5.1 Karriereplanung (nicht kolonial): Von Berlin nach Westpreußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 »Rybinski-Wege«: Narrative Bändigung polnischer Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Das Regulativ der Kontingenz: Tod in der Ostprovinz
164 168 179 192 193 205 212 221 225 233 238
4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 5. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Texte Theodor Fontanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 7. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 8. Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
1. Einleitung Das Thema dieser Studie leitet sich aus der Grundbeobachtung ab, dass Polen bzw. in irgendeiner Weise Polnisches, stellt dies nun eine territoriale und/oder semantisch-ideologische Größe dar, in Theodor Fontanes fiktionalen und nichtfiktionalen Texten auffällig häufig vorkommt. Fontane ist einerseits Zeitzeuge einer wechselvollen polnisch-preußischen Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, die Eingang in autobiographische wie journalistische Texte findet, aber auch Anfang der 1840er Jahre zur Lyrikproduktion anregt, andererseits werden Figurationen des Polnischen immer wieder in seinen Erzähltexten relevant, erhalten gar strukturbestimmende Bedeutung: Dies gilt bereits für den Debütroman Vor dem Sturm (1878) des fast 60-Jährigen und reicht über Unterm Birnbaum (1885) und Cécile (1887) bis zu dem Nachlasstext Mathilde Möhring (entstanden 1891/1896). Daneben besitzen polnische Implikationen auch in Schach von Wuthenow (1882), Irrungen, Wirrungen (1888), Stine (1890), Effi Briest (1895) oder Die Poggenpuhls (1896) funktionalen Stellenwert. Bei einem preußischen Autor, dessen Werk sich maßgeblich mit der preußischen Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzt, provoziert der Befund polenthematischer Häufigkeit unmittelbar die Frage danach, wie Polen und Preußen(-Deutschland) textuell jeweils miteinander ins Verhältnis gesetzt werden – zumal dieses Verhältnis historisch ein massiv belastetes ist: Polen existiert bekanntlich im 19. Jahrhundert nicht mehr als eigenständiger Staat; nach der dritten polnischen Teilung 1795 wurde die polnisch-litauische Adelsrepublik mit ihrer Wahlmonarchie komplett zwischen Russland, Österreich und Preußen aufgeteilt. Innen- und außenpolitisch geschwächt, war sie zum Spielball vor allem preußischer und russischer Interessen geworden. Mit der ersten Teilung 1772 hatte Preußen bereits das sogenannte »Königlich-Preußen«1 (außer Thorn und Danzig), das Ermland sowie den Netzedistrikt erhalten und damit die strategisch wichtige territoriale Verbindung zwischen dem östlichen Preußen sowie 1
Dabei handelt es sich um den westlichen Teil des alten Fürstentums Preußen, das seit 1454 zur polnischen Krone gehörte. Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947. Aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer. 2. Aufl., München 2008, S. 275 f.
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Pommern und Brandenburg herstellen können. »Westpreußen« nannte König Friedrich II. seine neue Provinz. Durch die zweite Teilung 1793, mit der Russland und Preußen auf unerwünschte Reformbewegungen in Polen reagierten,2 kamen für Preußen dann die Städte Danzig und Thorn hinzu sowie erhebliche Teile Großpolens und Masowiens, mithin »ein ansehnliches Dreieck, das die Lücke zwischen Schlesien und Ostpreußen verkleinerte«.3 Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands, der sich 1794 unter Führung des Generals Tadeusz Kos´ciuszko formierte, folgte 1795 die dritte Teilung, die Preußen einen weiteren zentralpolnischen Landstreifen westlich von Bug und Memel einbrachte.4 Seine neue Großmachtstellung verdankte Preußen maßgeblich dem Gebietszuwachs auf Kosten Polens. Zwar gingen mit der Errichtung des Herzogtums Warschau 1807 durch Napoleon die Gewinne aus der zweiten und dritten Teilung wieder verloren, beim Wiener Kongress 1815 fielen jedoch die westlichen Teile dieses Herzogtums als »Großherzogtum Posen« (seit 1849 nur noch »Provinz Posen«) erneut an Preußen zurück, mit weitreichenden Folgen: Die territoriale Integrität Preußens – bzw. nach 1870/71 die des neu gegründeten Deutschen Reichs – war unweigerlich »auf die Nichtlösung der polnischen Frage, das heißt auf die Perpetuierung der Teilung Polens, gegründet«.5 Preußisch-polnische Beziehungen sind im 19. Jahrhundert durch Konflikte gekennzeichnet, die sich zum einen in grenzüberschreitenden Aufstandsbewegungen in den Jahren 1830/31, 1848 und 1863/64 manifestierten, die aber zum anderen auch durch innenpolitische Maßnahmen verstärkt wurden. Außenpolitisch tangierte die polnische Frage das preußische Verhältnis zu Russland, weitgehend blieb sie allerdings ein innen-
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So gab sich Polen unter König Stanisław August Poniatowski am 3. Mai 1791 die erste geschriebene Verfassung des modernen Europas, erst vier Monate später folgte die französische Verfassung. Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens. Aktualisierte und erw. Ausgabe, Stuttgart 2008 (RUB 17060), S. 158. Österreich war an der zweiten Teilung nicht beteiligt. Clark, Preußen, S. 339. Alexander, Kleine Geschichte Polens, S. 159. Vgl. insgesamt auch Michael G. Müller, Die Teilungen Polens. 1772, 1793, 1795, München 1984. Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens. In: Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens. Mit Beiträgen von Ilja Mieck, Wolfgang Neugebauer, Hagen Schulze, Wilhelm Treue, Klaus Zernack, Berlin 1992, S. 377 – 448, hier: S. 386.
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politisches Problem,6 bildeten doch die Polen seit den Teilungen die größte Minderheit im Hohenzollerngebiet;7 in Posen machten sie über 50 Prozent der Bevölkerung aus, in Westpreußen immerhin ein Drittel. Hinzu kamen die polnischen Bevölkerungsanteile im südöstlichen Schlesien (Oberschlesien), denn bereits 1742 war der größte Teil des zum Habsburgerreich gehörenden Schlesien in den preußischen Staatsverband eingegliedert worden. Die Loyalität der Polen zum preußischen (und deutschen) Staat stand stets im Verdacht der Unzuverlässigkeit. Nicht zuletzt Bismarck sah in jeder Form von »Polonismus« eine Bedrohung preußischer (und deutscher) Existenz,8 ging gegen die Polen in den 1870er Jahren im Kulturkampf energisch vor und setzte in den 1880er Jahren verschärft auf Germanisierungsmaßnahmen zur staatlichen Homogenisierung. All dies zeigt: Ist bei Fontane von (den) Polen die Rede, hat man es vor dem Hintergrund zeitgenössischer polnisch-preußischer Konstellationen mit einer Textgröße zu tun, die historisch-politisch, mithin auch diskursivideologisch, brisant ›aufgeladen‹ ist. Hinzu kommt, dass Polnisches bei Fontane an lebensgeschichtlichen Erfahrungen partizipiert: Bereits in Kindertagen setzt spätestens mit dem sogenannten polnischen Novemberaufstand von 1830/31 sein Interesse an Polen ein;9 und es bleibt ihm dauerhaft sowie unabhängig von wechselnden politisch-ideologischen Positionierungen erhalten. ›Polen‹ ruft den interessierten Zeitzeugen auf den Plan, aber nicht weniger den Erzähler Fontane auf der Suche nach geeignetem Stoff. Und den scheinen die Polen, die einerseits eine bedrohliche Gegenwartsgröße in Preußen darstellen, andererseits aber auch gehöriges Attraktionspotential aufweisen, in besonderem Maß zu bieten. Obwohl die Polen Teil des preußischen Binnenraums und damit der preußischen Gesellschaft sind, also dazugehören, konstituieren sie »Alteritätsdomänen«,10 sind anders und fremd zugleich. Kulturell und konfessionell bestehen Differenzen, werden identitätsstiftende Abgrenzungen vorgenommen: Die katholischen Polen repräsentieren, systematisch be6 Gudrun Loster-Schneider, Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864 – 1898 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen 1986 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 11), S. 71. 7 Clark, Preußen, S. 658. 8 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. 3., durchges. Aufl., München 1995, S. 268. 9 Siehe Kapitel 2.1.2. 10 Konrad Ehlich, Preußische Alterität – Statt einer Einleitung –. In: Ders. (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 8 – 22, hier: S. 15.
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trachtet, in Relation zum protestantischen Preußisch-Eigenen eben das ›Andere‹, was nicht heißt, dass in den narrativen Texten Fontanes die Blickrichtung nicht auch gewendet werden kann: Dann steht figurenspezifisch dem Polnisch-Eigenen das Preußisch-Andere gegenüber. Offenbar bestehen (robuste) qualitative Grenzen, die sich trotz intraterritorialer Homogenisierungsmaßnahmen kaum abbauen lassen, wenigstens nicht dauerhaft. Dies zeigen auf politischer Ebene beispielsweise die gescheiterten antipolnischen Maßnahmen Bismarcks; und auch Fontanes Erzähltexte, in denen Polenbezüge strukturbestimmend sind, werfen – das sei hier vorweggenommen – die Frage nach der Bestandskraft preußischpolnischer Grenzen auf. Zumindest kategorial hat es Sinn, vom ›Anderen‹ das ›Fremde‹ zu unterscheiden; es steht in Opposition zum nahe ›Vertrauten‹ und ›Bekannten‹, funktioniert also nach »Maßgabe der Distanz«, nicht der Differenz.11 Heuristischen Wert erhält der Begriff des ›Fremden‹, da er zu integrieren vermag, was den Polen an bedrohlichen, aber auch an faszinierenden Anteilen attestiert wird. Gerade diese Ambivalenz ist für das ›Fremde‹, das sich bei Fontane im preußisch-polnischen Gegenüber allein auf das ›Polnische‹ anwenden lässt, überhaupt konstitutiv.12 Freilich soll nicht in Abrede stehen, dass das ›Andere‹ und das ›Fremde‹ auch interferieren können: So ist ein Merkmal wie das Katholische einerseits Differenzkriterium, andererseits werden Anziehungsmomente wirksam, schließt
11 Die kategoriale, wenn auch im alltäglichen und ebenso im wissenschaftlichen Sprachgebrauch meist nicht getroffene Unterscheidung zwischen dem ›Anderen‹ und dem ›Fremden‹ betont Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35 [269]), S. 41 – 49. Dem ›Anderen‹ und dem ›Fremden‹ ordnet sie die je unterschiedlichen Operationen ›Identitätsbildung‹ und ›Verstehen‹ zu, verbunden mit den jeweiligen Parametern ›Differenz‹ und ›Distanz‹ (Zitat S. 43). Für die Fontane’schen Texte ist jedoch zu ergänzen, dass das Fremde nicht unbedingt ›verstanden‹ werden muss, sondern als Faszinationsgröße auch als solches Bestand haben kann. 12 Siehe Volker Barth, Fremdheit und Alterität im 19. Jahrhundert: Ein Kommentar. In: Mareike König, Jörg Requate und Carole Reynaud-Paligot (Hrsg.), Discussions 1 (2008): Das Andere. Theorie, Repräsentation und Erfahrung im 19. Jahrhundert (4. Sommerkurs des Deutschen Historischen Instituts, 2007) – L’autre. Théorie, représentation, vécu au XIXe siècle (4e université d’été pour jeunes chercheurs de l’Institut historique allemand, 2007), Abschnitt 1 – 36, hier: Abschnitt 15, URL: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/discussions/1-2008/barthfremdheit (abgerufen am 11. 2. 2015).
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es bei Fontane Semantiken des Sinnlichen und Natürlich-Empathischen mit ein.13 Wie bekannt, besaß Fontane lebenslang Interesse am »kommunikative[n] Alltagswissen«14 (weniger am wissenschaftlichen Diskurs) über fremde Völker und Nationen, und das heißt auch an konventionellen nationalen Zuschreibungen. Sie sind viel genutztes, zumal in Figurenreden einsetzbares Material für seine Texte, und Rolf Parr kommt treffend zu dem Schluss: »Wollte man Fontanes Umgang mit dem System der Nationalstereotypen auf einen Nenner bringen, so wäre als These zu formulieren: Er spielt, kalkuliert, bricoliert im System der Nationalstereotypen [sic!] mit den Nationalstereotypen«.15 Noch heute geht die historische Stereotypenforschung davon aus, dass »das Übereinander-Reden der Völker […] in der Regel von Stereotypen geprägt [ist], in denen sich eine ganz spezifische Wahrnehmungsselektion niederschlägt und reproduziert«.16 Bereits folgender Ausschnitt aus Fontanes autobiographischem Erinnerungstext Kriegsgefangen (1871) vermittelt nichts anderes: Die Engländer haben ein Schul- und Kinderbuch, das den Titel führt: »Peter Parley’s Reise um die Welt, oder was zu wissen not tut.« Gleich im ersten Kapitel werden die europäischen Nationen im Lapidarstil charakterisiert. Der Holländer wäscht sich viel und kaut Tabak; der Russe wäscht sich wenig und trinkt Branntwein; der Türke raucht und ruft Allah. Wie oft habe ich über Peter Parley gelacht. Im Grunde genommen stehen wir aber allen fremden Nationen gegenüber mehr oder weniger auf dem Peter-Parley-Standpunkt; es sind immer nur ein, zwei Dinge, die uns, wenn wir den Namen eines fremden 13 Vgl. Norbert Mecklenburg, ›Alle Portugiesen sind eigentlich Juden.‹ Zur Logik und Poetik der Präsentation von Fremden bei Fontane. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, S. 88 – 102, der auf folgende Assoziationsketten im Erzählwerk Fontanes hinweist: »[p]rotestantisch = männlich = rational = Prinzipienmensch; katholisch = weiblich = sinnlich = Impulsmensch« (S. 91). 14 Ebd., S. 93. 15 Rolf Parr, ›Der Deutsche, wenn er nicht besoffen ist, ist ein ungeselliges, langweiliges und furchtbar eingebildetes Biest.‹ – Fontanes Sicht der europäischen Nationalstereotypen. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des TheodorFontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 1: Der Preuße. Die Juden. Das Nationale, Würzburg 2000, S. 211 – 226, hier: S. 215. 16 Michael Jeismann, Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln? In: Jürgen Link und Wulf Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991 (= Sprache und Geschichte 16), S. 84 – 93, hier: S. 84.
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Volkes hören, sofort entgegentreten: ein langer Zopf, oder Schlitzaugen, oder ein Nasenring.17
Auch für die Polen steht ein traditionelles Reservoir an Merkmalen parat, das Fontane letztlich in seinen Texten abrufen und funktionalisieren kann. Wohl seit dem 17. Jahrhundert bekannt war das Stereotyp der ›polnischen Wirtschaft‹, das jedoch im 18. Jahrhundert aus aufklärerischer Sicht und vor dem Hintergrund der Auflösung polnischer Staatlichkeit neu gewichtet und popularisiert wurde.18 Wiederum lässt sich in Abgrenzung zum (Preußisch-)Deutschen mit den Rastern des ›Anderen‹ und/oder ›Fremden‹ operieren. Während die ›polnische Wirtschaft‹ dichotomisch den preußisch-deutschen »bürgerlichen Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, Sauberkeit«19 konfrontiert wird und damit Differenz markiert, gehen von anderen stereotypen Mustern, die den Polen zugeordnet werden, anhaltende Attraktionskräfte aus, die freilich auch (ver)störendes Potential beinhalten können: Gemeint ist der ebenfalls im 18. Jahrhundert aufkommende Idealtypus des freiheitsliebenden ›edlen Polen‹ sowie und vor allem die ›schöne Polin‹, meist bezogen auf eine adelige Dame. Zwar ergeben bei Fontane die »Sortierungen oder Modi der Anordnung von Nationalstereotypen […] insgesamt so etwas wie ein geographisches Mapping semantischer Verbundräume«,20 wie es Rolf Parr anhand von Texten, die nach der Reichsgründung 1870/71 entstanden sind, herauspräpariert hat. Innerhalb dieses Systems haben die Polen das Merkmal der Sinnlichkeit und Natürlichkeit mit anderen Katholiken gemeinsam, ob sie nun italienisch, österreichisch oder bayerisch sind, teilen die Polen beispielsweise Eigenschaften wie Leichtsinn, Unberechenbarkeit und erotische Ausstrahlung mit den Franzosen.21 Aber in der Summe ihrer Merkmale sind die Polen zugleich mehr: Sie repräsentieren als Katholiken fremder Herkunft, die konfessionell und national zu integrieren sind, eine
17 HFA III/4, S. 550. 18 Hubert Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 21), S. 47 – 80. 19 Hubert Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹ und Prozesse der Nationsbildung. In: Ders., Andreas Lawaty und Deutsches Polen-Institut im Auftrag der Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik, München 2003, S. 269 – 279, hier: S. 273. 20 Parr, ›Der Deutsche, wenn er nicht besoffen ist […]‹, S. 218. 21 Vgl. ebd., S. 216.
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gesteigerte binnenpreußische Konfliktgröße,22 und sie sind – dies gilt jedenfalls für Fontane – ein Volk, dessen aufständische Widerstandskraft in besonderer Weise und nachhaltig faszinieren kann, ganz abgesehen von der sprichwörtlich unerreichten Schönheit der Polinnen. Für Fontanes Verhältnis zu Polen ist die Spannung von (historisch vorgefundener, persönlich freilich nicht durchgängiger und daher differenziert zu betrachtender) politischer Abwehr und anhaltender ästhetischer Anziehung ebenso konstitutiv wie für seine Narrative produktiv. Dass die Polen in Fontanes Texten »Kunstfiguren« sind, darauf hat Peter Schumann zu Recht hingewiesen,23 und es scheint zwar banal, aber notwendig (weil in der Forschung immer wieder übersehen), dies hier gleich am Anfang zu konstatieren. Damit soll nicht auf die Vergleichsebene der Wirklichkeit abgestellt werden, etwa auf die Tatsache, dass Fontane nie in den polnischen Gebieten war,24 sondern auf ihre darstellerische Einbindung. Bei aller Referenz auf textexterne Realitäten, Daten und Orte, zeitgenössisch-gültige kulturelle Ordnungsmuster, darf die jeweilige ästhetische Aktualisierung nicht aus dem Blick geraten, ist ihre Bedeutung immer funktional aus dem je konkreten Textumfeld abzuleiten; realhistorisch vorgegebene preußisch-polnische Antagonismen und Hierarchierelationen werden textuell zwar reproduziert, aber sie werden auch reflektiert und gebrochen. Nachfolgend soll daher der Versuch unternommen werden, Figurationen des Polnischen im Werk Theodor Fontanes kontextbezogen zu analysieren, in ihren diachronen Verschiebungen darzustellen, aber auch in ihren thematischen und narrativen Konstanten. Der Begriff der ›Figuration‹ wurde für den Titel gewählt, um diese interpretatorische Stoßrichtung möglichst adäquat wiederzugeben; bewusst verzichtet wurde hingegen auf den aus der komparatistischen Imagologie stammenden Bildbegriff (›Po22 Im Gegensatz dazu sind die Franzosen in Preußen vor allem als hugenottische Einwanderer präsent; für sie war Preußen – nach der Aufhebung des den Protestanten in Frankreich Sonderrechte gewährenden Edikts von Nantes 1685 – rettendes Zufluchtsterritorium. Auch Fontane stammte bekanntlich aus »einer noch ganz von Refugié-Traditionen erfüllten Französischen-Colonie-Familie«, wie es im Vorwort der Kinderjahre (1894) heißt (HFA III/4, S. 9). 23 Peter Schumann, ›Die große Front der slavischen Welt‹ – Polen und die Polen im Werk des deutschen Dichters Theodor Fontane. In: Wiesław Sieradzan (Hrsg.), Die Vorträge der Gäste des Instituts für Geschichte und Archivkunde der Nikolaus-Kopernikus Universität im Studienjahr 2004/2005, Torun´ 2006 (= Homines et historia 8), S. 223 – 247, hier: S. 234. 24 Seine zahlreichen Aufenthalte in Schlesien beschränkten sich auf das niederschlesische Gebiet.
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lenbild‹), der ganz allgemein auf Wahrnehmungs- und Vorstellungsmuster abzielt und terminologisch oft in die assoziative Nähe von ›Stereotyp‹ bzw. ›Vorurteil‹ gerät.25 Zweifellos hat er weiterhin Konjunktur, sobald eine Fremdnation interpretatorisch in den Blick genommen wird, sei es einzeltextspezifisch oder gar auf das Œuvre oder ein Textkorpus eines bestimmten Autors bezogen, und auch die polenthematische Forschung zu Fontane ist hier keine Ausnahme.26 Doch auch wenn der Bildbegriff in seinen Implikationen in der Regel nicht reflektiert wird: Er weist genuin Statisches auf, suggeriert Synthetisierung, zielt tendenziell auf ein axiologisch besetztes Resultat (»das Bild«). Häufig steht in der Forschung zu Fontane und Polen, wie es (der Historiker!) Andreas Lawaty festgestellt hat, denn auch »die Qualität des Polenbildes mehr im Mittelpunkt […] als die Funktion des Polenthemas«,27 geht es zu guter Letzt um die Ent- oder 25 Zur Problematik des Bildbegriffs siehe Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 114), S. 17 – 32. 26 Genannt seien im Folgenden nur die Beiträge, die den Begriff ›Polenbild‹ schon im Titel verwenden: Dietrich Sommer, Das Polenbild Fontanes als Element nationaler Selbstverständigung und -kritik. In: Weimarer Beiträge 16/2 (1970), S. 173 – 190; Siegfried Sudhof, Das Bild Polens im Werk Theodor Fontanes. In: Germanica Wratislaviensia 34 (1978), S. 101 – 111; Mirosław Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane. In: Hartmut Kircher und Maria Kłan´ska (Hrsg.), Literatur und Politik in der Heine-Zeit. Die 48er Revolution in Texten zwischen Vormärz und Nachmärz, Köln 1998, S. 219 – 234; Bernd Neumann, Über die Geburt der Melusine aus den Wassern der Weichsel: zu Theodor Fontanes Polen-Bild. In: Ders., Dietmar Albrecht und Andrzej Talarczyk (Hrsg.), Literatur – Grenzen – Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft, Würzburg 2004, S. 283 – 292; Rudolf Muhs, Theodor Fontanes unbekannte Rezension über Kurd von Schlözers ›Friedrich der Große und Katharina die Zweite‹. Eine Quelle für Fontanes Polenbild. In: Fontane Blätter 85 (2008), S. 16 – 44; Hubert Orłowski, Fontanes Polenbild (in der Forschung) und die historische Stereotypenforschung. In: Hugo Aust und Hubertus Fischer (Hrsg.), Fontane und Polen, Fontane in Polen. Referate der wissenschaftlichen Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e.V. vom 26. bis 29. Mai 2005 in Karpacz (Krummhübel), Würzburg 2008 (= Fontaneana 6), S. 25 – 40; Jan Pacholski, Das Polenbild in Fontanes Kriegsbüchern und in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ [mit polnischer Zusammenfassung]. In: Reflexionen über Pommern und Polen im Werk Theodor Fontanes. Hrsg. von der Fundacja Akademia Europejska Kulice-Külz/Stiftung Europäische Akademie Külz-Kulice, Kulice 2010 (= Zeszyty Kulickie. Külzer Hefte 6), S. 120 – 139. Zwar bemerkt Orłowski, Fontanes Polenbild (in der Forschung), S. 25, dass der Bildbegriff »methodisch gesehen […] wohl nicht der glücklichste« sei, führt dies aber nicht weiter aus. 27 Andreas Lawaty, Fontanes preußisch-polnischer Kulturvergleich. In: Krzysztof Ruchniewicz und Marek Zybura (Hrsg.), Amicus Poloniae. Teksty ofiarowane
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Belastung des Autors: Dann ist Fontane entweder (und deutlich seltener) Polenfeind bzw. distanziert28 oder aber Polenfreund,29 befindet sich zumindest in vermittelnder, um Objektivität bemühter Position.30 Im Gegensatz zum statisch-synthetisierenden Bildbegriff ist nun dem Begriff der ›Figuration‹ eine dezidiert relationale Komponente eingeschrieben, so dass er mir geeignet scheint, terminologisch die strukturelle Verankerung von Textelementen zu erfassen, auf die es in dieser Untersuchung ankommt. Im Vordergrund steht also weniger ein qualitatives Gesamtergebnis, vielmehr soll es in erster Linie um textuelle Modellierungen des Polnischen gehen. (Dass sich aus ihren Implikationen im Rahmen einer wechselvollen polnisch-preußischen Beziehungsgeschichte freilich durchaus bisweilen politische Positionierungen ableiten lassen, wird sich vor allem anhand des nichtfiktionalen und autobiographischen Profesorowi Heinrichowi Kunstmannowi w osiemdziesia˛ta˛ pia˛ta˛ rocznice˛ urodzin, Wrocław 2009, S. 261 – 267, hier: S. 265. 28 Vgl. Wien´czysław A. Niemirowski, Zum Polenthema in Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹. In: Fontane Blätter 50 (1990), S. 96 – 102; ders., Theodor Fontane und Polen im Lichte seiner Korrespondenz und Publizistik (unter Heranziehung der autobiographischen Schriften). In: Aust und Fischer (Hrsg.), Fontane und Polen, Fontane in Polen, S. 41 – 65; Jan Pacholski, Theodor Fontanes Schlesienreise von 1872. In: Aust und Fischer (Hrsg.), Fontane und Polen, Fontane in Polen, S. 113 – 130. 29 Vgl. etwa Sommer, Das Polenbild Fontanes; Sudhof, Das Bild Polens im Werk Theodor Fontanes; Walter Müller-Seidel, Fontane und Polen. Eine Betrachtung zur deutschen Literatur im Zeitalter Bismarcks. In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 433 – 447 (»Aber die Sympathie für ein von der offiziellen Politik vernachlässigtes Volk und seine Menschen ist unverkennbar«, S. 440). 30 Vgl. z. B. Marek Jaroszewski, Theodor Fontane und die deutschsprachige Literatur mit Polenmotiven. In: Ders., Literatur und Geschichte. Studien zu den deutschpolnischen Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Warszawa 1995, S. 88 – 96; Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane; Mariola Lewandowska, ›… denn er ist Pole, vom Wirbel bis zur Zeh.‹ Die Polen in Theodor Fontanes Roman ›Vor dem Sturm‹. In: Mythen und Stereotypen auf beiden Seiten der Oder. Hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung und der Hans Werner Richter-Stiftung von Hans Dieter Zimmermann, Berlin 2000, S. 47 – 55 (= Schriftenreihe des Forum Guardini 9) – »Fontane [will] die Nationalitäten nicht gegeneinander ausspielen«, S. 54; Anna Stroka, Das Fremde in Theodor Fontanes Werk am Beispiel der Polenthematik. In: Bernd Balzer und Marek Hałub (Hrsg.), Wrocław – Berlin. Germanistischer Brückenschlag im deutsch-polnischen Dialog. 2. Kongress der Breslauer Germanistik. Bd. 3: Literaturgeschichte 18.–20. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Balzer und Wojciech Kunicki, Wrocław/Dresden 2006, S. 37 – 46.
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Textkorpus zeigen.) ›Polen‹ markiert im Fontane’schen Werk, wie bereits angedeutet, eine außersprachliche Bezugsgröße, aber ist auch ein ästhetisches Phänomen, das zwar mimetisch an historische Rahmendaten bzw. diskursiv an tradiertes kulturelles Wissen anschließt, jedoch innerhalb der jeweiligen Texte seine je spezifische Dynamik erhält. Wenn im Folgenden mit ›Figuration‹ Repräsentationsformen in ihrer textuellen Einbettung begrifflich erfasst werden sollen, dann entspricht dies der gängigen literaturwissenschaftlichen Verwendung.31 Figurationen des Polnischen rekurrieren dabei auf Elemente, die in irgendeiner Weise polnisch konnotiert sind, seien dies nun anthropomorphe Figuren, die entweder polnischer Herkunft sind oder sich als Polen ausgeben, oder auch abstrakte Textgrößen: polnische Orte und Räume, populäre Polenlieder, nationalstereotype Muster. Mittlerweile sind um die dreißig Beiträge erschienen, die sich schwerpunktmäßig mit dem Polnischen bei Fontane beschäftigen. Die frühesten stammen aus den 1970er Jahren, wurden in der DDR und BRD veröffentlicht;32 eine erneute Konjunktur des Themas ist sowohl auf deutscher als auch auf polnischer Seite seit den 1990er Jahren zu verzeichnen.33 Im Jahr 2008 ist zudem ein von Hugo Aust und Hubertus 31 Siehe stellvertretend die Studien von Bettina Mosbach, Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds ›Die Ringe des Saturn‹ und ›Austerlitz‹, Bielefeld 2008, und Carsten Rohde, Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Tolstoi, Fontane), Heidelberg 2011 (= GRM-Beiheft 43). Zahlreiche Belege für eine breite Begriffsverwendung liefert auch H(erbert) S(chmidt), [Art.] ›figurieren‹. In: Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Bd. 5: Bearb. von Gerhard Strauß, Heidrun Kämper et. al., Berlin/New York 2004, S. 843 – 855, bes. S. 845 f. Eine einheitliche Begriffsdefinition existiert in der Literaturwissenschaft jedoch nicht. Vgl. z. B. Gerhard Neumann, Figur und Figuration. Zu E.T.A. Hoffmanns Individualitätskonzept in der Novelle ›Prinzessin Brambilla‹. In: Gottfried Boehm, Gabriele Brandstätter et. al. (Hrsg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007 (= Bild und Text), S. 139 – 161, wo ›Figuration‹ in Abgrenzung von der als Einheit gedachten ›Figur‹ dann verwendet wird, wenn Momente der Beweglichkeit und des Übergangs – Phänomene der Dynamisierung, Spaltung, Verdopplung von Subjekten – ins Spiel kommen. 32 Sommer, Das Polenbild Fontanes; Sudhof, Das Bild Polens im Werk Theodor Fontanes; Müller-Seidel, Fontane und Polen. 33 Beginnend mit Cecylia Załubska, Zum Adelsverständnis der Realisten des 19. Jahrhunderts im deutsch-polnischen Bereich (Theodor Fontane, Gustav Freytag, Marie v. Ebner-Eschenbach). In: Studia Germanica Posnaniensia 17/18 (1991), S. 125 – 146; Jaroszewski, Theodor Fontane; Werner Rieck, Polnische Thematik im Werk Theodor
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Fischer herausgegebener Aufsatzband erschienen, der unter dem Titel Fontane und Polen, Fontane in Polen Vorträge einer Tagung der Theodor Fontane Gesellschaft versammelt, die im Frühjahr 2005 in Karpacz/Polen stattfand, also in jenem ehemals Krummhübel genannten Ort im niederschlesischen Riesengebirge, in dem Fontane zwischen 1872 und 1887 mehrfach seine Sommerfrische verbrachte.34 Dieser Band enthält ausschließlich Aufsätze polnischer Germanisten, wobei das polenthematische Spektrum von einzeltext- oder gattungsspezifischen Analysen über die Verwendung von Stereotypen der »langen Dauer«35 bei Fontane bis hin zum Autobiographischen reicht: Fontanes Schlesienreise 1872 spielt ebenso eine Rolle wie sein Vetter Carl Fontane, der ab 1882 für zehn Jahre verantwortlicher Redakteur der Posener Zeitung war.36 Aufschlussreich ist ein Blick in die von Mirosław Ossowski und Jens Stüben verfasste Auswahlbibliographie zum Polenbild in der deutschen Literatur: Denn dort findet sich unter der Literaturepoche des Realismus, abgesehen von Gustav Freytag, dessen Roman Soll und Haben (1855) nach wie vor zu den Kerntexten polenthematischer Forschung gehört, kein Autor, der so viele Einträge wie Theodor Fontane besitzt.37 Doch ungeachtet dieser Quantität
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Fontanes. In: Fontane Blätter 61 (1996), S. 84 – 115 (im Zentrum dieses Beitrags steht Fontanes Polenlyrik); Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane. Ich gehörte zu den Teilnehmern dieser Tagung und verdanke ihr viel, nicht zuletzt eine weiter beförderte (und anhaltende) Lust am Gegenstand. Orłowski, Fontanes Polenbild (in der Forschung), S. 34. Niemirowski, Theodor Fontane und Polen; Krzysztof Lipin´ski, Epische Perspektiven eines Feldzuges. ›Pan Tadeuz‹ von Adam Mickiewicz und ›Vor dem Sturm‹ von Theodor Fontane am Vorabend der Napoleonischen Kriege (S. 95 – 104); Orłowski, Fontanes Polenbild (in der Forschung); Pacholski, Theodor Fontanes Schlesienreise von 1872; Ewa Płomin´ska-Krawiec, Die Posener Jahre des Redakteurs, Schriftstellers und Stadtverordneten Carl Fontane (S. 67 – 79). Drei Aufsätze des Bandes setzen keinen polenthematischen Schwerpunkt. Die Auswahlbibliographie zum Polenbild in der deutschen Literatur ist in gedruckter Form zuletzt in den Studia Germanica Gedanensia 11 (2003), S. 207 – 303, erschienen (zuvor schon 1994 unter dem Alleinherausgeber Stüben). Diese Bibliographie steht auf der Website des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in aktualisierter Version zur Verfügung und reicht bei Fontane zurzeit bis zum Jahr 2008: http://www.bkge.de/10778.html, abgerufen am 11. 2. 2015. Noch nicht verzeichnet sind die Beiträge des Sammelbandes Reflexionen über Pommern und Polen im Werk Theodor Fontanes, der 2010 von der Stiftung Europäische Akademie Külz-Kulice herausgegeben wurde; manche seiner Autoren können freilich weniger der Fontane-Forschung als den Fontane-Liebhabern zugerechnet werden. Letzteren ist wohl auch Elsbeth Vahlefeld mit ihrem Buch Theodor Fontane in Pommern und in den östlichen Provinzen Preußens
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werden schnell Lücken erkennbar.38 So hat von den vier Erzähltexten, in denen Polenbezüge eine zentrale Bedeutung erlangen, nämlich Vor dem Sturm, Unterm Birnbaum, Cécile und Mathilde Möhring, allein die Polenthematik in Vor dem Sturm größere Beachtung gefunden.39 Hinzu kommt, dass viele Analysen, wie bereits erwähnt, in erster Linie auf qualitative Einordnungsversuche zusteuern, manche von ihnen Polnisches bei Fontane auch mehr inventarisieren als kontextbezogen analysieren. Freilich existieren wichtige Beiträge: So unternimmt es der Historiker Klaus Zernack (1981), Fontane vor dem »Problemhintergrund« eines »spezifisch ostpolitische[n] Dilemma[s] der Deutschen Frage« zu lesen;40 und Mirosław Ossowski (1998) zeichnet den Wandel von Fontanes »Polenbild« anhand von nichtfiktionalen und autobiographischen Texten, seiner Polenlyrik und des Romans Vor dem Sturm nach.41 Neben historisch-politischen Aspekten wurde schließlich auch auf die poetische Produktivität42 des Polenthemas bzw. seine ästhetischen Implikationen43 hingewiesen, auf seine strukturell-semantische Funktion als »Gegenelement« zum Preußischen;44 doch blieb dies schon eher nur noch Behauptung, wurde bestenfalls beispielhaft angerissen, nicht auf breiter Textbasis plausibilisiert.
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(Schwerin 2007) zuzuordnen, das ebenfalls nicht in der Bibliographie von Ossowski und Stüben aufgeführt ist. Nicht mehr eingesehen werden konnten vor Fertigstellung der Satzvorlage dieses Buches die Beiträge des Historikers Jens Flemming: ›Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind‹. Theodor Fontane. Die Polen und das Polnische. In: Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch (Hrsg.), Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt, Würzburg 2014 (= Fontaneana 13); Fontane und Polen. In: Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber (Hrsg.), Theodor Fontane: Dichter, Romancier und Kritiker, Würzburg, vorauss. 2015 (= Fontaneana 14). Auf den polenthematischen Forschungsstand dieser Einzeltexte wird in den Kapiteln 3.2 bis 3.5 genauer eingegangen. Klaus Zernack, Preußen-Mythos und preußisch-deutsche Wirklichkeit. Bemerkungen zu Fontane. In: Ulrich Haustein, Georg W. Strobel und Gerhard Wagner (Hrsg.), Ostmitteleuropa. Berichte und Forschungen. Gotthold Rhode zum 28. Januar 1981, Stuttgart 1981, S. 252 – 265 (Zitat S. 255). Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane. Vgl. Rieck, Polnische Thematik, S. 110. Benjamin Breggin, Fontane’s aesthetics of the slavic race. In: German Life and Letters 56 (2003), S. 213 – 222; Schumann, ›Die große Front der slavischen Welt‹, S. 245. Mirosław Ossowski, Fragwürdige Identität? Zur national-territorialen Bestimmung der Figuren aus dem deutsch-slawischen Kulturgrenzraum in Fontanes Spätwerk. In: Delf von Wolzogen und Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 1, S. 255 – 267; B. Neumann, Über die Geburt der Melusine (Zitat S. 289).
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Eine systematische Gesamtdarstellung zu den Polen im Werk Theodor Fontanes kann also mit gutem Recht als Desiderat bezeichnet werden.45 Hier möchte diese Studie ansetzen, indem sie, den Bogen von autobiographischen und journalistischen bis hin zu narrativen Texten spannend, die Funktionalisierung des Polnischen als politische und ästhetische Größe bei Fontane in den Blick nimmt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht verfolgt, wohl aber soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich »[i]n der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] kaum ein anderer Autor [findet], in dessen Gesamtwerk polnische Motive und Stoffe eine so bedeutende Rolle spielen wie bei Theodor Fontane«.46 Gegliedert ist die Untersuchung in zwei große Teile (Kapitel 2 und 3), wobei sich der erste den Figurationen des Polnischen in Fontanes nichtfiktionalem und autobiographischem47 Schrifttum entlang der wechselvollen polnisch-preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert widmet. Darüber hinaus geht es im ersten Teil um die Polenlyrik des jungen Fontane; und es ergibt sich bereits an mehreren Stellen ein Brückenschlag zum narrativen Werk. Der zweite große Teil beschäftigt sich dann ausführlich mit den polenthematisch relevanten Erzähltexten Fontanes, setzt den Schwerpunkt bei Vor dem Sturm, Unterm Birnbaum, Cécile und Mathilde Möhring. Hinzu kommen kurze Analysen zu Schach von Wuthenow und Effi Briest; in Zusammenhang mit Mathilde Möhring bietet sich zudem ein Rekurs auf Die Poggenpuhls an. Unter der Prämisse, dass sich »die erzählende Literatur der Zeit […] unablässig mit Ordnungska45 Vgl. Lawaty, Fontanes preußisch-polnischer Kulturvergleich, S. 265. 46 Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 220. 47 Das autobiographische »Gattungsfeld« ist durch seinen »referentielle[n] Wirklichkeitsbezug« gekennzeichnet, kann aber – zumal die Autobiographie – am Fiktionalen partizipieren. Dazu Volker Hoffmann, Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890 – 1923. In: Günter Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989 (= Wege der Forschung 565), S. 482 – 519, hier: S. 486 und 491. Hoffmann zählt zum autobiographischen Gattungsfeld neben der Autobiographie im ›engeren‹ Sinn unter anderem auch »das Tagebuch, [….], die autobiographische Narrativik, de[n] Brief« (S. 486). Fontanes Meine Kinderjahre tragen bekanntlich den Untertitel »Autobiographischer Roman«, der von Fontane in einem Vorwort erläutert wird: »Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines ›autobiographischen Romanes‹ gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!« (HFA III/4, S. 9)
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tegorien und sinnstiftenden Grenzziehungen befasst«,48 soll insbesondere interessieren, wie Polnisches in solche Ordnungssysteme integriert wird. Gemäß Jurij M. Lotman erhält ein Text dann eine narrative Struktur, wenn es zu einer Grenzüberschreitung zwischen differenten semantischen Räumen, also unterschiedlichen Norm- und Wertbereichen kommt, in die die dargestellte Welt aufgeteilt ist.49 Erst durch Grenzüberschreitung entsteht Handlung oder in der Terminologie Lotmans ein narratives ›Ereignis‹.50 In diesem Sinne geht es mir vor allem darum zu zeigen, dass in Fontanes Erzähltexten Figurationen des Polnischen als virulenter Katalysator von Handlung wirksam werden können. Denn preußisch-polnische Konstellationen sind stets an nationale oder national konnotierte Konflikte geknüpft. Dies betrifft nicht allein zwischenstaatliche (preußisch-polnische oder russisch-polnische), sondern ebenso interfigurale oder intrapsychische (preußisch-polnische) Differenzen. Und Polnisches hat die (verstörende) Eigenschaft wiederzukehren, wiederaufzukommen, sich immer wieder (unkalkulierbar) zurückzumelden. Gilt es mithin auch, textübergreifenden thematischen und strukturellen Varianzen und Invarianzen nachzugehen, bedeutet dies mit Blick auf Figurationen des Polnischen zu analysieren, wie textspezifisch mit der (lebens)geschichtlich relevanten Kategorie der Zeit verfahren wird. Denn Fontanes fiktionale und nichtfiktionale Texte mit ausführlichem Polen48 Ulrich Kittstein und Stefani Kugler, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 7 – 15, hier: S. 10. 49 Der Begriff des ›Raums‹ wird von Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 4., unveränd. Aufl., München 1993, verwendet, weil »sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit [erweist]« (S. 313). In dargestellten Welten gehört neben der ›Zeit‹ der ›Raum‹ zu den »elementarsten Strukturierungsprinzipien« – Michael Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture. 3. Teilband/Volume 3, Berlin/New York 2003 (= Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 13.3), S. 3028 – 3103, hier: S. 3077. Räumliche Oppositionen wie beispielsweise »›hoch – niedrig‹, ›rechts – links‹, ›nah – fern‹, ›offen – geschlossen‹« konstituieren eine Weltordnung, die semantisiert, das heißt mit nicht-räumlichen Merkmalen ausgestattet werden kann: »›wertvoll – wertlos‹, ›gut – schlecht‹, ›eigen [vertraut, A. D.] – fremd‹, ›zugänglich – unzugänglich‹« (Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 313). 50 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332. Vgl. zusammenfassend auch Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft, S. 3075 – 3084.
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bezug referieren auf sie implizit oder explizit in dreidimensionaler Wahrnehmung: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Vor dem Hintergrund der Nichtexistenz eines polnischen Staates wird preußischer- und polnischerseits relevant, ob es überhaupt gelingen kann, Raum- und Grenzverschiebungen soziopolitisch und mental zu bewältigen, oder ob die Zeitdimension der Vergangenheit als Bindung an den Herkunftsraum, die sich im kollektiven Gedächtnis und in der subjektiven Erinnerung manifestiert, allen preußischen Nationalisierungsprozessen aporetisch zuwiderläuft. Dasselbe gilt für die Zeitkategorie der Zukunft, die in Form einer denkbaren Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit für Preußen einen dauerhaften, latenten oder (etwa aufstandsbedingt) aktuellen Bedrohungsfaktor darstellt. Gezeigt werden soll also, auf welche Weise Fontane in seinem Werk Polnisches als ästhetische und historisch-politische Größe immer wieder (ereignishaft) produktiv werden lässt, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Situierung zwischen Vergangenheitsbezug, Gegenwartserfordernis und Zukunftserwartung, aber auch mit Blick auf jenen Fundus an nationalstereotypem kulturellem Wissen, der über die (aus preußisch-deutscher Perspektive) anderen und fremden Polen, die ebenso negativ abgewertet wie positiv, weil faszinierend, aufgewertet werden können, bereitsteht. Es ist damit auch zu verdeutlichen, wie Fontane dieses tradierte Wissen als Material für seine Texte ›vielstimmig‹51 nutzt. Soweit Fontanes Werke schon in der seit 1994 erscheinenden Großen Brandenburger Ausgabe (Sigle: GBA) herausgekommen sind, wird nachfolgend nach dieser jetzt maßgeblichen Ausgabe zitiert,52 die sich buchstaben- und zeichengetreu auf die jeweils zuverlässigste Textvorlage – in der Regel die erste Buchausgabe – stützt. Ansonsten wird die Hanser-FontaneAusgabe (HFA) herangezogen, mit Ausnahmen: Die Theaterkritiken werden nach der Nymphenburger-Fontane-Ausgabe (NFA) zitiert (weil sie dort am vollständigsten versammelt sind), das Kriegsbuch Der deutsche Krieg von 1866 nach der Erstausgabe.53 Bei den Briefen wird auf die HanserAusgabe zurückgegriffen sowie auf vor allem seit den 1990er Jahren separat 51 Vgl. Norbert Mecklenburg, ›Theodor Fontane‹. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998. 52 Dies schließt auch den im Dezember 2014 erschienenen Band Von Zwanzig bis Dreißig der Abteilung Das autobiographische Werk mit ein. Der umfangreiche Kommentar dieses Bandes konnte jedoch nicht mehr berücksichtigt werden. 53 Die Nymphenburger-Ausgabe enthält die Kriegsbücher als Reprint; in der HanserAusgabe sind sie nicht erschienen.
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erschienene Briefeditionen bzw. Briefwechsel.54 Hervorhebungen entstammen, soweit nicht anders angegeben, jeweils dem Original.
54 Vgl. auch das Siglenverzeichnis (Kapitel 6).
2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk: Fontanes Polen 2.1 Der kongresspolnische Novemberaufstand 1830/31 als Referenzereignis Es liegt nahe, eine Darstellung über Figurationen des Polnischen bei Fontane mit dem Novemberaufstand zu beginnen, der 1830 im zum russischen Territorium gehörenden Königreich Polen (Kongresspolen) ausbrach, fast ein Jahr lang andauerte und grenzüberschreitend Anteilnahme hervorrief. Im Vergleich zu anderen Ereignissen der polnischen Geschichte sind Bezüge auf die Erhebung von 1830/31 im Schrifttum Fontanes überproportional vertreten – sie reichen von den Polengedichten des Anfang-20-Jährigen bis zu den Erinnerungen des 75-Jährigen in Meine Kinderjahre (1894). Noch im Stechlin (1898) wird das Liederspiel Der alte Feldherr von Karl von Holtei anzitiert, als Graf Barby auf seine Leutnantstage zu sprechen kommt, mithin also jenes Stück, das im Zuge der polnischen Insurrektion auf deutschen Bühnen ungeheure Popularität erlangt.1 Zwei Lieder aus dem Alten Feldherrn – hinter dieser Titelfigur steckt der polnische Freiheitsheld von 1794, Tadeusz Kos´ciuszko – werden im 19. Jahrhundert sogar zu regelrechten Ohrwürmern, und Fontane kommt wiederholt und in verschiedenen Kontexten auf sie zurück, funktionalisiert gegebenenfalls ihre polnische Semantik. Dass der kongresspolnische Aufstand für Fontane – gerade auch für den Erzähler Fontane – zu einer dominanten und dauerhaften Referenzgröße werden konnte, ist mit der spezifischen Ausstrahlungskraft dieses Geschichtsereignisses in Verbindung zu bringen: Auf Seiten der Rezipienten wird ihm jedenfalls beträchtliches poetisches Potential zugesprochen, das sich letztlich auch für eigene Produktionsschübe nutzen lässt. Fontane hat diese emphatische Wahrnehmung der Poleninsurrektion sinnfällig an den Begriff der »Phantasie« geknüpft.2 Dies bedeutet aber auch: Das Konstrukt des Novemberaufstands überformt von jeher die realhistorischen Begebenheiten, ohne sie freilich – als notwendigen Bezugsrahmen – zu sus1 2
GBA Der Stechlin, S. 151. Siehe dazu auch Kapitel 2.1.3.1. Siehe dazu unten Kapitel 2.1.2.
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pendieren. Vielmehr gehören die geschichtlichen Rahmendaten zum kulturellen Wissen, das Fontanes Texte voraussetzen.3 Da im Folgenden der Aufstand von 1830/31 wiederholt thematisiert wird, sollen Anlass, Verlauf und unmittelbare Folgen der Erhebung kurz umrissen werden. Der Novemberaufstand ist nicht nur der erste, sondern auch bedeutendste Polenaufstand im 19. Jahrhundert im Kampf um politische Freiheit und nationale Unabhängigkeit. Und er ist der einzige, der »in der Form der ›Polenbegeisterung‹ zu einem ›deutschen Ereignis‹«4 wurde. 2.1.1 Historischer Exkurs: Die Insurrektion von 1830/31 Zur Vorgeschichte: Mit der dritten polnischen Teilung 1795 war »der einst mächtige Doppelstaat Polen-Litauen […] von der Landkarte Europas verschwunden und hatte der ›polnischen Frage‹ Platz gemacht«.5 Das ehemalige polnische Königreich gehörte nun restlos zu Russland, Preußen und Österreich. Zwar kam es 1807, nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon, zur Errichtung des sogenannten Herzogtums Warschau (es bestand überwiegend aus den Gebieten, die Preußen bei der zweiten und dritten Teilung zugefallen waren), doch bereits auf dem Wiener Kongress wurde dieses Territorium wieder aufgelöst: Preußen erhielt die westpolnischen Gebiete, Krakau kam als freie Stadt unter das Protektorat der drei Teilungsmächte, der größte Teil des Herzogtums Warschau aber fiel 3 4
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Michael Titzmann versteht unter kulturellem Wissen »die Menge der Wissenspropositionen«, die von (allen oder einer Gruppe von) Mitgliedern einer Kultur/ Epoche geteilt werden (Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft, S. 3057). Burckhard Dücker, ›Polenbegeisterung‹ nach dem Novemberaufstand 1830. In: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.), Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literarisches Leben in Baden zwischen 1800 und 1850, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010 (= Literarisches Leben im deutschen Südwesten von der Aufklärung bis zur Moderne. Ein Grundriß. Bd. 2), S. 705 – 733, hier: S. 712. Alexander, Kleine Geschichte Polens, S. 159. Zur polnischen Geschichte siehe ferner Jörg K. Hoensch, Geschichte Polens. 2., neubearb. und erw. Aufl., Stuttgart 1990; Enno Meyer, Grundzüge der Geschichte Polens. 3., erw. Aufl., Darmstadt 1990; Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens. Aus dem Englischen von Friedrich Griese mit einem Geleitwort von Bronisław Geremek. 3. Aufl., München 2002; Jürgen Heyde, Geschichte Polens, München 2006. Eine detaillierte Darstellung des Novemberaufstands (mit ausführlichem Register) bietet R. F. Leslie, Polish Politics and the Revolution of November 1830, London 1956 (= University of London Historical Studies 3).
2.1 Der kongresspolnische Novemberaufstand 1830/31 als Referenzereignis
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Russland zu; der Zar proklamierte 1815 das Königreich Polen (»Kongresspolen«). Dieses Königreich Polen stand in Personalunion mit Russland, besaß aber autonome Rechte. Dazu gehörten eigene politische Institutionen (Sejm, Verwaltungsrat), die Anerkennung des Polnischen als Staatssprache und eine eigene Armee.6 Die Verfassung garantierte Freiheitsrechte, so dass Kongresspolen »den am fortschrittlichsten organisierten Herrschaftsraum innerhalb des zaristischen Imperiums«7 bildete. Zwar wurde bereits 1819 unter Zar Alexander I. die Pressezensur eingeführt, und zu Beginn der 1820er Jahre kam es zur verfassungswidrigen Zerschlagung liberal-patriotischer Verbände, die eigentliche Wende im russisch-polnischen Verhältnis brachten aber erst 1825 die Thronbesteigung von Zar Nikolaus I. und sein neuer nationalrussischer Kurs, der mit weiteren offenen Verfassungsbrüchen einherging. Als es dann im Jahr 1830 in Westeuropa zu bürgerlich-liberalen Umstürzen kam (Julirevolution in Frankreich, Loslösung Belgiens von den Niederlanden) und Gerüchte kursierten, dass Einheiten der polnischen Armee im Namen der Heiligen Allianz gegen die westeuropäischen Revolutionäre eingesetzt werden sollten, brach der Aufstand in Polen los. Am 29. November stürmte eine zwanzigköpfige Gruppe von Offiziersanwärtern in Warschau den Statthalter-Palast des Großfürsten Konstantin, Bruder von Alexander I. und Nikolaus I. sowie Oberbefehlshaber der polnischen Armee. Zwar misslang das Attentat, aber der Großfürst und die in Warschau stationierten russischen Truppen sahen sich gezwungen, innerhalb einer Woche das polnische Gebiet zu verlassen. Das Komplott weitete sich rasch zu einem allgemeinen Aufstand gegen die russische Herrschaft aus, an dem sich Gruppen mit divergierenden Interessen beteiligten: große Teile des polnischen Offizierskorps, Studenten der Warschauer Universität und Angehörige des Adels. Zwar gab es, weil über das weitere Vorgehen im Lager der Revolutionäre Unklarheit herrschte, zeitgleich auch Verhandlungen mit dem Zaren. Doch als dieser die Kapitulation der Aufständischen forderte, reagierte der polnische Reichstag und entzog am 25. Januar 1831 der Romanow-Dynastie die polnischen Thronrechte. Wenig später erfolgte die Invasion der russischen Armee in Kongresspolen. Am 25. Februar 1831 kam es zur Schlacht bei Grochów vor den Toren Warschaus, die zwar keinen polnischen Sieg herbeiführte, aber 6 7
Der Zar als polnischer König besaß jedoch das Vetorecht und die Gesetzgebungsinitiative. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 68.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
der russischen Armee unter Leitung von Generalfeldmarschall von Diebitsch, einem Preußen, so schwere Verluste einbrachte, dass ihr geplanter Angriff auf die Hauptstadt unterbleiben musste. Noch bis Mai 1831 konnten die Aufständischen insgesamt ca. 85 000 polnische Soldaten mobilisieren. Doch die Revolutionsregierung fand zu keiner einheitlichen Aufstands-Organisation; nach der Absetzung der Romanow-Dynastie blieb auch die erhoffte Unterstützung durch die europäischen Regierungen trotz Sympathiebekundungen für die Polen aus. So konnte der russischen Truppenstärke auf Dauer nicht standgehalten werden. Es kam zur Niederlage der Polen bei Ostrołe˛ka am 26. Mai 1831, die das Scheitern des Aufstandes einleitete. Selbst die grassierende Cholera im russischen Heer, der Diebitsch und Großfürst Konstantin zum Opfer fielen, verbesserte die polnische Lage nicht. Im August standen die Russen unter ihrem neuen Oberbefehlshaber Paskewitsch wieder vor Warschau, am 8. September erfolgte die polnische Kapitulation. Die meisten Aufständischen flohen über die preußische Grenze. Nach der Einnahme Warschaus im September 1831 wurde Kongresspolen zu einer abhängigen Provinz degradiert, das Verwaltungssystem russifiziert, die Verfassung kassiert und der Sejm verboten. 3 000 Güter wurden konfisziert, rund 9 000 Aufständische, davon zwei Drittel Adelige, in die sogenannte »Große Emigration« gezwungen. Ungefähr 5 700 von ihnen ließen sich in Frankreich nieder, das zum Zentrum der polnischen Exilorganisationen wurde. In Europa erzielte der polnische Novemberaufstand beträchtliche Außenwirkung. Insbesondere bei der deutschen Bevölkerung rief er quer durch alle Schichten große Anteilnahme hervor.8 Eine regelrechte Poleneuphorie brach aus, die in materieller Unterstützung für die Aufständischen zum Ausdruck kam, sich aber vor allem publizistisch-agitatorisch äußerte, nicht zuletzt in den zahlreich erscheinenden sogenannten »Polenliedern«.9 Wie immer sich die Polenbegeisterung im Einzelnen konkretisierte, sie war, schon weil die Regierungsebene nicht an ihr partizipierte, ein oppositioneller politischer Akt.10 Während sich die Regierungen in Preußen und anderen deutschen Staaten auf die Seite Russlands stellten, sahen die 8 Auch Frauen hatten einen starken Anteil an der Polenbegeisterung. Siehe Dücker, ›Polenbegeisterung‹, mit weiteren Nachweisen. 9 Vgl. dazu Kapitel 2.1.3. 10 Eberhard Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zu Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz. In: Saeculum 26 (1975), S. 111 – 127, hier: S. 119.
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deutschen Liberalen in der polnischen Parole »Für unsere und eure Freiheit« ihre eigenen nationalstaatlichen Ziele und Forderungen nach konstitutionellen Freiheitsrechten angesprochen, und auch den Gegner hatten sie mit den Polen gemein: das zaristische Russland, oberster Hüter der restaurativen europäischen Ordnung von 1815. Nachdem in den 1820er Jahren konstitutionelle, nationalrepublikanische Erhebungen in Südeuropa (Spanien, Neapel, Piemont, Griechenland) bereits grenzüberschreitende Sympathiebekundungen hervorgerufen hatten, eröffnete sich in Kongresspolen für das deutsche oppositionelle Lager geradezu »das Schlachtfeld, auf dem die Entscheidung über die nächste Zukunft Europas fallen würde«.11 Man versprach sich vom (positiven) Insurrektionsverlauf die Erschütterung bestehender Mächtekonstellationen und entscheidenden Einfluss auf verfassungsrechtliche Entwicklungen in West- und Mitteleuropa. Der polnische Aufstand bekam damit eine Stellvertreterfunktion zugeteilt, wurde im Dienste eigener politischer Anliegen funktionalisiert.12 Diese Funktionalisierung gelang über eine perspektivische Verengung: Die deutsche Poleneuphorie im Zuge des Novemberaufstands entzündete sich am polnisch-russischen Antagonismus; polnisch-deutscher Konfliktstoff, der nicht zuletzt aus den Teilungen resultierte, spielte hingegen keine Rolle. Deutlich wird dadurch, dass das System von polnisch-deutscher Solidarisierung und russischer Gegnerschaft historisch-politisch wie ideologisch mit abhängigen Variablen operiert. Es ist potentiell veränderbar und durch Instabilität gekennzeichnet: Unter anderen Rahmenbedingungen, unter neuen politischen Konstellationen kann aktualisiert werden, was zwischenzeitlich an erinnerungsgeschichtlicher Relevanz verlor. Preußisch-polnische Solidarität und preußisch-polnische Gegnerschaft liegen dann nicht weit auseinander, wenn es genügt, im Bedarfsfall kulturelle Wissensbestände zu ignorieren bzw. neu zu gewichten. Fontanes nichtfiktionale und autobiographische Texte, in denen es um Polen geht, partizipieren an derartigen Akzentverschiebungen. Das heißt aber auch: Die ideologischen Kehrtwenden, die im Textkorpus ausgemacht werden können, erweisen sich letztlich als zwei Seiten einer Medaille, haben 11 Ebd., S. 113. Siehe auch Michael G. Müller, Polen-Mythos und deutsch-polnische Beziehungen. Zur Periodisierung der Geschichte der deutschen Polenliteratur im Vormärz. In: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1831 – 1848: Vormärz und Völkerfrühling. XI. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 16. bis 21. Mai 1978 in Deidesheim (Rheinland-Pfalz), Braunschweig 1979 (= Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung 22/II), S. 101 – 115, hier: S. 104. 12 Dies wurde erstmals von Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft, passim, betont.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
vor allem damit zu tun, was im jeweiligen Kontext präsent gehalten wird oder nicht. Polen stellt bei Fontane niemals eine isolierte Diskursgröße dar, sondern unterliegt einem dynamischen Komplementärverhältnis zu Russland und/oder zu Preußen – zwei Territorialgrößen, die auch ihrerseits in Opposition zueinander stehen können oder eben nicht. Insofern wird, wer sich mit dem polenspezifischen Werk Fontanes beschäftigt, auf unterschiedliche, sich diachron ablösende nationale Muster bzw. Merkmalszuschreibungen stoßen, die es im jeweiligen textuellen Funktionszusammenhang herauszupräparieren und in ihrer Semantik zu erläutern gilt. Dies soll versucht werden anhand der Autobiographik Fontanes, von Briefzeugnissen und seinem journalistischen Werk (politische Journalistik, Wanderungen, Kriegsbücher, Theaterkritiken)13, aber auch anhand von Fontanes Polenlyrik. Über die Polengedichte wiederum, die Fontane rezipierte, ergibt sich aus systematischen Erwägungen heraus auch ein Blick auf die Erzähltexte Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1890), weil in sie populäre Polenlieder als bedeutungsrelevante Zitate Eingang gefunden haben. Letztlich trägt das zeitgenössische, mal polonophil, mal antipolnisch geprägte Erleben preußisch-polnischer Geschichte zu einem differenzierten Erfahrungsschatz auch im Sinne eines reichhaltigen Stoff- und Diskursreservoirs bei, das dem Romanautor Fontane als ambivalentes Material zur Verfügung steht, wenn er von (den) Polen in Preußen erzählt – und dies vor dem Hintergrund einer fragilen Gebundenheit des preußischen Status quo an die Nichtlösung der polnischen Frage. 2.1.2 Die Phantasie des Zeitzeugen: »Meine Kinderjahre« (1894) Es ist allerdings unbestreitbar, daß unsere Phantasie einen sehr großen Antheil an dem Glanze hatte, der sich uns über die Kämpfe an der Weichsel warf; man kann mit Bestimmtheit sagen, daß keinem andern europäischen Volke dieselben so schön erschienen sind, als dem deutschen, und daß sich keines mit dieser Glut und dieser nachhaltigen Dauer diesen poetischen Eindrücken hingab.14
Das schrieb Richard Otto Spazier, Verfasser einer populären dreibändigen Geschichte des Aufstandes des polnischen Volkes in den Jahren 1830 und 31 13 Diese Zuordnung zum journalistischen Werk orientiert sich an der pragmatischen Gliederung, die das Fontane-Handbuch vornimmt. 14 Richard Otto Spazier, Ost und West. Reisen in Polen und Frankreich, Stuttgart 1835, S. 109 f.
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(21834), rückblickend in seinem Werk Ost und West (1835) über die deutsche Polenbegeisterung. Das Zitat ließe sich auch auf Theodor Fontane anwenden, zumal es mit den Verweisen auf die »Phantasie« und die »poetischen Eindrücke[]« Signalwörter enthält, ohne die Fontanes Rezeption des Novemberaufstands nicht zu denken ist. Tatsächlich konditioniert die Phantasie dessen Wahrnehmung der polnischen Vorgänge; und sie befördert – eignen ihr doch genuin reproduktive (dem Gedächtnis ähnliche) und produktive (schöpferische) Komponenten –15 ein lebenslängliches Interesse an ihnen. In Meine Kinderjahre (1894) hat Fontane dem kongresspolnischen Aufstand, den er als Zehn- bzw. Elfjähriger von Swinemünde aus mit Neugier verfolgte, eine ausführliche Retrospektive gewidmet, unter der Kapitelüberschrift »Was wir in der Welt erlebten« (zwölftes Kapitel). Gleich der erste Satz: »[W]as draußen in der Welt geschah, war für uns da, nicht zum wenigsten für mich«,16 nimmt auf Ereignisse der Jahre 1827 bis 1832 Bezug, die im vorherigen Kapitel aufgezählt wurden: »die Befreiung Griechenlands, de[r] russisch-türkische[] Krieg, die Eroberung von Algier, die Juli-Revolution, die Losreißung Belgiens von Holland und die große polnische Insurrektion«.17 Schon das Epitheton weist darauf hin, dass dem Polenaufstand innerhalb dieser Reihung eine besondere Bedeutung zukommt. Als Freiheitskampf fällt er zum einen unter jene »Staatsaktionen«, für die Fontane »von früh auf erglühte«18 und denen er einen »eigenen Zauber«19 attestierte. Noch in der Schreibgegenwart der Kinderjahre gilt seine Sympathie allem »heldenmäßig[en]« Einsatz »von Gut und Blut, von Leib und Leben« im Kampf »für Freiheit, Land und Glauben«. Zum anderen ermöglicht der Novemberaufstand die exklusive Freisetzung von »poetischen Empfindungen, die mich damals beherrschten und auch jetzt noch beherrschen«, wofür sowohl die Spezifik des Insurrektionsverlaufs – der zunächst (teil)erfolgreiche Widerstand einer numerisch unterlegenen Truppe und ihr letztlich (heroisches) Scheitern gegen eine Übermacht – als auch seine Rückwirkungen in Publizistik und Literatur verantwortlich sein dürften. Folgender Auszug aus den Kinderjahren macht den exponierten
15 Zum Begriff der ›Phantasie‹ siehe Ralf Simon, [Art.] ›Phantasie‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3, S. 64 – 68. 16 HFA III/4, S. 109. 17 Ebd., S. 95. 18 Ebd. 19 Zitate im Folgenden ebd., S. 111 f.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Stellenwert des polnischen Novemberaufstands für Fontanes Biographie deutlich: Ende November brach, in Nachwirkung der Ereignisse in Frankreich und Belgien, die Insurrektion in Polen aus. Großfürst Konstantin wurde flüchtig und nachdem man auf beiden Seiten gerüstet, kam es zu Beginn des folgenden Jahres zu den blutigen Schlachten bei Grochow und Ostrolenka. Die Namen von damals prägten sich mir so tief in die Seele, daß ich, als ich, ein Menschenalter später, in den zufällig mir zu Händen kommenden Briefen der Rahel Levin den Namen Skrzynecki und Rybinski begegnete, wie auf einen Schlag den Insurrektionskrieg von 30 und 31, einen der erbittertsten, die je ausgefochten wurden, wieder vor Augen hatte. Kein anderer Krieg, unsere eigenen nicht ausgeschlossen, hat von meiner Phantasie je wieder so Besitz genommen wie diese Polenkämpfe und die Gedichte, die an jene Zeit anknüpfen (obenan die von Lenau und Julius Mosen) und dazu die Lieder aus Holteis »Altem Feldherrn«, sind mir bis diese Stunde geblieben, trotzdem die letztren poetisch nicht hoch stehen. Viele Jahre danach, als ich, dicht am Alexanderplatz, eine kleine Parterre-Wohnung inne hatte, stellte sich allwöchentlich einmal ein Musikanten-Ehepaar vor meinem Fenster auf, er blind, mit einer Klapptuba, sie, schwindsüchtig, mit einer Harfe. Und nun spielten sie: »Fordere niemand mein Schicksal zu hören« oder »Denkst du daran, mein tapferer Lagienka«. Ich schickte ihnen dann ihren Obolus hinaus und ließ sie’s noch einmal spielen und noch jetzt, ich muß es wiederholen, zieht, wenn ich die Lieder höre, die alte Zeit vor mir herauf und ich verfalle in eine unbezwingbare Rührung. 20
Die Phantasie mit Langzeitwirkung bestimmt die Differenz, ist das Kriterium, das den Polenaufstand, einen der »erbittertsten« Kämpfe, »die je ausgefochten wurden«, für einen Autor, der immerhin drei umfangreiche Kriegsbücher über die deutschen Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 verfasst hat, aus der Reihe fremder und eigener Kriege heraushebt.21 Zeit seines Lebens bleibt der polnische Aufstand von 1830/31 für Fontane abrufbares kulturelles Wissen, steht als solches dem Romanautor zur Verfügung. Vor allem eine Trias von Generälen, Schlachten und Liedern aus dem historischen Umfeld des Novemberaufstands konstituiert sein polenspezifisches Gedächtnis. Dazu ein weiteres Mal Meine Kinderjahre: Ein Jahr lang dauerte der polnische Insurrektionskrieg, während welcher Zeit ich mich zu einem kleinen Politiker herangelesen hatte. Namentlich in Her20 Ebd., S. 110 f., Hervorh. A. D. 21 Das adäquate Beschreibungsinventar für die Fallhöhe des Aufstandsgeschehens im »Lichtglanz« der Phantasie fanden die Zeitgenossen – strukturell konsequent – vielfach in Theatermetaphern; in Polen spielte sich, so etwa Richard Otto Spazier, nichts weniger als ein »Drama« und »eine[] große[] Volkstragödie« ab (Zitate aus Spazier, Ost und West, S. 109 f.).
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zählung der alle vier Wochen im Ober-Kommando wechselnden polnischen Generale, kam mir niemand gleich […].22
Zwei Namen nennt Fontane, die ihm noch im Rückblick und »wie auf einen Schlag«23 den Aufstand von 1830/31 vergegenwärtigen: zum einen General Jan Zygmunt Skrzynecki (1786 – 1860), Oberbefehlshaber von Ostrołe˛ka, dessen Name stellvertretend für die große Niederlage steht, die den Wendepunkt des Aufstands markiert,24 zum anderen General Maciej Rybin´ski (1784 – 1874), der letzte polnische Oberbefehlshaber vor der Kapitulation Warschaus.25 Noch in dem Nachlasstext Mathilde Möhring (entstanden 1891/1896) trägt einer der Protagonisten, Hans von Rybinski, den Namen dieses letzten Generals aus dem Novemberaufstand. Neben den Generälen stellen die »blutigen Schlachten« von Grochów (Februar 1831), wo die Polen zwar verloren haben, aber die Russen so hohe Verluste erlitten, dass sie das nahe gelegene Warschau nicht mehr einnehmen konnten, sowie Ostrołe˛ka (Mai 1831) für Fontane zentrale historische ›Erinnerungsorte‹26 des Novemberaufstands dar. In einem Brief an Theodor Storm aus dem Jahr 1854 ist beispielsweise mit Bezug auf Ostrołe˛ka zu lesen: »[Ich] weinte wie ein Kind, als es nach der Schlacht bei Ostrolenka mit Polen vorbei war. Seitdem sind 23 Jahre vergangen, doch weiß ich noch alles aus der Zeit her.«27 Bereits vor Eintritt in die Quarta des Ruppiner Gymnasiums gehören Grochów und Ostrołe˛ka zu den »Stückwerk«-Kenntnissen, die sich Fontane mit Blick auf sein lückenhaftes Bildungswissen attestiert.28 Und als er 1835 – so heißt es in dem autobio22 HFA III/4, S. 113. Die Angabe »vier Wochen« ist falsch. In einem Zeitraum von zehn Monaten gab es sechs Oberkommandierende. 23 Ebd., S. 111. 24 In den Wanderungen (Das Oderland) zitiert Fontane innerhalb seines Porträts über Alexander von der Marwitz aus einem Brief Rahel Varnhagens, der davon berichtet, wie Marwitz 1813 aus den Händen kriegerischer Polen durch einen polnischen Oberstleutnant namens Skrzynecki befreit wurde. Fontane fügt hier eine Fußnote ein: »Es ist dies derselbe Skrzynecki, der 1831 als polnischer Generalissimus berühmt geworden ist.« (GBA Wanderungen, Bd. 2, S. 271) 25 Allerdings wird der Name Rybin´ski, entgegen der Angabe Fontanes, in den Briefen von Rahel Varnhagen (geb. Levin) nicht erwähnt. 26 Zum kulturhistorischen Konzept der Erinnerungsorte siehe Etienne François und Hagen Schulze, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. 4., durchges. Aufl., München 2002, S. 9 – 24. 27 Fontane an Theodor Storm, 14. 2. 1854 (StF, S. 56, Unterstreichung dort). Theodor Storm plante einen Aufsatz über Fontanes Leben und hatte daher um biographische Informationen gebeten. 28 HFA III/4, S. 177.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
graphischen Text Von Zwanzig bis Dreißig (1898) – in einer »elenden Mietskaserne« Berlins auf den völlig verarmten, aber auffallend schönen alten Grafen Brodczinski trifft, dessen Haltung auf einen Militär schließen lässt, steht für ihn sogleich fest, dass Brodczinski, »eh er arm wurde, bei Grochow und Ostrolenka Wunder der Tapferkeit verrichtet haben müsse«. Fontane stattet den Grafen »mit allem möglichen Romantischen«29 aus, und Grochów und Ostrołe˛ka sind als Gedächtnisorte polnischen Widerstands Bestandteil dieser ›Fiktionalisierung‹. Schon früh rekurrierten Polenlyrik, publizistisches wie belletristisches Schrifttum und bildende Kunst auf diese Schauplätze, sahen in ihnen die Aufstandsgeschichte zwischen Erfolg und (heldenhafter) Niederlage zeichenhaft verdichtet. Welche typische Szenerie der Kühnsche Bilderbogen, der Geschichtsereignisse in illustrierter Form vermittelte und den Fontane als Kind rezipierte,30 zur Darstellung der Poleninsurrektion wählt, ist den Wanderungen zu entnehmen: »[K]aum war Paskewitsch in Warschau eingezogen, so breitete sich das Schlachtfeld von Ostrolenka mit grünen Uniformen und polnischen Pelzmützen vor dem erstaunten Blick der Menge aus«.31 Die Polenkämpfe von 1830/31 generierten, unabhängig von zeitlichen Distanzen, Emotionen: Der junge Fontane vergießt Tränen angesichts der Niederlage bei Ostrołe˛ka, und den Erwachsenen überkommt »eine unbezwingbare Rührung«, wenn er populär-sentimentale Polenlieder hört (siehe oben). Er lässt die Musikanten vor seinem Fenster sogar »noch einmal spielen«. Offenbar besitzen die Polenlieder eine Katalysatorfunktion, sind dazu imstande, ein langfristiges »Gefühlsgedächtnis«32 zu sichern: »[W]enn ich die Lieder höre, [zieht] die alte Zeit vor mir herauf«, heißt es mit Nachdruck (»ich muß es wiederholen«). Überhaupt seien ihm »die Gedichte, die an jene Zeit anknüpfen […], […] bis diese Stunde geblieben«. »Rührung« und »Phantasie« im Sinne einer Vergegenwärtigung der alten Zeit wirken als mentale Prozesse, die sich wechselseitig beeinflussen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass Polenlieder für Fontane eine Rezeptionskonstante bleiben, unabhängig von aktueller Tagespolitik und ideologischen Konjunkturen. Mehrfach hat Fontane in seinen
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Alle Zitate aus GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 121 f. Vgl. HFA III/4, S. 109. GBA Wanderungen, Bd. 1, S. 132. Der Begriff ist Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 2005, S. 89, entnommen.
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Romanen Polenlieder funktionalisiert. Und sie bilden das Traditionsfeld, dem Fontanes eigene Polenlyrik aus den frühen 1840er Jahren entstammt. 2.1.3 Polenlieder: Poetik der Freiheit Die sogenannte deutsche Polenfreundschaft der Jahre 1831/32 war eine (oppositionelle) publizistisch-literarische und humanitäre Bewegung, die vor allem im stärker liberal regierten Süden und Südwesten auftrat; aber es gab sie auch in Norddeutschland, in Sachsen und Preußen. Komitees organisierten Empfänge und Wohltätigkeitsveranstaltungen, »Polenvereine« versorgten durchreisende Flüchtlinge auf ihrem Weg ins französische oder schweizerische Exil.33 Unzählige Pamphlete, Broschüren, Zeitungsartikel erschienen, und vor allem Polengedichte entstanden – rund 1 000 während und nach der Novemberrevolution (bis ca. 1834).34 Zu ihren Verfassern gehören zahlreiche Gelegenheitslyriker, aber auch bekannte Namen wie August Graf von Platen, Adelbert von Chamisso, Franz Grillparzer, Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner oder Nikolaus Lenau sind dabei. Viele Polengedichte wurden vertont und fanden als »Polenlieder« weite Verbreitung;35 diese zeitgenössische Bezeichnung etablierte sich schließlich auch in der Literaturwissenschaft.36 33 Dazu ausführlich Anneliese Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Wiesbaden 1964 (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München 24), S. 52 – 136. Zur Polenbegeisterung als politisches und alltagskulturelles Phänomen siehe auch Wolfgang Michalka, Erardo C. Rautenberg et. al. (Hrsg.), Polenbegeisterung. Ein Beitrag im ›Deutsch-Polnischen Jahr 2005/2006‹ zur Wanderausstellung ›Frühling im Herbst. Vom polnischen November zum deutschen Mai. Das Europa der Nationen 1830 – 1832‹, Berlin 2005, und Dücker, ›Polenbegeisterung‹. 34 Die umfangreichste Sammlung von Polenliedern (ca. 400 Gedichte) findet sich in: Polenlieder deutscher Dichter. Gesammelt und hrsg. von St[anisław] Leonhard. Der Novemberaufstand in den Polenliedern deutscher Dichter. Bd. 1: Krakau-Podgórze 1911. Bd. 2: Krakau 1917. Siehe auch den von Gerard Koziełek [= Gerhard Kosellek] herausgegebenen Band Polenlieder. Eine Anthologie, Stuttgart 1982 (RUB 7910). 35 Tessa Hofmann, Der radikale Wandel: Das deutsche Polenbild zwischen 1772 und 1848. In: Zeitschrift für Ostforschung 42 (1993), S. 358 – 390, hier: S. 374. 36 Vgl. den Artikel ›Polenliteratur‹ von R[obert] F[ranz] Arnold in der ersten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte (unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Bd. 2, Berlin 1928, S. 710 f.): »Für die Literaturgeschichte kommt die P. als ein interessantes Stadium unserer politischen Dichtung in Betracht; formal und stilistisch hat sie nichts
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Polenlieder sind per definitionem polenaffin; oft äußern sie Kritik, ja zeigen sich hasserfüllt gegen das zaristische, als barbarisch-asiatisch stigmatisierte Russland, den despotischen »Würger« der polnischen Freiheit.37 Lyriker wie Harro Harring oder Johannes Fitz produzierten offensive, politisch-operative Polenlyrik, in der sie den gemeinsamen deutsch-polnischen Waffengang zum »Sühnungsstreit« fordern.38 Doch ein Großteil der Lieder verzichtete, nicht zuletzt wegen der drohenden Zensur, auf solche Aufrufe. Ihr Plädoyer für Polen geht stattdessen in der mahnenden Erinnerung auf. Es dominiert die Heroisierung der Kriegshelden und ihrer Taten, die Wehklage über die Niederlage und das Mitgefühl für die heimatlosen Emigranten. Vielfach wird Hoffnung auf geschichtliche oder gar göttliche Nemesis geäußert: »Noch ist Polen nicht verloren«, die Anfangszeile aus dem Lied der napoleonischen Da˛browski-Legionen, das später die polnische Nationalhymne wurde, ist die dafür häufig implementierte lyrische Beschwörungsformel. Diesem Typus von Polenliedern, die sich (im oftmals sentimentalen Duktus) der Memoria an Polen verschreiben, aber keine offene politische Agitation betreiben, sind die Gedichte von Nikolaus Lenau und Julius Mosen zuzuordnen, ebenso wie die schon früher entstandenen Polenlieder aus Holteis Altem Feldherrn, die Fontane in Meine Kinderjahre erwähnt. Während jedoch Lenaus Polengedichte im Romanwerk Fontanes keine Rolle spielen, werden diejenigen von Mosen und Holtei dort explizit zitiert: die populären Holtei-Lieder in Irrungen, Wirrungen (1888) sowie Stine (1890), wo sie narrative Bedeutung erlangen, aber auch in Unterm Birnbaum (1885) und im Stechlin (1898), wo sie nur punktuelle Bezüge eröffnen. Das von Mosen verfasste Lied Die letzten Zehn vom vierten ReEigenes zu bieten und steht somit hinter dem literarischen Philhellenismus […] zurück. Ihr künstlerisch wertvollstes Ergebnis sind die Polenlieder Platens.« (S. 711) In den nachfolgenden Auflagen des Reallexikons findet sich kein diesbezüglicher Eintrag mehr. 37 Zur Russophobie, die seit Ende der 1820er Jahre nicht nur bei den deutschen Liberaldemokraten nachzuweisen ist, sondern zugleich ein europäisches Phänomen darstellt (Frankreich, England) und 1831/32 einen Höhepunkt erreicht, siehe Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft, S. 115 f. Einen offenen Russenhass propagieren insbesondere die Polenlieder von August Graf von Platen. Das Zitat ist seinem Wiegenlied einer polnischen Mutter (1831) entnommen (Polenlieder. Eine Anthologie, S. 95). 38 Das Zitat stammt aus Harro Harrings Gedicht Als Warschau unterlag (Polenlieder. Eine Anthologie, S. 28). Ein oft angeführtes Polenlied von Johannes Fitz trägt den Titel Deutsches Mailied. Als Erwiderung auf das polnische Mailied (Polenlieder. Eine Anthologie, S. 131 f.).
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giment findet mit zwei vollständig zitierten Strophen in Unterm Birnbaum (1885) seinen Eingang. 2.1.3.1 Exkurs: Polenlieder in Fontanes Erzähltexten Anfang 1832 erschienen, gilt Die letzten Zehn vom vierten Regiment 39 als das populärste deutsche Polenlied überhaupt.40 Schon an einem Tag war die erste Auflage verkauft; es folgten weitere Drucke von insgesamt mehreren tausend Exemplaren, deren Verkaufserlös der Verleger Anton Philipp Reclam einem Hilfskomitee spendete. Schnell wurde der Text vertont.41 Eine übersetzte Version erreichte in Polen eine ähnlich hohe Beliebtheit wie in Deutschland.42 Angesichts dieser nationalen (und transnationalen) Verbreitung ist davon auszugehen, dass Fontane schon 1832 oder wenig später mit dem Polenlied bekannt wurde. Der Romanautor jedenfalls weiß von der zeitgenössischen Beliebtheit der vertonten Mosen-Ballade. In 39 Abgedruckt im Anhang dieser Studie. 40 Das Polenbild der Deutschen 1772 – 1848. Anthologie. Hrsg. von Gerard Koziełek [= Gerhard Kosellek]. Mit einer Einführung von dems. und einem Geleitwort von Wolfgang Drost, Heidelberg 1989 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 83), S. 262. Entsprechend kann Fontane auch noch Jahrzehnte später auf diesen Text (redensartlich) Bezug nehmen, so in einer Hamlet-Rezension vom 24. 9. 1880: »Warum haben wir nicht öfter solche Gastspiele? […] Warum müssen wir durchaus in der Vorstellung bleiben, es gäb’ überhaupt nichts Rechtes mehr. Und das wenige, was noch da wäre, das hätten wir, das wären ›unsre letzten Vier vom zehnten Regiment‹. Aber ich will mit einer andern Reminiszenz aus dem Jahre 30 antworten: ›Noch ist Polen nicht verloren.‹« (NFA XXII/1, S. 923) Jahre zuvor (wohl Ende der 1850er Jahre) hat Fontane den Mosen-Text in seinem Gedicht Die Schlacht bei Bronzell persifliert. In dieser Schlacht bei Fulda am 8. November 1850 wurde, so geht die Sage (historisch stimmt es nicht), nur der Trompeterschimmel des zehnten preußischen Husarenregiments verwundet – das zehnte Regiment bietet mithin im Text die »Brücke« für eine Umdeutung des bekannten Mosen-Refrains (vgl. exemplarisch Strophe 2, Zeile 5 f.: »Bis jäh ein Schimmel das Signal verkennt, / Das schönste Pferd im zehnten Regiment«). Siehe die Online-Veröffentlichung von Helmuth Nürnberger, ›Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen‹. Fontanes unbekannte bayerische Balladen – ein unverhoffter Fund im Preußenjahr. Im Text erweiterte, im Kommentar gekürzte Fassung der Erstveröffentlichung in: Fontane Blätter 71 (2001), S. 138 – 157, URL: http://www.luise-berlin.de/lesezei/blz01_05/text10.htm (abgerufen am 11. 2. 2015). 41 Bettina Kern, Julius Mosen, der politische Dichter. In: Bernd Rüdiger Kern, Elmar Wadle et. al. (Hrsg.), Humaniora. Medizin – Recht – Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag, Berlin/Heidelberg 2006, S. 493 – 508, hier: S. 501. 42 Siehe Polenlieder. Eine Anthologie, S. 158 f.; Das Polenbild der Deutschen 1772 – 1848, S. 248 f. und 262.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Unterm Birnbaum, dessen Handlung zwischen Herbst 1831 und Oktober 1833 spielt, findet sich folgende Szene im fünften Kapitel: »[…] Aber, Ihr Herren, kennt Ihr denn schon das neue Polenlied, das sie jetzt singen?« »Denkst Du daran – –« »Nein, das ist alt. Ein neues.« »Und heißt?« »Die letzten Zehn vom vierten Regiment … Wollt Ihr’s hören? Soll ich es singen?« »Freilich.« »Aber Ihr müßt einfallen …« »Versteht sich, versteht sich.«43
Auf die angekündigte Gesangseinlage, die dem Wortwechsel zwischen dem eben aus Krakau angekommenen Weinreisenden Szulski und den Tschechiner Bauern in der Weinstube des Wirtes Abel Hradscheck folgt, wird im Rahmen der Textanalyse zu Unterm Birnbaum noch näher eingegangen. An dieser Stelle interessiert nur das zuerst genannte Polenlied, dessen Eingangsworte »Denkst Du daran – –« den Bauern aus Tschechin bereits zu seiner Identifizierung genügt. Denn sofort kommen sie zu dem Schluss: »Nein, das ist alt.« Tatsächlich stammt das – neben Mosens Ballade – populärste Polenlied Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka aus Karl von Holteis Liederspiel Der alte Feldherr bereits aus dem Jahr 1825.44 Zwar kam es damals wegen der Zensur nur zu wenigen Aufführungen des Stückes auf der Königsstädtischen Bühne in Berlin,45 doch die in die Dialogszenen eingestreuten Lieder erfreuten sich von Beginn an großer Beliebtheit, wenn auch lediglich als sentimentale Gesangsnummern.46 43 GBA Unterm Birnbaum, S. 38 f. 44 Die Holtei-Lieder Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören und Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka sind im Anhang dieser Studie abgedruckt. 45 Robert Franz Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus. In: Forschungen zur neueren Litteraturgeschichte. Festgabe für Richard Heinzel, Weimar 1898, S. 465 – 491, hier: S. 473 f. In Der alte Feldherr beschützt der alte Kos´ciuszko zwei Bewohnerinnen eines deutsch-schweizerischen Landschlosses, Frau von Schönenwerd und ihre Tochter Lucie, vor den Zudringlichkeiten polnischer Ulanen in napoleonischen Diensten. Zunächst wird Kos´ciuszko, der zurückgezogen als Gutsbesitzer lebt, von den Soldaten nicht erkannt. Doch allein die Nennung seines Namens führt dazu, dass die Ulanen schließlich die Waffen strecken und auf den Knien um Vergebung flehen. 46 Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 479. Vgl. zu Holtei auch Gerhard Kosellek, König, Feldherr, Krieger. Polen im Werk Karl von Holteis. In: Kulturraum Schlesien. Ein europäisches Phänomen. Interdisziplinäre Konferenz Wrocław/Breslau 18. bis 20. Oktober 1999. Hrsg. von Walter Engel und Norbert Honsza im Auftrag
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Die Liedtexte waren somit 1830/31 ›alt‹-bekannt. Neu war nach Ausbruch des Novemberaufstands ihre politische Funktionalisierung. Bei der Uraufführung des Liederspiels 1825 konnte nur eine Minderheit der Besucher mit dem Namen des alten Feldherrn, Kos´ciuszko, überhaupt etwas anfangen.47 Die polnische Frage existierte nicht im deutschen öffentlichen Bewusstsein, besaß selbst für die Gegner des Restaurationssystems keinerlei Brisanz.48 Wenige Jahre später jedoch gehörte Kos´ciuszko, der populäre Anführer des polnischen Aufstands von 1794 vor der dritten Teilung, schon zum kollektiven Wissen;49 jetzt wurde der Alte Feldherr »das Polenstück par excellence«50 und feierte auf vielen deutschen Bühnen große Erfolge. Wenn also Abel Hradscheck in Unterm Birnbaum zum begeisterten Publikum gezählt wird (er nutzt gelegentliche Berlinaufenthalte, um das Königsstädtische Theater zu besuchen und bei seiner Rückkehr den Wirtsstubengästen in Tschechin einzelne Spielszenen aus dem Alten Feldherrn vorzutragen), orientiert sich die Erzählung am realhistorischen Phänomen.51 Holtei setzte sich sogar an eine Neubearbeitung, die 1832 erschien. Auch die letzte Strophe von Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka schrieb er um.52 So mag also das Duett von Kos´ciuszko und seinem treuen Soldaten Lagienka, wie Szulski behauptet, »alt« sein, aber es avancierte Anfang der 1830er Jahre für ungefähr zehn Jahre zu einem der beliebtesten Lieder überhaupt – wenn auch in seiner ursprünglichen, bekannteren Version von 1825.53 Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka wird bei Fontane wiederholt im fiktionalen und autobiographischen Kontext zitiert, auch noch im späten Stechlin, wo sich Graf Barby, bei gleichzeitiger politischer Distanz, zu seiner langjährigen Schwärmerei für polnische Musik bekennt. Unter dieser Musik versteht er (als transnationales Kulturgut klassifizierte) Werke
47 48 49 50 51 52 53
der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Deutsch-osteuropäisches Forum, Düsseldorf, in Verbindung mit dem Germanistischen Institut der Universität Wrocław/Breslau, Wrocław 2001, S. 121 – 139, sowie Christian Andree, Jürgen Hein et. al. (Hrsg.), Karl von Holtei (1798 – 1880). Ein schlesischer Dichter zwischen Biedermeier und Realismus. Im Auftrag der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg 2005. Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 473 und 481. Horst-Joachim Seepel, Das Polenbild der Deutschen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Revolution von 1848. Diss. phil., Kiel 1967, S. 113 f. Hofmann, Der radikale Wandel, S. 372. Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 481 f. GBA Unterm Birnbaum, S. 105. Zitiert im Anhang dieser Studie. Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 481 f.
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polnischer Komponisten ebenso wie polenthematische Lieder deutscher Dichter: »Wenn ich recht gehört habe, […] so war es Chopin, was Armgard zu Beginn der Stunde spielte … […]. Chopin, für den ich eine Vorliebe habe, wie für alle Polen, vorausgesetzt, daß sie Musikanten oder Dichter oder auch Wissenschaftsmenschen sind. […] Ich darf sagen, daß ich für polnische Musiker, von meinen frühesten Leutnantstagen an, eine schwärmerische Vorliebe gehabt habe. Da gab es unter anderm eine Polonaise von Oginski, die damals so regelmäßig und mit so viel Passion gespielt wurde, wie später der Erlkönig oder die Glocken von Speier. Es war auch die Zeit vom ›Alten Feldherrn‹ und von ›Denkst du daran, mein tapferer Lagienka‹.«54
Allerdings kann der Polenbezug dieses Liedes auch in den Hintergrund treten, wie aus einem kurzen Geburtstagsgruß ersichtlich wird, den Fontane 1881 an seinen Freund Bernhard von Lepel schickt: »Nur ein ›j’y pense‹, oder in freier Uebersetzung: ›Ich denke dran, mein tapferer Lagienka‹. Ach das klingt so vorsündfluthlich, und doch lebten wir schon lange, als es gedichtet und zuerst gesungen wurde.«55 Die (abgewandelte) Lagienka-Zeile dient hier lediglich der Versicherung eines zwischenmenschlichen Nicht-Vergessens, wird entsprechend als Bildungszitat aufgerufen. Tatsächlich haben sowohl die Anfangszeile Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka als auch diejenige des zweiten bekannten Liedes aus dem Alten Feldherrn, Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören, als »Geflügelte Worte« Eingang in die gleichnamige Sammlung von Georg Büchmann gefunden.56 Deutlich wird hierdurch die ambivalente Rezeption der Holtei-Lieder, denn einerseits werden sie im Laufe des 19. Jahrhunderts als »Citatenschatz«57 und deutsches Liedgut kanonisiert, andererseits gehören sie dem Genre der Polenlieder an, sind wirkungsgeschichtlich mit dem Novemberaufstand verknüpft; sie transportieren demnach eine Semantik des Polnischen, die zwar marginalisiert, aber auch jederzeit (teil)aktualisiert werden kann. Diese Ambivalenz der Holtei-Lieder hat Fontane in zwei Erzähltexten, Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1890), produktiv zum Einsatz gebracht. Während auf der Textoberfläche der Unterhaltungsstatus der Lieder zur Geltung kommt, lassen sich über die polnische Semantik der Lieder intertextuelle Bezüge herauspräparieren, die das textuelle Ord54 GBA Der Stechlin, S. 151. 55 Fontane an Bernhard von Lepel, 26. 5. 1881 (FLe I, S. 618). 56 Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volkes. 13., vermehrte und umgearb. Aufl., Berlin 1882, S. 171. 57 So der Untertitel von Büchmann, Geflügelte Worte.
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nungssystem mit konturieren (Irrungen, Wirrungen) bzw. Handlungselemente der dargestellten Welt vorwegnehmen (Stine). Unter der Prämisse, dass jeder Textentscheidung das Prinzip der Selektion aus Alternativen zugrunde liegt – es könnte auch immer etwas anderes dastehen –,58 wird mit der Wahl der Zitate, das heißt: der Holtei-Lieder, ihr historisch-politisches Bedeutungspotential als semantisches Echo mit einkalkuliert. 2.1.3.1.1 »Irrungen, Wirrungen« (1888) Dass in Irrungen, Wirrungen dem Lied Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka ein prominenter Stellenwert zukommt, hat die Forschung längst erkannt: So sieht Hans-Heinrich Reuter den Roman, dessen Handlung zeitlich zwischen 1875 und 1878 anzusetzen ist, durch dieses Polenlied leitmotivisch zusammengehalten,59 und Lieselotte Voss bezeichnet das Lied als das »den ganzen Roman bestimmende Zitat«.60 Dreimal wird es denn auch, mit jeweils fünf Kapiteln dazwischen, im Text explizit genannt, zum ersten Mal im neunten Kapitel, während eines Spaziergangs Richtung Wilmersdorf, den die Kunststickerin Lene Nimptsch, der Premierleutnant Botho von Rienäcker und Frau Dörr, Gattin eines Gärtners, zusammen unternehmen: [Lene:] »Singen wir, Frau Dörr. Singen wir. Aber was?« »Morgenroth …« »Nein, das nicht … ›Morgen in das kühle Grab‹, das ist mir zu traurig. Nein, singen wir ›Uebers Jahr, übers Jahr‹ oder noch lieber ›Denkst du daran[‹].« »Ja, das is recht, das is schön; das is mein Leib- und Magenlied.« Und mit gut eingeübter Stimme sangen alle drei das Lieblingslied der Frau Dörr und man war schon bis in die Nähe der Gärtnerei gekommen, als es noch immer über das Feld hinklang: »Ich denke dran … ich danke Dir mein Leben« und dann von der andren Wegseite her, wo die lange Reihe der Schuppen und Remisen stand, im Echo wiederhallte. Die Dörr war überglücklich. Aber Lene und Botho waren ernst geworden. (IW, S. 63)61
58 Zum Text als Resultat von Entscheidungen siehe Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft, S. 3045 f. 59 Hans-Heinrich Reuter, Fontane. Bd. 1, München 1968, S. 77. Reuter lässt allerdings keine diesbezügliche Textinterpretation folgen. 60 Lieselotte Voss, Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks, München 1985, S. 170. 61 Irrungen, Wirrungen wird hier und im Folgenden mit Sigle (IW) und Seitenzahl zitiert nach der GBA.
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Im 15. Kapitel stehen Botho von Rienäcker und Lene, die sich lieben, deren Standesmesalliance aber keine Zukunft hat, vor ihrem Abschied voneinander, und während beide denselben Feldweg wie im neunten Kapitel entlanggehen, erinnert Lene noch einmal an den gemeinsamen Spaziergang mit Frau Dörr: »[…] Noch in diesem Augenblicke lacht mir das Herz, wenn ich daran zurückdenke wie wir gingen und sangen: ›Denkst Du daran‹. Ja, Erinnerung ist viel, ist alles. Und die hab’ ich nun und bleibt mir und kann mir nicht mehr genommen werden. […]« (IW, S. 111, Hervorh. A. D.)
Als sich Botho, inzwischen mit seiner vermögenden Cousine Käthe von Sellenthin verheiratet, in Kapitel 21 zum Grab der alten Frau Nimptsch, der Pflegemutter von Lene, aufmacht, um ihr den versprochenen Immortellenkranz zu bringen, trifft er in der Nähe des Neuen Jakobikirchhofs auf umherziehende Spielleute, Horn und Harfe, dem Anscheine nach Mann und Frau. Die Frau sang auch, aber der Wind, der hier ziemlich scharf ging, trieb alles hügelan und erst als Botho zehn Schritt und mehr an dem armen Musikantenpaare vorüber war, war er in der Lage, Text und Melodie zu hören. Es war dasselbe Lied, das sie damals auf dem Wilmersdorfer Spaziergange so heiter und so glücklich gesungen hatten, und er erhob sich und blickte, wie wenn es ihm nachgerufen würde, nach dem Musikantenpaare zurück. Die standen abgekehrt und sahen nichts, ein hübsches Dienstmädchen aber, das […] den um- und rückschauhaltenden Blick des jungen Offiziers sich zuschreiben mochte, schwenkte lustig von ihrem Fensterbrett her den Lederlappen und fiel übermüthig mit ein: »Ich denke dran, ich danke Dir mein Leben, doch Du Soldat, Soldat denkst Du daran?« Botho, die Stirn in die Hand drückend, warf sich in die Droschke zurück und ein Gefühl, unendlich süß und unendlich schmerzlich, ergriff ihn. Aber freilich das Schmerzliche wog vor und fiel erst ab von ihm, als die Stadt hinter ihm lag und fern am Horizont im blauen Mittagsdämmer die Müggelberge sichtbar wurden. Endlich hielten sie vor dem Neuen Jakobi-Kirchhof. »Soll ich warten?« »Ja. Aber nicht hier. Unten beim Rollkrug. Und wenn Sie die Musikantenleute noch treffen … hier, das ist für die arme Frau.« (IW, S. 162)
Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka rekapituliert im Dialog zwischen Feldherr und Soldat die gemeinsam durchlittenen Gefechte bei Dubienka (1792), Krakau (gemeint ist die Schlacht von Racławice) und Szczekociny bis zur Niederlage von Maciejowice (alle 1794), die Kos´ciuszko – so will es die Anekdote – zum Ausspruch »finis Poloniae« verleitet haben soll.62 Das 62 Siehe hierzu detaillierter den Anhang dieser Studie.
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mehrfach erwähnte Lied, das Botho an Lene denken lässt, referiert mithin auf den verlorenen polnischen Freiheitskampf (hier vor der dritten polnischen Teilung); es lässt sich damit der paradigmatischen Achse des Textes einfügen, nach der Bothos Verhältnis zu Lene mit dem semantischen Merkmal der »Freiheit« versehen werden kann.63 Dass dieses »Glück der Freiheit« (IW, S. 175) von Dauer sein könnte, daran glaubt Botho allerdings nicht und rät entsprechend auch seinem Bekannten Bogislav von Rexin von einer unstandesgemäßen Verbindung ab. Die Trennung von Lene ist zu diesem Zeitpunkt schon erfolgt, gemäß Bothos Maxime, »daß das Herkommen unser Thun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zu Grunde gehn, aber er geht besser zu Grunde als der, der ihm widerspricht« (IW, S. 108). So ist der Entschluss, Käthe von Sellenthin zu heiraten, auch dezidiert im Namen der Ordnung gefallen: »Denn Ordnung ist viel und mitunter alles. […] Ordnung ist Ehe.« (Ebd.) Umgekehrt bedeutet dies freilich, die Mesalliance mit Lene im Bereich der ›Un-Ordnung‹ anzusiedeln, im Sinne eines Zuwiderlaufens gegen das soziale Regelsystem. Was sich Botho mit Lene imaginierte – »ein verschwiegenes Glück, ein Glück, für das ich früher oder später, um des ihr ersparten Affronts willen, die stille Gutheißung der Gesellschaft erwartete« –, bleibt unrealisierbarer »Traum« (IW, S. 106). Die Alternative hieße, »die Welt herauszufordern und ihr und ihren Vorurtheilen öffentlich den Krieg zu erklären« (ebd.), aber dazu sieht sich der junge Premierleutnant nicht in der Lage. Der drohende Verlust von »Freiheit« wird in Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten hingenommen. Bothos Beziehung mit Lene unterscheidet sich hierin von der ›Kriegsgemeinschaft‹ zwischen Kos´ciuszko und Lagienka. Für die Liebe wird nicht wie für das Vaterland der Kampf gewagt; auf die Dauerhaftigkeit der Gefühlsbindung hat dies allerdings keinen Einfluss (siehe unten). Auch wenn Lieselotte Voss den Figuren Lene und Käthe im Hinblick auf Botho bereits die oppositionell gesetzten Konzepte ›Freiheit‹ vs. ›Ordnung‹ zuweist und den historischen Bezug des Holtei-Liedes auf den polnischen Freiheitskampf für den Stellenwert der Lene-Figur nutzbar 63 Lenes Name »Nimptsch« erinnert signifikanterweise auch an Lenau, eigentlich Niembsch von Strehlenau, der nicht nur als (Polen-)Dichter für politische »Freiheit« plädierte, sondern sie tatsächlich in Nordamerika zu finden versuchte. Diese Unternehmung schlug allerdings fehl. Siehe Günter Häntzschel, [Art.] ›Lenau‹. In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 14, Berlin 1985, S. 195 – 198.
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macht,64 geht sie nicht auf die zeitliche Befristung jener Freiheit ein, die Lene und Botho vergönnt ist. Genau diese Limitierung spiegelt sich aber in dem Polenlied, das nicht zuletzt von der endgültigen Niederlage der Freiheit (finis Poloniae!) handelt. Bothos Konflikt zwischen Lene und Käthe, Freiheit bzw. Unordnung auf der einen und Ordnung auf der anderen Seite, ist der zwischen zwei Lebensmodellen. Da Lenes Freiheits-Welt über das Lied polnisch konnotiert wird, überdies ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ zu den gängigen Oppositionspaaren gehören, die im kulturellen preußisch-deutschen Diskurs des 19. Jahrhunderts die eigene Dominanz gegenüber der polnischen Fremdnation belegen sollen, entspricht Bothos Entscheidung für Käthe und gegen Lene zugleich diesem preußischen Hierarchisierungsschema. Die Niederlage bzw. der Verlust bestimmt die Blickrichtung der davon Betroffenen und lenkt den erinnernden Blick in die Vergangenheit. So geht es in Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka um die emotionale Verlebendigung von weit Zurückliegendem – im Wechselgesang versichern sich der Feldherr Thaddäus [Kos´ciuszko] und sein Soldat Lagienka ihrer gegenseitigen Verbundenheit bis ans Lebensende durch Evozierung gemeinsamer Kriegserlebnisse. Für Botho und Lene hingegen wird das Lied als solches, das von erinnernder Rückholung handelt, zum Gedächtnisraum einer gemeinsamen Vergangenheit. Während Frau Dörr, ehemalige Grafengeliebte und von »besondere[r] Beschränktheit« (IW, S. 6), sich beim Spaziergang in Richtung Wilmersdorf ganz dem sentimentalen Volksliedduktus des Liedes überlässt und es deshalb jederzeit und unproblematisch ›verdauen‹ kann (»mein Leib- und Magenlied«), mit dem Ergebnis, »überglücklich« zu sein, beziehen es Lene und Botho bewusst auf ihre Situation (»waren ernst geworden«). Nur anfangs nehmen sie es ebenfalls als nicht-»traurig« wahr (im Gegensatz zu Morgen in das kühle Grab), wird es auch von ihnen als reines Unterhal64 Siehe Voss, Literarische Präfiguration, S. 170 – 173. Müller-Seidel, Fontane und Polen, S. 443, verortet die Relevanz polnischer Semantik in Irrungen, Wirrungen anders. Zum Bezug auf das Polenlied im neunten Kapitel schreibt er: »Die sozialen Gegensätze im Verhältnis der beiden Liebenden scheinen hier noch einmal ausgeglichen – wie im Verhältnis zwischen Preußen und Polen in jener Zeit, ehe sich die Wege trennten. Diese Zeit der gemeinsamen Sache, über viele Grenzen hinweg, wird hier unauffällig erinnert – ein Geschichtsdenken, das zumal in solcher Unaufdringlichkeit nicht seinesgleichen hat.« Diese Deutung ist insofern wenig überzeugend, als sie das Holtei-Lied nur wirkungsgeschichtlich mit der deutschen Polenbegeisterung von 1830/31 korreliert, ohne den Liedtext als solches in die Analyse des Romans mit einzubeziehen.
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tungsstück funktionalisiert. Doch die signifikante und explizit im Text aufgeführte Liedzeile »Ich denke dran … ich danke Dir mein Leben« birgt für beide lebensgeschichtliche Implikationen: Einerseits weist die Zeile zurück auf ihre Erstbegegnung bei einer Bootsfahrt, als Botho und sein Begleiter Lenes kleine Gesellschaft vor dem drohenden Kentern ihres Kahns erretten (vgl. IW, S. 18 f.). Andererseits mahnt sie prospektiv bereits an das, was von der Beziehung zwischen Botho und Lene einzig zurückbleiben wird und darf: die Erinnerung und das erfahrene »Glück«, das vorhalten muss. Und weil die Geschichte von Irrungen, Wirrungen, wie Robert Vellusig darlegt, als Prozess inszeniert wird, »in dem Ahnungen und Erinnerungen miteinander verschränkt sind«,65 taucht das Lied auch an verschiedenen Romanstellen auf. Im neunten Kapitel spiegelt es durch seinen Rekurs auf Zurückliegendes schon die Zeitstufe des Vergangenen, in der das Verhältnis von Botho und Lene letztlich seinen Platz haben wird. In Kapitel 15 ist das Lied selbst bereits zum Erinnerungsträger ihres Zusammenseins geworden: »Ja, Erinnerung ist viel, ist alles.« (IW, S. 111) In dieser Funktion wird es weiterhin positiv wahrgenommen, angesichts der Nicht-Veräußerbarkeit von Erlebtem »lacht« Lene sogar »das Herz«. Bothos Reaktion auf das Lied ist dagegen ambivalent, als er im zeitlichen Abstand von drei Jahren Text und Melodie wiederhört: Trotz »ein[es] Gefühl[s], unendlich süß«66 überwiegt bei ihm »das Schmerzliche« (Kapitel 21). Im darauffolgenden Kapitel verbrennt er Lenes Briefe und ihren Blumenstrauß, in der Hoffnung, »daß mit diesen Trägern der Erinnerung auch die Erinnerungen selbst hinschwinden werden« (IW, S. 167), zugleich die Vergeblichkeit seines Ansinnens begreifend: »Ob ich nun frei bin? … Will ich’s denn? Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.« (Ebd.) Der Romantext Irrungen, Wirrungen unterstreicht dieses Gebundensein von Botho und Lene, indem er ihrer Beziehungsgeschichte jenes populäre Polenlied zuordnet, das längst im Volksmund verbreitet ist und damit sowohl Botho als auch Lene jederzeit wieder erinnernd zu Ohren gelangen kann. 2.1.3.1.2 »Stine« (1890) Auch im fünften Kapitel von Stine, 1890 in Buchform erschienen, wird Holtei anzitiert: anlässlich einer in der Wohnung der Witwe Pittelkow 65 Robert Vellusig, Ein ›Wiederspiel des Lebens, das wir führen‹. Fontane und die Authentizität des poetischen Realismus. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 125 (2006), S. 209 – 234, hier: S. 228. 66 Wohl dafür dankt Botho der Musikantenfrau mit einem Trinkgeld.
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stattfindenden Abendgesellschaft, die keineswegs freiwillig zustande gekommen ist. Der alte Graf von Haldern, mit Spitznamen »Sarastro«, der ein Verhältnis (und wohl ein Kind) mit der Pittelkow hat und ihren Lebensunterhalt sichert, hat die Veranstaltung diktiert und damit bei Pauline Pittelkow nicht geringen Ärger ausgelöst: »Alter Ekel. Immer verquer.« (ST, S. 6)67 Als Gäste erscheinen neben dem Baron »Papageno« noch Waldemar von Haldern, Neffe des Grafen, und die Schwester der Pittelkow, Stine Rehbein, sowie Wanda Grützmacher, Schauspielerin am Nordend-Theater (und nebenbei Namensträgerin der legendären Krakauer Fürstentochter).68 Wanda ist die Sängerprotagonistin des Abends, in Kostümierung trägt sie Holtei vor, doch nicht Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka, sondern Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören, ebenfalls aus dem Alten Feldherrn, ja, so wird hier postuliert, sogar das »Hauptstück« desselben: [Der alte Graf:] »Dann bin ich, wenn es die Zauberflöte nicht sein kann, für den Alten Feldherrn. Aber im Kostüm.« Das wurde denn auch allerseits freudig aufgenommen und nach kurzem Rückzug in die Nebenstube trat Wanda wieder ein, rot drapiert und eine Gardinenstange statt des Fahnenstocks in der Hand. »Singen, singen!« »Ich werde ja,« sagte Wanda, sich vor ihrem Publikum verneigend, »aber was? Der Alte Feldherr hat zwei Stücke.« »Nun denn, das Hauptstück: ›Fordre niemand mein Schicksal zu hören.‹ Ein wundervolles Lied und ebenso wahr wie ergreifend. Eigentlich könnt’ es jeder singen, vor allem solche alte Feldherrn wie wir. Nicht wahr, Papageno? Aber nun anfangen. Schnell, schnell.« 67 Stine wird hier und im Folgenden mit Sigle (ST) und Seitenzahl zitiert nach der GBA. 68 Vgl. Andreas Degen, Patria und Peitsche. Weiblichkeitsentwürfe in der deutschen Wanda-Figur des 19. Jahrhunderts. In: Convivium – Germanistisches Jahrbuch Polen 2007, S. 57 – 78: »Die mittelalterliche Legende von Wanda, Tochter und Nachfolgerin des Krakauer Gründungsfürsten Krak, die die Werbung eines deutschen Ritters ablehnt, ihn besiegt und sich anschließend durch einen Sprung in die Weichsel den Göttern opfert, gehört zu den bekanntesten politischen Mythen Polens.« (S. 57 f.) Auch im deutschen Polendiskurs des 19. Jahrhunderts nimmt die (allerdings zunehmend erotisch und nicht tugendhaft national-politisch konzipierte) Wanda-Figur ihren Platz ein. Sogar in vier Fontane-Gedichten, die 1837/38 entstanden sind, wird »Vanda« zur Figur der Geliebten stilisiert – ohne dass weiter auf den Mythos eingegangen würde. Autobiographisch ist die Entstehung von Der Kastanienbaum, Auf dem See, Trauriges Erwachen und Trost (GBA Gedichte, Bd. 2, S. 181 f., 187 – 191) in Zusammenhang mit Fontanes erster, unerfüllter Liebe zu Minna Krause zu sehen. Vgl. auch B. Neumann, Über die Geburt der Melusine, der Wanda zum Urtypus von languissanten Frauenfiguren erklärt, wie sie Fontane mit Cécile oder Effi schuf.
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Und im nächsten Augenblick brach es los und durch alle drei Stockwerke hin, so daß selbst die Polzins oben es hören konnten, klang es in immer erneutem Refrain: »Ist mir nichts, ist mir gar nichts geblieben, Als die Ehr’ und dies alternde Haupt.« Die Pittelkow hatte sich dabei hinter den Stuhl des alten Grafen gestellt und schlug mit ihrem Zeigefinger den Takt auf seiner kahlen Kopfstelle. Wanda war glücklich und gab immer Neues zum besten, wobei die Pittelkow, die viel Gehör hatte, die zweite Stimme sang, während Sarastro mit seinem Baß und der nach wie vor am Klavier begleitende Papageno mit seinem schadhaft gewordenen Bariton einfielen. Nur der junge Graf und Stine schwiegen und wechselten Blicke. (ST, S. 37 f.)
Das Holtei-Lied ist zweite Wahl, nachdem die vom alten Grafen vorgeschlagene Arie Bei Männern, welche Liebe fühlen von Wanda als erotische Grenzüberschreitung abgelehnt wurde (»Ich finde, dies Lied ist schon über der Grenze«, ST, S. 37).69 Aber auch der alternative Vorschlag des alten Grafen – das »Hauptstück« aus dem Alten Feldherrn – besitzt Vorteile, ist es doch »wundervoll[]«, »wahr« und »ergreifend«, indem es sich auf die eigene fortgeschrittene Lebenssituation beziehen lässt: In der Rolle des alten Feldherrn mit einer verlustreichen Lebensgeschichte erkennen sich »alte Feldherrn wie wir« wieder. Die polnischen Implikationen des Liedtextes treten gegenüber der transportierten Lebensweisheit zurück.70 Signifikant ist gleichermaßen die Kostümierung Wandas, die, obwohl der Liedvortrag in Verkleidung gewünscht wird, keinen Bezug zum polnischen Nationalhelden Tadeusz Kos´ciuszko herstellt, der ja die Sprecherinstanz des Liedes wäre, sondern mit ›Fahnenstock‹ und roter Drapierung, die von den
69 Degen, Patria und Peitsche, S. 66, sieht Wanda Grützmacher als »MöchtegernWanda«, die mit ihren »ganz unmotivierten Anstands- und Tugendrückfällen« (ST, S. 37) nur scheinbar auf die historische Wanda-Figur referiert, indem sie »ihre frivolen Anstandsappelle und erotischen Überlegenheitsposen zum Amüsement der sie aushaltenden Herren aufführt«. 70 Wie Polnisches in der Sphäre der bürgerlichen Unterhaltungs- und Alltagskultur aufgehen kann, zeigt sich auch in der Pittelkow’schen Wohnungseinrichtung, die »an ein und demselben Vormittage […] von einem Trödler« (ST, S. 21) erworben wurde. Zum Inventar gehören unter anderem ein »stark nachgedunkeltes Ölporträt«, das »wenigstens hundert Jahre alt war und einen polnischen oder litauischen Bischof verewigte, hinsichtlich dessen Sarastro schwor, daß die schwarze Pittelkow in direkter Linie von ihm abstamme« (ST, S. 20), sowie »zwei jämmerliche Gipsfiguren, eine Polin und ein Pole, beide kokett und in Nationaltracht zum Tanze ansetzend« (ST, S. 21).
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polnischen Nationalfarben71 allenfalls eine berücksichtigt, im national Unbestimmten verharrt. Freilich kann das Lied nun umso leichter die Befindlichkeiten unterschiedlicher Figuren bedienen. So greift sich Pauline Pittelkow, die über den diktierten Abend reichlich verstimmt ist, aus Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören die Textstelle vom »alternde[n] Haupt« heraus.72 Gestisch auffällig schlägt sie mit ihrem Zeigefinger den Takt auf der Glatze des alten Grafen; narrativ ergibt sich damit ein Verweis auf die Kartoffelkomödie73 Judith und Holofernes, die zuvor durch Wanda zur Aufführung gekommen ist und deren Schlusssatz »Daß er mich zubegehrt, das kostet ihm den Kopf« (ST, S. 34) wirkmächtig von der Enthauptung des Kartoffel-Holofernes sekundiert wurde. Der Rekurs vom alten Grafen auf den Heerführer Holofernes gelingt zudem über die Feldherrnrolle, die sich der Graf am Abend wörtlich zugelegt hat. Pauline Pittelkow ist ohne Möglichkeit, sich an Sarastro, der ihr »keine ruhige Stunde« (ST, S. 13) lässt, von dem sie jedoch finanziell abhängig ist, für seine Zudringlichkeiten zu rächen; der gestischen Anspielung aber kann sie sich zumindest bedienen. Distanz zur Aufführung des Liedes wahren allein der junge Graf und die Näherin Stine, die sich an diesem Abend erstmals begegnen. Ihr Verhalten setzt sich von der allgemeinen Sangesseligkeit ab (»Nur der junge Graf und Stine schwiegen und wechselten Blicke«) und gibt erzählerisch das Signal, die betreffenden Figuren mit dem Lied in Beziehung zu setzen. Tatsächlich spiegeln die in Stine zwar bis auf den Refrain74 nicht explizit zitierten, aber von Wanda (mit Begleitung) vorgetragenen Strophen des Polenliedes Elemente der Vergangenheit und Zukunft Waldemars, nehmen sein Scheitern vorweg.75 Dabei fungiert das Lied, das Kos´ciuszkos Schicksal 71 Zu den polnischen Nationalfarben wurden am 7. Februar 1831 durch den kongresspolnischen Sejm Rot und Weiß erklärt. Siehe Gerhard Kosellek, Polen im Leben und Werk Nikolaus Lenaus [1975/76]. In: Ders., Reformen, Revolutionen und Reisen. Deutsche Polenliteratur, Wiesbaden 2000 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 30), S. 269 – 292, hier: S. 281. 72 Siehe dazu auch schon Voss, Literarische Präfiguration, S. 187 f. 73 Sie ist eigentlich ein Trauerspiel! 74 Der im Roman zitierte Refrain findet im Holtei-Text, wo die zwei Schlusszeilen in jeder Strophe variieren, keine wörtliche Entsprechung. 75 Dies konstatiert schon Voss, Literarische Präfiguration, S. 185 f. Thomas Grimann, Text und Prätext. Intertextuelle Bezüge in Theodor Fontanes ›Stine‹, Würzburg 2001 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 349), geht nicht auf das Polenlied ein, beschränkt sich vielmehr in seiner Darstellung zu Stine auf die intertextuellen Bezüge zur Passionsgeschichte, zur Zauberflöte und zu Shakespeares Wintermärchen.
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erzählt, gewissermaßen als Hohlform: Die Bezugnahme auf Waldemars Lebensgeschichte erfolgt mittels Übereinstimmung und Differenz. Beide, Kos´ciuszko und Waldemar, haben im Krieg »Ehre«76 erworben – sei dies der »Lorbeer« (Strophe 1, Zeile 6)77 oder das Eiserne Kreuz (ST, S. 86). Doch während der polnische Held unzählige Schlachten geschlagen hat und schließlich an der polnischen Niederlage verzweifelt (»Doch in Polen entsagt’ ich der Welt!«, Strophe 3, Zeile 2), ist Waldemars Einsatz im 1870er Krieg nur von kurzer Dauer. Nach drei Tagen wird er verwundet, avanciert vorübergehend für die Familie zum »Held[en]« (ST, S. 94), aber der erworbene Ruhm währt nicht lange, weil er Rekonvaleszent bleibt, sich nicht mehr im siegreichen Preußen regeneriert. Waldemars Geschichte integriert und modifiziert Elemente des Prätextes. So ist der inzwischen alt gewordene Kos´ciuszko »nichts als ein sterbender Held« (Strophe 3, Zeile 4); Waldemar ist zwar ein junger Mann, aber das Schlachtfeld verlässt er als »Halbtote[r]« (ST, S. 53), der nach der Zurückweisung durch Stine, die er heiraten möchte, im Selbstmord seinen einzigen Ausweg sieht, damit nicht in Polen, aber in Preußen der Welt entsagt. Wie Kos´ciuszko muss Waldemar seine Liebe aufgeben; und Amerika wird in beider Biographie als Oppositionsraum funktionalisiert – im Fall Kos´ciuszkos, der tatsächlich am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilnahm und für seine Leistungen hoch dekoriert wurde, stellt er eine realisierte, wenn auch keine bleibende Alternative zu Polen dar (»In Amerika sollt’ ich einst steigen«, Strophe 3, Zeile 1), im Fall Waldemars spielt er als imaginierter Fluchtraum für »ein anderes Leben« (ST, S. 76) mit Stine eine Rolle.
76 Vgl. vor allem die Liedstrophe 2, Zeile 5 – 8 (»Zu des Vaterlands Rettung berufen, / Schwer verwundet, von Feinden umschnaubt, / Blieb mir unter den feindlichen Hufen, / Nur die Ehr’ und dies blutende Haupt«), und die Schilderung von Waldemars Kriegsvergangenheit aus der Perspektive des alten Graf Haldern: »Aber seine Krankheit und sein Elend, das ist es ja gerade, was ihm vor Gott und Menschen zur Ehre gereicht. Denn woher hat er’s? Aus dem Krieg her hat er’s. Er war noch keine neunzehn und ein schmächtiger dünner Fähnrich bei den Dragonern und sah aus wie’ne Milchsuppe, das muß wahr sein. Aber ein Haldern war er. Und weil er einer war, war er der erste von der Schwadron, der an den Feind kam, und vor dem Karree, das sie sprengen sollten, ist er zusammengesunken, zwei Kugeln und ein Bajonnetstich und das Pferd über ihn. Und das war zuviel für den jungen Menschen. Zwei Jahre hat er gelegen und gedoktert und gequient und nun drückt er sich schwach und krank in der Welt herum […]. Er hat das eiserne Kreuz […].« (ST, S. 86) 77 Siehe den Abdruck des Liedes Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören im Anhang dieser Studie.
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Sowohl dem Polenlied als auch Waldemars Geschichte, die mit Stines Geschichte korreliert ist, liegen die Paradigmen Verlust und Niederlage zugrunde, wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen. Der Held Kos´ciuszko zerbricht an der verlorenen Staatlichkeit Polens (vgl. Strophe 3), Waldemars Lebenskatastrophe hingegen ist im siegreichen Preußen zu verorten, auf dem Schlachtfeld und im preußischen Gesellschaftssystem Ende der 1870er Jahre. Letztlich scheitert Waldemar an den gegebenen soziokulturellen Verhältnissen, die einer Standesmesalliance mit Stine keine Chance lassen, weil zwischen den gesellschaftlichen Gruppen dezidierte Grenzziehungen bestehen (entsprechend liegt gemäß Stine auf ihrer Verbindung mit Waldemar »von Anfang an kein Segen«, ST, S. 95). Aus dem interfiguralen Bezug zwischen Kos´ciuszko und Waldemar ergibt sich nicht zuletzt eine axiologische Vergleichbarkeit der individuellen Fallhöhen. Die Katastrophe Waldemars wird an diejenige des populären Polenhelden herangeschrieben, auch wenn der junge Haldern als »armer Invalide« (ST, S. 88) heimkehrt, der allerdings – in den Worten der Witwe Pittelkow – schon deshalb »Respekt« (ST, S. 86) verdient, weil er »seine Schuldigkeit gethan« (ST, S. 87) hat. Diese Anerkennung wird intertextuell gestützt durch die Kos´ciuszko-Waldemar-Analogie, die als Spiegeleffekt wirkt, aber ebenso augenfällig macht, wie anders (im Vergleich zum Polenlied) jene ›Helden‹-Geschichten sein können, die der preußische Siegerstaat nach der Reichsgründung hervorbringt. Die Ausführungen zu Irrungen, Wirrungen und Stine zeigen, dass sich die Funktionalisierung der Lieder im narrativen Kontext auf zwei Ebenen vollzieht. Zum einen lassen sie sich als stimmungsvolle Unterhaltungsstücke rezipieren (unter Tilgung ihrer polnischen Implikationen, was sich auch in der Kostümierung Wandas in Stine zeigt), leisten sie ihren Beitrag zur Inszenierung eines Ausflugs oder einer Abendgesellschaft. Zum anderen kann ihr strukturelles und/oder ideologisches Substrat erzählerisch genutzt werden, um Semantiken des Textes zu profilieren oder neu einzuziehen. Stine und Waldemar sehen sich mit einem Polenlied konfrontiert, das lebensgeschichtliche Verlusterfahrungen paradigmatisiert, so dass Waldemars Niederlagen vor dieser Folie gelesen werden können. Und die Beziehung von Lene und Botho wird über ein Polenlied, das auf einen verlorenen Freiheitskampf rekurriert, dezidiert dem Bereich der ›Freiheit‹ zugewiesen, die innerhalb des preußischen Regelsystems für ›Unordnung‹ steht und allenfalls befristet erlebbar ist. Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka handelt nicht nur von Erinnerung, sondern wird für Lene und Botho auch zu einem Erinnerungsträger der gemeinsamen Zeit. Indem das
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Polenlied aber ein populäres, oft wiederholtes ist, das jederzeit wieder gesungen und gehört werden kann, partizipiert es über sein Merkmal des Repetitiven an jenen Strukturen der erinnernden Einholung oder Wiederkehr, die in Fontanes Erzähltexten mit Polenthematik noch des Öfteren zu beobachten sein werden. 2.1.3.2 Fontanes Polenlyrik von 1840/41 Mehrfach hat Fontane narrativ populäre Polenlieder funktionalisiert, sie zudem für sich als geistigen Dauerbesitz reklamiert. Dem Romanautor Fontane, der Polnisches in seine Erzählwerke integriert, geht jedoch der Polenlyriker Fontane voraus. In der kurzen Zeitspanne von 1840 bis ca. 1842 verfasst er eigene Polengedichte, insgesamt vier an der Zahl: Noch während Fontanes Berliner Zeit entsteht 1840 Der Verbannte; dann, als er im Frühjahr 1841 nach Leipzig übersiedelt, um eine Stelle in der Neubert’schen Apotheke anzutreten, schreibt er weitere Lyrik mit Polenthematik: An der Elster und Zum Kampf!. Weil es Russland als Gegner der Polen ins Visier nimmt, wird in der Forschungsliteratur auch das Gedicht Die zehn Gebote aus dem russischen Katechismus in Zusammenhang mit Fontanes Polenlyrik gebracht.78 Gerade diese polenthematische GedichtProduktion verdeutlicht, wie sehr Polnisches seit jungen Jahren den Zeitgenossen und den Schriftsteller Fontane tangiert: Der lebenslangen Berührung mit polnisch-preußischer Geschichte korrespondiert die Langzeitpräsenz polnischer Thematik in Fontanes fiktionalen wie nichtfiktionalen Texten. Rückblickend bezeichnete Fontane die Lyrik, die er in den frühen 1840er Jahren schrieb – und dazu gehören auch seine Polengedichte –, als »Freiheitsphrasendichtung«.79 Diese Etikettierung aus Von Zwanzig bis Dreißig (1898) zeugt von Distanz, nicht ohne Grund: Bereits in seinem literaturhistorischen Beitrag Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) erklärte Fontane den Realismus zum »Feind aller Phrase und Überschwenglichkeit«,80 der realistische Autor musste also schon aus seinem Selbstverständnis heraus dem (pathetischen) Genre der Freiheitslieder skeptisch gegenüberstehen. Und doch wird diesem Genre in Von Zwanzig bis Dreißig auch »etwas sehr Beherzigenswertes« zugestanden, nämlich »[d]ie Sehnsucht nach anderen Zuständen und die tiefe, ganz aufrichtige 78 So bei Sommer, Das Polenbild Fontanes, S. 174, und Rieck, Polnische Thematik, S. 102. 79 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 105. 80 HFA III/1, S. 239.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Mißstimmung darüber, daß diese Zustände noch immer nicht kommen wollten«.81 Nach dem Tod des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. am 7. Juni 1840 hatte das liberale Bürgertum politische Reformen unter dem Thronfolger Friedrich Wilhelm IV. erhofft, so die Einlösung des bereits 1815 gegebenen Verfassungsversprechens. »Auf allen Gesichtern lag etwas von freudiger Verklärung und gab dem Leben jener Zeit einen hohen Reiz«, heißt es in Von Zwanzig bis Dreißig. 82 »Ich […] fühlte mich unendlich beglückt an dem erwachenden politischen Leben teilnehmen zu können«.83 In dieser Aufbruchstimmung verfasst Fontane diverse »Freiheitslieder[]«,84 darunter solche in der Tradition der Polenlieder.85 Überhaupt lebt die Polenlyrik damals noch einmal auf, durch Georg Herwegh, Friedrich Hebbel, Moritz Hartmann und andere.86 Schon seit den 1790er Jahren besaßen die Polen den Ruf einer Freiheitsnation, hatten sie sich doch am 3. Mai 1791 die erste schriftliche Verfassung Europas gegeben und gegen die zweite und dritte Teilung heftigen Widerstand geleistet. Dass nun, zehn Jahre nach dem Novemberaufstand 1830/31, die Polenthematik in der Lyrik erneut verstärkte Aufnahme fand, zeigt, welche »exemplarische Bedeutung für das europäische konstitutionelle Denken«87 die Polen mittlerweile gewonnen hatten.88 Das erste Polengedicht Fontanes, Der Verbannte, stammt aus dem Jahr 1840. Es ist, so die Kommentare des Hanser- und Aufbau-Verlags, von 81 82 83 84 85
GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 106. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 90. Zu Fontanes Polenlyrik siehe folgende Beiträge: Sommer, Das Polenbild Fontanes, S. 174 f.; Jaroszewski, Theodor Fontane, S. 88 f.; Rieck, Polnische Thematik, bes. S. 84 – 103; Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 220 – 222; demgegenüber bietet Roswitha Wisniewski, Theodor Fontanes Polenlieder im Kontext der deutschen Begeisterung für den polnischen Aufstand 1830/31 [mit polnischer Zusammenfassung]. In: Reflexionen über Pommern und Polen, S. 140 – 161, nichts Neues. 86 Vgl. Polenlieder. Eine Anthologie, S. 51 f., 81 f., 92 f., 112 – 114. Siehe auch in Polenlieder deutscher Dichter. Bd. 2, S. 319 – 407, das Kapitel »Der Novemberaufstand in den deutschen Liedern und Gedichten aus späterer Zeit«, das allerdings über diese Grobklassifizierung hinaus keine weiteren Angaben zu Entstehungsbzw. Druckdaten der einzelnen Lieder macht. 87 M. G. Müller, Polen-Mythos und deutsch-polnische Beziehungen, S. 104. 88 Siehe auch Dücker, ›Polenbegeisterung‹, S. 718 f.: »Als Programmbegriff repräsentiert ›Polen‹ bzw. ›Pole‹ ein Konzept nationaler Selbstbestimmung und ein liberales Gesellschaftssystem, es verkörpert soziale Dynamik, Moderne und kulturellen Wandel.«
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Lenau beeinflusst (eine weitere Konkretisierung unterbleibt jeweils),89 dem dritten Polendichter, den Fontane in Meine Kinderjahre neben Julius Mosen und Karl von Holtei explizit und sogar an erster Stelle nennt. Tatsächlich besteht offenbar eine zeitliche Nähe zwischen Fontanes Rezeption der Lenau’schen Lyrik und der Produktion eigener Polengedichte. Denn stimmen seine Angaben, kommt Fontane erstmals im Jahr 1840 mit der Lyrik Lenaus in Berührung.90 Eine sich heute in der Handbibliothek Fontanes befindende zweibändige Ausgabe von Lenaugedichten aus dem Jahr 184491 enthält zwar nicht mehr Abschied von Galizien (1830), aber die Polengedichte In der Schenke. Am Jahrestag der unglücklichen Polenrevolution (1831), Der Maskenball (1831), Der Polenflüchtling (1833), Zwei Polen (1835) und Die nächtliche Fahrt (1837/38), die allesamt auf den Novemberaufstand und seine Folgen Bezug nehmen.92 In Fontanes Romane sind sie nicht als markierte Zitate eingegangen.93 Wenn sie dennoch für Fontane Bedeutung erlangt haben, wie er in Meine Kinderjahre behauptet, dann muss dies vor allem für eine Zeit zutreffen, in der die Freiheitsthematik sein politisches Denken dominierte, sie für ihn mitreißende Aktualität besaß. Und dies waren die frühen 1840er Jahre. Es liegt mithin nahe, Fontanes Rückgriff auf die Polenthematik mit der zeitnahen Rezeption der Lenau’schen Polenlyrik in Verbindung zu setzen. Zwar basiert das Stereotypen- und Bildrepertoire, das sich bei Fontane (und ebenso bei Lenau) findet, auf einem konventionalisierten Sprachmaterial, 89 Vgl. HFA I/6, S. 1247, sowie GBA Gedichte, Bd. 2, S. 573. 90 Siehe GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 33. 91 Es handelt sich um: Nicolaus Lenau, Gedichte. Bd. 1 – 2. 7., durchges. und vermehrte Auflage, Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta’scher Verlag 1844. – Ich danke Herrn Klaus-Peter Möller vom Theodor-Fontane-Archiv Potsdam für seine freundliche Auskunft. Die 1841 erstmals erschienenen Gedichte von Lenau in zwei Bänden bestehen aus den seit 1832 mehrfach aufgelegten Gedichten (= Bd. 1) und den 1838 erstmals gedruckten Neueren Gedichten (= Bd. 2). 92 Vgl. zu diesen Polengedichten Nikolaus Lenau, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt, Gerard Koziełek et. al. Bd. 1: Gedichte bis 1834. Hrsg. von Herbert Zeman und Michael Ritter in Zusammenarbeit mit Wolfgang Neuber und Xavier Vicat, Wien 1995. Bd. 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese. Hrsg. von Antal Mádl, Wien 1995. Die Gedichte Abschied von Galizien, In der Schenke. Am Jahrestag der unglücklichen Polenrevolution, Der Maskenball und Der Polenflüchtling sind in Band 1 zu finden (S. 62 – 64, 65 f., 177 – 180 und 285 – 287), Zwei Polen und Die nächtliche Fahrt in Band 2 (S. 30 – 33 und 45 – 48). 93 In den Romanen Fontanes werden nur andere Lenau-Gedichte, wie die Schilflieder oder Nach Süden, zitiert. Siehe z. B. Franziskas Begeisterung für Lenau in Graf Petöfy (GBA Graf Petöfy, S. 25 – 27).
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dessen sich das Genre der Polenlyrik überhaupt mit hohem kommunikativem Wert bedient. So wird auch in den Fontane-Gedichten auf den sogenannten Typus des ›edlen Polen‹ zurückgegriffen: Thematisiert werden Heldentum und Kampfgeist, Patriotismus und Freiheitsliebe, Verbannungslos und Schmerz.94 Ebenso wenig fehlt die Erinnerung an realhistorische Persönlichkeiten. Und das oft beschworene polnische Wappentier, der weiße Aar, hat gleichermaßen im Verbannten wie in An der Elster seinen zeichenhaften Auftritt. Doch beim ersten Polengedicht Fontanes, Der Verbannte, lässt sich der Einfluss Lenaus tatsächlich konkreter umreißen. Erkennbar sind strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Polenflüchtling, die über eine bloße thematische Verwandtschaft, wie sie im Titel anklingt, hinausgehen. Zum Lenau-Gedicht: Hier irrt der exilierte, narbenbedeckte Polenheld ohne »Ziel und Vaterland« (Z. 4)95 durch die arabische Wüste und schläft an einer Quelle ein. Im Traum versunken, imaginiert er den Gesang von Beduinen, die sich inzwischen genähert haben, als Schlachtenlärm im polnischen Freiheitskampf (Ostrolenka) und muss, als er erwacht, erkennen, dass er nur umgeben ist von »Arabiens freie[n] Söhne[n], / Auf die der Mond der Wüste scheint; / Da wirft er sich zur Erd’ und weint«. (Z. 89 – 91) Der Verbannte 96 des Fontane-Textes befindet sich hingegen bei Mondlicht im eisigen Norden, wo er so frei ist, wie er »nie gewesen« (vgl. Strophe 7, Z. 2), und laut zur Rache Polens aufrufen darf. Ein blutrotes Nordlicht ist hier Auslöser für eine Traumsituation vom wiederaufgenommenen Freiheitskampf:97 »[…] im Spiegelbilde / Erblick ich, Polen, 94 Zu diesen Merkmalen des ›edlen Polen‹, der als Typus ausgestaltet erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auftritt, siehe detailliert vor allem Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 191 – 214, und Anna Kochanowska-Nieborak, Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des ›langen‹ 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010 (= Posener Beiträge zur Germanistik 24), S. 183 – 205. 95 Im Folgenden zitiert nach Nikolaus Lenau, Werke und Briefe. Bd. 1, S. 285 – 287. Die dort angegebenen Nummerierungen der Zeilen (wobei als Zeile 1 die Überschrift gezählt wird) werden übernommen. 96 Im Folgenden zitiert nach GBA Gedichte, Bd. 2, S. 31 – 33. 97 Bereits seit dem Mittelalter gilt das Nordlicht mit seinem in Intensität variierenden rot-grün-blauvioletten Farbspektrum als »Omen für Krieg und Blutvergießen«. Vgl. [Art.] ›Nordlicht‹. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. Bd. 6, Berlin/Leipzig 1935, Reprint Berlin/New York 1987, Sp. 1118 – 1121, hier: Sp. 1118. Siehe im Gegensatz dazu aber die Funktionalisierung des Nordlichts in Adalbert Stifters Bergkristall, wo allerdings auch auf die grüne Farbsemantik rekurriert wird.
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deine Heldensöhne, / Und wie er toben mag, der blutigwilde, / Gleich Freundesworten klingen mir die Töne.« (Strophe 13) Als der Verbannte erwacht, ist der Mond an die Stelle des Nordlichts getreten: Er [der Mond, A. D.] blickt herab mit trauriger Gebärde, Verschleiert sich mit einer schwarzen Wolke, Und dennoch sinkt sein Tränentau zur Erde, Er gilt uns beiden, mir und meinem Volke! – (Strophe 17)
Beide Gedichte sind topographisch oppositionell situiert und weisen doch kongruente Textstrukturen auf: Thematisiert wird jeweils ein Aufenthalt in der unendlich weiten, von schwierigen Witterungsbedingungen gekennzeichneten Fremde (Wüste/Nordlandschaft);98 sie ist im Gegensatz zu Polen frei. Extreme Temperaturen werden kaum registriert, weder vom Flüchtling noch vom Verbannten: Der eine nimmt die Hitze im »Schlachtenangedenken« (Z. 23) innerlich gar nicht wahr, der andere kompensiert die Kälte durch »glühend Rachefeuer« (Strophe 10, Z. 2). Als Auslöser der Traumsituationen, die zugleich Imaginationen vom wiederauflebenden polnischen Freiheitskampf sind, fungieren in beiden Gedichten ortspezifische Phänomene: Einmal sind es Oasengeräusche und Beduinengesang, die den Polenhelden in erträumte Kriegseuphorie versetzen, einmal das rötliche Nordlicht. Am Schluss erfolgt dann jeweils das unglückliche Erwachen des Polen in einer Mondlicht-Szenerie, steht seine Desillusionierung angesichts der erneuten Konfrontation mit dem IstZustand der polnischen Unfreiheit. Sowohl Der Verbannte als auch Der Polenflüchtling sind als vielstrophige Trauergedichte (Der Verbannte: 17 Strophen à vier Zeilen; Der Polenflüchtling: 15 Strophen à sechs Zeilen) im sentimentalen Duktus verfasst; jeweils »scheitert der Versuch […], nach einem Tiefschlaf als symbolische[m] Tod neugeboren zu erwachen«.99 Offensive Agitationspolitik wird mit diesen Lyriktexten nicht betrieben.100 Gedruckt wurde Der Verbannte erst im Jahr nach seiner Entstehung, am 19. Oktober 1841, als Fontane schon in Leipzig – einem Zentrum für polnische Emigranten nach 1831 – wohnte. Publikationsorgan war das radikaldemokratische Journal Die Eisenbahn im Verlag von Robert Binder 98 Vgl. folgende Zitate aus Der Polenflüchtling: »Im quellenarmen Wüstenland / Arabischer Nomaden« (Z. 2 f.); »Hinaus zur Wüstenleere« (Z. 77), sowie aus Der Verbannte: »Die Nacht ist still; die Nordorkane schweigen, / Die Wölfe hat der Hunger fortgetrieben« (Strophe 1, Z. 1 f.); »Dazu ein Reich, so groß, so unermessen« (Strophe 6, Z. 3). 99 Dücker, ›Polenbegeisterung‹, S. 721. 100 Dies gilt im Übrigen für alle Polengedichte Lenaus.
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(Heft Nr. 47), für das vor allem Mitglieder einer illegalen burschenschaftlichen Verbindung schrieben, der Fontane selbst angehörte und die er in Von Zwanzig bis Dreißig als »Herwegh-Klub« verharmloste. In der Eisenbahn veröffentlichte Fontane auch sein zweites Gedicht mit Polenthematik, An der Elster. Es erschien versehentlich in zwei Teilen: Am 16. Oktober 1841, also schon vor dem Verbannten, wurden die Strophen 6 – 15 gedruckt (im Anschluss an das Gedicht Gewitter). Erst die übernächste Ausgabe Nr. 48 reichte den fehlenden Anfang nach. An der Elster 101 kreist ebenso wie Der Verbannte mit »sentimentale[r] Intensität«102 um den Freiheitsverlust der Polen. Begriffe aus dem semantischen Umfeld von Trauer und Klage dominieren, wie »[w]einend«, »Trauerweide«, »Todesschlummer«, »Kummer«, »traurig« (Strophen 1 – 4), »Totenwache«, »Grab« (Strophe 8), »des Grames Falten«, »Wehmut« (Strophe 9), »Grab« (Strophe 12), »[t]raurig«, »weint« (Strophe 15). Schon der Ort der lyrischen Sprechsituation ist ein polnischer Trauerort: Während des Rückzugs der napoleonischen Truppen in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 kam der Nationalheld Poniatowski in der Elster ums Leben.103 Ein Gedenkstein erinnert an dieses Unglück:104 An der Elster schaut verstohlen Um sich her ein schlichter Stein; In ihn schnitten tapfre Polen Weinend ihre Namen ein. (Strophe 1)
Zeitgenössische Dokumente berichten davon, dass das Denkmal insbesondere während des Durchzugs polnischer Flüchtlinge 1831/32 zu einem populären Sammelpunkt wurde.105 Verbreitet war die Überzeugung: 101 Im Folgenden zitiert nach GBA Gedichte, Bd. 2, S. 34 f. 102 Sommer, Das Polenbild Fontanes, S. 174. 103 Józef Poniatowski, Neffe des letzten polnischen Königs Stanisław August, war nach seiner Beteiligung am Kos´ciuszko-Aufstand unter anderem Kriegsminister des Großherzogtums Warschau und schließlich General des polnischen Korps unter Napoleon. Er ertrank kurz nach seiner Ernennung zum Marschall von Frankreich am 19. Oktober 1813. 104 Fontane kannte die Unglücksstelle: Während der Leipziger Sommertage 1841 nahm er täglich sein Bad »in der Elster oder Pleiße – ich glaube es war ziemlich genau die Stelle, wo Poniatows[k]i ertrunken war –« (GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 78). 105 Beispielsweise heißt es in einem Auszug aus der Allgemeinen Zeitung: »Fast alle hier [in Leipzig, A. D.] bewirteten Polen besuchten gemeinschaftlich das Grabmonument des Marschalls Poniatowski […], umringten es, sich in eine Kette schließend, und hörten dem aus ihrer Mitte hervortretenden Redner mit entblößten Häuptern zu, worauf die meisten unter ihnen ihre Namen anschrieben«
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»Wenn der Fürst leben würde, wären wir keine Emigranten«.106 So gesehen lässt sich auch die Hoffnung auf eine Restitution (Kongress-)Polens mit der ›Wiederkehr‹ Poniatowskis verknüpfen. Im Gedicht An der Elster evoziert jedenfalls eine Ich-Sprecherinstanz, wie der (namentlich allerdings nicht genannte) Held Poniatowski in einer Sturmnacht (ab Strophe 6) aus seinem Flutengrab emporsteigt, weil er Blitz und Donner für Schlachtenlärm hält.107 Er ist zu neuen Kämpfen bereit, muss jedoch schnell feststellen, dass alles eine Täuschung war: Alles still! Die Kriegsfanfare Hört er nicht, nicht Waffenklang, Wo in jenem Freiheitsjahre Er für Polens Freiheit rang. Was dort unten er vernommen, War der Donner nicht der Schlacht, Seine Zeit war nicht gekommen, Polen noch nicht auferwacht. Traurig steigt er abwärts wieder In der Elster wilde Flut; Mit mir weint der Himmel nieder, Wo der Polen Hoffnung ruht. (Strophen 13 – 15)
Ist hier von »jenem Freiheitsjahre« [1813, A. D.] die Rede, dann wird nicht auf die Völkerschlacht bei Leipzig als deutschem Erinnerungsort referiert,
(Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830 – 32. Hrsg. und eingeleitet von Helmut Bleiber und Jan Kosim, Berlin 1982, S. 171, Allgemeine Zeitung. Außerordentliche Beilage Nr. 35 vom 28. 1. 1832). Noch im Todesjahr Poniatowskis hatten polnische Armeeangehörige ein Denkmal in Reichenbachs Garten an der Elster errichtet. Später wurde es verlegt (in die Lessingstraße) und 1834 neugestaltet. Zur Beschreibung des Denkmals siehe Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830 – 32, S. 160 und 169. 106 So die Erinnerungen eines Emigranten namens Leon Drewnicki, siehe Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830 – 32, S. 381. 107 Rieck, Polnische Thematik, bes. S. 87 – 97, hat nachgewiesen, wie sehr An der Elster auch durch den Topos des heldischen Wiedergängers im Traditionsfeld der deutschen Polenlyrik verankert ist. Die Wiedergänger-Anleihen spielen auch in der Napoleon-Lyrik der 1820er bis 1840er Jahre eine bedeutende Rolle. Häufig ist hier das Grab in St. Helena Ausgangspunkt lyrischen Sprechens. Siehe Barbara Beßlich, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945, Darmstadt 2007, S. 206 – 224. Die Wiederkehrthematik ist zudem für Fontanes Erzählwerk mit Polenbezügen von Relevanz.
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nicht auf die »mythisch-verklärte[] Urschlacht«108 der deutschen Nation gegen die napoleonische Fremdherrschaft, sondern der Bezug zu dem Polenhelden hergestellt, der damals auf Seiten Napoleons (der bereits das Herzogtum Warschau geschaffen hatte) für Polens Freiheit kämpfte. Im Funktionszusammenhang des Polenliedes bleibt (textuell konsequent) ausgespart, dass die Deutschen ehedem zu den Gegnern Poniatowskis gehörten; Polen und Deutsche werden nicht als Antipoden funktionalisiert. Dass Fontane das Leipziger Schlachtfeld anderweitig durchaus als deutschen Gedächtnisort wahrnimmt, im Herbst 1841 mehrfach das Schlachtfeld im »Verlangen nach deutscher Freiheit«109 besucht und dies auch poetisch in dem Gedicht In der Markkleeberger Schenke (1841)110 verarbeitet, sei zumindest erwähnt, schon weil sich hier (an unterschiedlichen Texten) zeigt, wie sehr die Poleneuphorie der 1830er und 1840er Jahre auf einer Aporie der Gleichzeitigkeit von polnischer und deutscher Freiheit basiert. Erklärbar wird sie allenfalls im Rahmen eines Nationalismus mit »›internationalistische[r]‹ Komponente«,111 der für die Verfassungskategorie der Freiheit plädierte und in dieser »Verfassungsbezogenheit prinzipiell zunächst indifferent […] gegenüber einer ethnischen Integration beziehungsweise einer Abgrenzung«112 gegenüber anderen nationalen Bewegungen war und dazu vorhandenes Konfliktpotential ausklammerte. Fontanes nächstes Polengedicht Zum Kampf! gehört in eben diesen kulturgeschichtlichen Kontext. Mit Appellcharakter wendet es sich dezidiert an die Deutschen und thematisiert sogar den deutsch-polnischen Konnex als pragmatisch-funktionale Interessengemeinschaft. Der Verbannte und An der Elster fokussierten noch allein die polnische Nation und beklagten sentimental den durch Russland verschuldeten Freiheitsraub: Der (wohl seit dem verlorenen Novemberaufstand) Verbannte sieht sich den »[v]erhaßten« russischen »Feinde[n]« (Strophen 8 und 9) ausgesetzt, und im Elster-Gedicht wird die gegenwärtige zaristische Herrschaft als 108 Kirstin Anne Schäfer, Die Völkerschlacht. In: François und Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. 2., durchges. Aufl., München 2002, S. 187 – 201, hier: S. 188. 109 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 82. 110 GBA Gedichte, Bd. 2, S. 28 f. 111 Vgl. Michael G. Müller, Deutsche und polnische Nation im Vormärz. In: Klaus Zernack (Hrsg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 – 1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee, Berlin 1982 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 33), S. 69 – 95, hier: S. 74. 112 Ebd.
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»Meer der Tyrannei« (Strophe 5, Z. 2) metaphorisiert. Beide Gedichte konfrontieren einer kurzen Vision vom erneuten Freiheitskampf die Ernüchterung eines Noch-nicht. Mit Zum Kampf! jedoch, entstanden 1841/ 42, vollzieht sich ein Paradigmenwechsel vom Resignativen zum RadikalAktiven in der historischen Tradition der politisch-operativen Polendichtung eines Harro Harring oder Johannes Fitz;113 als Motto werden dem Gedicht Zeilen des Oppositionsdichters schlechthin, Georg Herwegh, vorangestellt:114 Bekämpfet sie ohn Unterlaß, Die Tyrannei auf Erden, Und heiliger wird unser Haß Als unsre Liebe werden.
Postuliert wird in Zum Kampf! die Interdependenz von deutscher und polnischer Frage, an die Deutschen ergeht die Aufforderung, »[f ]ür Polens Freiheit in die Schlacht zu gehn« (Strophe 3, Z. 8). Dass, so heißt es in der ersten Strophe, »dem armen, armen Polen« (Z. 7) nun durch den russischen Zaren nach der »Freiheit« und »Unabhängigkeit« (Z. 6) auch noch sein Name (der zumindest noch semiotisch eine Differenz ausweist) genommen wird – eine Behauptung, die übrigens nicht den historischen Tatsachen entspricht –,115 bietet hierzu den unmittelbaren Anlass. Insgesamt gilt es, das »Recht« (Strophe 1, Z. 3) als humanes und übernationales Prinzip zu verteidigen, zumal das russische Expansionsstreben auch die Deutschen bedroht und ihnen das gleiche Los wie den Polen winkt: Und treibt das Recht euch nicht zum Heroismus, Haßt ihr um Polens willen nicht den Zar, So – ich beschwör euch, – haßt aus Egoismus, Ihr nehmt im Haß das eigne Beste wahr. Könnt ihr denn sehn mit eisigkaltem Blute In Ketten schlagen, was einst stark und frei? Bedenkt, es droht auch euch die Russenknute; – Lebt wohl, auf Wiedersehn am Jenissei! – 113 Vgl. z. B. Polenlieder. Eine Anthologie, S. 53, 131. Vgl. auch Peter Stein, Operative Literatur. In: Gert Sautermeister und Ulrich Schmid (Hrsg.), Zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848, München 1998 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 5), S. 485 – 504. 114 Im Folgenden zitiert nach GBA Gedichte, Bd. 2, S. 264 – 266. 115 Die Bezeichnung »Königreich Polen« blieb bis 1867 erhalten. Aber auch dann kam es zu keiner offiziellen Namensänderung. Die polnischen Gouvernements wurden jedoch nun in der Amtssprache als »Weichsellande« geführt. Siehe Hoensch, Geschichte Polens, S. 220.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Ihr legtet längst bei Seit die alten Zöpfe, Doch seid geduldig wie zur Zöpfe Zeit, Schlagt ab dem Russenaar die beiden Köpfe, Dies Sinnbild seiner Unersättlichkeit, Sonst seht ihr’s noch, daß er die ganze Erde, Reichsapfelgleich, in einer Klaue hält, Die andre schwingt, mit drohender Gebärde, Das Knutenszepter über einer Welt. (Strophen 4 und 5)
Der geforderte deutsch-polnische ›Kampf‹ als funktionales Zweckbündnis wird im Text christlich-religiös und zugleich mythisch überhöht. Schon die dem Gedicht beigefügten Zeilen aus Georg Herweghs Lied vom Hasse (1841) sakralisieren den Hass auf Tyrannen und rechtfertigen damit ein Vorgehen gegen Russland. In der dritten Strophe folgen Analogien zur christlichen Passionsgeschichte. Die Zeile »Kein Ostern feiern sie [die Polen, A. D.], kein Auferstehn« (Z. 6) thematisiert die fortdauernde Nichtexistenz eines polnischen Staates (gemeint ist Kongresspolen) auch zehn Jahre nach dem gescheiterten Novemberaufstand, eine Niederlage, von der sich Polen seitdem nicht regenerieren konnte.116 Um den Topos des ›Drachenkampfes‹ in mythischer und christlicher Ausdeutung kreisen die letzten zwei Strophen. Der Kampf gegen Russland für die polnische (und zugleich für die deutsche) Freiheit wird metaphorisch als Argonautenzug um das vom Drachen bewachte Goldene Vlies ausgerufen, und niemand anderes als Preußen soll hier die Führungsrolle übernehmen: »Du Preußen sei der Jason, der dem Drachen / Das gute Schwert tief ins Gekröse stieß.« (Strophe 6, Z. 3 f.)117 Am Ende steht ein vergleichender Hinweis auf den Kampf des Erzengels Michael mit dem Drachen des Teufels. Unter der Voraussetzung, dass es unter der Führung Preußens gelingt, Partikularisierung und Streit auf deutscher Seite zu vermeiden, steht das eigene Vorgehen gegen den irdischen ›Drachen‹ des Zarenreichs unter positiven Vorzeichen:
116 Die christliche Symbolik lässt auch an den polnischen Messianismus denken, der vor allem nach 1831 populär wurde, und seine »Idee, Polen als den ›Christus der Völker‹ zu sehen, der eine Erneuerung der Menschheit einleiten solle« – Carolina Kapraun, Europa und die Freiheit. Die deutsche Polendichtung 1830. In: RückertStudien 20 (2012): ›Das Völkereintrachtshaus‹. Friedrich Rückert und der literarische Europadiskurs im 19. Jahrhundert. Hrsg. von York-Gothart Mix in Zusammenarbeit mit ders., S. 145 – 161, hier: S. 157. 117 Der Sage nach tötet nicht Jason den unsterblichen Drachen, sondern Medea schläfert ihn lediglich ein.
2.1 Der kongresspolnische Novemberaufstand 1830/31 als Referenzereignis
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Auf, auf, ihr Deutsche, auf! an eurer Seite Ficht ja das Recht als bester Kampfgesell, Und die Begeistrung siegt im Drachenstreite So sicher, wie der Engel Michael. (Strophe 7, Z. 5 – 8)
Für die Polengedichte Fontanes gilt, was für die Mehrheit der deutschen Polenliteratur zutrifft, nämlich die »programmatische[] Aussparung des Teilungsproblems bezüglich des preußischen und österreichischen Anteils«.118 Die polnischen Gebiete Preußens sind Leerstelle.119 So bezieht sich in Zum Kampf! die Forderung, internationalistisch für das »Recht« einzutreten, verengend auf die Beseitigung der russischen Despotie; und die geraubte Freiheit der Polen ist diejenige der Kongresspolen, die im Novemberaufstand den Russen unterlagen und seitdem unter der russischen ›Knute‹ stehen. Nicht die Ziele der polnischen Nationalbewegung interessieren (der Unabhängigkeitsanspruch wird allein gegenüber Russland und seinen Verfassungsbrüchen bekräftigt, nicht aber mit der Restitution der ehemaligen Republik in den Grenzen von 1772, also vor der ersten Teilung, in Verbindung gebracht), auch Sympathie für die Polen ist nicht vorrangig, sondern die ›egoistischen‹ Möglichkeiten sollen erkannt werden, im Verbund mit Polen die Hegemonie Russlands in Mitteleuropa zu brechen.120 Die erwünschte Führungsrolle der Preußen im Freiheitskampf birgt die reale Chance für eine wirkmächtige Abkehr vom Allianzsystem und impliziert zugleich die Hoffnung auf territoriale verfassungsrechtliche Reformen. An den Grenzen von 1815 wird lyrikimmanent bei Fontane nicht gerührt, die Problematik nationaler Ethnien – anders als im späteren Romanwerk – nicht thematisiert. Diese perspektivische Einschränkung, die die Polenlyrik mit ihrem polnischen (und deutschen) Freiheitspathos genrebedingt kennzeichnet, mag denn auch dazu beigetragen haben, dass der alte Fontane rückblickend seine Gedichte der 1840er Jahre unter das (selbstkritische) Charakteristikum der »Freiheitsphrasendichtung« gestellt hat (siehe oben). Der Aufruf Zum Kampf! gegen die Restaurationsmacht Russland wurde zu Lebzeiten Fontanes nicht publiziert. Zwar fügte Fontane den Text einer Zusammenstellung politischer Gedichte mit dem Titel Gedichte eines Berliner Taugenichts bei, die er wohl Ende Mai 1842 in die Schweiz an den 118 M. G. Müller, Polen-Mythos und deutsch-polnische Beziehungen, S. 110. 119 Dies betont auch Niemirowski, Theodor Fontane und Polen, S. 47 (»Als einziger Okkupant gilt bei ihm [Fontane, A. D.] allerdings Rußland«), ohne jedoch auf das zugrunde liegende Konstrukt einer funktionalen Polenfreundschaft einzugehen. 120 Vgl. M. G. Müller, Polen-Mythos und deutsch-polnische Beziehungen, S. 110.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Verleger Georg Herweghs, Julius Fröbel, schickte.121 Doch »ohne daß die Verlagsbuchhandlung auch nur einen Blick hinein gethan hätte«,122 erhielt er das Manuskript zurück,123 zu dem auch das Gedicht Die zehn Gebote aus dem russischen Katechismus (1841/42) gehörte.124 Die Veröffentlichung dieses Textes erfolgte ebenfalls erst posthum, 1925 in der Vossischen Zeitung, während Zum Kampf! noch später, nämlich 1969, erstmals erschien.125 In Zum Kampf! wurde Russland als Drache des Unrechts metaphorisiert (und damit metonymisch auch auf das zaristische Wappen angespielt, dessen schwarzer Doppeladler ein Brustschild trägt, das den heiligen Georg als Drachentöter abbildet). Das Gedicht Die zehn Gebote aus dem russischen Katechismus nimmt die russische Unterdrückungspraxis im Vergleich zu Zum Kampf! allerdings noch dezidierter ins Visier – und führt sie im Detail als Pervertierung aller christlichen Moral vor: »Bin der Herr dein Gott und Vater, / Keine weiteren Berater / Sollst du haben neben mir« (Strophe 1, Z. 1 – 3). Der Zar ist hier Sprecherinstanz eines Anti-Dekalogs, der die göttlichen Gebote in ihr Gegenteil verkehrt.126 So ergeht im Fünften Gebot eine direkte Aufforderung zum Töten. Ziel des Angriffs sind unter anderem die ›freiheitstollen‹ Polen: Töten sollst du, – Feinde töten, Wenn sich nicht die Klingen röten, Röte Scham dein Angesicht; Tod den Polen, den Tscherkessen, Jedem Schufte, der vermessen, Freiheitstoll die Kette bricht.
Auch die letzte Strophe bezieht implizit die Polen mit ein, wenn von der Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen sowie dem drohenden Verbannungslos die Rede ist: Fremdes sollst du nicht begehren! Keine Freiheit heiß verehren, Sklave sein, statt frei gesinnt; Sonst spazierst du nach Siberien 121 Siehe GBA Gedichte, Bd. 2, S. 575. Vorangestellt wurde der Sammlung das Widmungsgedicht An Georg Herwegh (ebd., S. 260 f.). 122 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 106. 123 Heute ist die Sammlung verschollen, Zum Kampf! sogar nur noch in einer Abschrift Friedrich Fontanes erhalten. 124 Im Folgenden zitiert nach GBA Gedichte, Bd. 2, S. 277 – 279. 125 GBA Gedichte, Bd. 2, S. 600. 126 Sommer, Das Polenbild Fontanes, S. 174; Rieck, Polnische Thematik, S. 102.
2.1 Der kongresspolnische Novemberaufstand 1830/31 als Referenzereignis
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In die großen Winterferien, Die zugleich – Hundstage sind.
Polen ist in der Lyrik Fontanes, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, bevor andere Textsorten in den interpretatorischen Fokus rücken, fest eingebunden in eine antipodische Figuration mit Russland, in der die politische deutsche Polenfreundschaft der Zeit nach 1830/31 im Zuge eines »vormärzlichen solidarischen Befreiungsnationalismus«127 gründet.128 Fokussiert werden stets die nichtpreußischen Polen als Verlierer ihrer staatlichen Selbständigkeit; ihnen gilt gegenüber Russland die ganze Anteilnahme. In drei Polengedichten Fontanes ist vom Wiederaufleben des Freiheitskampfs oder von ›Auferstehung‹ die Rede. Doch Sympathien für die Polen und deutsche Absichten interferieren. Im Ruf nach Freiheit für ein autonomes Königreich Polen, das nicht zuletzt ein Bollwerk gegen weitere russische Expansionsbestrebungen bilden würde (vgl. das Gedicht Zum Kampf!), artikuliert sich vor allem auch die (egoistische) Hoffnung auf eine Sicherung des deutschen Territorialbestands. Erst das Jahr 1848 liefert Textzeugnisse dafür, dass auch die Polen auf preußischem Boden in Fontanes Blick geraten – ein Objektwechsel als Zäsur: Denn von jetzt an gebührt nicht mehr (wie bisher ausschließlich) den Polen im Gebiet des russischen Kongresspolens die Aufmerksamkeit, sondern sind und bleiben die preußischen Polen das Zentrum des Fontane’schen Poleninteresses, publizistisch ebenso wie später im erzählerischen Werk.129 Den sozialgeschichtlichen Hintergrund bildet die im Zuge der 1848er Revolution aktualisierte Deutsche Frage, die mit der Reichsgründung 1870/71 schließlich ihre preußische Lösung erfuhr. Das ehemals liberal-demokratische deutsch-polnische Funktionsbündnis verlor seine Bedeutung als »Hebel zur Veränderung«, während die nationalen Komponenten im Verhältnis von Deutschen und Polen an Gewicht zunahmen.130 Wurden in der Lyrik Fontanes die (nichtpreußischen) Polen noch allein mit einem universalen Freiheitsbegriff in Verbindung gebracht, der im Bedarfsfall auch eine grenzüberschreitende Solidarität der Tat einfordert 127 Zernack, Preußen-Mythos und preußisch-deutsche Wirklichkeit, S. 255. 128 Das Gedicht Die Faust in der Tasche, im Februar 1842 in der Eisenbahn veröffentlicht und wiederum im Taugenichts-Konvolut enthalten, wertet entsprechend das Engagement für die Polen als Bestandteil des liberal-demokratischen oppositionellen Selbstverständnisses: »Einen invaliden Polen / Lad ich täglich zu mir ein« (GBA Gedichte, Bd. 2, S. 53). 129 Diese Unterscheidung zwischen russischen und preußischen Polen findet in der Literatur zu Fontane und Polen bis jetzt nicht statt. 130 Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft, S. 126.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
(Zum Kampf!), so erfolgt die Wahrnehmung der preußischen Polen unter wechselnden innenpolitisch-ideologischen Perspektiven zwar noch 1848 in Analogie zur Vormärzzeit, dann aber, und dies indiziert eine qualitative Verschiebung, vorrangig mit Bezug auf die politisch-territoriale Bestandsgröße Preußen.
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen« Nach 1842 schrieb Fontane keine zeitkritischen Polengedichte mehr, auch nicht 1846 anlässlich des sogenannten Krakauer Aufstands, als beispielsweise Georg Herwegh wieder agitatorische Polenlyrik verfasste.131 Eine Erklärung hierfür mag in dem zwischenzeitlich von Fontane vollzogenen poetischen »Paradigmenwechsel«132 liegen. 1843 trat er, wieder in Berlin lebend, in den literarischen Sonntagsverein Tunnel über der Spree ein, zunächst als Gast, dann ab September 1844 als ordentliches Mitglied unter dem Namen Lafontaine. Im Kreis dieser konservativ-royalistisch eingefärbten Gesellschaft modifizierte er seine lyrische »Stoff«-Wahl: Meine ganze Lyrik, nicht viel anders wie während meiner voraufgegangenen Leipziger Tage, war, auch zu jener Zeit noch, auf Freiheit gestimmt oder streifte wenigstens das Freiheitliche, woran der Tunnel, der in solchen Dingen mit sich reden ließ, an und für sich nicht ernsten Anstoß nahm, aber doch mit Recht bemerkte, daß ich den Ton nicht recht träfe. […] Ganz allmählich aber fand ich mich zu Stoffen heran, die zum Tunnel sowohl wie zu mir selber besser paßten als das »Herwegh’sche«, für das ich bis dahin auf Kosten andrer Tendenzen und Ziele geschwärmt hatte. Dies für mich Bessere war der Geschichte, besonders der brandenburgischen, entlehnt […].133
Bereits 1847 konstatiert Fontane: »Mein Bestes was ich bis jetzt geschrieben habe sind Balladen und Charakterzeichnungen historischer Personen«,134 und rekurriert hiermit auf die Vortragstriumphe, die er im Tunnel 1846 mit Der alte Dörflinger (später Der alte Derffling) erzielt hatte 131 Vgl. sein Gedicht Polen an Europa. März 1846 (Das Polenbild der Deutschen 1772 – 1848, S. 230 f.). 132 Siehe dazu Wulf Wülfing, ›Eine ausgeprägte Vorliebe für die Historie‹ – Bemerkungen zu Theodor Fontanes Projekt einer ›vaterländischen‹ Literatur. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 123 (2004), Sonderheft Literatur und Geschichte. Neue Perspektiven, S. 119 – 141, insbesondere S. 126 – 129 (Zitat S. 126). 133 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 180 f. 134 Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 10. 11. 1847 (FWo, S. 30).
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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oder 1847 mit den Gedichten Der alte Zieten, Seydlitz und Schwerin. Gleichwohl bleibt Polnisches in Fontane-Texten präsent, in der BriefKorrespondenz ebenso wie schließlich im journalistischen Werk. Dabei offenbaren sich auch nach 1842 zunächst weiterhin unverkennbar polonophile Sympathien – freilich wiederum um den Preis der Ausklammerung alles (auch aktuellen) preußisch-polnischen Konfliktstoffes. Dies zeigt sich beispielsweise anlässlich des kurzen Krakauer Aufstands 1846 (mit ihm greift erstmals eine polnische Erhebung auf ein außerrussisches Teilungsgebiet über). Fontane schreibt nach der Niederschlagung durch österreichisch-russische Truppen – Kriegsschauplätze waren die Republik Krakau135 sowie Galizien – an den in Sizilien weilenden Bernhard von Lepel: Am politischen Himmel droht dann und wann ein Komet mit Krieg, bei genaurer Betrachtung aber ergiebt sich das untrügliche Zeichen als Rakete, oder um wortspielig zu werden: es waren Schwärmer, die den blinden Lärm veranlaßten. Die Polen sind eingesteckt, todt geknutet oder wohl verpackt nach Sibirien geschickt, was in der Heimath noch vegetirt bringt Toaste auf den Kaiser aus, die – mirabile dictu – ziemlich ehrlich gemeint sind, da das Benehmen der Östreichischen Regierung allen Haß gegen diese gekehrt und so was wie Sympathien für Rußland veranlasst hat.136
Nicht erwähnt wird, dass der Aufstand als grenzüberschreitend-polnisches Unternehmen im Großherzogtum Posen, also innerhalb des preußischen Territoriums, von der Demokratischen Gesellschaft geplant wurde und von dort auch seinen Ausgang nehmen sollte (die preußische Polizei schritt allerdings frühzeitig ein).137 Fontane, der während des Aufstands als zweiter 135 Krakau hatte seit 1815 diese Sonderstellung inne, weil damals über eine territoriale Zuordnung keine Einigung erzielt werden konnte. Im November 1846 wurde die Republik nach Beschluss der Teilungsmächte dem österreichischen Kronland Galizien zugesprochen. 136 Fontane an Bernhard von Lepel, 27. 7. 1846 (FLe I, S. 11). 137 Unter Friedrich Wilhelm IV. war es in Abkehr von der Germanisierungspolitik des nun abgelösten Oberpräsidenten Flottwell zur sogenannten »Versöhnungsära« in Posen gekommen: Die Teilnehmer der Insurrektion von 1830/31 wurden amnestiert; staatlich erworbener Grundbesitz durfte wieder an Polen verkauft werden, die Schulaufsicht wurde an die polnische Geistlichkeit übertragen, eine katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium errichtet. In Nationalitätsfragen wollte Preußen Neutralität wahren, erwartete aber im Gegenzug staatliche Loyalität. Als jedoch das Aufstandszentrum der Demokratischen Gesellschaft, die verhindern wollte, »dass die Reformen in den Teilungsgebieten den nationalen Gedanken verdrängen« (Alexander, Kleine Geschichte Polens, S. 214), Anfang 1846 entdeckt wurde, war es mit dem offiziellen Versöhnungskurs vorbei, die Flottwell’sche Polenpolitik wurde restituiert. Dazu Hoensch, Geschichte Polens, S. 211,
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Rezeptor in der Polnischen Apotheke in Berlin arbeitet,138 stellt das deutschpolnische Funktionsbündnis weiterhin nicht in Frage. Nationale Konkurrenzen um Territorien werden folglich ausgeblendet (ebenso in der liberalen Öffentlichkeit, wie die Reaktionen auf den Berliner Prozess gegen die Verschwörer des Aufstands zeigen, siehe unten). Allein Österreich, der innerdeutsche Konkurrent Preußens, und Russland tauchen im Text als Gegner der Polen auf. Signifikant ist das Überbietungsschema, in das die beiden Restaurationsmächte im Brieftext eingeordnet werden: Angesichts des Hass auslösenden »Benehmen[s] der Östreichischen Regierung« – womit wohl auf das unpopuläre Vorgehen des österreichischen Militärs angespielt wird, das den Unmut der ukrainischen Bauern auf polnische Grundbesitzer für seine Zwecke auszunutzen wusste, um die Erhebung im westlichen Galizien zu ersticken – fällt die Hierarchie der Grausamkeit zugunsten Russlands aus (»so was wie Sympathien für Rußland«). Der Krakauer Aufstand hatte ein gerichtliches Nachspiel in Preußen: 1847 kam es in Berlin zum sogenannten Polenprozess, der in der Öffentlichkeit große Sympathien für die Polen hervorrief. Angeklagt waren Ludwik Mierosławski (1814 – 1878), der im Februar 1846 gefangen genommene, designierte Oberbefehlshaber des Aufstands, sowie 254 Mitstreiter. Mierosławskis berühmte Verteidigungsrede, in der er betonte, dass der Aufstand nicht gegen Preußen, sondern gegen Russland gerichtet gewesen sei, und in der er Preußen ein Bündnis mit der polnischen Revolution anbot, konnte nicht verhindern, dass diese »letzte große politische Erregung [in Berlin, A. D.] vor der Märzrevolution«139 mit der Verkündung von hohen Freiheitsstrafen und acht (schließlich nicht vollstreckten) Todesurteilen endete. Doch schon im Jahr darauf, am 20. März 1848, erfolgte im Zuge der revolutionären Ereignisse in Berlin die Amnestie, im Triumphzug wurden die Freigelassenen durch die Stadt und vor das Schloss geführt. »Mieroslawski schwenkte die schwarzrotgoldene Fahne und erklärte, die Polen und Preußen müßten ein Brudervolk sein; zur Sicherheit und Karl Heink Streiter, Die nationalen Beziehungen im Grossherzogtum Posen (1815 – 1848), Bern 1986 (= Geist und Werk der Zeiten 71), S. 82 – 124. 138 Der Name der Apotheke steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit einem Besuch Augusts des Starken in Berlin. Dieser war bekanntlich als sächsischer Kurfürst zum polnischen König gewählt worden (1697 – 1706, 1709 – 1733). Siehe [Art.] ›Polnische Apotheke‹. In: Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch, Fontane-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgeschichte, München 2007, S. 353. 139 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848 – 1849. Bd. 1: Bis zum Zusammentritt des Frankfurter Parlaments [1930], Nachdruck Weinheim/Berlin 1998, S. 89.
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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eines freien Deutschland müsse als Vormauer gegen Rußland ein unabhängiges Polen wiederhergestellt werden.«140 Zum Polenprozess ist von Fontane nichts überliefert. Zur Person Mierosławskis äußert er sich jedoch 1861 in den Wanderungen, nennt ihn dort einen »Revolutionär[] vom Fach« mit unzweifelhafter »Begabung«.141 Und er nimmt in den Kinderjahren Bezug auf die Entwicklungen im Großherzogtum Posen 1848, wo es am 20. März zur Bildung eines polnischen Nationalkomitees kam, dem wiederum der freigelassene Mierosławski angehörte und welches »den Kurs des liberalen März-Ministeriums, die militärische Auseinandersetzung mit dem reaktionären russischen Zarentum als Voraussetzung für die Gründung eines freien Deutschland und eines freien Polen zu suchen, vorbehaltlos unterstützte«.142 Nachdem Friedrich Wilhelm IV. in einer Kabinettsordre vom 24. März die »nationale Reorganisation« des Großherzogtums angekündigt hatte, das »nicht nur als ein Autonomieversprechen, sondern auch als ein erster Schritt zur Freigabe der Provinz mit dem Ziel der Wiederherstellung eines unabhängigen Polen verstanden werden konnte«,143 schickte sich das Nationalkomitee an, weitgehend die Kreis- und Lokalverwaltung zu übernehmen; oberstes Ziel der Polen war die Aufstellung einer polnischen Truppe.144 Während polnische Hoffnungen auf nationale Unabhängigkeit gestärkt wurden, wuchs jedoch unter der deutschen Bevölkerung des Großherzogtums die Sorge um eine Abtrennung der Provinz vom preußischen Staat, zumal sie nicht zum Deutschen Bund gehörte.145 Schließlich gewannen antipolnische Stimmen zunehmend die Oberhand.146 Mirosław Ossowski hat zu Recht vermerkt, dass die Retrospektive der Kinderjahre auf die Posener Ereignisse den »nationalen Aspekt des polni140 Ebd., S. 449. 141 Im Kapitel über die Ruppiner Garnison wird auf Mierosławskis Leistung als Anführer des Aufstands in Baden 1849 eingegangen. Siehe GBA Wanderungen, Bd. 1, S. 253 f. 142 Hoensch, Geschichte Polens, S. 212. 143 Michael G. Müller, Bernd Schönemann und Maria Wawrykowa, Die ›Polen-Debatte‹ in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien, Frankfurt am Main 1995 (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung 82/B II), S. 9. Die Berliner Regierung sah in dieser Maßnahme »ein Instrument anti-revolutionären Krisenmanagements« (ebd., S. 18) und operierte zugleich mit der taktischen Möglichkeit eines »Krieges gegen Rußland« (ebd., S. 17), um außenpolitischen Spielraum zu gewinnen. 144 Streiter, Die nationalen Beziehungen im Grossherzogtum Posen, S. 126 f. 145 Ebd., S. 127 f. 146 Müller, Schönemann und Wawrykowa, Die ›Polen-Debatte‹, S. 10.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
schen Aufstandes 1848« – und zum Aufstand kam es schließlich in Posen – ignoriert und diesen »als Teil der allgemeinen Erhebung des Volkes in Preußen für Demokratie« auffasst.147 Tatsächlich wird in den Textzeugnissen und -abschnitten, die auf das Jahr 1848 referieren bzw. aus ihm stammen, die polnische Bewegung in Preußen nie als Gegenbewegung zur deutschen ausgewiesen, auch nicht in den Kinderjahren (1894) und in Von Zwanzig bis Dreißig (1898), und stattdessen (auch in der Rückschau) an einem nationalpolitischen Konsens festgehalten, wie er im Zuge der Märzereignisse proklamiert wurde. So heißt es im elften Kapitel der Kinderjahre über Posen 1848: Ein kleiner romantischer Hang saß uns allen tief im Geblüt und blieb uns auch für manches weitere Jahr. 1848, wo wir Kinder doch alle schon erwachsen waren, kriegten wir noch einmal einen starken Anfall von dieser Lust am Abenteuerlichen. Wir lebten damals im Oderbruch und verfolgten die durch die Märztage auch in der Provinz Posen heraufbeschworenen Vorgänge. Eines Tages hieß es: »Die Polen kommen: sie stehen schon südlich von Küstrin und wollen auf Berlin zu, um mit dem Berliner Volk zu fraternisieren.« Ich hielt es eigentlich für Unsinn, trotzdem regte mich die Nachricht angenehm auf, meine Geschwister noch viel mehr, und alle Stunden gingen wir auf die höchstgelegene Bodenstube, um von dort aus Ausschau zu halten. Als es zuletzt hieß »sie kommen nicht«, waren wir eigentlich traurig; Konfederatka, rote Schärpe, Übungsversuche im Französischen, all das wäre doch mal was anderes gewesen.148
Nachdem zwischen Deutschen und Polen in Posen trotz anfänglich durchaus vorhandener Kooperationsbestrebungen Differenzen über die Frage der Reorganisation entstanden waren – so wurde von deutscher Seite gefordert, die westlichen, überwiegend deutsch besiedelten Kreise von der Reorganisation auszunehmen, die polnischen Truppen teilweise aufzulösen –, kam es zum Aufruhr; schließlich mussten sich die polnischen Verbände den preußischen Truppen geschlagen geben, am 9. Mai erfolgte die Kapitulation, Mierosławski wurde erneut verhaftet.149 Die Polen kamen also nicht. Das preußische Eingreifen gegen die aufständischen Polen lassen die Kinderjahre aus. Stattdessen werden die Posener »Vorgänge« auf das Gerücht einer polnischen Bewegung »auf Berlin zu« verengt – auch wenn es sich nicht bewahrheitet und bereits zu Beginn als »Unsinn« relativiert wird. 147 Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 226. Siehe auch Niemirowski, Theodor Fontane und Polen, S. 51. 148 HFA III/4, S. 105 f. 149 Dazu Streiter, Die nationalen Beziehungen im Grossherzogtum Posen, S. 129 – 133.
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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Dahinter mag sich das Wissen des Autors um die aufbrechende deutschpolnische Konfliktsituation im Großherzogtum verbergen, expliziert wird diese nicht. Kaum den historischen Tatsachen entspricht, dass der Aussicht auf eine deutsch-polnische Fraternisierung in Berlin und damit dem Durchzug polnischer Truppen retrospektiv verharmlosend vor allem Unterhaltungswert zugeschrieben wird – die Kinderjahre sind hier in erster Linie autobiographischer Roman. Denn während Fontane (im Gegensatz zur späteren Darstellung in Von Zwanzig bis Dreißig) seine Anwesenheit 1848 im Oderbruch (in Letschin) suggerieren will, mischt er in Wirklichkeit zu dieser Zeit mit im revolutionären Berlin.150 Die »Lust am Abenteuerlichen«, von der in den Kinderjahren die Rede ist, marginalisiert das politisch-aktive Interesse des jungen Fontane an den deutschen (und damit verbunden: den polnischen) Ereignissen des Jahres 1848, auch wenn sich nicht mehr rekonstruieren lässt, inwiefern bzw. auf welche Weise sich Fontane an den Kämpfen in Berlin beteiligt hat. Seine in Von Zwanzig bis Dreißig unternommene Darstellung dieser Zeit, »Der achtzehnte März«, ist, wie Hubertus Fischer detailliert aufzeigen konnte, vorrangig fiktives Konstrukt, um politische Brüche in der eigenen Biographie zu glätten.151 So ließ sich Fontane entgegen seiner Behauptung in Von Zwanzig bis Dreißig nicht für die preußische, sondern für die deutsche Nationalversammlung als Wahlmann aufstellen.152 Und seine Ernennung zum »politischen (!) Vertrauensmann«153 wurde sicher nicht, wie von ihm in der Autobiographie angegeben, mit einer spontanen unpolitischen Rede erreicht, zumal dies auch mit einem Briefzitat von der »erste[n] glänzende[n] Rede«154 kollidiert, die er als Wahlmannskandidat gehalten haben will. Angesichts solcher fiktiver ›Verschiebungen‹ könnte Fontane freilich selbst geäußert haben, was er in Von Zwanzig bis Dreißig einem anderen Wahlmannskandidaten rückblickend an »öde wichtigthuerische[m] Pa150 Zu welchen Zeiten Fontane in Letschin anwesend war, fasst der Beitrag von Manfred Gill, Theodor Fontanes Aufenthalte in Letschin. In: Fontane Blätter 22 (1975), S. 430 – 438, zusammen. 151 Hubertus Fischer, Theodor Fontanes ›Achtzehnter März‹. Neues zu einem alten Thema. In: Fontane Blätter 65/66 (1998), S. 163 – 187. Siehe auch Hubertus Fischer, Theodor Fontane, der ›Tunnel‹, die Revolution. Berlin 1848/49, Berlin 2009. In diesem Band sind sämtliche Aufsätze Fischers zum benannten Themenkomplex versammelt. 152 Fischer, Theodor Fontanes ›Achtzehnter März‹, S. 164. 153 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 404. 154 Fontane an Bernhard von Lepel, 22. 11. 1848 (FLe I, S. 110).
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pelwerk«155 zuschrieb: »Ich bin […] für Anschluß an Frankreich und sehe Gefahr für Preußen in jenem Mann [dem Zaren, A. D.], der Polen eingesargt hat und unsre junge Freiheit nicht will.«156 Im Abschnitt »In Bethanien« wird zumindest mit Bezug auf die Berliner Straßenkämpfe vom Juni 1848 der zeitgenössische Stellenwert eines deutsch-polnischen Bündnisses zur Erringung der »Freiheit« explizit hervorgehoben – mit einem bekannten Versatzstück aus den oben zitierten Kinderjahren: Wie schon erzählt […], bataillierte die Bürgerwehr auf dem Köpnickerfelde, dann stürmte das Volk das Zeughaus und dazwischen hieß es abwechselnd »Die Russen kommen« und dann wieder »die Polen kommen«. Ersteres war gleichbedeutend mit Hereinbrechen der Barbarei, letzteres mit Etablierung der Freiheit.157
Doch neben dem ›Kommen‹ gab es auch ein postuliertes Da-sein der Polen; jedenfalls attestiert der junge Fontane den (preußischen) Polen einen nicht unwesentlichen Anteil an den Märzerrungenschaften, wie ein Brief an Bernhard von Lepel vom November 1848 verdeutlicht: »Das Volk acceptirte dankbarst die Errungenschaft von 3 Polen, 2 Juden und einem Zuchthäusler.«158 Wenige Zeilen später ist noch einmal vom »Werk jener 3 Pollacken u.s.w.«159 die Rede. Angeknüpft wird an die nicht zu belegende, aber sich unter Zeitgenossen hartnäckig haltende Verschwörungsthese, ausländische Emissäre hätten die Märzrevolution inszeniert,160 ja König Friedrich Wilhelm IV. selbst diskreditierte in seiner Proklamation An Meine lieben Berliner! vom 19. März 1848 die Märzevolution als Werk einer »Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend«.161 Bei Fontane wird dieser Vorwurf, schenkt er der These ausländischer Beteiligung nun Glauben oder nicht, jedoch ins Positive gewendet: Ein Beitrag, der auf Seiten der preußischen Regierung zur Gewährung verfassungs-
155 156 157 158 159 160
GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 406. Ebd. Ebd., S. 424. Brief vom 22. 11. 1848 (FLe I, S. 108). Ebd. Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997 (= Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V., Braunschweig, Bonn), S. 170 – 172; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848 – 1849. Bd. 1, S. 432 und 445. 161 Manfred Görtemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien. 5., durchges. Aufl., Bonn 1996 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), S. 106.
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rechtlicher Zugeständnisse führt, kann – unabhängig von den Urhebern – vom Volk nur »dankbarst« angenommen werden. Im Laufe des Sommers hat sich Fontane, der zunächst noch für eine freiheitliche Konstitution mit monarchischer Spitze eintrat,162 zum Republikaner »durch gearbeitet«.163 Die Briefäußerungen zur polnischen Beteiligung an den Märzerrungenschaften entstammen also dieser republikanischen Phase. Und auch ein vielzitierter Zeitungsartikel gehört ihr an, Preußens Zukunft, der am 31. August 1848 in der demokratischen Berliner Zeitungshalle erscheint und in dem es um die Grenzfrage eines zukünftigen Deutschland geht. Zumindest implizit betrifft dies auch die Frage der polnischen Gebiete. Nach einleitenden Sätzen zum Reichsverweser Erzherzog Johann (»Deutschland hat seinen konstitutionellen Kaiser«), der »wie unsere Konstitutionen« lediglich als »Durchgangspunkt«164 verstanden werden dürfe, heißt es im Folgenden: Was kommen muß, wird kommen. Die deutschen Stämme werden mehr und mehr erkennen, daß ihre Interessen dieselben sind, die Scheidewände werden fallen mit den Dynastien, und Deutschland wird groß, frei und einig sein. Diese Auferstehung Deutschlands wird schwere Opfer kosten. Das schwerste unter allen bringt Preußen. Es stirbt. Jeder andere Staat kann und mag in Deutschland aufgehen; gerade Preußen muß darin untergehen. Was unsere Zeit so schön charakterisiert, ist Gerechtigkeit gegen jede Nationalität. Die eigene schützen, die fremde achten, das ist Losung und Feldgeschrei. Innerhalb der Nationalitäten aber werden die Stammverschiedenheiten wieder in ihr Recht treten, und diese Rückkehr zum Natürlichen bringt Preußen um seine Existenz. Bayern, Sachsen, Schwaben, sie werden in Deutschland aufgehen, der großen deutschen Republik werden diese Namen nicht fehlen. Aber eine preußische Republik ist eine Unmöglichkeit, Preußen muß zerfallen. Seine Provinzen glichen ebenso vielen Eisenstäben, die ohne Anziehungskraft untereinander nur durch das Tau eines absoluten Willens zusammengehalten wurden. […] [D]as jetzige Preußen hat keine Geschichte. – Was gilt dem Schlesier die Schlacht bei Fehrbellin, was gilt ihm selbst der Siebenjährige Krieg mit seinem zweifelhaften Recht? Was gelten dem Sachsen, dem Rheinländer unsere Siege bei Dennewitz und Großbeeren? Sie fochten auf feindlicher Seite, als wir den Tempel unseres Ruhms mit Trophäen schmückten. […] Preußen hat nur die Wahl zwischen einem Untergehen in Deutschland oder einem Zusammenschrumpfen auf das Ländergebiet von 1740. Es kann nicht zweifelhaft sein, was schöner wäre: ein solcher Tod oder ein solches Leben. Preußen spricht so gern von seinen Opfern, die es der 162 Vgl. die Briefe an Bernhard von Lepel vom 12.10. und 22. 11. 1848 (FLe I, S. 95 und 110). 163 Fontane an Bernhard von Lepel, 12. 10. 1848 (FLe I, S. 97). 164 Alle Zitate HFA III/1, S. 9.
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deutschen Sache gebracht habe; nun denn, so steh’ es nicht an, auch das letzte, größte zu bringen.165
Zentrale These des Textes ist, dass sich Preußen als Konglomerat von Eroberungen ohne gemeinsames historisches Gedächtnis zukünftig nicht als eigenständige Territorialgröße werde halten lassen. Angesichts der Fliehkräfte alles Nicht-Altpreußischen, das heißt alles Nicht-»Natürlichen«, sei stattdessen ein Zurückfallen auf die Grenzen von 1740,166 also eine Trennung von den Gebietserweiterungen mit polnischem Bevölkerungsanteil (Schlesien, Westpreußen, Posen), unabwendbar. Ginge Preußen jedoch alternativ in einer deutschen Republik unter, könnte die prognostizierte Gebietsverkleinerung auf die Grenzen von 1740 vermieden werden (»Preußen hat nur die Wahl zwischen einem Untergehen in Deutschland oder einem Zusammenschrumpfen auf das Ländergebiet von 1740«, Hervorh. A. D.). »Deutschland« (wie sähen aber seine Außengrenzen dann genau aus?) heißt demnach die neue Klammer für die territorialen Zerfallsprodukte Preußens. Eine freiheitliche deutsche Verfassung wäre in der Lage, die »Stammverschiedenheiten« zu integrieren. Auffallenderweise wird das Großherzogtum Posen im Text nicht erwähnt, obwohl die richtungsweisende Frage nach einer Aufnahme Posens – zumindest seiner »deutschen« Teile – in den Deutschen Bund (als Voraussetzung zur Aufnahme in einen zu gründenden Nationalstaat) bereits die Polen-Debatte der Frankfurter Paulskirche im Sommer 1848 bestimmt hatte. Der Artikel spricht nur ganz allgemein von der »Gerechtigkeit gegen jede Nationalität« als Zeitcharakteristikum, es fehlt Konkretes zum Verfahren eines deutschen Nationalstaats mit den polnisch besiedelten Gebieten Preußens.167 Unter der Zielvorgabe eines freien Deutschland kommt deutsch-polnisches Konfliktpotential nicht zur Sprache. Im Jahr 1848 bleiben Fontanes Texte damit anschlussfähig an die Vormärzzeit. In der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen markiert das Jahr 1848 hingegen »eine bewußtseinsgeschichtliche Zäsur allerersten 165 HFA III/1, S. 9 f. 166 Fontane wählt hier das Jahr des Einmarsches König Friedrichs II. in Schlesien. Das Gebiet ging jedoch erst 1742 durch einen Separatfrieden mit Österreich an Preußen über. 167 Anders Sommer, Das Polenbild Fontanes, S. 177, Zernack, Preußen-Mythos und preußisch-deutsche Wirklichkeit, S. 256 f., und Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 225, die davon ausgehen, dass Fontane für eine Abstoßung der polnischen Gebiete plädiert. Der Artikel thematisiert die Abtrennung jedoch allein für den Fall eines Fortbestehens Preußens als Folge eines zwangsläufigen Zerfallsprozesses.
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Ranges«.168 Kristallisationspunkt ist die schon angesprochene viertägige und vom Posener Konflikt entscheidend beeinflusste Polen-Debatte vom 24. bis 27. Juli 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung. Der demokratische Abgeordnete Wilhelm Jordan forderte, sich »aus jener träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärmten für alle möglichen Nationalitäten« zu verabschieden, und rief zu einem »gesunden Volksegoismus« auf, der seine Legitimation im »Recht des Stärkeren« finde.169 Schließlich stimmte die Paulskirche gegen alle polnisch-nationalen Ansprüche für eine Teilung des Großherzogtums und bestätigte die Aufnahme des westlichen Teils in den Deutschen Bund; die Paulskirchenverfassung vom März 1849 behielt die Posener Grenzfrage dann einer »definitiven Anordnung« vor.170 Unübersehbar waren die Folgen »einer allmählichen Schwerpunktverschiebung von einem ›emanzipatorischen‹ zu einem ›integrativen‹ Nationalismus«.171 Nach dem Scheitern der Revolution von 1848, das auch ein Scheitern an Preußen war,172 lag offen zutage, dass eine künftige kleindeutsche Lösung der Deutschen Frage mit der unverrückbaren Beibehaltung des preußischen Staates von 1815 auch ebenso unaufhebbar die Prämisse verknüpfte, daß es […] zu keiner Lösung der Polnischen Frage kommen durfte.173
Fontanes Texte bewegen sich noch 1848 im Denksystem deutsch-polnischer Solidarität, wenngleich um den Preis der Nichtthematisierung tagesaktueller (preußisch-)deutsch-polnischer Interessenkonflikte. Für die 1850er und 1860er Jahre trifft dies nicht mehr zu: Nun lassen die Textzeugnisse politische Distanz zu den Polen erkennen – durch Fokussierung preußisch-polnischer Divergenzen. Der verschobenen Perspektive korre168 Müller, Schönemann und Wawrykowa, Die ›Polen-Debatte‹, S. 23. 169 Siehe die in Auszügen abgedruckte Rede Jordans in: Müller, Schönemann und Wawrykowa, Die ›Polen-Debatte‹, S. 25 – 28, hier: S. 27. 170 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. 5., durchges. Aufl., München 2002, S. 116. 1851 wurde Posen wieder aus dem Bundesgebiet ausgegliedert. Seit der preußischen Verfassung vom 8. November 1849 war Posen überdies kein Großherzogtum mehr, sondern nur noch preußische Provinz. 171 Müller, Schönemann und Wawrykowa, Die ›Polen-Debatte‹, S. 19. 172 Vgl. die Ereignisse vom April und Mai 1849: Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch Friedrich Wilhlem IV., Ablehnung der Paulskirchenverfassung durch das preußische Staatsministerium, schließlich Abberufung der preußischen Abgeordneten aus der Frankfurter Nationalversammlung. 173 Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, S. 435.
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spondiert eine veränderte subjektive Einschätzung der historisch-politischen Lage. Die Zukunftsprognose für Preußen aus der Berliner Zeitungshalle hat sich nach 1848 als haltlos erwiesen – Preußen ist weder in Deutschland ›untergegangen‹ noch auf den Gebietsstand von 1740 verkleinert worden. Bereits in einem Brief vom November 1849 definiert Fontane sein Verhältnis zur politischen Gegenwart neu: Sie [Georg Günther, A. D.] fordern uns auf zur Übersiedlung nach Amerika. Was mich angeht, so wär’ ich noch vor wenigen Monaten mit Leib und Seele der Ihre gewesen. Ich habe seitdem für mich wieder hoffen, und – am Vaterlande noch immer nicht verzweifeln gelernt. Was auch die Zukunft bringen mag; neue Wurzeln für den Thron oder seinen Untergang; ob die Losung hinfort heißen möge Reform oder Revolution – der Gedanke der Freiheit einmal in die Welt geschleudert, ist nicht mehr auszurotten, und in gewissem Sinne ist die ministerielle Phrase »es gibt keine Reaktion« eine Wahrheit, welche die Weltgeschichte predigt. Ob rasch oder langsam – wir schreiten fort […].174
Dass dieses Fortschreiten an die Referenzgröße Preußen zu binden sei, ja dass dieses Preußen sogar einen adäquaten Ersatz für ein nicht existentes Deutschland darböte, konkretisiert ein Brief an Wilhelm Wolfsohn, ebenfalls von 1849 (zuvor hatte die demokratische Dresdner Zeitung Fontanes Artikel Preußen – ein Militär- oder Polizeistaat? wegen »durchgehende[r] altpreußische[r] Gesinnung«175 abgelehnt): Ich bin nun mal Preuße, und freue mich es zu sein. Wär es denkbar, daß sich aus Lippe-Schaumburg oder aus Hohenzollern-Hechingen heraus ein großes, einiges Deutschland bilden könne u. wolle, so würd’ ich preußische Regierung und preußisches Volk verachten, wenn es auch nur einen Augenblick anstünde sich der Hoheit und Herrlichkeit des Gesammt-Vaterlandes zum Opfer zu bringen. Unsern par force Demokraten zu Gefallen aber mein Vaterland zu schmähn und zu verkleinern, blos um nachher eine vollständige Schweinewirthschaft und in dem republikanischen Flicken-Lappen, Deutschland genannt, noch lange nicht so viel deutsche Kraft und Tüchtigkeit zu haben wie jetzt in dem alleinigen Preußen, – um diese Herrlichkeit zu erzielen mag und werde ich Preußen nicht in den Dreck treten. […] [D]ie Entrüstung über unpreußische Handelweise der jetzigen preußischen Machthaber, wird nie so weit gehn, daß ich das Kind mit dem Bade ausschütte und wohl gar Land und
174 Fontane an Unbekannt (Georg Günther), Ende November 1849 (HFA IV/1, S. 99). 175 Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 11. 12. 1849 (FWo, S. 53). Im Zeitungsartikel verteidigt Fontane »in altpreußischem Stolz« den »militärisch organisierten Rechtsstaat[]« (HFA III/1, S. 36).
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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Volk schmähe, aus Liebe zu dem ich überhaupt nur in Entrüstung gerathen konnte.176
1850 beginnt Fontane, der mittlerweile seine Apothekerlaufbahn aufgegeben hat und deshalb auch finanziell unter Druck steht, seine Tätigkeit im Dienst der Regierungspresse, zuerst im »Literarischen Cabinet« des preußischen Innenministeriums, dann in der Nachfolgeinstitution des Cabinets, der »Centralstelle für Preßangelegenheiten«, der er (mit Entsendungen nach London) bis 1859 angehörte. Fontane kommt nun vermehrt mit preußisch-konservativen Politikinhalten in Berührung, und entzogen hat er sich ihnen nicht. Mit Hubertus Fischer sind »die fünfziger Jahre die Inkubationszeit, in der sich sein eigener [Fontanes, A. D.] ästhetisch-historischer und mentaler Konservatismus« herausgebildet hat,177 der freilich nie auf einen widerspruchsfreien »Generalnenner« zu bringen ist.178 Wenn die Bezugsgröße ›Polen‹ in dieser Zeit bei Fontane neu justiert wird, so kostet dies, wie bereits deutlich wurde, keine argumentativen Mühen: Die Auffüllung von Leerstellen genügt; es sind lediglich bisher konsequent ausgeblendete, aber dennoch vorhandene preußisch-polnische Antagonismen freizulegen. Das erste Textzeugnis Fontanes, das auf eine basale Differenz zwischen Polen und Deutschen rekurriert, ist die Rezension zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben vom Juli 1855 im Literaturblatt des deutschen Kunstblattes. Als »erste Blüte des modernen Realismus«179 wird Soll und Haben darin bezeichnet, wegen seiner »mustergültige[n] Form«,180 aber vor allem wegen seiner »ideelle[n] Durchdringung«,181 konkret: der »Verherrlichung des Bürgertums und insonderheit des deutschen Bürgertums«.182 Aus dieser ideologischen Privilegierung ergebe sich freilich »notwendig auch eine negative, eine polemische Seite«.183 Das »Recht des Polentums«184 – Soll und Haben rekurriert unter anderem auf die polnischen 176 Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 11. 12. 1849 (FWo, S. 53). 177 Hubertus Fischer, Wendepunkte. Der politische Fontane 1848 bis 1888. In: Delf von Wolzogen und Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 1, S. 21 – 33, hier: S. 23. 178 Siehe dazu [Art.] ›Konservativismus‹. In: Nürnberger und Storch, Fontane-Lexikon, S. 252 f. 179 HFA III/1, S. 294. 180 Ebd., S. 296. 181 Ebd., S. 293 und 295. 182 Ebd., S. 302. 183 Ebd. 184 Ebd., S. 302.
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Unruhen von 1846 und 1848 – werde im Roman ebenso in Frage gestellt wie das des Adels. Um dies zu illustrieren, zitiert Fontane ausführlich aus Freytags Roman, zunächst die Figur des Großhändlers T. O. Schröter: »Was man dort (in Polen) Städte nennt, ist nur ein Schattenbild von den unseren, und ihre Bürger haben blutwenig von dem, was bei uns das arbeitsame Bürgertum zum ersten Stande des Staats macht […]«.185
Dann lässt er den Kaufmann Anton Wohlfart zu Wort kommen, der zunächst bei Schröter angestellt ist, dann jedoch kurzzeitig aus dem Handelskontor austritt, um sich um das polnische, offenbar im Posenschen gelegene Gut des verschuldeten Freiherrn von Rothsattel zu kümmern: »›Sieh!‹ – fuhr Anton fort – ›in einer wilden Stunde habe ich erkannt, wie sehr mein Herz an dem Lande hängt, dessen Bürger ich bin. Seit der Zeit weiß ich, weshalb ich in dieser Landschaft (Polen) stehe.186 Welches Geschäft auch mich, den einzelnen, hierher geführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit.‹«187
Es folgen zwei weitere Belegstellen aus Soll und Haben, in denen die territoriale Integrität Preußens verteidigt wird, bevor es zusammenfassend heißt: Das alles ist nicht nur Labsal für ein deutsches und preußisches Herz, es ist auch ebenso wahr, wie es schön ist. Die Polenwirtschaft ist durch sich selbst dem Untergange geweiht; Preußen ist der Staat der Zukunft […].188
Mit der doppelten Opposition Polen(wirtschaft)/Untergang – Preußen/ Zukunft wird ein Hierarchisierungsschema zwischen Deutschen und Polen reproduziert, dem im Roman die Unterscheidung von Stark und Schwach, von vitalen Eroberern und devitalen Eroberten zugrunde liegt. Preußen wird in der Rezension zum legitimen Zukunftsstaat ernannt, über seine 185 Ebd. 186 An dieser Stelle kürzt Fontane. Es fehlt der Satz: »Um uns herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung meines Lebens, und wie ich hundert andere mitten in einem fremden Stamm.« (Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Vollständiger Text nach der Erstausgabe Leipzig 1855, durchges. von Meinhard Hasenbein. Mit einem Nachwort von Hans Mayer, Anmerkungen von Anne Anz sowie einer Zeittafel und Literaturhinweisen, München 1978, S. 624) 187 HFA III/1, S. 302 f. 188 Ebd., S. 303.
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Zukunft nicht mehr, wie noch 1848 (Preußens Zukunft), spekuliert. Während Fontane die einseitig-ungerechte Behandlung des Adels und des Judentums bei Freytag tadelt, bleibt Entsprechendes mit Blick auf die Polen aus.189 Stattdessen referiert er explizit auf das Stereotyp der »Polenwirtschaft« (zu dessen Popularisierung im 19. Jahrhundert Freytags Roman mit seiner Schilderung des Rothsattel-Gutes bei Rosmin bekanntlich entschieden beigetragen hat)190 und damit auf die Negativsemantisierung alles Polnischen in Soll und Haben, wo den Polen eine ›naturgegebene‹ Rückständigkeit attestiert wird und ihnen »sowohl das Recht auf einen unabhängigen Staat« abgesprochen wird, »als auch die Fähigkeit, einen stabilen und erfolgreichen Staat überhaupt zustande zu bringen«.191 Als Aufständische sind die Polen in Soll und Haben »Feinde der Ordnung« und treten, so zeigt es Niels Werber, »beinahe immer als führerlose Masse oder nomadische ›Meute‹ auf, rebellisch und anarchisch per se, […] weit entfernt von der Bildung eines festen Staates«.192 Von ihnen gehen »alle Gefahren der Deterritorialisierung«193 aus. Fontane greift ebenfalls auf die Deterritorialisierung als konstitutives Merkmal des Polnischen zurück, allerdings nicht in der Soll-und-HabenRezension, sondern später in den Wanderungen. Die dort verwendete Terminologie für das angebliche Unvermögen, sich politisch zu stabilisieren (mit allen Folgewirkungen für Preußen), ist die des fehlenden Mittelpunkts bzw. des Exzentrischen.194 Auch für Fontane gilt damit, was Hubert Orłowski für den preußisch-deutschen Polendiskurs im Allgemeinen festgehalten hat: »Die Polen betreffende Begrifflichkeit bezog sich auf das Ende der politischen Biographie des Staates (der Adelsrepublik) und nicht etwa auf die Fortdauer einer nationalen Gemeinschaft in der Eigenschaft eines historischen Subjekts.«195 189 Siehe auch Hans Dieter Zimmermann, Die Erfindung der polnischen Misswirtschaft durch Gustav Freytag. In: Mythen und Stereotypen auf beiden Seiten der Oder. Hrsg. von dems. im Auftrag der Guardini Stiftung und der Hans Werner Richter-Stiftung, Berlin 2000, S. 27 – 34 (= Schriftenreihe des Forum Guardini 9). 190 Vgl. ebd. Siehe zur ›polnischen Wirtschaft‹ noch detaillierter Kapitel 2.3. 191 Kristin Kopp, ›Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern‹: ›Soll und Haben‹ als Kolonialroman. In: Florian Krobb (Hrsg.), 150 Jahre ›Soll und Haben‹. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 225 – 237, hier: S. 228. 192 Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007, S. 156. 193 Ebd., S. 159. 194 Siehe dazu weiter unten. 195 Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹, S. 271. Fontane versieht Polen zu dieser Zeit auch mit dem Merkmal des Kränklichen, wie seine Reaktion auf einen Brief
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In der Soll-und-Haben-Rezension wird dem preußischen Anspruch auf polnischen Raum, wie ihn Freytags Roman als legitimes Recht des Stärkeren propagiert, kein kritisches Wort entgegengesetzt. Dies trifft ebenso auf eine nur wenige Tage vor der Rezension erschienene Berliner Korrespondenz für die Westfälische Zeitung zu, die Fontane zugeschrieben wird und die in seine Tätigkeit für die »Centralstelle für Preßangelegenheiten« fällt. Diese Korrespondenz zitiert nicht nur bemerkenswert ausführlich aus Soll und Haben, sondern verkehrt das Ende eines devitalen Staates in die postulierte Chance einer durch preußische Herrschaft ermöglichten Regeneration und Höherkultivierung. Völker kommen und gehen; das polnische Volk hat seine Rolle ausgespielt und es bleibt ihm nur die Wahl noch, in w e l c h e r staatlichen Gemeinschaft es aufgehn und als regenerirter T h e i l eines lebensfähigeren Organismus fortexistiren will. Es hat die Wahl zwischen Rußland und Deutschland, zwischen den Vorzügen der Stammgenossenschaft und denen einer höheren Kultur.196
Zwar äußert der Korrespondent Respekt vor dem polnischen Nationalgefühl,197 aber die Grenzen der Empathie sind mit Zitaten aus Freytags Roman (»Wir und die Slaven es ist ein alter Kampf«)198 klar gezogen. Ambivalenter wenden sich die Wanderungen, die von der machtpolitischen und territorialen Arrondierung Brandenburg-Preußens erzählen, von Wilhelm von Merckel zeigt, in dem sich dieser abfällig über die gegen England rebellierenden Inder (im sog. Sepoy-Aufstand, der 1857 begann) geäußert hatte. Fontane bekundet, seinem Briefpartner widersprechend, Sympathien für die indische Bevölkerung und wertet sie dabei gegenüber den Polen, die Merckel positiv von den indischen Aufständischen unterschieden hatte, auf: »Wenn Sie einen Vergleich mit Polen oder, wie Sie sich sehr hübsch ausdrücken, mit einem andren ›noblen Menschheits-Fragment‹ ziehn, so, glaub ich, fällt er zum Vorteil der Inder aus. Ich kenne weder diese noch die Polen, doch glaub ich, daß zwischen beiden ohngefähr der Unterschied stattfindet wie zwischen einem Bonnenser Studenten und einem stubsnasigen Schusterjungen aus der Mulacksgasse. Es kann mal vorkommen, daß der letztre ein ›gesunder Junge‹ und jener ein etwas verfaulter Sternberg ist, das aber sind Ausnahmen.« (Brief vom 23. 10. 1857, FMe I, S. 173) 196 † Berlin, 18. Juli. In: Westfälische Zeitung Nr. 168 vom 21. 7. 1855. Ich danke Herrn Klaus-Peter Möller vom Theodor-Fontane-Archiv Potsdam für die Überlassung einer Kopie. Korrespondenzen in der Westfälischen Zeitung mit dem »†«Zeichen weist Charlotte Jolles der Urheberschaft Fontanes zu (Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin/Weimar 1983, S. 171 f.). 197 Vgl. »[W]ir haben vor jeglichem Nationalgefühl Achtung genug, um auch an unseren Gegnern die Bethätigung desselben zu respektiren« († Berlin, 18. Juli. In: Westfälische Zeitung Nr. 168 vom 21. 7. 1855). 198 Ebd.
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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und zwar unter der Signatur eines »ächten Conservatismus«,199 dem preußisch-polnischen Verhältnis zu. Die hierarchische Konstellation wird hier nicht einseitig der Ideologie eines ›alten Kampfes‹, die zwangsläufig in einen preußischen Sieg mündet, unterworfen, sondern am Ist-Zustand territorialer Ausdehnung gemessen: Die Polen gehören demnach wegen ihrer Gebietsverluste ab dem 17. Jahrhundert zu den europäischen Verlierern. Preußen hat sich hingegen mit Siegen und territorialen Zugewinnen eine neue Machtstellung in Europa verschafft. Roland Berbig hat nachgewiesen, dass in den Wanderungen – ab 1859 in unregelmäßigen Abständen als Reisefeuilletons in Zeitschriften veröffentlicht und zwischen 1862 und 1882 (1889) in Buchform200 erschienen – der Osten »die bevorzugte Blick- und Ausrichtung [war], mit der die enge märkische Welt abgeschritten wurde«, dass er »die weite geschichtliche Welt des preußischen Reiches [war], die auf jene kleine fokussiert wurde«.201 Der Osten weist dem Wanderer die »geographische[] Bewegungsrichtung«, weil in ihr »die historische eingeschmolzen war«;202 so folgt dieser beispielsweise den Zisterziensern als Kolonisten und Missionaren in der Mark »von West nach Ost« (W 3, S. 38).203 Der »Osten« wird aber auch als Größe fokussiert, die ihrerseits westwärts drängte – die Rede ist von den Wenden, die vom 6. bis zum 12. Jahrhundert das später märkische Gebiet besiedelten und auf die Fontane wiederholt rekurriert. Er definiert sie als »den am meisten nach Westen vorgeschobenen Stamm der großen slawischen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Osten und Südosten saßen die 199 Siehe Fontane an Ernst Ludwig Kossack, 16. 2. 1864 (DüD I, S. 574): »Ich schreibe diese Bücher aus reiner Liebe zur Scholle, aus dem Gefühl, und dem Bewußtsein (die mir beide in der Fremde gekommen sind) daß in dieser Liebe unsere allerbesten Kräfte wurzeln, Keime eines ächten Conservatismus. Daß uns der Conservatismus, den ich im Sinne habe, noth thut, ist meine feste Ueberzeugung.« 200 Der 1862 (= Impressum) erschienene erste Band der Wanderungen wurde später als Die Grafschaft Ruppin in die zuerst vierbändige Gesamtausgabe integriert. 1863 folgte Das Oderland. Barnim-Lebus, 1873 (= Impressum) Osthavelland (ab 1880: Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg), 1882 (= Impressum) Spreeland. Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow. 1889 (= Impressum) erschien Fünf Schlösser. Altes und Neues aus Mark Brandenburg – in der HanserAusgabe sowie der GBA den Wanderungen zugeordnet, obwohl der Titel ursprünglich eigenständig erschien. 201 Roland Berbig, ›auf den ersten Blättern standen die Namen Warschau und Fehrbellin‹. Der ›Osten‹ in Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 13 (2003), S. 53 – 66, hier: S. 57. 202 Ebd. 203 Die Wanderungen werden hier und im Folgenden mit Sigle (W), Bandangabe und Seitenzahl zitiert nach GBA Wanderungen.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Polen, die Südslawen, die Groß- und Kleinrussen« (W 3, S. 13). Tatsächlich sind »[d]ie Landschaften, aus denen Brandenburg-Preußen erwuchs, […] an Elbe, Oder und südlich der Ostsee klassische Zonen der ›Germania Slavica‹«.204 In ihr gab es Bevölkerungs- und Siedlungsbewegungen in beide Richtungen, begleitet von zahlreichen Konflikten, aber auch von allmählichen Akkulturationsprozessen.205 Referieren die Wanderungen auf die mittelalterlichen deutsch-polnischen Konflikte, dann geschieht dies mit Blick auf diese territorialpolitische Dynamisierung, wie sie die ostmitteleuropäische Region für Jahrhunderte prägte. National-historisierende Indienstnahmen bleiben aus. Im Oderland-Kapitel »Küstrin« ist von »Fehden unter- und gegeneinander« im 14. Jahrhundert während des »bayerisch-luxemburgische[n] Interregnum[s]« die Rede, »Fehden mit den Pommern und Polen, Fehden mit Adel und Bischöfen und dazwischen Überschwemmungen und Feuersbrünste, Mißernten und schwarzer Tod«, die in der Lage waren, »die bis dahin blühende Mark in eine Wüste zu verwandeln« (W 2, S. 279). Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Polen in der märkischen Frühgeschichte werden mithin als ein Konfliktherd unter vielen ausgewiesen.206
204 Wolfgang Neugebauer, Geschichte Preußens, Hildesheim 2004 (Lizenzausgabe für die WBG), S. 11. 205 Ebd. 206 Auf die Kämpfe des Deutschen Ordens gegen die Polen wird nur beiläufig in dem Band Fünf Schlösser Bezug genommen (vgl. W 5, S. 74) – ein signifikanter Kontrast zum Zeitgenossen Heinrich von Treitschke, der mit seinem Essay Das deutsche Ordensland Preußen (1862) eine nationale Umdeutung des Geschichtsbildes vom Deutschen Orden vornahm, die schließlich auch Bismarck zur ideologischen Unterfütterung seiner Polenpolitik nutzen konnte: Zwischen dem preußischen Staat und dem Orden wurde eine nationale Kontinuität konstruiert. Siehe Frithjof Benjamin Schenk, Tannenberg/Grunwald. In: François und Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, S. 438 – 454, hier: S. 441 f. Vgl. aber auch Fontanes Kontakte zur vom konservativen Adel geprägten Johanniter-OrdensBalley Brandenburg, einer (seit dem 16. Jahrhundert protestantischen) Abspaltung des 1099 in Jerusalem entstandenen Johanniter-Ritterordens, die sich nicht zuletzt einem »Missionsauftrag gegenüber dem Osten« verpflichtet sah – Hubertus Fischer, ›Grenzpfahl mit Ordenskreuz‹. Überlegungen anläßlich unveröffentlichter Dokumente. In: Studia Germanica Posnaniensia 24 (1999), S. 67 – 79, Zitat S. 76. Teile der Wanderungen erschienen zuerst im Wochenblatt der Johanniter=Ordens=Balley Brandenburg. Auf die Polen-Konzeption in den Wanderungen scheint dies keinen prägenden Einfluss gehabt zu haben.
2.2 Polen und Preußen – journalistische Beiträge, »Wanderungen«
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Dass die Wanderungen »verborgene Geschichte zum Sprechen und zur Anschauung […] bringen«207 wollen, nimmt die polnische Geschichte nicht aus, soweit sie mit der märkischen in Berührung kommt; dann wird sie selbst dort ins Gedächtnis zurückgeholt, wo sie gar nicht mehr sichtbare Gegenwart ist. Bei der Beschreibung des zeitgenössischen Lebus zeigt dies der Hinweis auf dessen Vergangenheit als Schauplatz heftiger Konflikte zwischen Deutschen und Polen: Freilich erinnert hier [in Lebus, A. D.] nichts mehr an die Tage früheren Glanzes und Ruhmes. Die alte Kathedrale, das noch ältere Schloß, sie sind hin, und eines Lächelns kann man sich nicht erwehren, wenn man in alten Chroniken liest, daß um den Besitz von Lebus heiße Schlachten geschlagen wurden, daß hier die slawische und die germanische Welt, Polenkönige und thüringische Herzöge, in heißen Kämpfen zusammenstießen und daß der Schlachtruf mehr als einmal lautete: »Lebus oder der Tod«. (W 2, S. 16)
Die Revitalisierung der Kämpfe um das alte Lebus folgt der Vorgabe der Wanderungen, Orte und Regionen als historisches Terrain freizulegen und verdeckte Geschichte auch mittels poetisch-stilisierter ›Bilder‹ für den Leser neu hervorzubringen.208 An Ernst von Pfuel schreibt Fontane 1864: Es ist alles auf ein Ganzes hin angelegt, auf die Beweisführung: auch im märkischen Sande flossen und fließen überall die Quellen des Lebens, und jeder Fuß breit Erde hat seine Geschichte und erzählt sie auch […]. Die zwei Bände, die bis jetzt erschienen sind, lassen das, worauf es mir ankommt, erst erraten: die Belebung des Lokalen, die Poetisierung des Geschehenen, so daß […] in Zukunft jeder Märker, wenn er einen märkischen Orts- oder Geschlechtsnamen hört, sofort ein bestimmtes Bild mit diesem Namen verknüpft, was jetzt gar nicht oder doch nur in einer prosaisch-häßlichen Weise der Fall ist.209
Die »heißen« deutsch-polnischen Kämpfe gehören zu jenen »Quellen des Lebens«, nach denen Fontane Ausschau hält. Mit der Figuration eines gewaltsamen Zusammenstoßes von »slawische[r] und […] germanische[r] Welt« wird dabei weniger auf eine ideologische Konstellation referiert, vielmehr geht es einfach darum, die strategische Bedeutung der früheren Kathedralenstadt Lebus, an die nichts mehr erinnert, wirkmächtig zu illustrieren. Die Kämpfe gehören einer glanz- und ruhmvollen Zeit von Lebus an, die vergangen, das heißt nur aus den Chroniken von einst re207 Vgl. grundlegend Walter Erhart, Die ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818 – 850, hier: S. 822. 208 Dazu ebd., S. 822 – 825. 209 Fontane an Ernst von Pfuel, 18. 1. 1864 (HFA IV/2, S. 115).
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konstruierbar ist und allenfalls noch im Medium des Erzählens lebendig werden kann. Die neuzeitlichen deutsch-polnischen Auseinandersetzungen hingegen betreffen die Gründungsgeschichte Brandenburg-Preußens und haben – als integraler Bestandteil des preußischen Aufstiegs – politisch-soziale Auswirkungen auf die unmittelbare Gegenwart, mit der Folge, dass in den Wanderungen diese Konfrontationen gegebenenfalls auch aus preußischer Perspektive gerechtfertigt werden. Das prekäre Verhältnis zwischen Preußen und Polen ergibt sich ab dem 17. Jahrhundert aus der Gegenläufigkeit ihrer territorialen Entwicklungsgeschichten. Im Jahr 1618 fällt das unter polnischer Lehnshoheit stehende Herzogtum Preußen durch Erbfall an den Kurfürsten von Brandenburg. Dynastisch wie machtpolitisch beginnt die Etablierung BrandenburgPreußens, das sich nun im Konfliktfeld zwischen Polen, Schweden und Russland behaupten muss.210 Nach dem Dreißigjährigen Krieg gelingt es dem Großen Kurfürsten, die schwedisch-polnischen Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung an der Ostsee auszunützen, um mit Hilfe vielfacher außenpolitischer Bündniswechsel das eigene Territorium zu arrondieren und zu erweitern. Unter anderem sucht er die Gelegenheit zur Aufhebung der polnischen Lehnshoheit. 1660 erfolgt die endgültige Loslösung. Politik wurde damals, wie Fontane schreibt, »auf Kosten Polens« (W 2, S. 459) betrieben. In den Wanderungen werden die Kurswechsel des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, der als Bündnispartner mal auf der Seite Schwedens, mal auf der Polens stand, abgewertet: »Eine Politik, wie sie der Große Kurfürst, ein frommer, strenggläubiger Mann, gegen Polen und Schweden übte, würde heute verabscheut werden« (W 3, S. 329). Eine Rechtfertigung gelingt allenfalls über die Epochendifferenz. So heißt es in »Der alte Derfflinger« (Das Oderland): »Die machiavellistische Politik jener Zeit gestattete solche Sprünge« (W 2, S. 199). Der Kurfürst sei im Jahr 1656 »von seinem Standpunkt aus […] im Rechte, politisch im Rechte [gewesen, A. D.], das Bündnis mit Schweden zu schließen; die Polen aber hatten, von ihrem Standpunkt aus, mindestens ein gleiches Recht, dies Bündnis als Abfall anzuklagen« (W 2, S. 460). Die fragliche Bündniskonstellation ist freilich auch verantwortlich für einen Sieg über polnische Einheiten, den Fontane als Kristallisationspunkt preußischer Geschichte ausweist: die am 18. Juli 1656 beginnende »berühmte[] dreitägige[] Schlacht von Warschau« (W 1, S. 388, und W 2, 210 Zernack, Preußen-Mythos und preußisch-deutsche Wirklichkeit, S. 413.
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S. 460). In den Wanderungen (Das Oderland) wird dieser Schlacht die Bedeutung eines machtpolitischen Initiationsereignisses für Brandenburg zugeschrieben: Es war dies – beinahe zwanzig Jahre vor Fehrbellin [gegen die Schweden am 28. Juni 1675, A. D.] – der erste große Waffenakt der Brandenburger, die von diesem Tag an durch länger als ein Jahrhundert hin, nämlich vom 18. Juli 1656 bis zum 18. Juni 1757211, immer siegreich kämpften. (W 2, S. 462)
Im Vortrag Die Mark und märkische Kriegsobersten zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs von 1862 aus dem thematischen Umfeld der Wanderungen steht dafür die prägnante Formel: »Unsere Geschichte hatte ihren Anfang genommen; auf den ersten Blättern standen die Namen Warschau und Fehrbellin« (W 6, S. 285).212 Implizit wird eine Korrektur des preußischen Gedächtnisses angeregt, das die Schlacht bei Warschau aus »ermangelnde[m] Lokalinteresse« (W 2, S. 463) »halb vergessen« (ebd., S. 462) habe: »Fehrbellin liegt uns nah, und Warschau liegt uns fern« (ebd., S. 463).213 Und doch fehlen, wenn an die Schlacht von Warschau als Beginn einer preußischen Erfolgsgeschichte erinnert wird, ideologische Hierarchisierungen: Der schwedisch-brandenburgische Sieg über die Polen ist ein Sieg der Taktik (ebd., S. 461 f.)214 – zudem nach einem »lange schwankenden Kampf« (W 1, S. 100). Trotz der Bündniswechsel unterlag die Schlacht von Warschau keinem öffentlichen Rechtfertigungsdruck, konnte demnach in den Wanderungen für den Mythos215 der Konsolidierung Brandenburgs funktionalisiert werden. Ganz anders sieht es mit den polnischen Teilungen im 18. Jahr211 Schlacht bei Kolin in Böhmen, in der die preußische Armee unter Friedrich II. gegen die Österreicher eine schwere Niederlage erlitt. 212 Bei Berbig, ›auf den ersten Blättern standen die Namen Warschau und Fehrbellin‹, der den Begriffsspuren »Osten, Ost, östlich« sowie »Polen, polnisch« in den Wanderungen nachgeht, wird die Schlacht von Warschau, anders als der Titel seines Aufsatzes suggeriert, nur beiläufig erwähnt. 213 Zudem falle die Aufmerksamkeit nicht auf Siege, die nur geteilte Siege an der Seite einer zahlenmäßig stärkeren Truppe seien (W 2, S. 463). Bei der Schlacht von Warschau waren die Schweden neben den Brandenburgern in der Überzahl. 214 Dass die Truppen auf beiden Seiten multiethnisch zusammengesetzt waren, sagt Fontane nicht. 215 »Mythos« sei hier mit Jürgen Link und Wulf Wülfing als »Form elementarer Narration« verstanden, die mit »semantische[n] Selektionen« operiert (dies., Einleitung, S. 11). Siehe auch Wülfing, ›Eine ausgeprägte Vorliebe für die Historie‹, wo die Mythen stiftenden Wanderungen einem – von Fontane seit der Tunnel-Zeit betriebenen – »Projekt einer ›vaterländischen‹ Literatur« (S. 141) zugerechnet werden.
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hundert aus; sie brachten Preußen großen territorialen und damit erneut machtpolitischen Zugewinn, litten jedoch von Anfang an unter eklatanten Legitimationsdefiziten, verbunden mit der Frage, welche Rolle Preußen im komplexen Mächtespiel der Teilungen gespielt hatte. Fontanes Porträt über Friedrich den Großen in den Vaterländischen Reiterbildern aus drei Jahrhunderten (1880) betont denn auch nicht von ungefähr, dass der preußische König in die erste Teilung lediglich eingewilligt habe, und zwar aus gebietsstrategischem Kalkül: Um Ostpreußen mit Pommern und der Mark zu verbinden, überhaupt um seinem Staatskomplex eine größere Abrundung zu geben, willigte er in die erste Teilung Polens, die, 1772 zu Petersburg verabredet, unmittelbar darauf durch den Einmarsch dreier Armeen ausgeführt wurde. Friedrich erhielt ganz Polnisch-Preußen samt Groß-Polen bis an den Netze-Fluß, nur mit Ausnahme von Danzig und Thorn. (W 6, S. 427).
Als Fontane im Jahr 1860 Kurd von Schlözers Buch Friedrich der Große und Katharina die Zweite rezensiert,216 das er als »lehrreich[]« und »interessant[]«217 beschreibt, zieht er hinsichtlich der ersten polnischen Teilung 1772 das Fazit: Rußland scheint zuerst diesen Gedanken [an die Teilung, A. D.] ernstlich gefaßt und ausgesprochen zu haben […]. Jedenfalls stellt die Schlözersche Arbeit fest, daß man den Einfluß und Antrieb Preußens in dieser Frage sehr überschätzt und ihm einen Theilungseifer und eine Ländergier beigelegt hat, die nicht vorhanden gewesen sind.218
An anderer Stelle weiß Fontane außerdem von moralischen Bedenken im engen familiären Umfeld Friedrichs des Großen zu berichten. Demnach nahm dessen Bruder Prinz Heinrich in offner Weise […] Partei für die Polen, und dieselbe Teilung, zu deren Vollziehung er als gehorsamer Diener seines Königs am Hofe Katharinas mitgewirkt hatte, hielt er nichtsdestoweniger weder für ein Meisterstück der Politik noch für eine Handlung der Gerechtigkeit. (W 1, S. 300) 216 In der Preußischen Zeitung Nr. 11 (7. 1. 1860) und Nr. 13 (8. 1. 1860). Vgl. dazu ausführlich Muhs, Theodor Fontanes unbekannte Rezension. Der Beitrag enthält im Anhang den vollständigen Rezensionstext Fontanes. 217 Ebd., S. 33. 218 Ebd., S. 32 f. Heute wird Friedrich dem Großen ein maßgeblicher (wenn auch nicht alleiniger) Anteil an der Teilungsidee zugeschrieben. Dazu etwa Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 476 – 491, oder Hans-Jürgen Bömelburg, Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Unter Mitarbeit von Matthias Barelkowski, Stuttgart 2011 (= Kröners Taschenausgabe 331), S. 57 – 77.
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Auch die Kämpfe von 1794, die zur dritten Teilung führten, belasteten die Reputation Preußens: »Der Krieg war unpopulär« (W 1, S. 101), heißt es im Wanderungen-Teil Die Grafschaft Ruppin. In der Erstausgabe von 1862 wird noch hinzugefügt: »[D]ie Teilung Polens [war] eine Maßregel, der die Sympathien der Völker niemals zur Seite gestanden hatten«.219 Eingelagert sind diese Zitate in ein Porträt über den Reitergeneral von Günther, dessen »kriegerische Lorbeern« in der Grenzverteidigung ausgeblieben wären, wenn nicht »Kos´ciuszkos Auftreten und der unprovozierte Angriff Madalinskis auf eine kleine südpreußische Landstadt (am 15. März 1794) das Signal zu einem kurzen, aber erbitterten Kampfe an den Ufern der Weichsel und Narew gegeben hätte« (W 1, S. 98). Der Nachruhm des Generals ist trotzdem begrenzt: »Man schämte sich fast des Krieges, und die Tat des einzelnen litt unter dem Mißkredit, in dem das Ganze stand.« (W 1, S. 101) Doch auch wenn das Unternehmen moralisch fragwürdig sein mochte, das Ergebnis konnte gutgeheißen werden.220 Hierfür genügt ein Blick auf Verhaltenscodices in den neuen Gebieten. General von Günther, der nach Ende der Kämpfe vorübergehend die Verwaltung der »polnischen Besitzungen Preußens (das sogenannte Südpreußen)« (W 1, S. 98 f.) übernommen hat, wirkt als administratives Vorbild: Die Worte des Prinzen Heinrich, die Zieten so schön charakterisieren (»er verachte alle diejenigen, die sich auf Kosten unterdrückter Völker bereicherten«), passen ebenso auf Günther. Seine kurze Verwaltung Südpreußens war deshalb in mehr als einer Beziehung ein Segen für jene Landesteile. Seine Uneigennützigkeit erwarb ihm die Achtung von Freund und Feind, und selbst die polnische Bevölkerung näherte sich ihm und unterwarf sich in streitigen Fällen seiner Entscheidung. (W 1, S. 103)
219 W 1, S. 642. Später wurde der Zusatz wohl infolge des polnischen Aufstands von 1863 gegen Russland gestrichen. 220 Dies zeigt sich auch in der zeitgenössischen borussischen Geschichtsschreibung, die in den Teilungen eine staatspolitische Notwendigkeit sah. Dazu Luise SchornSchütte, Polnische Frage und deutsche Geschichtsschreibung. In: Klaus Zernack (Hrsg.), Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland 1772 – 1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 14. bis 16. Januar 1986 in Berlin-Nikolassee, Berlin 1987 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 59), S. 2 – 107, die u. a. aus einem Brief von Heinrich von Sybel an Johann Gustav Droysen (8. 2. 1854) zitiert: »Übrigens fühle ich sehr wohl die Schwierigkeit, über die polnische Teilung selbst zu reden, wie es sich gebührt. Ich halte, alles erwogen, das Ergebnis für vorteilhaft, ja für notwendig für Preußen; die Moralität des Herganges bleibt aber natürlich deshalb nicht weniger faul.« (S. 92)
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Zu Recht konstatiert Berbig, dass es »Tugenden ›alten Geistes‹ preußischer Provenienz waren […], die hier rechtfertigten, was gemeinhin als Unrecht empfunden worden war«.221 Doch dass selbst dieses empfundene Unrecht sich noch aus dem Zeitkontext heraus als politisch-konsequentes Handeln vorführen lässt, zeigt der Text »Marquardt von 1795 bis 1803« (1869/70) aus dem Wanderungen-Teil Havelland. Dieser weist »de[m] Zug gegen Polen« (gemeint ist das Einrücken preußischer Truppen in Polen infolge der Erhebung von 1794 unter Kos´ciuszko) ein »Prinzip« zu, »das man nicht umhin können wird in einem königlichen Staate, in einer absoluten Monarchie als das Richtige anzusehen« (W 3, S. 290). Rekurriert wird auf die Unvereinbarkeit von preußischer, absolutistisch-modernistischer Herrschafts- und Staatsauffassung einerseits und polnischer Adelsrepublik andererseits, die sich dem Vorwurf der Erfolglosigkeit, des Instabilen und nicht mehr Zeitgemäßen ausgesetzt sieht.222 So oszillieren die Wanderungen, was die Teilungspolitik des 18. Jahrhunderts anbelangt, zwischen moralischer Kritik und historischer Rechtfertigung, ohne eine territoriale Revision zur Disposition zu stellen. Das Thema der ›Teilungen‹ ist im zeitgenössischen preußisch-deutschen Diskurs mit der stereotypen Formel vom vorherbestimmten polnischen ›Untergang‹ verknüpft. Mit ihr kann die Zerschlagung Polens als letztlich ›natürliche‹ Konsequenz unaufhaltsamer innenpolitischer Auflösungsprozesse preußischerseits legitimiert werden. Dass Fontane diese Untergangsprozesse mit dem Merkmal des Zentrifugalen (im Sinne eines fehlenden Mittelpunkts) korreliert, wurde schon kurz erwähnt. Im Kapitel »Die Wenden in der Mark« aus dem Havelland-Teil der Wanderungen nutzt er dazu (wieder einmal) das Mittel vergleichender Gegenüberstellung. Bereits aus der oben zitierten Definition, die zwischen verschiedenen slawischen Stämmen unterscheidet (W 3, S. 13), ergibt sich eine notwendige Differenzierung zwischen Wenden und Polen. So könnte die Beziehung von Wenden und Polen zum später Brandenburgisch-Preußischen gegensätzlicher nicht sein, nicht nur, weil die Wenden auch historisch Verbündete in Kriegen gegen »die Pommern und Polen« (W 3, S. 34) waren: Während die katholischen Polen lebendige Gegenwart sind, die für die territoriale Integrität Preußens akutes Gefahrenpotential darstellen, sind die paganen Wenden längst überwundene Fremde. Dass die Wenden 221 Berbig, ›auf den ersten Blättern standen die Namen Warschau und Fehrbellin‹, S. 63. 222 Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹. Siehe auch das Kapitel »Weltgeschichte als Weltgericht: Legitimierungsmuster im deutschen Polendiskurs«, in: Ders., ›Polnische Wirtschaft‹, S. 233 – 273.
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in der Zeit vom 6. bis zum 12. Jahrhundert zwischen Elbe und Oder herrschten, habe, so heißt es bei Fontane, »unzweifelhaft jene Mischrace hergestellt, die jetzt die preußischen Provinzen bewohnt« (W 3, S. 33), aber es bleibe festzuhalten, »daß eben das einzige, was aus der alten Wendenwelt noch zu uns spricht, ein Begrabenes ist. Alles geistig Lebendige ist hinüber« (W 3, S. 35). Entsprechend lebe das Wendentum nur »noch fort in der Mehrzahl unserer Städte- und Dorfnamen, in dunklen Erinnerungen […], vor allem in den Heidengräbern und Wendenkirchhöfen, die sich allerorten in der Mark verbreitet finden« (ebd.). Über die identitätsstiftende Musealisierung gelingt die Inkorporation in die eigene Geschichte; infolgedessen steht auch »die ›wendische‹ Komponente in der Mark Brandenburg bei Fontane in keinem Spannungsverhältnis zur modernen preußisch-deutschen Realität«.223 Mit Blick auf anthropologische Merkmale werden im Kapitel »Die Wenden in der Mark« jedoch Wenden und Polen, die sich beide auf der historischen Verliererseite befinden, kongruent gesetzt: Die Wenden waren tapfer und gastfrei und, wie wir uns überzeugt halten, um kein Haar falscher und untreuer als ihre Besieger, die Deutschen; aber in einem waren sie ihnen allerdings unebenbürtig, in jener gestaltenden, große Ziele von Generation zu Generation unerschütterlich im Auge behaltenden Kraft, die zu allen Zeiten der Grundzug der germanischen Race gewesen und noch jetzt die Bürgschaft ihres Lebens ist. Die Wenden von damals waren wie die Polen von heut. Ausgerüstet mit liebenswürdigen und blendenden Eigenschaften, an Ritterlichkeit ihren Gegnern mindestens gleich, an Leidenschaft, an Opfermut ihnen vielleicht überlegen, gingen sie dennoch zugrunde, weil sie jener gestaltenden Kraft entbehrten. Immer voll Neigung, ihre Kräfte nach außen hin schweifen zu lassen, statt sie im Zentrum zu einen, fehlte ihnen das Konzentrische, während sie exzentrisch waren in jedem Sinne. Dazu die individuelle Freiheit höher achtend als die staatliche Festigung – wer erkennte in diesem allem nicht polnisch-nationale Züge? (W 3, S. 26)
Als zentrale asymmetrische Opposition zwischen Polen/Wenden und Deutschen fungiert die Fähigkeit oder Nichtfähigkeit, Kräfte zu bündeln. Eignet den Wenden/Polen die kurzsichtige Tendenz zur Vereinzelung und Zersplitterung, besitzen die Deutschen das gegenläufige überzeitliche Vermögen zu staatlicher Stabilität mittels dauerhafter Zentrierung der Kräfte. Und wenn auch eine wendische/polnische Überlegenheit zugestanden wird, die sich in Ritterlichkeit, Leidenschaft und Opfermut manifestiert, trägt alle Exzentrik und Individualisierung schon den Keim des Destruktiven in sich. Das Diktum »die individuelle Freiheit höher achtend 223 Ossowski, Fragwürdige Identität?, S. 264.
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als die staatliche Festigung« referiert dabei auf das polnische Liberum veto, ein bis 1791 bestehendes Einspruchsrecht jedes Abgeordneten, mit dem ein Reichstagsbeschluss ungültig gemacht werden konnte, und damit nicht zuletzt auf ein prominentes Versatzstück des deutschen Polendiskurses seit dem 18. Jahrhundert: Die (gewaltsam von außen herbeigeführte) polnische Staatsauflösung wurde mit binnenpolnischen Zerfallsprozessen der Adelsrepublik (den Schwächen der Wahlmonarchie, dem »polnischen Reichstag« in enger Verknüpfung mit seinem Liberum veto, dem fragwürdigen Recht zur Aufstellung bewaffneter Adelsverbände, sogenannter »Konföderationen«, für oder gegen den König) rechtfertigend kurzgeschlossen.224 Was die Polen-Figuration anbelangt, so sind die sogenannten Unechten Korrespondenzen Fontanes an die Wanderungen anschlussfähig. Thematische Kontinuitäten im Hinblick auf die Bezugsgröße ›Polen‹ rechtfertigen es daher auch, jene Artikel, die anonym, nur mit einer Chiffre versehen, unter fingierter Orts- und Datumsangabe (tatsächlich saß der Korrespondent im Berliner Redaktionsbüro) zwischen 1860 und 1870 in der hochkonservativen Kreuzzeitung 225 veröffentlicht wurden, an dieser Stelle mit einzubeziehen.226 Freilich steht die Edition der Unechten Korrespondenzen 227 in der Kritik. Die Einwände gelten der Frage, inwieweit die Autorschaft Fontanes im Einzelnen als gesichert gelten kann, zumal die in die Edition aufgenommenen Artikel wechselnde Siglen aufweisen. Und sie gelten der Frage, ob überhaupt, auch wenn von Fontane als Autor ausgegangen wird, von Fontane-Texten gesprochen werden kann – angesichts institutioneller und parteipolitischer Vorgaben (die Kreuzzeitung galt als »Sprachrohr des ständisch-gesinnten orthodox-konserativen ostelbischen Landadels«)228 und der gängigen Praxis, Artikel aus anderen Zeitungen 224 Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 233 – 273, und Clark, Preußen, S. 274 f. Weder Preußen noch Russland hatten freilich ein Interesse an der Reformierung und damit machtpolitischen Stabilisierung des polnischen Staates. 225 Eigentlich »Neue Preußische Zeitung«. Aufgrund des Kreuzes als Titelemblem aber üblicherweise »Kreuzzeitung« genannt. 226 Der Terminus der ›unechten Korrespondenzen‹ orientiert sich an Fontane. Siehe sein Kapitel über George Hesekiel in Von Zwanzig bis Dreißig, in dem er über dessen Tätigkeit als vorgeblich französischer Korrespondent berichtet. Fontane fügt hinzu: »Ich bin selbst jahrelang echter und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent gewesen […].« (GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 282) 227 Theodor Fontane, Unechte Korrespondenzen. Hrsg. von Heide Streiter-Buscher. 2 Bde., Berlin/New York 1996 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 1.1 und 1.2). 228 Einleitung zu den Unechten Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 19.
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(manchmal nur leicht überarbeitet) zu übernehmen sowie auf lithographierte Nachrichten, die durch Korrespondenzbüros übermittelt wurden, wortwörtlich zurückzugreifen.229 Unbestritten ist mittlerweile, dass Fontane während seiner Zeit als Redakteur der Kreuzzeitung, in der er nach eigener Aussage für den englischen Artikel zuständig war,230 der politischen Linie des Blattes nahegestanden hat. Bernhard von Lepel kam schon im Februar 1861 zu dem Schluss: »Es ist ein Schmerz für mich u alle Deine alten Freunde, daß Du Dich mehr, als nöthig ist, mit der Richtung verbindest, statt Dich nur auf Deinen relativ neutralen Artikel zu beschränken.«231 Ein Jahr später, im April 1862 – es war die Zeit des Verfassungskonflikts in Preußen –, kandidierte Fontane als Wahlmann für die Konservativen.232 Drei Korrespondenzen ›aus‹ London von 1863, gezeichnet mit einem Kreuz und zwei hochgestellten Sternchen zur Seite (*†*), der Chiffre, hinter 229 Zur Forschungsdebatte um die Unechten Korrespondenzen siehe insgesamt die Einträge in: Wolfgang Rasch, Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. In Verbindung mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem TheodorFontane-Archiv Potsdam hrsg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen. Bd. 2, Berlin 2006, S. 1631 – 1633. Stellvertretend genannt seien an dieser Stelle Rudolf Muhs, ›Unechte Korrespondenzen‹, aber alles echter Fontane? Zur Edition von Heide Streiter-Buscher. In: Fontane Blätter 64 (1997), S. 200 – 220; Heide Streiter-Buscher, Gebundener Journalismus oder freies Dichterleben? Erwiderung auf ein Mißverständnis. In: Fontane Blätter 64 (1997), S. 221 – 244 (hierbei handelt es sich um eine Replik auf Muhs); Peter Goldammer, Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen. 1860 – 1865; 1866 – 1870. In: Schriften der TheodorStorm-Gesellschaft 46 (1997), S. 133 – 136; Heide Streiter-Buscher, Notwendige Erwiderung auf Peter Goldammers Rezension der ›Unechten Korrespondenzen‹ Theodor Fontanes. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 47 (1998), S. 105 – 107; Peter Goldammer, Fontanes Feder oder ›Scherenarbeit‹? In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 47 (1998), S. 107 (dieser Beitrag ist wiederum eine Reaktion auf die letztgenannte Erwiderung Streiter-Buschers); Christian Grawe, Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1998, S. 175 – 183. 230 Vgl. NFA XV, S. 438 (in einer Selbstbiographie von 1874). Streiter-Buscher ordnet Fontane auch Korrespondenzen aus Posen, Rom, Neapel und verschiedenen deutschen Ländern zu, ohne dies jedoch immer zweifelsfrei belegen zu können. Zu den Posener Korrespondenzen siehe im Folgenden. 231 Bernhard von Lepel an Fontane, 2. 2. 1861 (FLe I, S. 559). 232 Er musste dann aber den Sieg der deutschen Fortschrittspartei hinnehmen. Zu Fontanes Kontakten zum konservativen Lager sowie zu seiner Kandidatur als Wahlmann der Konservativen siehe Hubertus Fischer, ›Mit Gott für König und Vaterland!‹ Zum politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863. Teil 1. In: Fontane Blätter 58 (1994), S. 62 – 88. Teil 2. In: Fontane Blätter 59 (1995), S. 59 – 84.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
der auch Kritiker der Edition wie Rudolf Muhs – vorausgesetzt, es handelt sich um Londoner Korrespondenzen – Fontane als Verfasser sehen, beschäftigen sich mit der polnischen Frage.233 Aktualität erlangte sie durch den sogenannten Januaraufstand 1863 im russischen Teil Polens, der noch einmal einen Versuch darstellte, bewaffnet die Restitution eines eigenständigen Staates zu erreichen.234 Bis April 1864 dauerten die Kämpfe an. Preußen ließ durch seinen Generaladjutanten von Alvensleben im Februar 1863 ein Abkommen mit Russland über das gemeinsame Vorgehen bei der Verfolgung von Aufständischen unterzeichnen; Großbritannien und Frankreich protestierten, schließlich auch Österreich. Die englische Kritik am preußischen Verhalten wirkt in die drei Londoner Korrespondenzen mit polnischer Thematik hinein.235 Eine von ihnen ist die von »einem Preußen«236 geschriebene Korrespondenz Lord Ellenborough und der polnische Aufstand. Zunächst werden hier die russischen Rekrutierungsmaßnahmen, die dem Januaraufstand vorausgingen, gegen mögliche polnische Verschwörer gerechtfertigt – »Welcher Staat hätte nicht ein volles Recht, sich innerhalb der längst gesetzlich festgestellten Formen (mögen diese gesetzlichen Formen auch hart sein) seiner Widersacher zu entledigen?«237 – sowie mit Blick auf die Auslieferung von Aufständischen an eine bereits seit drei Jahrzehnten bestehende (allerdings, was unerwähnt bleibt, nicht erneuerte)238 KartellKonvention zwischen Preußen und Russland erinnert. Dann folgt eine Gegenüberstellung von Polen und Preußen, die nationale Taxonomien fortschreibt, welche bereits in der Soll-und-Haben-Rezension und in den Wanderungen auftauchten: Preußen sei ein »blühende[r] und lebensberechtigte[r] Staat[]«, Polen hingegen ein »an seiner Schuld und seinen 233 Die Chiffre *†* hat Fontane schon in den 1850er Jahren für seine ›echten‹ Korrespondenzen aus London verwendet. 234 Ausgelöst wurde der Aufstand, der in der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 1863 begann, durch eine geplante Rekrutierungsaktion des russischen Militärs. 235 Ihre Titel lauten (mit den Seitenangaben der Edition von Streiter-Buscher, Bd. 1.1): Lord Ellenborough und der polnische Aufstand [Kreuzzeitung Nr. 48 vom 26. 2. 1863], S. 284 – 288, Lord Palmerston und die Polen-Debatte [Kreuzzeitung Nr. 53 vom 4. 3. 1863], S. 290 – 292, Die gestrige Polen-Debatte im Oberhause [Kreuzzeitung Nr. 110 vom 13. 5. 1863], S. 294 – 297. 236 So heißt es in einer redaktionellen Fußnote zur Korrespondenz (Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 284). 237 Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 285. 238 Heide Streiter-Buscher, ›… und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent‹. Der Kreuzzeitungsredakteur Theodor Fontane. In: Fontane Blätter 58 (1994), S. 89 – 105, hier: S. 99.
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Gebrechen längst zugrunde gegangenes Gemeinwesen«.239 Argumentativ verknüpft wird die These vom selbstverschuldeten ›Untergang‹ mit der Abwertung des neuesten polnischen Befreiungskampfes von 1863. Während der Tory Lord Ellenborough in seiner Oberhausrede die Preußen an das Jahr 1813 erinnert und daran, ob diese »den frevlen Mut haben könnten, die Erhebung eines anderen Volkes mit unterdrücken zu helfen«,240 wehrt der Korrespondent (freilich historisch wenig differenziert) ab: Die Erhebung Preußens von 1813, die Erhebung eines Volkes, das noch lebte, das noch da war, die Erhebung eines ganzen Volkes vom König bis zum Bettler, vom Greis bis zum Knaben, – sie hat nichts gemein mit diesem unseligen polnischen Aufstand, der schon einfach daran scheitern muß, daß der gesundeste und zahlreichste Teil des Volkes von dieser Erhebung nichts wissen will. Was die preußischen Bauernsöhne 1813 getan haben, davon erzählen Dennewitz und Möckern; die polnischen Bauern aber ergreifen ihre eigenen Landsleute, von denen sie zum Aufstand gezwungen werden sollen, und liefern sie aus an die russische Regierung!241
Im Hinblick auf 1813/1863 wird eine zweifache Unterscheidung zwischen Polen und Preußen getroffen: Sie zielt einerseits auf eine Diachronisierung beider ›Staaten‹: Preußen wird mit der lebendigen Zukunft gleichgesetzt, Polen jedoch mit den Merkmalen ›Nicht-Leben‹ (»Gebrechen«), ›Tod‹, ›Vergangenheit‹ (»längst zugrunde gegangen[]«) korreliert; andererseits zielt sie auf den vermeintlichen gemeinsamen historischen Nenner ›Befreiungskampf‹, dem durch Verweis auf die jeweilige soziale Teilnehmerbasis (Volk in seiner Gesamtheit versus adelige Teilmenge) die Grundlage entzogen werden soll. Hinzu kommt: Jedem polnischen Aufstand, welche Basis er auch immer haben mag, stände das Selbstbehauptungsrecht 239 Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 288. Vgl. auch ebd. Lord Palmerston und die Polendebatte, S. 292 (»an sich selbst zugrunde gegangene[s] Königreich Polen«). Die Korrespondenz Die gestrige Polen-Debatte im Oberhause vertritt die Auffassung, dass auch England in letzter Konsequenz keine Wiederherstellung Polens anstrebe (vgl. ebd., S. 295 – 297). Ebenso urteilen die Glossen zu englischen Presseberichten über Polen, die in den Jahren 1861 bis 1865 mit der Sigle * (bzw. einmal, am 24. 6. 1863, sogar ohne Sigle, siehe Unechte Korrespondenzen‹, Bd. 1.2, S. 1089) erschienen sind. Auch diese ›Randbemerkungen‹ sind Teil der Edition Streiter-Buschers (Bd. 1.2). Muhs, ›Unechte Korrespondenzen‹, aber alles echter Fontane?, S. 215, nimmt Fontane als Verfasser an, ebenso offenbar Niemirowski, Theodor Fontane und Polen, S. 567, eindeutige Belege hierfür fehlen allerdings. Dazu Grawe, Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen, S. 178. 240 Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 286. 241 Ebd., S. 286 – 288.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
Preußens entgegen: Ein polnischer und ein preußischer Staat schlössen sich kategorisch aus: »Polen wiederherstellen, heißt einfach das Königreich Preußen von der Landkarte streichen. Ohne Westpreußen, ohne Danzig, ohne die Weichsel, sind wir kein Preußen mehr.«242 Zementiert wird ein genuiner Antagonismus zwischen Polen und Preußen, der auch aus den Korrespondenzen ›aus‹ Posen (1861/1862), die ebenfalls Teil der Edition Streiter-Buschers sind,243 zu eruieren ist. Die Posener Korrespondenzen reproduzieren wiederholt ein preußisch-polnisches Feindschema, ja plädieren für eine Unterstützung der deutschen Bevölkerung in Posen, um möglichen intranationalen Aufständen vorzubeugen: »Der Schwamm wütet im Hause und mit dem Überstreichen von Farbe ist es nicht getan.«244 Die Autorschaft Fontanes hinsichtlich der sechs Posener Korrespondenzen, die alle mit *†* gekennzeichnet sind, gilt als umstritten und wurde vor allem von Muhs vehement verneint.245 Dennoch 242 Ebd., S. 288. 243 Siehe Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1: Wie es in Posen steht / Der Streit um den Oberbefehl. Warum keine Exzesse? / Die Polen und die parlamentarische Regierung / Eine Bombe ohne Zünder. Die nahende dritte [Kreuzzeitung Nr. 238 vom 11. 10. 1861], S. 149 – 153; Wie es in Posen steht [Kreuzzeitung Nr. 250 vom 25. 10. 1861], S. 155 – 157; Wie es in Posen steht [Kreuzzeitung Nr. 257 vom 2. 11. 1861], S. 159 – 161; Wie es in Posen steht [Kreuzzeitung Nr. 279 vom 29. 11. 1861], S. 167 – 171; Wie es in Posen steht [Kreuzzeitung Nr. 283 vom 4. 12. 1861], S. 173 – 175; Ein jeder fege vor seiner Tür / Fest und beharrlich [Kreuzzeitung Nr. 21 vom 25. 1. 1862], S. 189 f. 244 Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 152. 245 Vgl. Muhs, ›Unechte Korrespondenzen‹, aber alles echter Fontane?, S. 205 f. Allerdings können seine Argumente (u. a. die fehlenden polnischen Sprachkenntnisse Fontanes, der »Tonfall« der Korrespondenzen) wenig überzeugen. Siehe dazu die Erwiderung Streiter-Buschers, Gebundener Journalismus, S. 226. Auch Goldammer, Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen, S. 135, meldet Bedenken hinsichtlich der Posener Korrespondenzen an (»immer vorausgesetzt, es war tatsächlich Fontane, der diese Artikel verfaßt hat«) und gibt den Hinweis, »Fontane [müßte] am 23. November 1861 (unter derselben Chiffre) gleichzeitig aus London und aus Posen berichtet haben«. Allerdings waren die Abfassungsdaten, die am Anfang der Korrespondenzen standen, oft fiktiv (siehe Streiter-Buscher, Gebundener Journalismus, S. 236); ein redaktionelles Versehen wäre also möglich. Ein endgültiges Urteil über die Autorschaft Fontanes ist auch für Goldammer nicht gefällt: »Obwohl es keinen schlüssigen Beweis dafür gibt, daß alle mit diesem Zeichen [gemeint ist das Zeichen *†*, A. D.] versehenen Artikel auch wirklich Fontane zum Verfasser haben, spricht hier mehr dafür als im Falle der Korrespondenzen mit anderen Zeichen.« (Ebd.) Niemirowski, Theodor Fontane und Polen, geht von Fontane als Verfasser der Posener Korrespondenzen aus (siehe dort, S. 51 – 56).
2.3 Reichsgründung und Polenfrage: Zur Fragilität nationaler Ordnungen
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sei angemerkt, dass auch diese Korrespondenzen (allerdings in verschärfter Rhetorik) letztlich mit argumentativen Mustern operieren, die bereits in der Soll-und-Haben-Rezension und/oder den Wanderungen nachgewiesen werden konnten: dem von Polen selbstverschuldeten staatlichen Untergang,246 der territorialen Arrondierung Preußens (keine Infragestellung von Grenzen), den Erfolgen preußischer Administration in Posen, die die Polen für die Teilung gewissermaßen entschädigen sollen.247 Insgesamt laufen sie auf eine strategisch-politische Rechtfertigung der polnischen Teilungen heraus. Die Posener Korrespondenzen würden keinesfalls zu »erheblichen Korrekturen«248 im Themenspektrum ›Fontane und Polen‹ nötigen. Vielmehr ließen sie sich im Feld thematischer Rekurrenzen an die Wanderungen und die drei polenspezifischen Londoner Korrespondenzen anschließen.249
2.3 Reichsgründung und Polenfrage: Zur Fragilität nationaler Ordnungen Die kleindeutsche Reichsgründung von 1870/71 hat Fontane, der 1870 mit der Kreuzzeitung brach250 und im selben Jahr noch Theaterkritiker bei der Vossischen Zeitung wurde, einem Blatt, das der liberalen Deutschen Fortschrittspartei nahestand und dem er daher politisch fremd blieb,251 246 Den Konnex zur Gustav-Freytag-Rezension stellt hier auch Streiter-Buscher, ›… und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent‹, S. 100, her. 247 Vgl. zu Letzterem Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 153 (»das Land mit Wohlwollen behandelt und zu einer Blüte entwickelt«). Siehe ebenso Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsaß-Lothringen 1871 (HFA III/4, S. 995): »Das polnische Element, das unserem Staate einverleibt wurde, hatte, vom Nationalen abgesehen, bald aber über dieses hinaus, kein anderes Interesse, als sich in seinem Recht und seinem Besitz gegen Unterdrückung geschützt zu sehen […].« 248 Muhs, ›Unechte Korrespondenzen‹, aber alles echter Fontane?, S. 205. 249 Vgl. auch Fischer, Wendepunkte, S. 25: »Das Kreuzzeitungs-Jahrzehnt war in literarischer Hinsicht in erster Linie Wanderungen-Jahrzehnt«. 250 Vgl. Fontane an Mathilde von Rohr, 13. 5. 1870: »Die unmittelbare Veranlassung [eine Kontroverse mit dem Chefredakteur Tuiscon Beutner, A. D.] war unbedeutend, das Maß war aber voll und so lief es über. Die Unfreiheit, die Dürre, die Ledernheit des Dienstes fingen an mir unerträglich zu werden, vor allem aber empörte mich mehr und mehr der Umstand, daß man nie und nimmer für gut fand, die wichtige Pensionsfrage auch nur leise zu berühren.« (HFA IV/2, S. 311) 251 Siehe Fontane in einem Brief vom 20. 12. 1870 an den Chefredakteur der Vossischen Zeitung, Hermann Kletke: »[D]aß ich politisch über manches anders denke,
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
uneingeschränkt begrüßt. Zeugnis davon geben seine patriotischen Einzugsgedichte ebenso wie drei umfangreiche Bücher, die er den Einigungskriegen widmete (Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864, Der deutsche Krieg von 1866 und Der Krieg gegen Frankreich 1870 – 1871). Bismarcks außenpolitische Leistung (wie sein Rednertalent) bewunderte Fontane dauerhaft, wertete das Ergebnis der Reichsgründung als »genialisch[e]« Tat, an die er den Wertmaßstab des »Riesengroße[n]« anlegte, auch wenn er sie als »zusammengemogelt« einstufte.252 Überhaupt blieb er kritisch-distanziert gegenüber »[d]iese[r] Mischung von Uebermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdestall=Steuerverweigerer«, »von Heros und Heulhuber«,253 die er in Bismarck verkörpert sah. Dessen ist irrelevant, da es sich in meinen Arbeiten nicht um politische Fragen handelt« (HFA IV/2, S. 367). Noch 1889, als Fontane die Vossische Zeitung verließ, sprach er gegenüber Friedrich Stephany von den »verdammten politischen Unterschiede[n]« (Brief vom 24. 6. 1889, HFA IV/3, S. 701). 252 Fontane an August von Heyden, 5. 8. 1893 (HFA IV/4, S. 272). 253 Fontane an seine Tochter Mete, 1. 4. 1895 (FMF, S. 465). Zu Fontanes ambivalentem Verhältnis gegenüber Bismarck vgl. Walter Müller-Seidel, Fontane und Bismarck. In: Benno von Wiese und Rudolf Henß (Hrsg.), Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17.–22. Oktober 1966, Berlin 1967, S. 170 – 201; Eda Sagarra, Noch einmal: Fontane und Bismarck. In: Fontane Blätter 53 (1992), S. 29 – 42; Frank-Lothar Kroll, Fontane und Bismarck. In: Ders. und Bernd Heidenreich (Hrsg.), Theodor Fontane – Dichter der Deutschen Einheit, Berlin 2003, S. 69 – 77. Die beste Charakterisierung Bismarcks schreibt Fontane übrigens einem berühmten Polen zu, Henryk Sienkiewicz, der im April 1895 in der Zeitschrift Die Gegenwart neben 33 anderen Autoren einen Beitrag zu Bismarcks 80. Geburtstag verfasst hat, der mit den Worten beginnt: »In der That kann ich mich nicht zu den Verehrern des Fürsten Bismarck zählen, aber da das moralische Gefühl der Gesellschaft, der ich angehöre, uns die Pflicht auferlegt, vor allem unsere Feinde gerecht zu beurtheilen, so will ich mich bemühen, meine Ansicht mit möglichster Unparteilichkeit darzulegen.« Der Beitrag arbeitet Bismarck als widersprüchlichen Charakter heraus, anerkennt seine politische Leistung, verweist aber auch auf moralische Defizite. In einem Brief an Friedrich Stephany vom 3. 4. 1895 schreibt Fontane dazu: »Auch nicht annähernd Ähnliches ist, was Tiefe der Erkenntnis angeht, bisher über Bismarck gesagt worden.« (HFA IV/4, S. 442) Vgl. ebenso Fontanes Briefe vom 3. 4. 1895 an Gustav Karpeles (ebd., S. 442 f.) und Theophil Zolling – siehe Wien´czysław A. Niemirowski (Hrsg.), Henryk Sienkiewicz über Bismarck. Mit einem Brief Fontanes an Theophil Zolling vom 3. April 1895. In: Fontane Blätter 61 (1996), S. 55 – 65, hier: S. 58 f.; das obige Sienkiewicz-Zitat siehe ebd., S. 55, sowie des Weiteren den gesamten Text von Sienkiewicz. Karpeles, der die polnische Sprache beherrschte, hat Fontanes Brief vom 3. 4. 1895 mit dem Lob über Sienkiewicz in Übersetzung an eben diesen weitervermittelt – Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Dargestellt von
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taktisches Kalkül außenpolitischen und erst recht innenpolitischen Handelns mochte also – vor allem in seinen sozialen Folgewirkungen – für Fontane im Einzelnen fragwürdig sein, das historische Ereignis der Reichsgründung war es nie.254 »Zweifellos«, so hält Dietmar Storch fest, »wurde seine [Fontanes, A. D.] Kritik an Preußen-Deutschland mit den Jahren schärfer, die staatliche Einheit des Reiches aber blieb für ihn sakrosankt«.255 Damit sind klare (Raum-)Grenzen vorgegeben, die als realitätsstiftende Markierungen das preußisch-polnische Verhältnis, wie es sich in Fontanes fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten nach der Reichsgründung artikuliert, konditionieren. Der kleindeutsch-protestantische Nationalstaat von 1870/71 behielt die preußischen Grenzen von 1815 bei, koppelte den Bestand des neu geschaffenen Reiches auch an die Nichtlösung der polnischen Frage.256 Zwar gab diese Lageveränderung an sich noch keinen innenpolitischen Kurs vor, sie begünstigte aber preußische Bestrebungen zu einer nationalen Homogenisierung. Immerhin hatte damals mehr als jeder zehnte Einwohner Preußens Polnisch als Muttersprache, in der Provinz Posen waren es sogar etwa 55 Prozent der Einwohner.257 Konnten sich die Polen, wie Manfred Alexander festhält, in einem dynastischen Staat »durchaus als gute ›Preußen‹ fühlen […], in einem deutschen Nationalstaat konnten sie nie gute ›Deutsche‹ werden, ohne ihr Polentum aufzugeben«.258 Und Bismarck setzte auf eine radikale Polenpolitik, die eine Entnationalisierung der in Preußen lebenden Polen erzwingen sollte. Der Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus und die katholische Kirche (1871 – 1878), Sprachverfügungen in Schulen und Behörden (Einführung der deutschen Unterrichtssprache an Volksschulen in Schlesien 1872 und Posen/Westpreußen 1873, Festlegung des Deutschen als Amts- und Geschäftssprache 1876, endgültige Abschaffung des
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Roland Berbig unter Mitarbeit von Bettina Hartz, Berlin/New York 2000 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 3), S. 186. Fontane betonte entsprechend den Unterschied zwischen »unbedingter Bismarckanbetung« und (der auf ihn zutreffenden) »freie[n] Bismarckbewunderung« (vgl. seinen Brief an Georg Friedlaender, 1. 5. 1890, FFr, S. 171). Dietmar Storch, Theodor Fontane und die Reichsgründung. In: Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Theodor Fontane – Dichter der Deutschen Einheit, Berlin 2003, S. 55 – 68, hier: S. 66. Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, S. 435. Fischer, ›Grenzpfahl mit Ordenskreuz‹, S. 69 f. Die 13. Aufl. des Brockhaus nennt für das Jahr 1880 folgende Bevölkerungszahlen: Preußen 27 279 111, davon Polen »2 700 000 oder nahezu 10 [Prozent, A. D.]« ([Art.] ›Preußen‹, S. 274 f.). Alexander, Kleine Geschichte Polens, S. 245.
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Unterrichtsfaches Polnisch 1887) zeigen das Feld antipolnischer Maßnahmen ebenso auf wie die Massenausweisungen von polnischen Zuwanderern (1885 – 1887), meist Landarbeitern mit russischer oder österreichischer Staatsangehörigkeit, und das sogenannte »Ansiedlungsgesetz«, betreffend die deutsche Ansiedlung in den Provinzen Westpreußen und Posen (1886). Die »beziehungsgeschichtliche Grundsignatur« zwischen Deutschen und Polen stand mithin im Zeichen eines »ständig sich verschärfenden Antagonismus«.259 Fontane folgte dieser Stoßrichtung Bismarck’scher Polenpolitik, die auf eine »aggressive Verdrängungs- und Germanisierungspolitik«260 hinauslief, offenbar nicht; jedenfalls spricht einiges für diese Annahme.261 Zwar werden die polenspezifischen Inhalte des Kulturkampfs – Bismarck sah den Ursprung des Kulturkampfs, wie er diverse Male betonte, gerade in der polnischen Frage –262 in Fontanes Texten nicht angesprochen. Gegenüber der Kulturkampfpolitik im Allgemeinen aber wahren sie Distanz.263 Jemals »Falkianer und Culturkämpfer« zu werden, davor wolle ihn »Gott in Gnaden bewahren«, schrieb Fontane an Gustav Karpeles.264 Die Überzeugung, dass sich Religion nicht zum »Anpacken […] von außen her«265 eigne, sondern der Privatsphäre zuzurechnen sei, spielt hier wohl ebenso hinein wie das früh geäußerte künstlerisch-ästhetische Interesse am Katholizismus und persönliche Kontakte zu Katholiken.266 So begegnete 259 Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, S. 435. 260 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 272. 261 Damit wird Niemirowski, Theodor Fontane und Polen, S. 65, widersprochen, der Fontane die ungeteilte Akzeptanz der Bismarck’schen Politik unterstellt. 262 Eberhard Kolb, Bismarck, München 2009, S. 106. 263 Zur Kulturkampf-Thematik bei Fontane siehe Peter Sprengel, Von Luther zu Bismarck. Kulturkampf und nationale Identität bei Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Gerhart Hauptmann, Bielefeld 1999, S. 13 – 29, sowie Helmuth Nürnberger, ›Ein von Borniertheit eingegebener Antikatholizismus […] etwas ganz besonders Schreckliches‹. Fontanes Reaktion als Kritiker und Erzähler im Klima des Kulturkampfes. In: Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer (Hrsg.), Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Internationales Symposium veranstaltet vom Theodor-Fontane-Archiv und der Theodor Fontane Gesellschaft e.V. zum 70-jährigen Bestehen des Theodor-Fontane-Archivs. Potsdam, 21. bis 25. September 2005, Würzburg 2006, S. 157 – 181. 264 Brief vom 10. 9. 1880 (HFA IV/3, S. 104). Der Kulturkampf wurde im Auftrag Bismarcks unter dem 1872 – 1879 amtierenden preußischen Kultusminister Adalbert Falk geführt. 265 Fontane an Georg Friedlaender, 12. 2. 1892 (FFr, S. 232). 266 Fontanes Verhältnis zum Katholizismus untersuchen die Beiträge von Eda Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹. Katholiken und Ka-
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Fontane im (gemischtkonfessionellen) Hause des Geheimrats von Wangenheim führenden Zentrumspolitikern: Ludwig Windthorst, Hermann von Mallinckrodt, August und Peter Reichensperger, aber ebenso Katholiken polnischer Herkunft.267 Die Katholikin Marie von Wangenheim kommt jedenfalls zu dem Schluss: »Hat er [Fontane, A. D.] religiöse Sympathien, so sind sie mehr auf der katholischen Seite«.268 Über die antipolnischen Maßnahmen der 1880er Jahre äußert sich Fontane (soviel ich sehe) nicht, auch nicht in der veröffentlichten Privatkorrespondenz; immerhin aber referiert eine Theaterkritik auf eine Polenrede Bismarcks vom 1. Dezember 1885 (in dieser Rede ging es um die Ausweisungsfrage). Fontanes Besprechung von Gustav zu Putlitz’ Schauspiel Waldemar (1863) vom 5. Dezember 1885 beginnt wie folgt: Der Reichskanzler hat in seiner letzten Rede das Einstimmen in allerlei Polenlieder in den dreißiger und vierziger Jahren und überhaupt die lächerliche Fremdenschwärmerei des deutschen vorachtundvierziger Philisters gebührend gegeißelt. In einem gewissen Zusammenhange mit dieser Fremdenschwärmerei stand die gleichzeitige Geschichts-, Roman- und Bühnenschwärmerei für die »Falschen und Unechten«. […] [V]or allem rückten die »falschen Waldemare«269 geschlossen an. Der alte Kloeden eröffnete den Zug als Historiker, Willibald Alexis folgte als Romancier, Bernhard von Lepel als Dramatiker. Er schrieb ein Trauerspiel »Waldemar«. An dieses schloß sich Putlitz mit einem Schauspiel unter gleichem Titel.270
Der Bezug auf die Bismarck-Rede dient als Einstieg, weil sich das Phänomen der »Fremdenschwärmerei« nicht nur strukturell, sondern auch zeitgeschichtlich mit der Autoren-Begeisterung für Usurpatoren-Figuren korrelieren lässt. Für die Theaterkritik wird dabei jener Redeabschnitt relevant, in dem Bismarck von »den Zeiten der politischen Unreife«
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tholischsein bei Fontane: Zur Funktion eines Erzählmotivs. In: Fontane Blätter 59 (1995), S. 38 – 58, sowie Helmuth Nürnberger, Ein fremder Kontinent – Fontane und der Katholizismus. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, S. 70 – 87. Siehe auch Eckart Beutel, Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation, Gütersloh 2003 (= Praktische Theologie und Kultur PThK 13), S. 58 – 65. Siehe HFA III/4, S. 1058, und die dazugehörigen Anmerkungen. René Cheval, Fontane und der französische Kardinal. Ein neuentdeckter Briefwechsel (1870 – 75) mit Césaire Mathieu, Erzbischof von Besançon. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 19 – 85, hier: S. 21. 1348 trat ein Pilger auf, der behauptete, der echte Waldemar, Markgraf von Brandenburg, zu sein. Er wurde tatsächlich mit Brandenburg belehnt, aber schließlich als Betrüger entlarvt und 1350 abgesetzt. Nichtsdestotrotz konnte er weiterhin eine Anhängerschaft um sich sammeln (NFA XXII/3, S. 598). NFA XXII/2, S. 385.
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spricht: »[I]ch erinnere mich, in den Jahren 1830 und 1832 […], da war deutsche sentimentale Polenschwärmerei […] ganz allgemein […] und überall gab es wehmüthige und thränenreiche Lamentationen«.271 Fontane lässt hingegen weg, was der Reichskanzler unmittelbar vor dem zitierten Auszug als soziale Gegenwart festhält: »Die Mehrzahl der Deutschen steht auf Seite des Reichs und nicht auf Seite der Polen.«272 Belegt ist, dass Fontane den Kraszewski-Prozess verfolgte, einen Landesverratsprozess, der damals viel Aufmerksamkeit erregte;273 die Verhandlung fand vom 12. bis 19. Mai 1884 vor dem Reichsgericht in Leipzig auf ausdrücklichen Wunsch Bismarcks öffentlich statt, und bereits am 13. Mai 1884 schreibt Fontane an seine Frau: »Der Kraczewskische Prozeß intressirt mich sehr.«274 Den mitangeklagten Hauptmann a. D. Franz Hentsch erwähnt er nicht, beschränkt sich vielmehr auf Józef Kraszewski (1812 – 1887), den gefeierten nationalpolnischen Schriftsteller, der 1863 nach Dresden emigriert war und dort die sächsische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, Verfasser unzähliger Romane,275 Erzählungen und historischer Werke.276 Als er in Verdacht geriet, geheime militärische Informationen an die französische Regierung weitergeleitet zu haben, wurde er 1883 verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt, nachdem während des Prozesses diverse Briefdokumente als belastendes Beweismaterial vorgebracht worden waren. Ausschlaggebend für das Urteil wurde nicht zuletzt ein Schreiben Bismarcks an den preußischen Kriegs271 Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesammtausgabe besorgt von Horst Kohl. Bd. 11: 1885 – 1886, Stuttgart 1894, S. 311 (Achte Sitzung des Reichstags, 1. 12. 1885). 272 Ebd. 273 Vgl. Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit. Nach eigenen Erlebnissen von Hugo Friedlaender, Gerichts-Berichterstatter. Eingeleitet von Justizrat Dr. Sello, Berlin. Bd. 7, Berlin-Grunewald 1920 (darin: »Landesverratsprozeß v. Kraszewski und Hentsch aus dem Jahre 1884«, S. 5 – 62). Ein Hinweis auf diesen Prozess fehlt bisher in der polenthematischen Fontane-Forschung. 274 GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 381. 275 Zwei von ihnen erschienen sogar Ende der 1870er Jahre in deutscher Übersetzung in Reclams Universalbibliothek. 276 Zu Leben und Werk Kraszewskis siehe Erhard Hexelschneider, [Art.] ›Kraszewski, Józef Ignacy (Pseudonyme: Bogdan Bolesławita, Kaniowa, Dr. Omega, Kleofas Fakund Pasternak, JIK, B. B.)‹. In: Sächsische Biografie. Hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., wiss. Ltg.: Martina Schattkowsky. Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi (abgerufen am 11. 2. 2015), sowie [Art.] ›Kraszewski‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890. Bd. 10, S. 165.
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minister Bronsart von Schellendorf, das über ein von Paris aus initiiertes polnisches Kontakt- und Spionagenetzwerk berichtete, mit einem zentralen Nachrichtenbureau in Dresden unter Leitung Kraszewskis.277 »Der Brief Bismarcks im Kraszewski-Prozeß ist hochinteressant«,278 äußert sich Fontane bereits am 15. Mai erneut gegenüber Emilie. Das Schreiben rekurriert auf das anhaltend-subversive Potential der Polen: Die (von Frankreich unterstützten) grenzüberschreitenden polnischen Aktivitäten werden als desintegrative Dauergefahr für Preußen-Deutschland und seine Bündnispartner herausgestellt. Ob Fontane sich mit seinem Vetter Carl Fontane, der 1882 – 1892 verantwortlicher Redakteur der freisinnigen (!) Posener Zeitung war, über das Bismarck’sche Vorgehen austauschte, ist nicht bekannt – die laut Tagebuch wohl rege Korrespondenz der 1880er Jahre ist bis auf ein paar 277 Der Brief wird zitiert in: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. Bd. 7, S. 26 f.: »Ew. Exzellenz. In bezug auf den Fall Kraszewski beehre ich mich, Ew. Exzellenz folgende Mitteilung zu machen. In Paris besteht seit dem Jahre 1864 eine Gesellschaft unter dem Namen ›Towarzystow Zolnierzy-polski‹ (›Polnisch-Militärische Gesellschaft‹). Diese zählt 30 Mitglieder und hat sich, um für die Wiederherstellung Polens zu wirken, zur Aufgabe gemacht: 1. eine Statistik über die Stärke der europäischen Armeen herzustellen, 2. eine Verbindung zwischen Offizieren polnischer Nationalität anzubahnen, welche sich in deutschen, russischen und österreichischen Diensten befinden und 3. bei allen wichtigen europäischen Ereignissen werktätig einzugreifen. Die Gesellschaft hat bereits mehrfach ihre Tätigkeit entfaltet, so im Jahre 1866 bei dem Garibaldischen Freikorps, 1870/71 unter Wolowski in Frankreich, 1877/78 in türkischen Diensten. Im Jahre 1873 wurden sämtliche Mitglieder von dem Chef des Statistischen Bureaus des französischen Kriegsministeriums, Oberst Samuel, zu Spionendiensten benützt. Im Jahre 1877 wurde das Bureau aufgelöst, und Gambetta beauftragte den Wolowski, ein Nachrichtenbureau zu konstituieren, um Mitteilungen über die deutsche, österreichische, russische und italienische Armee zu erhalten. Der Mittelpunkt dieses Bureaus war in Dresden. Kraszewski hatte es übernommen, Nachrichten entgegenzunehmen und sie zu honorieren. Bei Anwesenheit des Kraszewski in Pau und Tarmer verkehrte er mit Samuel und wurde von diesem Herrn dem Minister Ferry vorgestellt, der ihm eine Dekoration versprach. Als die Verhaftung Kraszewskis in Paris bekannt wurde, ließ General Thibaudin bei dem Baron v. Erlanger Haussuchung halten, da letzterer im Verdachte steht, deutscher Agent zu sein. Um jedoch dieses Motiv zu verdecken, gab man an, es handle sich um die Untersuchungsangelegenheit der ›Union générale‹. Gambetta hatte außerdem in Wien einen Agenten, namens Wolowski, der seinem in Paris lebenden Bruder die für die französische Regierung bestimmten Nachrichten übersandte. Ergebenst: ›Bismarck.‹«. Fontane hat den Brief vielleicht nur in der Zusammenfassung der Vossischen Zeitung gelesen (in Ausschnitten zitiert in GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 687). 278 GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 384.
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einzelne Briefe, die keine Polenbezüge aufweisen, (nach derzeitigem Stand) nicht erhalten.279 Bekannt ist, dass Carl Fontane dezidiert polonophile Anschauungen hegte; scharf äußerte sich dieser beispielsweise gegenüber Fontanes Sohn Friedrich am 6. Dezember 1909 zur deutsch-nationalen Ostmarken-Propaganda.280 Ein Jahr später verkaufte er sein Haus in Swersenz an einen Polen, sehr zum Missfallen des örtlichen Bürgermeisters, der meinte, dass »leider wieder ein Grundstück aus deutschem Besitz in polnische Hände übergegangen wäre«.281 Ein polenthematischer Dialog zwischen Theodor und Carl Fontane hätte demnach über – (partiell) übereinstimmende oder abweichende? – Positionen Auskunft geben können, muss freilich bis auf weiteres im Bereich des Spekulativen verbleiben. 1887 plädierte Theodor Fontane mit Blick auf Elsass-Lothringen, das 1871 an das Deutsche Reich abgetreten wurde und dessen Annexion er durchaus begrüßte,282 für eine »allmählich[e]«283 Integration der Bevölkerung. Selbst der ›Sonderfall‹ einer Rückeroberung von »Gefühle[n]«,284 nachdem Elsass-Lothringen zwei Jahrhunderte zu Frankreich gehört hatte, bildet keine geschwindigkeitssteigernde Ausnahme. Grenzbildungsprozesse, bei denen immer gewachsene Geschichts- und Erinnerungsräume 279 Vgl. GBA Tage- und Reisetagebücher, Bd. 2, S. 146, 185, 188, 191, 193, 198. Zu Carl Fontane ausführlich Płomin´ska-Krawiec, Die Posener Jahre des Redakteurs, Schriftstellers und Stadtverordneten Carl Fontane. 280 Vgl. »Meine alte ›Posener Zeitung‹, zu meiner Zeit d. angesehenste Blatt […], ist völlig heruntergewirtschaftet. Das agrarische ›Posener Tageblatt‹ widert mich durch seine systematische, durchaus verderbliche Polenhetze an« (zitiert nach Brandenburgische Landes- und Hochschulbibliothek Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam, Bestandsverzeichnis. Teil 1,1: Theodor Fontane, Handschriften. Briefe, Gedichte, Balladen, Märkisches, Aufzeichnungen und Dichtungen aus dem Familienund Freundeskreis, Kritiken zur Literatur und zum Theater, Apothekerzeugnisse, Werke aus der Handbücherei Fontanes. Abschriften aus dem Familiennachlaß. Familienandenken, Bilder, Gelegenheitsdrucke, Erinnerungsstücke. Vertonte Lieder und Balladen. Mit Faksimiles aus dem Fontane-Archiv. Bearb. von Joachim Schobeß, Bibliothekar, Potsdam 1962, S. 151). Der Brief wird nicht erwähnt bei Płomin´skaKrawiec, Die Posener Jahre des Redakteurs, Schriftstellers und Stadtverordneten Carl Fontane. 281 Zitiert nach Płomin´ska-Krawiec, Die Posener Jahre des Redakteurs, Schriftstellers und Stadtverordneten Carl Fontane, S. 78 (Personenakten C. Fontanes aus dem Posener Stadtarchiv). 282 Storch, Theodor Fontane und die Reichsgründung, S. 59 – 62. 283 Fontane an Heinrich Kruse, 24. 5. 1887 (HFA IV/3, S. 536). 284 Ebd.
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betroffen sind, anerkennt Fontane als solche von langer Dauer.285 Unter diesen Vorgaben müsste auch die integrationsfeindliche Polenpolitik Bismarcks, die durch eine Häufung von Maßnahmen eine rasche Eindämmung jeglichen ›Polonismus‹ bezweckte, unweigerlich auf den Prüfstand kommen. Max Lesser, Berliner Theaterreferent für das Neue Wiener Tagblatt und mit Fontane persönlich bekannt, will sich rückblickend 1937 daran erinnern, dass Fontane einen »sehr kritischen Standpunkt zu den damaligen Polen-Gesetzen einnahm«.286 Dies scheint – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt einer Politik der offensiven Beschleunigung – durchaus plausibel, auch wenn Lessers Erinnerungen insgesamt keine verlässliche Quelle darstellen, weil sie an verschiedenen Stellen nachweislich Irrtümer enthalten.287 Der Brief, den Fontane nach Lessers Angaben in der Kreuzzeitung mit kritischer Stoßrichtung gegen die Bismarck’sche Polenpolitik veröffentlicht haben soll, ließ sich bis jetzt nicht eruieren.288 Auch wenn sich zur tagesaktuellen Polenpolitik nach der Reichsgründung in Fontanes Briefwerk, autobiographischen Zeugnissen und journalistischen Texten keine expliziten Stellungnahmen finden: Polen285 Vgl. zu diesen Prozessen Etienne François, Jörg Seifarth und Bernhard Struck, Einleitung. Grenzen und Grenzräume: Erfahrungen und Konstruktionen. In: Dies. (Hrsg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 7 – 29, hier: S. 13. 286 [Max Lesser,] Max Lesser über Theodor Fontane. Zwei Briefe an Henry H. H. Remak. 1937 und 1938. Mitgeteilt und kommentiert von Frederick Betz. In: Fontane Blätter 25 (1977), S. 11 – 19, hier: S. 13. 287 Vgl. die Anmerkungen von Betz zu Lessers Briefen (ebd., S. 16 – 19). 288 Vgl. [Max Lesser,] Max Lesser über Theodor Fontane, S. 13: »Ungefähr in dieser selben Zeit veröffentlichte die Kreuz-Zeitung einen Brief von Fontane, den ich jahrelang aufbewahrte, der mir aber leider abhanden gekommen ist. An wen der Brief gerichtet war, weiß ich nicht mehr, sein Inhalt war aber höchst bedeutend und stand im starken Gegensatz zu der damaligen anti-polnischen Bewegung im politischen Leben. […] Fontane äußerte darin merkwürdig offen und höchst pessimistisch seinen Zweifel an einem dauernden Erfolge der Bismarckschen PolenPolitik. Der Brief kam ungefähr darauf hinaus, dass ein Windstoß genügen werde, das anscheinend so stolze Gebäude der preußischen Polen-Politik zu zerstören.« Die Theodor Fontane Bibliographie führt keinen derartigen Beitrag auf. Der Veröffentlichung in der Kreuzzeitung scheint zudem Fontanes mittlerweile ruiniertes Verhältnis zu diesem Blatt zu widersprechen (vgl. z. B. »Mit ›Post‹ und ›KreuzZtng‹ bin ich fertig, wie sie mit mir«, Brief an Wilhelm Hertz vom 26. 9. 1885, HFA IV/3, S. 428) sowie eine Tendenz, sich in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zurückzunehmen, die den Fontane’schen Briefen dieser Zeit zu entnehmen ist. Laut Tagebuch hat Fontane die Kreuzzeitung zum 1. 7. 1885 abbestellt (GBA Tageund Reisetagebücher, Bd. 2, S. 227).
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thematisches taucht an verschiedenen Stellen auf – nicht zu vergessen, dass zeitgleich zu den antipolnischen Maßnahmen der 1880er Jahre zwei Romane Fontanes veröffentlicht wurden, in denen polnische (oder als polnisch klassifizierte) Figuren eine zentrale Rolle einnehmen, nämlich Unterm Birnbaum (1885) und Cécile (1887). Polnische Themen werden demnach signifikant in den Bereich des Fiktionalen verlagert. Während jedoch der Romanautor eine Vorliebe für polnisch-preußische Erzählstoffe besitzt, und er darüber hinaus Polenfiguren seit seinem ersten Roman Vor dem Sturm (1878) vorwiegend zu textuellen Sympathieträgern macht, geht der Erholung suchende Kurgast Fontane den Polen, eingedenk bestehender nationaler Spannungen, lieber aus dem Weg: In einem ReisetagebuchEintrag vom Juli 1872 registriert er jedenfalls mit Unbehagen die große Anzahl polnischer Gäste im schlesischen Bad Salzbrunn: Denn dadurch werde »es – bei allem Respekt vor diesen – für einen Deutschen nicht gerade angenehmer«.289 Ungeachtet dessen kommen die Polen aber letztlich zu ihm. Über zwanzig Jahre später, 1894, wundert sich das Sprecher-Ich Fontane in seinem Gedicht Als ich 75 wurde / An meinem 75ten mit den berühmten Schlussworten »kommen Sie, Cohn« über die ausbleibenden Gratulationen des preußischen Adels, während andere – unter ihnen befinden sich »[a]uch Pollacks und die noch östlicher wohnen«290 – die Glückwünsche überbringen. Fast unbeachtet blieb bislang291 eine Figuration des Polnischen im autobiographischen Werk Fontanes, die im Rahmen möglicher Positionierungen innerhalb des preußisch-polnischen Kräftefelds nach 1870 von polnischer (Teil-)Anpassung ans Preußische zeugt, ja die ›gemeinsame Sache‹ herausstellt: Gemeint ist der polnische Bursche »Rasumofsky«, den Fontane während seiner dreiwöchigen Inhaftierung auf der Atlantikinsel Oléron im November 1870 zugeteilt bekommt und der ihm »auf der Stelle« (KG, S. 626)292 gefällt.293 Im autobiographischen Erzähltext Kriegsgefangen. 289 GBA Tage- und Reisetagebücher, Bd. 3, S. 138 (Notizbuch A 10). Dazu auch Pacholski, Theodor Fontanes Schlesienreise von 1872, S. 119. 290 GBA Gedichte, Bd. 2, S. 467. 291 Mit Ausnahme des entlegen publizierten (und leider mit vielen Druckfehlern erschienenen) Beitrags von Schumann, ›Die große Front der slavischen Welt‹, der zumindest referierend auf Kriegsgefangen eingeht. 292 Zitiert wird hier und im Folgenden mit Sigle (KG) und Seitenzahl nach HFA III/4. 293 Bei Recherchen für sein drittes Kriegsbuch wurde Fontane unter Spionageverdacht in Domrémy verhaftet. Trotz eines Freispruchs wurde er wegen der Bekanntschaft mit »vielen preußischen Offizieren« sowie wegen seiner »militärische[n] Augen« (KG, S. 588) nicht entlassen und stattdessen auf die Atlantikinsel gebracht –
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Erlebtes 1870 (1871) ist dem Burschen ein eigenes Kapitel im Abschnitt »Ile d’Oléron« gewidmet. Die Begegnung mit Max Rasumofsky, »Husar, Pole, Schneider« (ebd.), wird dabei narrativ ganz in das Modell des ›Idylls‹ eingefügt, das Fontane für den Text Kriegsgefangen insgesamt in Anspruch nimmt, wie er dem Verleger Rudolf von Decker schreibt: »Die Leute erwarten eine haarsträubende Räubergeschichte mit Hungerturm und Kettengerassel, und was ich ihnen zu bieten habe, ist zu neun Zehntel ein Idyll.«294 Das polnisch-preußische Aufeinandertreffen von Rasumofsky aus Posen und Fontane manifestiert sich demgemäß im Text primär als das kriegsgefangener preußischer Staatsbürger: So sind sich beide in den »politischen Anschauungen« (KG, S. 629) insofern einig, als dass sie Frieden wünschen (dies ist vorrangig)295 und Weihnachten zu Hause sein möchten. Sehnsuchtsobjekt Rasumofskys ist der »erste[] preuß’sche[] Kaffee« (KG, S. 671); und wenn ihn als Angehörigen der preußischen Totenkopfhusaren Erinnerungen an daheim überkommen, dann betreffen sie seinen Rittmeister in der preußischen Provinz Posen: »[A]ch, Herr Leutnant [i. e. Fontane, A. D.],296 das is ja, als ob ich meinen Rittmeister reden hörte. Grade so war es in Posen.« (KG, S. 672) Und doch behauptet der autobiographische Erzähler Fontane, von den »drei Kardinal-Eigenschaften [Husar, Pole, Schneider, A. D.] meines Burschen, um derentwillen ich ihn überhaupt engagiert hatte«, auch »den Polen« (KG, S. 678) kennengelernt zu haben. Die Eigenschaften, die zu dieser Zuordnung führen, lassen sich im Rasumofsky-Kapitel als Variation des Nationalstereotyps immerhin im privilegierten Rang eines »officier supérieur« (ebd., S. 589). Daher stand ihm auch ein Bursche zu. 294 Fontane an Rudolf von Decker, 13. 12. 1870 (HFA IV/2, S. 364). Gegenüber seiner Frau verwendet Fontane (wohl im Hinblick auf Stoffauswahl und ästhetische Verfahren) den Begriff des »Romans«: »Es liest sich wie ein Roman, der es ja auch eigentlich ist.« (Brief vom 13. 11. 1870, GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 2, S. 542) 295 Rasumofsky scheint es – so vermutet Fontane – allerdings keine patriotische Herzensangelegenheit zu sein, welche Gebiete sich Preußen bei einem Frieden sichert: »Ob dabei Straßburg und Metz wieder an Deutschland kommen, oder nur eins von beiden, hat uns noch nicht lebhaft beschäftigt, am wenigsten entzweit. Ich habe ihn in Verdacht, daß er eine mehr als ruhige Position zu dieser Frage einnimmt.« (KG, S. 629) 296 Rasumofsky nennt Fontane stets »Leutnant« (KG, S. 629), nicht Offizier – eine Degradierung, die poetisch ›aufgelöst‹ wird: »Ich habe dieser Tatsache gegenüber den einzigen, leidigen Trost, daß sich alle Dinge im Leben nach einem Ausgleichungsprinzip regulieren, und daß ich, vom Feinde ohne Verdienst und Würdigkeit zum Officier supérieur ernannt, in dieser Degradierung sich nur ein Gesetz ewiger Gerechtigkeit vollziehen sehe.« (Ebd.)
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›polnische Wirtschaft‹ (im Sinne einer vernachlässigten Hauswirtschaft)297 identifizieren: Es geht ein leiser Zug von Inkorrektheit durch unsern gesamten Wandel hier, und so kann es nicht überraschen, daß in dem Verhältnis zwischen Rasumofsky und mir manches bloß auf den Schein gestellt ist. […] Dieser Schein tritt in nichts so hervor wie in der Kleiderreinigungsfrage. (KG, S. 628)
Das »Schauspiel« (KG, S. 629) einer vorgeblichen Reinigungsprozedur, das Rasumofsky allmorgendlich vollzieht und das eigentlich nur ein Herausund wieder Hereintragen der Kleider ist, setzt sich bei der Zimmerreinigung fort: Sie ist nichts als eine Zimmerlüftung. ›Inkorrekt‹ sind zudem illegale Beschaffungen, bei denen Rasumofsky »in echter Burschentreue« (KG, S. 627) große Findigkeit an den Tag legt: »Es tauchen Schuhbürsten, Teelöffel, Lichtscheren auf, deren Ursprung nachzuforschen ich wohlweislich unterlasse; seine eigentlichste Begabung zeigt er aber im Anfahren von Holz.« (Ebd.) Der Pole kann also – dies wurde offenbar bei seiner Einstellung mit einkalkuliert – mit seinen ambivalent gewerteten »Kardinal-Eigenschaften« sehr zum Wohl eines preußischen Kriegsgefangenen beitragen. Die ›polnische‹ Norm-Abweichung wird genutzt und gewissermaßen (auch narrativ) gebändigt. Am Ende hat Fontane seine Wahl nicht bereut (siehe KG, S. 626). Als er von seiner baldigen Freilassung erfährt, bietet er dem preußischen Polen Rasumofsky, der ahnt, »daß seine guten Tage nunmehr gezählt seien« (KG, S. 674), nachdem man wochenlang »gut, einträchtig, friedfertig« (KG, S. 629) Neuigkeiten, Mahlzeiten und Cognac miteinander geteilt hatte, tröstend ein Wiedersehen in Preußen an: »Sie werden mich in Berlin besuchen. Tag oder Nacht, alles ganz egal. Sie sollen Kaffee haben.« (KG, S. 674)298 297 Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 26. Ausführlicher wird auf dieses Stereotyp noch im Folgenden eingegangen. 298 1874 erwähnt Fontane den Burschen noch einmal in einem Brief an seine Frau: »[I]ch machte draußen [auf dem Kutschbock, A. D.] die Bekanntschaft des Postillons, der bei den schwarzen Husaren in Posen gestanden hatte und natürlich meinen Rogerowski kannte.« (Brief vom 23. 4. 1874, GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 12 f.) Die Namengebung ›Rogerowski‹ wird auf eine fehlerhafte Abschrift zurückgeführt (vgl. den Kommentar ebd., S. 565). Dem widerspricht ausdrücklich Schumann, ›Die große Front der slavischen Welt‹, der im Gegenteil davon ausgeht, dass ›Rasumofsky‹ lediglich ein schützendes Pseudonym für ›Rogerowski‹ sei: »[K]ein Mensch heißt Max Rasumofsky, auch kein polnischer schwarzer Husar aus dem Posenschen! Der letzte Hetman der Ukraine im 18. Jahrhundert trug den Namen Rasumowsky« (ebd., S. 239). Diese Ansicht wird von einem Notizbucheintrag Fontanes vom 28. 11. 1870 (Notizbuch D 6) aus der Kriegsgefan-
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Dass der Pole Rasumofsky vor seiner Gefangennahme ein schneidiger Soldat war, ist für den autobiographischen Erzähler Fontane »so gut wie gewiß« (KG, S. 627). Überhaupt werden polnische Soldaten bei ihm dominant als heldenmütig-tapfere Kämpfer konzeptualisiert: Im Kriegsbuch Der deutsche Krieg von 1866 (erster Band erschienen 1870, zweiter Band 1871), wo Polen als Teil der österreichischen Gegnerarmee auftreten, während auf der preußischen Seite keine polnischen Soldaten erwähnt werden, also das Konstrukt einer militärisch-nationalen Einheit vorgeführt wird, ist mal von ihrer »große[n] Gewandtheit in Führung ihrer Waffe«299 die Rede, mal von ihrer Weigerung, »sich zu ergeben«.300 Freilich impliziert diese Darstellung polnischer Tapferkeit auch eine entsprechende Leistungsbewertung der letztlich siegreichen preußischen Truppen.301 Neben den polnischen Soldaten, die dem populären Typus des heldenmütigen ›edlen Polen‹ nachgebildet sind, unterliegen die polnischen Frauen bei Fontane einer (fast) uneingeschränkten Positivbewertung. Zwar mag ein polnisches Dienstmädchen ausschließlich deshalb gelitten sein, weil es »wenigstens Karpfen kochen [kann], was ja in der Weihnachtszeit etwas bedeutet«, während es ansonsten »nur unvollkommen« zufriedenstellt (der Terminus ›polnische Wirtschaft‹ wird in diesem Briefzitat allerdings vermieden),302 die polnischen Damen der gehobenen (bürgerlichen oder adeligen) Gesellschaft hingegen bestechen durch Kleidung und Habitus und stellen gegenüber ihren preußischen Geschlechtsgenossinnen die favorisierte Alternative vor. Drei Zitate aus Briefen Fontanes von 1880, 1883 und 1889: Gestern um 4 bin ich glücklich aber freilich stark in perspiration hier [in Bremen, A. D.] eingetroffen. […] Unterwegs hatte ich mich mit meinen drei Damen, Polinnen, angefreundet. Sie waren alle drei sehr nett […]. Es ist doch kein leerer Wahn, was von der Liebenswürdigkeit und einem eigenthümlichen »charme« der Polinnen gesagt wird. Die Deutschen mit ihrer »ewigen Ord-
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genschaft gestützt, in dem von seinem Burschen ›Rogerowski‹ die Rede ist (siehe GBA Tage- und Reisetagebücher, Bd. 3, S. 164). Der deutsche Krieg von 1866. Von Th. Fontane. Mit Illustrationen von Ludwig Burger. Bd. 1: Der Feldzug in Böhmen und Mähren, Berlin: Verlag der königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei (R. v. Decker) 1870, S. 461. Ebd., S. 368. Siehe Jan Pacholski, Der Archetypus des Polen in Fontanes Kriegsbüchern und den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Balzer und Hałub (Hrsg.), Wrocław – Berlin, S. 31 – 36, sowie (den genannten Beitrag fast wortwörtlich wiederaufnehmend) ders., Das Polenbild in Fontanes Kriegsbüchern. Fontane an seinen Sohn Friedrich, 23. 12. 1884 (HFA IV/3, S. 370).
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nung« kann ich nicht als das Ideal der Schöpfung ansehn. Es ist gerade gut genug für den Alltag und – die Langeweile.303 Ich befreundete mich [auf dem Schiff von Emden nach Norderney, A. D.] erst mit einer sächsischen Familie aus Weißenfels, dann mit einer jüdisch-polnischen aus Posen oder Warschau. […] Die jüdisch-polnischen Leute verfügten über einen reizenden Sprachenfond (auch wohl noch über andre Fonds); unter sich sprachen sie polnisch, was beiläufig sehr schön klingt, mit der Erzieherin französisch, und mit dem Rest der Menschheit deutsch. Die alte Dame war sehr verbindlich gegen mich.304 Ewig nehmen wir das Maul voll, ewig bilden wir uns ein, »daß alles bei uns am besten sei«, und in Wahrheit ist alles am schlechtesten. […] Die schofelsten, d. h. die gleichgültigsten Toiletten, die man hier [in Bad Kissingen, A. D.] sieht, stammen alle aus Berlin; was schön, reich, chic ist, fängt erst bei den Wienern und Engländern und vor allem bei den Polen und Russen an. Und fast das gleiche läßt sich – natürlich mit Ausnahmen – von den Menschen sagen. Welche inferiore Rolle spielt die »Berliner Madamm«, nicht einmal unsre reichen Jüdinnen können sich, auch nur annähernd, neben ihren Kolleginnen aus Odessa, Petersburg, Wilna, Lodz etc. behaupten.305
Fontane misst gleich im ersten Ausschnitt seine Erfahrungen zustimmend an dem, »was […] gesagt wird«, referiert also auf das spätestens seit dem 18. Jahrhundert geläufige, erotisch konnotierte Stereotyp der ›schönen Polin‹306, dessen breite Streuung in unterschiedlichsten Textsorten Hubert Orłowski in seiner Studie ›Polnische Wirtschaft‹ nachgewiesen hat.307 Anders als etwa bei Bismarck, der 1886 die »Liebenswürdigkeit«308 der Polinnen in ihren »gefährlichen Wirkungen«309 für Preußen brandmarkt, weil er in ihr die Gefahr einer unerwünschten politischen Einflussnahme sieht, wird die schöne Polin in den Briefausschnitten Fontanes – frei von politischen Konnotationen – als reizend-charmanter oder aber als elegant-attraktiver Weiblichkeitstyp vorgeführt, an dem sich die Preußinnen ein 303 Fontane an seine Frau Emilie, 17. 7. 1880 (GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 217). 304 Fontane an seine Frau Emilie, 19. 7. 1883 (GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 341). 305 Fontane an Moritz Lazarus, 8. 7. 1889 (HFA IV/3, S. 704). 306 Oder in Heinrich Heines Worten: der »Weichsel-Aphrodite« (Heinrich Heine, Über Polen [1823]. In: Ders., Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 2: Hrsg. von Günter Häntzschel. 3., durchges. und erg. Aufl., München 1995, S. 69 – 95, hier: S. 82). 307 Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 215 – 231. 308 Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Bd. 11, S. 464 (Rede vom 29. 1. 1886 im Preußischen Landtag). 309 Ebd.
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Beispiel nehmen sollten.310 Aus dem kritischen Diktum von den Deutschen und ihrer »ewigen Ordnung« ergibt sich auf geschlechtsspezifischer Ebene die Implikation einer positiv bewerteten polnischen ›Unordnung‹ im Sinne eines erotischen Potentials, das die Abweichung von »Alltag« und »Langeweile« verspricht.311 Insofern liefert die schöne Polin, die »ein beliebtes Objekt (deutscher) Männerphantasien […] zu sein [scheint]«,312 auch den Stoff, den Fontane narrativ ausagieren kann: Sowohl Kathinka in Vor dem Sturm als auch Cécile partizipieren an ihrem Merkmalskatalog. Es fällt auf, dass in Fontanes lobender Rezension des Erfolgsstücks Die Quitzows von Ernst von Wildenbruch (Uraufführung November 1888)313 ausgerechnet die schöne Polin des Schauspiels keine Rolle spielt: Barbara von Bug, natürliche Tochter König Jagellos von Polen, die sich im Kampf um die Vorherrschaft in Brandenburg in der Zeit um 1415 auf die Seite des landsässigen Dietrich von Quitzow stellt (und damit gegen den landfremden ersten Hohenzollern Friedrich I.), spart Fontane aus. Er hebt nur den »großen, einfachen, knappen Stil«314 des zweiten Akts hervor, in dem Barbara ihren ersten und längsten Auftritt hat: als erotische Verführerfigur, 310 Vgl. auch Fontanes Gedicht Berühmte Männer in Kissingen (1891?), das nur in einer Internetveröffentlichung von Helmuth Nürnberger zugänglich ist (›Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen‹, URL: http://www.luise-berlin. de/lesezei/blz01_05/text10.htm, abgerufen am 11. 2. 2015) und wo es in der dritten von vier Strophen in der siebten Zeile heißt: »Ich seh wie die Gäste gekleidet (die Polinnen sehr gewählt!)«. 311 In seiner Theaterkritik aus dem Jahr 1882 zu Wilhelm Langes Der Mentor, ein frei aus dem Polnischen übersetztes Lustspiel des Grafen Aleksander Fredro (1793 – 1876), differenziert Fontane zwischen polnischer und deutscher Koketterie – sein ausdrückliches Interesse gilt dem, was er als gesteigerte polnische Variante ausmacht: »Fräulein Meyers Olga von Bohlen [die Rolle einer jungen Witwe, A. D.] interessierte mich insoweit, als sich in dieser Schöpfung des Dichters etwas Fremdländisches, etwas polnisch Nationales erkennen ließ. Die Formen weiblicher Koketterie sind bekanntlich überall verschieden und repräsentieren eine vollkommene Skala. Das Taschentuch, das zu Boden fällt, ist auch in Deutschland über Gebühr in Brauch; aber eine Nadel suchen lassen, die man nicht verloren hat, und gleich danach um ein Tabouret bitten, erst um den Fuß zu zeigen und dann um sittlich empört zu sein, wenn dieser Fuß seine Schuldigkeit, will sagen, seine Wirkung getan hat, das sind Formen der Koketterie, zu denen sich die hierlandes übliche ›junge Witwe‹ noch nicht voll hinaufgearbeitet hat.« (NFA XXII/2, S. 112 f.) 312 Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 227. 313 Fontane sieht in den Quitzows u. a. wegen ihrer dramatischen Gestaltung und wegen ihrer Figurenzeichnung ein »Genialitätsstück« (NFA XXII/2, S. 578), während er sich zuvor oft ablehnend zu Wildenbruch geäußert hat. 314 NFA XXII/2, S. 579.
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die im freiheitlich gesinnten Dietrich von Quitzow ungeachtet ihrer antideutschen Vorurteile einen leidenschaftlichen Wesensverwandten findet. Kritisch beurteilt Fontane hingegen die zweite Hälfte des vierten und letzten Aktes (und erst in diesem Teil taucht auch die Figur Barbara wieder auf ), da er hier »den alten Wildenbruchschen Fluch, die Phrase«315 durchkommen sieht; überhaupt »wimmelt [es] von angreifbaren und noch mehr von aus den verschiedensten Gründen in Frage zu stellenden Stellen« im Stück.316 Man kann darüber spekulieren, ob er damit auch die antipolnischen Versatzstücke im Text meint, jene Passagen, in denen Konrad von Quitzow seinen Bruder Dietrich, der für sein Kriegsunternehmen polnische Hilfe annehmen will, als »Jagello=Knecht«317 denunziert, ihm die Entehrung »des Deutschen Namens« vorwirft, »da Du ein Slave wardst«.318 Jedenfalls mengt sich in das Gegeneinander zweier antagonistischer Herrschaftsprinzipien, das in den Quitzows zur Geltung kommt, nämlich Legitimität und Gesetz (Durchsetzung der Hohenzollern, was Konrad letztlich anerkennt) vs. freiheitliches Selbsthelfertum (Dietrich von Quitzow), eine auffallende antipolnische Dynamik. Ohne konkreter zu werden, kommt Fontane 1891 in einem Brief an seine Tochter erneut auf den vorhandenen »Unsinn« in den Quitzows zu sprechen, dem er nur »Indemnität« erteile, weil »so viel von Genialem« da sei.319 Während die schöne Polin Barbara in der Rezension nicht erwähnt wird, ist sie im fiktiven Text – in Die Poggenpuhls (1896) – gleich zweimal Redegegenstand. Nachdem der Generalmajor a. D. Eberhard von Poggenpuhl mit seinen drei Nichten Therese, Sophie und Manon und seinem Neffen Leo im winterlichen Berlin eine Aufführung der Quitzows besucht hat, versammelt man sich in einem Theaterrestaurant, wo der General umgehend auf seine Favoritin zu sprechen kommt: »[…] Am besten hat mir die polnische Gräfin gefallen, ich glaube Barbara mit Namen, eine schöne Person, das muß wahr sein. Auf dem Zettel stand: ›Natürliche Tochter König Jagellos von Polen.‹ Will ich gern glauben; sie hatte so was, Augen wie Kohlen. Und dieser Dietrich; alle Wetter, muß der verwöhnt gewesen sein, um solche polnische Königstochter so abfallen zu lassen. […]«320 315 Ebd., S. 580. 316 Ebd. 317 Ernst von Wildenbruch, Die Quitzow’s. Schauspiel in vier Akten, Berlin 1889, S. 191. 318 Ebd., S. 190. 319 Brief vom 21. 2. 1891 (FMF, S. 393). 320 GBA Die Poggenpuhls, S. 49.
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In der Tat lehnt Dietrich von Quitzow eine Eheschließung mit Barbara ab, weil er die Brautwerbung beim polnischen König und damit eine Abhängigkeit von dessen Gnade bzw. Zustimmung nicht mit seinem Stolz vereinbaren kann.321 Dietrich und Barbara bleiben in freier, normverletzender Liebe verbunden, die jedoch – wie im realistischen Literatursystem üblich –322 mit dem Tod (hier dem von Dietrich) sanktioniert wird. Auf die Worte des Generals kommt nur ein Kapitel später noch einmal Leo von Poggenpuhl zurück, als er, wieder daheim, seiner Mutter von dem Theaterabend mit Onkel Eberhard berichtet: »[…] Am meisten gefallen hat ihm offenbar eine hübsche Gräfin, eine gewisse Barbara, die bei den Pommernherzögen das Mindeste zu sagen gut angeschrieben stand und es nun auch mit unserm Dietrich von Quitzow versuchen wollte. Aber da kam sie schön an. Die Mark vertrat schon damals die höhere Sittlichkeit, also dasselbe, wodurch sie später so groß geworden ist.« […] »Und der Onkel zeigte auch darin wieder seine pommersche Abstammung, daß er gleich in hellen Flammen stand, und […] auf der Stelle wissen wollte, wer denn eigentlich die Gräfin sei. Das heißt, die Schauspielerin, die die Gräfin gab.«323
Die Parteinahme des Onkels wird mit seiner pommerschen Herkunft (die Figur der Barbara in den Quitzows ist zunächst mit einem PommernHerzog liiert) begründet und zugleich dadurch abgeschwächt, dass das Interesse Eberhards eigentlich der Schauspielerin gelte. Leos Verdikt über die polnische Gräfin »Aber da kam sie schön an« beruht freilich auf einem falschen Postulat, denn es ist nicht Dietrich, bei dem Barbara aus Gründen »höhere[r] Sittlichkeit« auf Ablehnung stößt, sondern dessen Bruder Konrad. Wenn in den Poggenpuhls die polnische Königstochter zum Gesprächsgegenstand einer »schöne[n] Geschichte«324 wird, dann nur im Narrativ eines Für und Wider: Dem normgefährdenden erotischen Vereinnahmungspotential einer (Bühnen-)Polin, dem jemand wie Onkel Eberhard erliegen kann, wird der Sittlichkeitsstandpunkt, wie er gemäß Leo den preußischen Raum bestimmend reguliert, entgegengestellt.
321 Siehe Wildenbruch, Die Quitzow’s, S. 83. 322 Marianne Wünsch, Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In: Michael Titzmann (Hrsg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33), S. 187 – 203, hier: S. 195. 323 GBA Die Poggenpuhls, S. 61. 324 Ebd.
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Dass Fontane wiederholt implizit oder explizit auf das Bedeutungsfeld der ›polnischen Wirtschaft‹ rekurriert, hat sich bereits an so unterschiedlichen Texten wie der Soll-und-Haben-Rezension oder Kriegsgefangen gezeigt. Bekanntlich konnte sich die ›polnische Wirtschaft‹ als Schlüsselstereotyp im deutschen Polendiskurs einen vitalen Platz sichern, wohl auch, weil sich mit dem deutschen Begriff ›Wirtschaft‹ mikro- und makroökonomische Strukturen gleichermaßen erfassen lassen: die Hauswirtschaft ebenso wie die Staatswirtschaft.325 Der Kern des Stereotyps liegt in der Bündelung von Negativmerkmalen wie Unordnung und Schlamperei, Verschwendung und Leichtsinn, Ineffizienz und Rückständigkeit, in Bezug auf das ›einfache Volk‹ auch Unsauberkeit.326 Zwar hat die ›polnische Wirtschaft‹ historische Wurzeln, die in zeitlicher Nähe zum Verfall der polnischen Staatlichkeit anzusiedeln und mit der Perspektive der deutschen Aufklärung zu korrelieren sind. Doch sie etablierte sich als ein Begriff von Dauer, vielfältig funktionalisierbar und instrumentalisierbar. Abstand zu nehmen ist von einer (vorschnellen) terminologischen Gleichsetzung von Stereotyp und abwertendem Vorurteil.327 Stereotype können auch positiv sein328 (wie dies beispielsweise in Fontanes Konzept der ›schönen Polin‹ deutlich wird) und erlauben zuerst einmal »nicht ohne weiteres einen Rückschluß auf Einstellungen – also auf die affektive Ebene der Vorurteile – desjenigen, der sie benutzt«.329 Nationale Stereotype, die wie andere Stereotype zum tradierten und verbreiteten kollektiven Wissen gehören,330 sind vielmehr – so Ruth Florack – »konstante[], wahrnehmungsresistente[] und polyfunktionale[] Muster, mit denen kulturelle Differenzen im nationalen Maßstab erfaßt werden«.331 Sie werden verwendet, schon weil sie als komplexitätsreduzierte Wahrnehmungsschemata für den Einzelnen eine zentrale Orientierungs- und Kommunikationsfunktion erfüllen.332 Ihre »Unschuld« geht erst dann verloren, wenn sie sich 325 Zum Stereotyp der polnischen Wirtschaft im deutschen Polendiskurs der Neuzeit siehe ausführlich Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, insbesondere S. 47 – 80 und 319 – 346, bzw. zusammenfassend Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹, S. 269 – 279. 326 Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, passim. 327 Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der Forschung zum »Polenbild« bei Fontane, die diese Unterscheidung nicht trifft. 328 Florack, Bekannte Fremde, S. 36. 329 Ebd., S. 37. 330 Ebd., S. 60. 331 Ebd., S. 232. 332 Ebd.
2.3 Reichsgründung und Polenfrage: Zur Fragilität nationaler Ordnungen
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zu Freund-Feind-Dichotomien verfestigen, wenn sie soziale oder politische Diskriminierung rechtfertigen.333 Mit Rudolf Jaworski ist es gerade die »ambivalente Struktur nationaler Stereotypen [sic!]«,334 die es ermöglicht, dauerhaft und unabhängig von politischen Rahmenbedingungen »an alten Klischees festzuhalten«,335 weil ein zugeschriebenes Merkmal mal positiv und mal negativ bewertet werden kann. Der jeweilige Stellenwert eines Stereotyps ergibt sich mithin stets aus dem konkreten Text- und Verwendungszusammenhang.336 Dies wird auch bei folgender Empfehlung deutlich, die Paul Heyse am 24. April 1885 von Fontane im Hinblick auf eine geeignete literarische Stoffwahl erhält: Eine wahre Stoff-Fundgrube für Dich würde die Epoche von 73 bis 95 sein, die Zeit der verschiedenen Theilungen Polens. Das gäbe dann auch was Malerisches und Poetisches [dazu Fußnote Fontanes: »Nur alles zu vermeiden, was an Demetrius und Reichstag in Krakau erinnern könnte. Dann ist man verloren.«337], da ja die Flöhe etc., die uns den Osten strenger als nötig beurtheilen lassen, nicht mit aufzutreten brauchen. In diesem Ulk liegt wirklich ein Stück erwägungswerthe Wahrheit. Wir stehen zu sehr unter dem englischen SeifenEinfluß und vergessen drüber, daß ungewaschene Menschen mindestens so poetisch sind wie gewaschene.338
Implizit wird hier auf das Stereotyp der ›polnischen Wirtschaft‹ Bezug genommen. Fontane knüpft an vorgängiges Wissen des Lesers im Sinne »quasi unreflektierte[r] ›Volksweisheiten‹«339 an; nicht in Rede steht, ob sie richtig sind oder falsch. Die ›ulkige‹ Ausstellung polnischer Unreinlichkeit soll stattdessen einem möglichen Einwand gegen das ›Poetische‹ der Stoffwahl vorbeugen: Zwar kann der Dichter sowieso immer weglassen, 333 Andreas Lawaty, ›Polnische Wirtschaft‹ und ›deutsche Ordnung‹: Nachbarbilder und ihr Eigenleben. In: Bernhard Oestreich (Hrsg.), Der Fremde. Interdisziplinäre Beiträge zu Aspekten von Fremdheit, Frankfurt am Main 2003 (= Friedensauer Schriftenreihe. Reihe B: Gesellschaftswissenschaften 7), S. 155 – 166, hier: S. 156. 334 Rudolf Jaworski, Osteuropa als Gegenstand historischer Stereotypenforschung. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 13 (1987), S. 63 – 76, hier: S. 73. 335 Ebd. 336 Dies ist auch die zentrale Schlussfolgerung von Florack, Bekannte Fremde, passim. 337 HFA IV/3, S. 380. 338 Ebd., S. 379 f. 339 Hans Henning Hahn, Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp. In: Ders. (Hrsg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Oldenburg 1995 (= Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 2), S. 190 – 204, hier: S. 194.
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2. Autobiographische Zeugnisse – Lyrik – journalistisches Werk
was »poetisch« nicht gefällt. Vorgeschlagen wird jedoch eine Modifizierung des Blicks – nicht das Stereotyp selbst gerät damit ins Wanken, sondern die Frage des ästhetischen Umgangs mit ihm wird neu gestellt. Ähnlich fungiert die ›polnische Wirtschaft‹ in den Wanderungen als gängige Redeweise über kulturelle Differenz.340 »Alles ging ungrisch und die Wirtschaft polnisch dazu«, heißt es im Wanderungen-Teil Spreeland (Kapitel »Geist von Beeren«) über die Zustände auf Gut Groß-Beeren unter der Leitung eines Herrn von Beier und seiner ungarischen Frau in den 1830er Jahren;341 das Stereotyp dient hier als verkürzende Beschreibungsformel. Dagegen wird im Kapitel über den aparten Grafen Heinrich von Schlabrendorf ausführlich dessen Lebenswandel zwischen gelegentlicher luxuriöser Repräsentation und beständig nachlässiger Haushaltsführung beschrieben (»[D]ie Regel war und blieb, es gehenzulassen, wie’s eben ging«342), um dann das Fazit zu ziehen: »Das Ganze, seinem Zuschnitt und Wesen nach, mehr polnisch als preußisch«.343 Was sich hier als Rekurs auf geteiltes Wissen beschreiben lässt, kann freilich ebenso ideologisiert werden, wie dies eine oben schon kurz erwähnte Korrespondenz aus Posen (1861) zeigt: Preußen habe das Gebiet Posen »mit Wohlwollen behandelt und zu einer Blüte entwickelt […], die es unter polnischer Wirtschaft nie erreicht haben würde«.344 Das Schlagwort vom ›polnischen Reichstag‹345 taucht – wie im bereits zitierten Brief an Heyse – bei Fontane im Zusammenhang mit Schillers Demetrius-Fragment (1805) auf, das ja mit der »berühmten Reichstagsszene zu Krakau«346 beginnt.347 Als Variante der ›polnischen Wirtschaft‹ steht der polnische Reichstag mit seinem Liberum veto sprichwörtlich für Zerrüttung und Streit; die sich selbst blockierende Institution des »Adelsdepotismus«348 wird aus aufklärerischer Sicht mit dem polnischen ›Un340 341 342 343 344 345 346 347
Vgl. Florack, Bekannte Fremde, S. 110. GBA Wanderungen, Bd. 4, S. 305. Ebd., S. 364. Ebd., S. 365. Unechte Korrespondenzen, Bd. 1.1, S. 153. Vgl. dazu vor allem Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 102 – 116. NFA XXII/2, S. 768. Fontane wohnt Rezitationen dieser Szene bei: Siehe NFA XXII/2, S. 288, wo ein solcher Vorleseabend in der Besprechung einer Maria-Stuart-Aufführung erwähnt wird (9. 2. 1884), sowie ebd., S. 768 f. (»Professor Alexander Strakosch [Rezitationsabend vom 30. Januar 1884]«). 348 Stephan Scholz, Die Entwicklung des Polenbildes in deutschen Konversationslexika zwischen 1795 und 1945, Münster 2000 (= Zeitgeschichte – Zeitverständnis 7), S. 38.
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tergang‹ kurzgeschlossen. Bei Friedrich Schiller sorgt sie zudem für dramatische Effekte: So kann der Gesandte Sapieha durch ein Liberum veto verhindern, dass das Vorhaben des Demetrius, mit Hilfe der Polen in Russland den Zarenthron einzufordern, offiziell unterstützt wird (der Adel schließt sich dann auf eigene Faust dem Demetrius an).349 Und für das Publikum wird die Szene in den 1880er Jahren zum identifikatorischen Ereignis: An einem von Fontane besuchten Rezitationsabend, der »den ganzen polnischen Reichstag szenisch vor uns aufzubauen wußte«,350 kommt es zu einer Quasi-Verbündung der Zuhörer mit den Polen; vor allem antirussische Emotionen lassen sich aktualisieren: Das Glänzendste war der immer lauter und leidenschaftlicher dazwischenfahrende Ruf der Landboten: »Krieg! Krieg mit Moskau.« […] Und durch den Saal hin scholl es nun zehn- und zwanzigfach, als ob der polnische Reichstag aus dem Grabe heraufgestiegen wäre: »Krieg, Krieg mit Moskau.« Die Wirkung war ganz außerordentlich.351
Wird also im Binnenraum einer Lesung die Institution des polnischen Reichstags aus dem frühen 17. Jahrhundert wiederbelebt, für Augenblicke als dramatische Szenerie »aus dem Grabe« geholt, dann ist die (kurzfristige) Solidarisierung mit den Polen möglich, erst recht, da es bei Schiller allein um polnisch-russische Konstellationen geht. Verstärkend kommt hinzu, dass seit Mitte der 1870er Jahre, bedingt durch den deutsch-russischen Handelskrieg, antirussische Stimmungen die öffentliche Meinung beherrschten (daher wurde auch das 1881 geschlossene und 1884 verlängerte Dreikaiserabkommen zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich nicht publik gemacht). In diesem Kontext verwundert es freilich nicht, wenn Fontane in seinem Brief an Heyse ausdrücklich vor allem, »was an Demetrius und Reichstag in Krakau erinnern könnte«, als »Stoff-Fundgrube« abrät (siehe oben). An dieser Stelle ist noch einmal auf Meine Kinderjahre zurückzukommen – der Text stammt immerhin, die Reichgründung unter Einschluss der preußischen Polen ist mehr als 20 Jahre her, aus dem Jahr 1894. Fontane berichtet in den Kinderjahren von seiner kindlichen Solidarisie349 Friedrich Schiller, Demetrius. In: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 3: Dramatische Fragmente, Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 6. Aufl., München 1980, S. 9 – 103, hier: S. 9 – 29. 350 NFA XXII/2, S. 768. 351 Ebd., S. 769.
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rung mit den Polen im Zuge des Novemberaufstands 1830/31,352 aber er stellt darüber hinaus auch grundsätzliche Überlegungen über historische Verlaufsformen an, indem er Freiheitskämpfe dem Prinzip geordneter Gewalten gegenüberstellt. Einerseits erweckt die polnische Insurrektion bei ihm Sympathien, weil sie »poetische[] Empfindungen« hervorbringen kann, aber auch, weil in Freiheitskämpfen »heldenmäßig« unter Einsatz »von Gut und Blut, von Leib und Leben« für »Freiheit, Land und Glauben« eingetreten wird; sie haben ihren »eigenen Zauber«.353 Und was Sympathien weckt, gehört auch qualitativ-moralisch zur besseren Seite.354 Freiheitskämpfe sind eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit, die als konstitutives Element des zivilisatorischen und politischen Fortschritts zu begreifen sind: »Was wäre aus der Welt geworden, wenn es nicht zu allen Zeiten tapfere, herrliche Menschen gegeben hätte, die, mit Schiller zu sprechen, ›in den Himmel greifen und ihre ewigen Rechte von den Sternen herunter holen‹.«355 Das Ordnungsprinzip muss also um des Fortschritts willen immer wieder torpediert werden. Andererseits behauptet Fontane die genuine Überlegenheit eben dieses Ordnungsprinzips, weil im ordnungsgemäßen Korrespondieren von Größen- und Machtverhältnissen nichts Geringeres als das ›Natürliche‹ liege: [S]o lange die Revolutionskämpfe des sicheren Sieges entbehren, begleite ich all diese Auflehnungen nicht bloß mit Mißtrauen (zu welchem meist nur zu viel Grund vorhanden ist) sondern auch mit einer größeren oder geringeren, ich will nicht sagen in meinem Rechts- aber doch in meinem Ordnungsgefühle begründeten Mißbilligung. Ein Zwergensieg gegen Riesen verwirrt mich und erscheint mir in so weit ungehörig, als er gegen den natürlichen Lauf der Dinge verstößt. […] Jeder hat ein ihm zuständiges Maß, dem gemäß er siegen oder unterliegen muß und in diesem Sinne blicke ich auch auf sich gegenüberstehende Streitkräfte.356
Nur wenn die Verhältnisse entsprechend ihren Voraussetzungen liegen, »stimmt« es.357 Mit hinein spielt »die Macht der rein äußerlichen Erschei352 353 354 355 356 357
Siehe Kapitel 2.1.2. Zitate nach HFA III/4, S. 111 f. Vgl. ebd., S. 112. Ebd., S. 111. Ebd., S. 111 f. Ebd., S. 112. Dies ist die Perspektive von 1894. Fontanes Behauptung, dass er »vielfach« bzw. »jederzeit« (HFA III/4, S. 111) diese Haltung einnahm, wird in Von Zwanzig bis Dreißig (1898) zeitlich begrenzt: »Und in dieser Anschauung habe ich vierzig Jahre verbracht.« (GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 395)
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nung« einer uniformierten Truppe, also das »Ästhetische«, das auch sein »Recht« habe, so dass Fontane letztlich den polnischen Freiheitskämpfern nur »geteilte[] Sympathien« zubilligen möchte.358 Nur wenige Jahre später jedoch revidiert Fontane in Von Zwanzig bis Dreißig (1898) – nach eigenen Angaben infolge der Lektüre von Leopold von Gerlachs Denkwürdigkeiten (1891/92) – seine Auffassung von der Überlegenheit des Ordnungsprinzips, das sowieso schon immer gegen moralische Maßstäbe und »poetische[] Empfindungen« ankämpfen musste:359 Die »Ueberzeugung von der absolutesten Unbesiegbarkeit einer wohldisziplinierten Truppe jedem Volkshaufen,360 auch dem tapfersten gegenüber«361 wird nun explizit aufgegeben, stattdessen müssen diese Dinge […] – vorausgesetzt daß ein großes und allgemeines Fühlen in dem Aufstande zum Ausdruck kommt, – jedesmal mit dem Siege der Revolution enden, weil ein aufständisches Volk, und wenn es nichts hat als seine nackten Hände, schließlich doch notwendig stärker ist, als die wehrhafteste geordnete Macht.362
Aufstände sind – in der Metaphorik des Unwetters – die Fluten, gegen die kein Damm etwas ausrichten kann;363 begünstigend wirken bisweilen der Raum (durch die Beschaffenheit seines Geländes) und immer die Zeit. Dazu wird die in den Kinderjahren festgehaltene Verlaufsform des ›Na358 HFA III/4, S. 112 f. Das Plädoyer für die geordneten Gewalten, das auch Russland mit einschließt, lässt sich mit einem Texteinschub im 13. Kapitel der Kinderjahre verbinden: mit Fontanes erstem überhaupt bekannten Gedicht, verfasst von dem Neun- oder Zehnjährigen zum Geburtstag seines Vaters, also im März 1829 oder 1830: »Lieber Vater, Du bist kein Kater. Du bist ein Mann, Der nichts Fettes vertragen kann; Doch von den Russen hörst du gern Wie sie den Polen den Weg versperrn etc. …« (HFA III/4, S. 128) Die Privilegierung der (mächtigen) Russen durch den Vater deckt sich hier gewissermaßen mit der eigenen Positionierung Fontanes 1894. 359 Und nebenbei auch mit dem Diktum von der »Macht und Kraft der Verzweiflung« kollidiert, das sich ebenso in den Kinderjahren findet: »Alle sollten sich das in allen Lebenslagen gesagt sein lassen, auch im Leben der Völker.« (HFA III/4, S. 97) 360 Mit »Volkshaufen« ist hier nicht eine bestimmte soziale Gruppe gemeint, sondern Aufständische, die sich gegen die herrschenden politischen Verhältnisse auflehnen. 361 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 395. 362 Ebd., S. 397. 363 Vgl. ebd.
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türlichen‹ durch die des ›Gesunden‹ als historisches und nicht auf eine bestimmte Nation fixiertes Entwicklungsmodell ersetzt: Auflehnungen […], die mehr sind als ein Putsch, mehr als ein frech vom Zaun gebrochenes Spiel, tragen die Gewähr des Sieges in sich, wenn nicht heute, so morgen. Alle gesunden Gedanken, auch das kommt hinzu, leben sich eben aus […].364
Übertragen auf den preußisch-polnischen Antagonismus, offenbart sich die Brisanz dynamischer Verschiebungen. Wird das Prinzip der hegemonialen Ordnung als vorgeblich natürliches durchbrochen, ist die hierarchische Konstellation zwischen Preußen-Deutschland (als Eroberungsmacht) und Polen massiv gefährdet, mit realpolitischen und – auf semiotischer Ebene – diskursiv-narrativen Folgen. Als lebensweltliches Prinzip hat schon der Briefeschreiber Fontane die ›Ordnung‹ mit Blick auf die schönen Polinnen (siehe oben) als langweilig verworfen. Für den Erzähler Fontane lässt sich zeigen, inwiefern polnische ›Unordnung‹ geeignet ist, als virulenter Katalysator von (nicht-langweiliger) Handlung narrative Wirkung zu entfalten. Wird Handlung narratologisch als Ereignis im Lotman’schen Sinn verstanden, dann entsteht sie allein dort, wo es zu Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen semantischen Räumen, also disjunkten Normund Wertsystemen, kommt, die die dargestellte Welt organisieren.365 Bekanntlich ist das Literatursystem des deutschsprachigen Realismus wesentlich durch ordnende Grenzziehungen charakterisiert,366 und das beinhaltet in Fontanes Erzähltexten mit Polenthematik, die immer im preußischen Binnenraum situiert sind, auch preußisch-polnische Grenzen. Ihre (systemerhaltende) Stabilität kann erzählerisch auf die Probe gestellt werden. Mit Recht bestimmt Klaus Holz, dass »[d]ie Form der Nation [die aus den zwei Seiten eigene Nation/andere Nationen bestehend gedacht wird, A. D.] […] bezüglich der Zuordnungen, nicht aber der Zuschreibungen
364 Ebd., S. 398 f. 365 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 311 – 340. 366 Michael Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹. In: Hans Krah und Claus-Michael Ort (Hrsg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 181 – 209.
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und Bewertungen symmetrisch [ist]«.367 Zunächst entscheidet allein ein Merkmal wie die Sprache über die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe (und nicht zu einer anderen). Die Asymmetrie entsteht erst über die (wertende) Perspektive vom Eigenen auf das Andere bzw. Fremde in historischer Konkretisierung. Das preußisch-polnische Verhältnis ist territorial durch den preußischen Gebietszuwachs auf Kosten Polens belastet, verstärkt durch die innenpolitische Vorgabe, das neu Hinzugekommene in das Eigene zu zwingen. Dass diese Hierarchie letztlich fragil bleibt, liegt an wirkmächtigen politischen und sozialen Allianzen, die sich intranational oder transnational (siehe Kraszewski-Prozess) bilden können, an der offenbar nicht aufzubrechenden »Kontinuität des Desintegrierten«368. In Fontanes nichtfiktionalen wie fiktionalen Texten scheint es immer wieder zu gelingen, den preußisch-polnischen Antagonismus mit den strukturellen Kategorien ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ (beweglich) zusammenzuspannen. Was im Autobiographischen – mit Von Zwanzig bis Dreißig – schließlich in eine historische Prognose führt, lässt sich jedoch in narrativen Texten erheblich komplexer lenken und mehrdeutig inszenieren: anhand der (vorübergehenden?) Störung preußischer Ordnungen nicht zuletzt durch polnische Figuren. In den Wanderungen (Die Grafschaft Ruppin) klassifiziert Fontane bei Gelegenheit die Polen als »Umsturzmänner[] von Fach«.369 In seinen Romanen können auch polnische Frauenfiguren für regelrechte Umstürze – erzähltheoretisch gesprochen: relevante Ereignisse – sorgen. Fontanes Erzähltexte eröffnen ein Experimentierfeld für Figurationen des Polnischen im preußischen Raum. Das Gattungsspektrum vom vaterländischen Roman Vor dem Sturm über die Kriminalerzählung Unterm Birnbaum bis hin zu den Zeitromanen Cécile und Mathilde Möhring steckt die Bandbreite ab, innerhalb deren nationale Kollisionen zum rekurrenten Thema werden.370 Und wiederholt scheint es dabei, als arbeiteten sich die Texte innerhalb ihrer dargestellten Welt auch an der Durchsetzbarkeit eines hegemonialen preußischen Anspruchs ab.
367 Klaus Holz, Der Jude. Dritter der Nationen. In: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen et. al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 292 – 303, hier: S. 294 (Anm. 6). 368 Ehlich, Preußische Alterität, S. 15. 369 GBA Wanderungen, Bd. 1, S. 251. 370 Die Kategorie des ›Natürlichen‹ spielt in den polenthematischen Erzähltexten dann vor allem eine Rolle als Größe nationaler Authentizität.
3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes 3.1 (Die) Polen im Narrativ: Einführende Bemerkungen Am 14. Dezember 1891 erläutert Fontane gegenüber Georg Friedlaender, warum er das Hirschberger Tal im schlesischen Riesengebirge als »Stofffundgrube«1 anderen Gegenden vorzieht: Ich will nicht behaupten, daß das Hirschberger Thal absolut Nummer eins sei; ich behaupte nur, daß es, nach der poetisch-novellistischen Seite hin, bevorzugte und nicht-bevorzugte Gegenden giebt. Natürlich hat jede Gegend ihren Mord, ihren großen Bankrutt, ihren Ehebruch […], aber im Maß sind sie sehr verschieden. In Seestädten, in Gegenden, deren Reichthum und Schönheit viele Personen anlockt, in Grenz- und Schnapsdistrikten, auch in Gegenden wo großer Reichthum und große Armuth nebeneinander leben, – in solchen Gegenden ist mehr los, als in Mittelgutsgegenden […].2
Ganz ähnlich äußert sich Fontane bereits ein Jahr zuvor in einem Brief an den Schmiedeberger Amtsgerichtsrat: Es giebt doch wirklich eine Art genius loci und während an manchen Orten die Langeweile ihre graue Fahne schwingt, haben andre unausgesetzt ihren Tanz und ihre Musik. Diese Beobachtung habe ich schon als Junge gemacht; wie spießbürgerlich war mein heimathliches Ruppin, wie poetisch das aus bankrutten Kaufleuten bestehende Swinemünde, wo ich von meinem 7. bis zu meinem 12. Jahre lebte und nichts lernte. […] Denn das Leben auf Strom und See, der Sturm und die Ueberschwemmungen, englische Matrosen und russische Dampfschiffe, die den Kaiser Nicolaus brachten, – das war besser als die unregelmäßigen Verba, das einzig Unregelmäßige, was es in Ruppin gab.3
Topographische Räume können poetisch eingeordnet werden. Während »[w]as das Poetische angeht, […] die Mark das denkbar Niedrigste [bedeutet]«,4 ließen sich, führt man diese Messlatte weiter, die Provinzen mit polnischen Bevölkerungsanteilen ohne weiteres am entgegengesetzten Ende der Skala verorten. Denn die Topoi, die mit (dem adeligen) Polen im 19. Jahrhundert verbunden werden: insbesondere ›edler Pole‹, ›schöne Polin‹, ›polnische Wirtschaft‹, ritterliche Tapferkeit, Heroismus und 1 2 3 4
FFr, S. 224. Ebd. Fontane an Georg Friedlaender, 22. 10. 1890 (FFr, S. 187). Fontane an seine Tochter Mete, 13. 6. 1891 (FMF, S. 408).
3.1 (Die) Polen im Narrativ: Einführende Bemerkungen
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Freiheitsdrang, glühender Patriotismus und Katholizismus, Verlust und Schuld, Unglück und Schmerz, Erotik und Exotik,5 versprechen gerade jenes aufstörende Potential an »Unregelmäßige[m]«, das Fontane ästhetisch so hoch bewertet und narrativ nutzen kann. In Erzähltexten, die räumlich und sozial im Preußischen angesiedelt sind, sorgt die Konfrontation mit dem polnisch Anderen und Fremden denn auch immer wieder für konfliktuöse Verwerfungen und (gemäß Lotman) ereignishafte Grenzüberschreitungen.6 Keineswegs müssen dabei topographische Grenzen ins Spiel kommen, wie bei einem Umzug in die polnisch bevölkerte preußische Provinz, der freilich so in Mathilde Möhring stattfindet. Es kann auch – wie in Cécile – um interkulturelle Kollisionen auf semantischer Raumebene gehen, also das spannungsreiche Aufeinandertreffen ideologischer Teilsysteme innerhalb der dargestellten Welt. Die polnische Nation, die die »Phantasie« des autobiographischen Autors Fontane so nachhaltig freisetzen kann – erinnert sei an die entsprechende Äußerung in den Kinderjahren –,7 vermag letztlich eine produktive Dynamik zu entfalten, die in literarische Narrative mündet: Tatsächlich kommt jene Nation, die der Bismarckstaat als ›Risikofaktor‹ ausschließen, zumindest neutralisieren will, in Fontanes Romanen der Bismarckzeit regelmäßig zum ästhetischen Einsatz. Auf die Erzähltexte, in denen Figurationen des Polnischen ein kompositorisch bestimmendes Strukturelement ausmachen, wird in separaten Kapiteln ausführlich eingegangen (Vor dem Sturm, Unterm Birnbaum, 5
6
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Diese Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen und vor allem spezifizieren. Angeführt werden hier nur Merkmale, die für die polnische Anthropologie, wie sie Fontane entwirft, relevant sind. Keine Rolle spielen hingegen Zuschreibungen, die insbesondere die polnische Landbevölkerung oder den niederen Adel betreffen, wie etwa Passivität oder körperliche Verwahrlosung oder auch die geschlechtliche Codierung der polnischen Nationalität als »weiblich« im Gegensatz zu den »männlichen« Deutschen. Diese Form der Stereotypisierung konnte beispielsweise für den Polendiskurs nicht-literarischer Texte in der Wochenzeitschrift Die Gartenlaube nachgewiesen werden. Vgl. Angela Koch, DruckBilder: Stereotype und Geschlechtercodes in den antipolnischen Diskursen der ›Gartenlaube‹ (1870 – 1930), Köln/Weimar/Wien 2002 (= Literatur – Kultur – Geschlecht: Große Reihe 21), die entsprechend der Einschränkung ihres Textkorpus die Vorabdrucke von Unterm Birnbaum und Mathilde Möhring nicht berücksichtigt. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332, versteht unter Ereignis die (aktive oder passive) Überschreitung der Grenze zwischen zwei semantischen Räumen durch eine Figur. Erst hierdurch wird Narrativität konstituiert. Vgl. auch die Einleitung vorliegender Studie sowie Kapitel 2.3 (am Ende). Siehe Kapitel 2.1.2.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Cécile, Mathilde Möhring). Daneben gibt es jedoch weitere Erzähltexte, in denen polnische Größen durchaus prominent vertreten sind: Zu nennen sind neben Irrungen, Wirrungen und Stine, die bereits im Zusammenhang mit den Polenliedern behandelt wurden,8 insbesondere Schach von Wuthenow (1882) und Effi Briest (1895). Ein Blick auf diese Werke soll hier grundsätzlichen Überlegungen zu Fontanes narrativer Behandlung des Polenthemas vorangehen. Es mag dadurch exemplarisch deutlich werden, in welch vielfältiger Weise Polnisches im erzählerischen Gefüge relevant werden kann. 3.1.1 »Schach von Wuthenow« (1882) Signifikanterweise ist in Schach von Wuthenow schon früh von den Polen die Rede: Bereits das erste Kapitel der »Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes«, die im Jahr 1806 angesiedelt ist,9 wartet mit einem politischen Schlagabtausch auf. Es geht um Preußen, Frankreich, Österreich, Hannover – und eben auch um Polen. Unter den Gästen im Salon der Frau von Carayon befinden sich der Verleger Daniel Sander sowie der preußenkritische ehemalige Stabskapitän von Bülow; auch die Tochter der Frau von Carayon, Victoire, ist anwesend. Die Gastgeberin hat das Wort: »[…] Victoire, reiche Herrn v. Bülow von den Karlsbader Oblaten. Es ist, glaub’ ich, das Einzige, was er von Österreich gelten läßt. Inzwischen unterhält uns Herr Sander von unseren Fortschritten in der neuen Provinz [Hannover, A. D.]. Ich fürchte nur, daß sie nicht groß sind.« »Oder sagen wir lieber, gar nicht existieren,« erwiderte Sander. »Alles was zum welfischen Löwen oder zum springenden Roß hält, will sich nicht preußisch regieren lassen. Und ich verdenk es Keinem. Für die Polen reichten wir allenfalls aus. Aber die Hannoveraner sind feine Leute.« (SvW, S. 6)10
Der Widerspruch von Bülows folgt auf ganzer Linie: »[…] In Hannover […] ist der Sitz der Stagnation, eine Brutstätte der Vorurteile. Wir wissen wenigstens, daß wir nichts taugen […]. Im Einzelnen bleiben wir hinter ihnen zurück, zugegeben, aber im Ganzen sind wir ihnen voraus, und darin steckt ein Anspruch und ein Recht, die wir geltend machen müssen. Daß wir, trotz Sander, in Polen eigentlich gescheitert sind, beweist nichts; der Staat strengte sich nicht an und hielt seine Steuereinnehmer gerade für gut genug, um die Ku l t u r nach Osten zu tragen. In soweit mit Recht, als 8 Siehe die Kapitel 2.1.3.1.1 und 2.1.3.1.2. 9 Mit Ausnahme des letzten Kapitels (Brief Victoires vom August 1807). 10 Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes wird hier und im Folgenden mit Sigle (SvW) und Seitenzahl zitiert nach der GBA.
3.1 (Die) Polen im Narrativ: Einführende Bemerkungen
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selbst ein Steuereinnehmer die O rd n u n g vertritt, wenn auch freilich von der unangenehmen Seite.« [gesperrte Hervorh. A. D.] (SvW, S. 7)
In Frage steht, ob sich Preußen politisch in den polnischen Provinzen durchgesetzt habe – was Sander bejaht (der Vergleich von Hannover und Polen wird an die Opposition fein/nicht regierbar vs. nicht-fein/regierbar angeschlossen), Bülow hingegen bestreitet (»eigentlich gescheitert«), indem er die Methode, das innenpolitische Vorgehen Preußens, dafür verantwortlich macht. Kritisiert wird der unzureichende Transfer von ordnungsstiftender »Kultur«, die offensichtlich allein als Integrationsmotor wirken könnte. Bülows Rede läuft ebenso wie die Sanders letztlich auf eine Inferiorisierung Polens (als Kultur-Empfänger) gegenüber Preußen hinaus. An dieser Stelle meldet sich zum ersten Mal die junge Victoire von Carayon, die weibliche Hauptfigur des Textes, zu Wort – und es ist bezeichnend, dass der Leser die Koloniefranzösin als Erstes durch ihr Sympathiebekenntnis für Polen kennenlernt: Victoire, die von dem Augenblick an, wo Polen mit ins Gespräch gezogen worden war, ihren Platz am Theetisch aufgegeben hatte, drohte jetzt zu dem Sprecher hinüber und sagte: »Sie müssen wissen, Herr v. Bülow, daß ich die Polen liebe, sogar de tout mon cœur.« […] Er [Bülow, A. D.] wiederholte nur: »o ja, die Polen. Es sind die besten Mazurkatänzer, und darum lieben Sie sie.« »Nicht doch. Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind.« »Auch das. Es läßt sich dergleichen sagen. Und um dies ihr Unglück könnte man sie beinah beneiden, denn es trägt ihnen die Sympathien aller Damenherzen ein. In Fraueneroberungen haben sie, von alter Zeit her, die glänzendste Kriegsgeschichte.« »Und wer rettete …« »Sie kennen meine ketzerischen Ansichten über Rettungen. Und nun gar Wien! Es wurde gerettet. Allerdings.11 Aber wozu? Meine Phantasie schwelgt ordentlich in der Vorstellung, eine Favoritsultanin in der Krypta der Kapuziner stehen zu sehen. […]« (SvW, S. 7 f.)
Victoire konfrontiert dem preußischen Eroberungsobjekt Polen einen identifikatorisch akzentuierten Zugang zu allem Polnischen, der das positive Stereotyp des ›edlen Polen‹ (»ritterlich«) ebenso mit einbezieht wie die empathische Einfühlung in das von polnischer Seite erlittene »Unglück«.12 11 Im Jahr 1683 durch das vom polnischen König Jan Sobieski geführte Entsatzheer. 12 Ob fremd- oder selbstverschuldet, lässt Victoire offen. Hinter der Formel des Unglücks verbirgt sich das gängige politische Rechtfertigungsmuster der Eroberer, das auf eine innenpolitische Selbstverschuldung der polnischen Teilungen hinausläuft. Von Bülow konkretisiert diese an anderer Stelle so: »›Alle Könige,‹ fuhr Bülow in wachsendem Eifer fort, ›die den Beinamen des ,guten‘ führen, sind solche, die das ihnen anvertraute Reich zu Grabe getragen oder doch bis an den
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Innerhalb der textuellen Ordnung ist Victoire jedenfalls, wie sich zeigen lässt, rekurrent an den Term13 ›Polen‹ gebunden, so dass ihre unglückliche Geschichte mit Major von Schach auch an eine polnisch-preußische Semantik gekoppelt ist. Bereits Christian Grawe hat im Fontane-Handbuch konstatiert: »Wie das von ihr verteidigte […] Polen ist sie als verschmähte Verführte eines Offiziers ein Opfer Preußens«.14 Den durch von Bülow angesprochenen »Fraueneroberungen« der mazurkatanzenden Polen setzt der Text diejenigen eines Preußen, Rittmeister von Schach, entgegen, der sich zunächst nicht zwischen Mutter und Tochter Carayon entscheiden kann. Das Postulat der Freiheit fungiert schließlich als Einlasstor für den Eroberer: Schach nutzt im achten Kapitel nicht zuletzt Victoires Selbstbekenntnis, sie sei aufgrund ihrer entstellenden Blatternarben von Zwängen »frei« (»Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich. […] Jetzt bin ich frei«, SvW, S. 77), zur normverletzenden Verführung. Victoire inszeniert sich einerseits selbst als Außenseiterin, beruft sich auf Mirabeau, blatternarbig wie sie und einer der Protagonisten der Französischen Revolution, also des sozialen Umsturzes: »Ich […] würde den Namen meines Gefährten und Leidensgenossen zu meinem eigenen machen, wenn ich es könnte, Victoire Mirabeau de Carayon, oder sagen wir Mirabelle de Carayon, das klingt schön und ungezwungen, und wenn ichs recht übersetze, so heißt es Wunderhold.« (SvW, S. 78)
»[G]ewissermaßen aus der Verfremdung heraus«15 kann sich Victoire Wirkung verschaffen. Korrespondierend hierzu werden aber andererseits auch auf Erzählerebene Signale der Fremdheit gesetzt, die nun Polen ins Spiel bringen und an der ›Verwandlung‹ des Individuums zusätzlichen Anteil haben. Es sei daran erinnert, dass Victoires letzte Worte über die Polen im ersten Kapitel der Befreiung des von den Türken belagerten Wien 1683 gelten. Bülow unterbricht sie, malt sich die favorisierte Alternative einer Rand der Revolution gebracht haben. Der letzte König von Polen war auch ein sogenannter ,guter‘. […]‹« (SvW, S. 58 f.) 13 Mit Titzmann kann unter Term jede beliebige (auch komplexe) Textgröße verstanden werden, sei es auf Signifikanten- oder Signifikatebene (Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft, S. 3044 f.). 14 Christian Grawe, ›Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes‹. In: Ders. und Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, S. 533 – 546, hier: S. 540. 15 Gerhard Neumann, ›Invalide ist ja doch eigentlich jeder‹. Fontanes ›fremde‹ Helden. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, S. 57 – 69, hier: S. 63.
3.1 (Die) Polen im Narrativ: Einführende Bemerkungen
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»Serail- oder Haremwirtschaft« (SvW, S. 8) in Europa aus – und just in dem Moment tritt Schach als neuer Gast in die Runde ein. Daran wird im achten Kapitel, der Liebesszene, motivisch wieder angeknüpft, wenn Victoire im Eckzimmer mit dem »türkische[n] Teppich« (SvW, S. 28) sitzt, eingewickelt in einen türkischen Schal. Diese Textilie mit orientalischen Implikationen funktioniert als erotischer Code.16 Damit nicht genug: Der Schal, der im Text dreimal genannt wird – bevor Schach überraschend zu Besuch kommt, ist Victoire »in einen türkischen Shawl gehüllt« (SvW, S. 73), nachdem er eingetreten ist, spricht sie von dem »Shawl (in den ich bitte, mich wieder einwickeln zu dürfen)« (SvW, S. 75), kurz vor der Verführung heißt es über Victoire, »[s]ie zog den Shawl höher hinauf« (SvW, S. 78) –, kann semantisch auch mit Polen verknüpft werden. Zwar gehörten solche türkischen Schals überhaupt zu den beliebten Accessoires in Europa, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine regelrechte (Gesellschaft und Kunst erfassende) Türkenmode kannte,17 doch scheint in Schach von Wuthenow die polnisch-türkische Klammer die relevante zu sein, ebenso wie in Cécile, wo Fontane seine gleichnamige Figur ebenfalls mit einem türkischen Schal ausstatten wird. Trotz beständiger kriegerischer Auseinandersetzungen mit den osmanischen Türken kennzeichnet den polnischen Adel nämlich nicht nur eine »entschiedene Vorliebe für Perserteppiche und orientalische [das heißt auch türkische, A. D.] Moden«,18 sondern im Hinblick auf die Schalmode lässt sich sogar konkretisieren: In polnischen Adelsfamilien hütete man solche »türkischen« oder »persischen« Schals, deren ursprüngliche Trageweise die von breiten Schärpen war, wie Kleinodien. Sie wurden zum altpolnischen Oberrock, der Nationaltracht des polnischen Adels, getragen.19 16 Als die Regimentskameraden später mit drei Karikaturen die Affäre folgenschwer bespötteln, figurieren sie Schach nicht von ungefähr zweimal als persischen Schach (SvW, S. 103, 106). 17 Polaschegg, Der andere Orientalismus, S. 129 f. 18 Davies, Im Herzen Europas, S. 311. 19 Hubertus Fischer, Polnische Verwicklungen. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, S. 262 – 275, hier: S. 269. Davies, Im Herzen Europas, S. 312 f., sieht das polnisch-türkische Verhältnis trotz kriegerischer Auseinandersetzungen positiventlastet: »Wann immer Polen von den Habsburgern oder den moskowitischen Russen bedrängt wurde, beteten die Polen inbrünstig um einen türkischen Feldzug auf dem Balkan oder an der Schwarzmeerküste. Von der Schlacht bei Mohács im Jahr 1526 bis zum Frieden von Adrianopel im Jahr 1829, stets waren die Osmanen das einzige regelmäßige Gegengewicht zu den engeren östlichen Nachbarn Polens, und sie wurden zunehmend zur einzigen Hoffnung auf Entlastung.« Das Osmanische Reich hat die polnischen Teilungen übrigens nie anerkannt: »Eine ge-
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Die türkisch-polnische Hülle, mit der sich Victoire umgibt, passt paradigmatisch zu ihrem Polenbekenntnis. Dass Schach beim Prinzen Louis Ferdinand im siebten Kapitel obendrein noch über das »anscheinend Häßliche[]« als »höhere Form der Schönheit« aufgeklärt wurde: »[L]e laid c’est le beau« (SvW, S. 69), macht Victoire zwar nicht zur verführerischen schönen Polin à la Kathinka in Vor dem Sturm oder Cécile, weil sich dieser Typus eben auch prominent über physische Oberflächenphänomene konstituiert. Aber sie erreicht über die paradoxe Sentenz des Prinzen und über ihr Selbstkonzept als dezidiertes ›Ich‹,20 das sich einen Franzosen onomastisch einschreibt und sich auch Polnisches identitätsbestimmend aneignet (schließlich liebt sie die Polen »sogar de tout mon cœur«), obendrein in seiner Außenseiterposition noch zu Pikanterien neigt (vgl. SvW, S. 30 und 45), eine vergleichbare Wirkmacht: eine ästhetisch-erotische Attraktivität, die die preußische Norm- und Wertegesellschaft, wie sie Schach vertritt, für Augenblicke ins Wanken bringen kann. »Alles ist Märchen und Wunder an Ihnen« (SvW, S. 79), resümiert der schöne Rittmeister im Binnenraum der Carayon’schen Wohnung und lässt sich auf eine Grenzüberschreitung ein, die für ihn als preußischen Militär mit »falsche[r] Ehre« (SvW, S. 153) tödlich endet: Der gesellschaftlich geforderten Konsequenz einer Ehe entzieht er sich zunächst vergeblich durch »Flucht« (SvW, S. 123), schließlich wenige Stunden nach der erzwungenen Hochzeit durch Selbstmord. Victoire hingegen verlässt Preußen und begibt sich in einen Raum, der ihrem anthropologischen Muster konfessionell adäquat erscheint: Der Text endet mit einem Brief Victoires aus dem katholischen Rom, in dem sie zuletzt von der wundersamen Errettung ihres kranken Kindes durch die Fürsprache des »Bambino« (SvW, S. 159) in der Kirche Aracoeli berichtet. Die Annäherung an das Katholische korrespondiert einmal mehr mit den fremdnationalen Zuschreibungen, mit denen Victoire seit dem ersten Kapitel versehen wird. 3.1.2 »Effi Briest« (1895) Fast hätte das Unglück der Effi Briest in der polnischen Provinz begonnen. Die frühesten Entwürfe zu Fontanes Roman Effi Briest (1895), die aus den schwächte Türkei wurde am Ende zum Bundesgenossen eines geschwächten Polen« (ebd., S. 311). 20 Vgl. das Diktum von Victoire: »Der Prinz ist ein Prinz, Frau von Carayon ist eine Witwe, und ich … bin ich.« (SvW, S. 77)
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Jahren 1888/89 stammen, situieren das Eheleben von Effi (die hier noch Betty heißt) und dem Landrat Geert von Innstetten (der den Namen Hugo trägt) zunächst in Krotoschin [Krotoszyn] in der Provinz Posen.21 Von Anfang an ist also ein räumlicher Transfer Effis (Bettys) in ein ihr fremdes Terrain vorgesehen, wobei die Fremde sich allererst akustisch bemerkbar macht: Dann der Winter. Das Kind [Bettys Tochter, A. D.] hatte eine schöne polnische Amme. Im Winter erholte sich Betty, u. sie fuhr mit über Land. Aber es war ihr zu polnisch laut. »Sieh, Hugo, ich liebe das alles, aber es ist mir zu viel. Ich bin fürs Vertrauliche, fürs Stille […].« (EB-Entwurf, S. 397)
Das Ehepaar lebt gesellschaftlich zurückgezogen, gleichwohl auf Hugos Wunsch, weil »er es findet, daß die Leute nicht zu ihm passen« (ebd.), während Betty »halb gemüthskrank vor Sehnsucht, Einsamkeit, Verlangen nach Jugend, Frohsinn und Zerstreuung [wird]« (ebd.). Erst mit der Ankunft des Landwehrbezirkskommandanten verändert sich ihr Leben: »Nun bändelt es sich an.« (EB-Entwurf, S. 398) Dass in der endgültigen Fassung das polnische Krotoschin durch die in Hinterpommern verortete Hafenstadt Kessin mit ihren »Menschen aus aller Welt Ecken und Enden« (EB, S. 51) ersetzt wird, führt zu neuen (exotisch-internationalen) Akzenten; es entsteht eine spezifische Aura des »Fremdländische[n]« (EB, S. 66), die figurenperspektivisch nicht nur für »Verwunderung« (ebd.) sorgt, sondern auch sofort »was Gruseliges« (EB, S. 52) beinhaltet (von der Chinesen-Geschichte hört Effi bereits bei ihrer Ankunft in Kessin). Raumsemantisch wird die Bezugsgröße des Wassers hinzugewonnen, die den Text schließlich – immer im Rekurs auf ›Erotik‹ und ›Tod‹ – wesentlich bestimmt. Der Ehebruch Effi Briests findet zwar nicht mehr auf polnischem Boden statt, geblieben aber ist ein teuflischer Verführer mit »rotblonde[m] Sappeurbart« (EB, S. 192), Major von Crampas, den Innstetten wie folgt charakterisiert: »[E]r ist so’n halber Pole, kein rechter Verlaß, eigentlich in nichts, am wenigsten mit Frauen. Eine Spielernatur.« (EB, S. 172) Ob hier tatsächlich eine familiäre halbpolnische Herkunft des »schöne[n] Mann[es]« (EB, S. 196) und »perfekte[n] Kavalier[s]« (EB, S. 191) in Rede steht oder der Verweis »so’n halber Pole« nur 21 Siehe hierzu den Anhang von GBA Effi Briest, S. 392 – 399. Im Folgenden wird aus Effi Briest und dem »Betty«-Komplex mit Sigle (EB) und Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert. Zum Vergleich von Druckfassung und »Betty«-Komplex siehe auch die Ausführungen von Christine Hehle, Von Krotoschin nach Kessin. Zu Landschaft und Mythos der Ostsee in Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: Fontane Blätter 73 (2002), S. 71 – 87.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
redensartlich einen bestimmten Typus markieren soll –22 entscheidend ist die Bezeichnung »Pole« und seine Kurzschließung mit moralischen Defiziten. Mit dem Anteil des Halbpolnischen erhält der Merkmalskatalog eines Landwehrbezirkskommandeurs in preußischen Diensten eine nationale Begründung. Dass sich Effi trotz dieser Warnung oder eben gerade deshalb auf den »Damenmann« (EB, S. 122, 171) Crampas einlässt, für den »[a]lle Gesetzlichkeiten […] langweilig [sind]« (EB, S. 150), scheint angesichts ihres monotonen »Alleinsein[s]« (EB, S. 121) in Kessin – der sie umgebende preußisch-konservative Landadel bleibt ihr wesensfremd – vorgezeichnet, ebenso wie Crampas’ Tod im Duell mit Innstetten, der wiederum ausgerechnet mit Hilfe Bismarcks Karriere gemacht hat. Figurenbezogen bestätigt sich die auf politisch-nationaler Ebene gültige preußisch-polnische Dominanz- und Hierarchierelation, deren Durchsetzung allerdings, wie Innstettens Zweifel offenbaren, ins Wanken gerät, weil das Totschießen alles »Glück« (EB, S. 338) zerstört. Schon anlässlich der Fahrt der Frischvermählten nach Kessin werden narrativ preußisch-polnische Wegmarken gesetzt, die die prekäre Lage andeuten, in die Effi künftig hineingerät. Vor dem Gasthaus »Zum Fürsten Bismarck« an der Weggabelung zwischen Kessin und Varzin fällt ihr »ein mittelgroßer, breitschultriger Mann in Pelz und Pelzmütze« auf, der – ohne dass sie darüber Kenntnis besäße – wie ein »Starost« (alle Zitate EB, S. 49) aussieht und noch dazu »gut« (EB, S. 50). Die Antwort Innstettens auf Effis Frage, wer denn dies sei, lässt sich partiell als metonymische Vorwegnahme Crampas’scher Merkmale lesen: »[…] Er sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch so ’was. Er ist nämlich ein halber Pole, heißt Golchowski, und wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann ist er oben auf. Eigentlich ein ganz unsicherer Passagier, dem ich nicht über den Weg traue, und der wohl viel auf dem Gewissen hat. Er spielt sich aber auf den Loyalen hin aus […]. Ich weiß, daß er dem Fürsten auch widerlich ist. Aber was hilft’s? Wir dürfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen. […]« (EB, S. 49)
Das Ineinander von Abwehr, Abhängigkeit und opportunistischem Entgegenkommen, das die Beziehung zwischen dem Bismarck-Unterstützer Golchowski (dessen Status als »halber Pole« freilich schon genügt, um den Verdacht der Illoyalität aufrechtzuerhalten)23 und seiner Umgebung 22 Auf Erzählerebene wird Crampas nie als Pole ausgewiesen. 23 Obwohl Golchowski seine Integration auch durch die Namengebung seines Gasthauses bekundet, bleibt er in der preußischen Gesellschaft ein Fremder. Vgl. Julian Preece, Fear of the Foreigner: Chinese, Poles, and other Non-Prussians in
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kennzeichnet, verweist auf Unordnung und ›unsichere‹ Grenzen. Nicht zufällig beginnt Innstetten im 16. Kapitel eine Wahlkampagne (siehe EB, S. 152) und bekommt zwangsläufig mit Golchowski zu tun, während sich zeitgleich, begünstigt durch die Abwesenheit Innstettens, die Beziehung zwischen Crampas und Effi intensiviert – in symmetrischer binationaler Spiegelung. Als Effi und Innstetten Kessin schließlich für immer in Richtung Berlin verlassen, ist Golchowski wieder zur Stelle: »Golchowski […] versäumte nicht, den Herrn Landrat und die gnädige Frau bis an die Stufen der Böschung [des Bahnsteigs, A. D.] zu geleiten« (EB, S. 225). Dass damit das Kapitel »Kessin« für Effi abgeschlossen ist, wird nahegelegt – Golchowski steht am Anfang und am Ende des Kessiner Aufenthalts. Zugleich aber wird diese Schließung des Kreises durch Golchowski, der ja ein Repräsentant des Unsicheren ist, schon wieder negiert. So geht denn auch Crampas zeichenhaft mit nach Berlin – die Briefe, die er an Effi geschrieben hat und deren Auffinden die tödliche Wendung von Effis Geschichte herbeiführt, gehören, wie sich später herausstellt, zum Gepäck. Sowohl in Schach von Wuthenow als auch in Effi Briest lässt sich aufzeigen, inwiefern polnische Textelemente Marker setzen können, sei es, dass sie Figuren und ihre Verhaltensweisen näher bestimmen, semantische Ordnungen der dargestellten Welt konturieren oder über Wert- und Normsysteme Auskunft geben. Polen steckt bei Fontane ein ideologisches Teilsystem ab, das zugleich ein geographisches Gebiet sein kann (nicht muss), aus dem Figuren stammen oder in das sie sich begeben, einschließlich der preußischen Provinzen mit signifikantem polnischem Bevölkerungsanteil (wie Posen in den frühen Effi-Briest-Entwürfen und Mathilde Möhring, wie Westpreußen in Die Poggenpuhls und wiederum in Mathilde Möhring). Immer repräsentiert es auf strukturell-semantischer Ebene eine normabweichende Lebenswelt und damit auch einen Alternativen eröffnenden Möglichkeitsraum, der sich von Preußen anders und fremd massiv absetzt. Auslotbar wird ein Gegeneinander von Abgrenzung und Anziehung, von einerseits preußischem Dominanz- und Ordnungswillen gegenüber einem potentiell normgefährdenden polnisch Fremden und andererseits dem kontingenten Sog der Verführung, dem nicht nur Effi bei einem »halbe[n] Pole[n]« (siehe oben) anheimfällt, sondern dem preußische Männer, sobald sie wie in Vor dem Sturm oder Cécile auf schöne Polinnen treffen, stets Theodor Fontane’s ‘Effi Briest’. In: Neil Thomas (Hrsg.), German Studies at the Millennium, Durham 1999 (= Durham Modern Languages Series. German Series 8), S. 173 – 195, hier: S. 178.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
erliegen. Die Polen verkörpern in Fontanes Erzähltexten ein »desintegrierendes Element«24, das sich querstellt und für permanente Erschütterungen, ja Störungen innerhalb der preußischen Gesellschaft sorgt. 3.1.3 Kulturelles Wissen: Zeitgenössische Konversationslexika Auf lexikalischer und semantischer Ebene operieren die Texte mit dem, was an kollektivem Wissen über Polen und die Polen im preußischen bzw. deutschen Raum verfügbar ist (und sich bei Fontane noch dazu lebensgeschichtlich akzentuieren lässt). Nationalstereotype Zuschreibungen sind in der Summe immer begrenzt, weil »die für die Identität konstitutiven Merkmale differenzierende sein [müssen]«,25 das ›Andere‹ den Gegenpol des ›Eigenen‹ benötigt. Hinzu kommt die strukturelle Ambivalenz von Nationalstereotypen: Integriert werden können ebenso »positive wie negative Wertaspekte«, nicht selten sind »spiegelbildliche Anordnungen«26 festzustellen, das heißt, dieselben Merkmale können in je neuen (historisch-politischen, sozialen, poetologischen) Bedarfszusammenhängen anders, wenn nicht konträr akzentuiert und gewertet werden. Wenn sich beispielsweise aus der positiv bewerteten Freiheitsliebe der Polen ohne weiteres eine negativ bewertete Tendenz zum Umstürzlerischen und zur Unordnung ableiten lässt, dann wird sichtbar, welche entgegengesetzten Deutungsmuster nationale Identität bereithält.27 Militärische Tugenden, wie Tapferkeit und Opfermut, mögen nach der Reichsgründung potentielle Bedrohungsfaktoren für Preußen-Deutschland darstellen; im poetisierenden Rahmen beispielsweise eines Polenliedes, sozusagen domestiziert, können sie dauerhaft positiv rezipiert werden. Weil Konversationslexika »nicht nur eine archivierende, sondern ebenso eine normative Funktion erfüllen«,28 sei an dieser Stelle ein Blick auf 24 Ehlich, Preußische Alterität, S. 14. 25 Michael Titzmann, ›Volk‹ und ›Nation‹ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sozio-semiotische Strategien von Identitätsbildung und Ausgrenzung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 38 – 61, hier: S. 50. 26 Zitate aus Jaworski, Osteuropa als Gegenstand historischer Stereotypenforschung, S. 72. Siehe auch die Ausführungen zum Begriff »Stereotyp« in Kapitel 2.3. 27 In Fontanes Verhältnis zu Polen ließen sich ja bereits solche Akzentverschiebungen nachweisen. So erfuhr die Korrelation des Polnischen mit Revolution und Umsturz bei Fontane eine Aufwertung, als er für die Beseitigung des restaurativen Normsystems aktiv eintrat. 28 Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹, S. 275.
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ihre Artikel zu Polen geworfen. Von einer politisch-sozialen Funktionalisierbarkeit nationaler Merkmale ist dort zwar nicht die Rede. Gleichwohl wird deren semantische ›Elastizität‹ vorgeführt und Ambivalenz als bestimmende Signatur einer polnischen Anthropologie herausgestellt: Der polnische Merkmalskatalog, wie ihn exemplarisch die folgenden Auszüge aus Pierers Universal-Conversations-Lexikon (6. Aufl. 1875 – 1879) sowie aus Meyers Konversations-Lexikon (3. Aufl. 1874 – 1878) aufzeigen sollen, integriert unterschiedlich bewertete Eigenschaften, die als Gegensätze nebeneinander bestehen oder auch geradezu ineinander übergehen können. Es scheint zudem die Chance zu bestehen, die positive Merkmalsmenge zu stabilisieren und zu vergrößern; hierin sollen jedenfalls die Erfolge in den polnischen Provinzen Preußens liegen, von denen die Ausschnitte berichten: Sie [die Polen, A. D.] besitzen im Allgemeinen eine schöne u. kräftige Körperbildung […]. Für alle körperlichen Übungen sind sie gewandt, graziös, daher auch ausgezeichnete Tänzer. Leicht u. beweglich von Geist, ist das Temperament sanguinisch. Der Pole ist schnell zu entzünden; er liebt Ruhm, Ehre, Pracht, Vaterland, und man hat ihn daher den Franzosen des Nordens genannt. Neben diesen Lichtseiten hat aber auch der polnische Charakter starke Schattenseiten; rasch wechseln und schwanken Eindrücke u. Gefühle, Edles u. Gemeines stoßen hart aneinander; die leichte Beweglichkeit wird zur Ungebundenheit und Zügellosigkeit, der leichte Sinn zum Leichtsinn, die rasche Entzündlichkeit des Gemüths macht den P. zum Sklaven wilder Leidenschaften, er ist oft jähzornig, streitsüchtig, liebt Trunk u. Spiel, und dabei fehlt die Neigung für praktische Thätigkeit; überall macht sich eine gewisse Trägheit bemerkbar, bis in die obersten Schichten der Bevölkerung hinauf sieht man nicht selten auffallenden Schmutz neben dem reichsten Prunke, Mangel an einfachster Bequemlichkeit neben dem raffinirtesten Luxus. Die Contraste von Überfluß u. Mangel, von Eleganz u. Nachlässigkeit, von Comfort und [sic!] Unbequemlichkeit, von Sitteneinfalt u. raffinirtem Genuß haben zu der sprichwörtlichen Bezeichnung Polnische Wirthschaft geführt. Übrigens hat sich mit der Zeit von diesen polnischen Schattenseiten, bes. in den preußisch gewordenen Theilen, Manches zum Besseren gewendet, namentlich was Arbeitsamkeit u. Solidität betrifft. Gegen Frauen (die Polinnen sind durch Schönheit u. Anmuth berühmt) zeigt der Pole eine ritterliche Galanterie.29 Man schreibt dem Polen leichte Beweglichkeit, schnelle Fassungsgabe, Sinn für schöne Formen, anderseits aber auch Zügellosigkeit, Leichtsinn, Jähzorn, Unzuverlässigkeit [i. e. Untreue, A. D.] zu. Für frühere Jahrhunderte mag dies im ganzen zutreffend sein, dem genauern Beobachter aber zeigt sich ein großer 29 [Art.] ›Polen‹. In: Pierers Universal-Conversations-Lexikon. 6. Aufl. 1875 – 1879, Bd. 14, S. 492.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Unterschied in den von den drei großen Nachbarstaaten erzielten Erziehungsresultaten des polnischen Volks. Die beste Bildung haben in den 62 Jahren von 1815 – 77 unzweifelhaft die Posener Polen bekommen, denn ohne gute polnische Eigenschaften aufzugeben, haben sie von den Deutschen Ausdauer und Sparsamkeit angenommen und deutsche Schulen durchgemacht, wodurch sie vorteilhaft von ihren unter russischem Scepter lebenden Brüdern abstechen.30
Wenn in Fontanes preußisch-polnischen Gesellschafts- und Familiengeschichten polnische Figuren zeittypisch als Träger spezifischer Eigenschaften agieren, können solche mehr oder minder ambivalenten (nationalstereotypen) Zuschreibungen erzählerisch produktiv genutzt werden, sind wählbar und modifizierbar. Hinzu kommt, dass sich vor dem Hintergrund einer preußisch-polnischen Beziehungs- und Eroberungsgeschichte individuelle Lebensgeschichten fiktionalisieren lassen, die den Wechsel und/oder die Ambivalenz nationaler Zugehörigkeit spiegeln, gegebenenfalls problematisieren. So häufen sich unter dem polnischen Figurenpersonal in Fontanes Texten nicht von ungefähr Identitäten doppelter bzw. hybrider Nationalität: halbe Polen (Vor dem Sturm, Effi Briest), Pseudo-Polen (Unterm Birnbaum), konvertierte Polen (Vor dem Sturm, Cécile). Nun gilt, wie es Michael Titzmann formuliert hat, für das grenzziehende realistische Literatursystem die »Bevorzugung einer Weltstruktur der qualitativen Differenz statt der quantitativen Übergänge, der Disjunktheit statt der Skalierung, der Diskontinuität statt der Kontinuität«;31 allen Formen von Mischungen und Hybridisierungen wird ein ›gefährlicher‹, jedenfalls nicht normadäquater (daher im Zweifel angstbesetzter) Status der Nichtzuordenbarkeit zugewiesen, der letztlich – wie auch immer – aufzulösen ist. Dies kann bereits vorwegnehmen, wie in Fontanes Texten 30 [Art.] ›Polen‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. 1874 – 1878, Bd. 13, S. 38. Diese Passage findet sich auch – inhaltlich fast identisch – in der 4. Aufl. 1885 – 1890: [Art.] ›Polen‹, Bd. 13, S. 172. Umfassend dazu die Studie von Kochanowska-Nieborak, Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des ›langen‹ 19. Jahrhunderts, in der auch darauf hingewiesen wird, wie sehr der Blick auf die preußischen Polen letztlich Einfluss ausübte auf eine gesamtdeutsche Sicht (S. 257): »Die Analyse des Polenbildes in Meyers Konversationslexika des ›langen‹ 19. Jahrhunderts offenbart in eindrucksvoller Weise, dass die Teilungen Polens nicht nur die reale Herrschaft Preußens bzw. Deutschlands in den polnischen Westgebieten mit sich brachten, sondern auch allmählich dem preußischen, von legitimatorischem Interesse bestimmten Polenbild die ›Diskurshoheit‹ im Rahmen des gesamtdeutschen Polendiskurs [sic!] verschafften.« 31 Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹, S. 187.
3.2 »Vor dem Sturm« (1878)
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mit allen polnisch-preußischen Mischungen umgegangen wird, betrifft dies ein transnationales Heiratsprojekt (Vor dem Sturm) oder auf individualbiographischer Ebene Hybridisierungen einzelner Figuren. Struktureller Konservativismus ist freilich nicht zwangsläufig auch inhaltlich an konservative Positionen gekoppelt.32 Insofern gilt es nachfolgend vor allem zu zeigen, wie Fontanes Narrative solche Mischungen funktionalisieren.
3.2 »Vor dem Sturm« (1878) In keinem Roman Fontanes spielen polnische Figuren eine derart herausragende Rolle wie in seinem ersten und mit vier Einzelbänden zugleich umfangreichsten: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. 33 Fontane hat diesen Text, der nach einer über Jahrzehnte reichenden Entstehungsgeschichte34 im Spätherbst 1878 bei Wilhelm Hertz in Buchform erschien,35 als »Vielheits-Roman«36 ausgewiesen, im Rückblick – 1897 – auch als »meinen vaterländischen Roman«37. In der Forschungsliteratur 32 Michael Titzmann, Literatur und Politik im deutschen Realismus. In: Literatur in Bayern 28 (1992), S. 22 – 26, hier: S. 24. Vgl. auch die Einleitung der Herausgeber Kittstein und Kugler im Sammelband Poetische Ordnungen, S. 7 – 15. 33 Die Titel der vier Teilbände lauten: »Hohen-Vietz«, »Schloß Guse«, »Alt-Berlin«, »Wieder in Hohen-Vietz«. 34 Erste Pläne zu einem (historischen) Roman reichen schon in die 1850er Jahre, Vorarbeiten und eine erste Konzeption erfolgen 1862, erste Kapitel-Niederschriften 1866. Wiederaufgenommen und vollendet wird der Roman 1876 – 78, nachdem Fontane seine Stelle als Sekretär der Preußischen Akademie der Künste aufgegeben hat. Diese Entscheidung markiert Fontanes Durchbruch zum Schriftsteller, der er jetzt ausschließlich sein wollte. Vgl. detailliert die Ausführungen von Christine Hehle in: GBA Vor dem Sturm, Bd. 1, S. 390 – 411. Polnische Figuren sind bereits in den Notizen der 1860er Jahre integraler Bestandteil der Romankonzeption (siehe ebd., S. 435 – 447). 35 Ein gekürzter Vorabdruck war mit dem Untertitel »Historischer Roman« von Januar bis September 1878 in der Zeitschrift Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen erfolgt. 36 Fontane an Paul Heyse, 9. 12. 1878 (HFA IV/2, S. 639), an einen Begriff Karl Gutzkows anknüpfend. 37 Vgl. Fontane an Friedrich Paulsen, 29. 11. 1897 (HFA IV/4, S. 678). Christian Grawe, Preußen 1803 bis 1813 im ›vaterländischen Roman‹: Willibald Alexis, George Hesekiel, Theodor Fontane. In: Gerhard Schulz, Tim Mehigan und Marion Adams (Hrsg.), Literatur und Geschichte 1788 – 1988, Bern 1990 (= Australisch-Neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 15), S. 141 – 179, definiert diesen Gattungstyp als »historische[n] Roman, der sich stofflich auf die
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
wird Vor dem Sturm als »historischer Roman« klassifiziert, der freilich bei Fontane »eine Sonderform des Zeitromans«38 darstellt. So heißt es in seiner 1875 in der Vossischen Zeitung erschienenen Rezension zu Gustav Freytags Romanzyklus Die Ahnen: »Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten.«39 Entsprechend nimmt Fontane für den modernen realistischen Roman auch die Walter-Scott-Formel »Sixty years ago« als Orientierungsmarke in Anspruch.40 Allein unter Einhaltung dieser Maximaldistanz (Fontane sieht nur wenige Ausnahmen) können die dargestellten Welten ein Referenzsystem konstituieren, das in seinen Bedeutungszuschreibungen noch auf die Gegenwart Einfluss nimmt und in ihr verstehbar ist. Die Handlung von Vor dem Sturm erstreckt sich über den kurzen Zeitraum von Weihnachten 1812 bis Februar 1813, doch in diesem historischen Abschnitt zeichnet sich nach dem Scheitern des napoleonischen Russlandfeldzugs eine signifikante Wende für Preußen ab: machtpolitisch die Chance zur Befreiung von der (seit der vernichtenden Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806 bestehenden) französischen Fremdherrschaft, sozial- und mentalitätsgeschichtlich die von der alten Zeit des Ancien Régime zu einer neuen Zeit nationaler Besinnung. Statt der adeligen und übernational verstandenen Orientierungsgröße »Hof und Gesellschaft« zu huldigen, wie es noch die alte, gern französisch sprechende Gräfin Amelie von Pudagla tut, gilt es nun, so ihr Bruder Graf Berndt von Vitzewitz, sich preußisch-national für »Volk und Vaterland« (VdS 1, S. 356)41 einzusetzen. Für die polnischen Figuren bleibt der historische Wandel nicht ohne Folgen – am Ende des Romans haben sie alle Preußen verlassen. Diese narrative Exklusion entspricht einerseits poetologischen
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preußische Geschichte konzentriert«, wobei der »Anspruch Preußens auf nationale Geltung« erkennbar wird (S. 149). Stefan Neuhaus, Zeitkritik im historischen Gewand? Fünf Thesen zum Gattungsbegriff des Historischen Romans am Beispiel von Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹. In: Osman Durrani und Julian Preece (Hrsg.), Travellers in Time and Space/Reisende durch Zeit und Raum. The German Historical Novel/Der deutschsprachige historische Roman, Amsterdam/New York 2001, S. 209 – 225 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51 – 2001), hier: S. 209. HFA III/1, S. 319. Von Freytags Die Ahnen waren zwischen 1872 – 1874 drei Bände erschienen; bis 1880 kamen weitere drei Bände hinzu. HFA III/1, S. 320. Vor dem Sturm wird im laufenden Text mit Sigle (VdS), Bandangabe und Seitenzahl zitiert nach der zweibändigen Ausgabe der GBA. Bd. 1 enthält dabei die ersten zwei Bände des Romans, Bd. 2 den dritten und vierten Band.
3.2 »Vor dem Sturm« (1878)
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wie auch ideologischen Ordnungsmustern, andererseits aber gehen ihr unterschiedliche (Familien-)Vorgeschichten voraus, ist sie an verschiedene Aspekte figuraler Fremd- und Selbstbestimmung gebunden. Vor dem Sturm lässt sich, wie es Hugo Aust getan hat, als »eminente Konfliktdichtung«42 beschreiben. Dabei rekurriert der Konflikt-Begriff weniger auf die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Franzosen. Der lang geplante und schließlich durchgeführte Angriff auf die französische Besatzung in Frankfurt an der Oder unter der Leitung von Berndt von Vitzewitz bringt nicht einmal den Sieg mit der erhofften patriotischen Signalwirkung, sondern scheitert kläglich. Der Konflikt-Begriff zielt vielmehr auf die Ebene interfiguraler Auseinandersetzungen und intrapsychischer Dilemmata, die den Roman massiv prägen und in dieser Studie vor allem dann interessieren sollen, wenn sie preußisch-polnisch codierte sind. Preußisch-polnische Konfrontationen führen in Vor dem Sturm direkt in familiäre Kreise, verknüpfen politisch-öffentliche und private Sphäre. Im Mittelpunkt des Textes stehen zwei in Preußen ansässige, freundschaftlich und verwandtschaftlich miteinander verbundene gräfliche Familien: die märkische Familie von Vitzewitz, ansässig auf dem Rittergut Hohen-Vietz in der Landschaft Lebus im Oderbruch, und die polnische Familie von Ladalinski, wohnhaft in Berlin. Die Konstellation beider Familien ist in der Romangegenwart identisch: Die Mutter fehlt (bzw. ist nur im Porträtbild präsent), zurückgeblieben ist der Vater mit jeweils einem (älteren) Sohn und einer (jüngeren) Tochter. Berndt von Vitzewitz mit seinen Kindern Lewin und Renate stehen Alexander von Ladalinski mit Tubal (eigentlich Pertubal) und Kathinka gegenüber. Von den Vätern ebenso wie von Tante Amelie, die mit Ladalinski über dessen Ehefrau verschwägert ist, wird der Plan einer preußisch-polnischen Doppelhochzeit der Kinder favorisiert, dem auch diese selbst nicht abgeneigt scheinen. Am Ende kommt keine transnationale Hochzeit zustande.43 Stattdessen weist der Text schon früh auf alternative Partnerangebote für Lewin und Kathinka hin – auf die Pflegetochter des Dorfschulzen, Marie Kniehase, und auf eine weitere polnische Figur, Graf Bninski, mit dem Kathinka schließlich aus Preußen fliehen wird.
42 Hugo Aust, Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen/Basel 1998, S. 40. 43 Marianne Wünsch, Politische Ideologie in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ (1878). In: Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann (Hrsg.), Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 155 – 166, hier: S. 156.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Bereits dieser kurze Figurenaufriss scheint dazu aufzufordern, die polnischen Implikationen als textanalytisches Potential zu nutzen und ihnen genauer nachzugehen. Nun lässt sich das Ergebnis einer familialen Verfallsgeschichte leicht mit dem historischen Schicksal der polnischen Teilung in ein zeichenhaftes Abbildungsverhältnis setzen.44 Aussagen über die spezifischen Ausprägungen polnischer Thematik in Vor dem Sturm sind damit jedoch noch nicht gewonnen. Demgegenüber soll es hier darum gehen, textnah darzulegen, wie Figurationen des Polnischen in die strukturell-semantische Textur eines Romans, der eine signifikante Umbruchsituation Preußens fokussiert, eingewoben sind. Es verwundert, dass mit Blick auf Vor dem Sturm noch keine detaillierte Untersuchung zur narrativen Funktionalisierung des Polnischen vorliegt, obwohl dessen Stellenwert durchweg anerkannt wird:45 Er ergibt sich bereits aus dem Befund, 44 Christian Grawe, ›Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13‹. In: Ders. und Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, S. 488 – 509, hier: S. 500. 45 Nahezu alle Forschungsbeiträge zu Vor dem Sturm (verwiesen sei auf Rasch, Theodor Fontane Bibliographie. Bd. 3, S. 1824 – 1835, sowie das Literaturverzeichnis in GBA Vor dem Sturm, Bd. 1, S. 588 – 597) gehen im Rahmen ihrer jeweiligen Fragestellung – mehr oder minder ausführlich – auf die polnischen Figuren des Textes bzw. Einzelaspekte der polnischen Thematik ein. Darüber hinaus möchte ich verweisen auf Wünsch, Politische Ideologie in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ (1878), die allerdings ihren Fokus auf den preußisch-deutschen Raum als ideologische Definitionsmacht legt, Bernhard Viel, Utopie der Nation. Ursprünge des Nationalismus im Roman der Gründerzeit, Berlin 2009 (auch wenn ich Viels Rückbindung des Textes an ein selbstzeugerisches mythobiologisches Stiftungsmodell für falsch halte; die textimmanenten Kategorien »Blut« und »Land«/«Boden« werden semantisch überstrapaziert, um dem Konzept eines sogenannten »heroische[n] Realismus« – S. 327 – zu genügen), sowie Nacim Ghanbari, Dynastisches Spiel. Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 85 (2011), S. 186 – 207. Beiträge, die sich explizit der Polenthematik in Vor dem Sturm widmen, liefern insgesamt hingegen wenig systematisch Klärendes, weil sie oft stark der Inhaltsebene verhaftet bleiben, um als Ergebnis dann Fontanes abwägend-tolerantes oder aber sein kritisch-ablehnendes Verhältnis zu Polen festzuhalten. Zu nennen sind hier (zur ersten Gruppe gehörend) vor allem: Załubska, Zum Adelsverständnis der Realisten, S. 130 – 133; Lewandowska, ›… denn er ist Pole, vom Wirbel bis zur Zeh.‹; Stroka, Das Fremde in Theodor Fontanes Werk, S. 40 – 44; Vahlefeld, Theodor Fontane in Pommern, S. 95 – 101, und (zur zweiten Gruppe gehörend) Niemirowski, Zum Polenthema in Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹, sowie – wenn auch um Abwägung bemüht – Barbara Widawska, Die preußischpolnischen Familienbeziehungen in Fontanes Roman ›Vor dem Sturm‹ [mit polnischer Zusammenfassung]. In: Reflexionen über Pommern und Polen, S. 170 – 185. Eine Ausnahme bilden die Ausführungen von Gerhard Friedrich, Preußisch-polnische Irrungen und Wirrungen in Theodor Fontanes Roman ›Vor dem Sturm‹. In: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 2 (1996), S. 43 – 53, der den polnischen
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dass zentrale Themenkomplexe, die die preußischen Debatten in Vor dem Sturm bestimmen – nämlich ›Treue‹ vs. ›Untreue‹ oder die Wertkategorie des eigenen ›Vaterlandes‹ –, paradigmatisch in den (binnen)polnischen Auseinandersetzungen wiederkehren. Hier gilt es, genauer hinzuschauen, zumal nicht mit den zeitgenössisch üblichen Oppositionsschemata verfahren wird. Polnische Konflikte, so ist zu zeigen, resultieren aus verschiedenen, textuell ausführlich dargestellten (transnationalen) Lebensgeschichten, aber auch aus – dies blieb bisher unbeachtet – divergierenden Erinnerungspraktiken. An ihnen misst sich, zumindest vordergründig, die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit polnischer Loyalität zu Preußen. Hinzu kommen weitere Bindungsgrößen: Miteinander kollidieren »beschworene[]« und »natürliche Treue« (VdS 1, S. 258). Das gilt einerseits für die Preußen in Vor dem Sturm, die trotz Zurückhaltung ihres zum Bündnis gezwungenen Königs das Recht des Widerstands gegen die französischen Besatzungstruppen behaupten; das gilt jedoch andererseits nicht weniger für die Polen und ihre expliziten oder impliziten Orientierungsdilemmata zwischen Vergangenheit und Gegenwart, dem Herkunftsraum Polen und der preußischen Welt, in der sie nun leben. 3.2.1 Assimilation oder Opposition: Geheimrat Ladalinski vs. Bninski Tragende politische Antipoden innerhalb der polnischen Figurengruppe in Vor dem Sturm sind Graf Alexander von Ladalinski, um die 60 Jahre alt, und der etwa halb so alte Graf Jarosch von Bninski.46 Beide figurieren in den ersten zwei im Oderbruch – in Hohen-Vietz und auf Schloss Guse der Tante Amelie – spielenden Bänden des Romans nur als Objekte von Erzähler- und Figurenrede, sind »zeichenhaft repräsentierter Gegenstand von Figuren in Vor dem Sturm und ihren Treueerfahrungen bzw. -verpflichtungen nachgeht, sowie in Teilen Agnieszka B. Nance, Literary and Cultural Images of a Nation without a State. The Case of Nineteenth-Century Poland, New York 2008 (= Austrian Culture 36), S. 48 – 57 (trotz interessanter Einzelbeobachtungen enthält ihr Buch leider wiederholt eklatante inhaltliche Fehler, so wenn zum Beispiel auf S. 46 ein Nietzsche-Zitat als Fontane-Äußerung ausgegeben wird, oder wenn bezüglich Unterm Birnbaum vom polnischen Aufstand von 1863 [!] die Rede ist, S. 56). Historische Bezüge stellt Lipin´ski, Epische Perspektiven eines Feldzuges, her. 46 Der Name Ladalinski lehnt sich offensichtlich an den polnischen Adelsnamen Madalin´ski an. Bnin´ski ist der Name eines polnischen Adelsgeschlechts, der Fontane bereits seit Kindertagen bekannt war (siehe Meine Kinderjahre, HFA III/4, S. 60).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Deutungen«47; erst im dritten Band »Alt-Berlin« treten sie selbst in Erscheinung, zunächst Ladalinski gleich im ersten Kapitel, als er Berndt von Vitzewitz beim alten Prinzen Ferdinand, dem jüngsten Bruder Friedrichs des Großen, vorstellt, »zu dem Geheimrath von Ladalinski seit einer Reihe von Jahren beinahe freundschaftliche Beziehungen unterhielt« (VdS 2, S. 8). Berndt soll Gelegenheit gegeben werden, die Möglichkeiten eines vom König unterstützten Aufstands gegen die (noch mit Preußen im Bündnis stehenden) französischen Truppen auszuloten. Während also Ladalinski bei seinem ersten Auftritt sogleich eine Rolle als Vermittler preußischer Interessen übernimmt, wird Bninski erst und bezeichnenderweise im fünften Kapitel mit der Überschrift »Soirée und Ball« eingeführt – als Mazurkatänzer, noch dazu mit Kathinka. Und nun begann der Tanz, der damals in den Gesellschaften unserer Hauptstadt Mode werdend, dennoch, wenn Polen oder Schlesier von jenseit der Oder zugegen waren, in begründeter Furcht vor ihrer Ueberlegenheit immer nur von diesen getanzt zu werden pflegte. Alles hatte sich des graziösen Schauspiels halber herzugedrängt […]. (VdS 2, S. 78)
Die Initiation des überzeugten Nationalpolen Bninski als Handlungsträger erfolgt über den polnischen Nationaltanz schlechthin. Dabei wird nicht auf den Tanz als Negativtopos für »Leichtfertigkeit und Unverantwortlichkeit« abgestellt, wie er sich in zahlreichen Polenporträts der (preußisch-)deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik findet.48 Stattdessen erkennt der zuschauende Lewin nur eines: »Kraft, Grazie, Leidenschaft« (VdS 2, S. 79). »So hintanzen, […] das heißt Leben« (VdS 2, S. 231), sagt er später an anderer Stelle,49 ein Diktum, das mit Blick auf Bninski und Kathinka sogar narrative Gültigkeit über den konkreten Kontext hinaus erhält: Von
47 Michael Titzmann, An den Grenzen des späten Realismus: C.F. Meyers ›Die Versuchung des Pescara‹. Mit einem Exkurs zum Begriff des ›Realismus‹. In: Rosmarie Zeller (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums, Heidelberg 2000 (= Beihefte zum Euphorion 35), S. 97 – 138, hier: S. 114. 48 Dazu im Einzelnen Orłowski, Fontanes Polenbild (in der Forschung), S. 35 – 40 (Zitat S. 39). Beispielsweise weist Heinrich von Treitschke in seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert den polnischen Revolutionär Mierosławski als Freund des Tanzes aus. Dass die Polen »die besten Mazurkatänzer« sind, konstatiert schon von Bülow in Schach von Wuthenow – siehe oben (GBA Schach von Wuthenow, S. 8). 49 Und zwar beim Anblick einer dörflichen Tanzveranstaltung, während er sich selbst nach Kathinkas Flucht in einem krisenhaften Zustand der Isolation befindet.
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den Polenfiguren des Romans bleiben sie (auch im emphatischen Sinne) am Leben.50 Sowohl der alte Ladalinski als auch Bninski haben sich am polnischen Freiheitskampf unter Kos´ciuszko 1794 beteiligt, der eine als erfahrener Politiker, der andere als »ein halbes Kind« (VdS 1, S. 271). Aus der Niederlage und Auflösung des polnischen Staates ziehen sie jedoch unterschiedliche Konsequenzen: Während Bninski sich als polnischer Patriot den napoleonischen Truppen anschließt, geht Ladalinski nach Preußen und startet ein Assimilationsprojekt mit weitreichenden, generationenübergreifenden Konsequenzen. Der Text operiert mit vegetativer Tiefenmetaphorik, wenn vom langjährigen Bemühen Ladalinskis die Rede ist, sich »aus dem heimischen Boden in einen fremden [zu] verpflanz[en]« und dort »Wurzel zu schlagen« (VdS 2, S. 212) sowie »in allmählich immer intimer werdende Beziehungen zu dem Adel des Landes hineinzuwachsen« (VdS 2, S. 40). Die Einheirat seiner Kinder Kathinka und Tubal in eine alte märkische Familie soll die Ankunft in der neuen ›Heimat‹ definitiv besiegeln, den »Ladalinskistamm«, wie sich Bninski ausdrückt, zu neuer Blüte führen (VdS 2, S. 214). Tatsächlich geht es Ladalinski darum, durch gesellschaftliche Etablierung (in Zeiten der polnischen Staatenlosigkeit) eine subjektive Lösung für die eigene Existenz- und Überlebensfrage (siehe VdS 2, S. 124) zu finden. Der polnischen Entwurzelung soll die preußische Verwurzelung folgen. Der Übertritt nach Preußen ist in seinen Augen nicht weniger als die »Sache meines Lebens« (ebd.). Für Ladalinski kann diese Neuorientierung nur über einen endgültigen Bruch mit dem Herkunftsraum gelingen: »Die Ladalinskis sind aus Polen heraus, und sie können nicht wieder hinein. Ich habe die Brücken abgebrochen. Ob das Geschehene das allein Richtige war, ist nicht mehr zu befragen; es genügt, daß es geschehen ist.« (VdS 2, S. 123) Als Bollwerk gegen ein Zurück werden »Erinnerungen« (VdS 2, S. 212) gesetzt, ein schmerzliches Geflecht politisch-historischer und vor allem persönlichprivater Erfahrungen. Zum einen sieht Ladalinski Polen ausgerechnet an das verhasste Russland (vgl. VdS 2, S. 39) verloren, zum anderen ist Polen raumsemantisch durch die Unglücksgeschichte seiner Ehe belastet: Denn die Heirat mit der kapriziösen preußischen Comtesse Sidonie von Pudagla, die für den verliebten Ladalinski als jubelnde »Einholung einer Prinzessin« 50 Emphatisches Leben meint hier »erfülltes, intensives« Leben; entsprechend ist es nicht automatisch mit biologischem Leben gleichzusetzen, das auch ein »NichtLeben im emphatischen Sinne sein [kann]« (siehe Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹, S. 192).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
(VdS 2, S. 34) begann, endete schließlich im für ihn demütigenden Desaster: Nach der Geburt von zwei Kindern verlässt Sidonie ihren Mann, macht sich 1792 mit dem polnischen Grafen Miekusch nach Paris auf und davon. Das Ende der sechsjährigen Ehe, die sie als »Irrthum« (VdS 2, S. 37) abtut, besiegelt sie mit wenigen Abschiedszeilen sowie der Wiederannahme ihres Mädchennamens. Dass die einzige in Vor dem Sturm realisierte preußisch-polnische Eheverbindung scheitert, wird narrativ über die (von Ladalinski nicht bemerkte) Unvereinbarkeit der Charaktere plausibilisiert. Zugleich wird der Vorwurf der Untreue eindeutigen nationalen Zuordnungen entzogen: Die preußische Comtesse, die eine Schönheit ist, anfällig für fremde Huldigungen sowie »keine andere Verpflichtung kennend, als Genuß und Zerstreuung« (VdS 2, S. 34 f.), vereinigt nämlich auf sich Merkmale der Oberflächlichkeit und des Leichtsinns, die in der zeitgenössischen Anthropologie den Polen zugeordnet werden. Tante Amelies Aussage, dass »durch ein Spiel des Zufalls […] in eben dieser Mutter mehr polnisch Blut lebendig gewesen wäre, als in einem halben Dutzend ›itzkis‹ oder ›inskis‹« (VdS 1, S. 192), bringt dies sogar explizit im Text zur Sprache. Über die Merkmalskongruenz steht die quasi-polnische Gräfin Sidonie der »typische[n] polnische[n] Reiterfigur« (VdS 2, S. 35) Miekusch mit dem »Ruf eines glänzenden Wirths« (VdS 2, S. 36) deutlich näher als dem preußisch orientierten Polen Ladalinski, der sich nach ihrer Flucht mit dem »Schiffbruch [s]eines Lebens« (VdS 2, S. 124) konfrontiert sieht. Ladalinskis preußische Affinitäten, die seinen Grenzübertritt mitbedingen, werden schon früh und auf mehreren Ebenen offengelegt, nicht zuletzt über charakterliche Merkmale. Das Porträtkapitel »Geheimrath von Ladalinski« (VdS 2, S. 31 – 44) gibt Auskunft über »[s]eine mehr preußisch als polnisch angelegte Natur« (VdS 2, S. 39) und meint damit die Ablehnung alles »Unordentlichen und Willkürlichen« (ebd.), den (selbstkritisch beobachteten) Charakterzug des »Pedantische[n]« (VdS 2, S. 34). Hinzu kommt, dass die westlichen Güter seiner nahe Czenstochau angesiedelten Herrschaft Bjalanowo im Herzogtum Schlesien liegen, also zum preußischen Territorium gehören, Ladalinski damit schon immer auch preußischer Untertan ist. Bereits die territoriale Zwischenlage Bjalanowos bildet topographisch und materiell die lebensweltlichen Alternativen Ladalinskis zwischen Polen und Preußen ab –51 auch wenn die Lage des 51 Sogar in die Physiognomie Ladalinskis scheint eine binationale Ausrichtung eingeschrieben, kann doch die markante »Adlernase« (VdS 2, S. 32) ebenso den polnischen wie den königlich-preußischen Adler indizieren.
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Mittelpunkt-Schlosses Bjalanowo auf polnischem Boden anzeigt, wo Ladalinski biographisch-historisch verwurzelt ist. Bei aller Preußenorientierung steht Ladalinskis Lebensgeschichte zunächst ganz im Dienste Polens: 23-jährig sitzt er, nach Jahren im Ausland mit Aufenthalten in Wien und Paris, im polnischen Reichstag und zeigt, »in die politischen Kämpfe« (VdS 2, S. 33) der 1770er Jahre hineingezogen, eine entschiedene Parteinahme gegen Russland.52 Später ist er, wie schon erwähnt, Parteigänger Kos´ciuszkos, entwirft eine liberale Verfassung53 und erweist sich trotz fehlender Militärerfahrung als tapferer Kämpfer in der Armee. Bei Szekoszin [Szczekociny] im Juni 1794 – so heißt es im Roman – »hielt er bis zuletzt aus« (VdS 2, S. 38), nach der Niederlage von Maciejowice im Oktober desselben Jahres sorgt er während des Rückzugs auf die Warschauer Vorstadt Praga beim Übergang über die Pilica für »die letzte glänzende Aktion im freien Felde« (ebd.) gegen russische Truppenkontingente. Dass der Text im Zusammenhang mit der Ladalinski-Figur den Anteil Preußens an den polnischen Teilungen marginalisiert – im ganzen Porträtkapitel »Geheimrath von Ladalinski« gibt es hierzu nur einen Hinweis, der jedoch lediglich die preußischen Gebietserweiterungen infolge der dritten Teilung betrifft, während die preußische (im Gegensatz zur russischen) Beteiligung an den vorhergehenden
52 Die erste polnische Teilung 1772 ging zwar wesentlich (wenn auch nicht allein) auf die machtpolitisch motivierte Initiative Friedrichs des Großen zurück, wurde aber von großen Teilen der polnischen Bevölkerung vor allem den Russen angelastet (Bömelburg, Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen, S. 125). Die russische Dominanz in Polen – Russland war Garantiemacht der polnischen (eigentlich reformbedürftigen) Verfassung – schränkte den Spielraum für politische Entscheidungen stark ein. Geprägt wurden die 1770er und 1780er Jahre von Machtkämpfen zwischen dem von Russland begünstigten polnischen König Stanisław II. August Poniatowski und oppositionellen Adelsparteien, die bald auch Preußen um Unterstützung ersuchten. Siehe Jerzy Michalski, Polen und Preußen in der Epoche der Teilungen. In: Klaus Zernack (Hrsg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 – 1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee. Mit einem Geleitwort von Otto Büsch, Berlin 1982, S. 35 – 52. 53 Vermutlich dachte Fontane an die berühmte polnische Verfassung vom 3. Mai 1791. Der Textchronologie folgend (Flucht Sidonies im Herbst 1792), kommt aber nur das Manifest von Połaniec (nordöstlich von Krakau) vom 7. Mai 1794 in Frage, in dem Kos´ciuszko die Aufhebung der Leibeigenschaft und eine Verringerung der Frondienste verkündete. Schon Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 232, hat darauf hingewiesen.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Kämpfen Leerstelle bleibt –,54 erscheint im Rahmen der politischen Lebensgeschichte Ladalinskis narrativ konsequent: Der Übertritt auf preußisches Gebiet wird zusätzlich legitimiert, ist auch vor dem Hintergrund einer antagonistischen Haltung des Grafen gegenüber Russland zu sehen,55 die dadurch Verstärkung erfährt, dass der nahe Czenstochau gelegene Kernbesitz um das (fiktive) Schloss Bjalanowo (hier weicht der Text von der realhistorischen Gebietslage ab) als russisch okkupiert ausgegeben wird (vgl. VdS 2, S. 39).56 Schon Ladalinskis Entsendung als polnischer Gesandter nach Berlin im Jahr 1786 – bei dieser Gelegenheit trifft er auf seine spätere Frau – ist, so mutmaßt der Erzähler, einer »Hinneigung zu Preußen« (VdS 2, S. 33) geschuldet oder aber auch der Tatsache, dass ein Teil seiner Besitzungen in Preußen liegt. Nach seiner Hochzeit kehrt Ladalinski freilich wieder nach Polen zurück; preußische Neigungen allein generieren noch kein Bedürfnis nach dauerhaftem territorialem Wechsel (ebenso wenig wie der eheliche Betrug). Aber sie begünstigen, so wird es im Text deutlich gemacht, nach der Übersiedlung den Wandel von einem polnischen Freiheitskämpfer zu einem assimilierten Funktionsträger der preußischen Regierung: »In kürzester Frist hatte Ladalinski sich in den neuen Verhältnissen zurecht gefunden.« (VdS 2, S. 39) Er fand in dem Regierungsmechanismus, in den er jetzt eintrat, sein Ideal verkörpert. Was darin schädliches war, das übersah er oder erachtete es als gering, nachdem er die Nachtheile eines entgegengesetzten Verfahrens so viele Jahre lang beobachtet hatte. Er war bald preußischer als die Preußen selbst. (Ebd.)
Ladalinski geht zunächst als preußischer Gesandter nach Kopenhagen, dann nach London, wechselt schließlich – zurückberufen – ins GeneralOberfinanzdirektorium. Und er konvertiert zum Protestantismus, laut Erzählerkommentar »in dem richtigen Gefühl erst dadurch seine Staatszugehörigkeit zu beweisen« (ebd.). Eine katholische Herkunft erregt in der 54 Gemeint ist der Hinweis auf »[d]ie großen Flächen polnischen Landes, die gerade damals Preußen einverleibt wurden« (VdS 2, S. 39). Keine Erwähnung findet die entscheidende Beteiligung der preußischen Armee an der Schlacht von Szczekociny im Juni 1794, bei der sogar der preußische König Friedrich Wilhelm II. anwesend war und die zur ersten Niederlage Kos´ciuszkos führte. 55 So auch Nance, Literary and Cultural Images, S. 50. 56 Czenstochau kam tatsächlich erst 1815 unter russische Herrschaft (und gehörte noch in der Schreibgegenwart Fontanes zu Russland). Mit der zweiten polnischen Teilung war das Gebiet um Czenstochau zunächst an Preußen gefallen und wurde schließlich 1807 in das von Napoleon geschaffene Herzogtum Warschau einbezogen.
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preußischen Gesellschaft immer – dies wird sich auch im Roman Cécile zeigen – den Verdacht politischer Unzuverlässigkeit. Ladalinskis Entscheidung, sich ausgerechnet dem protestantisch-reformierten Bekenntnis des Königshauses anzuschließen, ist als Loyalitätsbekundung gegenüber eben jener Institution zu sehen, die für ihn als »Assimilationsagentur«57 wirkt. Bemerkenswert ist die Wahl des Wohnortes in Berlin: Ladalinski bezieht ein Palais in der Königsstraße, schräg gegenüber der Berliner Gerichtslaube, das die Memoria an die preußische Vergangenheit regelrecht zelebriert: Erbaut wurde es von Andreas Schlüter, dem berühmten Hofbaudirektor des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Als Auftraggeber fungierte damals der erste preußische König, Friedrich I. Und vormalige Kurfürsten zieren noch in der Romangegenwart als Statuen den Treppenaufgang zum ersten Stock (vgl. VdS 2, S. 72). Das Bemühen um gesellschaftliche Teilhabe impliziert also auch den – noch dazu sichtbaren – Bezug auf historische und kulturelle Größen Preußens, ein Sich-Stellen in die Tradition einer fremden Geschichts- und Kulturlandschaft. Sich lebensgeschichtlich neu zu verorten beinhaltet für Ladalinski zugleich eine Ausrichtung auf neue ideelle Bezugsgrößen.58 An seiner Figur lässt sich zeigen, dass »Umbildung von Identität […] immer auch Umbau des Gedächtnisses [bedeutet]«.59 Eine Rückkehr nach Polen sieht Ladalinski, auch unter veränderten politischen Verhältnissen, nicht mehr vor (siehe VdS 2, S. 40). »[S]eine[] Erinnerungen« (VdS 2, S. 212) fungierten einst als Wegweiser von Polen nach Preußen. Nun, unter dem fremd- wie selbstgestellten Imperativ der Assimilation, werden sie als polnische Erinnerungen abgespalten – metaphorisch im Abbruch aller Brücken verdeutlicht (siehe VdS 2, S. 123) –, um ihnen ein neues, nämlich preußisches familiales Gedächtnis aufzusetzen. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zitiert den französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er 57 Ghanbari, Dynastisches Spiel, S. 199. 58 Wie sich Ladalinski die preußische Geschichte aneignet, wird auch deutlich, als er im Kapitel »Kleiner Zirkel« einen Ausflug nach Lehnin anregt: »Dann kam er auf Lehnin, verbreitete sich über die Weissagung, deren erste und letzte Zeilen er im lateinischen Original auswendig wußte und schloß mit einem Seufzer darüber, daß ihm während voller siebzehn Jahre ein Besuch dieser alten Kulturstätte, zugleich des Begräbnißplatzes so vieler Markgrafen und Kurfürsten, versagt geblieben sei.« (VdS 2, S. 190) 59 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003 (Broschierte Sonderausgabe), S. 62 f.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Jahren, wenn sie schreibt, »dass wir unsere Erinnerungen stets ›unter dem Druck der Gesellschaft‹ rekonstruieren«,60 mithin die Gegenwart unseren Gedächtnisrahmen bestimmt. Tatsächlich passt Ladalinski seine familiale Erinnerung den neuen, gegenwärtigen Lebensumständen an. Dabei geht es weniger um Assimilation als »Vergessensanstrengung«61 als vielmehr um eine Diachronisierung von Erinnerung, eine konstruktive Funktionalisierung des polnischen Gedächtnisses als Negativerinnerung, um sich eines besseren Jetztzustands zu versichern. Die eigenen Kinder durch Heirat mit dem märkischen Adel zu verbinden heißt in diesem Kontext freilich nichts anderes, als dem Haus der Ladalinskis eine neue »Kette der Ahnen«62 zu sichern. Der Erzähler in Vor dem Sturm spricht vom »Adoptivvaterlande« (VdS 2, S. 40)63 des Grafen und funktionalisiert damit Preußen als einen Raum, der nach Ladalinskis »Wunsch« (VdS 2, S. 123) seine Fortpflanzungsfamilie kontinuieren soll. Die familiär vorgegebene Blickrichtung ist die prospektive, das heißt die preußische, sowohl in politischer als auch in privater Hinsicht. Zwar pflegt Ladalinski weiterhin ausgewählte Kontakte zum polnischen Adel – schließlich verkehrt auch Bninski in seinem Haus –, aber dies erscheint im Text marginalisiert gegenüber seinen preußischen Beziehungen. Die Gästeliste auf dem Ball der Ladalinskis liest sich entsprechend wie die Bestätigung einer gelungenen gesellschaftlichen Integration: Anwesend sind Adjutanten und Kammerherren der verschiedenen prinzlichen, damals sehr zahlreichen Hofstaaten, Gesandte kleinerer Höfe, Excellenzen aus dem auswärtigen Departement und Abtheilungschefs des Oberfinanzdirektoriums, wie der Kriegs- und Domänenkammer (VdS 2, S. 74),
aber auch der »Generaldirektor der königlichen Schauspiele« oder »Universitätsprofessoren, Aerzte, Geistliche und Berliner Stadtcelebritäten« (ebd.). Und doch ist das »Ansehen« (VdS 1, S. 283) der Ladalinskis eine Kategorie auf Abruf. Denn innerhalb des preußischen Norm- und Wert60 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 157. 61 Im Sinne von Jan-Arne Sohns, An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen historischen Roman 1870 – 1880, Berlin/New York 2004 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 32 [264]), S. 46: »Assimilation wird […] zur Vergessensanstrengung« bei den Goten in Felix Dahns Ein Kampf um Rom, die zu den Römern übergelaufen sind. 62 Vgl. den Titel der Studie von Sohns. 63 Siehe auch weiter unten das ausführliche Zitat.
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systems mit seinen klaren Grenzziehungen64 drohen für Abweichungen stets Sanktionen, und der Geheimrat weiß von gesellschaftlichen Vorbehalten: »[N]ur widerstrebend ist die Gesellschaft dem Vertrauen gefolgt, das mir der Hof entgegenbrachte« (VdS 2, S. 124). Ladalinskis »Fanatismus« (VdS 1, S. 282), mit dem er das Integrationsprojekt für seine Familie verfolgt, resultiert auch aus dem sozialen Beobachtungsdruck, dem er sich außerhalb des höfischen Schutzraums (wo im Gegensatz zur »Gesellschaft« offenbar nach wie vor ein übernationales Selbstverständnis herrscht) ausgesetzt sieht. Das Vorhaben, polnischen Erfahrungen politischer wie privater Destabilisierung eine abgesicherte Existenz in Preußen entgegenzustellen, untersteht einerseits potentiellen Gefährdungen von außen, andererseits lauern subjektbezogen innere Widerstände. So will der Erzähler über die psychischen Folgen des Übertritts nur spekulieren: Ob ihn [Ladalinski, A. D.] von Zeit zu Zeit eine Sehnsucht nach Bjalanowo und dem alten Schloß mit den vier Backsteinthürmen, an das sich die schönsten und die schwersten Stunden seines Lebens knüpften, beschlich, wer wollt’ es sagen! Kein Wort, das darauf hingedeutet hätte, kam je über seine Lippen. Er schien glücklich in seinem Adoptivvaterlande, vielleicht war er es auch […]. (VdS 2, S. 40)
Zur Metapher von Ladalinskis unsicherer Existenz avanciert ein nervöses englisches Windspiel, das ihm im Text als Begleiter zugeordnet wird: »[Z]itternd, während das Glöckchen an seinem Halse hin und her tingelte« (VdS 2, S. 32) sitzt es in Ladalinskis Arbeitszimmer, verleiht der im Porträtkapitel mitgeteilten Lebensgeschichte des Geheimrats die akustische Rahmung.65 Im Gespräch zwischen Vater und Tochter im Kapitel »Leichtes Gewölk« sorgt es für irritierende Störungen, ebenso wie es die spätere Begegnung zwischen Ladalinski und Renate zum Abbruch zwingt (siehe VdS 2, S. 253). Und dann existiert über Ladalinskis Schreibtisch noch als semiotische Repräsentation der Vergangenheit das Porträt seiner ›polnischen‹ Gattin,66 das er nach Preußen hinübergerettet hat – ihr bewahrt er, 64 Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹, S. 188. 65 In einer Inhaltsübersicht, die sich zum Kapitel »Eine Begegnung« im Arbeitsmanuskript von Vor dem Sturm befindet, trägt das Windspiel sogar noch den passenden Namen »Tremble«. Siehe Walter Hettche, Die Handschriften zu Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹. Erste Ergebnisse ihrer Auswertung. In: Fontane Blätter 58 (1994), S. 193 – 212, hier: S. 203. 66 Dieses Porträt hängt so, »daß sein Blick es treffen muß, sooft er vom Schreibtisch aufsieht«, wie Renate Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹. Muttergestalten in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ und ›Effi Briest‹. In: Irmgard Roebling und Wolfram
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trotz aller Leiderfahrungen, die eheliche Treue.67 Die Begründung hierfür liefert ein irrationales, aber offenbar unhintergehbares Erklärungsmuster: »[d]er räthselhafte Zug der Natur« (VdS 2, S. 38). Während bei Ladalinski also personale Ambivalenzen angedeutet werden, erscheint Graf Bninski in Vor dem Sturm als gänzlich ungebrochener Charakter. Überhaupt ist dieser – zumal er durch sein Werben um Kathinka die personifizierte Gefahr für die Pläne des alten Grafen darstellt – als polnische Oppositionsfigur zu Ladalinski konzipiert, repräsentiert er ein alternatives Lebensmodell. Während Ladalinski den Glauben an Polens Ende in einen preußischen Neuanfang übersetzen will und sich von der polnischen Vergangenheit loslösen möchte, hofft Bninski auf die Restitution des polnischen Staates und kultiviert nicht zuletzt aus der Erfahrung einer defizienten, weil preußischen Gegenwart heraus ein kontrapräsentisches ›polnisches‹ Gedächtnis.68 Diese Erinnerung fungiert als »Form des Widerstands«,69 die mobilisierende Kräfte freisetzt. Bninskis Biographie steht im Zeichen eines aktiven Eintretens für die Belange Polens. Seine Heldengeschichte beginnt bei Maciejowice, als er als Fahnenjunker neben dem verletzten General Kos´ciuszko ausharrt und »den von Blutverlust ohnmächtig Gewordenen mit seinem jungen Leben« (VdS 1, S. 271) deckt. Dass dieser große polnische Erinnerungsort einer Niederlage (im Oktober 1794), der sich mit den Kos´ciuszko-Worten »finis Poloniae« ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat, am Anfang seiner militärischen Laufbahn steht, scheint dabei signifikant. Auf Bninski lässt sich applizieren, was Aleida Assmann über die Katalysatorkräfte des Verlierergedächtnisses schreibt: »Die Erinnerung der Verlierer […] hat ein stärkeres Wirkungspotential als d[ie] der Sieger. Während der Triumph, an Mauser (Hrsg.), Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli, Würzburg 1996, S. 247 – 269, hier: S. 251, richtig festhält. 67 Damit erfüllt Ladalinski eine hohe Norm des Literatursystems »Realismus«. Siehe Titzmann, An den Grenzen des späten Realismus, S. 118: »Im Wertsystem des ›Realismus‹ gilt […], daß es nur eine Liebe im Leben geben könne, auch wenn man den Partner verliere.« 68 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 5. Aufl., München 2005 (Broschierte Sonderausgabe), S. 79. Assmann bezeichnet diejenige Funktion des »Mythos« (»Mythos« wird dabei als erinnernder Vergangenheitsbezug verstanden, der auf die Gegenwart und Zukunft reflexiven und gestaltenden Einfluss ausübt) als kontrapräsentisch, die »von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart [ausgeht]« (ebd.). 69 Ebd., S. 73 und 83 – 86.
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dem sich die Sieger freuen, unweigerlich zur Vergangenheit wird, weist die Erinnerung der Verlierer in die Zukunft.«70 Während Ladalinski seine Kette der Erinnerung preußisch neu besetzt, perpetuiert Bninski sie als polnische, zieht aus ihr subversive Konsequenzen. Nach der Aufteilung des polnischen Staates begibt er sich folgerichtig unter französisches Kommando,71 kämpft in Spanien, ist heroischer Überlebender bei der verlustreichen Einnahme eines Engpasses, von dem es heißt, »der Fall stehe einzig da in der Kriegsgeschichte« (VdS 1, S. 272).72 Napoleon zeichnet den Schwerverletzten mit dem roten Band der Ehrenlegion aus. Nun wird im Text wiederholt expliziert, was die napoleonische Niederlage in Russland für das besetzte Preußen bedeutet: die ersehnte »Wandlung« (VdS 1, S. 38), ein göttliches »Zeichen« (VdS 1, S. 39 und 49), für Berndt von Vitzewitz sogar die Aufforderung zum aktiven Widerstand. Von jahrelanger »Unterdrückung«, »Ohnmacht« (VdS 1, S. 40) und »Niedrigkeit« (VdS 1, S. 41) Preußens ist in diesem Zusammenhang die Rede, dem »nahezu aus der Reihe der Staaten gestrichenen Vaterland[]« (VdS 1, S. 34), das »wieder hergestellt werden« müsse (VdS 1, S. 209); denn »dies arme niedergetretene Volk [ringt] nach Erlösung« (VdS 1, S. 356). Vor dem Hintergrund dieser raumsemantischen Konstellation zwischen Preußen und Frankreich ist die textuelle Einbindung polnischer Figuren zu beachten: Den Preußen, die auf eine »Rückkehr zu Freiheit und Machtstellung« (VdS 1, S. 358) hoffen dürfen, stehen Repräsentanten eines Volkes gegenüber, dem die Freiheit unter anderem auch durch Preußen – nun selbst in der Rolle des Okkupanten – weiterhin verweigert wird. Mit Frankreich hingegen verbinden sich polnische Hoffnungen auf Wiederherstellung eines eigenen Staates, die durch die Gründung des Herzogtums Warschau 1807 neuen Auftrieb erfahren haben. 70 000 Polen sind mit
70 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 65. 71 Vgl. Davies, Im Herzen Europas, S. 145: »In der Revolutionszeit wandten sich die konservativen Monarchien, die Polen vor kurzem geteilt hatten, konsequent gegen die neuen Ideen, die aus Frankreich kamen. Die Polen und die Franzosen waren daher naturgemäß Partner.« 72 Die Textdaten lassen auf die Schlacht am Pass Somo-Sierra im Guadarrama-Gebirge im November 1808 schließen. Vgl. Johannes Willms, Napoleon. Eine Biographie, München 2005, S. 489. Bninski selbst verweist auf das Jahr 1808 seines Spanien-Einsatzes, als er gegenüber Rittmeister von Hirschfeldt, der 1810 in Spanien zum Einsatz kam (siehe VdS 2, S. 109), erwähnt, er habe zwei Jahre früher dort gekämpft (siehe VdS 2, S. 118).
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dabei, als Napoleon in Russland einmarschiert; nicht von ungefähr spricht er von seinem »polnischen Krieg«.73 Gegenüber Bninski wird vor dem Hintergrund dieser polnisch-französischen Allianz der Gesprächsstoff zensiert: Am Weihnachtsabend vermeiden die Ladalinskis in Gegenwart des (freilich informierten) Grafen, über das 29. Bulletin zu sprechen, das das Scheitern des Russlandfeldzugs verhalten zugesteht (siehe VdS 1, S. 147). Doch nicht nur die Preußen deuten Zeichen, auch Bninski ist ein Zeichendeuter, wenn auch im profranzösischen Sinne. Unter dem Eindruck, dass Napoleon weiterhin über große ausgeruhte Truppenreserven verfügt, die sich nun »im Warschau’schen und Posen’schen« (VdS 2, S. 171) zusammenziehen, plant er, sich dem befehlenden und mit ihm befreundeten Vizekönig Eugen Beauharnais zu unterstellen (siehe VdS 2, S. 219). Bninskis Kontakte zur politischen Elite Frankreichs kontrastieren mit den engen Beziehungen zum preußischen Hof, die Ladalinski pflegt; Bninski lehnt es hingegen ab, dort vorgestellt zu werden (siehe VdS 1, S. 270). Obwohl der junge Graf im Roman als »Pole vom Wirbel bis zur Zeh« (VdS 1, S. 193) figuriert und auch sein Deutsch – offenbar im Gegensatz zum assimilierungswilligen Ladalinski, bei dem entsprechende Texthinweise fehlen – zwar ein gutes, aber »polnisch accentuirte[s]« (VdS 2, S. 107)74 ist, erweist er sich als mit dem ambivalenten polnischen Merkmalskatalog,75 so wie er im 19. Jahrhundert ein »konsensstiftende[s] Hintergrundswissen«76 bildet, nur unzureichend beschreibbar. Übernommen werden positive Elemente, hinzu kommen weitere Merkmale, die aus (preußisch-)deutscher Perspektive normativ zunächst das Eigene kennzeichnen. Die Bninski-Figur wird textuell massiv aufgewertet und damit auch entlastet. Wenn Bninski letztlich mit Kathinka flieht, dieses Unternehmen also vordergründig in struktureller Analogie zur Flucht Sidonies mit ihrem polnischen Nachbarn positioniert wird, handelt er 73 Davies, Im Herzen Europas, S. 148. Nach der Gründung des Herzogtums Warschau hatte sich das französisch-russische Verhältnis zunehmend verschlechtert. Bei seinem Russlandfeldzug ging es Napoleon freilich keineswegs um die Unabhängigkeit Polens, wohl aber nicht zuletzt um den Erhalt des Herzogtums Warschau als Puffer zwischen Russland und Europa. Dazu Willms, Napoleon, S. 537. 74 Allerdings spiegelt sich dies im Text nicht, wie in Mathilde Möhring, auf lexikalischer Ebene. 75 Siehe hierzu Kapitel 3.1.3. 76 Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Link und Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 120 – 145, hier: S. 127.
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dennoch nicht als Doppelgänger eines Grafen Miekusch, von dem der Erzähler ja durchaus auffällig zu berichten weiß, dass er »eine typische polnische Reiterfigur« (VdS 2, S. 35, Hervorh. A. D.) darstellt. Bninski trägt Züge des heldenhaft-patriotischen und opferbereiten ›edlen Polen‹, auch indem er das Politische gegenüber dem Privaten priorisiert (siehe VdS 2, S. 124 und 212),77 ist »ein schöner Mann« (VdS 1, S. 271) von gesellschaftlicher und tänzerischer Gewandtheit, durchaus mit Hang zum »südliche[n] Gefieder« (VdS 1, S. 227); allerdings ist er auch »reich, angesehen, ehrenhaft« (VdS 2, S. 123). Und vor allem wird ihm eine (nicht zum polnischen Merkmalskatalog gehörende) personale Tiefenstruktur attestiert, die preußischerseits aus Verhaltensmustern Bninskis abgeleitet wird, die den eigenen Erwartungen widersprechen: Zum Vorschein kommt dies zunächst im Kreis der Kastalia, einer – dem Tunnel über der Spree nachempfundenen – Dichtervereinigung, der Lewin und Tubal angehören. Nicht nur, dass Bninski hier gern mitkommt (siehe VdS 1, S. 147), ja schließlich sogar dem Wunsch nach einer Wiederholung Ausdruck verleiht (siehe VdS 1, S. 152); die aufmerksame »ernste[]« (VdS 1, S. 151) Nachdenklichkeit, mit der er dem triumphalen Balladenvortrag des äußerlich so spröden Theologiekandidaten Hansen-Grell zugehört hat,78 führt Lewin zu dem Urteil, Bninski sei – bei all seiner Vorliebe für die Oberflächenkategorien »Schönheit, Form, Esprit« (VdS 1, S. 227) – »[…] zugleich eine tiefer angelegte Natur, und es dämmert in ihm die Vorstellung, daß es gerade die Hansen-Grells sind, die wir vor den slavischen Gesellschaftsvirtuosen, vor den Männern des Salonfirlefanzes und der endlosen Liebesintrigue voraushaben.« (Ebd.)79 77 Siehe Marek Jaroszewski, Das Polenthema in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Ders., Literatur und Geschichte. Studien zu den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Warszawa 1995, S. 7 – 16, der darauf hinweist, dass beim edlen Polen militärisch-politischer Einsatz »vor persönlichem Glück Vorrang« hat (S. 12). 78 Vgl. Tubals Schilderung: »Neben dem Dichter selbst interessirte mich Bninski am meisten. Er wurde immer ernster. ›Seltsam,‹ so las ich auf seiner Stirn, ›welche Prosa der Erscheinung und dahinter welch’ heiliges Feuer!‹« (VdS 1, S. 151) 79 Bninski nimmt im Text schließlich noch an einer zweiten Kastalia-Sitzung teil und avanciert dort zum aktiven Verteidiger eines Gedichts von Hansen-Grell über den preußischen General Seydlitz, indem er das »sprungweise Vorgehen« (VdS 2, S. 108) des Textes verteidigt. Bninskis Urteilskompetenz rührt aus seiner vor »Jahren, die länger zurückliegen als mir lieb ist« (VdS 2, S. 107) ausgeübten Tätigkeit als Sammler polnischer Volkslieder. Auch in dieser Archivierung historischen Kulturguts zeigt sich Bninskis Bemühen, die Erinnerung an Polen zu bewahren.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Innerhalb der hier von Lewin reproduzierten Leitopposition, die sich dem nationalstereotypen Schema von (preußisch-)deutscher ›Tiefe‹80 gegen slawische, das heißt hier polnische, ›Oberflächlichkeit‹ einpasst, wird Bninski die positive Tendenz zur nationalen Abweichung zugeschrieben, rührt er an einen der Kernbestandteile deutscher Identitätskonstruktion.81 Hervorgehoben wird darüber hinaus ein ihn auszeichnendes Differenzierungsvermögen, das zwischen Individuum und Kollektiv zu unterscheiden weiß. So konstatiert Hauptmann Bummcke, ein weiteres Kastalia-Mitglied – und Rittmeister von Hirschfeldt, der in Spanien gegen die französischen Besatzungstruppen gekämpft hat, stimmt ihm zu: »[…] der Graf [ist] eine vornehme Natur. Selbst seine Vorurtheile beleidigen nicht. Er haßt uns, aber er haßt das Ganze, nicht die Einzelnen. Denken Sie daran, Hirschfeldt, wie liebenswürdig er alles aufnahm, was Sie über Spanien lasen. Es ist nichts Kleinliches an ihm.« (VdS 2, S. 192 f.)
Während Bninski auf individueller Ebene beweglich urteilt, bezieht er auf politischer Ebene unverrückbar polnisch-patriotisch Stellung – mit offen antipreußischer Stoßrichtung. Doch auch wenn seine »preußenfeindliche[n] Gesinnungen kein Geheimniß sind« (VdS 2, S. 124), werden sie in Vor dem Sturm nicht coram publico geäußert. Seine große Preußenrede ist hier nur eine Zimmerrede, und allein Kathinka ist als Zuhörerin anwesend (im gleichnamigen Kapitel), so dass er frei von der Pflicht zur gesellschaftlichen Rücksichtnahme nun umso heftiger in »wachsende[] Erregung« (VdS 2, S. 213) geraten kann. Deutlich spricht er aus, was bei Ladalinski unerwähnt bleibt: die preußische Beteiligung an der Liquidierung des polnischen Staates, die er – unter Verwendung biblischer 80 Das Merkmal der ›Tiefe‹ wird noch im 18. Jahrhundert den Engländern zugeordnet, »bevor es, im Anschluß an die ›alten‹ Muster ›Gründlichkeit‹ und ›Ernst‹, auch den Deutschen zugeschrieben wird« (Florack, Bekannte Fremde, S. 80). Vgl. auch das Stichwort ›tief, adj. und adv.‹ in: DWB, Bd. 21, Sp. 482, wo ›tief‹ in uneigentlicher Verwendung definiert wird als »ins innerste eindringend, auf den grund gehend, ergündend«. 81 Siehe Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 128. Vgl. auch den Dialog zwischen Renate und Kathinka: [Renate:] »Nur die Deutschen, wie mir erst gestern wieder unser Seidentopf versicherte, verstehen es, von äußerlichen Dingen abzusehen. Meinst Du nicht auch?« [Kathinka:] »Nein, Närrchen, ich meine es nicht; es ist nur deutsch, sich in diesen und ähnlichen Eitelkeiten zu gefallen. Und ich will auch nicht daran rütteln, ebenso wenig wie an den Verketzerungen, die über uns Polen von langer Zeit her im Schwunge sind. Nur zweierlei wird man uns lassen müssen: Leidenschaft und Phantasie. Und nun laß Dir sagen, Schatz, wenn es etwas in der Welt gibt, das im Stande ist, über Aeußerlichkeiten hinweg zu sehen, so sind es diese beiden.« (VdS 1, S. 270 f.)
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Metaphorik – als Judas-Verrat deutet. Preußen sei das Land, »das uns zuerst um dreißig Silberlinge verschacherte« (VdS 2, S. 214); und es sei das Land, welches sich mit »Rauf- und Raublust« (VdS 2, S. 213) einer permanenten profitablen Territorialvergrößerung widme: »[…] Nie ist es satt dieses Volk; ohne Schliff, ohne Form, ohne alles, was wohlthut oder gefällt, hat es nur ein Verlangen: immer mehr! Und wenn es sich endlich übernommen hat, so stellt es das Uebriggebliebene beiseite, und wehe dem, der daran rührt. Seeräubervolk, das seine Züge zu Lande macht! Aber immer mit Tedeum, um Gott oder Glaubens- oder höchster Güter willen. […]« (Ebd.)82
Diagnostiziert wird eine (auf verschiedenen Ebenen angesiedelte) preußische Scheinheiligkeit, eine eklatante Diskrepanz von Vorder- und Rückseite des preußischen Staates: Tatsächliches Macht- und Expansionsstreben werde ideologisch überhöht und damit verschleiert. Hinter der Fassade eines ausgeprägten Überheblichkeitsdenkens verberge sich nichts als materielle und moralische Defizienz: »[…] Denn alles, was hier in Blüte steht, ist Rubrik und Formelwesen, ist Zahl und Schablone, und dazu jene häßliche Armuth, die nicht Einfachheit, sondern nur Verschlagenheit und Kümmerlichkeit gebiert. Karg und knapp, das ist die Devise dieses Landes. […] Angenähtes Wesen, Schein und List, und dabei die tiefeingewurzelte Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. […]« (Ebd.)
Bninskis Rede bleibt im Text nicht isoliert, vielmehr werden ihr paradigmatisch quasi-äquivalente Äußerungen einer positiven Figur wie der des Rittmeisters Hirschfeldt zugeordnet. Die Kritik eines Fremden erhält im vierten Band preußische Schützenhilfe durch einen, dessen Wahrnehmung »draußen« objektiviert und dadurch geschärft wurde.83 So wird das, was Bninski sagt, rückwirkend aufgefangen, ja aufgewertet. 82 Unter preußisch-nationaler Perspektive rekurriert in Vor dem Sturm auch Pastor Seidentopf in einer Predigt kritisch auf die preußische Eroberungspolitik. Die Kritik betrifft dabei freilich in erster Linie die innenpolitischen Folgen im Sinne einer gesellschaftlichen (und potentiell gefährlichen) Überfremdung Preußens: »Unredlicher Gewinn habe zum Ueberfluß unser Gebiet vergrößert, bis die Hälfte unseres Landes aus fremdem Volk bestanden habe, derart, daß wir kaum noch gewußt hätten, ob wir Deutsche seien oder nicht.« (VdS 2, S. 356) Die preußische Eroberungspolitik kann sich demnach systemsprengend auswirken. 83 Vgl. Rittmeister von Hirschfeldts Worte gegenüber Tubal: »Es verwundert Sie, Ladalinski, mich so sprechen zu hören. Mich, einen Altpreußen. Aber es erklärt sich leicht. Ich war lange draußen, und draußen lernt es sich. Jeder, der zurückkommt, wird durch nichts so sehr überrascht, als durch den naiven Glauben, den er hier überall vorfindet, daß im Lande Preußen alles am besten sei. Das Große und
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Zum (preußisch-)deutschen Stein des Anstoßes gerät Bninski »dies ewige Lied von der deutschen Treue« (VdS 2, S. 82). Damit ist einerseits ein Begriff anzitiert, der im Literatursystem des Realismus eine ranghohe Norm darstellt – als Verpflichtung des erwachsenen Individuums, »eingegangene Bindungen ideologischer […] und/oder emotionaler Art«84 dauerhaft einzuhalten; andererseits wird damit dezidiert auf ein obligatorisches Element deutscher Selbststilisierung referiert.85 Nicht zufällig inszeniert Vor dem Sturm den preußischen Loyalitätskonflikt, die Frage der Berechtigung zum patriotischen Aufruhr gegen die Franzosen auch ohne königlichen Befehl, als Reflexionsprozess über die Kollision von Treueverpflichtungen.86 Zulässig ist ein Treuebruch/Verrat freilich immer dann, wenn er dem notwendigen Wandel dient oder auch über eine Hierarchie von Treueverpflichtungen legitimiert werden kann: »So lang es eine Geschichte gibt, haben sich Umwälzungen, auch die segensreichsten, durch einen Wort- oder Treubruch eingeleitet« (VdS 2, S. 82), stellt der (durchaus preußenaffine) Tubal entsprechend fest. Und er fügt noch hinzu: »Eine Treue kann die andere ausschließen« (VdS 2, S. 83). Tubals Rede ist auch eine Antwort auf Bninski, der zuvor die Nachricht von der eigenmächtigen Kapitulation des preußischen Generals Yorck,87 die während des Ballabends der Ladalinskis eingetroffen ist, mit dem Ausruf quittiert hatte: »Und das nennen sie Treue hierlandes!« (VdS 2,
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das Kleine, das Ganze und das Einzelne. Am besten, sag’ ich, und vor allem auch am ehrlichsten. Und doch liegt unser schwacher und schwächster Punkt gerade nach dieser Seite hin.« (VdS 2, S. 384) Zum Stellenwert der ›Treue‹ im Wertsystem des Realismus siehe Titzmann, An den Grenzen des späten Realismus, insbes. S. 115 – 123 (Zitat S. 117). Vgl. auch (auf Titzmann Bezug nehmend) Wünsch, Politische Ideologie in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ (1878), S. 163 – 165. Siehe hierzu Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹. Während beispielsweise Seidentopf (ganz auf der Linie von Lewin) mahnt, »treu [zu sein] auch gegen den Feind« (VdS 1, S. 107), solange noch ein offizielles Bündnis besteht, plädiert Konrektor Othegraven (der sich mit Berndt einer Meinung weiß) angesichts des Entscheidungsdilemmas zwischen dem Gehorsam gegenüber dem zögernden König und der »Liebe zu Land und Heimat« (VdS 1, S. 259) für den Mut zur Tat. Denn: »Es gibt eine Treue, die, während sie nicht gehorcht, erst ganz sie selber ist.« (VdS 1, S. 263) Konstante Bezugsgröße bleibt stets das »gute[] und treue[] Volk« (VdS 2, S. 14), auf das sich der König, wie es Berndt formuliert, trotz allem verlassen kann. Yorck, der 1812 das preußische Hilfskorps in der französischen Armee anführte und mit ihm den Rückzug der napoleonischen Truppen aus Russland decken sollte, schloss am 30. Dezember 1812 mit dem russischen General Diebitsch bei Tauroggen eine Konvention über die Neutralität der ihm unterstellten Truppen ab.
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S. 81) Weniger entrüstet er sich hierbei über den formalen Bündnisbruch als über die semiotische Strategie: die Umsemantisierung von faktischer ›Untreue‹ – von der Bninski später gegenüber Kathinka äußern wird: »[I]ch erschrecke nicht vor dem Wort und nicht einmal vor der That« (VdS 2, S. 215) – in eine Treue-Handlung. Diese ideologische Neubesetzung ergibt sich notwendig vor dem Hintergrund eines (zeichenhaften) Permanentbezugs auf die Treue, den Bninski als konstitutives Merkmal des (preußisch-)deutschen Raums festhält.88 Und tatsächlich : Als sollte dem Nationalpolen textstrategisch recht gegeben werden, steuern die Ausführungen von Tubal, der im polnischen Binnenkreis die preußische Position vertritt und das Verhalten Yorcks verteidigt, auf die Bestätigung einer Treueeinhaltung zu. Was Bninski von einem solchen preußischen »Tugendgesicht« (VdS 2, S. 215) hält, hinter dem sich in seinen Augen lediglich die Untreue verbirgt, sagt er dann Kathinka: »[D]as hass’ ich. Was mir zuwider ist, das ist die Lüge« (VdS 2, S. 215 f.). Im kritischen Visier steht auch hier wieder die Dissoziation von Vorder- und Rückseite, von Oberfläche und Tiefe. Wenn in Vor dem Sturm das (preußisch-)deutsche Volk auf preußischer Figuren- oder Erzählerebene rekurrent mit dem Merkmal der Treue korreliert wird, stellt sich die Frage, wie der Text diesbezüglich mit den polnischen Figuren verfährt. Darauf ist noch zurückzukommen. Verwiesen sei jedoch an dieser Stelle auf eine Szene, die im Figurendialog konventionelle Zuordnungsmuster abruft: Dem Topos der deutschen Treue wird die polnische Untreue konfrontiert, nicht ohne diese Opposition sogleich zu problematisieren: Es geht um Bninski – Kathinka versucht gegenüber Renate ihre Wertschätzung für den Grafen zu erklären: »[…] Ich möchte Dich nur dahin bekehren, daß es nicht Form und Erscheinung ist […], was mir den Grafen werth und angenehm macht.« »Und so wär’ es denn was?« »Beispielsweise seine Treue. Denn, unglaublich zu sagen, die Polen können auch treu sein.« »Es gilt wenigstens nicht als ihre hervorragendste Eigenschaft.« »Um so mehr ziert sie den, der sie hat. Und ich möchte Bninski dahin zählen. […]« (VdS 1, S. 271) [Kathinka erzählt nun die Episode, in der Bninski Kos´ciuszko beisteht, und fährt fort:] 88 Vgl. »Es zählt dies zu den Eigenthümlichkeiten deutscher Nation. Immer ein feierliches in Eid- und Pflichtnehmen, dazu dann ein entsprechendes Symbol«, oft mit der »direkte[n] Aufforderung zum Treuehalten« bis in den Tod (VdS 2, S. 182 f.).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
»Siehe, Renate, das war Treue; nicht solche, wie Ihr sie liebt, die jeden heimlichen Kuß zu einer Kette für Zeit und Ewigkeit machen möchte, aber doch auch eine Treue und nicht der schlechtesten eine. […]« (VdS 1, S. 271 f.)
Bninskis Charakter zeichnet sich mithin durch den (offenbar im Text keineswegs nationalspezifisch reservierbaren) Wert der Treue aus, die sich bei ihm allerdings nicht ›heimlich‹ zeigt, sondern als authentisch-offenes Loyalitätsbekenntnis wirkt, interfigural, aber auch mit Blick auf seine nationale Herkunft aus der Erfahrung des Freiheitskampfs heraus. Bei allem geschichtlichen Wandel zeigt er die im Realismus so hochbewertete »innere Konstanz«89, begreift er das konsequent-treue Festhalten an Polen als dauerhafte biographisch-historische Verantwortung. Ein »Friedensschluß« (VdS 2, S. 212) mit Preußen kommt demnach nicht in Frage. Während Ladalinski alle »Brücken abgebrochen« hat (VdS 2, S. 123), pflegt Bninski aus dem Exil heraus seine intensiven Kontakte nach Polen (siehe VdS 2, S. 170). Weist der Weg des Geheimrats irreversibel von Polen nach Preußen, zeigt der Kompass des Nationalpolen eindeutig in die entgegengesetzte Richtung. Die Zukunftshoffnungen beider sind mit antagonistisch gesetzten Räumen korreliert. 3.2.2 Natürliche Ordnung: Die Flucht der schönen Polin Die kontradiktorischen Lebensentwürfe Alexander von Ladalinskis und Bninskis mit ihren jeweiligen Ansprüchen und Forderungen kollidieren, weil das Objekt ihrer Begierde dasselbe ist: Kathinka. Dem dynastischen Wunsch90 Ladalinskis steht Bninskis erotische Werbung gegenüber. Erzählerisch wird diese Opposition vor allem in den beiden großen polnischen Gesprächskapiteln des dritten Bandes ausagiert, in denen preußischpolnische Divergenzen als polnische Binnenkonflikte ausgetragen werden. In dem einen Kapitel »Leichtes Gewölk« (VdS 2, S. 119 – 125) treffen der alte Geheimrat und seine Tochter aufeinander, wird der Versuch unternommen, Kathinka auf das preußische Projekt zu verpflichten; in dem anderen Kapitel »Kathinka« (VdS 2, S. 209 – 216), das die große Aussprache zwischen Kathinka und Graf Bninski enthält, nachdem dessen Heiratsantrag von Ladalinski zurückgewiesen wurde, fällt am Ende die 89 Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 143. 90 Vgl. dazu auch Ghanbari, Dynastisches Spiel, die die kontinuitätssichernden verwandtschaftlichen Optionen, die in Vor dem Sturm zwischen den Familien Ladalinski, Vitzewitz und Pudagla denkbar werden, ausführlich darstellt.
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Entscheidung zur Flucht. Zu Recht konstatiert Ossowski, dass beide Kapitel »zu den dramatischen Höhepunkten des Romans [gehören]«.91 Wiederholt streut der Text Indizien, dass Bninski bei Kathinka die besten Chancen hat. So konstatiert Tubal bei seiner Schwester bezüglich Preußen einen »abgewandte[n] […] Sinn« (VdS 1, S. 282), und auch der Erzähler spricht explizit von ihren »polnischen Sympathien« (VdS 2, S. 40). Hinzu kommt, dass Kathinka im Text von Anfang an als ›schöne Polin‹ inszeniert wird – mit den Implikationen einer ordnungsgefährdenden erotischen Verführerin, der »der Held unserer Geschichte« (VdS 1, S. 9) Lewin, gemäß Ladalinski der Wunschehepartner, zwar bewundernd verfällt, zu der er aber als das »Kind« (VdS 2, S. 209), wie er von Kathinka tituliert wird,92 in deutlicher Asymmetrie positioniert ist: Kathinka, in einem enganschließenden polnischen Ueberrock von dunkelgrüner Farbe, der erst jetzt, wo sie sich erhoben hatte, die volle Schönheit ihrer Figur zeigte, war ihr dabei [Renate beim Taubenfüttern, A. D.] behilflich. Alles, was Lewin für sie empfand, war nur zu begreiflich. Ein Anflug von Koketterie, gepaart mit jener leichten Sicherheit der Bewegung, wie sie das Bewußtsein der Ueberlegenheit gibt, machten sie für jeden gefährlich, doppelt für den, der noch in Jugend und Unerfahrenheit stand […]; ihre besondere Schönheit aber, ein Erbtheil von der Mutter her, bildete das kastanienbraune Haar, das sie, der jeweiligen Mode Trotz bietend, in der Regel leicht aufgenommen in einem Goldnetz trug. Ihrem Haar entsprach der Teint und beiden das Auge, das hellblau wie es war, doch zugleich wie Feuer leuchtete. (VdS 1, S. 228)
Dass Kathinka eigentlich nur eine Halbpolin ist, scheint hierbei ohne Relevanz. »Kathinka ist eine Polin, ça dit tout«, sagt Tante Amelie (VdS 1, S. 192).93 Was biologisch an polnischem Anteil fehlt, wird zudem metaphorisch kompensiert – durch eine deutsche Mutter, der ja reichlich »polnisch Blut« (ebd.) zugeschrieben wurde.94 Und dann tritt Kathinka, die 91 Ossowski, Das Polenbild des jungen und des alten Fontane, S. 232. 92 Tatsächlich handelt Vor dem Sturm nicht zuletzt auch von Lewins »Erziehung zur Männlichkeit«, wie Walter Erhart, Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 123 – 146, herausgearbeitet hat (Zitat S. 135). Dafür notwendig ist die Trennung von Kathinka, die signifikanterweise aber nicht von ihm, sondern von ihr ausgeht. 93 Und Kathinka bekennt von sich: »[J]e suis polonaise de tout mon cœur« (VdS 1, S. 341). 94 Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹, S. 251, will in Kathinka das Kind von Sidonie und ihrem Liebhaber Graf Miekusch sehen. Ähnlich Grawe, ›Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13‹, S. 506, der allerdings – aufgrund des fehlenden eindeutigen Textbeweises – seine Aussage abschwächt: »Kathinka, die ihrerseits wohl Kind eines Ehe-, also Treuebruchs ist«. Friedrich, Preußisch-pol-
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das »Weltmännische« (VdS 2, S. 42) hochhält sowie an »selbständiges Handeln« (VdS 2, S. 172) gewohnt ist, die bei Gelegenheit einer Rezitation auf Schloss Guse gar einen fulminanten Auftritt hinlegt, »als ob die Bretter ihre Heimat wären« (VdS 1, S. 347), und bei Lewin zudem Assoziationen an einen tropisch-duftenden Garten hervorruft (VdS 2, S. 172),95 im Text auch noch als Venus-Tochter auf. Uwe Hebekus hat diesen mythologischen Kontext, auf den schon der Venusteppich in Kathinkas Zimmer verweist (vgl. VdS 1, S. 14; VdS 2, S. 210), im Detail freigelegt.96 Bninski ist dieser Venus-Polin gewachsen, Lewin nicht; noch bevor er sich von ihr lösen kann, muss er sich beim Anblick des mit Kathinka tanzenden Grafen »das Gefühl des Zurückstehenmüssens und des Besiegtseins« eingestehen, »nicht durch Laune oder Zufall, sondern durch die wirkliche Ueberlegenheit seines Nebenbuhlers« (VdS 2, S. 79). Die Bedingungen, unter denen die Unterredung zwischen Vater und Tochter stattfindet, sind also denkbar schlecht für Ladalinski. Da hilft es auch nicht, wenn er seine Wünsche von der kinderlosen Schwägerin Tante Amelie, verwitwete Gräfin Pudagla und Besitzerin des Schlosses Guse, vehement unterstützt sieht.97 Tatsächlich impliziert das Vater-TochterGespräch die Konkurrenz dreier Lebenskonzepte und Argumentationsstrategien: Kathinkas »Sache des Herzens«, als die sie eine Ehe verstanden wissen will, wird Amelies »Sache des Hauses« (VdS 2, S. 121) und schließlich Ladalinskis »Sache meines Lebens« (VdS 2, S. 124) konfrontiert. Die Frage der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Heirat mit nische Irrungen und Wirrungen, S. 51, bleibt diesbezüglich ebenfalls vorsichtig. Viel, Utopie der Nation, S. 148 f., hält eine Vaterschaft Miekuschs hingegen gerade im Hinblick auf die Charakterunterschiede der Geschwister Kathinka und Tubal für biologisch plausibel. M. E. ist hier Skepsis angebracht. Neben fehlenden Texthinweisen dürfte die Frage erlaubt sein, warum ein gemeinsames Kind nicht von den Eltern mit nach Paris genommen wurde. 95 Exotisch-berauschender Blumenduft ist Bestandteil der Orient-Stereotypik. Orientalisch-polnische Korrelationen werden in Fontanes Texten wiederholt hergestellt. Dies zeigte sich schon an Schach von Wuthenow (siehe Kapitel 3.1.1). Vgl. ebenso Kapitel 3.4 zu Cécile. 96 Uwe Hebekus, Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003 (= Hermaea. Germanistische Forschungen N. F. 99), S. 178 – 190, hier vor allem S. 181 – 183. 97 Dass die frankophile Tante, abgesehen von dynastischen Erwägungen, ein Faible für die polnische Verwandtschaft hat, ist naheliegend, gelten doch – wie es nicht nur Pierers Universal-Conversations-Lexikon (siehe Kapitel 3.1.3), sondern auch die französische Schauspielerin Demoiselle Alceste auf Schloss Guse sagt – die Polen als »les Français du Nord« (VdS 1, S. 340).
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Bninski situiert Kathinka auf persönlich-privater Ebene, während Ladalinski und (die nur diskursiv zitierte) Tante Amelie gesellschaftlich-politische Gründe für eine ablehnende Haltung ins Feld führen: die frankophile Tante im Rahmen einer enger gefassten familiären »Hof- und Hauspolitik« (VdS 2, S. 121), die sich noch an den transnationalen Adelsbeziehungen des 18. Jahrhunderts orientiert, der Vater mit Blick auf existentielle Belange. Daher geht es Ladalinski im Gespräch auch nicht in erster Linie um die gewünschte Verbindung mit Lewin, die eine Assimilation der Ladalinski-Familie im preußischen Raum auf Dauer zeichenhaft absichern würde, sondern worauf er besteht, ist eine »Nichtheirath mit Bninski« (VdS 2, S. 123), um die bisher erreichte, aber stets labile soziale Akzeptanz in Preußen nicht zu gefährden. Ladalinski nimmt also auf einen preußisch-polnischen Binnenantagonismus Bezug, der seine Handlungsfreiheiten begrenzt, wenn er der (außerhöfischen) preußischen Gesellschaft keinen Anlass zur Kritik geben will. Diesen Vorgaben korrespondiert die urteilsentscheidende Dominantsetzung des Politischen gegenüber dem Persönlichen: Dem Grafen mag Ladalinski persönlich »Sympathien« (ebd.) entgegenbringen; doch ausschlaggebend ist Bninskis propolnische Orientierung, die ihn »unbeugsam und unabänderlich« (ebd.) als Heiratskandidaten verbietet. Die Tatsache, dass die Unterredung zwischen Vater und Tochter von Unruhe geprägt und akustischen Störungen durch das Windspiel ausgesetzt ist, bereitet atmosphärisch das Kapitelresultat einer nur zweideutigen Zusage und eines »halben Erfolge[s]« (VdS 2, S. 125), wie es der Erzähler benennt, vor. Kathinka macht ihrem Vater das vorsichtige Zugeständnis, keine Eigeninitiative im Hinblick auf Bninski zu ergreifen und die gesellschaftliche Stellung des Vaters nicht aus den Augen zu verlieren. Die qualitative Hierarchisierung, die Ladalinski vornimmt, indem er seine ›Lebenssache‹ Kathinkas Herzkategorie überordnet und diese zu einer unkalkulierbaren Größe von geringer Dauerhaftigkeit erklärt – »Das wandelbarste aber sind Frauenherzen« (ebd.) –, gewährt vorübergehenden Aufschub.98 Doch wenn Kathinka über Bninski sagt, »unsere Herzen und 98 Tatsächlich gibt Kathinka sogar Lewin anlässlich einer Schlittenfahrt noch die Gelegenheit, sich ihr gegenüber zu erklären. Er bleibt jedoch befangen: »Aber die Scheu, die sein angeboren Erbtheil war, überkam ihn wieder, und es war ein einziger Kuß nur, den er zitternd auf ihren Nacken drückte.« (VdS 2, S. 208) Diese wegweisende Szene ereignet sich unmittelbar vor dem Flucht-Kapitel »Kathinka«. Vgl. hierzu vor allem Friedrich, Preußisch-polnische Irrungen und Wirrungen, S. 46 f. und 53, der auch auf das sogenannte »Schlittenrecht« – das Recht des
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Charaktere stimmen zu einander« (VdS 2, S. 123), dann wird auf der Ebene (national)anthropologischer Homogenisierung zugleich eine Anziehungskraft konkretisiert, die langfristig einen ›natürlichen‹ Sog des – alle Verbote negierenden – Unvermeidlichen auszuüben verspricht. Hieran knüpft auch Bninski an, als er nach der Zurückweisung seines Heiratsantrags durch Ladalinski das Gespräch mit Kathinka sucht: Bemerkenswert ist einerseits die Gleichsetzung, die er zwischen Ladalinski und dem preußischen Raum vollzieht: Nicht nur der Vater, sondern »dieses Preußen […] tritt nun zwischen Dich und mich« (VdS 2, S. 214). Andererseits rekurriert Bninski argumentativ auf ein dichotomisches Modell von ›Künstlichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹. Ladalinskis Assimilationsprojekt verfällt dem Verdikt des Künstlichen, umso mehr, als kongruent dazu der preußische Bezugsraum mit dem Merkmal der Scheinheiligkeit versehen wird (siehe oben). Die Entscheidung des Geheimrats, nach Preußen zu gehen, bleibt für Bninski »ein Räthsel und ein Widerspruch« (VdS 2, S. 212), er negiert sogar schlichtweg Ladalinskis preußische Affinitäten und versieht ihn mit jenem Prädikat, das im Text schon auf Bninski selbst Anwendung gefunden hat: »Pole vom Wirbel bis zur Zeh’« (VdS 2, S. 214). Dann aber kollidieren Merkmale wie »Edelsinn« und die Fähigkeit zu »große[n] Opfer[n] und große[n] Entschlüsse[n]« (VdS 2, S. 212) maximal mit dem, was in Preußen nach Bninskis Raster gar nicht (eben der Edelsinn) oder stattdessen vorzufinden ist: »Der Vortheil, der Dünkel, die großen Worte!« (Ebd.) Demnach stellt sich Ladalinskis Integrationsbemühen als Gewaltakt dar, Disparates zusammenzuzwingen; der Übertritt gerät unter den impliziten Vorwurf der ›Lüge‹ (vgl. VdS 2, S. 216).99 Die Entscheidung zur Flucht fällt mit Bninskis Plädoyer, natürliche Kategorien gegenüber allem Preußisch-Künstlichen zu priorisieren. Dadurch wird Kathinka, die sich aus Sorge vor dem Vorwurf der Untreue zunächst noch zurückhaltend zeigt, letztlich bezwungen: »[…] Und das eine weiß ich: es ist nicht Lüge, wenn ich das, was geschehen soll, weder Vertrauensbruch noch Untreue, wohl aber Zwang und Konsequenz und Nothwehr nenne. Zug um Zug. Gegen das gekünstelte und mißbräuchlich geübte Recht Deines Vaters, das uns zum Opfer mir unbegreifliMannes, die bei ihm im Schlitten sitzende Dame (auf den Mund) zu küssen – hinweist, das Lewin nicht nutzt. 99 Der Vorwurf scheint durch die Wahl Preußens sogar noch potenziert: Vgl. Bninskis Ausruf: »[I]ich fass’ es nicht, warum er gerade diesen Boden wählte. […] Preußen! Preußen! Warum nicht Frankreich? Warum nicht Rußland, grundschlecht wie es ist! In seiner Sündenblüte hat es doch wenigstens den Muth, sich zu seinen Thaten zu bekennen.« (VdS 2, S. 212 und 214)
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cher Rücksichten machen will, setzen wir unser natürliches Recht, das Recht unserer Neigung.« (VdS 2, S. 216)
Mit der Flucht vollzieht sich gemäß Bninski kein Bruch im eigentlichen Sinne, sondern sie ist ein Akt der Folgerichtigkeit und natürlichen Kontinuität gegen das künstliche binnenpolnische Heiratsverbot. Selbst Berndt wird später die Verbindung von Kathinka und Bninski als zumindest standesadäquat rechtfertigen: »Was war es denn schließlich? Mehr dem Eigensinn, als der Ehre des alten Geheimraths war eine Niederlage bereitet worden. Bninski war Graf und reich, und Lewin – war jung.« (VdS 2, S. 316)100 Nach dem heimlichen Weggang, der der Öffentlichkeit das fehlende Einverständnis des Vaters signalisieren und diesen damit schützen soll, erfolgt Kathinkas vollständige Rückkehr zu ihrer Herkunftsidentität – nicht zuletzt durch die Tilgung konfessioneller Künstlichkeit. Zunächst geschieht dies noch auf Bninskis Initiative hin: So schreibt Kathinka nach ihrer Flucht – am 4. Februar 1812 aus Myslowitz – an den Bruder: Wir gehen morgen über Miechowitz und Nowa-Gora auf Bninskis Güter. Ein katholischer Geistlicher wird uns begleiten. Ich gedenke (Bninski wünscht es) in unsere alte Kirche zurückzutreten. Es ist nichts in mir, was mich daran hindern könnte; alles in allem gefällt mir das Römische besser als das Wittenbergische. (VdS 2, S. 329)
Am Ende des Romans hat sich Kathinka, nun in Paris sitzend, vollends repolonisiert, zumindest aus preußischer Sicht sogar mit einer gewissen Fixiertheit: Sie kennt, wie Renates nicht mehr datierte Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren nach 1813 offenbaren,101 »nur noch zweierlei: Polen und ›die Kirche‹« (VdS 2, S. 497). Zum Vater hat sie keinen Kontakt mehr: Die Flucht war »ein Scheiden auf Nichtwiedersehen« (VdS 2, S. 216). Der Text inszeniert die Dichotomie von transnational-künstlichem Assimilationsmodell und binnennationalem Zusammenschluss auch über einen zeitlichen Wandel. Dass Tante Amelie, ohne von der Flucht zu er100 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist m. E. auch der Widmungsvers, den Fontane 1895 in ein Exemplar der zweiten Auflage von Vor dem Sturm für Hans Sternheim schrieb, nicht mit der Romanfigur Bninski in Einklang zu bringen. Die letzten vier Zeilen der Widmung lauten: »Werde klug und werde hell, / Aber nicht so poetisch wie Hansen Grell [sic!], / Vor allem werde nicht wie Bninski, / Forscher Kerl, aber Lukrinski.« (GBA Gedichte, Bd. 3, S. 278) Anderer Ansicht ist Friedrich, Preußisch-polnische Irrungen und Wirrungen, S. 50, der von einer gesellschaftlichen Unversöhnlichkeit gegenüber Bninski ausgeht. 101 Der Brief Kathinkas aus Paris, auf den Renate Bezug nimmt, ist im Arbeitsmanuskript auf den Sommer 1822 datiert. Siehe die Anmerkung in GBA Vor dem Sturm, Bd. 2, S. 596.
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fahren, unmittelbar darauf stirbt, ist kein Zufall: Das von ihr repräsentierte frankophile und säkulare System einer übernationalen Adelsgesellschaft mit Tendenz zu interethnischer Partnerwahl wird durch ihren Tod zeichenhaft zu Grabe getragen.102 Favorisiert werden in der Handlungsgegenwart als ›natürlich‹ ausgegebene nationalorientierte intraethnische Verbindungen. Zu nennen ist auch jene Stelle in Vor dem Sturm, in der der Erzähler mit Bezug auf die Konversion Ladalinskis konstatiert, dass »Gewissensbedenken […] der Zeit der Aufklärung fremd [waren]« (VdS 2, S. 39), was umgekehrt freilich heißt, dass sie in der dargestellten Welt als Wertkategorie fungieren: Hier müssen konfessionell-nationale Wechsel einer Richtinstanz standhalten, die als quasi-natürlich-moralische verstanden wird. Bekanntlich erfährt nationale Identität im 19. Jahrhundert eine semantische Veränderung. Sie wird ›naturalisiert‹ – im Rahmen einer »biologistische[n] Neukonzeption von ›Volk‹«,103 die ihre Tauglichkeit gerade auch in der (zunächst antinapoleonischen) politisch-militärischen Auseinandersetzung beweisen sollte. Während im 18. Jahrhundert »die angenommene Identität einer ›Nation‹ bloß semiotisch, durch eine Sprache, und ideologisch, durch ein Denk- und Wissenssystem, also nur soziokulturell definiert ist«,104 mithin »[a]lle Vorstellungen von nationalen Differenzen […] durch die wichtigere Differenzierung in ›Aufgeklärte‹ versus ›Nicht-Aufgeklärte‹ überlagert« wird,105 setzt die Neudefinition von nationaler Identität, ihre Rückführung auf eine biologische Herkunft, dauerhaft-unüberschreitbare Grenzen106 zwischen dem Eigenen und Anderen im Sinne einer als ›natürlich‹ ausgegebenen Separation. Schon der ›Herzens‹- und ›Charakter‹-Verbindung zwischen Kathinka und Bninski liegt zumindest implizit die Vorstellung einer herkunftsorientierten Identitätskonstruktion zugrunde. Explizit nimmt sie schließlich 102 Wünsch, Politische Ideologie in Fontanes ›Vor dem Sturm‹ (1878), S. 156 und 158; Clemens Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans in Deutschland. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 157 – 172, hier: S. 167 f. 103 Titzmann, ›Volk‹ und ›Nation‹, S. 40. 104 Michael Titzmann, Aspekte der Fremdheitserfahrung. Die logisch-semiotische Konstruktion des ›Fremden‹ und des ›Selbst‹. In: Bernd Lenz und Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen. Theorieansätze, Medien/Textsorten, Diskursformen, Passau 1999 (= Passauer Interdisziplinäre Kolloquien 4), S. 89 – 114, hier: S. 108. 105 Titzmann, ›Volk‹ und ›Nation‹, S. 38. 106 Titzmann, Aspekte der Fremdheitserfahrung, S. 108.
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Ladalinskis Sohn Tubal für sich in Anspruch, wobei der Text (und hier zeigen sich Differenzen zu dem von Titzmann Aufgezeigten) eine signifikante Auswahl von Kategorien trifft, die nationale Identität festschreiben. Das Preußenprojekt des Vaters, durch das sich die immer polnisch orientierte Kathinka zwar in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sieht, das aber keine Identitätskrisen, sondern lediglich Entscheidungskrisen bei ihr hervorruft, sorgt jedenfalls bei Tubal für nachhaltig nationale Desorientierung. Verantwortlich macht er hierfür Bindungen an Polen, die sich ganz offensichtlich als untilgbar erweisen, auch wenn er gleichzeitig an der preußischen Lebenswelt partizipiert. Während Kathinka – vom Text als selbstidentische Figur inszeniert –107 überlebt, findet Tubal als zerrissene Figur erst im Tod (selbst- und fremdbestimmt) zur authentischen Einheit. 3.2.3 Herkunftsraum und nationale Identität Tubal bezeichnet seine Haltung zu Preußen als eine solche »mit zugewandtem Sinn, aber doch immer nur mit einer Liebe, die mehr aus der Betrachtung als aus dem Blute stammt« (VdS 1, S. 282). Figurale Ambivalenz erscheint als Dissoziation von Oberfläche und Tiefe, (selbst)auferlegte (fremd)nationale Erfordernisse kollidieren mit der natürlichen Tiefenkategorie des ›Blutes‹, das hier wie selbstverständlich das polnischkatholische ist. Und doch gibt das ›Blut‹, als isolierte biologische Größe betrachtet, keineswegs verlässliche Auskunft über nationale Zugehörigkeit, vielmehr stellt es in der geschilderten Welt von Vor dem Sturm ein anthropologisches Substrat dar, das wesentlich biographischen (räumlichen und/oder kulturellen) Einflüssen unterliegt, mithin nicht allein biologisch zu definieren ist, sondern im Extremfall sogar als reine ›Zufallsgröße‹108 ausgegeben werden kann.109 Wie bei Kathinka wird daher auch bei Tubal seinem biologischen Status als Halbpole keine Relevanz zugeschrieben; neben dem Vater und der quasi-polnischen Mutter wirkt der Herkunfts-
107 So auch Hehle in: GBA Vor dem Sturm, Bd. 1, S. 385. 108 Vgl. die schon oben zitierte Aussage von Tante Amelie, dass in Sidonie »durch ein Spiel des Zufalls […] mehr polnisch Blut lebendig gewesen wäre, als in einem halben Dutzend ›itzkis‹ oder ›inskis‹« (VdS 1, S. 192). 109 Bernhard Viels Interpretation von Vor dem Sturm gerät nicht zuletzt deshalb in eine argumentative Schieflage, weil er das ›Blut‹ als biologisches Konzept verabsolutiert, das nationale Identität verbürgt (vgl. Utopie der Nation).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
raum nationalitätsentscheidend: Tubal ist in Polen110 geboren und zunächst katholisch getauft.111 Ladalinskis Plan, die familiäre Integration in den preußischen Geschichts- und Gesellschaftsraum dauerhaft genealogisch sicherzustellen, ignoriert, so postuliert es der Text, die natürlich-invariante Bindungskraft nationaler Abstammung. Diese aber wirkt auch in der bewussten oder unbewussten Latenz: Tubal bringt den Raumwechsel von Polen nach Preußen, der sich bereits mit dem Übertritt auf die »jenseits der Grenze gelegenen schlesischen Güter« (VdS 2, S. 39) vollzieht, explizit mit der Genese eigener intrapsychischer Dilemmata zusammen und diagnostiziert als Folge des väterlichen preußischen Integrationsprojekts das Fehlen eines lebensgeschichtlichen »Mittelpunkt[s]« (VdS 1, S. 282) – ein Zustand des Instabilen, in seinen Worten: der ›Zerstreuung‹ statt der »Erziehung« (VdS 1, S. 282 f.), der, so ließe sich ergänzen, nur durch die Restitution eines solchen Zentrums beendet werden kann. Offensichtlich gelingt dies nicht mit Ladalinskis Modell einer stabilen ›Verwurzelung‹ in einer zweiten ›Heimat‹ (vgl. VdS 2, S. 124). Stattdessen sorgt die Differenz von Herkunftsraum und preußischer Lebenswelt allererst und fortwährend für figurale Konfliktlagen. Tubal benennt drei Indikatoren, die im 19. Jahrhundert nationale Zugehörigkeit irreversibel festschreiben und daher jedem Assimilationsvorhaben Schwierigkeiten bereiten (das ›Blut‹ wird signifikanterweise nicht berücksichtigt): der polnische Name, die polnische Vergangenheit und der polnische Besitz (siehe VdS 1, S. 282). Der Name, ob Vor- oder Nachname, vermittelt nicht nur semiotisch onomastische Fremdheit in Preußen, er kann auch einen Gedächtnisraum weit zurück in die familiale polnischnationale Geschichte öffnen. So heißt es über den Namen »Tubal«, die Abkürzung von »Pertubal«, dass dieser schon von ältesten Zeiten her in der Familie heimisch und in jedem Jahrhundert wenigstens einmal glänzend vertreten war. Ein Pertubal von Ladalinski hatte den Zug gegen Zar Iwan mitgemacht, ein anderer dieses Namens war in der Schlacht bei Tannenberg, ein dritter unter Sobieski vor Wien gefallen. Es hieß, der Name sei syrisch und stamme noch aus den Kreuzzügen her. (VdS 2, S. 35)
110 Das Schloss Bjalanowo liegt im polnischen Teil der Ladalinski’schen Herrschaft. 111 Gleichwohl ist Tubal das nichtgeliebte Kind seiner Mutter (im Gegensatz zu Kathinka, vgl. VdS 2, S. 35 f.) – eine Ablehnung, die zumindest narrativ in seiner späteren Preußen-Zuwendung eine Begründung findet.
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Über ihre Träger ist der Name mit zentralen Ereignissen polnischer Historie semantisch aufgeladen,112 fungiert als Erinnerungsmedium.113 Die polnische Vergangenheit, von der Tubal spricht, kann durch einen Namen transportiert werden; als gedächtnisrelevant erweist sich darüber hinaus aber vor allem der (Land-)Besitz: Identität ist dominant an Raum gebunden. Dies konstatiert bereits Berndt von Vitzewitz, als er den potentiellen Ungehorsam gegenüber dem König mit der Primär-Verpflichtung dem ›Land‹ gegenüber rechtfertigt. Die höher gewertete »natürliche« Treue »gehört der Scholle, auf der ich geboren bin« (VdS 1, S. 258). Nicht nur ist das Land eine Größe von Dauerhaftigkeit (in Opposition zu menschlichen Konstrukten, siehe VdS 1, S. 259), es ist – im Rekurs auf das Bibelwort (1. Mose 3, 19) – die organisch-elementare Klammer der menschlichen Existenz: »Denn unser Land ist unsere Erde, die Erde aus der wir selber wurden.« (VdS 1, S. 260) »[S]ie [ist] unser erstes und letztes« (ebd.).114 Zum identitätsstiftenden Boden aber wird das Land vor allem durch seine Toten, seien es die eigenen Angehörigen und Vorfahren oder die Toten des kollektiven Gedächtnisses. Für Berndt definiert sich »Heimaterde« über die geliebten Menschen, die in ihr ruhen, und über das Blut der Gefallenen, mit dem der Boden im Laufe der Geschichte – wieder kommt vegetative Metaphorik zum Einsatz – »gedüngt« (VdS 1, S. 261) worden ist. Auf paradigmatischer Ebene ergibt sich die Verbindung zu Tubal, der den notwendigen und nun vermissten Konnex zwischen dem Herkunftsraum und einer stabilisierenden familialen Existenz betont: »Und wie wir nicht recht ein Vaterland haben, so haben wir auch nicht recht ein Haus, eine Familie. Und das ist das Schlimmste.« (VdS 1, S. 282) Auf das Fehlen der (noch lebenden!) Mutter wird angespielt, wichtiger aber scheint die Institution des aus materiellen und immateriellen Komponenten zusam112 Bezüge werden hergestellt zum polnisch-litauischen und schwedischen Krieg gegen die Ansprüche Iwans IV. auf Livland in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zum Sieg über den Deutschen Orden bei Tannenberg am 15. Juli 1410 sowie zur Befreiung Wiens von der türkischen Belagerung durch den polnischen König Jan III. Sobieski am 12. September 1683. 113 Mit Blick auf die historische Dimension des Namens Tubal fragt Nance, Literary and Cultural Images, S. 54, daher auch zu Recht: »How significant is then the fact that, from his birth on, Tubal was meant to be yet another Polish national hero?« 114 Vgl. dazu auch Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹, die gemäß ihrer Fragestellung nach den Muttergestalten in Vor dem Sturm den Fokus auf die affektive Semantisierung der Erde als »Mutter-Sphäre« legt (siehe insbesondere S. 253 f.).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
mengesetzten Hauses,115 das auf »Kontinuitätssicherung«116 zielt; »genealogische[…] Abfolgen«117 stehen im Bewusstsein einer historischen Chronologie, stellen einen unmittelbaren Zusammenhang zur polnischkatholischen Vergangenheit her. Eine Abtrennung von der Ahnen- und Verwandtschaft führt zwangsläufig zu einer Beschädigung des identitätssichernden Hauses.118 Resultat ist Tubals Empfinden eines belastenden »Widerspruch[s] des Daseins« (VdS 1, S. 247), der sich als Grundmuster der Unstetigkeit auch in seinen Handlungen manifestiert.119 Diese unterstehen dem Selbstvorwurf der ›Halbheit‹ (siehe VdS 1, S. 283), oszillieren zwischen Preußen und Polen, offenbaren die Unfähigkeit zu Bindung und Verbindlichkeit bei gleichzeitiger Suche nach Beendigung dieses Zustands. Einerseits ist er, wie Lewin berichtet, »viel mit Bninski […] zusammen«, andererseits fragt er auch: »[W]ann reisen wir nach Hohen-Vietz?« (VdS 2, S. 220), wobei offenbleiben muss, ob er dabei an Renate denkt oder die Beteiligung an den patriotischen Plänen Berndts im Auge hat. Es zieht ihn zu Renate, er erhofft sich durch die Bestätigung ihrer Liebe einen »Halt« (VdS 2, S. 321), und doch bleibt die »Treue seines Gefühls« (VdS 2, S. 332) ein Unsicherheitsfaktor. Dies wird vor allem dann explizit, als Tubal versucht, Marie zu verführen, nachdem beide aus Versehen in der Kirche eingeschlossen worden sind, eine Szene, die er im Nachhinein freilich als »Traum« (VdS 2, S. 363) gewertet wissen will. Bei der preußisch-patriotischen Landsturmattacke auf Frankfurt ist Tubal wie selbstverständlich mit dabei. Aber es ist eine andere Tat, die ihn, wie der Text verdeutlicht, gegenüber der Familie von Vitzewitz gewissermaßen kompensatorisch rehabilitiert: Sie ereignet sich anlässlich der nächtlichen Aktion zur Befreiung des kriegsgefangenen Lewin. Als alles schon erfolgreich beendet scheint, wird Tubal durch französische Kugeln lebensgefährlich verletzt – beim Versuch, das »treue Thier« (VdS 2, S. 458) 115 Siehe Nacim Ghanbari, Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850 – 1926, Berlin/Boston 2011 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 128), S. 24, im Rückgriff auf Claude Lévi-Strauss. 116 Ebd., S. 4 und passim. 117 Ebd., S. 4. 118 Graf Ladalinskis preußische »Staatszugehörigkeit« (VdS 2, S. 39) ersetzt nach Ghanbari, Das Haus, S. 100, »nach und nach die Loyalität zum eigenen Haus«. 119 Viel, Utopie der Nation, S. 132, irrt, wenn er meint, Tubals Zerrissenheit sei dominant »als Folge des gemischten Blutes, der völkischen Heterogenität« zu sehen. Nicht das binationale Erbgut generiert Identitätskonflikte, sondern Tubal referiert diesbezüglich ausschließlich auf den territorialen Wechsel von Polen nach Preußen.
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Hektor zu retten, das sich unbemerkt dem Befreiungstrupp angeschlossen hatte. Diese Opfertat für einen preußischen Hund wird in Figurenperspektive schnell semantisch aufgefächert und mit einem Opfer für Lewin synchronisiert: »Um Lewin zu retten dieser Preis!« (VdS 2, S. 461), sagt Berndt. Und auch Renate kommt gegenüber dem Sterbenden zu dem Schluss: »[…] Ach, Tubal, um was stirbst Du jetzt? Um Lieb’ und Treue willen. Ja, ja. Erst galt es Lewin, und dann als er gerettet war, da dauerte Dich die arme Kreatur […].« (VdS 2, S. 465 f.)
Der Tod fungiert als ein »Akt der Sinngebung«:120 Was Tubal an Treue gegenüber Renate versäumt, holt er mit seiner Bereitschaft zu sterben gegenüber Lewin ersatzweise nach. Darüber hinaus sorgt der Tod für die Wiederherstellung ordnungsstiftender Grenzen, indem nationale Ambivalenzen aufgelöst werden. Entscheidenden Anteil hat daran der alte Geheimrat. Auch sein Handeln trägt mithin kompensatorische Züge, hat er doch mit der Entscheidung zur Übersiedlung auf preußisches Gebiet die Identitätskonflikte seines Sohnes allererst ausgelöst. Auf dem Sterbebett hält Tubal zunächst noch an seinem Bekenntnis zu Preußen fest, äußert gegenüber Hirschfeldt den Wunsch, in Hohen-Vietz begraben zu werden: »Ich möchte hier bestattet sein. Aber nicht in der Gruft, in der ich vielleicht unruhig würde […]. Nein, fest in Erde.« (VdS 2, S. 464) Der Tod soll für die dauerhafte Verankerung in Preußen sorgen, was freilich schon von daher in einen Widerspruch führt, weil Tubal damit ausgerechnet jene Bodenkategorie aufruft, die für die nationale Herkunftsidentität maßgeblich ist und ihn schon immer im Polnischen ansiedelt. Wenn Tubal Renate schließlich darum bittet, ihm Zeilen aus Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunden vorzusagen, dann scheint es auch nur konsequent, dass diese protestantischen Worte weniger Trost spenden, als dass sie Erinnerungen an den mittellateinischen Vorgängertext generieren. Im Sterben vollzieht sich die polnisch-katholische Wendung als ein Wiedererlangen von Authentizität:121 Tubal erinnert sich an seine Kindheit, in der er die lateinischen Verse aufsagen musste; und er stirbt, während er ihre Anfangsworte wiederholt, die auch (gekürzt) dem Kapitel seine Überschrift geben: »Salve caput cruentatum« (VdS 2, S. 467).122 Indem 120 Titzmann, An den Grenzen des späten Realismus, S. 130. 121 Beutel, Fontane und die Religion, S. 127. 122 Dass Tubal Erlösung finden wird, deutet sich schon zeichenhaft im Kutscher »Krist« an, der den Schwerverletzten auf dem Schlitten nach Hohen-Vietz transportiert hat. Zudem besitzt der Name Tubal nicht nur eine historische Dimension,
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
sich Tubal auf seine katholische Herkunft besinnt, kehrt er metonymisch nach Polen zurück. Die buchstäbliche Rückkehr in das ›Haus‹ der Vorfahren, in die Begräbnisstätte der Familie nach Bjalanowo, initiiert dann wenig später der Vater. Denn: »[…] Alle Ladalinskis stehen dort. Das Leben hat seine Forderungen, aber auch der Tod. Es liegt mir daran, im Sinne meines Sohnes zu handeln, der, wie mir wohl bewußt, diesen Zug nach der Heimat hatte.« (VdS 2, S. 471)
Ladalinski befreit seinen Sohn vom »Widerspruch des Daseins«, auch deshalb, weil er von dessen Wunsch nach einer preußischen Bestattung gar nichts erfährt.123 Dass sich die Abschiedsszene, in der der Geheimrat in der Kirche von Hohen-Vietz am Sarg Tubals steht, unter der Kapitelüberschrift »Wie bei Plaa« (VdS 2, S. 467) abspielt, evoziert nicht ohne Grund einen bemerkenswerten Vergleich: Szenisch gespiegelt wird die Aufbahrung von Hirschfeldts Bruder, der in Spanien gegen die napoleonischen Truppen gefallen war und von der der Rittmeister im Rahmen eines KastaliaTreffens berichtet hatte (siehe VdS 2, S. 109 – 117). Tubals Tod rückt narrativ in assoziative Nähe zur patriotischen Tat. Der subjektive Trost liegt freilich woanders: Ladalinski findet ihn in der Erkenntnis, dass sein toter Sohn »Freiheit und Erlösung« (VdS 2, S. 475) errungen habe, und er findet ihn im »alte[n] katholische[n] Gefühl« (ebd.), das nach seinen Kindern auch ihn ergreift: Das Kreuz vom Altar der märkischen Kirche, mit dem er Tubals Sarg schmückt, weil er »so kahl« (ebd.) ausschaut, verleiht diesem Gefühl gestischen Ausdruck. Es kommt schließlich sogar mit über die Grenze – jetzt aber, so will es Berndt verstanden wissen, als preußisches Erinnerungszeichen (siehe VdS 2, S. 479).
er impliziert auch – aus dem Hebräischen kommend – die Bedeutungen »weltlich, irdisch« und »zurückgekehrt«. In diesem Sinne stände der aus gesellschaftlichen Gründen angenommene protestantisch-reformierte Glaube für die weltliche Sphäre, die Tubal durch die Rückkehr zum Katholizismus hinter sich lässt. Siehe Hehle in: GBA Vor dem Sturm, Bd. 1, S. 386 f., mit Bezug auf das Historische Deutsche Vornamenbuch von Wilfried Seibicke. 123 Vgl. »Hirschfeldt wollte berichtigen; Berndt aber, der den Eigensinn Ladalinskis kannte und von mancher früheren Erfahrung her wußte, daß unbequeme Mittheilungen wohl das Gemüth seines Gastes beunruhigen, aber an seinen Entschlüssen nichts ändern konnten, ergriff deshalb statt des Rittmeisters das Wort und beeilte sich, ohne Weiteres seine Zustimmung auszusprechen.« (VdS 2, S. 471)
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Hat Kathinka mit Hilfe Bninskis ihren Weg aus Preußen selbstbestimmt124 initiieren müssen, sorgt bei Tubal der Vater für die endgültige Repatriierung. Den Sarg des Toten begleitend, verlässt auch Ladalinski am Ende des Romans den preußischen Raum. Sein Weg führt zu einer »Gruft […], die nicht mehr die seine war und an deren Thür er um Gastlichkeit bitten mußte für seinen Todten« (VdS 2, S. 480). In den verlassenen Heimatraum sind allenfalls noch die Toten integrierbar. Der Geheimrat hingegen, so ist anzunehmen, wird wieder in sein Domizil nach Berlin zurückkehren, mit der neu-alten Erfahrung eines »katholische[n] Gefühl[s]«. Seine ›Rettung‹ sieht der Text nicht mehr vor: Er ist ein »gebrochene[r] Mann[]« (VdS 2, S. 284), der – von Verlusten gezeichnet – von sich sagt, dass er nicht mehr »genesen« wird (VdS 2, S. 250). Der Plan Ladalinskis, seine Familie in Preußen zu etablieren, scheitert innerhalb weniger Wintermonate 1812/13, in denen die dargestellte märkisch-preußische Welt einem gesellschaftlich-ideologischen Wandel unterliegt, der nationale Abgrenzung neu dimensioniert und alle erwarteten und gewollten Adaptionsbemühungen eines Fremdnationalen endgültig in die Aporie führen muss. Was Titzmann für das realistische Literatursystem mit Blick auf assimilierte Juden festhält, gilt ebenso für Ladalinskis Projekt: »Das explizit Gewünschte – die geforderte Anpassung – kann und darf implizit nicht sein.«125 Zwar knüpft Vor dem Sturm sein Volkskonzept nicht primär an biologische Blutsverwandtschaft (weist sie vielmehr als unzuverlässige Größe aus), aber stattdessen postuliert der Roman eine neue Qualität der Boden- und Raumbindung, die sich über familiale Herkunft und nationale Erinnerungsgeschichte konstituiert und für unhintergehbare nationale Identitätsgrenzen sorgt. Damit muss Ladalinskis Assimilationsprojekt, das explizit einen Versuch darstellt, sich im preußischen Boden zu ›verwurzeln‹, unter den poetologischen und ideologischen Vorwurf einer (bis in die Tiefen-Dimension des Bodens reichenden) Grenzverwischung geraten, die durch Ladalinskis Verhalten der Überanpassung noch extremisiert erscheint. Was subjektiv als maximalpositives Einpassungskonzept initiiert war, ist unter der gegebenen Logik nur noch raumsemantisches – gegen Preußen gerichtetes – Täuschungsmanöver. Der Unterschied zu Bninskis Vorwurf der ›Künstlichkeit‹ liegt dabei deutlich zutage, ging dieser doch vom Selbstbetrug Ladalinskis 124 Eine »kosmopolitische Tatfrau«, noch dazu amoralisch »ohne schlechtes Gewissen« (so wird sie von Viel, Utopie der Nation, S. 132, gesehen), ist sie, die anfangs zögert, dennoch nicht. 125 Titzmann, ›Volk‹ und ›Nation‹, S. 56.
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angesichts ›natürlich‹-inkompatibler Systeme aus (mit freilich fatalen familialen Folgen), nicht aber vom Betrug am Preußisch-Anderen. Die Tatsache, dass Preußen ein historisch gemischtethnischer Raum mit slawischen Bestandteilen ist, schafft signifikanterweise keine Integrationserleichterung.126 Hohen-Vietz gilt zwar im Text als »Wendendorf« (VdS 1, S. 85); und auch die kapitelfüllende Debatte zwischen den Hobby-Historikern Pastor Seidentopf und Justizrat Turgany über die semnonischgermanische oder wendische Zuordnung eines archäologischen Bronzewagen-Funds, des »Wagen Odins« (VdS 1, S. 112), dreht sich um die Frage nach slawischen Einflüssen in der Mark.127 Wie der Text an dem Pfälzer Kniehase verdeutlicht, gelingt jedoch allein die konfessionsgleiche binnendeutsche Assimilation.128 Für den Geheimrat Ladalinski, selbst noch im Denk- und Allianzsystem des 18. Jahrhunderts verwurzelt, kann die Übersiedlung nach Preußen noch kulturelle Option sein: Reflexionsobjekt ist weniger der polnische Herkunftsraum als der Raum, in dem sich die Zukunft gestalten soll. Für die Folgegeneration in der Erzählgegenwart des 19. Jahrhunderts gilt dies nicht mehr: Ladalinskis forcierte Abtrennung von »Land, Glauben, Freunde[n]« (VdS 2, S. 465) aus persönlichen und politischen Mo126 Damit ist Loster-Schneider, Der Erzähler Fontane, S. 68, zu widersprechen, die behauptet, Fontane finde in der deutsch-wendischen Entstehungsgeschichte Preußens eine »für das polnische und deutsche Nationalgefühl akzeptable[] Integrationsformel«. 127 Zur Seidentopf-Turgany-Debatte ausführlich Klaus Düwel, Archäologie im Roman. Zum Wagen Odins in Fontanes ›Vor dem Sturm‹. Christian Wagenknecht zum 60. Geburtstag. In: Praehistorische Zeitschrift 72 (1997), S. 234 – 243, und Sohns, An der Kette der Ahnen, S. 170 – 183 und 272 – 287. Siehe zur Wendenthematik in Vor dem Sturm auch meinen Aufsatz über die hexenhafte Unterschichtfigur Hoppenmarieken: Ein brauchbares ›Bodenprodukt‹. Zur Dependenz von Konstitution und Funktion der Hoppenmarieken-Figur in Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹ (1878). In: Thomas Betz und Franziska Mayer (Hrsg.), Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Für Volker Hoffmann. Bd. 1, München 2005, S. 365 – 380. Auf die notwendige Unterscheidung zwischen Wenden und Polen wurde bereits in Kapitel 2.2 eingegangen. Während die Wenden konstitutiv für die »Mischrace« sind, die Fontane in Preußen angesiedelt sieht, gilt dies nicht für preußisch-polnische ›Mischungen‹. In der ersten Auflage des Havelland-Bandes (1873) der Wanderungen ist im Text »Die Wenden in der Mark« zwar noch der Einschub »(Polen und Deutsche hassen sich bis diesen Tag und heiraten sich doch)« zu lesen, für die zweite Auflage von 1880 wurde er jedoch herausgenommen (Zitate aus GBA Wanderungen, Bd. 3, S. 33 und 507). Dass transnational eben nicht (mehr) geheiratet wird, wird im Erzähltext Vor dem Sturm explizit. 128 Dazu im Detail Ghanbari, Dynastisches Spiel, S. 197 f.
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tiven trägt an Kathinka und Tubal, aber auch an Bninski, Ansprüche einer sozialen Homogenisierung heran, denen sie aufgrund neuer nationaler Bindungsgrößen (›Volk‹, ›Vaterland‹) ›natürlich‹ nicht gehorchen können. Mag Ladalinski mit seiner »mehr preußisch als polnisch angelegte[n] Natur« (VdS 2, S. 39) noch am ehesten subjektiv zu einer Adaption in der Lage sein (auch wenn sie objektiv nicht geleistet werden kann bzw. darf),129 zumal er generationenspezifisch unter kulturellen (nicht nationalen) Prämissen agiert, so bleibt die polnisch orientierte Tochter von Anfang an distanziert; und der anpassungswillige Tubal, der den Vater schon als Kind im diplomatischen Dienst für den preußischen Hof begleitet hat (siehe ebd.), gerät reflexiv und aktiv so tief ins preußisch-polnische Dilemma, dass er lebend und ohne väterliche Hilfe nicht mehr herausfindet. Der Text inszeniert die Opposition von individuellem (und potentiellem) ›Wollen‹ und natürlichem ›Sollen‹ als richtungsweisendes und dominant durchsetzungsfähiges Regulativ: Indem Kathinka flieht, folgt sie ihrer polnischen Identität. Darüber hinaus löst sie jedoch einen physischen und psychischen Zusammenbruch130 Lewins von kathartischer Wirkung aus und macht den Weg frei für die ›natürliche‹ Verbindung des jungen Vitzewitz mit Marie Kniehase, die sich als jene metaphorische »Prinzessin« erweist, von der ein Volksreim prognostiziert, dass mit ihr bessere Zeiten für das Haus HohenVietz anbrechen (VdS 1, S. 25). Die sich zum Volk öffnende Mesalliance mit der bürgerlichen Marie,131 die gleichwohl als »Feenkind« (VdS 1, S. 90) 129 Vgl. auch die Charakterskizze, die Fontane im Notizbuch E 3 um das Jahr 1866 über den Geheimrat angefertigt hat: »Es giebt keinen größeren Gegensatz als den polnischen und preußischen Charakter, als das polnische und preußische Wesen. [–] Der Pole muß sich, als Träger seiner nationalen Eigenschaften nothwendig feindlich gegen uns verhalten; Individuen sind aber nicht immer Träger spezieller [sic!] ihrer Nationalität und sowie es Deutsche giebt, die […] polnisch sind, so giebt es Polen, die deutsch empfinden dh. solche die den Ordnungssinn haben und ihn über die Leidenschaft stellen. Diese Polen lernen Preußen lieb gewinnen […]. Solche Einzel-Polen gab es immer. Dahin gehörte Ladalinski.« (GBA Vor dem Sturm, Bd. 1, Anhang, S. 444) Schon im Stadium der Vorarbeiten ist Ladalinski als abweichende Figur gekennzeichnet, der (subjektiv) die Grenzüberschreitung zwischen – als inkompatibel gesetzten – nationalen Systemen möglich ist. 130 Auf diese Krise Lewins, die im Roman auch als raumsemantischer Ausbruch aus Berlin dargestellt wird, geht ausführlich Constantin Stroop, Raum und Erzählen in ›Vor dem Sturm‹. Eine Mikroanalyse. In: Fontane Blätter 85 (2008), S. 103 – 114, ein. 131 Eine solche Öffnung ist im Text nicht für die Polenfiguren vorgesehen. Weniger scheint mir dies im preußisch-polnischen Gegenüber hierarchisch – im Sinne eines preußischen Fortschritts – als diachronisch aufzulösen zu sein. Tatsächlich be-
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wie aus dem »Märchen« (VdS 1, S. 29) sogleich auch wieder standesgemäß aufgewertet wird,132 unterliegt deterministischer Konsequenz. Entsprechend lautet das Erzählerurteil: »[E]s war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang an Bestimmte hatte sich vollzogen« (VdS 2, S. 459 f.).133 Dass Renate nach Tubals Tod als Stiftsdame ins Kloster geht, scheint ebenfalls vorgezeichnet: über die starke Präsenz ihrer pietistischen Ersatzmutter Tante Schorlemmer.134 Die Verhinderung einer kulturellen Assimilation bei gleichzeitiger Durchsetzungskraft natürlicher endopraktischer Verbindungen135 rückt den Diskurs der Schuld, wie er im figuralen Dialog auftritt, wenn es um das
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förderte die Teilungssituation die identitätswahrenden »Bindungen an die politischen Traditionen der Adelsrepublik«. Zudem »[blieb] das neue nationale Bewußtsein […] – trotz einer seit dem Kos´cius[z]ko-Aufstand zunehmend auch antifeudalen Ausrichtung – einstweilen mit dem Wertesystem der Adelsgesellschaft eng verknüpft«. Siehe zur sozial-politischen wie wirtschaftlichen Positionierung des polnischen Adels im 19. Jahrhundert den einschlägigen Beitrag von Michael G. Müller, Der polnische Adel von 1750 bis 1863. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750 – 1950, Göttingen 1990 (= Geschichte und Gesellschaft – Sonderheft 13), S. 217 – 242 (Zitate S. 239). Und noch dazu mit himmlischen Marien-Attributen versehen wird, ebenso wie sie mit dem Mythos der preußischen Königin Luise in mehrfacher Korrelation steht, wie Hebekus, Klios Medien, herausgearbeitet hat (S. 178 – 190). Die Verbindung zwischen Lewin und der in Hohen-Vietz erzogenen Marie, die wie »Geschwister« (VdS 2, S. 492) aufgewachsen sind, trägt freilich auch Züge eines Inzests, aber nicht im Sinne einer Abweichung; vielmehr ist der Geschwister-Inzest »Modell der Intimität und erotischer Transfer im Innern einer neuen ›bürgerlichen‹ Familie«. Siehe Erhart, Familienmänner, S. 143, der auch die Rolle Renates als Vermittlungsinstanz zwischen Lewin und Marie hervorhebt. Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹, S. 259. Den Anteil der ›Natur‹ am Scheitern internationaler Verbindungen betont auch Viel, Utopie der Nation; allerdings weist er der ›Natur‹ dabei auch den Status als Quasi-Schutzmacht zu, die gemäß einer vermeintlichen Textideologie verhindere, dass die deutsche Nation durch zersplittert-nichtauthentische (im Vokabular Viels: degenerierte, siehe z. B. S. 151 f.) slawische Elemente geschwächt werde (S. 126 und passim). Nicht beachtet wird, dass die Sogkraft des Natürlichen auch in die polnische Richtung, mithin als universelle Größe, wirkt, sie von Bninski und den Ladalinski-Kindern sogar argumentativ eingesetzt wird. Überhaupt kann Viels Versuch, die polnische Figurengruppe in Vor dem Sturm mit dem PauschalMerkmal des zu Amoralität tendierenden Degenerativen zu versehen (in Opposition zum neu entstehenden vitalen Tat-Preußen), im Hinblick auf die Textbefunde nicht überzeugen (vgl. S. 149 – 151).
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»dunkle[] Haus«136 der Ladalinskis geht, in relativierendes Licht. Zwar werden polnische Handlungen narrativ unter das »Prinzip des Wiederholungszwangs«137 gestellt. Nicht nur die physische Ähnlichkeit Kathinkas mit ihrer Mutter wird vom Erzähler verzeichnet, Kathinka selbst sieht ihre Flucht ausdrücklich als familiale Wiederholungstat: »Wir erben alles: erst das Blut und dann die Schuld. Ich war immer meiner Mutter Kind. Nun bin ich es ganz.« (VdS 2, S. 216) Dass allerdings, wie bereits dargelegt, die Schuld-Konstellationen differieren, überdies ›Blut‹ im Text durchaus als unzuverlässiger Überträger von Eigenschaften, zumindest nationaler Eigenschaften, fungiert, dass Kathinka ihren Vater nicht einmal verlassen müsste, wenn kein Heiratsverbot wegen gesellschaftlicher Rücksichten bestände, bringt den Vergleich in eine Asymmetrie. Und wenn sich Kathinka insbesondere auch gegenüber Lewin »verschuldet« (VdS 2, S. 215) fühlt, den sie venusgleich in ihren Bann gezogen hat, dann wird dies auf textueller Ebene aufgehoben durch ihre Funktion als Krisenauslöserin und damit notwendige Initiatorin von Lewins Glück: Erst sein Zusammenbruch infolge ihrer Flucht führt ihn zu Abkehr und Neubeginn (vgl. VdS 2, S. 269), während er sich zuvor gegenüber Marie »blind« (VdS 2, S. 425) gezeigt hatte. Auch die Schuld Tubals ist abzumildern. Angesichts postulierter Geschwister-Ähnlichkeiten ordnen Renate und Marie Tubal schnell als unsicheren Heiratskandidaten ein (siehe VdS 2, S. 253, 299 und 321). Wenn Marie jedoch Tubals Tod vorausahnt und als ausgleichendes »Mysterium von Schuld und Sühne« (VdS 2, S. 399) deutet, mithin auf das zu sanktionierende polnische Charaktermerkmal der Unstetigkeit abstellt, dann übersieht sie den durch den Grenzübertritt bedingten binationalen »Widerspruch« als dominanten Verursacher von Ambivalenz.138 Vor dem Sturm erzählt vom Entstehen der preußisch-nationalen Gesellschaft – und damit von einem Nationalisierungsschub, der preußischpolnische Divergenzen, die im Roman nicht zuletzt als binnenpolnische Auseinandersetzungen ausgetragen werden, allererst krisenhaft hervortreibt: Im Fokus steht die Frage nach der nationalen Identität des Individuums. Indem in Vor dem Sturm keine preußisch-polnischen Verbindungen zustande kommen und alle polnischen Figuren letztlich den 136 So Renate: »Es ist ein dunkles Haus, und was sie selbst nicht haben, das können sie niemand geben: Licht und Glück. Es war immer ihr Schicksal, Liebe zu wecken, aber nicht Vertrauen.« (VdS 2, S. 298 f.) 137 Böschenstein, ›Und die Mutter kaum in Salz‹, S. 257. 138 Es geht daher auch fehl, von der Untreue als Erbsünde der Familie Ladalinski zu sprechen, wie dies etwa Barbara Potthast, Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 326, tut.
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preußischen Raum verlassen, werden textoberflächlich nationale Ordnungen restabilisiert. Statt des von Ladalinski gewünschten Anschlusses erfolgt der textuelle Ausschluss. Signifikant ist freilich die Position, die Frankreich innerhalb dieses Raumgefüges zugewiesen wird. Während sich nämlich für Preußen das Ende der französischen Fremdherrschaft und die Wiederherstellung staatlicher Integrität abzeichnen, sammeln sich im Pariser Exil kämpferische Nationalpolen wie Bninski, die – das wurde anhand seiner Biographie deutlich – nicht vergessen können. Sie fungieren als Erinnerungsträger an ein zu restituierendes Polen und stellen zukünftiges Gefährdungspotential dar. Schon unter dieser Prämisse sind bestehende Grenzen bedroht und fragil. Zudem lauern im Binnenraum bei aller Tendenz zur ›vaterländischen‹ Homogenisierung mögliche Instabilitäten: Denn Preußen ist nach wie vor multikulturelles Eroberungsterritorium – mit beträchtlichen polnischen Bevölkerungsanteilen. Welche explosive Gemengelage diese Konstellation beherbergt, lässt sich nicht zuletzt an den Konflikten der polnischen Protagonisten in Vor dem Sturm ablesen.139 Schon in Fontanes Debütroman sind Themen und Semantiken präsent, die auch weiterhin von Bedeutung sein werden. Zu nennen ist nicht nur das rekurrente Merkmal aparter Erotik, das schöne Polinnen wie Kathinka oder später Cécile auszeichnet: Es fungiert als preußisch-polnisches Anziehungsmoment, birgt aber in seiner Tendenz zur Normverletzung auch gehöriges Konfliktpotential, sorgt narrativ für ereignishafte ›Unordnung‹. 139 Interessant ist diesbezüglich ein Brief Fontanes an Wilhelm Hertz vom 9. 10. 1878, in dem er über die Rezeption von Vor dem Sturm in Posen Auskunft gibt: »Durch Zufall hab ich in Erfahrung gebracht, daß an zwei Stellen, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte, mein Roman mit besondrem Interesse gelesen worden ist: am Rhein und im Posenschen. Was den Rhein angeht, so bedeutet es wohl nicht viel, Posen aber, über das ich gut unterrichtet bin, ist wichtig. Ich kann mir den Erfolg an dieser Stelle nachträglich auch sehr gut erklären. Die Weichsel-, Wartheund Netze-Gegenden werden nämlich gerade vom Oderbruch aus colonisirt und alle reichen Bauerssöhne aus dem Dreieck Wrietzen-Küstrin-Frankfurt gehen ins Posensche, um dort ›Rittergutsbesitzer‹ zu werden. Diese lesen natürlich gern von Manschnow und Gorgast und werden sich abquälen herauszukriegen, wer unter Vitzewitz, Pudagla, Drosselstein etc. eigentlich zu verstehen sei. Dies bildet immer das Haupt-Interesse. Räthsel lösen. Alles andre ist Nebensache.« (HFA IV/2, S. 624) Fontane zielt mit seiner Eingangsbemerkung, Posen sei »wichtig«, zwar in erster Linie auf die dort lebenden deutschen Kolonisten und ihre Lust am Enträtseln von realhistorischen Figurenvorbildern; aber wichtig ist auch, was von den Lesern zumindest als »Nebensache« registriert werden kann: So mögen die polnischen Textelemente in einer binationalen Provinz vielleicht mehr aktuelle Beachtung finden als am entfernten Rhein.
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Zu nennen ist auch jener thematische Komplex, der sich auf die Frage nach den Möglichkeiten polnischer Existenz in Preußen zuspitzen lässt. Geht man davon aus, dass Integration in Preußen normadäquates Verhalten verlangt, dann scheint schon das erzählerisch produktive Konzept der ›schönen Polin‹ wenig geeignet, dieser Vorgabe zu genügen. Hinzu kommt, dass sich polnische nationale Identität offenbar nicht variabel ersetzen lässt, sie vielmehr eine invariante (allenfalls in die zwischenzeitliche Latenz verschiebbare) Erinnerungsgröße darstellt, die zwar nicht an das ›Blut‹, dafür aber an den familialen Herkunfts- und Gedächtnisraum gebunden ist. Zudem ist sie konfessionell verankert – nicht von ungefähr finden konvertierte Polen in Fontanes Texten immer wieder zum Katholizismus zurück: Neben den Ladalinskis wird sich dies auch bei Cécile zeigen.140 Ein Identitätskonzept, das wesentlich auf die nationale Herkunft als irreversibles Distinktionsmerkmal rekurriert, steht aber letztlich auch jeder preußischen Assimilationsforderung und jedem polnischen Assimilationsbemühen entgegen: Zum einen ist dann Integration nicht mehr möglich ohne eine ideologische Neuverortung von nationaler Identität, zum anderen geraten polnisch-preußische Hybridkonstellationen unter den Vorwurf der Künstlichkeit. Textuell können letztlich national-separierende ›natürliche‹ Grenzziehungen vorgenommen werden, indem (selbst- und fremdbestimmt) preußisch-polnische Heiratspläne scheitern und stattdessen eine intrapolnische Verbindung zustande kommt oder indem polnische Figuren den preußischen Raum lebendig oder tot verlassen. Auffallend ist jedoch, dass diese natürlichen Mechanismen des (selbst- oder fremdinitiierten) Ausschlusses, die nationale Identität mit sich bringen, letztlich von Anfang an mit der künstlichen Verfasstheit des preußischen Staates kollidieren müssen, der zur Sicherung seiner Integrität seine polnischen Bevölkerungsanteile dauerhaft einem hegemonial strukturierten Ordnungssystem unterwerfen muss. Dies heißt aber auch: Das kontingente Gefahrenpotential für Preußen ist nicht zuletzt, verallgemeinernd formuliert, in den Verlaufsformen des Natürlichen anzusiedeln. Und weil diese – wie Vor dem Sturm gezeigt hat – dominant durchsetzungsfähig sind, können sie langfristig systemsprengende Wirkung entfalten. Neben der Frage der ›natürlichen‹ nationalen Identität, die einen multiethnischen Staat in Zwickmühlen führt, da sie ebenso durch seine intraterritorialen ›fremden‹ Bevölkerungsgruppen beansprucht werden kann, verweist Vor dem Sturm auf einen weiteren Ort der Instabilität für das 140 Polenaffine Figuren wie Victoire in Schach von Wuthenow tendieren immerhin zum Katholizismus.
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preußische System: Mit dem Pariser Exil Bninskis, das nichts anderes ist als eine Existenz in Wartestellung mit dem Ziel der Wiederherstellung Polens, indiziert der Text bereits die Möglichkeit einer drohenden polnischen Wiederkehr.141 Das strukturelle Element der Wiederkehr hat schon in den Gedichten des jungen Fontane eine Rolle gespielt, wo es freilich als noch nicht eingelöstes Hoffnungsszenario semiotisiert wurde (Der Verbannte, An der Elster). 142 Dass Polnisches, in durchaus unterschiedlichen Ausprägungen, dazu tendiert wiederaufzutauchen, hat sich zudem in Irrungen, Wirrungen gezeigt, wo das populäre Holtei’sche Polenlied Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka wiederholt erinnert bzw. gehört wird und so das Gebundensein der Figuren Lene und Botho verdeutlicht.143 Eine polnische Lebensvergangenheit scheint sowieso nicht zu tilgen zu sein und (unvermeidbar) präsentische Bedeutung zu erlangen. Sogar das Briefkonvolut von »so’[m] halbe[n] Pole[n]«144 wie Crampas in Effi Briest bleibt nicht dauerhaft »[g]anz zu unterst«145 in einem Fach des Nähtisches verborgen, sondern landet schließlich im Zuge einer Suche nach Verbandszeug, die auch vor dem »Stemmeisen«146 nicht Halt macht, für Innstetten sichtbar auf dem Fensterbrett. Und in Unterm Birnbaum kommt am Ende ein vermeintlich verunglückter, tatsächlich jedoch ermordeter (Pseudo-)Pole, dessen Leiche zunächst vergebens gesucht wird, geradezu ›handgreiflich‹ (und mit dem Tod seines Mörders signifikant zusammenfallend) wieder zum Vorschein.
3.3 »Unterm Birnbaum« (1885) Polnisch-preußische Begegnungen im preußischen Binnenraum enden – dies hat schon Vor dem Sturm gezeigt – letal oder zumindest im Exil. Unterm Birnbaum fügt dem ein Tötungsdelikt hinzu. Das Mordopfer, die sprichwörtliche Leiche im Keller des Abel Hradscheck im Oderbruchdorf Tschechin, ist ein polnischer Weinreisender namens Szulski, der genau
141 Man denke auch an die polnischen Aktivitäten in Paris, die mit dem KraszewskiProzess 1884 öffentlich wurden. Siehe Kapitel 2.3. 142 Siehe Kapitel 2.1.3.2. 143 Siehe Kapitel 2.1.3.1.1. 144 GBA Effi Briest, S. 172. 145 Ebd., S. 273. 146 Ebd., S. 270.
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genommen ein »Pseudo-Pole[]« (UB, S. 33)147 ist. Der Mord erfolgt noch im ersten Drittel der Erzählung; von da ab konturiert die »Geschichte mit dem Polen«, die »nicht aus der Welt [will]« (UB, S. 54), das Handlungsgeschehen. Die historische Stoffquelle, die Unterm Birnbaum zugrunde liegt, ein nie aufgeklärtes Verschwinden eines Stettiner Geschäftsreisenden in Letschin aus dem Jahr 1842,148 wird im Zuge narrativer Funktionalisierung politisch-gesellschaftlich neu verortet: durch Vorverlegung um zehn Jahre und die polnische (Pseudo-)Nationalität des Opfers. Dass es sich bei Szulski um keinen authentischen Polen handelt, ihm stattdessen ein ›künstlicher‹ polnisch-preußischer Hybridstatus zugewiesen wird, bedarf der Erklärung, schmälert aber keineswegs die Relevanz des von ihm mitrepräsentierten Polnischen für den Text. Zu tun hat dies nicht zuletzt mit Wissensdiskrepanzen, die sich über die narrative Informationsvergabe ergeben: Der einmalige Erzählerhinweis, der Ermordete sei »eigentlich ein einfacher Schulz aus Beuthen in Oberschlesien«, der »den National-Polen erst mit dem polnischen Sammtrock sammt Schnüren und Knebelknöpfen angezogen« (UB, S. 33) habe, bleibt nämlich allein dem Leser vorbehalten.149 Auf Figurenebene hingegen bewahrt der von einer polnischen Herkunft – von Name und Ort – ausgehende Zirkelschluss seine Gültigkeit: »Wenn einer Szulski heißt und aus Krakau kommt, ist er kattolsch.« (UB, S. 51) Und so wird Szulski in Figurenreden auch stets als »Pole[]« oder »Pohlscher« bezeichnet, ist als solcher nach der Mordtat dauerpräsente Referenzgröße im Gesprächs- und Verdachtssystem der Dorfgemeinschaft; allein sechzehnmal fällt die Bezeichnung im Text.150 Der Pseudo-Polen-Status wird mithin nicht auf der Ebene des Inhalts 147 Unterm Birnbaum wird hier und im Folgenden mit Sigle (UB) und Seitenzahl zitiert nach der GBA. 148 Siehe Fontane an Marie Walger, 16. 2. 1886 (HFA IV/3, S. 455), sowie Hehle im Anhang von GBA Unterm Birnbaum, S. 131 f. 149 Der Identitätswechsel wird auf Handlungsebene nicht problematisiert, jedoch sind keine figuralen Dilemmata anzunehmen: Der Wechsel führte nicht ins preußische Ordnungssystem hinein, sondern aus ihm hinaus, erfolgte zudem freiwillig und machte wohl keinen Konfessionswechsel nötig – als Oberschlesier war SchulzSzulski vermutlich schon katholisch. 150 Vgl. »solch Pohlscher« (UB, S. 47); »der Pohlsche« (UB, S. 50 und 51); »die Geschichte mit dem Polen« (UB, S. 54); »über Hradscheck und den Polen« (UB, S. 56); »den Pohlschen geweckt«, »der Pohlsche hab’ aber ’nen Dodenschlaf gehabt«, »der Pohlsche hätte keine drei Schluck getrunken« (UB, S. 57); »der Pohlsche« (UB, S. 71); »den Pohlschen sien’ Pelz«, »de Pohlsche« (UB, S. 77); »der Pohlsche«, »von dem Pohlschen« (UB, S. 84); »as de Pohlsche hier wihr« (UB, S. 86); »der Pohlsche« (zweimal UB, S. 125).
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relevant, wohl aber auf textuell-poetologischer Ebene: Damit modifiziert und unterläuft er einerseits die identifikatorischen Reden Szulskis über Polen im fünften Kapitel, andererseits, und dies scheint mir noch gewichtiger, verschieben sich die Implikationen der Mordtat. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zunehmenden Radikalisierung der Bismarck’schen Polenpolitik in den 1880er Jahren – Unterm Birnbaum erscheint 1885 sowohl im Vorabdruck in der Gartenlaube als auch in Buchform –151 kann eine Pseudo-Polen-Figur im Kontext der dargestellten Welt dazu dienen, zumindest textoberflächlich den geplanten Mord von national motivierten Vorwürfen zu entlasten.152 Schon 1889 hat der Kritiker Paul Schlenther in der Vossischen Zeitung von einem »soziale[n] Zeitbild« gesprochen, das das Verbrechen in Unterm Birnbaum »umspielt und begründet«.153 Unterm Birnbaum ist »KriminalNovelle«154, aber mehr noch (kritische) »Gesellschaftsnovelle«155 : »Wenn nach dem Maßstab der Spannungserzeugung die Bedeutung des Kriminalistischen abnimmt«, schreibt Hugo Aust, »so könnte nach den Richtlinien einer sozialen Erzählkunst der Verdacht zunehmen, daß die Mordgeschichte eigentlich von etwas ganz anderem erzählt«.156 In dieses ›Andere‹ ließe sich nun auch die polnische Thematik des Textes, dessen Handlung im frühen Herbst 1831 einsetzt und sich bis zum 3. Oktober 1833 erstreckt,157 eingliedern. Beachtet wurde sie bislang wenig; allenfalls wiesen Interpretationen auf die Darstellung des polnischen Novemberaufstands im fünften Kapitel hin, insbesondere unter dem erzähltechnischen Aspekt der Kontrastierung und/oder Parallelisierung: Zum einen öffnet sich das fiktive, provinzielle Tschechiner Leben hin zum realhistorischen Revolutionsereignis, Region und Welt treten in Relation zuein151 Niedergeschrieben wurde der Text zwischen 1884 und 1885. 152 Hinzu kommt, dass die preußische Identität des Mörders Abel Hradscheck vordergründig durch seine böhmische Herkunft abgeschwächt wird. Siehe dazu weiter unten. Vgl. auch Titzmann, Literatur und Politik im deutschen Realismus, S. 22, der auf den literatursystemisch-selektiven Umgang des Realismus mit politisch diffizilen Themen hinweist. 153 Zitiert nach dem Anhang von GBA Unterm Birnbaum (S. 148). 154 Fontane an Georg Friedlaender, 18. 8. 1884 (FFr, S. 9). 155 Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 2., durchges. Aufl., Stuttgart 1980, S. 221. 156 Aust, Theodor Fontane, S. 101. 157 Der Text bleibt also – wie dies schon bei Vor dem Sturm der Fall war – innerhalb der temporalen Spanne von sechzig Jahren, die Fontane einfordert, um »die Relevanz der geschilderten Zeit für die Gegenwart« (Neuhaus, Zeitkritik im historischen Gewand?, S. 217) zu gewährleisten.
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ander. Zum anderen signalisieren Aufstandsgräuel, wie sie im Text geschildert werden, die Brüchigkeit moralischer Maßstäbe, so dass verbrecherischer Einzelfall und allgemeine Zeitzustände miteinander verglichen werden können.158 Sieht man von diesen Beobachtungen ab, fehlen Deutungsangebote zum Polnischen in Unterm Birnbaum. Zwar wird dort im Unterschied zu anderen Texten Fontanes die Polenthematik nicht im preußisch-polnischen Gegenüber von Mann und Frau entfaltet, erhalten also Aspekte erotischer Anziehung und/oder moralischer Abgrenzung keine Bedeutung (als Redegegenstand darf eine schöne Polin dennoch nicht fehlen). Dass vom Polnischen permanent Irritationen ausgehen können, zeigt jedoch auch Unterm Birnbaum – nun in Form einer belastenden »Geschichte«, die erst durch die Mordtat entsteht. Tatsächlich ist innerhalb eines Textes, der rekurrent um das Thema ›Verbergen und Entdecken‹ kreist, das (pseudo-) polnische159 Mordopfer signifikant mit dem metaphorischen Komplex von Tod und Leben(digkeit) bzw. Vergessen und kommunikativer Erinnerungspräsenz verknüpft. Dieser Tod-Leben-Komplex operiert nicht mit disjunkten Klassen, vielmehr zeigen die in Unterm Birnbaum stattfindenden Abwärts- und Aufwärtsbewegungen, das »Rückdrängen der Zeichen«160 aus einer unsichtbaren ›Tiefe‹ an eine sichtbare ›Oberfläche/ Höhe‹, dass die Grenze der Erdoberfläche durchlässig ist: Alles, was tief unter der Erde liegt, kann schnell wieder ans trügerische Licht der »Sonnen« (UB, S. 127) kommen; und alles, was absent ist, ist noch lange nicht 158 Vgl. Gerhard Friedrich, ›Unterm Birnbaum‹. Der Mord des Abel Hradscheck. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 113 – 135 (RUB 8416), hier: S. 127 – 130; Rudolf Schäfer, Theodor Fontane. ›Unterm Birnbaum‹. Interpretation. 2., überarb. und erg. Aufl., München 1991 (= Oldenbourg-Interpretationen 40), hier: S. 36; Hehle in: GBA Unterm Birnbaum, S. 134; Helmuth Nürnberger, Nachwort. In: Theodor Fontane, Unterm Birnbaum, München 1997 (dtv 12372), S. 137 – 150, hier: S. 140. Auch die polenthematische Forschung konzentriert sich auf das fünfte Kapitel. Siehe Jaroszewski, Theodor Fontane, S. 90 – 92 (er sieht die Funktion des Kapitels darin, »die einseitige Einstellung deutscher Polenfreunde und der Polen selbst« zu kritisieren sowie »das Oberflächliche der deutschen Polenbegeisterung« aufzudecken, S. 90), sowie lediglich inhaltlich-referierend Vahlefeld, Theodor Fontane in Pommern, S. 101 – 103. 159 Mit der Klammersetzung soll der unterschiedliche Wissensstand zwischen Leserund Figurenebene Berücksichtigung finden. 160 Renate Lachmann, Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In: Dies. und Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main 1991, S. 111 – 141, hier: S. 117.
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vergessen, sondern hinterlässt Erkennungsspuren in der Gegenwart.161 Unter diesen Voraussetzungen kann auch ein toter (Pseudo-)Pole in Preußen jederzeit (wieder-)erinnert werden, mithin beunruhigend zur Sprache kommen. Unterm Birnbaum semantisiert die Szulski-»Geschichte« als jene Gefahr, die Abel Hradscheck lebensbedrohlich und einer Schlinge gleich »über den Hals« (UB, S. 85) kommt. Einerseits zeichnet sich der tote (Pseudo-)Pole durch diskursive Präsenz und Lebendigkeit aus, andererseits – und damit korreliert – scheint auch die leibhaftige Entdeckung des Toten nur eine Frage der Zeit. Was für die Bauern in Tschechin feststeht, nämlich dass selbst eine Leiche, die im Schlick des Oder-Flussbettes steckt, irgendwann auftauchen wird, wenigstens »nach fünfzig Jahren, wenn das angeschwemmte Vorland Acker geworden« (UB, S. 78) ist und der Bauer mit dem Umgraben beginnt, wird in der Erzählung strukturell eingelöst: In Unterm Birnbaum gelangen verborgene Körper früher oder später folgenreich nach ›oben‹. 3.3.1 Mord an einem »Polen«: Implikationen (sozial, politisch-ideologisch) Schon im ersten Kapitel erfährt der Leser von den hohen Schulden des Gastwirts und Materialwarenhändlers Abel Hradscheck. Das »Bild von Glück und Frieden« (UB, S. 7), das Hradschecks Haus abgibt, trügt gewaltig, denn Hradscheck »steck[t] tief drin«, »am tiefsten« (UB, S. 10) beim Bauern Leist. Damit nicht genug: »Und dann kommt die Krakauer Geschichte, der Reisende von Olszewski-Goldschmidt und Sohn. Er kann jeden Tag da sein« (ebd.). Tatsächlich kündigt ein paar Wochen später ein eingeschriebener Brief, datiert »Krakau, den 9. November 1831« (UB, S. 29), die Ankunft des Reisenden Szulski an – mit folgendem Zusatz: »[…] Zugleich aber gewärtigen wir, daß Sie, hochgeehrter Herr, bei dieser Gelegenheit Veranlassung nehmen wollen, unsre seit drei Jahren anstehende Forderung zu begleichen. Wir rechnen um so bestimmter darauf, als es uns, durch die politischen Verhältnisse des Landes und den Rückschlag derselben auf unser Geschäft, unmöglich gemacht wird, einen ferneren Kredit zu bewilligen. […]« (UB, S. 30) 161 Zur prekären Relation von Erdtiefe und Erdoberfläche vgl. auch Michael Niehaus, Eine zwielichtige Angelegenheit: Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Fontane Blätter 73 (2002), S. 44 – 70: »Das gestörte Verhältnis zwischen dem, was über, und dem, was unter der Erde ist, durchzieht leitmotivisch den ganzen Text.« (S. 62) Niehaus kommt allerdings nicht auf die mit der Raumordnung korrelierten Gedächtnisparadigmen des Textes zu sprechen.
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Zwar mag beim Bauern Leist die höchste Schuldensumme aufgelaufen sein, doch die Verbindlichkeiten Hradschecks gegenüber dem polnisch-jüdischen Geschäft Olszewski-Goldschmidt162 bzw. seinem geldeintreibenden Repräsentanten wiegen ungleich schwerer, weil sie unaufschiebbar sind. Die wirtschaftlichen Folgen der Novemberrevolution setzen eine klare Zahlungsfrist, es droht der akute wirtschaftliche Ruin, den es durch Mord zu verhindern gilt. Revolutionäres Weltereignis und Tötungsdelikt sind demnach miteinander korreliert, nicht nur durch ihr Gewaltpotential, sondern auch ätiologisch: Hradschecks Verbindlichkeiten unterliegen sowohl der zeitlichen Befristung als auch der historischen Zeit. Aus der Insurrektion, die grenzüberschreitend ihre Wirkung entfaltet, ergibt sich die (polnische) Bedrohung für Hradscheck, die im »[D]a sein« des Reisenden kulminiert. Dazu passt, dass Szulski bei seiner Ankunft den Polenaufstand gewissermaßen ›im Gepäck‹ hat, ihn im fünften Kapitel, wo er seinen einzigen Auftritt vor der Mordtat hat, erzählend nach Tschechin hineinträgt. Nachdem die Außenstände durch Hradscheck beglichen worden sind (mit veruntreuten Feuerkassengeldern und einem Wechsel, während die anwesenden Tschechiner glauben sollen, die Gelder entstammten einer Erbschaft), setzt man sich zu einer »kleinen […] Tafelrunde« (UB, S. 33) zusammen, weil die Bauern »von Diebitsch und Paskewitsch« hören wollen, »und vor allem, ob es nicht bald wieder losgehe« (UB, S. 34). Bei dem Reisenden glauben sie sich an der richtigen Adresse: Als er das vorige Mal in ihrer Mitte weilte, war es ein paar Wochen vor Ausbruch der Insurrektion gewesen. Alles, was er damals als nahe bevorstehend prophezeit hatte, war eingetroffen und lag jetzt zurück, Ostrolenka war geschlagen und Warschau gestürmt […]. (Ebd.)
Offenbar enttäuscht Szulski die an ihn gestellten Erwartungen nicht, gewinnt schnell die »Mittelpunkt«-Position (UB, S. 33) der Runde. Als »Anekdoten- und Geschichten-Erzähler von Fach« (UB, S. 37) weiß er mit emotional aufgeladenen »Kriegsgeschichten« (UB, S. 34) zu unterhalten, »schwelgt[] förmlich in Schilderung der polnischen Heldenthaten, wie nicht minder in Schilderung der Grausamkeiten, deren sich die Russen schuldig gemacht hatten« und setzt auf sein »Paradepferd« einer »HausErstürmung in der Dlugastraße« (alle Zitate ebd.), bei der auch Frauen und 162 Der jüdische Namenszusatz deckt sich mit der gängigen Stratifizierung der polnischen Gesellschaft seit der Adelsrepublik. Vgl. z. B. Heine, Über Polen (1823), S. 74: »Zwischen dem Bauer und dem Edelmann stehen in Polen die Juden. Diese betragen fast mehr als den vierten Teil der Bevölkerung, treiben alle Gewerbe, und können füglich der dritte Stand Polens genannt werden.«
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Kinder betroffen sind. Zum erzählerischen Höhepunkt, der in der Tschechiner Wirtsstube für Empörung und Erregung sorgt, avanciert das Unglück einer schönen Warschauer Polin: »[…] Es war ein Graus, meine Herren. Eine Frau wartete das Massacre, ja, vielleicht Schimpf und Entehrung (denn dergleichen ist vorgekommen) nicht erst ab; sie nahm ihre beiden Kinder an die Hand und stürzte sich mit ihnen in den Fluß. […] Die Dame, die da herunter sprang (und ich schwör’ Ihnen, meine Herren, es war eine Dame), war eine schöne Frau, keine 36, und so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich hätt’ ihr was Bessres gewünscht, als diese naßkalte Weichsel.« (UB, S. 35 f.)
Wie man beim Publikum Wirkung erzielt, kann der künftige Mörder Abel Hradscheck von Szulski lernen: Zwar lässt sich der Zuhörer bzw. Zuschauer vom Unterhaltungswert einer Geschichte fesseln, aber eingefordert wird ebenso ihre (Fakten-)Wahrheit.163 Nun scheint es jedoch zu genügen, diese gegebenenfalls mit einem Rekurs auf die Blickinstanz zu behaupten.164 Szulski, der einerseits »vorsichtig im Dunkel« lässt, ob er »Augenzeuge« oder gar »Mitkämpfer« (UB, S. 34) beim Angriff auf Warschau war, verbürgt sich andererseits für die Faktizität des von ihm Erzählten mit Hilfe einer doppelten Beglaubigungsformel: »Aber was ich gesehn habe, das hab’ ich gesehn, und eine Thatsache bleibt eine Thatsache, sie sei wie sie sei« (UB, S. 36). An dieser Verknüpfung von eigenem Sehen und (Fakten-) Wahrheit orientieren sich schließlich auch die Verbergungsstrategien Abel Hradschecks nach der Tat. Der Mörder schafft ein Zeichennetz aus vorgeblichen Tatsachen und verlässt sich, indem er die Beobachterperspektive ›von außen‹ mit einkalkuliert, auf den hohen Stellenwert des subjektiven Blicks als Beurteilungsmedium.165 163 Vgl. die Reaktion des Bauern Kunicke (UB, S. 36): »Alle Wetter, Szulski, das ist scharf. Ist es denn auch wahr?« 164 Dieser Bezug auf den (eigenen) Blick kann auch entfallen. Angesichts der anekdotischen »Geschichte mit den elf Talglichten« (ebd.), die den Polen vom Großfürsten Konstantin zum Dessert serviert wurden, genügt auf Nachfrage die Versicherung: »Versteht sich, es ist wahr« (UB, S. 38). 165 Inwiefern der gesamte Text Unterm Birnbaum auf den Fragmentcharakter alles perspektivisch erfassten ›Wahren‹ setzt und »die Konstruktion von Wahrscheinlichkeiten dar[stellt] – inhaltlich wie poetologisch«, hat Christiane Arndt, ›Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen‹ – Über das produktive Scheitern von Referentialität in Theodor Fontanes Novelle ›Unterm Birnbaum‹. In: Fontane Blätter 77 (2004), S. 48 – 75, im Einzelnen nachgewiesen (Zitat S. 49). Fakten sind durch Interpretation steuerbar. Dass in diesem Sinne Verdacht und Ressentiment wirklichkeitskonstituierende Bedeutung in Unterm Birnbaum erhalten, führt Elisabeth Strowick, ›Schließlich ist alles blos Verdacht‹. Zur Kunst des
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Es ist allein auf die unterhaltsamen »Kriegsgeschichten« zurückzuführen – sie geben »den Ausschlag« (UB, S. 33) –, dass sich die Bauern überhaupt mit dem »Polen« Szulski zusammensetzen und sich auch noch von ihm einladen lassen. Vorherrschend sind nämlich, wie das fünfte Kapitel bereits mehr oder weniger subtil offenlegt, preußisch-polnische Abgrenzungen. So heißt es etwa, dass von den Tschechiner Bauern »einige […] bis ganz vor Kurzem noch zu den Kunden der Krakauer Firma gehört hatten« (UB, S. 33), wohl aber seit Aufstandsbeginn keine geschäftlichen Kontakte mehr pflegen. Der zweimal im Kapitel erwähnte russische Feldmarschall von Diebitsch, von dem die Bauern hören wollen, ist preußischer Herkunft. Und dem russischen Infanterieregiment Kaluga, das die gewaltsame Hauserstürmung in Warschau unternimmt, wie Szulski berichtet, steht seit 1818 Prinz Wilhelm von Preußen vor, der spätere Kaiser Wilhelm I.166 Preußen wird damit im Warschauer Revolutionsgeschehen auf der polnischen Gegnerseite verankert und – so hat es schon Wulf Wülfing herausgestellt – der zeitgenössische Leser gleichzeitig über Wilhelm I. mitten in die eigene Gegenwart geführt.167 Das liberale deutsch-polnische Freundschaftsparadigma der 1830er Jahre rückt in einem Text von 1885 in geradezu satirisches Licht: Ihren Beitrag dazu leisten zum einen die betont-identifikatorischen Reden eines (Pseudo-)Polen,168 der von dem, was er erzählt, »durchdrungen« (UB, S. 36) ist, aber auch »gekünstelte[] Ruhe« (UB, S. 34) einzusetzen weiß und beim Leser den Verdacht erweckt, dass er, entgegen seiner Versicherung, er sei »kein Aufschneider« (UB, S. 36), eben genau jenes ist. Hierzu gehört aber zum anderen auch der Abschluss des Kapitels: das weinselige Einfallen der Tschechiner in den Refrain des populären Polenlieds von Julius Mosen Findens in Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 157 – 181, vor. 166 Siehe den Kommentar von Hehle in: GBA Unterm Birnbaum, S. 164 f. Auf die preußisch-russische Kooperation im Regiment Kaluga wird noch im Stechlin (1898) rekurriert (GBA Stechlin, S. 51). 167 Wulf Wülfing, ›Inhumane Obrigkeitsreligion‹. Zur Rolle von Kirche und Staat in Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer (Hrsg.), Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Internationales Symposium veranstaltet vom Theodor-Fontane-Archiv und der Theodor Fontane Gesellschaft e.V. zum 70-jährigen Bestehen des Theodor-Fontane-Archivs. Potsdam, 21. bis 25. September 2005, Würzburg 2006, S. 121 – 134, hier: S. 131. 168 Bezüglich Polen verwendet Szulski immer die Pronomen »wir« und »uns« (siehe UB, S. 34 – 36).
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Die letzten Zehn vom vierten Regiment (1832),169 das Szulski ihnen vorsingt. Obwohl sie sich zu Beginn des Abends nur zögernd mit dem Reisenden zusammensetzen wollten, brechen sie nach dem letzten »Chorus« (UB, S. 39) in allgemeinen Jubel über die Polen aus. Unterm Birnbaum ist der einzige Text Fontanes, der mit zwei kompletten Strophen (von sieben) ein Polenlied zitiert. Integriert werden die erste und die sechste Strophe von Die letzten Zehn vom vierten Regiment; 170 die erste führt wieder an den Schauplatz Warschau zurück, die sechste thematisiert die endgültige Niederlage des Regiments und ergänzt Szulskis Niederlagenbericht von der Dlugastraße, wo man zwar nicht mit Bajonetten gegen die Russen vorging, dafür aber ebenso vergeblich mit Steinen warf. Die Strophenauswahl ist zeichenhaft: Konsequenterweise fehlt die siebte Strophe des Liedes, die das (rettende) Exil in Preußen anspricht,171 in einem Text, in dem ein Reisender aus der Republik Krakau den Grenzübertritt nicht überlebt. Zwar stoßen die Tschechiner nach dem Absingen des Liedes auf die Polen an, ja lassen sie hochleben; doch Bauer Kunicke macht beim Toast schon nicht mehr mit und signalisiert stattdessen, auf welcher Seite er Preußen historisch-politisch positioniert: Im Gedenken an das siegreiche preußisch-russische Bündnis des Befreiungskrieges von 1813 trinkt er auf die Russen. Kongruent dazu schreibt sich den Textstrategien des fünften Kapitels eine Entlastung der russischen Seite ein. Sie ergibt sich ausgerechnet aus Szulskis Paradegeschichte, obwohl sie dem Publikum nur die polnische Niederlage erklären soll. Nicht die russischen (und mit Preußen kooperierenden) Angreifer sind nach Auffassung des Reisenden für die Kriegs-
169 Vgl. den Anhang dieser Studie (Kapitel 7), in dem das Mosen-Lied abgedruckt ist. Siehe zu diesem Polenlied auch Kapitel 2.1.3.1. 170 Fälschlicherweise ist in den Anmerkungen von GBA Unterm Birnbaum von der fünften statt der sechsten Strophe die Rede (S. 167). 171 Ein früher Druck aus dem Jahr der Erstveröffentlichung (1832) nimmt auf den Grenzübertritt nach Preußen sogar schon in der Überschrift Bezug. Das MosenLied erhält dort den Untertitel »bei ihrem Uebergange über die preußische Grenze, im Herbste des Jahres 1831«. Vgl. Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht. Gesammelt aus Druckschriften und Zeitblättern und mit Hinzufügung mehrerer bis jetzt noch ungedruckten [sic!] Gedichte von Philipp Bopp, Karl Buchner, Gustav Pfizer, Philipp Schlinck u. A., sowie einer musikalischen Composition von Gottfried Weber. Zur Unterstützung heimathloser Polen, Darmstadt 1832, S. 16.
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gräuel verantwortlich. Als eigentlich Schuldige macht er die im Hintergrund agierenden polnischen Aristokraten aus.172 »Eine schöne Frau, sagt’ ich, und hingemordet. Und was das Schlimmste dabei, nicht hingemordet durch den Feind, nein, durch uns selbst; hingemordet, weil wir verrathen waren. Hätte man uns freie Hand gelassen, kein Russe wäre je über die Weichsel gekommen. Das Volk war gut, Bürger und Bauer waren gut, alles einig, alles da mit Gut und Blut. Aber der Adel! Der Adel hat uns um dreißig Silberlinge verschachert, bloß weil er an sein Geld und seine Güter dachte. Und wenn der Mensch erst an sein Geld denkt, ist er verloren.« (UB, S. 36)
Der unheilvolle Konnex von Geld und Verbrechen, der dem polnischen Adel vorgeworfen wird, kennzeichnet auch die Mordtat Abel Hradschecks in der Giebelstube seines Wirtshauses, so dass über das Geld als Antriebsmotor die kriminalistische Handlung des Gesamttextes und die historische des fünften Kapitels funktional miteinander korreliert werden können.173 In Tschechin bestimmt der finanzielle Status die soziale Wertigkeit des Individuums: »Geld ausgeben (und noch dazu viel Geld) war das, was den Tschechinern als echten Bauern am meisten imponirte« (UB, S. 104). Geldmangel174 führt hingegen zu gesellschaftlicher Exklusion und kollektivem Gelächter (»dann würden sie lachen«, UB, S. 22). Hradscheck sieht sich durch die »Krakauer Geschichte« bedroht; doch erst unter Einbezug der sozialen Beobachterperspektive geraten seine Schulden zu jenem existentiellen Problem (»das Messer saß mir an der Kehle«, UB, S. 116 f.), das allein durch Mord lösbar scheint. Der Text rekurriert, wenn es um gesellschaftliche Anerkennung geht, mit dem Begriff der
172 Aus der folgenden Textstelle wird wiederholt eine (kritische) Anspielung Fontanes auf den preußischen Adel abgeleitet. Vgl. etwa Eda Sagarra, ›Unterm Birnbaum‹. In: Grawe und Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, S. 554 – 563, hier: S. 561 f.; Hugo Aust, Fontanes ›Fein Gespinnst‹ in der Gartenlaube des Realismus: ›Unterm Birnbaum‹. In: Monika Hahn (Hrsg.), ›Spielende Vertiefung ins Menschliche‹. Festschrift für Ingrid Mittenzwei, Heidelberg 2002 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik 37), S. 179 – 192, hier: S. 187; Wülfing, ›Inhumane Obrigkeitsreligion‹, S. 131. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass sich die Schuldzuweisung Szulskis (die die russische Seite begünstigt) in die ideologische Raumorganisation des Textes einordnen lässt. 173 Aust, Fontanes ›Fein Gespinnst‹, S. 187 f. 174 Verschuldet durch Abel Hradschecks Spiel- und Lottoeinsätze sowie seine Unterhaltszahlungen nach Neu-Lewin, aber auch durch Ursel Hradschecks repräsentativen Lebensstil, der sie über den Tod ihrer Kinder hinwegtrösten soll.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
»[E]roberung« (vgl. UB, S. 61) auf Kriegsvokabular. Die Zugehörigkeit zum Dorf muss erkämpft werden, notfalls mit Toten.175 Dass die Mordtat unter umfeldbezogenen Voraussetzungen zu sehen ist, wird bereits durch die Ankunft Szulskis in Tschechin verdeutlicht: Nur mit Mühen erreicht dieser bei nasskaltem Novemberwetter den Gasthof, »halb erstarrt« und mit Füßen »wie todt« (UB, S. 32). Zeichenhaft wird vorweggenommen, was Szulski im Hause des Wirts bevorsteht. Zugleich aber indizieren die aufgeweichten und »beinah unpassirbar[en]« (UB, S. 31) Oderbruchwege, »am meisten im Dorfe selbst« (ebd.), schon raumsemantische Gefahr außerhalb des Hauses. Nicht erst im Gasthof, sondern bereits davor (und potenziert ab der Dorfgrenze) befindet sich Szulski auf für ihn bedrohlich-unsicherem Boden. Es liegt im Rekurs auf die schon im fünften Kapitel eruierten Grenzziehungen und Frontlinien des Novemberaufstands nahe, den Mord an Szulski an ideologische Raster anzuschließen. Jedenfalls entwirft der Text eine spezifisch sozial-politische Topographie, die den Mord an einem Reisenden, der aus Krakau kommt und den polnischen Namen Szulski trägt, in Kontinuitätszusammenhänge stellt. Diskursive Verwerfungen wie die Namenssemantik von Tatort und Täter oder die Pseudo-Identität des polnischen Opfers sorgen dabei nur textoberflächlich für Grenzverwischungen: Das preußische Tschechin ist nämlich keineswegs, wie dies onomastisch naheliegen mag, ein slawischer (Schutz-)Raum. Abel Hradscheck partizipiert ebenfalls mehr am preußischen Tschechin, als sein böhmischer Name andeutet, und folgt mit seiner Frau dem dörflichen Regelsystem, um den gesellschaftlichen Anschluss nicht zu verlieren. Und Szulski ist für Hradscheck und die Tschechiner – wie bereits dargestellt – ein »Pole[]«, der sich während des Aufstands (beobachtend oder teilnehmend) in Warschau aufgehalten hat und erzählen kann, »wie sie unser Lied sangen: ›Noch ist Polen nicht verloren.‹« (UB, S. 35). Will man die regional spezifische Mentalität des fiktiven, direkt am Fluss angesiedelten Oderbruchdorfs Tschechin genauer analysieren, mag ein Blick auf das real existierende und ein paar Kilometer von der Oder entfernt gelegene Letschin dienlich sein, dem Tschechin nachgebildet ist.176 175 Entsprechend gibt auch Ursel Hradscheck ihrem Mann zu verstehen: »[N]ur nicht arm. Armuth ist das Schlimmste, schlimmer als Tod, schlimmer als …« (UB, S. 22). Der Ansehensverlust im Dorf wiegt schwerer als das Verbrechen. 176 Die Übereinstimmung zwischen Tschechin und Letschin reicht von örtlichen Gegebenheiten bis hin zu diversen Charakteren. Vgl. Manfred Gill, Letschin in Fontanes Kriminalnovelle ›Unterm Birnbaum‹. In: Fontane Blätter 29 (1979), S. 414 – 427.
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Fontane kannte Letschin; sein Vater besaß dort seit 1838 eine Apotheke, die später ein Schwager übernahm. Mehrmals hielt sich Fontane zwischen 1838 und 1862 in dem Ort auf. Und von dort schrieb er 1847 in einem Brief an Wilhelm Wolfsohn unter anderem Folgendes: Letschin im Oderbruch, Kirchdorf mit 3500 Seelen (?) und Residenz zwei dort stationirter Gensdarmen, hängt durch Vermittelung eines sogenannten Rippenbrechers von Postwagen, nur lose mit der civilisirten Welt zusammen. Es ist ein zweites Klein-Siberien; die Lebenszeichen einer Welt da draußen sind selten, aber – sie kommen doch vor.177
Schon im Juni 1842, als Fontane vorübergehend bei den Eltern in Letschin wohnte, verfasste er für die Leipziger Zeitschrift Die Eisenbahn eine Korrespondenz mit dem Titel Aus dem Oderbruch, sein erster journalistischer Beitrag überhaupt, und kritisierte darin aus freiheitlich-demokratischer Perspektive die sozialpolitische Signatur der Region: Ein einziger Mann hierselbst wagt es, die »Leipziger Allgemeine« zu halten und zu lesen, und wird deshalb von friedliebenden Naturen wie die Sünde geflohen. […] Man kennt hier nur Egoismus und Materialismus. Von einem Opfer für eine große, herrliche Sache, von einer Begeisterung für alles, was dem Menschen mehr als Gut und Blut gelten soll, von Gemeinsinn – ist hier gar keine Rede. Ob das Vaterland wie Rußland oder Großbritannien regiert wird, gilt jedem gleich, eine einzige Metze Kartoffeln mehr im Keller, ein Bund Stroh mehr in der Scheuer gilt ihm mehr als Konstitution. […] Was daraus werden soll, weiß ich nicht; ebensowenig wüßt’ ich ein Mittel anzugeben, diese geistige Schläfrigkeit, diese Stumpfheit für alles, was sich nicht zu Gelde machen läßt, zu verbannen.178
Die zitierten Äußerungen aus den 1840er Jahren nehmen Bedeutungszuschreibungen vor, die für Unterm Birnbaum genutzt werden können. Die Charakterisierung Letschins als »Klein-Siberien« verweist auf einen zivilisatorischen »Rand- und Grenzbezirk«179, aber konnotiert den Ort auch national, zudem in asiatischer Extremisierung.180 Aus der EisenbahnKorrespondenz lässt sich – trotz zu berücksichtigender demokratischer Propaganda – ein regionaler Konservatismus ableiten, der sich gegen Veränderungen sperrt. Abel Hradschecks Diktum, dass »der Bauer […] immer am Alten [klebt]« (UB, S. 25), schließt hieran an. Explizit wird die 177 178 179 180
Brief vom 10. 11. 1847 (FoW, S. 28). NFA XIX, S. 7 f. Aust, Fontanes ›Fein Gespinnst‹, S. 185. Sibirien wird topographisch als das zu Russland gehörende Asien definiert. Vgl. [Art.] ›Sibirien‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 14, S. 927.
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konservative Infiltrierung des Handlungsortes in Unterm Birnbaum dann, wenn Angehörige des preußischen Militärs, nämlich bei Hradscheck einquartierte Rittmeister und Leutnants der Schwedter Dragoner, auftreten. Sie äußern sich zu den französisch-russischen Konstellationen nach der Inthronisation des Bürgerkönigs Louis-Philippe infolge der Julirevolution 1830: Einige verschworen sich, daß ein Krieg ganz nahe sei. Kaiser Nikolaus, Gott sei Dank, sei höchst unzufrieden mit der neuen französischen Wirthschaft, und der unsichere Passagier, der Louis Philipp, der doch eigentlich blos ein Waschlappen und halber Cretin sei, solle mit seiner ganzen Konstitution wieder bei Seite geschoben und statt seiner eine bourbonische Regentschaft eingesetzt oder vielleicht auch der vertriebene Karl X. wieder zurückgeholt werden, was eigentlich das Beste sei. Kaiser Nikolaus habe Recht, überhaupt immer Recht. Konstitution sei Unsinn und das ganze Bürgerkönigthum die reine Phrasendrescherei. (UB, S. 83)
Vehement befürworten die Soldaten das restaurative Vorgehen Russlands gegen die »französische[] Wirthschaft« des Bürgerkönigs. Parallelen zum russisch-polnischen Verhältnis ergeben sich nicht nur durch die Nähe zum populären Stereotyp der ›polnischen Wirtschaft‹, sondern auch im Zuge der Vernetzung historischer Ereignisse, war doch die Julirevolution nicht zuletzt Impulsgeber für den polnischen Novemberaufstand.181 Ede, der Ladenjunge, stimmt den Ausführungen der Dragoner zu. Aber auch Abel Hradscheck zeigt Gefallen an ihnen: Wenn so das Gespräch ging, ging unserm Hradscheck das Herz auf, trotzdem er eigentlich für Freiheit und Revolution war. Wenn es aber Revolution nicht sein konnte, so war er auch für Tyrannei. Blos gepfeffert mußte sie sein. Aufregung, Blut, Todtschießen, – wer ihm das leistete, war sein Freund, und so kam es, daß er über Louis Philipp mit zu Gerichte saß, als ob er die hyperloyale Gesinnung seiner Gäste getheilt hätte. (UB, S. 83 f.)
Diese Textstelle ist signifikant, weil sie unterscheidet zwischen dem, was Hradscheck eigentlich (und unausgesprochen) meint, und dem, was er in Gegenwart der Gäste zur Sprache bringt. Seine soziale Zugehörigkeit erweist sich als prekär und ambivalent.182 Dass er sich – zumindest teilauthentisch – durchaus an das ›hyperloyal‹ zur Heiligen Allianz stehende Militär anschließen kann, ja mit der russischen »Tyrannei« sympathisiert, 181 Siehe Kapitel 2.1.1. 182 Die Ambivalenz der Hradscheck-Figur betrifft auch ihre moralische Bewertung. In Verkehrung der biblischen Kain-und-Abel-Geschichte heißt Hradscheck nicht wie der Brudermörder Kain, sondern Abel. Der Mörder Hradscheck ist zugleich als Held der Geschichte »unser[] Hradscheck« (UB, S. 83).
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liegt in seiner Affinität zu »Blut, Todtschießen« begründet. Hradscheck wird unter gesellschaftlichem Anpassungsdruck zum Mörder, aber er trägt das nötige Gewaltpotential bereits in sich;183 soziale Impulskräfte in Tschechin kommen im Zusammenspiel mit einer spezifischen Charakterdisposition zur Wirkung.184 Onomastische Relationen, die zwischen dem Dorf ›Tschechin‹ (mit seinem lexikalischen Bezug auf den slawischen Stamm der Tschechen) und dem böhmischstämmigen ›Hradscheck‹185 aus dem Kolonistendorf Neu-Lewin186 bestehen, stellen den Konnex zwischen Wirt und Ortsgemeinschaft zusätzlich heraus (und zwar auf der Linie eines preußisch-russischen Konservatismus!). Konsequenterweise ist der böhmische Abel Hradscheck, im Unterschied zu seiner niedersächsischen Frau, auch mit den Bauern »befreundet« (UB, S. 125). Doch trotz raumideologischer (Teil-)Integration hat Hradscheck eine Außenseiterposition im Dorf inne, ist er einem verstärkten Beobachterblick ausgesetzt. Denn er ist nicht nur Zugezogener, sondern hat auch eine »hergelaufene[]« (UB, S. 27) Schönheit aus der katholischen Hildesheimer Gegend geheiratet, überdies ehemalige Schauspielerin oder Seiltänzerin, die auf Bildung und Vornehmheit Wert legt (siehe UB, S. 18 f.) und schließlich, um ihren gesellschaftlichen Status zu erhalten, konvertiert ist. Hinter ihm liegt eine Wanderexistenz als Zimmermann sowie der durch die Heirat gescheiterte Plan, nach Amerika auszuwandern. Durch solche Orts- und Berufswechsel erhält Hradscheck figurale Merkmale der Veränderung und Mobilität. Diesem beweglichen Status (im Gegensatz zu den 183 Vgl. hierzu Annelies Luppa, Die Verbrechergestalt im Zeitalter des Realismus von Fontane bis Mann, New York 1995, S. 35 – 65 (= Studies in European Thought 10), hier: S. 52, Friedrich, ›Unterm Birnbaum‹. Der Mord des Abel Hradscheck, S. 129 f., Klaus Lüderssen, Der Text ist klüger als der Autor. Kriminologische Bemerkungen zu Theodor Fontanes Erzählung ›Unterm Birnbaum‹. In: Theodor Fontane, Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Klaus Lüderssen und Hugo Aust, Baden-Baden 2001 (= Juristische Zeitgeschichte Abt. 6: Recht in der Kunst 5), S. 129 – 152, hier: S. 143 f., und Niehaus, Eine zwielichtige Angelegenheit, S. 56 f. 184 So wird textuell auch in der Schwebe gelassen, ob Hradscheck seine ehemalige Geliebte Rese aus Neu-Lewin umgebracht hat (siehe UB, S. 28). 185 Dass Hradscheck wörtlich »kleiner Spieler« heißt, stellt weitere Textbezüge her, verkalkuliert er sich doch, abergläubisch wie er ist, in seinem Inszenierungs-›Spiel‹ ebenso wie beim Lottospiel. 186 Vgl. »Er, Hradscheck, ist kleiner Leute Kind aus Neu-Lewin und, wie sein Name bezeugt, von böhmischer Extraktion. Du weißt, daß Neu-Lewin in den 80er Jahren mit böhmischen Kolonisten besetzt wurde.« (UB, S. 52) Siehe auch GBA Wanderungen, Bd. 2, S. 43: »Neulewin wurde mit Polen, auch wohl mit Böhmen, jedenfalls mit slawischen Elementen besetzt.«
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alteingesessenen Tschechinern) korrespondiert sein Bekenntnis zum fortschrittlich ›Neuen‹ (im Unterschied zum bäuerlichen Festhalten am Alten, siehe UB, S. 25) ebenso wie der textuelle Befund, dass er ›eigentlich‹ für Freiheit und Revolution eintritt und dazu passend noch Handelskontakte nach Krakau aufrechterhält. Vor dem Hintergrund solcher Abweichungen, die einerseits – so Ursel mit Blick auf die eigene feinere Wohnungseinrichtung – Neid hervorrufen können (siehe UB, S. 22), andererseits schnell zu Misstrauen führen (beiden ist »nicht recht zu traun«, UB, S. 51), wiegt das immer auf Außenwirkung bedachte »Ansehen« (UB, S. 18), das es zu »retten« (UB, S. 10) gilt, umso schwerer. Was bei Abel Hradscheck daher letztlich handlungsbestimmend wird, ist trotz desintegrativer Züge sein (der Tschechiner Mentalität angepasster und mit Gewaltkonnotationen versehener) preußisch-russischer Merkmalsanteil. Über diesen aber gerät der Schuldeneintreiber Szulski schon in seiner Eigenschaft als »Pole[]« auf die bekämpfte Seite. Dass Hradscheck den Reisenden in der Giebelstube ermordet und den Toten im Keller seines Hauses vergräbt, wird im Text nicht erzählt und erschließt sich dem Leser erst allmählich. Schon im dritten Kapitel, als der Entschluss zur Mordtat fällt, heißt es nur, dass »Ursel’s Augen immer größer [wurden], als er [Hradscheck, A. D.] rasch und lebhaft alles, was geschehen müsse, herzuzählen und auseinander zu setzen begann« (UB, S. 23). Offenbar werden Maßnahmen zur Tatverschleierung besprochen: die Vortäuschung einer Erbschaft, die Inszenierung eines Unfalls am Morgen nach der Tatnacht sowie der Plan einer absichtlich falsch gelegten Fährte, wobei auf die nächtlichen Beobachtungen der hexenhaften Nachbarin Mutter Jeschke gerechnet wird.187 Ihre Verdächtigungen sollen unter den Birnbaum in Hradschecks Garten führen, um statt des (Pseudo-)Polen eine andere (dort schon lange liegende und von Hradscheck zufällig entdeckte) Leiche zutage zu fördern. Denn: Sein [Hradschecks, A. D.] Plan ist nicht einfach auf eine unauffällige Tatbegehung ausgerichtet, sondern für den Blick der imaginären anderen berechnet. Das heißt: Es genügt nicht, die Tat zu verbergen; an die Stelle der Tat muß etwas anderes treten – eine andere Geschichte, die die Tat bedeckt. 188
187 Siehe zur sozialen Positionierung der Jeschke Niehaus, Eine zwielichtige Angelegenheit, S. 53: »Mag Mutter Jeschke auch innerhalb des dörflichen Verbandes eine Außenseiterin sein, in den Augen Hradschecks muß sie als ein Teil desselben erscheinen wie alle anderen auch.« 188 Ebd., S. 49.
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Tatsächlich spielen Hradscheck und seine Frau den Tschechinern Theater vor;189 jedem ist »seine Rolle zugetheilt« (UB, S. 31). Abel ist Ausführender und lenkt »den vorurteilsabhängigen Interaktionsregeln des Dorfes gemäß«190 nach der Tat den Verdacht zunächst auf sich, um anschließend umso nachhaltiger rehabilitiert zu werden. Ursel gibt die Unwissende, agiert jedoch gleichzeitig als seine Komplizin. Bereits bei der fingierten Erbschaftsgeschichte macht sie mit und täuscht mit einer Reise nach Berlin vor, die geerbte Summe dort abzuheben. Am Morgen nach dem Verbrechen an Szulski tritt sie dann als verkleidete Protagonistin der inszenierten Unfallgeschichte auf: Die ehemalige Schauspielerin übernimmt den Part des aufbrechenden Weinreisenden und beteiligt sich durch substituierende Aneignung einer fremden Identität auch aktiv an der Beseitigung Szulskis. Das kriminalistische Rollenspiel zeitigt freilich fatale Konsequenzen für den Rollenträger. Mit der Verkleidung schreibt sich Ursel den (Pseudo-) Polen äußerlich fatal auf den Leib und bekommt ihn innerlich schließlich nicht mehr los. Sie überlebt ebenso wenig wie der (Pseudo-)Pole, den sie zu ersetzen vorgibt. 3.3.2 Wieder-Holung: Zur Dynamik der »Szulski-Geschichte« Wenn Ursel Hradscheck, mit der Möglichkeit eines Konkurses konfrontiert, gegenüber ihrem Mann klarstellt: »Nein, Hradscheck, das darfst Du mir nicht anthun, da nehm’ ich mir das Leben und geh’ in die Oder, gleich auf der Stelle« (UB, S. 22), dann bleibt dies eine Drohung ohne Konsequenz, da es zur ›rettenden‹ Mordtat kommt. Paradigmatisch nimmt der Text den Zeichenkomplex Ursel Hradscheck/Oderfluss allerdings wieder auf, weil sie es ist, die den Wagen des (toten) »Polen« in die Oder lenkt. Suggeriert werden soll ein Unfalltod mit einem Toten, dessen Leiche nicht aufzufinden ist. Zunächst gelingt denn auch die frühmorgendliche Inszenierung von Ursels alias Szulskis Abreise im Polenpelz mit tief sitzender Mütze und hochgeklapptem Wolfsschurkragen, trotz unsicherer Zügelhandhabung in zu großen Handschuhen. Verdachtsmomente, die beim 189 Hehle in: GBA Unterm Birnbaum, S. 136 – 139; zum Theater als zentraler Metapher der Erzählung siehe etwa auch Sagarra, ›Unterm Birnbaum‹, S. 559 f. Vgl. ebenso Strowick, ›Schließlich ist alles blos Verdacht‹, die die theatrale »Inszenierung von [defizienter, A. D.] Beobachtung« (S. 162) als zentrales Darstellungsverfahren von Unterm Birnbaum herausarbeitet (insb. S. 162 – 169). 190 Arndt, ›Es ist nichts so fein gesponnen […]‹, S. 52.
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Dienstpersonal aufkommen (der kaum angerührte Kaffee, der unsichere Gang die Treppe hinunter, die Sprachlosigkeit), werden nur vorübergehend von Justizrat Vowinkel ermittlungstechnisch für relevant gehalten, ebenso die Tatsache, dass Nachtwächter Mewissen Ursel auf dem Rückweg vom vermeintlichen Unfallort sieht. Forcierte Nachforschungen nach der fehlenden Leiche finden nicht statt. Zwar wird der Wagen gesichtet und später heraufgeholt, Mantelsack und Pelzmütze geborgen, aber es entspricht der Raumsemantisierung Tschechins, seiner konservativ-prorussischen Imprägnierung, dass sich die Suchaktion des Kunicke’schen Trupps nach dem »Pohlsche[n]« (UB, S. 50) »wie bei Dachsgraben und Hühnerjagd« (ebd.) gestaltet und schließlich wegen Lustlosigkeit eingestellt wird: Zugleich wurde der Wind immer schneidender und kälter, so daß Kunicke, der noch von Möckern und Montmirail her einen Rheumatismus hatte, keine Lust mehr zur Fortsetzung verspürte. Schulze Woytasch auch nicht. (Ebd.)191
Szulskis Leiche bleibt also zunächst verborgen, was allerdings nicht heißt, dass der Tote keine wirkmächtigen Spuren hinterlässt. Mit dem Mord beginnt Szulskis ›Leben‹ im dörflichen Diskurs und im materialisierten oder aber gedeuteten Zeichen, das den zugezogenen Hradschecks in unterschiedlicher Art und Weise zusetzt. Ursel Hradscheck, die sich durch ihre Verkörperung des (toten) »Polen« den Tod gewissermaßen schon auf ihren Körper geheftet hat, benötigt keine Erinnerungshilfe von außen. Das Gedächtnis an den Toten ist ihr intrapsychisch eingeschrieben und treibt physisch-pathologische Markierungen hervor.192 Entsprechend trifft Abel Hradscheck, kurzzeitig unter Mordverdacht verhaftet, nach seiner Freilassung auf eine Frau, die »gealtert« ist, »die Augen tief eingesunken und die Haut wie Pergament« (UB, S. 75). Zwar erhofft sich Ursel, als ihr Mann beginnt, das Haus umzubauen, eine Besserung ihres Gesundheitszustandes, doch bleibt trotz Neugestaltung (und symbolträchtiger Deckenmalerei mit Tauben) der ursprüngliche Schauplatz des Mordes Gedächtnisträger.193 191 Als man später glaubt, unterm Birnbaum den (Pseudo-)Polen auszugraben, gestaltet sich die Szene signifikanterweise wie »Kirmeß oder eine winterliche Jahrmarktsscene« (UB, S. 70). Gegebenenfalls wird der Entdeckung der Leiche auch (wie im Dorfkrug) der noch verwendbare Szulski’sche Pelz vorgezogen: »Wenn man wenigstens de Pelz wedder in die Hücht käm …« (UB, S. 77). 192 Zum Körper als Gedächtnismedium siehe A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 241 – 297. 193 Es zeigt sich, dass »mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes […] seine Geschichte noch nicht vorbei [ist]«, »wobei der Ort die Erinnerung ebenso reaktiviert wie die Erinnerung den Ort« (A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 309 und 21).
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Ebenso misslingt die Einquartierung auf der entgegengesetzten Giebelseite als Vergessensstrategie, weil Ursel den toten Szulski im Körpergedächtnis, das »zuverlässiger [ist] als das mentale Gedächtnis«,194 unaufhörlich und kräfteraubend mit sich herumträgt. Noch vor Jahresfrist des Mordes stirbt sie an »Abzehrung und Nervenschwindsucht« (UB, S. 92). Wenn die Toten – »der Inbegriff dessen, was erinnert werden muss« – den Lebenden entweder als hilfreiche, identitätsstiftende Ahnen und Heroen erscheinen, denen feste kulturelle Orte und Zeiten (Jahrestage etc.) zugewiesen werden, oder als zeit- und ortlose Gespenster,195 dann ist der ermordete Szulski denjenigen Toten zuzurechnen, die den Lebenden ›unversöhnt‹ gegenübertreten und im Verdacht stehen, sich in ausgleichender Konsequenz früher oder später rächend zurückzumelden.196 Im Körper Ursels hat sich Szulski unverlierbar festgesetzt, mit Blick auf das Jenseits erhofft die Kranke jedoch Wege der »Befreiung oder Erlösung« (UB, S. 88), zunächst bei Pastor Eccelius, dessen Worte nicht trösten können, dann im Katholizismus und seiner Lehre von der Macht guter Werke: »Verschlossen … Und was aufschließt, das ist der Glaube [sagt die lutherische Lehre, A. D.]. Den hab ich nicht … Aber is noch ein Andres, das aufschließt, das sind die guten Werke … Hörst Du [Abel Hradscheck, A. D.]. Du mußt ohne Namen nach Krakau schreiben, an den Bischof oder an seinen Vikar. Und mußt bitten, daß sie Seelenmessen lesen lassen … Nicht für mich. Aber Du weißt schon … Und laß den Brief in Frankfurt aufgeben. Hier geht es nicht und auch nicht in Küstrin. Ich habe mir’s abgespart dies letzte halbe Jahr, und Du findest es eingewickelt in meinem Wäschschrank unter dem DamastTischtuch. Ja, Hradscheck, das war es, wenn Du dachtest, ich sei geizig geworden. Willst Du?« (UB, S. 94)
Die Bitte, den ermordeten Toten mit Seelenmessen zu versöhnen, erfüllt Abel Hradscheck nicht, weil er befürchtet, »die kaum begrabene Ge194 Ebd., S. 246. 195 Eva Horn, [Art.] ›Tod, Tote‹. In: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Unter Mitarbeit von Martin Korte und Jürgen Straub, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 579 – 582, hier: S. 579 f. 196 Vgl. auch Günter Eichs Hörspiel Unterm Birnbaum. Nach Theodor Fontane (1951), in: Die Hörspiele I. Hrsg. von Karl Karst, Frankfurt am Main 1991 (= Günter Eich, Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Bd. 2), S. 513 – 551, in dem der tote Szulski Frau Hradscheck im Traum heimsucht: »Ich bin es, Szulski. Kennen Sie mich nicht, Frau Hradscheck? / FRAU HRADSCHECK heiser flüsternd: Szulski! Aber Szulski ist doch tot! / SZULSKI Gewiß, gewiß bin ich tot, aber das macht nichts, – ich besuche Sie trotzdem« (S. 536).
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schichte vielleicht wieder ans Licht zu ziehn« (UB, S. 100). Stattdessen wird das Geld in ein repräsentatives Grabkreuz für Ursel investiert, so dass ihr Versuch, durch nachträgliche gute Werke die (noch) Lebenden mit den Toten zu versöhnen, wirkungslos bleibt. Die Differenz des Ehepaars im Hinblick auf den Umgang mit der Tat, die auch eine Differenz der Gedächtnisse ist, wird offenkundig. Denn anders als Ursel Hradscheck, »die durch ihre erfolglosen Bemühungen um seelische Erleichterung beim Pfarrer dem Geständnisdispositiv zugeordnet ist, erweist sich Abel Hradscheck gegen das Geständnis gewissermaßen gefeit«.197 Es scheint, »als beschäftige sich Hradscheck mit seiner Tat nur, insofern andere sich mit der Tat beschäftigen, während die Beschäftigung mit der Tat selbst ein blinder Fleck bleibt«.198 Das zeigt sich schon in der Verbrechensplanung. Für den Mord macht es sich Abel Hradscheck zunutze, dass die Lokalbevölkerung ihr Urteil anhand von zeichenhaften und falsch gedeuteten Oberflächenphänomenen fällt. Der Fund einer Leiche, auf die Abel Hradscheck bei der Gartenarbeit unterm Birnbaum stößt, gibt den ersten konkreten Anstoß zur Durchführung der Tat, indem er ihm den Plan einer »fingierte[n] Referenz«199 liefert. Wenn Hradscheck in der Mordnacht beginnt, mit dem Spaten in der Erde unterm Birnbaum zu graben (später wird er behaupten, er habe an dieser Stelle verdorbenen Speck vergraben wollen), will er, dass die Nachbarin Jeschke zuschaut (was sie allerdings nur deshalb tut, weil ein starker Sturm sie aus dem Schlaf gerissen hat).200 So kann die Jeschke als Zeugin später den unter Mordverdacht stehenden Hradscheck unfreiwillig vor der Dorfobrigkeit entlasten, da keineswegs, entgegen anfänglicher Vermutung, der tote Szulski an dieser Stelle gefunden wird, sondern die Leiche eines Franzosen. Bereits der Titel Unterm Birnbaum, der kein Idyll assoziiert,201 sondern auf die falsche Spur setzt, nimmt metonymisch auf diesen Fund Bezug und lenkt den Blick eben nicht in den schützenden Schatten des Baumes, sondern ›nach unten‹ in die Erde bzw. darauf, was die Gegenwart in (noch) verborgener Tiefe an Vergangenem bewahrt und bereithält. Tatsächlich 197 198 199 200
Niehaus, Eine zwielichtige Angelegenheit, S. 58. Ebd., S. 55. Arndt, ›Es ist nichts so fein gesponnen […]‹, S. 50. Zu den Ungereimtheiten in Abel Hradschecks Plänen zur Tatverschleierung sowie dazu, dass ihm »höchst notwendige Zufälle zu Hilfe kommen müssen«, siehe Hartmut Löffel, Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Diskussion Deutsch 13 (1982), S. 319 – 330, hier: S. 321 – 324 (Zitat S. 322 f.). 201 Cordula Kahrmann, Idyll im Roman: Theodor Fontane, München 1973, S. 64.
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werden an der Leiche eines französischen Soldaten aus den Befreiungskriegen ›Vergessen‹ und ›Erinnern‹ als kollektive Gedächtnisparadigmen manifest,202 wie sie auch für die Polenthematik in Unterm Birnbaum von Relevanz sind. Für Abel Hradscheck mag aus dem Franzosenfund zu schließen sein, dass ein Toter unter der Erde dem Gedächtnis der Dorfbewohner entzogen, mithin vergessen sein kann. Dass die Leiche jedoch zutage gefördert wird, zeigt, damit die mnemonische Tilgungshypothese unterlaufend: Der Akt des Verbergens gelingt nur temporär, und Vergessenes ist wieder reaktualisierbar. Entsprechend verweist die Kultursemiotik darauf, dass der Verlust von Zeichen nicht deren Löschung bedeutet; stattdessen werden sie in die Latenz verschoben, dort konserviert und bleiben potentiell verfügbar.203 Auch Abel Hradscheck darf sich, was sein Verbrechen an Szulski betrifft, nicht sicher fühlen. Über die Todesursache des verscharrten Franzosen kursieren im Dorfkollektiv unterschiedliche Vermutungen. So erinnern sich ältere Dorfbewohner daran, »daß man [während der Befreiungskriege, A. D.] einen Chasseur- oder nach andrer Meinung einen Voltigeur-Korporal einfach wegen zu scharfer Fouragirung bei Seite gebracht und still gemacht habe« (UB, S. 78). Hinter dieser ›Wiedererinnerung‹ – wer den Franzosen auf dem Gewissen hat, bleibt offen – steckt also ein zwischenzeitliches, vielleicht beabsichtigtes kollektives Vergessen der ganzen Geschichte aus dem patriotischen Krieg, das aber angesichts eines materialisierten Objekts wieder rückgängig gemacht werden kann. Und doch entspricht das, was von den Älteren erinnert wird, nicht dem, was gehört werden will. Hinsichtlich des ermordeten Franzosen hat nämlich ein realhistorischer Sachverhalt aus den Befreiungskriegen höchstens die Qualität einer »Prosa-Geschichte« (UB, S. 78)204, während
202 Mit dem toten Franzosen in Unterm Birnbaum hat Fontane die realhistorische Geschichte eines französischen Soldaten adaptiert, der 1806 im brandenburgischen Dorf Dreetz gewaltsam umgekommen ist. Informationsquelle war Fontanes jüngere Schwester Elise (vgl. Fontanes Brief an Elise Fontane, 12. 10. 1873, HFA IV/2, S. 441 f.). 203 Lachmann, Die Unlöschbarkeit der Zeichen, S. 113. 204 Siehe dort auch die folgenden Zitate. Desinteresse an einer wirklichen Sachverhaltsaufklärung scheint (zumindest wenn es um Fremde geht) ein moralisches Dispositiv innerhalb des Dorfkollektivs zu sein. Dies zeigt sich ja ebenso an den im Mordfall Szulski nachlässig ermittelnden Institutionen Staat (Justizrat Vowinkel) und Kirche (Pastor Eccelius).
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die Mehrheit der Tschechiner auf den Lauf der »Fantasie« setzt und sich »Liebesgeschichten« ausdenkt, in deren einer es hieß, daß Anno 13 ein in eine hübsche Tschechinerin verliebter Franzose beinah täglich von Küstrin her nach Tschechin gekommen sei, bis ihn ein Nebenbuhler erschlagen und verscharrt habe.
Abel Hradscheck kann es recht sein, dass auf diese Weise der Franzose zum unverfänglichen »Held und Mittelpunkt der Unterhaltung« avanciert, ja dieser »jetzt überhaupt die Hauptsache war, viel mehr als der mit seinem Fuhrwerk verunglückte Reisende«. Die »Szulski-Geschichte« (UB, S. 77) wird in der dörflichen Rede substituiert: An die gegenständliche Referenz einer – tatsächlich »überzählig[en]«205 – Leiche lassen sich spannende ›Geschichten‹ anschließen, die von aktuellen Verdachtsmomenten ablenken. Die Leiche des französischen Soldaten fungiert als zur Rehabilitierung taugliches Retterobjekt für Abel Hradscheck. Zwar ist im Kirchengemeinderat die Rede davon, dem katholischen Franzosen »auf dem Kirchhof ein christliches Begräbniß zu gönnen« (UB, S. 79), denn »die Katholschen seien bei Licht besehen auch Christen« (ebd.), doch als Hradscheck darum ersucht, den Toten weiterhin in seinem Garten zu lassen, wird diese Bitte gewährt. Hradscheck gelingt es, die populäre Franzosengeschichte in eine subjektive Erinnerungsgeschichte zu überführen, die kollektive Wirkung zeigt: »[…] Der Franzose sei so zu sagen sein Schutzpatron geworden, und kein Tag ginge hin, ohne daß er desselben in Dankbarkeit und Liebe gedenke. Das sei das, was er nicht umhin gekonnt habe hier auszusprechen, und er setze nur noch hinzu, daß er, gewünschten Falles, die Stelle mit einem Gitter versehen oder mit einem Buchsbaum umziehn wolle.« Die ganze Rede hatte Hradscheck mit bewegter und die Dankbarkeitsstelle sogar mit zitternder Stimme gesprochen, was eine große Wirkung auf die Bauern gemacht hatte. (Ebd.)
Die Franzosenleiche wird primär als Gedächtnisträger nicht der Vergangenheit, sondern, in ihrer Entlastungsfunktion für Hradscheck, der unmittelbaren Gegenwart wahrgenommen. Dass ausgerechnet ein französischer Soldat für diese Reputationsverbesserung sorgt, korrespondiert Hradschecks Außenseiterrolle in Tschechin. So bringt denn auch Bauer Kunicke mit Blick auf den französischen »Schutzpatron« dessen nationale Zugehörigkeit im Bezugsfeld der politischen Partner bzw. Gegner Preußens ins Spiel: 205 Niehaus, Eine zwielichtige Angelegenheit, S. 63.
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»Un wenn’s noch ein Russe wär’! Aber das is ihm [Hradscheck, A. D.] alles eins, Russ’ oder Franzos. Der Franzos hat ihm geholfen und nu hilft er ihm wieder und läßt ihn eingittern. […]« (UB, S. 80)
Die Früchte des Baums werden schließlich in »Franzosenbirnen« (UB, S. 87) umbenannt, ja mit Erleichterung kann Hradscheck feststellen, »daß man, trotz aller Stichelreden der alten Jeschke, mehr und mehr anfing, die Vorkommnisse des letzten Winters von der scherzhaften Seite zu nehmen« (UB, S. 88). Und dieser Entwicklung leistet er Vorschub. Mit Harald Weinrich – »[…] beim Gedächtnisgeschäft gibt es wenig zu lachen. Das Lachen verbündet sich besser mit dem Vergessen«206 – ließe sich sagen: Hradscheck hofft, dass der tote Szulski lachend vergessen wird. Selbst die Theaterausflüge nach Berlin, die er nach Ursels Tod unternimmt, scheinen entsprechend funktionalisiert zu sein: Jedes Mal kehrt er mit reichlich Witzliteratur, Anekdoten und Liedern zurück und bringt die Tschechiner mit seinen Vorträgen dazu, dass sie »brüll[en] vor Lachen« (UB, S. 109). Hradscheck zielt darauf ab, seinen ehemaligen Status als Tatverdächtigen durch die neue Rolle eines Triumphe einfahrenden Unterhaltungstalents zu ersetzen. Zweifel am Gelingen ergeben sich freilich strukturell schon aus der Tatsache, dass ausgerechnet eine Franzosenleiche den Mörder eines »Polen« decken soll, in Querstellung zu den traditionell wirksamen französischpolnischen Verbindungslinien. Und sie ergeben sich aus der dynamischen Übersetzbarkeit von ›Vergessen‹ in ›Erinnern‹:207 Ebenso wie (vergrabene) Tote in Unterm Birnbaum körperlich wieder an die Oberfläche gelangen, kann das Gedächtnis an sie, können Geschichten über sie erneut vergegenwärtigt werden. Dazu muss nicht einmal ein leibhaftiger Doppelgänger Szulskis auftreten, wie jener, mit dem sich Hradscheck konfrontiert sieht, als er nach der Beerdigung Ursels von dem Dienstmädchen Male erfahren muss, dass die ehemalige Giebelstube einen neuen Logiergast erwartet: »Wedder een mit’n Pelz.« (UB, S. 99) Es genügen zeichenhafte Gegenstände und »dunkle[] Andeutungen« (UB, S. 116) der Jeschke, die ihre Zuhörer finden (in diesem Fall Ede), damit »die dumme Geschichte wieder zur Sprache [kommt]« (UB, S. 115), was nichts anderes heißt als »wieder 206 Weinrich, Lethe, S. 130, mit Bezug auf Wilhelm Hauffs Märchen Kalif Storch. 207 Hinzu kommt, dass die Tschechiner dem Gastwirt sowieso schon immer mit dem Vorbehalt des »Aber« gegenüberstehen. So wird nach der vergeblichen Suchaktion nach Szulski der Verdacht geäußert: »Hradscheck sei freilich ein feiner Vogel und Spaßmacher und könne Witzchen und Geschichten erzählen, aber er hab’ es hinter den Ohren« (UB, S. 51).
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lebendig« (UB, S. 116) wird. Der tote Szulski bleibt als Redegegenstand in Tschechin vital: Ein Knebelknopf vom Rock des Weinreisenden, den Ede im Keller findet (siehe UB, S. 84), kann die Erinnerung an Szulski ebenso wachrufen und Gerüchte befördern wie ein fliegender Weih, den Bauer Mietzel während der Beerdigung Ursel Hradschecks ortet und als Wissensinstanz definiert: »De Weih. Weetst noch? […] Dunn, as dat mit Szulski wihr. Ick segg’ Di, de Weih, de weet wat« (UB, S. 97). Was für das Gerücht bzw. das »Gerede« (UB, S. 51) kennzeichnend ist, nämlich eine »Struktur der permanenten Wiederkehr«,208 gilt gleichermaßen für den Spuk, den die Jeschke »in die Gerüchtewelt des Dorfs« einspeist,209 und der nicht nur bei Ede seine Wirkung erzielt, sondern auch den abergläubischen Hradscheck, der »nichts« glaubt »und auch wieder alles« (UB, S. 14), in gehörige Unruhe versetzt. Edes (durch die Jeschke initiiertes) »Et spökt« (UB, S. 111 f.), mithin seine und des Dienstmädchens öffentlich ausgesprochene Weigerung, sich in den Keller des Gastwirts zu begeben, bringt Hradscheck, dem nun ganz schwindelig wird,210 letztlich dazu, den (Pseudo-)Polen auszugraben. »Es ist«, wie Christian Begemann schreibt, »dabei nicht der Spuk selbst, sondern die Rede über und der Glaube an ihn, die Tatsachen schaffen, gleichgültig, ob er selbst eine ist«.211 Der Spuk ist einerseits auslösendes Moment, andererseits bedrängt er Hradscheck auch als »Gespenst« seiner »Angst«.212 Das Bevorstehende ruft einen »Grusel« (UB, S. 121) hervor, der das Grauen der Tat noch übertrifft: »Wahrhaftig, das Einbetten war nicht so schlimm, als es das Umbetten ist.« (UB, S. 117)
208 Christian Begemann, Gespenster des Realismus. Poetologie – Epistemologie – Psychologie in Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Dirk Göttsche und Nicholas Saul (Hrsg.), Realism and Romanticism in German Literature/Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur, Bielefeld 2013, S. 229 – 259, hier: S. 253. Begemann geht den verschiedenen Aspekten des Spukhaften in Unterm Birnbaum nach (siehe insbesondere S. 241 – 259). 209 Ebd., S. 251. 210 Siehe UB, S. 112. Die Körperreaktionen, die Abel Hradscheck zuvor zeigte, wenn er in irgendeiner Weise mit der »Szulski-Geschichte« konfrontiert wurde, beschränkten sich noch aufs Farbewechseln und Stottern (so beim Vorschlag des Baumeisters Buggenhagen, den Kellerraum auszuschachten, siehe UB, S. 82, und bei Edes Knopffund, siehe UB, S. 84: »Hradscheck war kreideweiß geworden und stotterte«). 211 Begemann, Gespenster des Realismus, S. 253. 212 Ebd., S. 254.
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Dass es Hradscheck misslingt, den toten Szulski zum Oder-Fluss zu schaffen,213 ist textlogisch bereits vorgegeben: Gestorben wird im Hause Hradscheck (Szulski, Ursel), die Toten liegen im häuslichen Keller und Garten oder auf dem Friedhof. Die Oder hingegen wird als Todesort nur imaginiert (Ursel) und postuliert (Szulski). Wenn Abel Hradscheck also beim vergeblichen Versuch, sich durch die Umbettung der Leiche zu retten, im eigenen Keller zu Tode kommt, wird diese Raumordnung beibehalten. Auf welche Weise Hradscheck stirbt, bleibt textuelle Leerstelle. Die ins Rollen gekommenen Ölfässer, die die Falltüre verschließen, lassen den Erzähler aus dem Spiel. Stattdessen wird in Unterm Birnbaum berichtet, was Gendarm Geelhaar, Schulze Woytasch und Bauer Kunicke am nächsten Morgen im Keller vorfinden: [U]nten lag Hradscheck, allem Anscheine nach todt, ein Grabscheit in der Hand, die zerbrochene Laterne daneben. Unser alter Anno-Dreizehner [Kunicke, A. D.] sah sich bei diesem Anblick seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit entrissen, erholte sich aber und kroch, unten angekommen, in Gemeinschaft mit Geelhaar und Woytasch auf die Stelle zu, wo hinter einem Lattenverschlage der Weinkeller war. Die Thür stand auf, etwas Erde war aufgegraben, und man sah Arm und Hand eines hier Verscharrten. Alles andre war noch verdeckt. Aber freilich, was sichtbar war, war gerade genug, um alles Geschehene klar zu legen. (UB, S. 124)
Entgegen dieser Textaussage ist das »Geschehene« jedoch schon keineswegs deshalb klar, weil ein toter (Pseudo-)Pole an die Oberfläche kommt. Schulze Woytasch zieht denn auch das Fazit: »Bewiesen ist am Ende nichts. Im Garten liegt der Franzos, und im Keller liegt der Pohlsche. Wer will sagen, wer ihn da hingelegt hat?« (UB, S. 125), und liefert damit zugleich das Argument dafür, warum Abel Hradscheck trotz Mordverdachts auf dem Kirchhof (wenn auch abseits) begraben werden soll.214 Über die Frage des ›Hinlegens‹ ist der Leser freilich unterrichtet. Schwieriger steht es um die Umstände von Hradschecks Tod. Gewiss ist nur: Er tritt in räumlicher und zeitlicher Nähe zur ›Ausgrabung‹ Szulskis ein. In der Formulierung Aleida Assmanns ist »Erinnern […] WiederHolen mittels Wiederholungen«.215 Dabei hat »Wiederholung […] die Aufgabe der Wiederverkörperung, der Reaktivierung, der Wiederbele213 Vgl. »Er muß weg. Aber wohin? […] Es heißt, er liege in der Oder. Und dahin muß er … je eher je lieber …« (UB, S. 116) 214 Das Grabkreuz seiner Frau dürfen die Tschechiner allerdings »umreißen« (UB, S. 126). 215 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 233.
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bung«.216 Wenn Hradscheck den toten Szulski, zumindest dessen Arm und Hand, ausgräbt, mithin aus der Erde heraus-holt, dann mag die leibhaftige Konfrontation mit Szulskis Körper fatal zusammenfallen mit der erinnernden Wieder-Holung dessen, was ihm, der »beständig zwischen Aberund Unglauben« (UB, S. 12) schwankt, über die Einflussmöglichkeiten der Toten auf die Ordnung der Lebenden gesagt wurde. So haben die Worte seiner sterbenden Frau, die nicht nur mit der Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts rechnet, sondern die Wiederauferstehung mancher – und damit sind offensichtlich die gewaltsam zu Tode Gekommenen gemeint – sogar im Diesseits prophezeit, bei Hradscheck, trotz postulierter Trennung der Seinsbereiche, großes Entsetzen ausgelöst: [Abel Hradscheck:] »Ich denke, leben ist leben, und todt ist todt. Und wir sind Erde, und Erde wird wieder Erde. Das Andre haben sich die Pfaffen ausgedacht. Spiegelfechterei sag’ ich, weiter nichts. Glaube mir, die Todten haben Ruhe.« [Ursel Hradscheck:] »Weißt Du das so gewiß, Abel?« Er nickte. »Nun, ich sage Dir, die Todten stehen wieder auf …« »Am jüngsten Tag.« »Aber es giebt ihrer auch, die warten nicht so lange.« Hradscheck erschrak heftig und drang in sie, mehr zu sagen. Aber sie war schon in die Kissen zurückgesunken […]. (UB, S. 94)
Können in Ursels Ausdeutung die Toten verfrüht wiederkommen, so »grappsch[en]« (UB, S. 107) nach den Spukvorstellungen des Aberglaubens die Toten schon immer geisterhaft nach den Lebenden. Signifikanterweise folgt der Text, indem ausgerechnet Arm und Hand des (Pseudo-) Polen freigelegt sind, exakt jenem Muster, mit dem die Jeschke den toten Szulski geisterhaft heraufzubeschwören suchte (vgl. die an Ede gestellte Frage »Un grappscht ook nich?«, ebd.).217 »Der Tote handelt«, so wird erzählerisch nahegelegt, »nach dem Skript« der Jeschke.218 »[G]rappsch[en]« bzw. ›Greifen‹ aber impliziert ein gefährliches Mit-sich-Nehmen. Das ergibt sich aus der Mutmaßung der Jeschke, Hradscheck habe deshalb seine Frau getrennt von den Kindern bestattet, weil er verhindern wolle, 216 Ebd. 217 Über Ede erfährt Hradscheck davon. Vgl. »Der Junge war wie verdreht mit seinem ewigen ›et spökt‹ und ›et grappscht‹.« (UB, S. 114) 218 Begemann, Gespenster des Realismus, S. 256. Folgen hat dies nicht zuletzt für die Interpretation des vieldiskutierten Schlussabsatzes von Unterm Birnbaum, weil »der Spuk an die Stelle der ›Hand Gottes‹ tritt, die der Pastor in Hradschecks Tod am Werk sieht« (ebd. und S. 241 – 243).
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dass Ursel »an dem Tage, ›wo’s los gehe‹, doch natürlich nach ihren Kindern greifen würde« (UB, S. 103). In Arm und Hand des toten Szulski bündeln sich die textuell bereitgestellten Semantiken: Die freigelegten Glieder stehen demnach für den performativen Akt des Zugreifens, die nun körperliche und endgültige Ein-Holung, vor der es im geschlossenen Kellerraum für Hradscheck kein Entkommen gibt. Es scheint durchaus beachtenswert, dass Fontane die Titel aus dem Entwurfs- und Manuskriptstadium (Fein gesponnen und doch zerronnen, Fein Gespinnst, kein Gewinnst, Es ist nichts so fein gesponnen), die den Fokus allzu sehr auf Hradscheck und sein Ende verlegten, wieder verworfen und dafür mit Unterm Birnbaum einen Titel gewählt hat, der sich vom Individuellen löst und sozial-historische Dimensionen eröffnet. Zwar wird der Mörder Hradscheck die Szulskigeschichte mit all ihren zeichen- und spukhaften Ausprägungen nicht los, ja wird von ihr letztlich in den Keller und damit in den Tod getrieben, doch würde es zu kurz greifen, die SzulskiHradscheck-Konstellation auf die beruhigende Einlösung eines (Ordnung stiftenden) Vergeltungsprinzips zu verengen. Vor dem textuellen Hintergrund des gescheiterten Novemberaufstands muss schon der Anteil des Polnischen an dieser Konstellation den Blick vom Täter auf sein Umfeld lenken. Noch während der Suchaktion nach dem verunglückten Szulski gibt Kunicke zu: »[W]ir sind doch eigentlich [an dem Unglück nach einer durchzechten Nacht, A. D.] ein bischen schuld. Oder eigentlich ganz gehörig.« (UB, S. 50) Dies lässt sich vom vermeintlichen Unfallopfer auch auf das Mordopfer übertragen. Der gesellschaftliche Druck, dem sich die Hradschecks, noch dazu als Fremde, ausgesetzt sehen, weil die soziale Zugehörigkeit am Geldvermögen gemessen wird, beseitigt Tabugrenzen (siehe Ursels Diktum »Armuth ist das Schlimmste, schlimmer als Tod, schlimmer als …«, UB, S. 22). Hinzu kommt, dass diese Tabugrenzen auch raumsemantisch eingerissen sind. Das fünfte Kapitel expliziert in der Figurenrede Szulskis den Novemberaufstand in Form gewalttätiger Mordgeschichten von Russen (und implizit auch Preußen) an Polen: Mit Gewehren und Bajonetten, »Aexten und Beilen« (UB, S. 35) wird gestürmt und »hingemordet« (UB, S. 36). Wenn sich der Mord am »Polen« Szulski nun in einem preußisch-russisch semantisierten Raum wie Tschechin ereignet, wo obendrein schon ein getöteter Franzose liegt, dann finden hier
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die national-politischen Demarkationen des Novemberaufstands als des »historische[n] Dreh- und Angelpunkt[s]«219 des Textes ihre Fortsetzung. Gelegentlich der Frage, wie denn nun nach dem Tod Hradschecks mit dessen Erbschaft220 zu verfahren sei, meint Schulze Woytasch: »Vielleicht, daß es der Pohlsche wiederkriegt«, fügt aber zugleich korrigierend hinzu: »Aber das werden die Tschechiner nich wollen« (UB, S. 125). Der Konnex von Verbrechen und Geld (als sozialer Prestigegröße), der schon für Hradschecks Mordtat bestimmend war, kommt mit Blick auf die Dorfgemeinschaft erneut zum Tragen. Von der Tat profitiert letztlich die preußisch-russische Allianz des Dorfkollektivs.221 War beim Szulski’schen Wagen, der in der Oder gefunden wurde, noch eine Rückgabe bzw. Erstattung an die Krakauer Firma vorgesehen – weitere Informationen liefert der Text dazu nicht –,222 ermöglicht Hradschecks Tod, über den allenfalls im Tschechiner Kirchenbuch, also nicht grenzüberschreitend, zu lesen ist, die (vorübergehende?) Verdeckung von Ansprüchen. Signifikant ist jedoch, dass auch in Bezug auf den entdeckten Leichnam Szulskis von einer Meldung an »Olszewski-Goldschmidt« (UB, S. 10) keine Rede ist. Der Text lässt offen, wie mit dem Toten weiter verfahren wird, ob er etwa neben dem Franzosen als zweite fremde Leiche in der Bodentiefe Tschechins verbleibt, damit dessen untergründiges Gewaltpotential untermauernd. Das Narrativ folgt der Prioritätensetzung der Tschechiner. So fällt die Prognose des Schulzen223 mit der letzten Nennung des »Pohlsche[n]« zusammen: Das diesem zustehende Geld verbleibt im preußisch(-russischen) Besitz. Wenn Unterm Birnbaum als regulierendes Prinzip ausgibt, dass Vergessenes wieder belebt werden kann und dass alles, was materiell in der Tiefe liegt, 219 Bodo Plachta, ›Tatort‹ – Die Topographie eines Kriminalfalls in Theodor Fontanes ›Unterm Birnbaum‹. In: Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann (Hrsg.), Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 167 – 181, hier: S. 170. 220 Vom Ausmaß der Schulden der Hradschecks und von der nur vorgetäuschten Erbschaft von Ursels Schwester wissen die Tschechiner nichts. 221 Dass die Kirche hiergegen nichts einzuwenden hätte, signalisiert Eccelius: »Das alles macht mir keine Sorge.« (UB, S. 125) 222 Vgl. »Der Todte fand sich nicht, der Wagen aber, den man mühevoll aus dem Wasser heraufgeholt hatte, wurde nach dem Dorf geschafft und in Kunicke’s große Scheune gestellt. Da stand er nun schon zwei Wochen, um entweder abgeholt oder auf Antrag der Krakauer Firma versteigert zu werden.« (UB, S. 51) 223 Gestützt wird sie durch den Erzählerverweis auf die Geldgesinnung der Tschechiner (siehe UB, S. 104).
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irgendwann an die Oberfläche zurückdrängt, dann ist die Entdeckung bzw. ›Wiederauferstehung‹ des ermordeten Szulski, dessen Leiche verschwunden scheint, nur eine Frage der Zeit. Diskursiv bewahrt er sowieso vitale Präsenz, will doch seine »Geschichte […] nicht aus der Welt« (UB, S. 54), trotz aller zeitweise erfolgreichen Ablenkungs- und Überdeckungsmanöver Abel Hradschecks, die auf den Beobachterblick der Dorfbewohner in Tschechin ausgerichtet sind und diesen lenken wollen. Szulski generiert ›Unordnung‹, nicht nur weil er als Redegegenstand nicht totzukriegen ist, sondern auch weil er weiterhin über aktive Kräfte im Raum der Lebenden verfügt: So wird die eingeweihte Mitspielerin Ursel Hradscheck von Szulski regelrecht überwältigt, indem er sich in ihrem (Körper-)Gedächtnis festsetzt – mit letaler Wirkung. Abel Hradscheck hingegen, der scheinbar ohne plagendes Gewissen ist, unterliegt letztlich der nicht steuerbaren Dynamik der »Szulski-Geschichte« mitsamt ihren freigesetzten spukhaften Anteilen. Sie heftet sich ihm wieder- und einholend an die Fersen, ist »[i]mmer noch nicht vergessen« (UB, S. 99), ja zwingt ihn schließlich in die Tiefe des Kellers, der ihm – nun leibhaftig mit dem dort teilausgegrabenen Szulski konfrontiert – zur Todesfalle wird. Die Mordtat der Hradschecks unterliegt sozialen Impulskräften, erfolgt unter Anpassungsvorgaben: Einerseits scheint der Mord im geldorientierten Tschechiner Regelsystem die einzige Möglichkeit, den eigenen finanziellen Ruin zu verhindern und damit den (angesichts einer fremden Herkunft stets fragilen) gesellschaftlichen Anschluss zu wahren; andererseits ist er im Kontext politisch-ideologischer Ordnungen zu sehen, die aus dem fünften Kapitel über den polnischen Novemberaufstand abgeleitet werden können. Denn diese kommen im Tschechiner Kosmos mit seinen konservativ preußisch-russischen Implikationen zur Reproduktion: Ein toter Franzose liegt schon dort, und ein Pseudo-Pole, der auf Figurenebene für einen »Polen« gehalten wird, versinkt bereits bei seiner Ankunft regelrecht im Boden und wird mit Todesmerkmalen versehen.224 Konsequenterweise verfügt auch der Mörder Hradscheck zumindest anteilig über (von Gewalttätigkeit geprägte) preußisch-russische Affinitäten, die, wenn es um die Anerkennung im Dorfkollektiv geht, sogar offen geäußert werden und – Skrupel senkend – mit dem Mord am »Polen« in Verbindung gebracht werden können. 224 Die Funktion der Pseudoidentität Szulskis sowie der böhmischen Herkunft Hradschecks sehe ich, wie dargestellt, vor dem Hintergrund des Erscheinens von Unterm Birnbaum 1885 in der textoberflächlichen Abschwächung nationalen Konfliktstoffs.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Auch in Unterm Birnbaum werden polnisch-französische Korrelationen relevant. Wurde allerdings in Vor dem Sturm noch auf eine politische und kulturelle Verbindung zwischen Polen und Franzosen Bezug genommen, so wird dieser Konnex in der Kriminalgeschichte auf der Ebene zweier Leichen und für einen Dritten funktionalisiert. Der tote Franzose kann als Ersatzleiche unterm Birnbaum vorübergehend materiell und diskursiv an die Stelle des toten Polen treten, um Abel Hradscheck vom Mordverdacht loszusprechen. Doch wenn sich der Franzose auch mit Hradscheck zu verbünden scheint, dann ist die relative Dauer dieses Bündnisses schon deshalb vorgegeben, weil es auf einer künstlichen, dem traditionellen polnisch-französischen Konnex zuwiderlaufenden Inszenierung beruht (und Hradscheck obendrein zumindest teilweise preußischrussisch orientiert ist); und sie ist vorgegeben, weil Vergessen, zumal so kurz nach der Tat, eben »ein latentes Gedächtnis«225 ist, das jederzeit in ein (Wieder-)Erinnern überführt werden kann. Der nachfolgende Erzähltext Cécile stellt polnisch-französische Bezüge schon im Titel her: Wenn die polnische Protagonistin Cécile einen französischen Namen trägt, dann ist dies allerdings vor dem Hintergrund partieller Merkmalskongruenz zu sehen. Semantisch wirksam wird die populäre Bezeichnung der Polen als »Franzosen des Nordens«.226
3.4 »Cécile« (1887) Im August 1884, als sich Fontane im schlesischen Krummhübel [Karpacz] zur Sommerfrische aufhielt, war Unterm Birnbaum zwar »Geplauder«Gegenstand unter Bekannten;227 die Hauptarbeit dieser Zeit galt aber einer anderen Polengeschichte: Cécile. Auch dieser Erzähltext, der in den 1880er Jahren spielt, endet mit Toten: Oberst a. D. Pierre von St. Arnaud, Ende fünfzig, schießt bei Dresden den jungen Zivilingenieur schottischer Herkunft und preußischen Ex-Offizier Robert von Leslie-Gordon im Duell über den Haufen, die schöne Titelheldin und ehemalige Fürstenmätresse Cécile von St. Arnaud, geborene Woronesch von Zacha und wesentlich jünger als ihr Mann, begeht mit der Einnahme von Digitalis in ihrer Berliner Wohnung Selbstmord. »Der Grundgedanke des kl. Romans«, 225 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 55. 226 Siehe den in Kapitel 3.1.3 zitierten Auszug aus Pierers Universal-ConversationsLexikon. 227 Vgl. Brief an Georg Friedlaender vom 18. 8. 1884 (FFr, S. 9).
3.4 »Cécile« (1887)
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schreibt Fontane 1886 an Jesco von Puttkamer, »ist der von der unerbittlichen Macht zurückliegender Geschehnisse, die durch reinen Wandel und aufrichtige Buße vor Gott zu sühnen, aber gesellschaftlich nicht zu tilgen sind«.228 Topographisch ist das, was als Céciles Vergangenheit vor Erzählbeginn liegt, in Schlesien – genauer in Oberschlesien – situiert. Die fatale gesellschaftliche Wirkung einer Lebensgeschichte entfaltet sich mithin aus dem Dunst eines preußischerseits diskreditierten polnischkatholischen Milieus. Tatsächlich operiert der Text strukturell vielschichtig mit einem preußisch-polnischen Antagonismus, der sich über konfessionelle und politische Differenzen sowie Wert- und Normgegensätze manifestiert. Gezeigt werden soll, wie konventionelle nationale Stereotyp- und Klischeebildungen, die über Figurenrede perspektivierten Eingang in den Roman finden und individuelle Verhaltensweisen prädisponieren, funktional relevant werden, damit aber zugleich – dies gilt vor allem für das Phänomen der ›polnischen Wirtschaft‹ – auch narrativ in ihrer Problematik ausgestellt werden.229 3.4.1 »Gefahr von Jugend auf«: Polnische Schönheit Der Roman Cécile, 1886 im Vorabdruck in der Zeitschrift Universum, 1887 in Buchform erschienen, verteilt die Handlung nahezu symmetrisch auf zwei Hauptschauplätze: den Harz und Berlin. Im Kurort Thale lernt Gordon (der nach siebenjähriger Abwesenheit wieder in Deutschland ist) die St. Arnauds kennen, eine Bekanntschaft, die anschließend in der Hauptstadt fortgeführt, ja durch tägliche Besuche bei Cécile, die nie allein ist, intensiviert wird – bis Gordon in einem schon länger erwarteten Antwortbrief seiner Schwester über Céciles Vergangenheit unterrichtet wird. Aus »Ueberheblichkeit und Sittenrichterei« (CE, S. 202)230 vergreift 228 Brief vom 20. 1. 1886 (HFA IV/3, S. 451). Jesco von Puttkamer war Gründer und Redakteur der Zeitschrift Universum. 229 Vgl. zu Cécile auch meine Magisterarbeit Kein ›Zwergensieg gegen Riesen‹. Die Dominanz preußisch-protestantischer Ordnung über die schlesisch-katholische Gegenwelt in Theodor Fontanes Roman ›Cécile‹ [1886.1887], München 2001. In dieser Arbeit stand allerdings nicht die Polenthematik im Vordergrund, sondern das textrelevante Strukturmerkmal des Hierarchischen. Abgesehen von Schlaglichtern auf die nationalstereotypen Muster ›schöne Polin‹ und ›polnische Wirtschaft‹ wurde Polnisches weitgehend unter das Katholische subsumiert. 230 Cécile wird hier und im Folgenden mit Sigle (CE) und Seitenzahl zitiert nach der GBA.
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er sich im Ton, beleidigt Cécile in Gegenwart des vermeintlich libertinen Geheimrats Hedemeyer, provoziert dadurch die Duellforderung St. Arnauds. Eine polnisch-preußische Begegnung, die unter dem Vorzeichen der Anziehung beginnt, endet katastrophisch, sobald aus einer postulierten Werteasymmetrie das Recht zu grenzüberschreitenden Handlungen abgeleitet wird. Handlung und Struktur des Romans werden wesentlich durch das Wissen bzw. Noch-nicht-Wissen um Céciles Vorgeschichte bestimmt. Bereits im ersten Kapitel gibt der Erzähler dezente Hinweise auf lebensgeschichtliche Verwerfungen der Protagonistin, allerdings nur im Modus externer Fokalisierung: »Täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen« (CE, S. 8). Nur ein Kapitel später wird jedoch die Beobachterrolle231 schon an Gordon delegiert, der als nunmehr zentrale und schnell involvierte Perspektivfigur »mit immer gesteigertem Interesse« (CE, S. 14) dem Geheimnis ›Cécile‹ auf die Spur zu kommen sucht. Dem Leser bieten sich alternative Standorte an: Er kann Gordons Wahrnehmungen und (kulturgeschichtlich sowie literarisch präfigurierten) Deutungsmustern folgen, oder aber er kann sich von ihnen distanzieren, »indem er Gordon, der Cécile anhaltend unter die Lupe nimmt, seinerseits unter die Lupe nimmt«.232 Ort der ersten Kontaktaufnahme zwischen Gordon und Cécile ist der Balkon des Hôtel Zehnpfund in Thale, gleich am Morgen nach der Anreise der St. Arnauds. Während »roth und weiß gemusterte[] Tischdecken im Winde« (CE, S. 11) wehen, mithin die nachfolgende Szene narrativ-subtil schon unter die Signatur der polnischen Nationalfarben gestellt wird,233 231 Mit den Wahrnehmungsstrukturen in Cécile hat sich die Forschung intensiv auseinandergesetzt. Stellvertretend seien genannt Carola Blod-Reigl, ›… der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen …‹. Zum Sinnesdiskurs in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Horst Brunner, Claudia Händl et. al. (Hrsg.), helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek, Göppingen 1999 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668), S. 403 – 431, sowie Bettina Plett, Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem ›Mangel an Sehenswürdigkeiten‹ in Fontanes ›Cécile‹. In: Sabina Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 159 – 178. 232 Daragh Downes, ›Cécile‹. Roman. In: Grawe und Nürnberger (Hrsg.), FontaneHandbuch, S. 563 – 575, hier: S. 567. 233 Vgl. auch Michael Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum. Historische Raumerfahrung in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume et. al. (Hrsg.), Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer
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fällt Gordon das »distinguirte Paar« (CE, S. 12) ins Auge, vor allem jedoch Cécile, die »den Kopf so [wandte], daß man, von der andern Seite des Balkons her, ihr schönes Profil sehen mußte« (CE, S. 11). Erzählperspektivisch im Unbestimmten bleibt, ob sie dies mit Absicht tut oder Gordons »Roman seiner Phantasie« (CE, S. 151) bereits hier einsetzt. Fest steht jedoch, dass der zunächst nur visuelle Kontakt mit der Wirkmacht von Céciles Schönheit in Relation gesetzt wird. Als das Paar schließlich aufsteht, erhebt sich auch Gordon kurz, grüßt Cécile »mit besondrer Devotion, was seines Eindrucks auf die schöne Frau nicht verfehlte« (CE, S. 12). Dann zieht er beim Kellner Erkundigungen ein und erfährt: »Die Dame scheint krank« (CE, S. 13). Die Namen der Herrschaften »Oberst a. D. von St. Arnaud und Frau« (ebd.) werden ihm genannt, und Gordon erinnert sich, den kriegsbewährten Oberst schon »Anno 70« (ebd.) gesehen zu haben. Dass die St. Arnauds nun durch den Park spazieren, gibt ihm vom Balkon aus weitere Gelegenheit zur Beobachtung der beiden. Und er konstatiert Diskrepanzen: Nicht nur verwundert ihn der merkwürdige Umstand, dass ein »Garde-Oberst comme-il-faut, jeder Zoll« (CE, S. 15) den Dienst quittiert hat, sondern er meint auch, dass Cécile, »die durch Rang und Erscheinung« (CE, S. 11) gleichermaßen auffallende Dame, besser in mondäne Kurorte wie Baden-Baden, Brighton oder Biarritz passe als nach Thale. All dies generiert »Muthmaßungen« über einen Roman »[d]ahinter« (CE, S. 14). Dass Gordon diesen Roman jedoch auch »erfahren« (CE, S. 15) will, liegt im erotischen Attraktionspotential einer schönen Frau begründet, die sein »tiefere[s] Interesse« (CE, S. 60) weckt. Von dieser Schönheit gehen offenbar Signale aus, die klare Auswahlraster vorgeben und sich schnell fremd-national zuordnen lassen. So kommt Gordon zu dem Ergebnis: »[…] Uebrigens wirkt sie katholisch, und wenn sie nicht aus Brüssel ist, ist sie wenigstens aus Aachen. Nein, auch das nicht. Jetzt hab’ ich es: Polin oder wenigstens polnisches Halbblut. […]« (CE, S. 15)
Im zugeschriebenen Katholizismus können Attribute von Schuld und Sinnlichkeit aufgehen;234 das prominent registrierte Merkmal der SchönRegion zwischen Romantik und Moderne, Bielefeld 2008 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 10), S. 233 – 256, der bereits beiläufig auf die Tischdecken verweist, »deren rot-weißes Muster an die Nationalfarben Polens erinnert« (S. 244). 234 Vgl. die Maria-Stuart-Assoziationen, die Gordon – neben anderen literarischen Vergleichsmustern – an Cécile erprobt, und zwar kurz vor seiner Abreise aus dem Harz: »Und doch woran erinnert sie mich? […] Ja, das ist es. Ich habe ’mal ein Bild
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heit vereindeutigt ihn jedoch erst in raumsemantischer Verortung: Nachrangig scheint dabei Gordons Schwanken zwischen ›polnisch‹ oder ›wenigstens halbpolnisch‹; schon ein (hälftiger) polnischer Anteil genügt, um erkennbare Differenz zu markieren. Die regionale Spezifizierung – »[S]ie schlesiert ein wenig« (CE, S. 60) – kann Gordon dann spätestens an der Table d’hôte im vierten Kapitel vornehmen, als er mit den St. Arnauds ins Gespräch kommt.235 Tatsächlich erweist sich die dialektale Spur von Nutzen, weil sie eine informationsbeschaffende Helferfigur auf den Plan zu rufen vermag: Gordons in Schlesien lebende und gesellschaftlich sowie in Armeekreisen gut vernetzte Schwester mit dem signifikanten Namen Clothilde, die er in einem Brief um ›schwatzhafte‹236 Auskunft bittet (»[W]er ist Cécile?«, ebd.). Freilich wird »Clotho« (CE, S. 57), wie Gordon seine Schwester in Namenskongruenz zur antiken Parze nennt, den Lebensfaden zwischen Gordon und Cécile im Zeichen ›polnischer Wirtschaft‹ als »Unheilsfaden«237 spinnen. Die nationale Klassifizierung Céciles, die Gordon vornimmt, beruht auf dem schon mehrfach genannten konventionellen Muster der ›schönen Polin‹,238 das physische Aspekte mit erotischer Ausstrahlung kombiniert und zugleich auf die Fähigkeit der Polin abstellt, sich zu inszenieren, körperliche Reize gekonnt zur Schau zu stellen.239 In der Polin hyposta-
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von Queen Mary gesehen […]. Etwas Katholisches, etwas Gluth und Frömmigkeit, und etwas Schuldbewußtsein. Und zugleich ein Etwas im Blick, wie wenn die Schuld noch nicht zu Ende wäre.« (CE, S. 127 f.) Der Leser konnte bereits vorher einer Bemerkung Céciles das Stichwort »Schlesien« entnehmen. Mit Blick auf den Harzer Sagenschatz äußert Cécile im Balkongespräch mit ihrem Gatten den Vergleich »Wir hatten auch in Schlesien« (CE, S. 11). Vgl. Gordons Sentenz: »Clothilde muß von ihr wissen […]. Die Schlesier sind ohnehin mit einander verwandt und haben einen schwatzhaften Zug« (CE, S. 57). Renate Böschenstein, Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: Fontane Blätter 62 (1996), S. 31 – 57, hier: S. 45. Siehe zu diesem Stereotyp, das sich meistens auf die adelige Polin bezieht, wenn auch nicht ausschließlich, Kapitel 2.3 dieses Buches. Vgl. ebenso die in Kapitel 3.1.3 zitierte Passage aus Pierers Universal-Conversations-Lexikon (»die Polinnen sind durch Schönheit u. Anmuth berühmt«). Vgl. dazu folgende Beispiele, die schon Orłowski in seiner Studie ›Polnische Wirtschaft‹ zitiert. So schrieb etwa Samuel Bredetzky, Reisebemerkungen über Ungern [sic!] und Galizien. Bd. 2, Wien 1809, Reprint Berlin o. J, S. 63 f.: »Das Pohlnische weibliche Geschlecht von Adel wird jedem Fremden durch die schönen Umrisse des Körpers, durch den geschmackvollen Anzug, womit es denselben bekleidet, und besonders durch die Geschicklichkeit, mit der es jeden Reitz in das gehörige Licht zu stellen weiß, gewiß gefallen«. Und bei Harro Harring, Memoiren über Polen unter Russischer Herrschaft, Deutschland 1831, ist davon die Rede, dass
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sieren sich bürgerliche Vorstellungen extrem-verführerischer Sinnlichkeit.240 So ist Cécile für Gordon zugleich exzeptionelle »Schönheit ersten Ranges« mit »[w]undervoll geschnittene[m] Profil, Gemmenkopf« (CE, S. 59), die für den Weitgereisten sogar im internationalen Vergleich besticht – »[e]r gestand sich, selten eine schönere Frau gesehen zu haben, kaum in England, kaum in den ›States‹« (CE, S. 21) –, und Inbegriff »ganz[er] Weiblichkeit« (CE, S. 183).241 Während Céciles Schönheit durch »unter allen Nationen, die du kennen lerntest – die Polinnen auf den Preis der Schönheit Anspruch machen« (S. 204 f.). Bei den Polinnen sei außerdem »der Ausdruck der grenzenlosen Sinnlichkeit in Blick und Form, im Reiz des ganzen Wesens« (S. 237) zu beobachten. Aufschlussreiche Parallelen zur physischen Modellierung der Cécile-Figur weisen folgende gern zitierte Zeilen aus Karl Millöckers Operette Der Bettelstudent (1882) auf – auf sie rekurriert bereits Sascha Kiefer, Der determinierte Beobachter. Fontanes ›Cécile‹ und eine Leerstelle realistischer Programmatik. In: literatur für leser 26 (2003), S. 164 – 181, hier: S. 174 f.: »Die Polin hat von allen Reizen Die exquisitesten vereint; Womit die andern einzeln geizen, Bei ihr als ein Bouquet erscheint! Die Nase hat sie griechisch-römisch, Glutaugen von der Spanierin, Der üpp’ge Mund ist slawisch, böhmisch, Und lieblich wienerisch das Kinn. Von der Pariserin das Füßchen Und von der Britin die Figur, Von allem Reizenden ein bißchen, Doch immer grad das Beste nur. Sie borgt sogar von der Mongolin Etwas Pikanterie vielleicht, Und grade dadurch wird die Polin Von keinem andern Weib erreicht.« (Karl Millöcker, Der Bettelstudent. Operette in drei Aufzügen. Dichtung von F. Zell und Richard Genée. Hrsg. und eingeleitet von Anton Würz, Stuttgart 1952 [RUB 7750], S. 39 f.) 240 Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 174. 241 Im Gegensatz zum »Mannweib« (CE, S. 183) Baronin von Snatterlöw, aber auch im Gegensatz zur emanzipierten Tiermalerin Rosa Hexel. Das Verhältnis zwischen Gordon und Cécile ist in der Forschung wiederholt im Hinblick auf die Geschlechterproblematik analysiert worden. Siehe stellvertretend Sabina Becker, ›Wer ist Cécile?‹ Der ›Roman einer Phantasie‹: Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2002, S. 130 – 154, die diesbezüglich auch ausführlich auf die ältere Forschung seit den 1970er Jahren verweist, und Cornelia Blasberg, Das Rätsel Gordon oder: Warum eine der ›schönen Leichen‹ in Fontanes Erzählung ›Cécile‹ männlich ist. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 120 (2001), Sonderheft ›Rea-
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
redundante Verwendung des Adjektivs »schön« – vor allem in der Wendung »die schöne Frau« (erstmals CE, S. 8, und passim) – auch auf Erzählerebene bemerkenswert markiert ist, vermittelt der Text verführerische Implikationen von Céciles Weiblichkeit ausschließlich über Figurenrede oder macht sie als figurenspezifische Projektionen und vorgefertigte Deutungsmuster kenntlich.242 Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in der Opernszene des 25. Kapitels, als Gordon während des ersten Aktes einer Tannhäuser-Aufführung Cécile und Geheimrat Hedemeyer vermeintlich sehr vertraut miteinander in der gegenüberliegenden Loge entdeckt. Gordon, der – so heißt es schon mit Beginn der Ouvertüre – »jeden Ton [kannte]« (CE, S. 194), steigert sich vor der Bühnenkulisse des Venusberges in »Eifersucht« und »Höllenqualen« (ebd.) hinein, ist zugleich »von einem prickelnden Verlangen erfüllt, lieber zu viel als zu wenig zu sehen« (ebd.) und stürmt in der Pause nach dem ersten Akt in die Loge der beiden. Er sieht nun, wie es Horst Thomé formuliert hat, Cécile nicht mehr nach dem Schema Wolfram – Elisabeth, sondern unter dem Schema Tannhäuser – Venus. Die durch Kunst vermittelte Fehldeutung von Realität löst die Eifersucht aus ungerechtfertigten Ansprüchen aus, die unmittelbar zur Katastrophe überleitet.243
Die imaginierte Venus-Polin steht am Anfang einer sich schnell dynamisierenden Ätiologie des Duells. Doch der Text nimmt auch intertextuelle Brückenschläge vor. Bereits die schöne Kathinka in Vor dem Sturm ist mit Venus-Attributen ausgestattet.244 Und weil eine jüngere Schwester Céciles in signifikanter Stellvertretung ausgerechnet den Namen Kathinka (vgl. CE, S. 152) trägt,245 wird diese Fontane’sche Selbstreferenz auch noch onomastisch bestätigt.
242
243 244 245
lismus‹? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 111 – 127. Das Rollenrepertoire, in dem Cécile im Text gespiegelt wird, umfasst Maria Stuart ebenso wie Magdalena, reicht von Eva bis zur Hexe. Dazu im Einzelnen Voss, Literarische Präfiguration, S. 85 – 119, und Bettina Plett, Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes, Köln 1986 (= Kölner Germanistische Studien 23). Horst Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914), Tübingen 1993 (= Hermaea. Germanistische Forschungen N. F. 70), S. 332. Siehe Kapitel 3.2.2. Gemeinsame Charaktermerkmale mit ihrer Namensschwester aus Vor dem Sturm weist sie hingegen nicht auf. Über die Schwester Céciles heißt es: »Sie war […] ebenfalls sehr schön, aber ganz oberflächlich und augenscheinlich mehr nach Verhältnissen als nach Huldigungen ausblickend.« (CE, S. 152)
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Céciles tatsächlich wohl nicht halb-, sondern polnische Identität246 steht in Korrelation zum ›Exotisch-Orientalischen‹, das sie umgibt; der Roman greift mithin auch auf jenes kulturelle Wissen zurück, das den Polen ein »morgenländische[s] Gepräge« zuschreibt, zumindest eine »Mischung abendländischer und orientalischer Züge«.247 Dieser Konnex, auf den schon in Zusammenhang mit der Victoire-Figur in Schach von Wuthenow hingewiesen wurde,248 wird in Cécile unter dem Aspekt des Erotisch-Sinnlichen249 erneut aktiviert. Hubertus Fischer hat in seinem Beitrag Polnische Verwicklungen darauf aufmerksam gemacht und damit zugleich den bisher einzigen Beitrag zu Cécile vorgelegt, der sich eingehender mit polenthematischen Aspekten dieses Textes auseinandersetzt.250 246 Dazu unten Kapitel 3.4.3. 247 Die Zitate sind den Werken von Richard Otto Spazier entnommen: Geschichte des Aufstandes des Polnischen Volkes in den Jahren 1830 und 1831. Nach authentischen Documenten, Reichstagsacten, Memoiren, Tagebüchern, schriftlichen und mündlichen Mittheilungen von mehr als hundert und fünfzig der vorzüglichsten Theilnehmer. Bd. 1. 2., außerordentlich verbesserte und vervollständigte Ausgabe, Stuttgart 1834, S. 5, sowie Ost und West, S. 172. Welches große Gebiet der »Meta-Kulturraum[]« Orient im 18. und 19. Jahrhundert geographisch absteckt, hat Polaschegg, Der andere Orientalismus, S. 63 – 85, in ihrem Kapitel »Wo liegt der Orient?« detailliert dargelegt. Sie kommt zu dem Ergebnis: »Das Morgenland begann zu dieser Zeit östlich von Wien und südwestlich von Toulouse, reichte über die west- und nordafrikanische Küste bis Ägypten und hinunter nach Äthiopien, umfaßte den Nahen und Mittleren Osten, Griechenland und den gesamten Balkan, Kleinasien, Persien, Indien, Indonesien, Japan und China.« (Beide Zitate S. 85.) Die Cécile-Orientalismen lassen sich in diese Topographie einfügen. 248 Siehe Kapitel 3.1.1. 249 Zum gängigen Topos orientalischer Sinnlichkeit und Schönheit siehe Polaschegg, Der andere Orientalismus, S. 282 und passim. 250 Im Zentrum von Fischers Aufsatz stehen neben den Orientalismus-Implikationen onomastische Subtexte, worauf nachfolgend noch zurückzukommen ist. Vgl. zur Orient-Thematik in Cécile auch Lothar Schneider, Verschwiegene Bilder. Zur Rolle eines deutschen Grafen und eines russischen Malers in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Roland Berbig, Martina Lauster und Rolf Parr (Hrsg.), Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Heidelberg 2004, S. 91 – 106, der allerdings keine Korrelationen zum Polnischen herstellt. Auf die Polenthematik gehen außerdem kurz ein: Eda Sagarra, Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Zur Frage der falschen Optik in ›Cécile‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, Frankfurt am Main 1999 (= Literatur – Sprache – Region 3), S. 121 – 136 (mit Verweis auf Bismarcks Polenpolitik), und Kiefer, Der determinierte Beobachter (im Hinblick auf das Stereotyp der ›schönen Polin‹), S. 174 f. Katharina Grätz, Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hrsg.), Metro-
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Allerdings fehlt bei ihm der Hinweis auf das »große[] und prächtige[] Fliederbouquet« (CE, S. 11), das den Tisch der St. Arnauds in der Balkonszene des zweiten Kapitels ziert. Geht man davon aus, dass hier nicht der (bisweilen auch so bezeichnete) Holunder, sondern der rispenförmige (violette oder weiße, duftende) türkische Flieder gemeint ist,251 dann sieht Gordon Cécile schon zu Beginn ihrer Begegnung buchstäblich durch die orientalische »Blume«252. Zudem macht Gordon physiognomische Ähnlichkeiten aus. Als er Cécile in Berlin zum ersten Mal in ihrer Wohnung am Hafenplatz aufsuchen will, hält er sie sogleich für eine Bewohnerin des dort gelegenen »Diebitschen Hause[s]« (CE, S. 138) mit seiner aus Granada importierten Kuppel, auch Maurisches Haus genannt:253 »[…] Etwas Alhambra, das paßt ganz zu meiner schönen Cécile. Wahrhaftig, sie hat die Mandelaugen und den tief melancholischen Niederschlag irgend einer Zoë oder Zuleika. […]« (Ebd.)
Die Tatsache, dass sie dann doch im Nachbarhaus residiert, mag als räumlicher Hinweis auf Gordons ver-rückte, weil stereotyp-präformierte Optik zu lesen sein, doch auch an anderen Stellen inszeniert der Text polnisch-orientalische Kontiguität. So hört Cécile entschieden lieber von »Abenteuer, Tigerjagd, Wüste, Verirrungen [geographischen und moralischen, wie sie zugibt, A. D.]« (CE, S. 67) als von Kabellegungen an irgendwelchen Küsten, und sie ist früher, wie Clothilde in ihrem Brief berichtet, in fürstlicher Begleitung auch schon »bis Algier und Madeira« (CE, S. 172) gereist. Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich unter den Gegenständen, über die sie schließlich testamentarisch verfügt, weil diese sie »täglich umgaben«, neben einem katholischen »Opalkreuz« auch ein »türkische[r] Shawl« (CE, S. 215) befindet; er soll an das katholische Dienstmädchen Marie übergehen. Im Vermächtnis von offenbar »teure[n] Andenken an ihre Herkunft«254 werden noch einmal polnisch-orientalische Rekurrenzen offenbar.
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pole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin/ Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 9), S. 193 – 211, die die Wechselwirkung zwischen räumlicher Umgebung und Figuren(bewusstsein) in Cécile analysiert, beschränkt sich in ihrem Aufsatz auf die Handlungsschauplätze Harz und Berlin, lässt mithin den Raum von Céciles Vergangenheit beiseite. Vgl. [Art.] ›Flieder‹. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 2, Sp. 1620 f., hier: Sp. 1620. Vgl. auch Blasberg, Das Rätsel Gordon, S. 124, die jedoch nicht auf orientalische Codierungen eingeht. Fischer, Polnische Verwicklungen, S. 267. Ebd., S. 269.
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In Céciles Zuleika-Augen konvergieren orientalischer und pathologischer Code, denn sie blicken nicht nur melancholisch, sondern stehen auch noch »scharf nach innen« (CE, S. 59). Diese Sehstörung gehört als »Asthenopie« bereits zur Symptomatologie der Neurasthenie, der sich – neben der Hysterie – Céciles Krankheitsbild zuordnen lässt.255 Einbußen erhält Céciles polnische Schönheit dadurch nicht, sie wird im Gegenteil noch potenziert, weil dieser innengerichtete Blick Cécile, so sieht es Gordon, »entschieden etwas Apartes« verleiht, erst recht nicht ihren »Reiz« (ebd.) beeinträchtigt. Schon zu Beginn des Romans wird Cécile vom Erzähler als »Reconvalescentin« (CE, S. 5) eingeführt, eine Präzisierung folgt jedoch erst im vierten Kapitel, in dem St. Arnaud seine Frau an der Table d’hôte öffentlich-taktlos als »Nervenkranke« (CE, S. 22) bezeichnet, der die Harzer Luft Besserung verschaffen soll. Misslingen muss dies allerdings schon deshalb, weil Luft nicht hilft, wenn die pathologischen Ursachen nicht organisch zu verankern sind, wenn stattdessen Implikationen einer Lebensgeschichte psychosomatische Störungen hervorrufen. Tatsächlich fungiert Céciles Körper über seine Krankheitssymptome als empfindlicher Seismograph, spiegelt die pathogene Erinnerung an ein traumatisches Initialerlebnis, das Céciles Eintritt in die preußische Welt256 belastend markiert, ebenso wie ihren prekären Status als gesellschaftliche Außenseiterin.257 »Was sich Gesellschaft nennt, ist mir alles Erdenkliche, nur kein Trost und keine Freude« (CE, S. 146), bekennt Cécile in Berlin gegenüber Hofprediger Dörffel. Dass die »glücklichen Tage« (CE, S. 147) im Harz nur dem Umstand zu verdanken sind, dass Gordon »nichts [weiß] von der Tragödie, die den Namen St. Arnauds trägt und […] noch weniger von dem, was zu dieser Tragödie geführt hat« (ebd.), darüber ist sie sich im 255 Céciles Krankheitssymptome – Schwächezustände, häufiges Ruhebedürfnis, Appetitlosigkeit, Frösteln, Stimmungsschwankungen, Herzklopfen, Zittern – gehen gleichermaßen in den klinischen Befunden der Neurasthenie sowie in denen der »petite hystérie« auf. Zur Darstellung der Krankheitsthematik in Cécile grundlegend Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹, S. 318 – 392 (zur Asthenopie siehe S. 336). 256 Preußen meint hier und nachfolgend das normgebende protestantisch geprägte Preußen, das zu abweichenden (Teil-)Provinzen und Regionen in raumsemantischer Opposition steht (auch wenn diese zum preußischen Territorium gehören). 257 Vgl. [Art.] ›Nervenschwäche‹. In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. 13. Aufl. 1882 – 1887, Bd. 12, S. 141, wo neben »Überanstrengungen jedweder Art« als Krankheitsursachen »deprimierende Affekte, namentlich Kummer, Sorgen«, also soziale Einflussfaktoren, genannt werden. Unter demselben Stichwort beschreibt Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 12, S. 62, den »Einfluß einer Gemütsaufregung« in einer Belastungssituation als krankheitsauslösend.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Klaren. Die Latenz von Ereignissen, die sich in eine polnisch-preußische Konfliktgeschichte einbinden lassen, gewährt nur vorläufigen Aufschub. Welche Ereignisse gemeint sind, fasst Clothilde in ihrem Schreiben an den Bruder zusammen: »[…] Drei Tage nach der Verlobung empfing er [St. Arnaud, A. D.] einen Brief, worin ihm Oberstlieutenant von Dzialinski, der älteste Stabsoffizier, Seitens des Offiziercorps und als Vertreter desselben die Mittheilung machte, daß diese Verlobung nicht wohl angänglich sei. Daraus entstand eine Scene, die mit einem Duell endete. Dzialinski wurde durch die Brust geschossen und starb vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden. Das Kriegsgericht verurtheilte St. Arnaud zu neun Monaten Festung, wobei, neben seiner früheren Beliebtheit, auch die Thatsache mit in Rechnung gestellt wurde, daß er provocirt worden war. Provocirt, so gerechtfertigt die Haltung Dzialinskis und des gesammten Offiziercorps gewesen sein mochte.« (CE, S. 171)
Auffällig ist die dreimalige Nennung des Namens Dzialinski kurz hintereinander, die als einprägsame Wiederholungsformel wirkt.258 Unter der Prämisse, »daß alle vergessenen Bedeutungen sich in den Zeichen und Texten ablagern und gegebenenfalls aktualisierbar sind«,259 ist Hubertus Fischer der onomastischen Spur des bekannten polnischen Adelsgeschlechts »Dzialinski« [Działyn´ski] nachgegangen, vor allem der seines nahe Posen ansässigen Vertreters, Tytus Działyn´ski (1796 – 1861), und hält im Rekurs auf das generationenübergreifende nationalpolnische Engagement der Familie fest: »In Anbetracht dieser ›Bedeutung‹ nimmt sich die Namengebung in Cécile wie eine semantische Expropriation zugunsten der preußischen Militärtradition aus.«260 Die »Kontextualisierung des Namens« komme »einer Enteignung« gleich.261 Gewissermaßen kompensiert sieht dies Fischer zu Recht dadurch, dass der polnische Name nicht nur einprägsamen Eingang in Figurenreden findet, sondern auch durch diese Akzentuierung »einen Teil seiner Unverfügbarkeit, ja eine eigentümliche Macht«262 zurückgewinnt. Céciles Leben in Preußen steht unter der internalisierten Anklage eines preußischen Toten polnischer Herkunft. Als Gordon nach dem Opernbesuch noch bei ihr zu Hause auftaucht, erzählt sie ihm von der trauma258 Daneben wird er noch zwei weitere Male im Roman erwähnt (CE, S. 179 und 202). 259 Fischer, Polnische Verwicklungen, S. 271. 260 Ebd., S. 266. 261 Ebd., S. 271. 262 Ebd.
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tischen Begegnung mit dem Erschossenen,263 versucht damit zugleich, Gordons Superioritätsgebaren durch das heraufbeschworene ›Schutzschild‹ des toten Dzialinski in die Schranken zu weisen: »[…] und als ich, auch ein unvergeßlicher Tag, heimlich und voll Entsetzen in das Haus schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich mit seinen Todtenaugen ansah, als ob er sagen wollte: ›Du bist Schuld,‹ da hab’ ich’s mir in meine Seele hineingeschworen, nun, Sie wissen, was. […]« (CE, S. 202)
Während Cécile seit den Harzer Tagen Gordons Beobachterblick ausgeliefert ist, setzt sie ihre Handlungen der Selbstkontrolle eines internalisierten Totenblicks aus. Das heißt aber auch: Gordons Blick, der von jeher auf Grenzüberschreitung dringt, indem er ›dahinter‹ schauen möchte, wirken Totenaugen entgegen, die die Mahnung auf Grenzeinhaltung aussprechen, mithin die Cécile entgegengebrachten Huldigungen einschränkend regulieren sollen, um katastrophische Wiederholungen zu verhindern.264 In dieser Erinnerungsfunktion zeigt der erschossene Dzialinski lebendige Präsenz; und auf ihn kann gegebenenfalls als rhetorisches Abwehrinstrument zurückgegriffen werden. Dennoch ist die subjektive Schuld, die sich Cécile auferlegt, zu objektivieren, weil über den Anstoß, den ihre schlesische Mätressenvergangenheit hervorruft, die Kollision normkonträrer Raum-Welten am Duell wesentlichen Anteil hat. Vor diesem Hintergrund kann aber die selbstverordnete, durch Dzialinski markierte Grenze nur unzureichend sein. 263 Zu dieser traumatischen Erinnerung, auf die auch eine Bild-Vision Céciles vom blutüberströmten Gordon rekurriert (vgl. CE, S. 148), ausführlich Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹, S. 338 – 347. Anja Haberer, Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Romanen ›Cécile‹ (1886) und ›Effi Briest‹ (1894), Würzburg 2012 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 757), S. 112 – 152, die in Fontanes Cécile nur Krankheitssymptome der Nervenschwäche ausmachen will, während Hysterie diesbezüglich keine Rolle spiele (schon ein Blick in zeitgenössische Konversationslexika würde indes genügen, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen, abgesehen davon, dass der Text selbst den Hysterie-Begriff aufnimmt – siehe »hysterische[] Paroxismen«, CE, S. 148), verneint eine traumatische Ätiologie von Céciles Leiden (S. 144 f.). Sie argumentiert jedoch gegen das Trauma wenig überzeugend mit einem Freud-Text von 1892 (Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene). 264 Vgl. Cécile zu dem sich distanzlos gebenden Gordon in der ersten Begegnung der beiden in Kapitel 23 nach Eintreffen von Clothildes Brief: »[I]ch will es, daß diesen Huldigungen eine bestimmte Grenze gegeben werde. Das habe ich geschworen, fragen Sie nicht wann und bei welcher Gelegenheit, und ich will diesen Schwur halten und wenn ich darüber sterben sollte.« (CE, S. 185)
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Indem Céciles sinnlich-polnisch-orientalische Schönheit durch ihre nervös-hysterischen Symptome noch gesteigert wird, weil sie nicht nur vordergründig an optischem Reiz gewinnt, sondern im Hintergrund vermutete erotische Defizienzerfahrungen sie noch dazu »verführbar und damit auch verführerisch«265 einscheinen lassen, ist sie als polnische femme fatale wie femme fragile ausweglos-gefährlich in binationalen gesellschaftlichen Zwickmühlen positioniert. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Gordon den toten Dzialinski diametral entgegengesetzt zu Cécile funktionalisiert: Er rechnet sich durch das sie belastende Duell implizit erotische Chancen aus und konstatiert auf dem Weg zu ihr (im 23. Kapitel): »Die Liebe lebt nicht von todtgeschossenen Dzialinskis« (CE, S. 179) – sondern, so ließe sich angesichts der Avancen, die er ihr kurz darauf machen wird, ergänzen, von Männern wie ihm. »Schönheit ist eine Gefahr von Jugend auf« (CE, S. 167), stellt die Malerin Rosa Hexel einmal fest, und auch Gordon kommt in dem Brief an Clothilde zu dem Schluss: »Aber es wird ihr [Cécile, A. D.] von Jugend an nicht daran gefehlt haben, was sie wieder herabzog. Vielleicht weil sie so schön war.« (CE, S. 62) Céciles Schönheit wird mit der Tendenz zu (moralischer) Normabweichung kurzgeschlossen, ob selbstinitiativ oder fremdverführt. Dass die größte Gefahr für Cécile jedoch von dem Verehrer Gordon selbst ausgeht, von seiner »durchgängerischen Gewohnheit« (CE, S. 173), vor der ihn seine Schwester warnt, realisiert er nicht. Konfliktverschärfend treten politisch-atmosphärische Spannungen hinzu: Ausgehend von dem Befund, dass der Bismarck’sche Kulturkampf, jene antikatholische und antipolnische Profilierung des neuen Kaiserreichs, mehrfach in den Text hineinspielt und erzählerisch rekurrent sowohl in den Harz- als auch den Berlinkapiteln vergegenwärtigt wird, ist die Konstellation Gordon-Cécile nach ihren kulturkämpferischen Implikationen zu befragen.
265 Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹, S. 390. Siehe auch Gordons in Berlin aufgestellte Diagnose gegenüber Cécile: »Aber was Ihnen fehlt, das ist nicht Luft, das ist Licht, Freiheit, Freude. Sie sind eingeschnürt und eingezwängt, deshalb wird Ihnen das Athmen schwer, deshalb thut Ihnen das Herz weh, und dies eingezwängte Herz, das heilen Sie nicht mit todtem Fingerhutkraut. Sie müßten es wieder blühen sehen, roth und lebendig wie damals, als wir über die Felsen ritten und der helle Sonnenschein um uns her lag. Und dann Abends das Mondlicht […]. Unvergeßlicher Tag und unvergeßliche Stunde [ein Handkuss Gordons markierte damals den Höhepunkt ihrer Annäherung, A. D.].« (CE, S. 183)
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3.4.2 Im Kulturkampf: Preußen und Oberschlesien Gordons Projekt zur Entschlüsselung des »Räthsel[s]« (CE, S. 59) Cécile kann über die Herkunft von beobachtendem Subjekt und beobachtetem Objekt raumsemantisch hierarchisiert werden: Der Roman inszeniert im Hinblick auf konfessionell-politische wie moralische Aspekte das asymmetrische Gegenüber zweier differierender Lebenswelten – der (protestantisch-)preußischen und der (katholisch-)oberschlesisch-polnischen. Aus diesem Gegenüber ergibt sich dann dynamisch die Gefahr, die Cécile durch Gordon droht, sobald ihm ihre Vergangenheit bekannt ist. Indem Normgrenzen durch Abwertung durchbrochen werden, öffnen sich vermeintliche Schneisen für Gordons Begehren. Dass Gordon in dieser Konstellation zum Repräsentanten des Preußischen wird, irritiert nur auf den ersten Blick. Zwar ist er weitgereister Zivilingenieur, hat in Suez Telegraphieverbindungen »durch das rothe Meer und den persischen Golf« aufgebaut (CE, S. 66), stand in russischen und persischen Diensten und ist in der Handlungsgegenwart als »Bevollmächtigter derselben englischen Firma, in deren Dienst er seine Laufbahn begann«, »mit einer geplanten neuen Kabellegung in der Nordsee beschäftigt« (CE, S. 67). Aber er hat auch »den lebhaften Wunsch in preußischen Dienst zurückzutreten« (ebd.), zieht ein bescheidenes Plateau im Harz, der ihm aus Kindertagen vertraut ist (siehe CE, S. 22), »sechs Himalaya-Pässe[n]« (CE, S. 94) vor, spricht in Berlin von Glücksmomenten, die »man nur daheim« (CE, S. 169) habe. Im Text figuriert er – trotz seiner Auslandsjahre, die bei ihm eben nicht mit einer sonst bei Fontane üblichen preußischen Distanzperspektive einhergehen – als Vertreter preußischer, technisch-fortschrittlicher Bürgerlichkeit.266 Und diese steht in mehrfacher Hinsicht in Opposition zu der Lebenswelt, der Cécile ihre Herkunft verdankt. Ist von der seit 1742 preußischen Provinz Schlesien die Rede, gilt es zu unterscheiden: Denn Céciles Heimat ist Oberschlesien, also der südöstliche Teil Schlesiens, in dem die polnisch-katholische Bevölkerung in den 1880er Jahren – während dieser Zeit spielt der Roman –267 etwa drei Viertel 266 Für die Konzeptualisierung der Gordon-Figur haben die Siemens-Brüder Wilhelm und Werner, zu deren Umfeld auch ein schottischer Ingenieur namens Lewis D. B. Gordon gehörte, Anregungen geliefert. Dazu Hubertus Fischer, Gordon oder Die Liebe zur Telegraphie. In: Fontane Blätter 67 (1999), S. 36 – 58. 267 Dies ergibt sich aus dem 12. Kapitel, wo Miquel erwähnt wird, »jetzt Oberbürgermeister zu Frankfurt« (CE, S. 78). Dieses Amt hatte Johannes von Miquel von 1880 bis 1890 inne. Zwischen 1880 und 1884 kam es zur russischen Eroberung von Turkmenien, die zur Zeitungslektüre Gordons gehört (siehe CE, S. 13 f.).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
der Gesamtbevölkerung ausmachte.268 Niederschlesien hingegen ist protestantisch geprägt; hier lebt, in der Stadt Liegnitz, bezeichnenderweise Gordons Schwester. Wenn Clothilde ihrem Bruder von Cécile berichtet, in deren Mädchennamen Woronesch von Zacha schon »eine ganze slavische Welt harmonisch zusammenklingt« (CE, S. 171), dann tut sie dies – Differenz markierend – aus preußischer Perspektive; innerhalb des schlesischen Binnenraums bestehen ost-west-distinktive nationale und konfessionelle Grenzen.269 Merkmalszuweisungen, die im Text den oberschlesischen Raum betreffen, sind ausschließlich im Zusammenhang mit Céciles Herkunftsgeschichte – in ihren Worten: der »Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha« (CE, S. 202) samt ihren polnischen und höfischen Implikationen – zu sehen. Dies gilt bereits für die temporale Zuordnung des Raums, steckt er doch nicht nur topographisch Céciles Vergangenheit ab, sondern gerät metonymisch über ihren Status als ehemalige Fürstengeliebte zugleich unter den Vorwurf des Unzeitgemäßen. Während die preußische Welt der Romangegenwart das »Zeitalter Otto von Bismarcks« (CE, S. 92) repräsentiert, wird der oberschlesische Raum mit dem anachronistischen System der alten Duodezfürstentümer und ihrem Mätressenwesen korreliert. Und dass diese Lebensform als überholt und überwunden gilt, macht Gordon 268 Vgl. hierzu [Art.] ›Schlesien‹. In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. 13. Aufl. 1882 – 1887, Bd. 14, S. 388. Die Provinz Schlesien wurde 1815 in drei Regierungsbezirke aufgeteilt: Liegnitz, Breslau und Oppeln. Geographisch gehörten die administrativen Bezirke Liegnitz und Breslau zu Niederschlesien, der Bezirk Oppeln zu Oberschlesien (ebd., S. 391). 269 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die im schlesischen Riesengebirge situierten Geschichten, die Fontane in den Sammelband Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten (1894) integrierte: Eine Nacht auf der Koppe. (1890.); Der letzte Laborant. (1891.); Gerettet! (1891.); Der alte Wilhelm. (1892.). In ihnen spielt Polenthematisches keine Rolle. Vgl. GBA Von vor und nach der Reise. Für den Roman Quitt (1891), dessen erster Teil im Riesengebirge angesiedelt ist, gilt dies ebenfalls weitgehend. Allein im Amerika-Teil des Textes taucht die 60 Jahre alte Polin Maruschka auf, die als treue und gut wirtschaftende Dienerin zum Hauswesen von Obadja, dem Leiter der multikulturellen Mennoniten-Gemeinde Nogat-Ehre gehört. Ihre polnische Identität – die genaue Herkunft der früh verwaisten Maruschka ist unbekannt, und von der polnischen Sprache ist »ihr nicht viel geblieben« – manifestiert sich nur noch im katholischen Glauben: »In ihrem Katholicismus aber hatte der Hausherr […] sie jederzeit gewähren lassen, entweder aus Respekt vor jeder aufrichtigen Glaubensform, oder weil er der Ansicht lebte, daß Maruschka zu den Auserwählten gehöre, die nicht um ihres Glaubens, wohl aber […] um ihrer Einfalt willen selig werden.« (Beide Zitate GBA Quitt, S. 194.)
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beim Anblick der »verblaßte[n] Herrlichkeit« (CE, S. 97) von Schloss Todtenrode im Harz mit abwertender Geste deutlich: Spöttelnd lässt er sich über die »Geschichte dieser Duodezfürsten« (CE, S. 98, Hervorh. A. D.) und ihren freizügigen Lebensstil aus. Und angesichts der Porträtgalerie von Fürstäbtissinnen in Schloss Quedlinburg – eine von ihnen, Aurora von Königsmarck, war ehemals Mätresse des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August des Starken – kommt er zu dem Schluss, »daß es nichts Todteres giebt, als solche Galerie beturbanter alter Prinzessinnen« (CE, S. 53), deren Entstehungsgeschichten »meistens beleidigend und ein Verstoß gegen Geschmack und gute Sitte« (CE, S. 54) seien. Kulturraumspezifische Differenzen werden zudem über Céciles Vergangenheit als Mätresse von zwei Fürsten markiert, die den fiktiven, aber signifikanten Namen von Welfen-Echingen tragen (Cécile wird als 17Jährige vom alten Fürsten eingestellt, leistet aber nach dessen Tod dann dem Neffen Gesellschaft, der allerdings kränklich ist und nur ein Jahr später ebenfalls verstirbt).270 Das auffallende onomastische Zitat271 stellt den Konnex zur welfischen Dynastie her, die sich nach der Annexion ihrer Gebiete, des Königreichs Hannover und des Herzogtums Braunschweig, durch Bismarck im Jahre 1867 für eine Restitution des alten Welfenstaates einsetzte. Samt ihren Anhängern wurde sie ebenso wie die Katholiken während des Kulturkampfs zu den »Reichsfeinden« gezählt, zumal man sich auch noch politisch gemeinsam in der Partei des politischen Katholizismus, der Zentrumspartei, organisierte.272 270 Ob Schloss Cyrillenort, wo Cécile als Fürstenmätresse gelebt hat, kartographisch in Ober- oder Niederschlesien liegt, präzisiert der Text nicht. Das Namensvorbild von »Cyrillenort«, Schloss Sybillenort – dazu Manfred Thienel, Personelle und örtliche Bezüge zu Fontanes ›Cécile‹. In: Fontane Blätter 59 (1995), S. 123 – 125 –, liegt nahe dem niederschlesischen Breslau. In der dargestellten Welt verschieben sich jedoch die Akzente: Aufgrund ihres funktionalen Bezugs zu Cécile sind die Fürsten raumsemantisch dem Oberschlesischen zuzuordnen. Zumindest Teile des fürstlichen Besitzes liegen außerdem in Oberschlesien, was daraus ersichtlich ist, dass der alte Fürst Cécile ein oberschlesisches Gut vermacht (siehe CE, S. 172). 271 Vgl. Gerhard Friedrich, Die Schuldfrage in Fontanes ›Cécile‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 520 – 545, zur Genese des Namens »Welfen-Echingen«: »Es handelt sich hier um ein aufschlußreiches Beispiel der Namengebung in den Romanen Fontanes. Unter den Gästen in Thale befand sich 1884 [Fontane hielt sich dort im Juni auf, A. D.] eine Gräfin Rothenburg, Schwiegertochter des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, die bei der Konzeption der Cécile eine Rolle spielte. Bei ›Hohenzollern‹ assoziiert Fontane ›Welfen‹ und läßt das ›H‹ von Hechingen fallen!« (S. 523) 272 Da das Zentrum starke Vorbehalte gegen die unitarische Tendenz des Bismarckstaates zeigte, zog es konfessionsübergreifend Partikularisten (wie die vorwiegend
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Peter Sprengel und Eda Sagarra haben detailliert dargelegt, inwiefern die Kulturkampf-Thematik den Roman Cécile infiltriert.273 Die im Text verstreuten Anspielungen auf Bismarcks 1871 begonnenen politischen »Präventivkrieg zur Sicherung des Reichs«274, der sich gegen die katholische Kirche und das Zentrum wandte, sind nicht zuletzt deshalb zu beachten, weil Bismarck den Kulturkampf vor allem auch gegen die Polen richtete: Die polnischen Geistlichen in Posen und Teilen Westpreußens und Schlesiens betrachtete er [Bismarck, A. D.] als Agenten einer »Polonisierung«, da sie in den Volksschulen in ihrer Eigenschaft als Schulinspektoren die polnische Sprache fördern konnten. Insofern war es kein Zufall, daß Bismarck auf diesem Felde den ersten Schlag gegen den politischen Katholizismus führte: Im Juli 1871 wurde die 1841 errichtete »katholische Abteilung« im Kultusministerium aufgelöst, weil man ihrem Leiter eine Unterstützung der Polonisierungstendenzen des Klerus in den preußischen Ostprovinzen vorwarf. Über die Jahre hinweg hat Bismarck bei unterschiedlichen Anlässen betont, der Ursprung des Kulturkampfs liege in der polnischen Frage – diese Aussage sollte man ernst nehmen.275
Dass »[d]ie Milieus […] lange, auch nach dem Ende des Kulturkampfes, wirksam, gegeneinander abgeschottet [bleiben]«,276 zeigt sich auch im Roman Cécile, der in seiner zeitlichen Situierung bereits in die politische Entspannungsphase des Kulturkampfs fällt. Dennoch wird er Gesprächsthema einer Mittagsgesellschaft bei den St. Arnauds im 20. Kapitel, zu der neben Gordon und Rosa Hexel vorwiegend »Frondeurs« (CE, S. 154) gehören. St. Arnaud wirft die berühmten Bismarck-Worte aus einer Reichstagsrede vom 14. Mai 1872 »Seien Sie außer Sorge: Nach Canossa
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protestantischen Welfen) an sich. Überhaupt solidarisierte sich die Zentrumspartei mit Außenseitern des Deutschen Reiches, so auch mit den katholischen Elsässern und Polen (Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 370). Siehe vor allem Sprengel, Von Luther zu Bismarck, S. 21 – 29 – die dortigen Ausführungen zu Cécile sind in großen Teilen textidentisch mit Sprengels Aufsatz: ›Nach Canossa gehen wir nicht!‹ Kulturkampfmotive in Fontanes ›Cécile‹. In: Delf von Wolzogen und Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 1, S. 61 – 71 –, aber auch Sagarra, Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Sprengel funktionalisiert die Kulturkampf-Thematik im Hinblick auf Céciles Katholizismus, ohne dabei ihre oberschlesisch-polnische Herkunft spezifisch herauszustellen. Sagarra nimmt zwar, wie bereits erwähnt, auf Bismarcks Polenpolitik Bezug, greift aber Gordons »Antipolen-Klischees« nur kurz auf (siehe S. 129). Kolb, Bismarck, S. 107. Ebd., S. 106. Siehe auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 373. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 380.
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gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig!«277 in die Runde, verkürzt und mit dem Zusatz »Aber wir gehen doch« (CE, S. 158), und veranlasst damit Geheimrat Hedemeyer, nun seinerseits über Bismarcks politischen Strategiewechsel zu perorieren: »[…] Nach Canossa gehen wir nicht! O nein, wir gehen nicht, aber wir laufen, wir rennen und jagen dem Ziele zu und überliefern einer beliebigen und beständig wechselnden Tagesfrage zu Liebe die große Lebensfrage des Staats an unseren Todfeind. Die große Lebensfrage des Staats aber ist unsere protestantische Freiheit, die Freiheit der Geister!« (CE, S. 159 f.)
Bemerkenswert ist dies vor allem, weil Gordon schließlich dem Gesagten zustimmt (»Und doch war vieles richtig, was er sagte«, CE, S. 166); und auch weil Rosa Hexel das Diktum Hedemeyers von der »Freiheit der Geister« auf dem Heimweg mit Gordon ins Frivole umdeutet (»[s]ein ganzer Liberalismus ist Libertinage«, CE, S. 166) und dadurch dessen Groll auf den Geheimrat zusätzlich befördert: Der Eklat in der Oper, Gordons Eifersuchtsauftritt in der Loge, kann letztlich in einer Wirkungskette bis zu Hedemeyers Kulturkampf-Rede zurückgeführt werden. In der CécileGordon-Beziehung spiegeln sich kulturkämpferische Frontstellungen. Schon aufgrund seines Berufsbildes ist Gordon auf der Seite der »Kulturkampfbeflissenen« zu positionieren: Sie »hatten die Mentalität der Beweger und Macher, sie fühlten sich und gaben sich als die Leute von Leistung und Fortschritt«;278 Cécile, die zwar wegen ihrer Ehe zum Protestantismus konvertiert ist, jedoch über ihre Vergangenheit und Gordons Projektionen im Text als Katholikin und Polin figuriert, rückt hingegen ins ideologisch bekämpfte Lager.279 277 Bismarck rekurriert hierbei auf den Bußgang König Heinrichs IV. im Jahr 1077 zur Burg Canossa in Oberitalien, durch den dieser die Lösung vom Bann Papst Gregors VII. erreichte. Im kollektiven Gedächtnis galt dieses Ereignis als tiefste Demütigung eines deutschen Königs (und späteren Kaisers) vor dem Papst. Dazu Otto Gerhard Oexle, Canossa. In: François und Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, S. 56 – 67, hier: S. 56. 278 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 378. 279 Zur Kulturkampfthematik in Cécile gehört auch eine »stumme[] KulturkampfAllegorie« (Sprengel, Von Luther zu Bismarck, S. 25) im achten Kapitel, als sich beim Ausflug nach Quedlinburg die Prioritätsfrage zwischen Schloss und Kirche stellt. St. Arnaud plädiert für die Besichtigung des Schlosses, weil »Herrendienst vor Gottesdienst« (CE, S. 47) gehe. Gordon ergänzt: »Preußen-Moral! Aber wir sind ja Preußen.« (Ebd.) Quedlinburg gehört tatsächlich (wie der Kurort Thale) zur preußischen Provinz Sachsen. An der diffizilen Topographie des Harzes partizipieren Braunschweig, Preußen und Anhalt. Bezeichnenderweise spielt sich die Handkuss-Szene zwischen Gordon und Cécile auf dem Rückweg von Altenbrak im
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Erstmals fällt das Stichwort »Canossa« bereits in den Harz-Kapiteln: Eginhard aus dem Grunde, langhaariger Privatgelehrter mit »Botanisirtrommel« (CE, S. 19) und hohenzollernkritischer Askanier-Spezialist, belehrt die schnell gelangweilte Cécile über »Kaiserthum und Kaiserherrlichkeit« (CE, S. 79) im Harz und gibt ihr sogleich eine Besichtigungsempfehlung: Sie solle Harzburg ersteigen, wo »die Lieblingsburg des zu Canossa gedemüthigten Heinrich« (ebd.) stand – und seit 1877 stattdessen die sogenannte Canossa-Säule mit, so St. Arnaud, »der berühmt gewordenen Inschrift« (CE, S. 158), dem Bismarck-Zitat. Dass sich Eginhard der Zeichenvorgabe seines Namens gemäß der »halbvergessenen und eines dankbaren Gedächtnisses doch so würdigen Askanier« (CE, S. 29) annimmt, um sie aus der Tiefe der Geschichte zu holen (die Hohenzollern sieht er nur als Fortsetzer des askanischen Erbes), kontrastiert freilich mit den Tilgungsstrategien, die seine eigene Familienhistorie kennzeichnen. Eginhards Wurzeln liegen nämlich in Polen, wie er St. Arnaud erzählt; um die fremde Herkunft vergessen zu machen, wurde der polnische Name zwei Generationen zuvor einfach ersetzt:280 »[…] Mein Urgroßvater kam glaubenshalber aus Polen und hieß ursprünglich Genserowsky […]. Einer der Söhne, mein Großvater, war homo literatus, zugleich Verfasser einer griechischen Grammatik, und um ganz mit den polnischen Erinnerungen zu brechen oder vielleicht auch wegen eines dem deutschen Ohre nicht unbedenklichen Namensanklanges, ließ er den Genserowsky fallen und nannte sich ›Aus dem Grunde‹. […]« (CE, S. 89)
Eginhard, schon durch seine sonderbare Kleidung als komische Figur gezeichnet – Fontane gab vor, in ihr eine »Gelehrtenkarikatur abzukonterfeien«, wie er sie unter »allerhand Ödheiten in den Berliner und brandenburgischen Geschichtsvereinen«281 kennengelernt hatte –, fällt aus dem Ensemble Fontane’scher Polenfiguren heraus: Ausnahmsweise sorgt der familiäre Wechsel von Polen nach Preußen offenbar nicht für Orientierungskrisen (wie dies in Vor dem Sturm zum Tragen kam). Dass die Integration gelungen ist, mag damit zusammenhängen, dass der initiale Grenzübertritt aus konfessionellen Gründen erfolgte, also das Katholische als wichtiges polnisches Identitätsmerkmal wegfällt. Fördernd mag auch braunschweigischen Teil des Harzes ab. Vgl. die [Art.] ›Harz‹ in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, 13. Aufl. 1882 – 1887, Bd. 8, S. 878, und in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 8, S. 194. 280 Vgl. dagegen Tubal in Vor dem Sturm, der den Namen noch als irreversible polnische Bindungsgröße ausgegeben hatte. Siehe dazu Kapitel 3.2.3. 281 Fontane an seinen Sohn Theodor, 8. 9. 1887 (HFA IV/3, S. 559).
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ein historistisches Verständnis wie das von Eginhard wirken, nämlich »Personen und Thaten aus ihrer Zeit heraus zu begreifen und sich vor Sentimentalitäten zu hüten« (CE, S. 90), mithin Geschichte (und sei es auch nur die Familiengeschichte) rückblickend nicht in Frage zu stellen. Eginhards Identitätsverständnis ist jedenfalls nicht national-historisch verankert, sondern mit der Namenssemantik ›Aus dem Grunde‹ verknüpft: »[…] Das einigermaßen Anspruchsvolle darin verkenn’ ich nicht, aber der Name ist mir überkommen und so kann es mir persönlich nur obliegen, ihm, nach dem bescheidenen Maße meiner Fähigkeiten, Ehre zu machen.« (CE, S. 89)
Mit diesem Namenserbe, das in seinem tiefendimensionalen Anspruch auf ein Kernmerkmal deutschen Selbstverständnisses rekurriert, tritt Eginhard in der Romangegenwart explizit »als Deutscher« (CE, S. 91) auf, der den Askaniern wider alle Vergessensstrategien eines »oberflächliche[n] Geschichtsunterricht[s]« (CE, S. 29 f.) die Treue hält, während die polnische Herkunft im Kontext gepriesener »Loyalität« (CE, S. 92) Leerstelle bleibt. Vom Privatgelehrten Eginhard wird Cécile nicht nur auf Harzburg, sondern ebenso auf die Kaiserpfalz in Goslar hingewiesen, »die die mächtigsten Herrschergeschlechter, die Träger des ghibellinischen Gedankens in schon vor-ghibellinischer Zeit, in ihrer Mitte sah« (CE, S. 79). Der Rückbezug der Hohenzollern auf das mittelalterliche Kaiserreich, die Kämpfe der staufischen Herrscher und ihrer Anhänger (Ghibellinen) gegen den Papst und die ihn unterstützenden oberitalienischen Städte (Guelfen) gehörte im Kulturkampf zum gängigen rhetorischen und ideologischen Inventar. Die Konflikte ließen sich auch deshalb instrumentalisieren, weil sie als solche zwischen Zentralmacht und (unzuverlässigen) Partikulargewalten dargestellt werden konnten.282 In diesem Konnotationszusammenhang gerät Cécile über ihre Vergangenheit als ehemalige Mätresse zweier partikularstaatlicher Fürsten von Welfen-Echingen einmal mehr in die kulturkämpferische Defensive; Gordons Zweifel an Céciles Zuverlässigkeit in ihrem letzten gemeinsamen Gespräch – »Sie gehören dem Augenblick an und wechseln mit ihm« (CE, S. 203) – können mit ihren reichsfeindlichen Attributen als Welfin und polnischer Katholikin in doppelte Korrelation gesetzt werden.
282 Funke/Hehle in: GBA Cécile, S. 238.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
3.4.3 ›Polnische Wirtschaft‹ und ihre Folgen Während Céciles Position als kulturkämpferisch bedrohte Außenseiterin über verstreute Textdaten eruiert werden muss, lassen sich Informationen zu Céciles Lebensgeschichte in gebündelter Form zwei Binnentexten entnehmen: dem Brief Clothildes, den Gordon verspätet in Berlin erhält (Kapitel 21), und dem darin eingelegten Zettel von Eva Lewinski (Kapitel 22), die »lange bei den Hohenlohes in Oberschlesien war und ihre Kinderjahre mit Cécile verlebt hat« (CE, S. 173). Was Clothilde bietet, ist vorgeblich Aufklärung über »die Vorgänge, die seinerzeit [vor vier Jahren, A. D.] viel von sich reden machten« (CE, S. 170), also die »St. ArnaudGeschichte« (CE, S. 173). Eva Lewinski, die zwar einen polnischen Namen trägt, aber im Text als Sprecherin aus preußisch-deutscher Perspektive auftritt, sieht sich dagegen in der offenbar nicht unerwünschten Lage, »von der Familie Zacha zu plaudern« (CE, S. 174). Gemeinsam ist beiden Schriftstücken, dass sie mit dem emphatisch-stereotypen283 Wahrnehmungsraster der ›polnischen Wirtschaft‹ als Narrationsmuster operieren; Céciles oberschlesische Vergangenheit und damit ihr polnisches Herkunftsmilieu werden entsprechend über die dominanten Merkmale284 ›(moralische) Unordnung‹ und ›Verschwendung‹ vermittelt. Die Reaktionen auf diese Briefzeugnisse inszeniert der Text als körperliche Entrüstungen des oppositionell gesetzten bürgerlich-preußischen Rezipienten Gordon, der den Pflicht-Begriff zu seiner Lebensmaxime285 erhoben hat und schon bei seiner Ankunft in Berlin als jemand vorgeführt wurde, der in der Wohnung erst einmal »Ordnung« schafft (CE, S. 135 f.). Clothildes Brief bringt ihn in »Erregung«, von »hastigen Schritten« ist die Rede, Fenster werden aufgerissen, weil es ihm ist, »als ob er ersticken solle« (CE, S. 174). Nach der Lektüre des Lewinski-Zettels »zittert[…]« (CE, S. 176) er, beruhigt sich scheinbar nur kurz, denn »[e]r drehte den Zettel noch immer zwischen den Fingern, zupfte daran und knipste gegen Rand und Ecken, alles ohne zu wissen, was er that« (CE, S. 177).286 Diese Körperreaktionen gehen mit inneren Monologen einher, Resümees, in denen Gordon Céciles Vorleben als Konglomerat von Anti-Tugenden 283 Vgl. Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹, S. 54. 284 Vgl. Orłowski, Stereotype der ›langen Dauer‹, S. 273. 285 Vgl. »Der Mensch lebt, um seine Pflicht zu thun und zu sterben. Und das Zweite beständig gegenwärtig zu haben, erleichtert einem das Erste.« (CE, S. 151) 286 Wenn also Lewinskis Vorname »Eva« von Relevanz ist, dann wäre seine kulturellgängige Implikation der Verführung nicht im erotischen Sinne zu verstehen, sondern im Sinne einer Verführung Gordons durch das Stereotyp.
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ausgibt (und implizit-komplementär dazu das preußisch-deutsche Vorbild von ›Moral‹ und ›Schule‹ ins Feld führt): Fürstengeliebte, Favoritin in duplo, Erbschaftsstück von Onkel und Neffe! Und dazwischen der Kammerherr, – ein Schatten, der sich schließlich gesträubt hatte, sich zum Ehemann zu verdichten. (CE, S. 174) »Ja, das entwaffnet! Groß gezogen ohne Vorbild und ohne Schule, und nichts gelernt als sich im Spiegel zu sehen und eine Schleife zu stecken. Und nie zu Haus, wenn eine Rechnung erschien. Und doch tagaus und tagein am Fenster und in beständiger Erwartung des Prinzen […].« (CE, S. 176 f.)
Die Wirkung dieser kulturasymmetrischen Rezeption ist fatal: Sie wird bereits indiziert, als sich Gordon unmittelbar nach Clothildes Brief noch den beigefügten Zettel vornimmt: »Lieber die ganze Dosis auf einmal als tropfenweis. Und wer weiß, vielleicht ist auch etwas von Trost und Linderung darin« (CE, S. 174). Gordon verleibt sich die Schriftstücke lesend regelrecht ein, nimmt sie in sich auf.287 Und analog zur Überdosis Fingerhut, mit der sich Cécile tötet, während fünf Tropfen zuvor noch Heilzwecken dienten (siehe CE, S. 182), wird die ›verdauende‹ Rezeption der Briefe letztlich für Gordon letale Folgen haben, weil sie diätetisch auf ausgleichende ›Entladung‹ zusteuert und jenes Verhalten maßgeblich konditioniert, das zum Duell führt.288 Nur vorübergehend kann Gordon die Wirkung seiner Lektüre relativieren, indem er sich Diffusion und Wahrnehmungstrübung eingesteht – »Die Nebel drüben sind fort, aber ich stecke darin, tiefer, als ob ich auf dem Watzmann wär’ […]« (CE, S. 177) –, doch zieht er daraus keine handlungsleitenden Konsequenzen der Mäßigung. Noch einmal ist auf die erzieherischen Defizite zurückzukommen, die der oberschlesischen Lebenswelt Céciles als konstitutives Merkmal zugeordnet werden. So schreibt Clothilde gegen Ende ihres Briefes: »[…] Ihre [Céciles, A. D.] frühesten Jugendjahre haben alles an ihr versäumt und wenn es auch nicht unglückliche Jahre waren (vielleicht im Gegentheil), so waren es doch nicht Jahre, die feste Fundamente legen und Grundsätze befestigen konnten. […]« (CE, S. 173)
Wenn Clothilde damit Céciles Leben am fürstlichen Hof, das von der Familie nach ihrer Rückkehr bejubelt wird, über das Herkunftsmilieu zu 287 Blod-Reigl, ›… der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen …‹, S. 410. 288 Vgl. ebd. und Claus-Michael Ort, ›Stoffwechsel‹ und ›Druckausgleich‹. Raabes ›Stopfkuchen‹ und die ›Diätetik‹ des Erzählens im späten Realismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2003, S. 21 – 43.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
rechtfertigen versucht, ja Gordon noch zur Nachsicht mahnt, dann verfährt sie insofern kontraproduktiv, als sie von Eva Lewinski Zeilen über Céciles Kinderjahre erbittet; denn diese legen nun detailliert dar, was »versäumt« wurde, fokussieren dabei sowohl Vater- als auch Mutterinstanz. An beiden können die für das Stereotyp der ›polnischen Wirtschaft‹ so konstitutiven »Contraste von Überfluß u. Mangel«289 beispielhaft vorgeführt werden. Einerseits ging es zu Lebzeiten des Vaters »hoch her«, als rundum beliebter »Cavalier, schöner Mann und Anekdotenerzähler« gab er »die besten Frühstücke«, andererseits zeigt er sich in seiner Stelle als »Betriebsdirector bei den Hohenlohes« (CE, S. 174) unfähig und untätig; trotz »hohe[m] Gehalt« (CE, S. 174 f.) lebt man über die Verhältnisse, Schulden häufen sich an, der Vater begeht (öffentlich vertuschten) Selbstmord, weil die »Verlegenheiten […] zu groß geworden [waren]« (CE, S. 175). Die Witwe mit drei Kindern erregt anfangs Mitleid, wird von einer Herzogin unterstützt, bis es sich die schöne Frau von Zacha (die noch schöner ist als Cécile!) regelrecht verscherzt: »[D]ie Wirthschaft war zu toll« (ebd.). In einer ambivalenten Gleichzeitigkeit von ökonomischer Misswirtschaft und repräsentativem Lebensstil zeigen sich Strukturen der Wiederholung. Das Leben wird inszeniert – dies betrifft die im familiären Binnenkreis betriebene aufwendige Zelebrierung tatsächlich karger Mahlzeiten, die im Brief ausführlich beschrieben wird, ebenso wie die Kleiderausstattung. Die niedrige Pension wird ausgegeben, sobald sie kommt: »[…] Dann gaben sie Festlichkeiten und schafften neue Rüschen und Bänder an, auch wohl Kleider, aber immer noch Trauerkleider, weil die Mutter wußte, daß ihr schwarz am besten stände. Vielleicht auch, weil sie gehört hatte, daß Königin-Wittwen die Trauer nie ablegen. […]« (Ebd.)
Während Fassade und Oberflächenwirkung demnach als bestimmende Faktoren der polnischen Lebenswelt herausgestellt werden, die dem Zweck dienen, Aufmerksamkeit zu erregen (was ja auch bei den Fürsten und St. Arnaud gelingt), kommen zu privilegierende Aspekte ›dahinter‹ wie (moralische) Erziehung und Bildung zu kurz. »An Erziehung war nicht zu denken« (ebd.), konstatiert Eva Lewinski, und aus einem preußischen Selbstverständnis heraus, das Bildung zu seinen Grundpfeilern erklärt:290 289 Siehe den im Kapitel 3.1.3 zitierten Auszug aus Pierers Universal-ConversationsLexikon. 290 Entsprechend fällt Céciles Unbildung schon im Harz mehrfach auf. Der Erzähler hält ihre »verwunderliche[] Summe von Nicht-Wissen« (CE, S. 28) fest, St. Arnaud meint zu ihr: »Und doch wär’ es gut, Du könntest Dich etwas mehr kümmern um diese Dinge, vor allem mehr sehen, mehr lesen« (CE, S. 39), und Gordon schreibt
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»Oft mußten wir lachen über den Grad von Nichtbildung« (ebd.). Diese lachende Distanz ist Gordon als Liebes-Verstricktem nicht möglich, stattdessen ist sein Rezeptionsakt von der Frage nach der eigenen Positionierung gegenüber Cécile gelenkt. Wenn er erzieherische Mängel für das Unvermögen verantwortlich macht, »nein« zu sagen (CE, S. 177) – »Dir ist die höhere Moral nicht an der Wiege gesungen worden, und Oberschlesien mit Adelsanspruch und Adelsarmuth war keine Schule dafür« (CE, S. 190) –, dann lässt sich die postulierte Nicht-Existenz von (moralischen) Grenzen zum eigenen Vorteil nutzen. Gordon macht als prägende Interaktionsform im oberschlesischen Raum das ›Spiel‹ aus – »Ja, spielen, spielen; das ist die Hauptsache. Nur kein Ernst, nicht einmal im Essen« (CE, S. 177) – und bietet sich sozusagen als Mitspieler in der Gegenwart an, zumal Céciles Unbildung ihre weibliche Attraktivität keineswegs schmälert.291 Nun kann das ›Spiel‹ für Unterschiedliches stehen: das Kartenspiel (»er [der Pole, A. D.] […] liebt Trunk u. Spiel«292), das Spiel als Un-Ernst, als der den Polen gängig attestierte »leichte Sinn«,293 auch »Leichtsinn«,294 schließlich kann auch das Leben auf dem Spiel stehen, wie Cécile es zu Gordon sagt, der ihr die Fingerhut-Medizin verabreichen soll: »Aber zählen Sie richtig und bedenken Sie, welch’ ein kostbares Leben auf dem Spiele steht.« (CE, S. 182) Und es kann das Inszenierungsspiel des Theaters, ob Komödie oder Tragödie, meinen. All diese Semantiken reichen in das tödliche Finale von Cécile mit hinein,295 das sich in immer rascherem Erzähltempo vollzieht (der Erzähler tritt weitgehend zurück, stattdessen wird diversen Binnen-
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im Brief an seine Schwester von Céciles »naive[m] Minimal-Maß ihrer Bildung« (CE, S. 60). Einem Eseljungen, der mit dem Begriff »Himalaya« etwas anzufangen weiß, kann Gordon hingegen zurufen: »Ja, der preußische Schulmeister … Zu welch’ erstaunlichen Siegen wird uns der noch verhelfen!« (CE, S. 88) Der darauf folgende Dialog zwischen Gordon und Cécile gipfelt in ihrem Diktum: »Alle Preußen sind so conventionell in Bildungssachen […].« (Ebd.) Vgl. Gordon im Brief an seine Schwester, wo er Cécile das Fehlen von jenem »Esprit« attestiert, »der adorirten Frauen fast immer zu Gebote steht« (CE, S. 60), und dagegen das, was er gegenüber Cécile äußert: »[I]ch kenne Frauen, deren zustimmendes Schweigen mir mehr bedeutet, als Rosas witzigstes Wort.« (CE, S. 182) Siehe den in Kapitel 3.1.3 zitierten Auszug aus Pierers Universal-ConversationsLexikon. Ebd. Ebd., sowie den dort zitierten Ausschnitt aus Meyers Konversations-Lexikon. Valérie Leyh, ›Zwischen Ernst und Scherz‹. Tragik und Komik in Theodor Fontanes Roman ›Cécile‹. In: Germanistische Mitteilungen 37.1 (2011), S. 21 – 37, nimmt diese Differenzierung des Spiels nicht vor, stellt auch keine polenthematischen Korrelationen her.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
texten Raum gegeben, zu denen gehören: briefliche Duellforderung St. Arnauds an Gordon, Abschiedsbrief Gordons an Cécile, Zeitungsnotiz über das Duell, Brief Arnauds von der Riviera an Cécile, Schreiben des Pastors Dörffel an St. Arnaud nach Céciles Tod mit einem abschriftlichen Auszug aus ihrem Testament). Gordon, der trotz kurzer Reflexionsmomente der Anerkennung für Cécile (»sie will aus dem alten Menschen heraus, aufrichtig und ehrlich«, CE, S. 190), der warnenden Zurückhaltung (»man soll nicht mit dem Feuer spielen«, CE, S. 189), doch wiederholt fürchtet, »ein bloßes Spielzeug in Weiberhänden« (CE, S. 203; siehe auch CE, S. 190) zu sein, dem Cécile mit ihren Bitten um Wahrung der Grenzen eine »Komödie« (CE, S. 187) vorspiele, gerät tatsächlich als weiteres Opfer in die »Tragödie« (CE, S. 147 und 185) der St. Arnauds hinein. Dabei hätte es ihm schon zu denken geben müssen, dass er kein guter ›Spieler‹ ist, wurde er doch ehemals wegen Schulden aus der preußischen Armee entlassen (siehe CE, S. 66). Und mit St. Arnaud, einem regelrechten »Jeu-Oberst« (CE, S. 63 und 153), der die meiste Zeit im »Haute-Finance-Club, in dem Billard, Skat und L’hombre mit beinah wissenschaftlichem Ernst gespielt wurde« (CE, S. 153), verbringt, der quasi ein Berufsspieler ist, steht ihm ein diesbezüglich überlegener Gegner gegenüber. Wenn St. Arnaud seinen Konkurrenten Gordon schließlich zur Rechenschaft zieht, dann freilich nicht aus verletzter Ehre,296 sondern aus verletztem »Stolz« (CE, S. 207): »Und dieser Durchschnitts-Gordon […], der hatte geglaubt, über ihn weg sein Spiel spielen zu können. Dieser Anmaßliche …« (ebd.).297 Noch in der Mitteilung an Gordon, die die Aufforderung zum Duell beinhaltet, operiert St. Arnaud mit der Spiel-Metapher: »[…] Daß Sie, mein Herr von Gordon, […] einen Ton angeschlagen und ein Spiel gespielt haben, das Sie besser nicht gespielt hätten, verzeih’ ich Ihnen. Ich finde mich darin zurecht, denn ich kenne die Welt. Daß Sie dies Spiel aber trotz Abmahnung und Bitte wiederholten und vor allem wie Sie’s wiederholten, das, mein Herr von Gordon, ist unverzeihlich. […]« (CE, S. 208)
Während Cécile ihren Mann bei einem »Sport, eine[r] Club-Laune, vielleicht ein[em] Wettritt neben dem Eisenbahnzuge her« (CE, S. 210) ver296 Helmut Kreuzer, Zur Erzähltechnik in Fontanes ›Cécile‹ [1993]. In: Ders., Aufklärung über Literatur. Autoren und Texte. Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2: Hrsg. von Wolfgang Drost und Christian W. Thomsen, Heidelberg 1993 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 116. Germanistische Abteilung), S. 124 – 134, hier: S. 127. 297 Céciles Bitte um Mäßigung hört St. Arnaud nicht, verdächtigt sie stattdessen, »das uralte Frau Eva-Spiel, das Spiel der Hinhaltungen und In-Sichtstellungen über das rechte Maß hinaus gespielt [zu] haben« (CE, S. 205).
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mutet, ficht er stattdessen »den Handel« (CE, S. 209) in Dresden aus, trifft Gordon tödlich im Duell. Im Bann seiner Brieflektüre hat Gordon letztlich das ›Spiel‹ falsch dimensioniert, hat ihn der »Ernst«, auf den er als Norm rekurrierte, selbst eingeholt. Der Abschiedsbrief, den Cécile von Gordon erhält, verbindet die zweifach ausgesprochene Bitte der »Verzeihung« (CE, S. 211) mit dem Bekenntnis später Einsicht: Gordon rekurriert nun seinerseits auf das Herz, jener von Cécile im letzten gemeinsamen Gespräch aufgerufenen, alle Sinnesvermögen bündelnden Wahrnehmungs- und Beurteilungsinstanz,298 dessen Stimme er hätte »rückhaltlos gehorchen sollen« (ebd.). Dass es »so kam […] wie es kam« (ebd.), schreibt er einer Sinnesstörung zu, einer »Trübung« (ebd.). All das, was sich nach dem Eintreffen von Clothildes Brief (mit dem Einlegezettel von Eva Lewinski) unter der Wirkmacht ›polnischer Wirtschaft‹ zwischen Gordon und Cécile ereignete, wird einer neuen Bewertung unterzogen, indem Modi der Wahrnehmung in Frage gestellt werden. Davon sind auch stereotype Deutungsmuster betroffen, lässt sich doch Gordons Verhaltensänderung auch über deren Ersetzung bzw. Verschiebung plausibilisieren: Mit den Nachrichten aus Schlesien gerät die ›schöne Polin‹ in den Strudel der ›polnischen Wirtschaft‹, dahingehend, dass, »wo die materielle Ordnung versagt, […] automatisch auch Tugend und sexuelle Ökonomie ihre Rechte verloren [haben]«;299 der Referenzrahmen ›schöne Polin‹ wird nun neu justiert, indem sinnliche Anziehung zugleich dominant mit Grenznivellierung in Korrelation gesetzt wird. Wenn Gordon seine Zeilen an Cécile mit den Worten beendet: »Wieder ganz der Ihre« (ebd.), dann liegt es nahe, die Muster ›schöne Polin‹ und ›polnische Wirtschaft‹ auch zwei differenten Figurenkonstellationen zuzuweisen: (Ver-)Bindung und Trennung. Gordons (metaphorische) Rückkehr zu Cécile (»[w]ieder«), die mit seiner Bitte um Erinnerungskorrektur einhergeht (»Sehen Sie mich allezeit so, wie ich war, ehe die Trübung kam«, ebd.), verweist nachdrücklich auf einen Status quo ante; die ›polnische Wirtschaft‹ als Rechtfertigungsgrundlage abwertender Handlungen wird verabschiedet zugunsten jener vorgängigen ›schönen Polin‹, unter deren Vorzeichen Gordons Bekanntschaft mit Cécile auf dem Balkon des Hôtel Zehnpfund in Thale begann. Mit ihrem Selbstmord reagiert Cécile, die »schwer leidend [war] seit dem Tage, wo die Zeitungs-Nachricht eintraf« (CE, S. 214), auf die Unvermeidlichkeit, dem internalisierten Schema der Schuld zu entkommen: 298 Vgl. Blod-Reigl, ›… der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen …‹, S. 427. 299 Kiefer, Der determinierte Beobachter, S. 174.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Gordon ist der zweite Tote, für den sie sich erneut verantwortlich sieht und den sie mit dem Schwur an Dzialinskis Leiche verhindern wollte.300 Zugleich korreliert Cécile ihre Selbsttötung mit der Heimkehr in den oberschlesischen Herkunftsraum. Auch der Roman Cécile operiert wie Vor dem Sturm mit invarianten Bindungskräften: Dies betrifft zum einen die Konfession. Ihre letzten Worte richtet Cécile an ein »katholisches Kreuz«, »aus einem katholischen Herzen heraus« (CE, S. 215), denn die Kirche, »darin ich geboren und groß gezogen wurde, macht uns das Sterben leichter und bettet uns sanfter« (ebd.); als man sie tot findet, hält sie das Kreuz noch in der linken Hand. Zum anderen verfügt sie testamentarisch die Verbringung ihres Körpers aus der (preußisch-protestantischen) »Welt« auf das fürstliche Gut der von Welfen-Echingen, und begründet dies mit distinktiven raumsemantischen Merkmalen: ›Ich wünsche nach Cyrillenort übergeführt und auf dem dortigen Gemeindekirchhofe, zur Linken der fürstlichen Grabkapelle, beigesetzt zu werden. Ich will der Stelle wenigstens nahe sein, wo die ruhen, die in reichem Maße mir das gaben, was mir die Welt verweigerte: Liebe und Freundschaft, und um der Liebe willen auch Achtung … Vornehmheit und Herzensgüte sind nicht Alles, aber sie sind viel. […]‹ (Ebd.)
Cécile wählt als Grabstätte jenen Ort, der sie aus preußischer Perspektive auf die beschädigte Identität einer Fürstenmätresse festgelegt und ihren Status als gesellschaftliche Außenseiterin besiegelt hat, den sie zugleich als lebensgeschichtliche Vergangenheit (pathogen) zu kaschieren gezwungen war. Das Begräbnis auf fürstlichem Grund setzt demgegenüber einen bekennenden Akzent der Sichtbarkeit: Cécile will dort bestattet sein, wo sie sich als polnische Schönheit und Katholikin mit Bildungsdefiziten akzeptiert fühlte, mithin keinen (durch Norm- und Anpassungsvorgaben hervorgerufenen) psychosozialen Identitätsdilemmata unterworfen war. Die ›Künstlichkeit‹ ihrer Existenz in Preußen mit seiner bürgerlichen Moralorientierung lässt sie als Vergangenheit hinter sich zugunsten einer ›natürlichen‹ Wiedereinfügung in den oberschlesisch-höfischen Herkunftsraum, der die Signatur des Gebens (»nicht Alles, aber […] viel«) statt der Verweigerung trägt. Während Cécile als Tote Preußen verlässt, gibt es eine weitere polnische Figur, die dort lebendig verbleibt, sogar im politisch-militärischen Zentrum der Reichshauptstadt: Kraczinski, »Kriegsministerial-Oberst und polnisch-katholisch« (CE, S. 155), Gast bei der Mittagsgesellschaft der St. Arnauds im 20. Kapitel. Signifikant ist, dass sich Kraczinski an der 300 Dunkel, Kein ›Zwergensieg gegen Riesen‹, S. 76.
3.4 »Cécile« (1887)
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Gesprächsrunde nicht beteiligt, auch nicht auf die Kulturkampf-Äußerungen reagiert. Lediglich, als der ebenfalls teilnehmende General von Rossow gegen »Fremde« (CE, S. 162) in der preußischen Armee polemisiert (und stattdessen deren altaristokratische Tradition beschwört), macht der Text auf die stumme Geste des Polen aufmerksam: »Kraczinski, der zwei Brüder in der russischen und einen dritten in der österreichischen Armee hatte, lächelte mit kriegsministerieller Ueberlegenheit vor sich hin« (ebd.). In den militärischen Karrieren der Kraczinski-Familie spiegeln sich die polnischen Teilungen, die letztlich auch mitverantwortlich sind für den Anteil des »Fremden« in den Armeen. Rossows Kritik rührt damit ganz absichtslos an territoriale Konstellationen. Kraczinski, der trotz des Kulturkampfs noch in Preußen ist, mag genau dies, überlegen lächelnd, zur Kenntnis nehmen. Polnisches ist in Cécile auf zwei interferierenden Zeitebenen angesiedelt. In der Gegenwart übt die schöne Polin Cécile faszinierende Attraktionskräfte aus, die durch exotisch-orientalische und krankheitssymptomatische Merkmalszuschreibungen erotisch gesteigert werden und den Kontakt zu Gordon allererst herstellen. Polnische Schönheit generiert das Handlungsgeschehen zwischen Cécile, Gordon, St. Arnaud, wirkt als Motor narrativer Ereignisproduktion, weil sie den Beobachter Gordon nicht nur visuell und zunehmend emotional an sein Beobachtungsobjekt fesselt, sondern ihn auch dazu antreibt, biographische Nachforschungen anzustellen: Physis und Habitus Céciles lassen lebensgeschichtliche Abweichungen vermuten. Während Gordon auf Grenzüberschreitung im Sinne einer Vergegenwärtigung von Vergangenheit drängt, ist die ehemalige Fürstenmätresse Cécile um Sicherung lebensgeschichtlicher Grenzen bemüht. Denn auch wenn Gordon zunächst textuell als jemand ausgewiesen wird, der vor allem an narrativem Stoff interessiert ist, zu dem Cécile Material beizusteuern verspricht (vgl. sein Diktum »Dahinter steckt ein Roman«, CE, S. 14), lässt Gordons zunehmende Liebesverstrickung schnell erahnen, dass dieser ›Stoff‹ vor dem Hintergrund preußisch-polnischer Asymmetrien zur Durchsetzung interessengeleiteter Handlungen funktionalisiert werden wird. Das preußische Norm- und Wertsystem, das der Text über Kulturkampfrhetorik sowie bürgerlichen Bildungs- und Moralanspruch profiliert, bietet Cécile von jeher keine Alternativen zu individuellen Verdeckungsstrategien. Einer entlastenden »›Diätetik‹ des
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Erzählens«301 kann sie sich nicht bedienen, ohne Sanktionen zu befürchten. So ist denn in Cécile das Wiederaufleben einer oberschlesisch-polnischen Vergangenheit, die Aufdeckung der Lebensgeschichte einer Fürstenmätresse, unweigerlich mit fatalen Folgen verbunden. Der unentrinnbare Zirkelschluss, in dem Cécile letztlich gefangen ist, ergibt sich durch das zeichenhaft-kontingente Hineinreichen ihrer Vergangenheit in die Gegenwart: Céciles polnische Herkunft, die über das Muster der ›schönen Polin‹ von Gordon sofort identifiziert werden kann, und ihre Krankheitssymptome, die sich einerseits aus der intrapsychisch belastenden Inkompatibilität preußischer und oberschlesisch-polnischer Lebenswelt ergeben,302 andererseits in dem traumatisch erfahrenen Duelltod Dzialinskis, an dem sie sich die Schuld gibt, ihre initiale Begründung finden, lenken den Beobachterblick auf der Suche nach sinnfälligen Erklärungen von Anfang an aus der Gegenwart hinaus auf Zurückliegendes. Céciles Aufenthalt im preußischen Raum ist durch preußisch-polnische Kollisionen gekennzeichnet, beginnend mit dem Duell zwischen St. Arnaud und Dzialinski. Das Beziehungsverhältnis zwischen Cécile und Gordon beruht zwar auf der Sogwirkung polnischer ästhetisch-erotischer Merkmale, bleibt aber fragil, weil die hergestellte Nähe zugleich erhöhte Konfliktgefahr birgt. Wenn Céciles Lebensgeschichte schließlich figurenperspektivisch über das populäre Wahrnehmungsraster der ›polnischen Wirtschaft‹ vermittelt wird, dann geht es im Text weniger um seine faktische Relativierung oder Korrektur als um die fragwürdigen Rechte, die Gordon daraus ableitet, mithin die Funktionalisierung des Stereotyps als Legitimationsstrategie für Handlungen. In dieser (kulturkämpferisch überdies gestützten) Funktionalisierung liegen die destruktiven Kräfte des polnisch-preußischen Aufeinandertreffens zwischen Cécile und Gordon, denen allenfalls mit einer Utopie des Herzens, wie sie Cécile formuliert, entgegengewirkt werden könnte. Eine Lösung für ihre intrapsychischen Konflikte, die nicht zuletzt aus der invarianten Bindung an den polnischhöfischen Herkunftsraum resultieren und im Text als Dissoziation zwi301 Vgl. den Untertitel des Beitrags von Ort, ›Stoffwechsel‹ und ›Druckausgleich‹, zu Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1890). Das durch Rezeption Aufgenommene bedarf »im diätetischen Interesse []einer inneren Ökonomie und Gesundheit« der produktiven Abgabe als »Entleerungs-, Ent-Äußerungsakt« (S. 28). 302 Wie in Vor dem Sturm wird auch in Cécile hybride Identität problematisiert, allerdings im Unterschied zu Unterm Birnbaum, wo die pseudo-polnische Identität Szulskis – die jedoch von dem (vermutlich katholischen) Oberschlesier Schulz freiwillig angenommen wurde – keine interfigurale und/oder intrapsychische Relevanz erhält.
3.5 »Mathilde Möhring« (entstanden 1891/1896)
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schen einem natürlichen ›Wollen‹ und einem künstlichen ›Sollen‹ exponiert werden, ist hingegen allein im Verlassen des preußisch-protestantischen Raums zu sehen, in dem Cécile unter selbst- und fremdbestimmtem Assimilationsdruck nur eine pathogene konstruiert-›künstliche‹ Existenz möglich war. Dass die Polen in Preußen zu den »Fremde[n]« zählen und dem Verdacht mangelnder »Loyalität« (CE, S. 162) unterstehen, wird im Text durch Kulturkampfverweise präsent gehalten und kann in der Figurenrede eines Generals von Rossow sogar explizit werden. Aus einem solchen Status der sozialen Desintegration, wie er den Polen zugeschrieben wird, wie er aber auch von Cécile als ehemaliger Fürstenmätresse aus polnisch-katholischem Milieu empfunden wird, resultiert das Konfliktpotential, das einer preußisch-polnischen Koexistenz in Preußen permanent zuwiderläuft, weil zwar Verhaltensregeln neu justiert werden können (›Herz‹), aber die Fliehkräfte des ›Natürlichen‹ unter (nationalstaatlich-)preußischen Anpassungsvorgaben – gleichsam im Ausgleichsverhältnis von Druck und Gegendruck – erst recht wirksam werden. So steht auch die Realität der polnischen Teilungen, auf die mit dem Polen Kraczinski im Cécile-Text angespielt wird, quer zu allen Impulsen einer soziokulturellen Homogenisierung, die die Integrität Preußens absichern sollen.
3.5 »Mathilde Möhring« (entstanden 1891/1896) In Vor dem Sturm, Unterm Birnbaum sowie Cécile markiert die polnische oder pseudo-polnische Leiche eine auffallende narrative Konstante. Von diesem Schema weicht nun der letzte hier ausführlich behandelte Text, Mathilde Möhring, bemerkenswert ab: Denn es stirbt kein Pole oder Pseudo-Pole, sondern eine preußische Figur, Hugo Großmann – jedoch nicht in Berlin, wo sich der träge Jurastudent Großmann und die tatkräftige Mathilde Möhring kennenlernen, sondern in der Provinz Westpreußen, also in jenem Gebiet, das mit der ersten polnischen Teilung 1772 zu Preußen kam und das neben Posen ab 1886 durch das Ansiedlungsgesetz ins Zentrum antipolnischer Germanisierungsmaßnahmen rückte. Polenbezüge werden in Mathilde Möhring im Zuge eines preußischen Aufstiegsund Karriereprojekts unter der Federführung Mathildes relevant, partizipieren allerdings – und dies ist bemerkenswert – nicht an kolonialen Strukturen. Vielmehr setzt Mathilde auf polnische bzw. polnisch konnotierte (figurale und territoriale) Größen als taktische Funktionselemente,
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
die ihrem Plan sozialer Arrondierung entscheidende (Bewegungs-)Impulse verleihen. Mathilde Möhring, entstanden in den Jahren 1891 sowie 1896, unvollendet geblieben und erstmals 1906 durch Josef Ettlinger mit massiven Texteingriffen aus dem Nachlass veröffentlicht,303 liegt – nachdem lange die Edition von Gotthard Erler aus dem Jahr 1969 als die zitierfähige Ausgabe galt –304 seit 2008 in einer von Gabriele Radecke neukonstituierten Fassung nach der Handschrift vor. Diese im Rahmen der Großen Brandenburger Ausgabe erschienene Edition enthält (im Gegensatz zu den Vorgängerausgaben) »alle nicht eindeutig getilgten Textteile«305, integriert Mehrfachformulierungen ebenso wie metatextuelle Autoranmerkungen, Schreibabbrüche und erwogene Streichungen. Was Mathilde Möhring fehlt, ist die letzte Bearbeitungs- und Korrekturstufe. Dennoch gilt der Text aufgrund seiner Handlungsstringenz, seiner ausgearbeiteten narrativen Verweisstruktur und genauen Ereignis-Chronologie als ein »nahezu durchkomponierte[s]« Werk mit »gefestigte[r] Textstruktur«.306 Daran hat auch die erzählerische Implikation der Polenbezüge ihren Anteil. Die Handlung von Mathilde Möhring erstreckt sich über fast genau zwei Jahre von Oktober 1888 bis 1. Oktober 1890.307 Zu Beginn zieht der Student Hugo Großmann zur Untermiete bei den kleinbürgerlichen Möhrings – einer Buchhalterwitwe mit Tochter – ein: »[d]rei Treppen hoch links« (MM, S. 9)308 oder auch vier Treppen hoch, je nachdem, ob die Wohnung des Wirts (ein erfolgreicher Spekulant der Gründerzeitjahre) als im Hochparterre oder im ersten Stock gelegen angesehen wird. Zunächst 303 Zunächst als Zeitschriftenvorabdruck in der Gartenlaube, dann im Dezember 1907 in dem Band Aus dem Nachlaß von Theodor Fontane. Hrsg. von Josef Ettlinger, Berlin: F. Fontane & Co. 1908, S. 1 – 121. 304 Die Erler-Edition erschien zunächst in der DDR (gemeinsam mit Effi Briest und Die Poggenpuhls) als siebter Band der achtbändigen Ausgabe Theodor Fontane. Romane und Erzählungen im Aufbau-Verlag (Berlin 1969). 1974 wurde diese in die Hanser-Fontane-Ausgabe übernommen. Vgl. auch die dtv-Ausgabe Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Roman. Mit einem Nachwort [und mit revidiertem Anhang der Hanser-Fontane-Ausgabe, A. D.] hrsg. von Gotthard Erler. 2. Aufl., München 2003 (dtv 13113). 305 Radecke in: GBA Mathilde Möhring, S. 201. 306 Siehe ebd., S. 145 – 147 (Zitate S. 145). 307 Dieser Zeitraum kann aufgrund einer Anspielung auf Bismarcks Sturz im Frühjahr 1890 im 15. Kapitel des Textes rekonstruiert werden. Vgl. GBA Mathilde Möhring, S. 111. 308 Die Seitenangaben folgen hier und im Folgenden GBA Mathilde Möhring (mit der Sigle MM).
3.5 »Mathilde Möhring« (entstanden 1891/1896)
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wahrt man Distanz: Der literatur- und theaterbegeisterte schöne Hugo sieht sich als Bürgermeistersohn schon sozial deutlich von den kleinbürgerlichen Möhrings geschieden,309 und die 23-jährige Mathilde ist – im Gegensatz zu den anderen titelgebenden Frauenfiguren Fontanes – sowieso »nicht recht zum Anbeißen«, ja »ganz ohne Reiz« (MM, S. 7). Von hagerer Gestalt, aschblond mit »grise[m] Teint« (ebd.), »Blechblick« und »dünnen Lippen« (MM, S. 8), attestiert ihr der Erzähler trotz eines zugestandenen »Gemmengesicht[s]« das Fehlen »jeden sinnlichen Zauber[s]« (MM, S. 8). Stattdessen treten andere Eigenschaften hervor: Mathilde ist von »energischem Ausdruck« (MM, S. 7), ihr (kulturelles) Kapital sind Fleiß sowie – so sieht sie es selbst – »Klugheit und Vortrefflichkeit« (ebd.). Ihre Mutter spricht von »gute[r] Schule« und »guten Zeugnisse[n]« (MM, S. 19).310 Erst als Hugo an den Masern erkrankt, Mathilde seine Pflege übernimmt und ihm vorliest, stellt sich ein näherer Kontakt her. Hugo, der zwar einen diffusen Künstlerenthusiasmus hegt, aber gleichwohl auch den Wunsch nach einer abgesicherten Existenz nicht von sich weisen kann, macht ihr schließlich einen Heiratsantrag, denn »[s]ie hatte grade das, was ihm fehlte, war quick, findig, praktisch« (MM, S. 45). Nach der Verlobung am Weihnachtsabend bringt Mathilde, die sich vor allem durch das Figu-
309 Der Versuch von Radecke in: GBA Mathilde Möhring, S. 140 – 145, Hugo Großmann eine jüdische Herkunft zuzuschreiben, ist überzeugend widerlegt worden von Franka Marquardt, ›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 86 (2012), S. 310 – 327. 310 Der Text stattet Mathilde in Figurenreden rekurrent und in unterschiedlichen Verwendungskontexten mit dem Begriff der ›Bildung‹ aus. Vgl. etwa das Urteil des Hauswirts Schul(t)ze – beide Schreibweisen kommen in der Handschrift vor – über Mathilde: Sie sei »[m]anirlich, bescheiden, gebildet« (MM, S. 7). Hugos Arzt findet sie »übrigens überhaupt gebildet« (MM, S. 43), und auch Hugo selbst kommt angesichts von Mathildes Äußerungen über falsch verstandene Prüderie zu dem Schluss: »Wie richtig wie gebildet war das alles und er freute sich über ihre tapferen und aufgeklärten Ansichten.« (MM, S. 44) ›Bildung‹ fungiert hier als praktischer Wert des »Zurechtkommens mit dem Leben«, kennzeichnet »die Beherrschung der gesellschaftlichen Norm und Konvention«, ist Voraussetzung und Instrumentarium für den sozialen Aufstieg. Dazu Norbert Schöll, ›Mathilde Möhring‹: Ein anderer Fontane? In: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 587 – 597, hier: S. 589 f. (Zitate S. 589). In dieser praktischen Konnotation wird sie oppositionell situiert zu dem »Unsinn« (MM, S. 58), den Hugos Hang zum Theater und sein ständiges Lesen in den Augen Mathildes darstellen.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
renmerkmal des Berechnens auszeichnet,311 den zur Bequemlichkeit neigenden Hugo mit einem klug kalkulierten Lern- und Ablenkungsprogramm regelrecht zum ersten juristischen Examen (»Ich rechne darauf, daß Du mir durch Arbeit den Beweis Deiner Liebe giebst«, S. 47), verschafft ihm schließlich durch Heraussuchen einer geeigneten Stellenanzeige eine Bürgermeisterstelle im westpreußischen – beiläufig fiktiven – Woldenstein, wo beide zwei Tage nach ihrer Hochzeit im Juni 1889 eintreffen. Im Dezember erkrankt Hugo an einer Lungenentzündung und stirbt nach einem Rückfall am Ostermontag an Schwindsucht. Mathilde kehrt wenig später nach Berlin zu ihrer Mutter zurück, schließt eine (schon vor dem Tod ihres Vaters anvisierte) Ausbildung zur Lehrerin ab und tritt zum 1. Oktober in den Schuldienst ein. Mathilde Möhring gilt mittlerweile als einer der »inhaltlich modernsten Romane«312 Fontanes, in der Profilierung eines originellen,313 gar emanzipierten Frauentyps,314 aber auch in seiner Darstellung des kleinbürgerlichen Milieus,315 in seiner erzählerischen Vermittlung so311 Zum ›Rechnen‹ und »seinem ausgreifenden Wortfeld, das es in Beziehung setzt mit ›Planen‹, ›Beobachten‹ und ›Verstehen‹«, siehe vor allem Hugo Aust, ›Mathilde Möhring‹. Die Kunst des Rechnens. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 275 – 295 (RUB 8416), Zitat S. 279. 312 Sabina Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Theodor Fontanes Roman ›Mathilde Möhring‹. Versuch einer Neubewertung. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 10 (2000), S. 298 – 315, hier: S. 298; siehe auch Sabine Schmidt, ›fast männlich‹. Zu Genderdiskurs und Rollentausch in Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Sabina Becker und Sascha Kiefer (Hrsg.), ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, S. 227 – 252, hier: S. 242. Zur bis ins Jahr 2008 erschienenen Forschungsliteratur zu Mathilde Möhring sei auf GBA Mathilde Möhring, S. 411 – 422, verwiesen. 313 Eda Sagarra, ›Mathilde Möhring‹. In: Grawe und Nürnberger (Hrsg.), FontaneHandbuch, S. 679 – 690, hier: S. 681. 314 Während vor allem die ältere Forschung noch die Beziehung von Mathilde und Hugo als asymmetrisch beschrieb, in Verkehrung traditioneller Geschlechterzuschreibungen Hugo als Opfer und Mathilde als Täterin herausstellte (vgl. beispielsweise Günther Mahal, Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Euphorion 69 (1975), S. 18 – 40), wird nunmehr (trotz Geschlechterrollentauschs) die egalitäre Struktur der Beziehung betont, da auch Hugo sich in Erkenntnis eigener Defizite gezielt für Mathilde entscheidet. Damit geht eine Aufwertung der Figur Mathilde einher. Siehe etwa Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, und Schmidt, ›fast männlich‹. 315 Siehe stellvertretend Werner Hoffmeister, Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹. Milieustudie oder Gesellschaftsroman? In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 92 (1973), Sonderheft Theodor Fontane, S. 126 – 149, und Stefan Greif, ›Neid macht
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zialer Distinktion,316 die die Angst vor gesellschaftlicher Deklassierung ebenso verdeutlichend erfasst wie den kleinbürgerlichen Anpassungs- und Aufstiegswillen ›nach oben‹. Die Polenbezüge des Romans sind demgegenüber bisher kaum in den Blick gerückt.317 Dabei ist Westpreußen neben Berlin zentraler Handlungsraum des Textes, und auch die Provinz Posen spielt eine nicht unwichtige Rolle. Polnisches ist in Mathilde Möhring als topographische und/oder ideologische Größe präsent; und es gibt polnische Figuren. Sie sind in die Geschichte eines preußischen Aufstiegs eingebunden, der sich unter dem kalkulierten Einsatz polnisch konnotierter Wegmarken und Zielvorgaben vollzieht. 3.5.1 Karriereplanung (nicht kolonial): Von Berlin nach Westpreußen Dass die Peripherie der deutsch-polnischen Ostprovinzen Preußens – zu ihnen gehört nach zeitgenössischer Terminologie auch Westpreußen – einen lebensgeschichtlichen Ermöglichungsraum darstellen kann, erfährt der Leser bereits im vierten Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hugo und seinem Freund Hans von Rybinski (von ihm wird später noch ausführlich die Rede sein) gibt Auskunft über Hugos Herkunftsort Owinsk, ein »Nest« (MM, S. 21) mit überwiegend polnisch-katholischer Bevölkerung in der Provinz Posen.318 In der Erzählgegenwart leben dort noch Mutter und Schwester, der offensichtlich erst vor Kurzem verstorbene Vater war Bürgermeister des Ortes. Hervorgehoben werden nun explizite Merkmalsäquivalenzen zwischen Vater und Sohn (»im Meisten sind wir uns gleich«, MM, S. 23). Auch der Vater war »bequem« (ebd.), hatte nur mühsam, wie dies schließlich analog bei Hugo der Fall sein wird, den »Referendarius« (ebd.) erreicht. Doch das genügt für die Übernahme eines (häufig nur als berufliche glücklich‹. Fontanes ›Mathilde Möhring‹ als wilhelminische Satire. In: Der Deutschunterricht 50 (1998), S. 46 – 57. 316 Vgl. Mecklenburg, ›Theodor Fontane‹, S. 216 – 227. 317 Auf die polnischen Implikationen des Textes gehen kurz ein: Müller-Seidel, Fontane und Polen, S. 443, Voss, Literarische Präfiguration, S. 231 f., mit Bezug auf die Figur Rybinski, Erler im Nachwort der dtv-Ausgabe von Mathilde Möhring (siehe S. 154 f.) und Ossowski, Fragwürdige Identität?. Vgl. ebenso (wenn auch die Inhaltsebene selten verlassend) Vahlefeld, Theodor Fontane in Pommern, S. 105 – 109. 318 Siehe [Art.] ›Owinsk‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 12, S. 578. Owinsk (heute: Owin´ska) liegt nördlich von Posen an der Warthe und hatte im Jahr 1885 laut Lexikoneintrag »1 045 meist kath. Einwohner[]« (ebd.).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Durchgangsstation genutzten)319 provinziellen Bürgermeisterpostens. Statt das Assessorexamen zu machen, kann Hugos Vater alternativ als preußischer Verwaltungsbeamter in Owinsk ein gesichertes Auskommen finden und sogar in privilegierter Stellung soziale Reputation sowie wirtschaftliche Prosperität erlangen, von der noch der Sohn profitiert. Obwohl Hugo ein väterliches Vermögen in Abrede stellt (siehe MM, S. 22), erkennt Mathildes Mutter schon an dem ledernen Koffer, den Hugo mit in die Möhring’sche Wohnung bringt: »Ein ganz Armer kann es nicht sein« (MM, S. 19). Und Mathilde rechtfertigt die Entscheidung, den masernkranken Hugo nicht in seinem Zimmer, sondern in der eigenen guten Stube gesund zu pflegen, unter anderem mit seinem Status als »Burgemeisterssohn« (MM, S. 41). Die merkliche Differenz zwischen Vater und Sohn liegt freilich in der Fähigkeit zum Entschluss. Während der alte Großmann von sich aus nach Owinsk geht, benötigt Hugo die Antriebsinstanz Mathilde. Noch einmal kommt Hugo ausführlich auf Owinsk zurück (elftes Kapitel), als er Mathilde nach bestandenem Examen von seiner Jugend erzählt und welch forsches Leben sie da geführt hätten. Bürgermeister und Apotheker und Rechtsanwälte, die lebten immer am forschesten, weil sie das meiste Geld hätten und eigentlich sei solch kleinstädtisches Leben viel vergnüglicher als ein Leben in der großen Stadt, denn immer sei was los und wenn sie nicht Skat spielten so spielten sie Theater und wenn nicht Ball wäre so wäre Schlittenbahn und dann bimmelte das Schellengeläut den ganzen Nachmittag und die Schneedecken flögen und die hübschen Frauen denn in den kleinen Städten gäbe es immer hübsche Frauen, hätten die Hand im Muff und wenn es sehr kalt wäre auch die Hand von ihrem Partner. (MM, S. 79 f.)
Es fällt auf, dass Mathilde aus Hugos Schilderungen nur das heraushört, »was sie für ihre eignen Pläne brauchen konnte« (MM, S. 80). Die »Moralia von Owinsk« (ebd.) sind ihr keine Entrüstung wert,320 »um so weniger […], als sie sich überzeugt hielt, daß ihres Bräutigams Hand nie in solcher 319 Siehe Ossowski, Fragwürdige Identität?, S. 260, der auf die geringe Attraktivität der Ostprovinzen für die preußischen Beamten hinweist und dazu auch auf Heinrich Heine rekurriert. In dessen Artikel Über Polen (erschienen 1823) heißt es beispielsweise: »Die preußischen deutschen Beamten fühlen sich von den polnischen Edelleuten nicht eben zuvorkommend behandelt. Viele deutsche Beamten werden oft, ohne ihren Willen, nach Polen versetzt, suchen aber sobald als möglich wieder heraus zu kommen« (S. 90). 320 Vgl. den Roman Cécile, wo der Brief Clothildes über die oberschlesischen Lebensverhältnisse der von Zachas den Leser Gordon noch in einen Zustand körperlicher und verbaler Empörung versetzen konnte.
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[sic!] Muff gesteckt hatte« (ebd.). Mit Blick auf Hugo kann sie den kleinstädtischen Raum in Posen von allem erotischen Gefahrenpotential separieren, ein Vorgehen, in dem sie vom Erzähler an späterer Stelle sogar noch bestätigt wird, sind doch zwei halbpolnische und sehr hübsche Cousinen Hugos, »von denen jede mal auf Hugo gerechnet hatte« (MM, S. 87), bei ihm chancenlos geblieben.321 Mathilde kann Hugos OwinskBericht einem selektiven Wahrnehmungsverfahren unterwerfen, weil sie dem visuellen Einschätzungsvermögen ihrer »scharfe[n] Augen« (MM, S. 6) vertraut, überhaupt »den Charakter ihres Miethers ganz genau zu kennen glaubte« (MM, S. 34). So klassifiziert sie ihn bereits im zweiten Kapitel nach eindringlicher Musterung als »so eine[n]«, der »keinen Muck hat, weil er ein Schlappier ist« (MM, S. 12), der gleichwohl, wie sie ihm im Folgekapitel attestiert, anständig ist (»Mit dem kann man drei Tage und drei Nächte fahren«, MM, S. 16) und der auf sie den Eindruck eines »sehr gute[n]« Menschen (MM, S. 35) macht. Noch dazu imaginiert sie sich Hugos familiale Sphäre als Ordnungswelt, denn aus seinen sorgfältig mit Garn gezeichneten Strümpfen kann nur die Folgerung gezogen werden: »Er muß eine sehr ordentliche Mutter haben oder Schwester, denn ein Andrer macht es nicht so genau.« (MM, S. 19) Aufgrund solcher Kategorisierungen ist Mathilde in der Lage, Hugos Narrativ über Owinsk zu filtern und umgehend in einen performativen Entscheidungsakt zu transformieren: »Was immer in ihr fest gestanden hatte, daß Hugo in eine kleine Stadt und nicht in eine große gehöre, das stand ihr jetzt fester denn je.« (MM, S. 80) Dass sie eine Stadt in den deutsch-polnischen Provinzen Preußens im Auge hat, legt der Owinsker Kontext, die Ätiologie des Entschlusses, nahe; eine Entwurfsstufe zu Kapitel 11b322 sagt dies sogar noch explizit, wenn Mathildes Stellensuche für Hugo hier mit dem Anzeigenlesen in der »Posensche[n] Zeitung« beginnt: »Die letztre wählte sie aus einem Ahnungsvermögen heraus und gleich als sie die erste Nummer sah, sagte sie ›da find ich es‹.« (MM, S. 283) Die Druckfassung lässt offen, in welcher Zeitung Mathilde die Stellenanzeige für den Bürgermeisterposten findet, jedoch bleiben polnische Korrelationen gewahrt: Die ausgewählte Stelle liegt im westpreußischen Woldenstein.
321 Wiederum genügt offenbar ein halbpolnischer Anteil, um das Polnische dominant als Figurenmerkmal hervorzutreiben (hier orientiert am tradierten Muster der ›schönen Polin‹). 322 Die Kapitel 9 bis 11 von Mathilde Möhring sind gemäß der Handschrift jeweils in a und b unterteilt.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Auf die deutsch-polnischen Ostprovinzen wird das Versprechen beruflich-sozialer Konsolidierung projiziert, weil die Überschaubarkeit einer Kleinstadt und ein wirtschaftlich rückständiges Umfeld die subjektiven Chancen vergrößern, öffentlichkeitswirksame Erfolge zu erzielen. Nun war Westpreußen (ebenso wie die Provinz Posen) nicht nur vorwiegend agrarisch geprägt, beide standen seit 1886 auch im Fokus der neu gegründeten Königlich Preußischen Ansiedlungskommission, die die Aufgabe besaß, verschuldete polnische Güter zu erwerben, aufzuteilen und an deutsche Kleinbauern zu veräußern. Obwohl in Westpreußen, das seit dem 15. Jahrhundert unter polnischer Hoheit stand und anlässlich der ersten polnischen Teilung 1772 Preußen zugeschlagen wurde, der polnische Bevölkerungsteil Mitte der 1880er Jahre noch nicht einmal ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte (in der Provinz Posen hingegen waren es über 50 Prozent),323 wurde gleichermaßen die Notwendigkeit einer Rückdrängung polnischen Einflusses proklamiert. Tatsächlich wuchs die polnische Bevölkerung seit den 1870er Jahren »weit stärker als die deutsche (und gar die jüdische)«,324 nicht zuletzt bedingt durch die vermehrte Abwanderung von Deutschen in die westlichen Industrieregionen. »Im Zeitalter nationalistischer Reizbarkeit und gut ausgebildeter Statistik trat dieses Phänomen sofort ins öffentliche Bewußtsein und beeinflußte die Politik.«325 Mit dem Ansiedlungsgesetz wollte Bismarck für absichernde Mehrheitsverhältnisse sorgen. Das zeitgenössische Meyers KonversationsLexikon subsumiert dies unter dem Artikel-Stichwort »Deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen«.326 Ob mit Blick auf die Ansiedlungspolitik tatsächlich von einer »kolonialen Dimension der deutschen Polenpolitik« gesprochen werden kann, 323 Siehe [Art.] ›Westpreußen‹ und ›Posen [Provinz]‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 16, S. 564, und Bd. 13, S. 269. 324 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 271. Der (politisch-kulturell deutsch orientierte) jüdische Bevölkerungsanteil (ebd., S. 267) betrug im Jahr 1885 in Westpreußen rund 25 000 im Vergleich zu über 400 000 Polen. Siehe [Art.] ›Westpreußen‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 16, S. 564. 325 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 272. 326 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 19 (Jahres-Supplement 1891 – 1892), S. 180 f. Die Ansiedlungsbemühungen blieben letztlich erfolglos und verstärkten stattdessen das polnische Nationalbewusstsein. In der Auseinandersetzung um ›Boden‹ konnten sich die Polen erfolgreich zur Wehr setzen, nicht zuletzt durch die Gründung flexibler Kreditgenossenschaften für polnische Kleinbauern. Siehe Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871 – 1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. 2., überarb. und erw. Aufl., Göttingen 1979, S. 192.
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ist in der Geschichtswissenschaft wiederholt diskutiert worden.327 Zwar ging es damals um antipolnische Maßnahmen, die, ebenso wie in den überseeischen Kolonialgebieten,328 »zu einer Betonung ›rassischer‹ Unterschiede und einer Praxis der Segregation« führten, aber es bestanden eben auch Unterschiede, nicht zuletzt weil die polnischen Einwohner Preußens deutsche Staatsangehörige waren, die Rechtsansprüche geltend machen konnten.329 Dennoch ist festzuhalten, daß die koloniale Ordnung der Welt auch in Europa ihre Spuren hinterlassen hat: Diskurse und ideologische Muster, Siedlungspolitik, demographische Interventionen […] standen in einem globalen Zusammenhang, der durch Hierarchien kolonialer Differenz strukturiert war.330
Über Mathilde wird das Thema der Kolonien auch in Fontanes Text eingeführt, allerdings nicht im Zusammenhang mit den deutsch-polnischen Ostprovinzen. Stattdessen liest sie Hugo tagesaktuelle Nachrichten »von Christenverfolgungen in China vor oder von den Franzosen in Anam und Tonkin oder von dem Kriege den die Holländer mit den Eingebornen führen müßten« (MM, S. 75). Dieses Vorlesen ist dabei als thematisches Ablenkungsmanöver funktionalisiert, gehört zu Mathildes »pädagogische[m] Verfahren« (ebd.) der Zerstreuung und passenden Überleitungen, das Hugo die Lernstunden für das Examen erleichtern soll, ist Teil der »Finessen« (ebd.),331 mit denen die Ferne nur gesucht wird, um letztlich das Nahziel einer erfolgreich abzulegenden Prüfung zu erreichen. 327 Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte. 2., durchges. Aufl., München 2012, S. 97 und 99 (Zitat). 328 Bekanntlich hat sich Bismarck erst nach langem Zögern zum Erwerb von Kolonien entschlossen. Das erste deutsche »Schutzgebiet« wurde 1884 Deutsch-Südwestafrika. 329 Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 99 (Zitat ebd.). 330 Ebd., S. 100. 331 Dass mit dem Begriff der »Finessen« eines der bekanntesten poetologischen Konzepte Fontanes (vgl. seinen Hinweis in einem Brief an Emil Dominik vom 14. 7. 1887 »auf die hundert und, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen«, die er seinem Werk Irrungen, Wirrungen mit auf den Weg gegeben habe; HFA IV/ 3, S. 551) Eingang in den Text Mathilde Möhring gefunden hat, hat Elisabeth Strowick, Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, München 2009, im Hinblick auf strukturelle Verknüpfungen detailliert herausgearbeitet. Mathildes Finessen, ihre gekonnten Übergänge, geben demnach auch Auskunft über Fontanes Erzähltechnik: »Auffällig ist dabei [bei Mathildes Überleitungen, A. D.] die Art und Weise der Verknüpfung: Übergänge werden hergestellt zwischen Entlegenem, Heterogenes wird zusammengebracht, das Große metonymisch mit dem Kleinen/Alltäglichen verbunden […]. Details scheinen in
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Koloniale Assoziationen weckt auch Hugos Reisedecke mit Löwenmotiv (siehe MM, S. 74), die anlässlich seiner Masernerkrankung, welche für Mathilde die gewünschte Gelegenheit zur Kontaktintensivierung bietet, ja eine »Fügung«332 ist, erstmals zum Einsatz kommt. Mathildes Pflegeanweisung scheint ihr Verhältnis zu Hugo als dezidiertes Hierarchieverhältnis zu markieren: »[U]nd Abends bringen wir ihn ’rüber [in sein Bett, A. D.] und packen ihn ein und seine Reisedecke drüber, daß er sich nich bloß wirft« (MM, S. 41). Während der Examensvorbereitung gehört die Decke schließlich wieder zum zweckdienlichen Inventar, wenn Mathilde für Hugo folgendes Szenario entwirft: Abends kommst Du zu Mutter und mir herüber und kannst Dich auch auf die Chaise longue legen wenn es Dir paßt und Dich mit Deiner alten Reisedecke, mit dem Löwen drauf, zudecken. Und wenn Du so da liegst werd ich Dir die Künste abfragen und nicht eher ruhen als bis Du mir Red und Antwort stehen kannst und alles ganz genau weißt wie am Schnürchen. (MM, S. 74)
Doch auch wenn das kolonial konnotierte Zeichen ›Löwe‹ die MathildeHugo-Beziehung mit der Semantik der Bändigung und Überwältigung infiltriert,333 macht der Text ebenso Hugos Sicht der Dinge geltend, die diese Semantik wieder modifizierend unterläuft: Denn Hugo ist eben kein wehrloses, sondern ein williges ›Opfer‹, das sich durchaus absichtsvoll in Mathildes Hände begibt: »So schwach war er nicht, um nicht einzusehn, daß Thilde mit ihm machte was sie lustig war« (ebd.), und »eigentlich war er froh, daß jemand da war der ihn nach links oder rechts dirigirte, wie’s besonderem Maße geeignet, Übergänge zu stiften, und leisten überdies dem Unmerklichen, dem ›Schein der Absichtslosigkeit‹, wie ihn die Kunst verlangt, Vorschub. Dass die ›Mache‹ nicht zu merken sei, ist Bedingung für Fontanes Kunst der Finessen, welche letztlich – wie auch Mathildes Methode – Kalkül, Kunst des (Be-)Rechnens ist« (siehe das Kapitel: »›Mit dem Bazillus is nicht zu spaßen‹. Fontane«, S. 219 – 236, Zitat S. 230 f.). Vgl. auch Aust, ›Mathilde Möhring‹, S. 286 – 288, und seinen Hinweis auf die »herausfordernde Analogie« (S. 288), die sich über den Fontane’schen Schlüsselbegriff der »Finessen« in Mathilde Möhring herstellt. 332 Vgl. Mathilde zu ihrer Mutter: »Denn das kann ich Dir sagen, für uns is es eine sehr gute Fügung und wenn ich mir was hätte denken sollen auf so was Gutes wie diese Masern wäre ich gar nich gekommen.« (MM, S. 40) Mit Strowick, Sprechende Körper, S. 233, »erweist sich [der ›Bazillus‹] als dasjenige (›Fügung‹), was sich der Berechnung gleichzeitig entzieht und sie aufgehen lässt. Man hat es hier mit einer paradoxen Struktur zu tun: Was der Rechnung entgeht, ist für sie konstitutiv«. 333 Dietrich Sommer, Kritisch-realistische Problem- und Charakteranalyse in Fontanes ›Mathilde Möhring‹. In: Fontane Blätter 35 (1983), S. 330 – 339, spricht von einer »fast schon beutegierige[n] Betreuung« (S. 332).
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gerade paßte. Daß es gut gemeint war, und daß er dabei vorwärts kam, empfand er jeden Augenblick« (MM, S. 74 f.).334 Koloniale Thematik bleibt im Text auf das Verhältnis zwischen Mathilde und Hugo beschränkt, der Umzug nach Woldenstein hingegen ist nicht unter der Perspektive kolonialisierender Raumeinnahme zu sehen; vielmehr kontinuiert er als weitere ›Station‹ (nach der »Fügung« der Masern, die letztlich in Hugos Heiratsantrag mündet,335 und der Kooperation zur Prüfungsvorbereitung) das kalkuliert begonnene Zukunftsprojekt Mathilde-Hugo mit der Zielaussicht auf »dienstliches Einkommen« und Familienbildung (MM, S. 73). So wie für Mathilde feststeht, dass der rekonvaleszente Bürgermeistersohn im Binnenraum der Möhring’schen Wohnung »in unsre Stube« (MM, S. 41) muss – alles andere sähe »so weggesetzt aus« (ebd.) –, ja dass er dort sogar auf »unser Bestes« (MM, S. 42), die Chaiselongue, gebettet werden soll, so gibt sie schließlich auch im gesellschaftlichen Außenraum die territoriale Richtung vor, wo Hugo ›hingehört‹ (siehe MM, S. 80). Ein »rother und ein weißer Geranium« (MM, S. 14) in der Stube der Möhrings kann als farbsymbolisches Signal gelesen werden: Die Referenz auf die polnischen Nationalfarben stiftet bereits paradigmatisch-subtil den Konnex zu den deutsch-polnischen Ostprovinzen Preußens und lässt sich mit Mathildes Raumvorgaben verbinden, die dem Fernziel eines sozialen wie ökonomischen Aufstiegs dienen. Hugos Bericht von Owinsk, der Mathilde zur Stellensuche animiert, wirkt nicht zuletzt auf lexikalischer Ebene durch Integration eines Schlüsselworts: Zweimal nimmt Hugo Bezug auf den Begriff des ›forschen‹ Lebens und hebt dieses damit als raumkonstitutives Merkmal hervor. In dem Dialektwörterbuch Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten wird ›forsch‹ als »stark« ausgewiesen,336 das Deutsche Wörterbuch von Hermann Paul gibt für die Zeit ab dem 19. Jahrhundert die Bedeutungen »ähnlich flott«, »couragiert, voller Tatkraft« und »schneidig, resolut, nicht
334 Vgl. auch jene Szene, in der sich Hugo Alternativexistenzen ausmalt – darunter auch eine solche als »Thierbändiger«. Freilich erkennt er darin schnell eine falsche Zuordnung: »Thierbändiger. Und dabei hat mich Thilde in Händen; sie denkt ich merke es nicht, aber ich merke es recht gut. Ich laß es gehn, weil ich es so am besten finde.« (MM, S. 70) 335 Wohlgemerkt mit einer Stimme, »darin noch die Krankheit zittert« (MM, S. 46). 336 [Art.] ›Forsch‹. In: Hans Meyer, Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. 4., vermehrte und verbesserte Aufl., Berlin 1882, S. 31.
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lange fackelnd« an.337 Innerhalb dieser Semantik bewegt sich Hans von Rybinski, wenn er den Entschluss von Hugos Vater, als Bürgermeister nach Owinsk zu gehen (auch wenn die Familie vielleicht dagegen war, weil sie sich andere Karrieresprünge erwartet hatte), als ›forsch‹ klassifiziert (MM, S. 23). Im Kontext der dargestellten Welt lagern sich jedoch darüber hinaus noch zusätzliche Bedeutungen an. Denn hier zielt der Begriff ebenso auf normabweichende erotische Gefahr (so hat der Amtsvorgänger Hugos in Woldenstein, wie Mathilde schließlich hört, die Stationierung einer Garnison abgelehnt, »vielleicht weil er sich wegen seiner Frau fürchtete. Die soll nämlich etwas forsch gewesen sein«, MM, S. 93); des Weiteren fungiert er – und das ist in unserem Zusammenhang vor allem relevant – als Synonym für einen (gegenüber dem ängstlich kalkulierenden kleinbürgerlichen Milieu) privilegiert-ungezwungenen Habitus, so dass Mathilde die Forschheit als Kategorie der sozialen Differenzierung verstehen kann und sie als unbedingte Orientierungsgröße einfordert. Entsprechend weist sie ihre Mutter zurecht: »[A]ber wenn Du immer gleich so weimerst, dann sind wir auch ›kleine Leute.‹ Wir müssen nu doch ein bischen // [1] einen forschen [2] forscher sein und so was man sagt einen guten \\ Eindruck machen« (MM, S. 68).338 Das forsche Leben der Honoratioren in Owinsk, das mit ökonomischer Potenz einhergeht, übt Sogkraft aus: Indem der Begriff im Text Mathilde Möhring zwar nicht mit polnischen Figuren korreliert, jedoch zweimal im Konnex mit Owinsk, also mit einem überwiegend polnisch besiedelten Raum, evoziert wird, wird Mathildes Wunsch nach einer ›forschen‹ Statusverbesserung implizit von Anfang an textuell an diesen Raum als Ermöglichungsraum gebunden, ganz unabhängig von den Berufsplänen für Hugo. Der Ortswechsel von Berlin nach Woldenstein in Westpreußen im Rahmen eines preußischen Aufstiegsprojekts (beruflich für Hugo, sozial für Mathilde) erweist sich damit als doppelt – explizitbewusst wie implizit-unbewusst – motiviert. Wenn Hugo in seiner Antrittsrede davon spricht, »daß die Kraft des preußischen Staates in den östlichen Provinzen liege« (MM, S. 89), dann lässt sich dies mit Blick auf Mathildes Pläne umformulieren: Für sie liegt 337 [Art.] ›forsch‹. In: Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarb. und erw. Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, Tübingen 2002, S. 344. 338 Diese Stelle wurde von Fontane zweifach formuliert, beide Fassungen enthalten jedoch das Wort ›forsch‹. Die Doppelvirgel markiert in der Edition GBA Mathilde Möhring Anfang und Ende einer Mehrfachformulierung; die hochgestellten Ziffern geben die Textschichten in ihrer rekonstruierten Entstehungsreihenfolge wieder.
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Hugos Kraft (und damit auch die ihre) in einer Ostprovinz wie Westpreußen, und es kann nur darauf ankommen, »daß Woldenstein baldmöglichst erreicht wurde« (ebd.); diese Kleinstadt ist »jetzt die Karte, darauf wir setzen müssen« (ebd.). Die (figural nicht erkannte) Brisanz dieses Diktums liegt freilich in seiner metonymischen Relation zum ›Spiel‹, das sich durch genuin Widersprüchliches auszeichnet: Kalkül ebenso wie Kontingenz. Was dies für das Projekt ›Woldenstein‹ im Einzelnen bedeutet, ist näher zu erläutern. Zuvor soll jedoch noch auf eine Figur mit polnischem Namen eingegangen werden, von der bis jetzt nur als Sprechinstanz die Rede war: Hans von Rybinski. Zum einen agiert er im Text als Repräsentant eines alternativen Lebensmodells jenseits bürgerlicher Normsetzung und -erwartung, zum anderen dient er Mathilde als Funktionsgröße innerhalb ihres Lernprogramms für Hugo, gehört Rybinski zu jenem Erzählstoff-Reservoir, das Mathilde in den »Unterbrechungen« (MM, S. 75) produktiv zum Einsatz bringt. 3.5.2 »Rybinski-Wege«: Narrative Bändigung polnischer Gefahr Rybinski, Jugendfreund aus Posen und ehemaliger Kommilitone Hugos, wird im Text explizit mit polnischen Merkmalen versehen. Zwar ist ungewiss, ob Rybinski, der das juristische Repetitorium fallen gelassen hat und sich stattdessen nun mit Nebenrollen als Schauspieler versucht, in der Erzählgegenwart noch an seiner polnischen Nationalität festhält. Der Vorname Hans scheint für Assimilationsprozesse zu sprechen. Und eine »Polenmütze« (MM, S. 22), die Rybinski kleidet, als er im vierten Kapitel Hugo besucht, könnte auch Theaterrequisit sein:339 Rybinski hat gerade Proben hinter sich, in der Rolle als böhmischer Edelmann Kosinsky in Schillers Die Räuber. 340 Man kann jedoch nicht an der Tatsache vorbei339 Auffallend ist allerdings, dass in Fontanes Texten polnische Figuren gern mit Pelzmützen (offenbar identisch mit Polenmützen) ausgestattet werden. Vgl. Kathinka in Vor dem Sturm, die eine »polnische Mütze« (GBA Vor dem Sturm, Bd. 2, S. 128) besitzt, welche später noch einmal als »eine polnische mit weißem Pelz besetzte Mütze« (ebd., S. 241) spezifiziert wird, sowie Szulski in Unterm Birnbaum und den Wirt Golchowski in Effi Briest, die beide eine Pelzmütze tragen. Siehe ebenso Fontanes Verweis auf die Darstellung der Ostrołe˛ka-Schlacht im Kühnschen Bilderbogen, bei der nicht zuletzt die »polnischen Pelzmützen« illustrative Wirkung entfalten (GBA Wanderungen, Bd. 1, S. 132; vgl. Kapitel 2.1.2). 340 Die Polenmütze passt zur Figur Kosinsky, wenn diese, wie Kosellek darstellt, auf eine historische polnische Persönlichkeit zurückzuführen ist, die sowohl bei der
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sehen, dass Rybinski einen polnischen Familiennamen trägt, der über seine nationale Herkunft Auskunft gibt, noch dazu einen Namen mit großem historischem Identifikationspotential, nämlich denjenigen des berühmten Generals Maciej Rybin´ski (1784 – 1874) aus dem polnischen Aufstand von 1830/31.341 Fontane erwähnt diesen letzten Oberbefehlshaber der polnischen Truppen gegen die russische Armee vor der Kapitulation Warschaus 1831 explizit in den Kinderjahren (1894).342 Rybin´ski gehört dort neben General Jan Zygmunt Skrzynecki (1786 – 1860), der die Polen in der Schlacht bei Ostrołe˛ka befehligte, zu den Persönlichkeiten des Aufstands, deren Namensnennung Fontane genügt, um eruptiv Erinnerungen an die Insurrektion hervorzubringen. Schon unter der Prämisse, dass alle aus den Zeichen ableitbaren Wissensmengen für die Textbedeutung relevant werden können,343 ist die historische Semantik des Namens Rybinski zu berücksichtigen. Dies muss umso mehr gelten, als Fontane onomastischen Zitaten, wie in den Kinderjahren geschehen, explizit eine Funktion als Gedächtniskatalysator zuspricht. Nicht zuletzt entsteht Mathilde Möhring in zeitlicher Nähe zu den Kinderjahren, die 1892 in einer ersten Niederschrift fertig werden (die Figur Rybinski gehört bereits in der ersten Entwurfsphase von Mathilde Möhring 1891 zum Figurenpersonal).344 Rybin´ski ist ein General der Niederlage, vor allem aber Repräsentant des heldenhaften polnischen Freiheitskampfs. So mag auch der Romanfigur Hans von Rybinski die Gefahr zu scheitern inhärent sein, doch Hugo bewundert in ihm allein den Freiheitshelden,345 der zwar nicht mehr um nationale Freiheit kämpft, sich aber durch seine Entscheidung für die
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Entführung als auch der anschließenden Rettung des letzten polnischen Königs Stanisław August Poniatowski 1771 eine entscheidende Rolle spielte: Jan Kuz´ma, bekannt unter dem Namen Kosin´ski (König, Feldherr, Krieger, S. 126, 128). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Charakteristik Rybinskis in Mathilde Möhring, die seine Braut Bella vornimmt: »Als Kosinski war er er selbst« (MM, S. 62). Insofern geht es fehl, wenn die Forschung bisweilen Zweifel an Rybinskis polnischer Herkunft angemeldet hat, so Ossowski, Fragwürdige Identität?, S. 261, oder Radecke im Stellenkommentar von GBA Mathilde Möhring, S. 315. Man denke auch an Tubal in Vor dem Sturm, der den Namen zu den konstitutiven Indikatoren nationaler Herkunft zählt. Vgl. Kapitel 3.2.3. Siehe Kapitel 2.1.2. Vgl. Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft, S. 3050 f. Siehe GBA Mathilde Möhring, S. 278 – 280. Vgl. auch Voss, Literarische Präfiguration, S. 231, die aus dem Generalsnamen Rybinski ein »ganzes Programm« ableitet und resümiert: »Rybinsky [sic!] steht also für Freiheit«.
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Schauspielerei von gesellschaftlichen Normvorgaben und Normerwartungen zu befreien vermag: »Ich bin für die, die abspringen« (MM, S. 23), lautet Rybinskis Maxime, die für den entscheidungsschwachen Hugo, der sich in Mathildes Hände begibt, »weil ich es so am besten finde« (MM, S. 70), so unerreichbar wie faszinierend ist. So bleibt er denn bei »verwogne[n] Gedanken« (ebd.) stecken, statt aktiv zu werden. Noch in Woldenstein, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, bedient er sich der Imagination, »dachte [Hugo] den ganzen Abend über an Rybinski und beneidete das Stehen in der freien Kunst« (MM, S. 101 f.). Rybinskis freiheitliches Lebensmodell kann nicht nur mit Schiller, sondern ohne weiteres auch mit dem tradierten polnischen Stereotypenvorrat in Einklang gebracht werden:346 dem Hang zum Spiel (und damit verbunden der Abneigung gegenüber praktischer Tätigkeit), der Liebe zum Ruhm als (sozial nicht determinierter, individuell zu erringender) Dauergröße der Anerkennung (vgl. Rybinskis Äußerung »Ruhm geht über Adel«, MM, S. 25), mit Unzuverlässigkeit und Untreue. Die Damen an der Seite des »entzückende[n] Kerl[s]« (MM, S. 88) Rybinski wechseln oft: Kommt er zur Verlobung von Hugo und Mathilde noch mit seiner Braut Bella,347 erscheint er zur Hochzeit der beiden bereits »mit einer neuen Braut« (ebd.), während in Woldenstein schließlich per Post die »Vermählungsanzeige Rybinski [sic!] (aber mit einer andern Dame)« (MM, S. 108) eintrifft. Während Rybinski also beruflich und privat das ›Abspringen‹ kultiviert und sein Adelsprädikat erst einmal ruhen lässt (vgl. MM, S. 25), will Mathilde, dass Hugo auf den preußischen Karrierezug aufspringt und damit auch ihr zum »Titel« (MM, S. 67) verhilft. Das heißt aber auch, dass sie geeignete Formen finden muss, mit dem, was sie »Rybinski-Wege« (MM, S. 47) nennt, umzugehen. Denn in diesem Alternativangebot lauert eine »Gefahr« (MM, S. 58), »noch dazu eine complicirte« (MM, S. 58 f.), wie es in einer Doppelformulierung präzisierend heißt; kontrollierbar wird sie nicht durch zwischenmenschlichen Kontaktabbruch. Vielmehr scheint sie nur zu bewältigen zu sein durch ihre Funktionalisierung, mithin ihre gezielte Einbettung in die Examensvorbereitung. Mathilde sieht deutlich, daß sie zu Erreichung ihrer Zwecke der Mitwirkung und Fortdauer guter Beziehungen zu Rybinski durchaus bedurfte. // [1] Was zu geschehn habe, stand ihr [2] Wenn ihr fest stand, wie sie Hugo zu trainiren habe, so \\ stand ihr auch 346 Vgl. die in Kapitel 3.1.3 zitierten Auszüge aus den Polenartikeln von Pierers Universal-Conversations-Lexikon und Meyers Konversations-Lexikon. 347 Der Name wird auf S. 56 (hier als Zweitformulierung neben »Isolde«) und S. 62 genannt.
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ebenso fest, daß sie so was wie Zuckerbrot beständig in Reserve haben müsse um Hugo bei Lust und Liebe zu erhalten und dazu war Rybinski wie geschaffen. Ueberhaupt nur nichts Gewaltsames, nur nichts übereilen. Alles mit Erholungspausen. (MM, S. 59)
Die Referenz auf Rybinski gehört zur Taktik der Ablenkung und Überleitung, die Erfolg hat, weil Hugo Mathilde »mit einem gewissen künstlerischen Behagen« (MM, S. 75) zu folgen vermag. Während Rybinski, so die Furcht Mathildes, Hugo zunächst vom Wege abzubringen schien, soll er ihn nun – als Erzählstoff gebändigt – auf dem Examensweg vorwärtsbringen; die polnische »Gefahr« wird kanalisiert, indem sie als Narrativ zum produktiven Motor werden kann, der Erfolge verspricht.348 Hat Mathilde plaudernd »bis zu Rybinski« (MM, S. 76) zurückgefunden, ist es Hugo anschließend wieder möglich, »erfrischt« (ebd.) juristische Lernfragen zu beantworten. Der durch Rybinski repräsentierte Freiraum der Kunst überdauert in geschrumpfter Version, dient als Mittel zum Zweck, ist Teil jener Methode der geschickten Anordnung, die dem Beobachter Hugo als Kunstgenuss bleibt. Mathilde lehnt Theater und Kunst zwar nicht ab, sieht in ihnen sogar ein soziales Kriterium (entsprechend klassifiziert sie das Personal ihrer Verlobungsgesellschaft, zu der auch Rybinski gehört, als »lauter feine Herren, alle studirt und Kunst dazu«, MM, S. 53, und zieht damit eine scharfe Trennungslinie zu dem ihrer Meinung nach nicht dazugehörenden Wirt Rechnungsrat Schul(t)ze), allerdings propagiert sie eine klare hierarchische Ordnung: »Alles muß sein Vergnügen haben aber auch seinen Ernst. Und der Ernst kommt erst.« (MM, S. 73) Kunst, deren Aneignung und Ausführung man sich auch leisten können muss, mag als soziales Unterscheidungsmerkmal taugen; ein Sicherheit gewährendes Existenzund Aufstiegsmodell ist sie deshalb noch nicht. Selbst Hugo lehnt letztlich die Nachahmung von »Rybinski-Wege[n]« ab, auch weil er – der Lebensalternativen nur imaginieren kann und diesbezügliche Grenzüber-
348 Wenn überhaupt über den Begriff der »Finessen« (MM, S. 75) eine Brücke von Mathildes Methode – als souveräner Kunst der Anknüpfung, der geschickten Korrelation von Disparatem – zu Fontanes Erzählkunst geschlagen werden kann (siehe oben unter Kapitel 3.5.1), dann wären hierbei auch die polnischen Implikationen dieser Kunst zu nennen. In beiden Kontexten kommt dem Polnischen eine je spezifische Katalysatorfunktion zu, sei es, dass es Erfolge herbeiführen soll oder dass es auf narrativer Ebene Handlungen in Gang setzen kann.
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schreitungen lediglich in Gedanken vornimmt – zu wissen meint, »was ich mir und andern schuldig bin« (MM, S. 69).349 Polnisches spielt in der Planung von Hugos Karriereweg eine beachtliche Rolle. Insofern hat Walter Müller-Seidel recht, wenn er konstatiert: »Mit der Polenmotivik ist diese Aufstiegsgeschichte aufs engste verknüpft.«350 Nur irrt er in der nicht detaillierter ausgeführten Schlussfolgerung, dass Mathilde in Westpreußen Pläne »von Herrschaft und preußischer Mission«351 verfolge. Denn statt um (ideologische) Herrschaft über die polnische Bevölkerung geht es um berufliche Etablierung, die auf einen flexiblen Ausgleich der Kräfte setzt. Mathildes Rechnen impliziert tatsächlich nicht nur das gezielte Desinteresse für die »Moralia von Owinsk« (MM, S. 80), den Umgang mit Rybinski im Dienste einer preußischen Karriereplanung, die Ortswahl Woldenstein, sondern auch ein geschicktes In-Szene-Setzen Hugos in der westpreußischen Kleinstadt. War Owinsk für Hugo noch in den Semesterferien ein Domizil der Muße, wo »die Büffelei […] ein Ende« (MM, S. 22) hatte, so avanciert Woldenstein auf Drängen Mathildes zu einem Ort, an dem von Hugo beständig »Ideen« (MM, S. 92 und 94) gefordert werden. Die Eroberungsleistung, die sie für Hugo und sich erstrebt, erstreckt sich allein auf die Eroberung der »Herzen« (MM, S. 89), mit dem gewünschten Resultat eines wohlwollenden Urteils, das lauten könnte: »[D]a habt ihr endlich mal einen richtigen Burgemeister, einen klugen, verständigen Mann.« (MM, S. 91) Es ist signifikant, dass an dieser Wahrnehmung die verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Deutsche, Juden, Polen) gleichermaßen partizipieren sollen. Offenbar sieht Mathilde, die im Hintergrund für Hugo – wo sie es für nötig hält – die politischen Fäden zieht, gerade in einer Ausgleichspolitik, die potentielle Gegner neutralisieren soll, eine profitable Möglichkeit zu langfristiger Existenzsicherung.
349 Siehe auch Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 304. Sie weist zudem darauf hin, dass sich Hugo in seinen Vorstellungen von Ehe und Moral deutlich von Rybinski unterscheidet. Tatsächlich gelingt es Hugo nicht, einen Brautpaar-Toast auf Rybinski und seine vorgebliche Verlobte Bella auszubringen (vgl. MM, S. 63). 350 Müller-Seidel, Fontane und Polen, S. 443. 351 Ebd.
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3.5.3 Das Regulativ der Kontingenz: Tod in der Ostprovinz Der Gewinn von Ansehen ist, wie Mathilde erkennt, auf die Wahrnehmungsmuster ›Sehen‹ und ›Hören‹ (siehe MM, S. 92) angewiesen. Es gilt, »immer auf der Auskiek« (MM, S. 94) zu sein, um Defizite in Woldenstein zu identifizieren und zu heben. Und Ansatzpunkte zum effektvollen Handeln bieten sich offenbar vielfältig. Aufgrund dessen, was Mathilde von dem Einheimischen Alkitta gehört hat, schlägt sie Hugo ebenso vor, eine Straße zum Torfmoor hin befestigen zu lassen, wie auch eine Garnison in Woldenstein zu stationieren; dies werde mit der Einrichtung von Kasino, Ball und Theater einhergehen und zu einer Aufwertung Woldensteins führen. Die Rückständigkeit einer Kleinstadt in den östlichen Provinzen offenbart der Text demnach anhand prekärer Straßenverhältnisse, aber auch durch das Fehlen kultureller Institutionen. Freilich sind solche Räume immer durch Ambivalenz gekennzeichnet: So wird schon die Owinsker Lebenswelt einerseits mit den qualitativen Merkmalen Vergnügen, Spiel und Erotik (siehe MM, S. 79) versehen; andererseits kann Hugo – gerade aus den Ferien in Posen nach Berlin zurückgekehrt – gegenüber Rybinski auch die Absenz jeder höheren Kultur beklagen: Owinsk ist ein Nest, natürlich und wenn man aufgestanden ist kann man auch schon wieder zu Bette gehn und dazu die ewige Klagerei von Mutter u. Schwester und keine Spur Verständniß für ein Buch oder ein Bild und wenn ein Tanzbär auf den Markt kommt dann ist es als ob die Wolter gastirte .. (MM, S. 21)352
352 Die Rückständigkeit und Langeweile in der Provinz Posen expliziert auch ein Spottvers, der in Fontanes Werk wiederholt zitiert wird. Vgl. GBA Effi Briest, S. 261: »Wüllersdorf war sogar, freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch den bekannten Spottvers: Schrimm Ist schlimm, Rogasen Zum Rasen, Aber weh’ dir nach Samter Verdammter – mit ebenso viel Emphase wie Vorliebe zu zitieren pflegte.« Die benannten Städte befinden sich alle in der Provinz Posen. Der Vers wird ebenso zitiert (mit Abweichungen im Wortlaut) in Fontanes unvollendetem Aufsatz Darstellende Künstler und die Kritik von 1882 (NFA XXII/3, S. 251). Vgl. auch das Gedicht Haus- und Gartenfronten in Berlin W. (GBA Gedichte, Bd. 2, S. 483).
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Hugos chancenreiches Betätigungsfeld als Bürgermeister liegt in den Augen Mathildes in der möglichen Entwicklungsspanne Woldensteins vom »Nest« zur »Stadt« (MM, S. 94). So mögen Impulse zum zivilisatorischen Fortschritt (wie das Straßenanlegen), Aktionen zur Höherkultivierung eines Gebiets im Mangelzustand zwar auch bekannte Kategorien des kolonialen Diskurses sein – man denke nur an Gustav Freytags Soll und Haben –,353 aber sie werden im Text nicht als solche ideologisiert; die Projekte sind allein an das Ziel individueller Profilierung geknüpft, ohne zugleich der Propaganda deutscher Einflussnahme unterworfen zu sein. Das zeigt sich auch darin, dass Hugo (als ausführendes Organ) und Mathilde (als Initiativkraft)354 keine Segregationspraxis verfolgen, sondern auf Maßnahmen setzen, die der national-konfessionellen Integration verschiedener Gruppen in »Preußen« (MM, S. 95) dienen. So finden beide im jüdischen Lager Anklang: Hugo sei wie »Nathan«, meint der Firmeninhaber Silberstein; und für die »Gleichberechtigung der drei Confessionen« (ebd.) spricht sich auch Mathilde aus. Praktiziert wird eine Politik, die die verschiedensten politischen Richtungen zufriedenstellen kann. So fühlen sich die Anhänger der Konservativen Partei und die jüdischen Mitglieder der fortschrittlichen Partei schon bei Hugos Antrittsrede in Woldenstein gleichermaßen berücksichtigt, weil er sich nicht nur zu Seiner Majestät, sondern auch zur Verfassung bekennt. Und der katholische – in Westpreußen damit zugleich der polnische – Lehrer wird auf Mathildes Rat hin durch eine Gehaltszulage gewonnen (siehe MM, S. 99). Schließlich ist auch der zunächst noch zurückhaltende konservative Landrat, der ›von oben‹ protegiert wird, auf Hugos Seite gebracht, weil Mathilde (die Urheberschaft wird freilich ihrem Mann zugeschrieben) einen wohlwollenden Zeitungsartikel über ihn verfasst und veröffentlicht. Darin lobt sie den Landrat als einen Charakter, der alle Bevölkerungsgruppen anspricht: [»][…] Es läßt sich hier von einem Siege der Persönlichkeit sprechen der um so glänzender ausfällt als das landräthliche Hauswesen eine Anziehung auf das Polenthum äußert. Die feine Sitte, die dem Polenthum so viel bedeutet, hat in diesem Hauswesen ihre Stätte. // [1] Das [2] Diese Vorzüge \\ […] sieht sich auch der Fortschritt, trotz gesellschaftlichen Draußenstehens, in der angenehmen Lage vollauf würdigen zu können […].« (MM, S. 97) 353 Siehe Kopp, ›Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern‹. 354 Vgl. folgenden Dialog zwischen Mathilde und Hugo: »[›]Hugo, das ist möglich und das ist in Deine Hand gegeben ..‹ ›Oder in Deine‹ lächelte Hugo. ›Aber Du hast Recht, wir wollens versuchen.‹« (MM, S. 94)
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Signifikant ist, dass die genuin polnische Eigenschaft der »feine[n] Sitte« als Scharnier der Vermittlung zwischen verschiedenen nationalen und religiösen Gruppierungen funktionalisiert werden kann; Mathilde stellt – gemäß ihrer Vorlage, die sie einer Myslowitzer Korrespondenz entnimmt – auf kulturelle Verständigungsmuster ab, die grenzüberschreitend wirken. Politische Differenzen, die sehr wohl existieren,355 werden demgegenüber marginalisiert, zumal sich die wirtschaftlichen Interessen aller Gruppen in dem Ziel treffen, eine günstige Bahnverbindung zur Weichsel einzurichten, wofür die guten Beziehungen des Landrats zum Berliner Hof die besten Voraussetzungen bieten. Diese Gewichtungstaktik – die Betonung kulturell-politischer Gemeinsamkeiten statt Unterschiede – erscheint umso auffälliger, als der Text durchaus auf jene Konflikte zeichenhaft verweist, die die westpreußische Provinz realhistorisch prägten: Germanisierungsund verschärfte Schulpolitik.356 Zwar mag sich die Gattin des Landrats wohltätig für die Armen aller Konfessionen einsetzen (auch darauf referiert Mathilde im Zeitungsbeitrag), aber sie hat sich dennoch »die Festigung des Christlich Germanischen zur Lebensaufgabe gestellt« (MM, S. 95); und die tagesaktuelle Brisanz der Schulpolitik wird durch zweimalige Nennung des katholischen, also polnischen, Lehrers (MM, S. 98 f.) ebenso indiziert wie durch den Verweis auf die »Simultanschulfrage« (MM, S. 102),357 über die der Landrat eine Rede gehalten hat.358 Dass sich Mathilde auch von einer anderen Seite zeigen kann, offenbart sich dort, wo sie es kalkulierend für angebracht hält, nämlich im direkten Gespräch mit dem konservativen Landrat. Dann zitiert sie nicht nur aus dessen besagter Rede, sondern zeigt auch noch ihre Bewunderung für das Rednertalent Bismarck. Dieser habe mit seinen Ansprachen sogar charakterbildend auf sie eingewirkt: »Ich darf sagen daß die Reden des Fürsten erst das aus mir gemacht haben was ich bin. […] Eisenquelle, Stahlbad. Ich fühlte mich immer wie erfrischt.« 355 Siehe Hugos Überlegung, warum er als Verfasser des Zeitungsartikels vermutet wird (und nicht Silberstein oder der polnische Lehrer), MM, S. 98. 356 Nachdem schon 1873 Deutsch als gängige Unterrichtssprache ab der Volksschule (auch im Religionsunterricht) festgelegt worden war, wurde 1887 auch der polnische Sprachunterricht abgeschafft. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2, S. 271 f. 357 Die Frage, ob die Konfessionsschule oder die gemischtkonfessionelle Simultanschule die Regel der mindestens dreiklassigen Schule sein sollte, stand seit der Kulturkampfzeit auf der politischen Tagesordnung. Sie wurde erst 1904/06 zugunsten der Konfessionsschule entschieden. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 534 – 536. 358 Vgl. auch Erlers Nachwort in der dtv-Ausgabe von Mathilde Möhring, S. 154.
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(Ebd.) Die Forschung hat mit Blick auf dieses Diktum versucht, Mathilde als »figurale[] Reduktionsstufe«359 Bismarcks zu interpretieren. Allenfalls mag es hier jedoch Anknüpfungspunkte im Methodischen, hinsichtlich des Zweckdienlichen geben, mit dem Fontane beide, Mathilde und Bismarck, ausstattet.360 Hinsichtlich der Polenpolitik, die Mathilde eben nicht à la Bismarck betreibt, sind hingegen schon keine Übereinstimmungen mehr zu konstatieren. Überhaupt sind Mathildes Äußerungen allererst in ihrem adressatenbezogenen Kontext zu sehen: Es gilt, den Landrat zu beeindrucken, und Mathilde hat wieder einmal den gewünschten Erfolg. Ihr Interesse an Politik reißt den Landrat schließlich zu wahren Begeisterungsstürmen gegenüber Hugo hin: »Burgemeister, Freund, Sie haben eine famose Frau. Kolossal beschlagen.« (MM, S. 102) Mathildes flexibles Agieren zielt darauf ab, Hugos »Stellung« (MM, S. 99) in Woldenstein zu befestigen. Der Text spricht von Mathildes »Errungenschaften« (ebd.) und koppelt diese auch an eine physische und habituelle Veränderung seiner Protagonistin. Tatsächlich hat das Engagement in der Ostprovinz Merkmalsübertragungen zur Folge. Denn Mathilde werden nun neue Attribute zugeordnet, die sich in ihrer Kombination – vor dem Hintergrund tradierter stereotyper Muster – als ›polnisch‹ ausweisen lassen. So gibt sie sich in Woldenstein kokett, lässt sich modischelegante Kleider aus Posen und Breslau beschaffen, versucht »auf Hugo einen gewissen Frauenreiz« (MM, S. 100) auszuüben. In Berlin noch »ganz ohne Reiz« (MM, S. 7), wirkt sie jetzt auf ihre Umgebung durch Charme. »Muck, Race, Schick« (MM, S. 102), lautet die knappe Bewunderungsformel des Landrats. Doch Mathilde besticht nicht nur (positiv) durch Eleganz, ja Erotik, sie wird auch (in fataler Weise) leichtsinnig. Und daran ist nicht zuletzt ein Pole beteiligt. Am Silvesterabend, an dem die Äußerungen des Landrats über Mathilde fallen, zeigt der Text das Bürgermeisterpaar auf dem vorläufigen Karrierehöhepunkt. Während Mathilde allerdings fast mit einem Adelstitel ausgestattet wird – »Sagen Sie, was is es für eine geborne?«, fragt der Landrat (ebd.) – und damit das von ihr angestrebte Sozialprestige, nämlich einen Titel, gewissermaßen übertrifft, denkt Hugo, der gern bei der abendlichen Theateraufführung mitgewirkt hätte, an Rybinski. Im Gegensatz zu Mathilde, die ganz in der Provinz angekommen ist, bewegt sich 359 Aust, ›Mathilde Möhring‹, S. 290. Siehe etwa auch Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, S. 688. 360 Vgl. Schöll, ›Mathilde Möhring‹, S. 592, sowie Fontane an August von Heyden, 5. 8. 1893 (HFA IV/4, S. 272).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
ihr Mann nach wie vor wie im Traum,361 stellt damit implizit auch seine Honoratiorenexistenz in Woldenstein in Frage. Dass just in dem Moment, als Hugo schließlich »im Frack mit weit ausgeschnittner Weste« (MM, S. 103) den Landrat und seine Gattin zum Schlitten begleitet, »draußen […] ein Südoster von den Karpathen her« (ebd.) weht, der Hugo hohes Fieber einbringt (spätere Diagnose: Lungenentzündung) und für ihn letztlich letale Folgen haben wird, ist bezeichnend. Tatsächlich sind es die spezifischen (neu erlangten bzw. invarianten) Charaktermerkmale von Mathilde und Hugo, die die Wirkung des (sich obendrein weiter verstärkenden)362 Ostwinds begünstigen, indem sie situativ zu Fehlverhalten führen. So will Hugo, der kein Theater spielen darf, am Neujahrstag wenigstens den See als Bühne nutzen und seine Fähigkeiten als Schlittschuhläufer zur Schau stellen. Und Mathilde versäumt es, den sichtbar kranken Hugo nach Hause zu schicken, kommt dafür einer Aufforderung des alten polnischen Grafen Goschin zu einer Schlittenpartie nach. Zum einen ist dies ihrem Willen nach Etablierung und Aufstieg geschuldet: »Sie mußte das annehmen, denn er war der reichste und angesehenste Mann der ganzen Gegend« (MM, S. 104). Zum anderen jedoch birgt Mathildes erotische Vitalisierung die Gefahr von ›Leichtsinn‹ und ›Unordnung‹ im Sinne einer fatalen Öffnung moralischer Grenzen: »[O]hne Weitres« (ebd.) steigt sie in den Schlitten des Grafen, der sich angesichts dieser »uneingeschüchterte[n] Manir« (ebd.) dazu ermuntert sieht, mit deutlichem Sprachakzent seine zweideutigen Berlin-Erinnerungen zum Besten zu geben (vgl. »Eine Stadt von sehr freier Bewegung […]. Und keine falsche Verschämung«, MM, S. 105). Nur eine Flussrinne verhindert die prekäre Weiterfahrt. In dem Moment, wo Mathilde buchstäblich nicht mehr die Zügel in der Hand hat, sich stattdessen von dem Verführer-Grafen in einen Wolfspelz einpacken lässt, scheitert das Aufstiegsprojekt, bei dem der Anteil von Ernst und Vergnügen immer klar berechnet wurde und bei dem Mathilde die ›sichere‹ Basis darstellte, während Hugo jetzt »Beunruhigendes« (MM, S. 106) empfinden muss. Sobald sie aus dem Schlitten ausgestiegen ist, präsentiert 361 Hugos Lieblingslektüre ist das Reclam-Bändchen mit Calderóns Das Leben ein Traum (siehe MM, S. 28). Die polnischen Implikationen dieses 1635 in Madrid uraufgeführten Schauspiels, dessen Handlung in Polen und am polnischen Hof situiert ist, liefern, soviel ich sehe, keine intertextuellen Bezüge für Mathilde Möhring. 362 Siehe »Wäre das Wetter über Nacht anders geworden, so hätte das Fieber vielleicht nicht viel bedeutet. Aber der Wind ging noch mehr nach Osten ’rum und an Schonung war nicht zu denken« (MM, S. 103).
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sie sich jedoch wieder als geordnet-entscheidungsstarke Figur: Nun lehnt sie es ab, Hugo, dessen Gesundheitszustand sich weiter verschlimmert hat,363 mit dem Schlitten des Grafen nach Hause fahren zu lassen (mit Blick auf Hugo wohl eine Fehlentscheidung). Und auch nach seinem Tod behält sie die Grenzziehung bei: Ein Stellenangebot als Hausdame beim Grafen Goschin schlägt sie aus;364 nur wenig später kehrt sie nach Berlin zurück und nimmt ihre Ausbildung zur Lehrerin wieder auf. Der Aufenthalt in der Ostprovinz setzt Reflexionen in Gang und generiert Veränderungen. So kommt Mathilde letztlich zu dem Schluss: »[I]ch glaube beinah, daß er lieber nicht hätte heirathen sollen […] und ich bin ganz sicher, es hat ihm geschadet« (MM, S. 123). Das Heirats- und Aufstiegsprojekt wird im Rückblick als Fehlkalkulation relativiert, das Hugo zu viel abverlangt hat. Überhaupt stellt Mathilde das Hierarchiegefälle ihrer Beziehung in Frage und nivelliert es zugunsten eines Verhältnisses gegenseitiger Beeinflussung: »Ich habe mich ihm immer überlegen geglaubt. Es war nicht so. Wenn das ewige Nachrechnen klug ist, dann ist Mutter die klügste Frau. Von den andren zu denen Hugo gehörte, hat man doch mehr und ich will versuchen, daß ich ein bischen davon wegkriege. […] Ich dachte Wunder was ich aus ihm gemacht hätte und nu finde ich, daß er mehr Einfluß auf mich gehabt hat als ich auf ihn. Rechnen werd ich wohl immer, das steckt mal drin, aber nicht zu scharf und will hülfreich sein […]. [«] (MM, S. 117 f.)
Inwiefern Mathilde tatsächlich eine Wandlung erfährt – abgesehen von ihrer beruflichen Emanzipation als Lehrerin –, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt365 und erhält zusätzlichen Zündstoff durch Autoranmerkungen Fontanes, wonach er plante, Mathilde doch wieder ihren
363 Vgl. auch die spätere Klage der Landrätin, »er [Hugo, A. D.] habe sich’s bei Ostwind auf dem Eise geholt« (MM, S. 111). 364 Eine Entscheidung, die ihre Mutter aus Versorgungsgründen missbilligt. 365 Für eine humane Zustandsveränderung Mathildes sprechen sich etwa aus A[lan] F. Bance, Fontane’s ‘Mathilde Möhring’. In: The Modern Language Review 69 (1974), S. 121 – 133, hier: S. 133, Harald Tanzer, Theodor Fontanes Berliner Doppelroman: ›Die Poggenpuhls‹ und ›Mathilde Möhring‹. Ein Erzählkunstwerk zwischen Tradition und Moderne, Paderborn 1997 (= Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte 9), S. 209 – 225, oder Schmidt, ›fast männlich‹, S. 231. Anderer Ansicht ist beispielsweise Aust, ›Mathilde Möhring‹, S. 286, der (m. E. nicht nachvollziehbar) Äußerungen über eine Wandlung Mathildes lediglich eine isolierte Position im Textgefüge zuweisen will und konstatiert, letztlich bleibe »alles beim alten, d. h. bei der Förderlichkeit des Anpassungsvermögens«.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Mädchennamen annehmen zu lassen.366 Im überlieferten Nachlasstext hält sie allerdings – sogar gegen den Vorschlag der Mutter – dezidiert am Namen Großmann fest.367 Hätte Fontane die angesprochenen Änderungen noch vornehmen wollen, hätte dies auch eine Neukonzeption der letzten beiden Berlin-Kapitel notwendig gemacht. In ihrer jetzigen Gestalt betonen sie jedenfalls rekurrent eine Modifizierung Mathildes und laufen auf eine Beibehaltung des angeheirateten Namens zu. Schon bei ihrer Ankunft in Berlin tritt sie verändert auf, klassifiziert sie der Gepäckträger am Bahnhof als »[o]rntlich ein bischen forsch« (MM, S. 114); sie bringt also jenes Statusmerkmal aus der Provinz mit ihrem Honoratiorenleben heim, das als zugkräftige Orientierungsgröße ihren Weg eben dorthin vorgezeichnet hatte. Deutlich markieren auch raumsemantische Neuordnungen veränderte figurale Dispositionen: Mathilde separiert sich topographisch von ihrer Mutter und bezieht jenes Zimmer im Binnenraum der Möhring’schen Wohnung, das einst Hugo bewohnte. Zu Recht sieht Bance hierin »a clear symbolic indication of her absorption into his world, and a reversal of the situation during his first illness when Hugo was consciously absorbed into the Möhring world by being moved across into their room«.368 Noch am Tag, an dem sie ihren Schuldienst antritt, verweist der Text implizit auf die ›Forschheit‹ als Merkmal Mathildes, wenn an ihre Rückkehr in die Hauptstadt erinnert wird: »Sie ging muthig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf.« (MM, S. 124) Hugo wie der westpreußische Raum wirken auf Mathildes Kalkül im Sinne einer ›entschärfenden‹ Modifizierung, die der Text positiv wertet. Schwieriger wird es, wenn nicht diese individuelle Weiterentwicklung 366 Zu diesen Autoranmerkungen aus der Zeit nach der ersten Niederschrift siehe GBA Mathilde Möhring, S. 285 – 287. 367 Hierin muss nicht zwangsläufig ein Widerspruch zum Texttitel Mathilde Möhring gesehen werden, wie dies Radecke in: GBA Mathilde Möhring, S. 150, tut. So kann gerade dieser Titel einer Aufstiegsgeschichte die kreisförmige Bewegung Mathildes von der Möhring’schen Wohnung weg und wieder zu ihr zurück strukturell sinnfällig abbilden, ohne damit schon eine Aussage über spezifische Zustandsveränderungen zu treffen. 368 Bance, Fontane’s ‘Mathilde Möhring’, S. 133. Vgl. ebenso die Präsenz von Hugos Photographie über der Chaiselongue, die zeichenhaft auf seinen Einfluss verweist. Dass von einer Photographie eine Vorbild- und Mahnfunktion ausgeht, wird an anderer Stelle im Text explizit, als Rybinski Hugo um ein Bild von dessen Vater bittet (»den seh ich mir dann an, so vorbildlich«, MM, S. 23). Siehe auch Nora Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, Berlin/Boston 2011 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 8), S. 329 f.
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fokussiert wird, sondern der Versuch eines Aufstiegsprojekts in der deutschpolnischen Ostprovinz im Hinblick auf sein Scheitern in den Blick gerät. Offensichtlich haben sich Mathilde und Hugo mit dem Woldensteiner Unternehmen übernommen, entpuppt sich doch die Ostprovinz für beide als Gefahrenraum. Zwar hat Polnisches an der Karriereplanung seinen Anteil (von der finessenreichen Funktionalisierung Rybinskis über die Stellensuche bis zur taktischen Positionierung am Ort), aber es sind auch mit dem westpreußischen Raum textuell verbundene semantische Größen und Ereignisse (vom Ostwind bis zu Mathildes ›polnischem‹ Leichtsinn und der Graf-Goschin-Episode), die den Aufstieg abrupt beenden. Die »Karte« (MM, S. 89) Woldenstein erweist sich nur als vorübergehend beherrschbar. Der Text Mathilde Möhring enthält mithin die radikale Implikation, dass für Preußen der Aufenthalt in einer Ostprovinz wie Westpreußen – selbst wenn figurale Kollisionen vordergründig vermieden werden – natürlich gefährlich wird. Während in Cécile Gordon mit seinen Beobachtungen und Nachforschungen preußisch-polnische Konflikte regelrecht heraufbeschworen hat, setzt Mathilde mit ihrer Vorgabe des Ausschauhaltens (»Auskiek«, MM, S. 94) gegenläufig auf eine karrierefördernde Politik des Ausgleichs. Diese Konfliktvermeidung auf Figurenebene kann taktisch-künstlich begrenzt gelingen (wie sich dies in Mathildes Gewinnung des Landrats zeigt); gegen die raumkonstitutive Durchsetzungskraft der elementaren Natur kommt sie letztlich nicht an. Die Natur stellt jenes kontingente Moment dar, das die »Karte« Woldenstein dem Kalkül entzieht; der Natur wird mithin textuell die Funktion eines Regulativs zugewiesen, das die preußisch-polnische Problematik erneut zum Vorschein bringt. Unter dieser Prämisse verkehrt sich auch Hugos Motto seiner Antrittsrede in ihr Gegenteil: Die Kraft des preußischen Staates liegt eben nicht in den östlichen (deutsch-polnischen, A. D.) Provinzen (vgl. MM, S. 89). Signifikanterweise ist Mathilde Möhring der einzige Roman Fontanes mit Polenthematik, in dem es keine polnischen oder pseudo-polnischen Toten auf preußischem Boden gibt. Dass stattdessen eine preußische Figur in einer Provinz mit »stark[em]«369 polnischem Bevölkerungsanteil stirbt,370 unterstellt das preußisch-polnische Verhältnis endgültig einem Circulus vitiosus permanenter Opferproduktion auf beiden Seiten. Von einer machtabsichernden Asymmetrie zwi369 [Art.] ›Deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen‹. In: Meyers KonversationsLexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 19 (Jahres-Supplement 1891 – 1892), S. 180. 370 Obendrein in einer Provinz, die zeitgenössisch im Zentrum forcierter antipolnischer Maßnahmen stand.
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
schen Preußen und Polen, zwischen Eroberer und Eroberten, kann keine Rede mehr sein. Dies bestätigt auch ein Blick in die Poggenpuhls (1896), die zum Teil zeitgleich mit Mathilde Möhring entstanden sind.371 Zwischen beiden Texten lassen sich strukturelle und thematische Verbindungen feststellen,372 so dass sie nicht von ungefähr mit dem Etikett eines komplementären »Doppelroman[s]«373 versehen wurden. Gemeinsamkeiten ergeben sich zudem über topographische Bezüge,374 spielt doch Westpreußen auch in den Poggenpuhls eine Rolle: Beide Söhne, der ältere Wendelin, der im Roman selbst nicht auftritt, und der 22-jährige Leo, sind in Thorn beim fiktiven Regiment Trzbiatowski stationiert. Westpreußen wird hier (mit figurenbezogen unterschiedlichem Akzent) mal als jüdischer, mal als polnischer Gefahrenraum semantisiert, ja ist, obwohl eine preußische Provinz, ›fremdes‹ Terrain.375 Die Schwester Manon setzt Westpreußen mit gefährlicher – diesmal nicht polnischer, sondern jüdischer – Erotik gleich, vor der sie Leo warnt. Weil sie ihn mit ihrer reichen Freundin Flora Bartenstein, einer assimilierten blonden Jüdin, verkuppeln möchte, missfällt ihr die Ostjüdin Esther in Thorn, die nicht nur einen Namen von verführerischer »mystische[r] Macht« (DP, S. 86) besitzt, sondern auch noch durch »dunkle[n] Teint« (ebd.) besticht.376 Manons Aufforderung lautet 371 GBA Die Poggenpuhls, S. 147. Die Poggenpuhls werden im Folgenden mit Sigle (DP) und Seitenzahl zitiert nach der GBA. 372 Man denke nur an die Grundkonstellation einer Familie ohne Vater und die daraus resultierende Sorge, wie man sich finanziell und gesellschaftlich absichert. 373 Siehe Tanzer, Theodor Fontanes Berliner Doppelroman. 374 Diese stellt Tanzer nicht heraus. 375 Dies wird im Text auch pronominal explizit, wenn gegenüber Leo von »[d]einer Provinz« (DP, S. 86) die Rede ist oder Leo selbst in Briefen nach Berlin mit Blick auf die (territorial unterschiedliche) Karpfenzubereitung schreibt: »In diesen Stücken sind wir euch überlegen« (DP, S. 83). 376 Der literarisch gängige Typus der ›schönen Jüdin‹ weist einige Übereinstimmungen mit der ›schönen Polin‹ auf, auch wenn er im Unterschied zu ihr nicht geographisch fixiert ist; hinzu kommt die nicht-christliche Religionszugehörigkeit. So gilt die ›schöne Jüdin‹ ebenfalls als rätselhaft-attraktiv, erotisch-verführerisch, orientalischfremd – siehe Florian Krobb, Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1993 (= Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte 4), S. 19. Das »Zusammentreffen« von »erotischer Ausstrahlung und bürgerliche[m] Emanzipationswunsch[]«, das diesen Typus häufig auszeichnet (ebd., S. 20), wird in Fontanes Poggenpuhls aufgelöst durch Aufspaltung auf die Figuren Esther und Flora. Vgl. auch die verführerische Jüdin Ebba von Rosenberg in Unwiederbringlich (1891), die zwar nicht, wie Graf Holk
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daher: »[W]enn es irgend sein kann, bleibe im Lande und nähre dich redlich; laß es nicht an der Weichsel sein, nicht Esther; sie kann, wie sie auch sei, an Flora nicht heranreichen« (DP, S. 65). Die hierarchisch strukturierte Raumopposition soll die Partnerwahl limitieren. Leo hingegen sieht in den »Judenmädchen« ebenso wie im »Jeu« (DP, S. 25) in erster Linie einen rettenden Ausweg aus der drohenden Langeweile in der Provinz (seine Spielschulden sind eine starke finanzielle Belastung für die adelsstolze, aber verarmte Familie Poggenpuhl). Auch er attestiert dem westpreußischen Raum eine prekäre Unsicherheit, verortet sie jedoch anders als seine Schwester: Während sie die Gefahr im JüdischErotischen identifiziert, sieht er sie im Klimatischen und im polnischpreußischen Gegenüber, mithin auf der Ebene des Gesellschaftlich-Politischen. Die Implikationen nachfolgender Zitate sind zum großen Teil aus Mathilde Möhring bekannt. »[…] Gott, unser Nest da, das hat die reinste Luft, immer Ostwind und dergleichen, und wer nicht fest auf der Bost ist,« und er [Leo, A. D.] gab sich einen Schlag auf die Brust, »der hat eine Lungenentzündung weg, er weiß nicht wie. Also wir haben die reinste Luft, keine Frage. Und doch sag’ ich euch, immer stickig, immer eng, immer klein. […]« (DP, S. 24) Leo hatte von seinem Thorner Leben zu berichten, am meisten von seinen Besuchen auf dem Lande, sowohl bei den deutschen wie bei den polnischen Edelleuten. »Und macht ihr bei diesen moralische Eroberungen?« fragte Therese [die älteste Schwester von Leo, A. D.]. »Gewinnt ihr Terrain?« »Terrain? Ich bitte dich, Therese, wir sind froh, wenn wir im Skat gewinnen. Aber auch damit hat’s gute Wege. Diese Polen, ich sage dir, das sind verdammt pfiffige Kerle, lauter Schlauberger …« (DP, S. 41)
Auch in den Poggenpuhls wird dem Ostwind ein prominenter Rang zugeordnet. Im Gegenteil zu Mathilde Möhring ist ihm aber nun das temporale Merkmal der Dauer zugewiesen (»immer Ostwind«); im Ostwind manifestiert sich die gefährliche, nicht zu beherrschende Gegenbewegung, denen die preußischen »Eroberungen« in Westpreußen permanent ausgesetzt sind. Raumsemantisch signifikant ist zudem die Metaphorik des beweglichen ›Spiels‹: Wer aus dem »Jeu« gegen »[d]iese Polen« als Gewinner hervorgeht, ist nur schwer, wenn überhaupt kalkulierbar, zumal man es mit »verdammt pfiffige[n] Kerle[n]« zu tun hat. Von einer moralischen (das heißt hier auch soziopolitischen) Sicherung des »Terrain[s]« kann keine vermutet, einer alten böhmisch-polnischen Adelsfamilie entstammt, deren Familie aber ursprünglich im »preußisch-polnischen Ort« Filehne in der Provinz Posen beheimatet war (siehe GBA Unwiederbringlich, S. 114).
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3. Figurationen des Polnischen in Erzähltexten Fontanes
Rede sein. Und wer der konstanten Wetterlage nicht mit physischer Robustheit trotzen kann, verspielt sein Leben durch eine Lungenentzündung. Nicht nur die »Karte« Woldenstein unterliegt bei allem Kalkül dem Einbruch der nicht-domestizierbaren Natur, den Unberechenbarkeiten des Zufalls, der ›Unordnung‹. Auch in den Poggenpuhls zeichnet sich die Ostprovinz Westpreußen durch gefährliche Kontingenzerfahrung aus, prägt sie vorübergehender Gewinn und immer drohender Verlust, erotischvitales Leben, aber auch beständige Todesgefahr. Polnisch-preußische Konflikte werden in Fontanes Erzählwerk vor allem als tödliche Konflikte zwischen preußischen und polnischen Figuren ausagiert bzw. zwischen Figuren, denen entsprechende nationale Merkmale zugewiesen werden. Dies haben die Texte Vor dem Sturm, Unterm Birnbaum und Cécile gezeigt. Relevant werden politische und/oder kulturelle Kollisionen sowie (Unterm Birnbaum ist hiervon ausgenommen) Identitätsdilemmata, die aus fremdbestimmten oder auch internalisierten Assimilationsforderungen rekurrieren und intrapsychisch (Tubal, Cécile) oder interfigural (Kathinka – Geheimrat Ladalinski, Cécile – Gordon) ausgetragen werden. Als Konstante können natürliche Bindungskräfte – gemäß Tubal der polnische Name, die polnische Vergangenheit und der polnische Besitz – herausgestellt werden; sie verankern nationale und konfessionelle Identität (unabhängig von allen potentiellen Hybridisierungen) nicht nur dauerhaft im Herkunftsraum, ihnen eignet auch, indem sie der künstlichen Verfasstheit Preußens zuwiderlaufen, genuin systemsprengendes Potential. Sowohl Mathilde Möhring als auch die Poggenpuhls machen nun deutlich, dass auch ein binnenpreußischer Raum mit (gewichtigem) polnischem Bevölkerungsanteil die Funktion eines Konfliktagenten übernehmen kann, figurale Konfliktvermeidung also keinen Schutzmechanismus im Sinne zumindest oberflächlicher polnisch-preußischer Pazifizierung bietet. Der raumkonstitutive gelegentliche oder permanente Ostwind metaphorisiert stattdessen jenes nicht kontrollierbare Störungspotential, das Preußen aus einer Ostprovinz wie Westpreußen, ohne Chance auf Stillstellung, natürlich erwächst. Ist in Mathilde Möhring der Ostwind noch ein Phänomen, das gefährlich aufkommen (und sich wiederholen) kann, ist das Merkmal des Repetitiven in den Poggenpuhls bereits aufgehoben zugunsten einer Kontinuität: Der Ostwind ist schon immer da. Wenn aber nicht nur Westpreußen den Ostwind als natürliche Permanentgefahr aufbietet, sondern auch eine polnische Rückkehr von außen durch die Exilpolen in Paris droht (Vor dem Sturm) oder sich eine »SzulskiGeschichte« – vital und widerständig gegen das Vergessen – im diskursiven
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Umlauf hält (Unterm Birnbaum), ganz abgesehen von den preußischpolnischen Dauerkonflikten auf Figurenebene als Divergenzen zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit, preußischer ›Ordnung‹ und polnischer ›Unordnung‹, die zwar faktisch in einem Text wie Vor dem Sturm zum Abschluss kommen können, aber schließlich in neuen Konstellationen in Cécile wieder aufleben, dann zeigt sich, in welcher Bandbreite Polnisches (zuverlässig wiederholend) Unruhe stiften kann. Die Spiel-Metapher, wie sie in Cécile oder Mathilde Möhring bzw. Die Poggenpuhls zum Einsatz kommt, verweist auf die Gefahr, sich im preußisch-polnischen Gegenüber fatal zu verkalkulieren. In Von Zwanzig bis Dreißig (1898) spricht Fontane von der letztlich konsequenten Stärke jedes aufständischen Volkes – und das bezieht die Polen als prominentes Freiheitsvolk notwendig mit ein – über »die wehrhafteste geordnete Macht«.377 Seine polenthematischen Erzähltexte rekurrieren bereits seit Vor dem Sturm auf Figurationen des Polnischen, die das Preußen(-Deutschland) subversiv zusetzende Merkmal des Konflikthaften sowie Aufstörenden tragen.
377 GBA Von Zwanzig bis Dreißig, S. 397. Siehe auch Kapitel 2.3.
4. Schluss Inwiefern Theodor Fontane Polnisches in seinem nichtfiktionalen und fiktionalen Werk funktionalisiert, nahm sich diese Studie vor, anhand textnaher Analysen zu zeigen. Dabei leitete sich die Fragestellung aus dem Befund ab, dass in Fontanes Schrifttum polnische Thematik signifikant vertreten ist und sich dies vor dem Hintergrund eines spannungsreichen preußisch-polnischen Verhältnisses vollzieht (nach den polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 und der territorialen Expansion Preußens auf Kosten Polens): Die Literarisierung des Polnischen verweist auf den Resonanzboden brisanter Zeithistorie zurück; zugleich gehen von diesem narrativ produktive Impulse aus. Im Mittelpunkt der Arbeit standen Figuren polnischer oder pseudo-polnischer Herkunft, polnische Orte, Räume, Lieder sowie nationalstereotype Topoi. Mit Absicht wurde für den Titel statt des so populären Begriffs des »Polenbildes« derjenige der »Figuration« gewählt, der aufgrund seiner kontextbezogenen, beweglich-relationalen Komponenten den für diese Untersuchung relevanten Aspekt der funktionalen Einbindung polnischer Textgrößen angemessen herauszustellen vermag. Der Begriff des »Polenbildes« hingegen neigt zu statischer Fixierung; er ist häufig, das zeigt seine Verwendung in der Forschung, resultat- und wertungsorientiert. Dass Figurationen des Polnischen permanent Irritationen auslösen, sollte in diesem Buch deutlich werden: im ersten Teil, der sich mit den nichtfiktionalen und autobiographischen Texten sowie der Polenlyrik Fontanes befasst, ebenso wie im zweiten Teil, der dem Erzählwerk gilt. Zum einen ist Polnisches immer in irgendeiner Form an Konflikte gekoppelt, ob das Gegenüber nun Russland oder Preußen heißt, zumindest impliziert es potentielle Konflikthaftigkeit oder Störung von etablierter ›Ordnung‹ durch ›Unordnung‹. In den Erzähltexten sorgen demnach Konfrontationen zwischen Preußen und Polen, und das heißt auch Konfrontationen zwischen differenten Norm- und Wertsystemen innerhalb der dargestellten Welten, stets für ereignisgenerierende Grenzüberschreitungen. Ihnen können Anziehungskräfte zugrunde liegen, die eine schöne Polin besitzt und denen preußische Männer erliegen (Vor dem Sturm, Cécile), aber auch binationale Asymmetrien, die realhistorischen Strukturen folgen: Dies zeigt sich auf figuraler Ebene, wenn Gordon gegenüber
4. Schluss
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Cécile mit überlegener Kulturkampfattitüde auftreten oder sich über ›polnische Wirtschaft‹ in Oberschlesien entrüsten kann. Dies zeigt sich aber auch, wenn es um Identitätsproblematik geht, darum, ob sich eine ›natürliche‹ polnisch-katholische Herkunft über Assimilationsbemühungen dauerhaft in eine ›künstliche‹ preußisch-protestantische Gegenwartsexistenz überführen lässt (Vor dem Sturm, Cécile), oder anders gewendet: wenn es darum geht, wie preußisch oder deutsch ein Pole in Zeiten soziopolitischer Nationalisierung überhaupt werden kann, zumal wenn ihm selbst das Recht auf einen polnischen Staat vorenthalten wird (Vor dem Sturm). In Unterm Birnbaum ereignet sich schließlich sogar ein Mord an einem »Polen«1, der freilich – dies ist vor dem Hintergrund des Erscheinungsjahrs der Erzählung 1885 signifikant – durch die Pseudoidentität des Opfers textoberflächlich gegen nationale Vorwürfe imprägniert werden kann. Konfliktvermeidung ist letztlich nicht möglich, wie der Nachlasstext Mathilde Möhring vorführt. Diesbezügliche Strategien im Dienste eines preußischen Karriereplans in Westpreußen werden zu guter Letzt buchstäblich in den ›Wind‹ geschlagen: Ein raumkonstitutiver Ostwind bringt dem Preußen Hugo den Tod. Zum anderen besitzt Polnisches (bzw. mit Polnischem Korreliertes) die auffällige Tendenz wiederzukehren, wiederaufzukommen, lässt sich weder vergraben noch vergessen. So kann in der Polenlyrik des jungen Fontane die Wiederaufnahme des polnischen Freiheitskampfs imaginiert und erhofft werden, in den Erzähltexten können Polenlieder als schön-schmerzliche Erinnerung wiederkommen; eine polnische Vergangenheit kann krisenauslösend wieder hervorgeholt werden oder sich zurückmelden, ja auch die Briefe eines halbpolnischen Verführers tauchen wieder auf. Die Geschichte eines ermordeten »Polen« wird »wieder lebendig«2 und holt den Mörder (leibhaftig) wieder ein. Ein ins Pariser Exil abgedrängter Pole kann zurückkehren (Bninski). Und in Westpreußen, einer »von Polen stark bewohnten Provinz[]«,3 kann jederzeit wieder ein krankmachender Ostwind aufkommen, wenn er nicht sowieso schon, wie in den Poggenpuhls, als eine elementare Gefahr ausgegeben wird, mit der man in Westpreußen beständig zu rechnen hat. Auf selbstreferentieller Ebene gilt ohnedies: Polnisches taucht im Werk Fontanes immer wieder auf. Der Grund hierfür ist in der Spezifik polni1 2 3
GBA Unterm Birnbaum, S. 54 und 56. Ebd., S. 116. [Art.] ›Deutsche Kolonisation in Posen und Westpreußen‹. In: Meyers KonversationsLexikon. 4. Aufl. 1885 – 1890, Bd. 19 (Jahres-Supplement 1891 – 1892), S. 180.
252
4. Schluss
scher Thematik zu sehen: einerseits in ihrer gegenwartspolitischen Relevanz, andererseits aber auch in ihren ästhetischen (und ästhetisch nutzbaren) Implikationen, wie sie sich etwa aus dem kulturell tradierten und ambivalent gewerteten polnischen Merkmalskatalog, zu dem die ›schöne Polin‹ und der ›edle Pole‹ ebenso gehören wie das Schlüsselstereotyp der ›polnischen Wirtschaft‹, ableiten lassen. Aus dieser politisch-ästhetischen Dopplung ergibt sich der Stoff für Narrative: für den historischen Roman, die historische Erzählung, den Zeitroman. Polnisches ist im dargestellten preußischen Binnenraum stets im Spannungsfeld zwischen Abwehr und Anziehung situiert, konturiert einen semantischen Raum des ›Anderen‹ und ›Fremden‹. Gerade hierin birgt sich das Potential für Handlungen. Mit anderen Worten: Polnische Textgrößen können in dargestellten Welten als virulenter Motor von ›Ereignissen‹ im Sinne der Theorie Lotmans wirksam werden.4 Der Zeitzeuge Fontane tritt politisch einerseits für die Polen ein, zumal wenn sie im russischen Teilungsgebiet den Aufstand proben. Schon im Kindesalter ergreift er während des Novemberaufstands ihre Partei, ebenso wie später als Polenlyriker, wenn er eine preußisch-polnische Interessengemeinschaft gegenüber der Restaurationsmacht Russland beschwört. Andererseits kann Fontane seit den 1850er Jahren, vom vormärzlichen Befreiungsnationalismus Abstand nehmend, die preußische Inkorporation polnischer Gebiete durchaus historisch rechtfertigen, sie als Sieg der Verhältnismäßigkeit ausgeben, als einen der machtstaatlichen ›Ordnung‹ über die ›Unordnung‹ einer innenpolitisch geschwächten Adelsrepublik. Die damals üblichen Argumentationsmuster von der Zukunftsfähigkeit Preußens gegenüber einem polnischen Staat, der sich allererst selbst dem Untergang verschrieben habe, sind ihm – dies zeigen seine Soll-und-HabenRezension ebenso wie die Wanderungen oder die sogenannten Unechten Korrespondenzen – keineswegs fremd. Und dennoch ist bereits in einem frühen Zeitungsbeitrag Fontanes (Preußens Zukunft [1848]) von wirkmächtigen territorialen Fliehkräften die Rede, gleichen doch die preußischen Provinzen, weil sie keine gemeinsame Erinnerungsgeschichte besitzen, »Eisenstäben […] ohne Anziehungskraft«.5 Ein auf Dauer abgesichertes Eroberungsverhältnis postuliert Fontane nicht, wie auch seine späten Äußerungen in Von Zwanzig bis Dreißig belegen. Wird schon im nichtfiktionalen und autobiographischen Textkorpus die preußische Hegemonie aufgebrochen, so gilt dies erst recht für das 4 5
Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Siehe Kapitel 2.2.
4. Schluss
253
polenthematische erzählerische Werk, das die Labilität des multinationalen preußischen Staates vielstimmig inszeniert. Die Texte tendieren – auf der Ebene ihrer Protagonisten – zu nationaler Separation: Weder bleiben polnische Figuren (tot oder lebendig) in Preußen, noch bleibt ein Preuße in der polnischen Provinz. Hybride ›künstliche‹ Identitätskonstruktionen werden durch Tod und/oder Rückkehr in den polnischen Raum und zur katholischen Herkunftsreligion aufgelöst, zumindest in ihrer (verunsichernden) Instabilität vorgeführt. Polnisch-preußische Ehen kommen nicht zustande oder enden im Selbstmord. Das den preußischen Eroberungsraum abstützende preußisch-polnische Hierarchieverhältnis ist bedroht, weil es iterativen Konflikten ausgesetzt ist, aber auch, weil natürlichinvariante, mithin nicht verhinderbare Attraktionskräfte an den familiären Herkunfts- und Erinnerungsraum aller systemischen Künstlichkeit Preußens permanent zuwiderlaufen, ja sich letztlich Widerständigkeit sogar in Form eines Ostwinds elementar-unberechenbar in Preußen festsetzen kann. Gegenüber den Polen lässt sich kein (weiteres) »Terrain«6 gewinnen. Nicht von ungefähr wird wiederholt auf die Metaphorik des ›Spiels‹ rekurriert: Wer das ›Spiel‹ macht, wem es aus der Hand genommen wird und wer als Sieger hervorgeht, ist innerhalb preußisch-polnischer Konstellationen nicht absehbar. Indem aber die polenthematischen Erzähltexte Fontanes von der Brüchigkeit des preußischen Staates bzw. (Preußen-)Deutschlands erzählen, lassen sie sich auch an eine oft zitierte Briefäußerung des Autors anschließen, in der er die Wiederherstellung Polens prognostiziert. Am 5. August 1893 schrieb Fontane an den befreundeten Kunstmaler August von Heyden: Der Zusammenbruch der ganzen von 64 bis 70 aufgebauten Herrlichkeit wird offen diskutiert, und während immer neue 100 000 Mann und immer neue 100 Millionen bewilligt werden, ist niemand (auch wenn die Sache mit den Bewilligungen noch so fort ginge) im geringsten von der Sicherheit unsrer Zustände überzeugt; das Eroberte kann wieder verlorengehn, […] und ein Polenreich (was ich über kurz oder lang beinah für wahrscheinlich halte) entsteht aufs neue.7
6 7
GBA Die Poggenpuhls, S. 41. HFA IV/4, S. 272.
254
4. Schluss
Es dauerte noch bis zum Jahr 1918, bis die tatsächlich »unwahrscheinlichste Lösung der Teilung Polens […] Realität geworden [war]«:8 Die drei Teilungsmächte Preußen, Russland und Österreich-Ungarn fielen auseinander, und gemäß dem Kriegsziel der Alliierten entstand ein unabhängiger polnischer Staat, die zweite Republik Polen.
8
Alexander, Kleine Geschichte Polens, S. 269.
5. Literaturverzeichnis 5.1 Texte Theodor Fontanes Brandenburgische Landes- und Hochschulbibliothek Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam, Bestandsverzeichnis. Teil 1,1: Theodor Fontane, Handschriften. Briefe, Gedichte, Balladen, Märkisches, Aufzeichnungen und Dichtungen aus dem Familien- und Freundeskreis, Kritiken zur Literatur und zum Theater, Apothekerzeugnisse, Werke aus der Handbücherei Fontanes. Abschriften aus dem Familiennachlaß. Familienandenken, Bilder, Gelegenheitsdrucke, Erinnerungsstücke. Vertonte Lieder und Balladen. Mit Faksimiles aus dem Fontane-Archiv. Bearb. von Joachim Schobeß, Bibliothekar, Potsdam 1962. Cheval, René, Fontane und der französische Kardinal. Ein neuentdeckter Briefwechsel (1870 – 75) mit Césaire Mathieu, Erzbischof von Besançon. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 19 – 85. Der deutsche Krieg von 1866. Von Th. Fontane. Mit Illustrationen von Ludwig Burger. Bd. 1: Der Feldzug in Böhmen und Mähren, Berlin: Verlag der königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei (R. v. Decker) 1870. Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 12/1: Theodor Fontane. Teil 1. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter, München 1973. Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850 – 1870. Hrsg. von Gotthard Erler. 2 Bde., Berlin/Weimar 1987. Fontane, Theodor, Briefe an Georg Friedlaender. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann, Frankfurt am Main/Leipzig 1994. Fontane, Theodor, Große Brandenburger Ausgabe. Begründet und hrsg. von Gotthard Erler. Fortgeführt von Gabriele Radecke und Heinrich Detering, Berlin 1994 ff. [Abt. 1] Das erzählerische Werk. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem TheodorFontane-Archiv. Editorische Betreuung: Christine Hehle. Bd. 1: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13: Erster und Zweiter Band. Hrsg. von Christine Hehle, Berlin 2011. Bd. 2: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13: Dritter und Vierter Band. Hrsg. von Christine Hehle, Berlin 2011. Bd. 6: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Bearb. von Katrin Seebacher, Berlin 1997. Bd. 7: Graf Petöfy. Roman. Hrsg. von Petra Kabus, Berlin 1999. Bd. 8: Unterm Birnbaum. Bearb. von Christine Hehle, Berlin 1997. Bd. 9: Cécile. Hrsg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin 2000. Bd. 10: Irrungen, Wirrungen. Roman. Bearb. von Karen Bauer, Berlin 1997. Bd. 11: Stine. Hrsg. von Christine Hehle, Berlin 2000.
256
5. Literaturverzeichnis
Bd. 12: Quitt. Roman. Hrsg. von Christina Brieger, Berlin 1999. Bd. 13: Unwiederbringlich. Roman. Hrsg. von Christine Hehle, Berlin 2003. Bd. 15: Effi Briest. Roman. Hrsg. von Christine Hehle, Berlin 1998. Bd. 16: Die Poggenpuhls. Roman. Hrsg. von Gabriele Radecke, Berlin 2006. Bd. 17: Der Stechlin. Roman. Hrsg. von Klaus-Peter Möller. 2. Aufl., Berlin 2011. Bd. 19: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke, Berlin 2007. Bd. 20: Mathilde Möhring. Nach der Handschrift neu hrsg. von Gabriele Radecke, Berlin 2008. [Abt. 2] Gedichte. Bd. 2: Einzelpublikationen, Gedichte in Prosatexten, Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. von Joachim Krueger und Anita Golz. 2., durchges. und erw. Aufl., Berlin 1995. Bd. 3: Gelegenheitsgedichte aus dem Nachlaß, Hamlet-Übersetzung, Dramenfragmente. Hrsg. von Joachim Krueger und Anita Golz. 2., durchges. und erw. Aufl., Berlin 1995. [Abt. 3] Das autobiographische Werk. Hrsg. von Gabriele Radecke und Heinrich Detering. Bd. 3: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Redaktion: Judith Wassiltschenko und Hartmut Hombrecher, Berlin 2014. [Abt. 5] Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl., Berlin/Weimar 1994. Bd. 2: Das Oderland. Barnim-Lebus. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl., Berlin/Weimar 1994. Bd. 3: Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl., Berlin/Weimar 1994. Bd. 4: Spreeland. Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. 2. Aufl., Berlin/Weimar 1994. Bd. 5: Fünf Schlösser. Altes und Neues aus Mark Brandenburg. Hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau unter Mitarbeit von Therese Erler. 2. Aufl., Berlin/Weimar 1994. Bd. 6: Dörfer und Flecken im Lande Ruppin. Unbekannte und vergessene Geschichten aus der Mark Brandenburg I. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 4. Aufl., Berlin/Weimar 1994. [Abt. 11] Tage- und Reisetagebücher. Bd. 2: Tagebücher 1866 – 1882. 1884 – 1898. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994. Bd. 3: Die Reisetagebücher. Hrsg. von Gotthard Erler und Christine Hehle, Berlin 2012. [Abt. 12] Briefe. Emilie und Theodor Fontane, Der Ehebriefwechsel. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Bd. 1: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844 – 1857. Bd. 2: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel
5.1 Texte Theodor Fontanes
257
1857 – 1871. Bd. 3: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873 – 1898. 2. Aufl., Berlin 1998. [Fontane, Theodor,] Mathilde Möhring. Roman. In: Aus dem Nachlaß von Theodor Fontane. Hrsg. von Josef Ettlinger, Berlin: F. Fontane & Co. 1908, S. 1 – 121. Fontane, Theodor, Mathilde Möhring. Roman. Mit einem Nachwort hrsg. von Gotthard Erler. 2. Aufl., München 2003 (dtv 13113). Fontane, Theodor, Sämtliche Werke. Hrsg. von Edgar Groß, Kurt Schreinert et. al. 24 Bde. in 30, München 1959 – 1975 (= Nymphenburger-Fontane-Ausgabe). Bd. XV: Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Nebst anderen selbstbiographischen Zeugnissen. Hrsg. von Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau, München 1967. Bd. XIX: Politik und Geschichte. Unter Mitwirkung von Kurt Schreinert † hrsg. von Charlotte Jolles, München 1969. Bd. XXII, 1 und 2: Causerien über Theater. Unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hrsg. von Edgar Gross, München 1964. Bd. XXII, 3: Causerien über Theater. Unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hrsg. von Edgar Gross in Verbindung mit Rainer Bachmann, München 1967. Fontane, Theodor, Unechte Korrespondenzen. Hrsg. von Heide Streiter-Buscher. 2 Bde., Berlin/New York 1996 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 1.1 und 1.2). Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1969 – 1997 (= Hanser-Fontane-Ausgabe). Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 1: Hrsg. von Helmuth Nürnberger. 3., durchges. und im Anhang erw. Aufl., München 1990. Bd. 6: Hrsg. von Helmuth Nürnberger. 3., durchges. und erg. Aufl., München 1995. Abteilung III: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen. Hrsg. von Jürgen Kolbe, München 1969. Bd. 4: Autobiographisches. Hrsg. von Walter Keitel, München 1973. Abteilung IV: Briefe. Bd. 1: 1833 – 1860. Hrsg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger, München 1976. Bd. 2: 1860 – 1878. Hrsg. von Otto Drude, Gerhard Krause, Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree und Manfred Hellge, München 1979. Bd. 3: 1879 – 1889. Hrsg. von Otto Drude, Manfred Hellge und Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree, München 1980. Bd. 4: 1890 – 1898. Hrsg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree, München 1982. Bd. 5/1: Register und Kommentar in zwei Teilbänden. 1. Teilband: Register. Hrsg. von Helmuth Nürnberger. Bearb. von Walter Hettche, München 1988. Bd. 5/2: Register und Kommentar in zwei Teilbänden. 2. Teilband: Kommentar. Hrsg. von Walter Hettche, Christian Klug, Helmuth Nürnberger und Bernhard Zand, München 1994.
258
5. Literaturverzeichnis
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5.2 Sonstige Quellen Bredetzky, Samuel, Reisebemerkungen über Ungern [sic!] und Galizien. Bd. 2, Wien 1809, Reprint Berlin o. J. Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine Deutsche Real-Encyklopädie. 13. Aufl., 16 Bde., Leipzig 1882 – 1887. Büchmann, Georg, Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volkes. 13., vermehrte und umgearb. Aufl., Berlin 1882. Calderón de la Barca, Pedro, Das Leben ist ein Traum. Schauspiel in drei Akten. Nachdichtung und Nachwort von Eugen Gürster, Stuttgart 2001 (RUB 65). Das Polenbild der Deutschen 1772 – 1848. Anthologie. Hrsg. von Gerard Koziełek [= Gerhard Kosellek]. Mit einer Einführung von dems. und einem Geleitwort von Wolfgang Drost, Heidelberg 1989 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 83). Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32, Leipzig (1852) 1854 – 1971. Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesammtausgabe besorgt von Horst Kohl. Bd. 11: 1885 – 1886, Stuttgart 1894. Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830 – 32. Hrsg. und eingeleitet von Helmut Bleiber und Jan Kosim, Berlin 1982. Eich, Günter, Unterm Birnbaum. Nach Theodor Fontane [1951]. In: Ders., Die Hörspiele I. Hrsg. von Karl Karst, Frankfurt am Main 1991 (= Günter Eich, Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Bd. 2), S. 513 – 551. Freytag, Gustav, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Vollständiger Text nach der Erstausgabe Leipzig 1855, durchges. von Meinhard Hasenbein. Mit einem Nachwort von Hans Mayer, Anmerkungen von Anne Anz sowie einer Zeittafel und Literaturhinweisen, München 1978. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. 10 Bde., Berlin/Leipzig 1927 – 1942, Reprint Berlin/ New York 1987.
5.2 Sonstige Quellen
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260
5. Literaturverzeichnis
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5.3 Forschungsliteratur Alexander, Manfred, Kleine Geschichte Polens. Aktualisierte und erw. Ausgabe, Stuttgart 2008 (RUB 17060). Andree, Christian, Jürgen Hein et. al. (Hrsg.), Karl von Holtei (1798 – 1880). Ein schlesischer Dichter zwischen Biedermeier und Realismus. Im Auftrag der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg 2005. Arndt, Christiane, ›Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen‹ – Über das produktive Scheitern von Referentialität in Theodor Fontanes Novelle ›Unterm Birnbaum‹. In: Fontane Blätter 77 (2004), S. 48 – 75. Arnold, Robert Franz, Holtei und der deutsche Polenkultus. In: Forschungen zur neueren Litteraturgeschichte. Festgabe für Richard Heinzel, Weimar 1898, S. 465 – 491. Arnold, R[obert] F[ranz], [Art.] ›Polenliteratur‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Bd. 2, Berlin 1928, S. 710 f. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003 (Broschierte Sonderausgabe). Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 5. Aufl., München 2005 (Broschierte Sonderausgabe). Aust, Hugo, ›Mathilde Möhring‹. Die Kunst des Rechnens. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 275 – 295 (RUB 8416). Aust, Hugo, Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen/Basel 1998. Aust, Hugo, Fontanes ›Fein Gespinnst‹ in der Gartenlaube des Realismus: ›Unterm Birnbaum‹. In: Monika Hahn (Hrsg.), ›Spielende Vertiefung ins Menschliche‹.
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StF
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7. Anhang Karl von Holtei: Der alte Feldherr. Liederspiel in einem Akt [Erstaufführung Dezember 1825] – Auszug [Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören]1 Mel.: d’un héros que la France révère etc. 2 Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören, Dem das Leben noch wonnevoll winkt. Ja wohl könnte ich Geister beschwören, Die der Acheron besser verschlingt. Aus dem Leben, mit Schlachten verkettet, Aus dem Kampfe, von Lorbeer umlaubt, Hab’ ich nichts, hab’ ich gar nichts gerettet, Als die Ehr’ und dies alternde Haupt. Keine Hoffnung ist Wahrheit geworden, Selbst des Jünglings hochklopfende Brust, Hat im liebeblühenden Norden Ihrer Liebe entsagen gemußt.3 Zu des Vaterlands Rettung berufen, Schwer verwundet, von Feinden umschnaubt,
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Zitiert nach: [Karl von Holtei,] Der alte Feldherr. Liederspiel in einem Akt. In: Carl von Holtei, Theater. In einem Bande, Breslau 1845, S. 69 – 76, hier: S. 71. Akzente von mir berichtigt. In der zitierten Ausgabe heißt es fälschlicherweise »heros« und »revère«. Als Hauptquelle für die im Alten Feldherrn verwendeten französischen Melodien ist »La Clef du Caveau« von P. Capelle (1. Aufl. 1811) anzunehmen. Siehe Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 490. Gemeint ist Kos´ciuszkos unglückliche Liebe zu Ludwika Sosnowska, deren Eltern eine Heirat verweigerten. Ein gemeinsamer Fluchtversuch scheiterte. Zur Biographie Kos´ciuszkos siehe vor allem das populäre zeitgenössische Werk von Karl Falkenstein, Thaddäus Kosciuszko, nach seinem öffentlichen und häuslichen Leben geschildert. 2. umgearb. mit dem Bildniß und Facsimile Kosciuszko’s sowie mit neuen Actenstücken vermehrte Aufl., Leipzig 1834, sowie beispielsweise aus neuerer Zeit Piotr Hapanowicz, Der Freiheitskämpfer Tadeusz Kos´ciuszko, Kraków 2008 (Ausstellung im Museum Blumenstein – Historisches Museum Solothurn 28. August 2008 bis 11. Januar 2009).
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7. Anhang
Blieb mir unter den feindlichen Hufen, Nur die Ehr’ und dies blutende Haupt. In Amerika sollt’ ich einst steigen,4 Doch in Polen entsagt’ ich der Welt! Lasset mich meinen Namen verschweigen, Ich bin nichts als ein sterbender Held. O mein Vaterland, Dich nur beklag’ ich, Ja, Du bist Deines Glanzes beraubt – Dich beweinend, zum Grabe hin trag’ ich Meine Ehr’ und mein sinkendes Haupt.
4
Teilnahme Kos´ciuszkos am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ab 1776. Dort fiel er vor allem als begabter Festungsbauingenieur auf und wurde in Anerkennung seiner Verdienste 1783 zum General der Amerikanischen Armee befördert. Er schloss persönliche Freundschaften mit Jefferson und Washington, kehrte aber 1784 wieder nach Polen zurück. 1797/1798 (nach seiner russischen Gefangenschaft) verbrachte er noch einmal einige Zeit in Amerika.
7. Anhang
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[Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka]5 Thaddäus. 6 In bekannter Melodie. 7 Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka, Daß ich dereinst in unserm Vaterland, An Eurer Spitze, nah’ bei Dubienka, Viertausend gegen sechszehntausend stand?8 Denkst Du daran, wie ich vom Feind’ umgeben, Mit Mühe nur die Freiheit uns gewann? Ich denke d’ran, ich danke Dir mein Leben, Doch Du Soldat, Soldat, denkst Du daran? Lagienka. Denkst Du daran, wie wir bei Krakau schlugen, Den Bären gleich, die keine Wunde scheu’n? Wie wir den Sieg durch alle Feinde trugen, Von Dir geführt nach Krakau’s Stadt hinein? Wir hatten keine kriegsgerechten Waffen, Die Sense nur schwang jeder Ackersmann, Doch machten wir dem kühnen Feind zu schaffen,9 O Feldherr sprich, gedenkst Du noch daran? Thaddäus. Denkst Du daran, wie stark wir im Entbehren, Die Ehre Allem wußten vorzuzieh’n? Gedenkst Du an das tückische Verschwören Meineid’ger Freunde, dort bei Scekoczyn?10 Wir litten viel, wir darbten, und wir schwiegen, Die Thräne floß, das treue Herzblut rann – Und dennoch flogen wir zu kühnen Siegen, O sprich, Soldat, Soldat, denkst Du daran? 5 Zitiert nach: [Karl von Holtei,] Der alte Feldherr. Liederspiel in einem Akt. In: Carl von Holtei, Theater. In einem Bande, Breslau 1845, S. 69 – 76, hier: S. 76. Es ist das letzte Lied im Alten Feldherrn. 6 Gemeint ist Tadeusz Kos´ciuszko. 7 Es handelt sich bei nachfolgendem Liedtext um die Umarbeitung eines der bekanntesten oppositionellen Chansons der französischen Restaurationszeit, des »Te souviens-tu, disait un capitaine« von Émile Debraux (1796 – 1831). Siehe Arnold, Holtei und der deutsche Polenkultus, S. 477. 8 Legendärer Sieg der Polen über die Russen 1792. 9 Bezug auf die Schlacht von Racławice 1794 gegen russische Streitkräfte (vier Meilen von Krakau entfernt), in der die Polen unter Beteiligung von über 300 Sensenträgern (Bauern) siegten. 10 Polnische Niederlage in der Schlacht von Szczekociny im Juni 1794 gegen zahlenmäßig überlegene Russen und Preußen.
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7. Anhang
Lagienka. Denkst Du daran, daß in des Kampfes Wettern, Mein Säbel blitzte stets in Deiner Näh’, Als Du verlassen von des Sieges Göttern Und sinkend riefst: finis Poloniae! –11 – Da sank mit Dir des Landes letztes Hoffen, So vieler Heil in einem einz’gen Mann! – Daß damals mich Dein Trauerblick getroffen, O großer Feldherr, denkst Du noch daran? Thaddäus. 12 Denkst Du daran – doch nein, d a s s e y v e r g a n g e n , Genug der Klagen! Lebet wohl und geht! Vielleicht, daß Ihr dereinst mit glühn’den Wangen An Eures alten Feldherrn Grabe steht? Dann seyd gewiß: mein Geist wird Euch umschweben, Er wird für Euch vor Gottes Throne fleh’n; Und will er Euch nicht ehrenvoll erheben, So laß er ehrenvoll Euch untergeh’n!
11 Niederlage von Maciejowice im Oktober 1794 gegen die Russen. Der Ausruf »finis Poloniae«, der in der amtlichen Südpreußischen Zeitung Nr. 24 vom 25. 10. 1794 Kos´ciuszko in den Mund gelegt wurde, ist historisch nicht nachweisbar, ja wurde sogar von Kos´ciuszko in einem Brief aus dem Jahr 1803 bestritten. Vgl. Büchmann, Geflügelte Worte (1882), S. 366 – 368. 12 Die letzte Strophe (mit Chorus) wurde von Karl von Holtei unter dem Eindruck des polnischen Novemberaufstands neu gefasst und erschien erstmals 1832 im Druck. Die ältere und populärere Version von 1825, die gleichwohl nicht in den späteren Werkausgaben abgedruckt ist, lautet folgendermaßen: Thaddäus. Denkst du daran – weh’ meine Stimme zittert Und hier verbleicht der Freude letzter Glanz. Ich seh im Sturm der Zeiten schon verwittert, Den ich geflochten – unsern Lorbeerkranz. Geh du mit mir – und sinkt mein Haupt darnieder, Umfang’ ich einst den Tod als Held und Mann – Dann schließe mir die müden Augenlieder (sic!) Und scheidend sprich: Soldat, denkst du daran? (Ab mit Lagienka.) Alle. Dann schließe ihm die müden Augenlieder Und scheidend sprich: Soldat, denkst du daran? (Zitiert nach: Karl von Holtei, Der alte Feldherr. Lieder=Spiel in einem Akt. In: Jahrbuch deutscher Bühnenspiele. Hrsg. von Carl v. Holtei. Achter Jahrgang, für 1829, Berlin 1829, S. 1 – 40, hier: S. 39 f.).
7. Anhang
Alle (auf die Kniee geworfen). Gott! Willst Du uns nicht ehrenvoll erheben, So lass’ nur ehrenvoll uns untergeh’n.
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7. Anhang
Julius Mosen: Die letzten Zehn vom vierten Regiment [Erstdruck 1832]13 In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen: Kein Schuß im heil’gen Kampfe sei gethan! Tambour, schlag’ an! Zum Blachfeld laß’ uns ziehen! Wir greifen nur mit Bajonetten an! Und ewig kennt das Vaterland und nennt Mit stillem Schmerz sein viertes Regiment! Und als wir dort bei Praga blutig rangen, Kein Kamerad hat einen Schuß gethan, Und als wir dort den argen Todfeind zwangen, Mit Bajonetten ging es d’rauf und d’ran! Fragt Praga, das die treuen Polen kennt! Wir waren dort das vierte Regiment! Drang auch der Feind mit tausend Feuerschlünden Bei Ostrolenka grimmig auf uns an; Doch wußten wir sein tückisch Herz zu finden, Mit Bajonetten brachen wir die Bahn! Fragt Ostrolenka, das uns blutend nennt! Wir waren dort das vierte Regiment! Und ob viel wack’re Männerherzen brachen; Doch griffen wir mit Bajonetten an, Und ob wir auch dem Schicksal unterlagen; Doch hatte Keiner einen Schuß gethan! Wo blutigroth zum Meer die Weichsel rennt, Dort blutete das vierte Regiment! O weh! das heil’ge Vaterland verloren! Ach fraget nicht: wer uns dies Leid gethan? Weh Allen, die in Polenland geboren! Die Wunden fangen frisch zu bluten an; – Doch fragt ihr: wo die tiefste Wunde brennt? Ach, Polen kennt sein viertes Regiment! Ade, ihr Brüder, die zu Tod getroffen An unserer Seite dort wir stürzen sah’n! 13 Zitiert nach: Julius Mosen, Sämmtliche Werke. Neue Ausgabe. Bd. 1: Gedichte, Leipzig 1871, S. 39 f. Die in Mosens Polenlied erwähnten Vorkommnisse um das vierte Linien-Infanterieregiment entsprechen weitgehend den historischen Fakten. Vgl. dazu H[ans]-G[eorg] Werner, Der polnische Aufstand von 1830/31 und die deutsche politische Lyrik. In: Zeitschrift für Slawistik 20 (1975), S. 114 – 130.
7. Anhang
Wir leben noch, die Wunden stehen offen, Und um die Heimat ewig ist’s gethan; Herr Gott im Himmel schenk’ ein gnädig End’ Uns letzten noch vom vierten Regiment! – Von Polen her im Nebelgrauen rücken Zehn Genadiere in das Preußenland Mit düst’rem Schweigen, gramumwölkten Blicken; Ein: »Wer da?« schallt; sie stehen festgebannt, Und Einer spricht: »Vom Vaterland getrennt Die letzten Zehn vom vierten Regiment!«
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8. Personen- und Werkregister* Alexander I., Zar von Russland 19 Alexis, Willibald 89 Allgemeine Zeitung 48 f. Alvensleben, Gustav von 82 August II., der Starke, König von Polen, Kurfürst von Sachsen 58, 207 Beauharnais, Eugène de 138 Berliner Zeitungshalle 63, 66 Beutner, Tuiscon 85 Binder, Robert 47 Bismarck, Otto von 3 f., 72, 86–91, 93, 98, 111, 118, 166, 199, 204, 206–210, 222, 228 f., 240 f. Bredetzky, Samuel – Reisebemerkungen über Ungern [sic!] und Galizien 196 Bronsart von Schellendorf, Paul 91 Büchmann, Georg – Geflügelte Worte 32, 282 Calderón de la Barca, Pedro – Das Leben ein Traum 242 Capelle, Pierre – La Clef du Caveau 279 Chamisso, Adelbert von 27 Chopin, Frédéric 32 Da˛browski, Jan Henryk 28 Daheim 123 Dahn, Felix – Ein Kampf um Rom 134 Debraux, Émile – Te souviens-tu, disait un capitaine 281 *
Decker, Rudolf von 95 Diebitsch, Hans Karl von 20, 142, 169, 171 Die Eisenbahn 47 f., 55, 175 Die Gartenlaube 111, 166, 222 Die Gegenwart 86 Die Post 93 Dominik, Emil 229 Dresdner Zeitung 66 Drewnicki, Leon 49 Droysen, Johann Gustav 77 Działyn´ski, Tytus 202 Ellenborough, Edward Law, 1. Earl of E. 82 f. Eich, Günter – Unterm Birnbaum. Nach Theodor Fontane 181 Erlanger, Frédéric Emile Baron d’ 91 Falk, Adalbert 88 Ferdinand, Prinz von Preußen 128 Ferry, Jules 91 Fitz, Johannes 28, 51 – Deutsches Mailied 28 Flottwell, Eduard von 57 Fontane, Carl 11, 91 f. Fontane, Elise 183 Fontane, Emilie 90 f., 95–98 Fontane, Friedrich 54, 92, 97 Fontane, Louis Henri 107, 175 Fontane, Martha (Mete) 86, 110 Fontane, Theodor (jun.) 210 Fontane, Theodor – Aus dem Oderbruch 175
Das Verzeichnis enthält die im Buch genannten historischen Personen und ihre Werke. Bei Fontanes Werken werden unter Rubriken aufgelistet: Gedichte, Rezensionen und Theaterkritiken.
8. Personen- und Werkregister
– Aus den Tagen der Okkupation 85 – Cécile 1, 12 f., 38, 94, 99, 109, 111 f., 115 f., 119, 122, 133, 146, 162 f., 192–221, 226, 245, 248– 251 – Darstellende Künstler und die Kritik 238 – Das Oderland s. Wanderungen – Der deutsche Krieg von 1866 15, 86, 97 – Der Krieg gegen Frankreich 1870– 1871 86 – Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864 86 – Der Stechlin 17, 28, 31 f., 171 – Die Grafschaft Ruppin s. Wanderungen – Die Mark und märkische Kriegsobersten zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs s. Wanderungen – Die Poggenpuhls 1, 13, 100 f., 119, 222, 246–249, 251, 253 – Effi Briest 1, 13, 38, 112, 116–119, 122, 164, 222, 233, 238 – Fünf Schlösser s. Wanderungen – Gedichte: Als ich 75 wurde / An meinem 75ten 94 An der Elster 43, 46, 48–50, 164 An Georg Herwegh 54 Auf dem See 38 Berühmte Männer in Kissingen 99 Der alte Derffling 56 Der alte Zieten 57 Der Kastanienbaum 38 Der Verbannte 43–48, 50, 164 Die Faust in der Tasche 55 Die Schlacht bei Bronzell 29 Die zehn Gebote aus dem russischen Katechismus 43, 54 f. Gedichte eines Berliner Taugenichts 53–55 Gewitter 48 Hans Sternheim zu Weihnachten 1895. Mit ›Vor dem Sturm‹ 149 Haus- und Gartenfronten in Berlin W. 238 In der Markkleeberger Schenke 50
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Lieber Vater … 107 Schrimm … 238 Schwerin 57 Seydlitz 57 Trauriges Erwachen 38 Trost 38 Zum Kampf! 43, 50–56 Graf Petöfy 45 Havelland s. Wanderungen Irrungen, Wirrungen 1, 22, 28, 32– 37, 42 f., 112, 164, 229 Kriegsgefangen 5 f., 94–96, 102 Mathilde Möhring 1, 12 f., 25, 109, 111 f., 119, 138, 221–249, 251 Meine Kinderjahre 7, 13, 17, 22– 26, 28, 45, 59–62, 105–107, 111, 127, 234 Notizbuch A 10 s. Tage- und Reisetagebücher Notizbuch D 6 s. Tage- und Reisetagebücher Notizbuch E 3 159 Preußen – ein Militär- oder Polizeistaat? 66 Preußens Zukunft 63 f., 69, 252 Quitt 206 Rezensionen: Gustav Freytag, Die Ahnen 124 Gustav Freytag, Soll und Haben 67–70, 82, 85, 102, 252 Kurd von Schlözer, Friedrich der Große und Katharina die Zweite 76 Schach von Wuthenow 1, 13, 112– 116, 119, 128, 146, 163, 199 Spreeland s. Wanderungen Stine 1, 22, 28, 32 f., 37–42, 112 Tage- und Reisetagebücher 92–94, 96 f. Theaterkritiken: Wilhelm Lange, Der Mentor 99 Professor Alexander Strakosch (Rezitationsabend) 104 f. Gustav zu Putlitz, Waldemar 89 f. Friedrich Schiller, Maria Stuart 104 William Shakespeare, Hamlet 29
288
8. Personen- und Werkregister
Ernst von Wildenbruch, Die Quitzows 99 f. – Unechte Korrespondenzen 80–85, 104, 252 – Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 43 – Unterm Birnbaum 1, 12 f., 28–31, 94, 109, 111, 122, 127, 164–192, 220 f., 233, 248 f., 251 – Unwiederbringlich 246 f. – Vaterländische Reiterbilder aus drei Jahrhunderten s. Wanderungen – Von vor und nach der Reise 206 – Von Zwanzig bis Dreißig 15, 25 f., 43–45, 48, 50, 54, 56, 60–62, 80, 106–109, 249, 252 – Vor dem Sturm 1, 12 f., 94, 99, 109, 111, 116, 119, 122–164, 166, 192, 198, 210, 218, 220 f., 233 f., 248–251 – Wanderungen durch die Mark Brandenburg 25 f., 59, 69–80, 82, 85, 104, 109, 158, 177, 233, 252 Fredro, Aleksander 99 Freud, Sigmund – Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene 203 Freytag, Gustav – Die Ahnen s. Fontane, Theodor – Soll und Haben 11, 239; s. auch Fontane, Theodor Friedlaender, Georg 87 f., 110, 166, 192 Friedrich I., König in Preußen 133 Friedrich II., der Große, König von Preußen 2, 64, 75 f., 128, 131 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 132 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 44 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 44, 57, 59, 62, 65 Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst 74 Fröbel, Julius 54 Gambetta, Léon
91
Garibaldi, Guiseppe 91 Gerhardt, Paul – O Haupt voll Blut und Wunden 155 Gerlach, Leopold von – Denkwürdigkeiten 107 Gordon, Lewis D. B. 205 Gregor VII., Papst 209 Grillparzer, Franz 27 Günther, Georg 66 Günther, Johann Heinrich von 77 Gutzkow, Karl 123 Harring, Harro 28, 51 – Als Warschau unterlag 28 – Memoiren über Polen unter Russischer Herrschaft 196 f. Hartmann, Moritz 44 Hauff, Wilhelm – Kalif Storch 185 Hebbel, Friedrich 44 Heine, Heinrich – Über Polen 98, 169, 226 Heinrich IV., deutscher König und römischer Kaiser 209 f. Heinrich, Prinz von Preußen 76 f. Hentsch, Franz 90 Hertz, Wilhelm 93, 123, 162 Herwegh, Georg 44, 54 – Das Lied vom Hasse 51 f. – Polen an Europa. März 1846 56 Hesekiel, George 80 Heyden, August von 86, 241, 253 Heyse, Paul 103–105, 123 Holtei, Karl von – Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka s. Der alte Feldherr – Der alte Feldherr 17, 24, 28, 30– 43, 45, 164, 279–283 – Ford’re Niemand mein Schicksal zu hören s. Der alte Feldherr Iwan IV., der Schreckliche, Zar von Russland 152 f. Jan III. Sobieski, König von Polen 113 f., 152 f. Jefferson, Thomas 280
289
8. Personen- und Werkregister
Johann von Österreich, Erzherzog Jordan, Wilhelm 65
63
Karl X., König von Frankreich 176 Karpeles, Gustav 86, 88 Katharina II., die Große, Zarin von Russland 76 Kerner, Justinus 27 Kletke, Hermann 85 Klöden, Karl Friedrich von 89 Königsmarck, Maria Aurora von 207 Konstantin Pawlowitsch, Großfürst von Russland, Statthalter im Kgr. Polen 19 f., 24, 170 Kos´ciuszko Tadeusz 2, 48, 77 f., 129, 131 f., 136, 143, 160; s. auch Holtei, Karl von Kossack, Ernst Ludwig 71 Kraszewski, Józef 90 f., 109, 164 Kreuzzeitung 80–85, 93 Kruse, Heinrich 92 Kuz´ma, Jan 234 Lange, Wilhelm – Der Mentor s. Fontane, Theodor Lazarus, Moritz 98 Lenau, Nikolaus 24, 27 f., 35, 45, 47 – Abschied von Galizien 45 – Der Maskenball 45 – Der Polenflüchtling 45–47 – Die nächtliche Fahrt 45 – In der Schenke. Am Jahrestag der unglücklichen Polenrevolution 45 – Nach Süden 45 – Schilflieder 45 – Zwei Polen 45 Lepel, Bernhard von 32, 57, 61–63, 81, 89 Lesser, Max 93 Levin, Rahel s. Varnhagen von Ense, Rahel Literaturblatt des deutschen Kunstblattes 67 Louis Ferdinand, Prinz von Preußen 116 Louis-Philippe I., Herzog von Orléans, König der Franzosen 176
Madalin´ski, Antoni 77 Mallinckrodt, Hermann von 89 Maria Stuart, Königin von Schottland 195, 198 Marwitz, Alexander von der 25 Merckel, Wilhelm von 70 Meyer, Hans – Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten 231 Mierosławski, Ludwik 58–60, 128 Millöcker, Karl – Der Bettelstudent 197 Miquel, Johannes von 205 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de 114 Mosen, Julius 24, 28, 45 – Die letzten Zehn vom vierten Regiment 28–30, 171 f., 284 f. Mozart, Wolfgang Amadeus – Die Zauberflöte 38–40 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 2, 18, 28, 30, 48–50, 124, 129, 132, 137 f., 142, 150, 156 Neue Preußische [Kreuz-]Zeitung s. Kreuzzeitung Neues Wiener Tagblatt 93 Nikolaus I., Zar von Russland 19, 110, 176 Ogin´ski, Michał Kleofas
32
Palmerston, Henry John Temple, 3. Viscount P. 82 f. Paskewitsch, Iwan Fjodorowitsch 20, 26, 169 Paulsen, Friedrich 123 Pfuel, Ernst von 73 Platen, August Graf von 27 f. – Wiegenlied einer polnischen Mutter 28 Poniatowski, Józef 48–50 Posener Tageblatt 92 Posener Zeitung 11, 91 f. Preußische Zeitung 76 Putlitz, Gustav zu – Waldemar s. Fontane, Theodor
290 Puttkamer, Jesco von
8. Personen- und Werkregister
193
Raabe, Wilhelm – Stopfkuchen 220 Reclam, Anton Philipp 29 Reichensperger, August und Peter Rohr, Mathilde von 85 Rybin´ski, Maciej 24 f., 234
Südpreußische Zeitung 282 Sybel, Heinrich von 77
89
Samuel, Oberst 91 Schiller, Friedrich – Demetrius 103–105 – Die Räuber 233 – Maria Stuart s. Fontane, Theodor Schlabrendorf, Heinrich von 104 Schlenther, Paul 166 Schlözer, Kurd von – Friedrich der Große und Katharina die Zweite s. Fontane, Theodor Schlüter, Andreas 133 Schwab, Gustav 27 Scott, Walter 124 Seydlitz, Friedrich Wilhelm von 139; s. auch Fontane, Theodor Shakespeare, William – Ein Wintermärchen 40 – Hamlet s. Fontane, Theodor Siemens, Werner und Wilhelm 205 Sienkiewicz, Henryk 86 Skrzynecki, Jan Zygmunt 24 f., 234 Sosnowska, Ludwika 279 Spazier, Richard Otto – Geschichte des Aufstandes des Polnischen Volkes in den Jahren 1830 und 1831 22 f., 199 – Ost und West 22–24, 199 Stanisław II. August Poniatowski, König von Polen 2, 48, 131, 234 Stephany, Friedrich 86 Sternheim, Hans 149 Stifter, Adalbert – Bergkristall 46 Storm, Theodor 25
Thibaudin, Jean 91 Treitschke, Heinrich von – Das deutsche Ordensland Preußen 72 – Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert 128 Uhland, Ludwig 27 Universum 193 Varnhagen von Ense, Rahel (geb. Levin) 24 f. Vossische Zeitung 54, 85 f., 91, 124, 166 Wagner, Richard – Tannhäuser 198 Walger, Marie 165 Wangenheim, Karl Hermann von 89 Wangenheim, Marie von 89 Washington, George 280 Westfälische Zeitung 70 Wildenbruch, Ernst von – Die Quitzows 101; s. auch Fontane, Theodor Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen 171 Windthorst, Ludwig 89 Wochenblatt der Johanniter=Ordens=Balley Brandenburg 72 Wolfsohn, Wilhelm 56, 66 f., 175 Wolowski, Brüder 91 Yorck von Wartenburg, Ludwig Zieten, Hans Joachim von Fontane, Theodor Zolling, Theophil 86
142
77; s. auch