Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus [2 ed.] 9783534248131, 3534248139

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
I. Epochenbegriff
1. Zur Problematik der Epoche
2. Was heißt „Realismus"?
3. Der Bürgerliche Realismus
II. Forschungsbericht
III. Kontexte
1. Vom Minderwertigkeitskomplex zu neuem Selbstbewusstsein
2. Die politische Entwicklung zwischen 1849 und den 90er Jahren
3. Industrieller „takeoff" – die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nach 1848
4. Lesekultur und Buchmarkt
5. Entmythologisierung: Strauß, Schopenhauer, Feuerbach und die Positivisten
6. Das Beispiel: Fotografie und Bildende Kunst
IV. Aspekte und Geschichte der Literatur
1. Theorie
2. Themen und Probleme, Gattungen und Stile
3. Abriss der Epoche
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Erzählend die wüste Welt in schöne Ordnung bringen – Adalbert Stifter: Brigitta (1847)
2. Ein Weltbild aus Diskursen – Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1855)
3. Der dreifach eingefriedete Konflikt – Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1881)
4. Erzählte Geschichte – Theodor Fontane: Schach von Wuthenow (1883)
5. Der Außenseiterblick auf die Welt – Wilhelm Raabe: Stopfkuchen (1891)
6. Die Welt im Gespräch – Theodor Fontane: Der Stechlin (1897)
Kommentierte Bibliografie
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus [2 ed.]
 9783534248131, 3534248139

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Bernd Balzer

Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus 2. Auflage

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., durchgesehene Auflage 2012 © 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2006

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24813-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72567-0 eBook (epub): 978-3-534-72568-7

Inhalt I. Epochenbegriff .........

6

1. Zur Problematik der Epoche

7

11. 111.

2. Was heißt"Realismus"?

10

3. Der Bürgerliche Realismus

12 14

Forschungsbericht Kontexte

18

. . . . .

1. Vom Minderwertigkeitskomplex zu neuem Selbstbewusstsein

18

2. Die politische Entwicklung zwischen 1849 und den 90er Jahren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

3. Industrieller"takeoff" - die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nach 1848

................

4. Lesekultur und Buchmarkt

. ..............

26 28

5. Entmythologisierung: Strauß, Schopenhauer, Feuerbach und . . . . . . . . . . . . . . .

32

6. Das Beispiel: Fotografie und Bildende Kunst

37

die Positivisten

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur 1. Theorie

. ....

. . . . . ..............

42 42

2. Themen und Probleme, Gattungen und Stile

47

3. Abriss der Epoche

. . . . . . . .

71

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

76

1. Erzählend die wüste Welt in schöne Ordnung bringen Adalbert Stifter: Brigitta(1847) ..............

76

2. Ein Weltbild aus Diskursen - Gottfried Keller: Der grüne Heinrich(1855) ..........

83

3. Der dreifach eingefriedete Konflikt - Theodor Storm: Der Schimmelreiter(1881) ............. .

100

4. Erzählte Geschichte - Theodor Fontane: Schach von Wuthenow(1883) ........... .

108

5. Der Außenseiterblick auf die Welt - Wilhelm Raabe: Stopfkuchen(1891) ................. .

122

6. Die Welt im Gespräch - Theodor Fontane: Der Stechlin(1897)

134

Kommentierte Bibliografie

148

Personenregister

156

Sachregister

159

I. Epochenbegriff 1. Zur Problematik der Epoche Dass die Verwendung von Epochenbegriffen grundsätzlich ebenso notwen­ dig wie zweifelhaft ist, gilt inzwischen als ein Gemeinplatz, für den nur

"Epochen" - ebenso

noch die Formulierungen variieren: üb man mit Kant (1724-1804) von "re­

fragwürdig wie

gulativer Idee" spricht, mit Rene Wellek (1903-1995) und Austin Warren

notwendig

(1899-1986) von "heuristischen Konstrukten" (WellekiWarren, 288) oder etwas salopper von "begrifflichen Krücken", das verweist jeweils auf den gleichen Sachverhalt. Und selbstverständlich gilt das auch für den Bürgerli­ chen Realismus. Dabei erschien dieser lange (und erscheint dem ersten Blick noch heute) als die letzte klar abgegrenzte "große" Epoche - eine Fermate gleichsam

Bürgerlicher Realis­

nach dem "Epochenproblem Vormärz" (Stein) und vor der Hektik der zahl­

mus - die letzte

reichen -Ismen des Fin de siecle. Zudem schien sich hier nach den zahlrei­

"Großepoche"

chen deutschen Besonderheiten zwischen dem ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutsche mit der europäischen Litera­ turgeschichte zu synchronisieren. Zwar: Der Natural ismus der 80er Jahre vermochte im Unterschied zu Frankreich den deutschen Realismus weder zu verdrängen, noch zu beenden, und ein Realist wie Wilhelm Raabe (*1831) lebte bis 1910. Aber Theodor Fontanes (*1819) Tod (1898) ergibt immerhin ein plausibles Datum ante quem. Und für den Beginn der Periode

Zeitliche

erübrigte sich für ein gutes Jahrhundert Realismusrezeption ohnehin jeder

Abgrenzung

Zweifel: Die 1849 endgültig gescheiterte Märzrevolution wurde und wird geradezu als Voraussetzung, wenn nicht sogar Bedingung des deutschen Realismus gesehen, denn schließlich gilt die "Revolution von 1848 (als) der große Wendepunkt der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert" (Goette, 478). Eine Passage aus der Dissertation des Kunsthistorikers Anton Springer (1825-1891) scheint die Situation an jenem Zeitpunkt auf den Begriff zu bringen und wird darum gern zur Charakterisierung und Begründung des Epocheneinschnitts zitiert: Das deutsche Volk hat auf seinen spekulativen Rausch einen tüchtigen Katzenjammer bekommen, und es dürfte wohl eine Zeitlang währen, bis sich der Ekel legt und die Lust zum Philosophieren uns wieder anwan­ delt. Ich kann diese Änderung der Volksstimmung nicht tadeln; sie war geboten durch das Auftauchen der realen Interessen der Politik, geboten durch den schiefen Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen be­ gann. Wir haben durch diese Bemühungen der deutschen Philosophen­ schulen eine theoretisch freie Weltanschauung gewonnen, nun gilt es auf einem anderen Wege uns die praktische Freiheit zu erwerben und unsere bisherigen Bestrebungen zu ergänzen. Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten (RuG. 1/36).

1849 als "Wende"

des 19. Jahrhunderts

8

I. Epochenbegriff

Die "Sackgasse" der Naturphilosophie

Tatsächlich wäre diese Passage über den ohnehin bedeutsamen Schritt zum tragenden Begriff der Epoche (die "realen Interessen der Politik") hinaus ein entscheidendes Indiz für den "geistige(n) Klimawechsel nach dem traumati­ schen Erlebnis der gescheiterten Revolution", (RuG. 1/36) - wenn dem nicht das Fertigstellungsdatum der Dissertation entgegenstünde: "Anfang März 1848 erhielt ich das Doktordiplom", berichtet Springer in seiner Auto­ biografie (Springer, 115) und betont rückblickend, dass er in "den nächstfol­ genden Monaten ( ...) sie schwerlich fortgesetzt" hätte und charakterisiert auch die Vorrede, die "bereits in burschikosem Tone den Beginn einer neu­ en Periode, in welcher nicht philosophiert, sondern Geschichte gemacht wird" (Springer, 116), gefeiert habe. "Spekulativer Rausch" und "Katzenjammer" beziehen sich also ganz und gar nicht auf die politischen Konzepte des Vormärz'. Hegel (1770-1831) und die idealistische Philosophie waren gemeint und, wenn man das alles überhaupt auf die Literatur beziehen kann, die Romantik. Der "schiefe ( ...) Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann", war das Verhar­ ren in der Sackgasse der Naturphilosophie und das Zurückfallen hinter den naturwissenschaftlichen Fortschritt der westeuropäischen Nationen, und auch dafür stand Hegel: Dieser schrieb zum Beispiel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse in dem Teil, der der Na­ turphilosophie gewidmet ist, den folgenden kompliziert formulierten Un­ sinn: Die Wärme ist das Sichwiederherstellen der Materie in ihre Formlosig­ keit, ihre Flüssigkeit, der Triumph ihrer abstrakten Homogeneität über die spezifischen Bestimmtheiten; ihre abstrakte, nur an sich seiende Kon­ tinuität als Negation der Negation ist hier als Aktivität gesetzt. Formell, d. i. in Beziehung auf Raumbestimmung überhaupt, erscheint die Wärme daher als ausdehnend, als aufhebend die Beschränkung, welche das Spezifizieren des gleichgültigen Einnehmens des Raums ist (§ 303).

Wissenschaftliche Rückständigkeit in Deutschland

Aufholprozess in der Naturwissenschaft

Das erschien 1830, im gleichen Jahr, als z. B. die Eisenbahnlinie Liverpool­ Manchester eröffnet wurde, auf der die schon 1814 entwickelte Lokomotive Stephensons mit 45 km/h die Konsequenz der naturwissenschaftlichen Er­ kenntnis von Wesen und Wirkung der Wärmeenergie eindrucksvoll unter Beweis stellte. Die Korrektur dieses Obskurantismus erfolgte aber auch in Deutschland schon vor der Mitte des Jahrhunderts. Sie war völlig unabhängig von den politischen Revolutionsbewegungen, und sie war selbst ein revolutionäres Ereignis. Julius Robert Mayers (1814-1878) Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung der Energie (1842) und die fünf Jahre später erschienene Schrift Über die Erhaltung der Kraft von Hermann Helmholtz (1821-1894) formulierten eine der wichtigsten Grundlagen für die Naturwissenschaften und die durch sie angetriebene technische Revolution seit dem 19. Jahr­ hundert. Gegen das Spekulative der idealistischen Philosophie hatten sich schon vorher die Jungdeutschen verwahrt und nach Alternativen gesucht. Noch während die Schriftsteller der Romantik das "eigentliche" Leben in den Glücksräuschen - aber auch den Nachtseiten - der Phantasie zu finden dachten, plädierten zahlreiche ihrer Zeitgenossen für den Bezug zur Reali-

1. Zur Problematik der Epoche

tät. Und der schon seit den 20er Jahren aufkeimende und über 1830 bis

"Realismus"

1848 immer vehementer grassierende politische Konflikt zwischen "Fort­

vor 1849

schritt" und "Restauration", "Legitimen" und "Liberalen", der die Parteien während der 1848er Revolutionen sortierte, zog bei dieser Differenz keines­ wegs die Grenzlinien: Der konservative Lützelflüher Pfarrer Albert Bitzius, der seit 1834 unter dem Namen Jeremias Gotthelf (1797-1854) Dorfge­ schichten und Romane veröffentlichte, erfasste mit dem gleichen Blick für das realistische Detail seine Lebenswelt wie es der progressive Frankfurter jüdischer Herkunft, Ludwig Börne (1786-1837) seit 1818 in seinen Kriti­ ken, Berichten oder Satiren tat. Karl Gutzkow (1811-1878) oder Willibald Alexis (1798-1871), Karl Leberecht Immermann (1796-1840) oder Adal­ bert Stifter (1805-1868) - sie alle erschrieben sich ihre Fiktionen auf der soliden Grundlage ihrer Wirklichkeitserfahrungen. Und selbst die Protago­ nisten einer bürgerkritischen Linken von Georg Büchner (1813 -1837) bis zur

Ikone

der

frühesten

kommunistischen

Literatur,

Georg

Weerth

(1822-1856), gehören zu den Wegbereitern eines literarischen Konzepts, das für den Bürgerlichen Realismus prägend wurde. Das Jahr 1849 ist für die Literatur keine zeitliche Bruchlinie. Wir sind durchaus nicht der Meinung, daß die Vorgänge des Jahres 1848 richtunggebend auf unsere schönwissenschaftliche Literatur eingewirkt haben, und können uns höchstens zu der Ansicht bequemen, daß sie der Gewitterregen waren, der die Entfaltung dieser oder jener Knospe zeitig­ te. Aber die Knospen waren da. (Font.Lit. 14) Die Wendung zu den "realen Interessen der Politik" hatten z. B. lange vor Springer schon Jungdeutsche und Vormärzler gefordert und vollzogen. Als "Realpolitik" hat das allerdings erst 1853 Ludwig August von Rochau (1810-1873) auf den Begriff gebracht und damit das Verständnis von "Rea­ lismus" ebenso stark mitbestimmt wie die parallel dazu geführte philosophi­ sche und ästhetische Debatte. Die Epoche des Bürgerlichen Realismus ist also nichts weniger als zeitlich klar abgegrenzt. Das hat sie mit allen anderen gemeinsam; zusätzlich je­ doch wird die Kohärenz in Frage gestellt durch regionale, und dann bald nationale Differenzierungen, die zuvor keine Rolle spielten und deshalb

"Trilaterale

auch für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts lange Zeit übersehen

Betrachtungsweise"

wurde: Erst in den letzten Jahren erkennt man die Notwendigkeit einer "tri­ lateralen Realismus"-Betrachtung (HA. VIII), der sich für jegliche auf Ge­ schichte reflektierende Literaturwissenschaft schon immer hätte stellen müs­ sen: Auch und gerade die Verfechter des "epochalen Einschnitts" der ge­ scheiterten Märzrevolution hätten z. B. die Romane Stifters, Kellers und Fon­ tanes oder Raabes nicht über den gleichen "bürgerlich-realistischen" Leis­ ten schlagen dürfen, da doch die Märzrevolution in der Schweiz erfolgreich war. Und die Verhältnisse in Österreich und dem Deutschland der "klein­

Deutsche, Schweizer

deutschen Lösung" Bismarcks (1815 -1898) hatten sich nicht erst nach dem

und österreichische

Deutschen Krieg von 1866 auseinander zu entwickeln begonnen: Während die nationale Einheit das Ziel der Deutschen spätestens seit den "Befrei­ ungskriegen" von 1812-1815 gewesen war, galt diese im Vielvölkerstaat der Habsburger als Schreckensvision. Franz Gri Ilparzer (1791-1872) reimte am 15. März 1848 in einem Epigramm:

Verhältnisse

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10

I. Epochenbegriff

Der Weg der neueren Bildung geht Von Humanität Durch Nationalität Zur Bestialität. Ein einheitliches

Diese Unterschiede und die weiteren Binnendifferenzierungen von "Pro­

Epochenbewusstsein

grammrealismus" "poetischem Realismus", "Gründerzeit", etc. sind zu be­ rücksichtigen, sie lösen das darum sich legende Band eines gemeinsamen Epochenbewusstseins aber nicht auf. Dieses Bewusstsein wurde von den Er­ eignissen der Jahre 1848/49 nachhaltig geprägt: Das galt natürlich für die Zeitgenossen, für die der "große Wendepunkt der deutschen Geschichte" (s. S. 7) allemal einen biographischen Einschnitt bedeutete, aber auch bei der späteren Literaturgeschichtsschreibung, die, wenn auch aus unter­ schiedlichen Motiven, an diesem Geschichtsbild festhielt, auch wenn es genügend Anlässe gab, dieses auf den Prüfstand zu stellen.

Abgrenzung von der

Schon 1854 distanzierte sich Fontane von seiner vormärzlichen Periode

"Herweghzeit"

mit den Worten, "es kam die Herweghzeit. Ich machte den Schwindel tüch­ tig mit" (an Theodor Storm, 14. 2. 54). Und das ist nur ein Beispiel für das verbreitete Gefühl, eine Epochenwende mitzuerleben. Und dessen Bin­ dungskraft gi It es zu analysieren.

2. Was heißt "Realismus"? Das Wort (und die übrigen Worte des entsprechenden Wortfeldes, also "Realist" "realistisch", etc.) teilt mit vielen anderen den Doppelcharakter "Realismus" in Umgangs- und Wissenschaftssprache

als zugleich alltagssprachlicher und wissenschaftlich-terminologischer Be­ griff, und der gute Vorsatz einer säuberlichen Trennung beider Verwen­ dungsweisen ist ebenso richtig wie zwecklos: Was bei anderen Begriffen problemlos gelingt - im Kontext des Redens über das Theater hat z. B. "Akt" eine andere Bedeutung als im lebenspraktischen Bereich, und die Trennung beider Bedeutungen ist bei einiger Aufmerksamkeit einfach -, funktioniert

Unschärfe des um­

hier nicht, weil die alltagssprachliche Bedeutung sich immer wieder auf

gangsprachlichen

den Gebrauch des Wortes in den unterschiedlichen wissenschaftlichen

Begriffs

Diskursen auswirkt. In der Alltagssprache bezeichnet ,Realismus' eine Haltung, die durch be­ sonderen Sinn für das Wirkliche, Sachliche, Maßvolle, Angemessene und Machbare charakterisiert ist; es handelt sich um eine positiv bewer­ tete Haltung, d. h. der Wortgebrauch offenbart eine autoritäre Geste. So definiert einer der gegenwärtig gründlichsten Kenner der wissenschaftli­ chen Realismusdiskussion die al Itagssprachliche Bedeutung (HA. 6). Diese Definition enthält ganz sicher nur zutreffende Bestandteile, lässt dabei aber auch erkennen, dass sich diese nicht, oder zumindest nicht immer, zu einer einheitlichen "Haltung" addieren. Das probate Mittel der sprachlichen Op­ positionsbildung macht das deutlich: Wenn "Realismus" als Gegensatz zu "Phantastik" verwendet wird, unterscheidet es sich von einem "Realismus" der dem "Idealismus" gegenübergestellt wird und noch einmal von dem Gegenteil von "Utopismus", etc., und das gilt für den alltagssprachlichen

2. Was heißt "Realismus"?

Gebrauch ebenso wie für die wissenschaftliche Fachsprache. Dort aber

Unterschiedliche

wird das Problem noch vervielfältigt, da der Begriff in den unterschiedlichs­

wissenschaftliche

ten Disziplinen - von der Philosophie über Geschichts- und Sprachwissen­

Definitionen

schaft, Ästhetik bis hin natürlich zur Literaturwissenschaft - eine jeweils ei­ gene Bedeutungsgeschichte aufweist, die dazu noch in den meisten Fällen kontrovers rezipiert wird. Die Debatte um die Gattung Novelle hat die Kategorie der "Wahrschein­ lichkeit" etabliert seit Wielands (1733 -1813) Forderung, dass sich ihre Handlung "weder im Oschinnistan der Perser, noch im Arkadien der Gräfin

"Wahrscheinlich­

Pembroke (... ) noch in einem andern idealischen oder utopischen Lande,

keit" in der

sondern in unserer wirklichen Welt" abspielen müsse, "wo alles natürlich

Novellendiskussion

und begreiflich zugeht, und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutra­ gen könnten" (Wieland, 61). Dies, oder Goethes (1749-1832) Formulie­ rung einer "sich ereigneten" (s. S. 65) Begebenheit, erscheint als mögliche Grundlage eines literaturwissenschaftlichen Realismusbegriffes, ohne doch - wie allein schon Storms Schimmelreiter demonstriert - wirklich dafür zu taugen; denn auch der Bereich des Wahrscheinlichen verschiebt und verän­ dert sich. Die Einsicht, dass es sich im Falle von "Realismus" um einen "relationa­ len Begriff" handelt, versprach, die Konfusion zu beenden, mindestens stark

"Realismus" als "relationaler Begriff"

zu reduzieren: "Realismus ist im Grund überhaupt kein ,Begriff', vielmehr ein Bewegungsvorgang, ein ständiger, sich selbst variierender Annäherungs­ prozeß" (Braun, 67), woraus sich logisch begründet, dass die eine Zeit als realistisch erklären kann, was von der anderen als unrealistisch verworfen wird. So wird man Mühe haben, Autoren zu benennen, die nicht irgend­ wann von irgendjemandem als "Realist" bezeichnet worden sind, und jedes Mal mit gutem Recht: Denn selbst das phantastische Atlantis, in dem schließlich E. T. H. Hoffmanns (1776-1822) Held Anselmus (Der goldene

Topf, 1814) sein Glück mit der lieblichen Serpentina findet, erweist sich aus der Sicht des Autors selbst als ,eigentliche' oder ,wahre' Wirklichkeit. Verschärft wird die Problematik noch durch die zahlreichen Bemühun­ gen, den Realismusbegriff durch Epitheta zu differenzieren, um ihn unter­ halb einer universalen Ebene doch wieder zu einer normativen Kategorie

Auflösung der Definitionsqualität von "Realismus"

zu machen: In den Jahren nach Ende des zweiten Weltkrieges etwa konkurrierten in der literarischen und literaturkritischen Debatte Positionen - manchmal auch nur Bezeichnungen - wie "nackter Realismus", "Realismus der Un­ mittelbarkeit", "sozialistischer Realismus", "magischer Realismus", ergänzt durch Alternativbegriffe wie "Kahlschlag", "Verismus", "Neorealismus". Und in der Diskussion um Heinrich Böll (1917 -1985) entwickelte sich ge­ radezu ein grotesker Reigen von Attributen, die den spezifischen "Realis­ mus" präzisieren sollten: "begnadeter", kritischer, phantastischer, "überhöh­

Vergleichbare "Realismus-Debatte" nach 1945

ter", "sakramentaler" Realismus, Milieurealismus, "Realismus gesellschaftli­ cher Erfahrung" (ßalzer, 38). Eine konsequente Historisierung ist deshalb das einzig methodische Ver­ fahren, der Begriffsverwirrung zu entgehen. Es ist hier, angesichts einer wie wenig genau auch immer abzugrenzenden historischen Epoche, ohnehin geboten.

Konsequente Historisierung als Problemlösung

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I. Epochenbegriff

3. Der Bürgerliche Realismus Nicht ohne weiteres reduziert das jedoch die Unsicherheiten in der Benen­ nung, da sich in ihnen nicht ein Sprach-, sondern ein Einschätzungsproblem zeigt. Und so begegnet in der wissenschaftlichen Diskussion über die Litera­ tur zwischen der jahrhundertmitte und dem Fin de siecle das gleiche Phäno­ Begriffsverwirrung auch für das 19. Jahrhundert

men der Komposita und Epitheta - "Realidealismus", "Idealrealismus" (HA. 23), "psychologischer, politischer und irrealer Realismus", "empiristischer", "kritischer, neokritischer, kämpferischer und kritisch-kämpferischer", "vor­ industrieller Realismus" (HA. 26). Mit jeweils sehr guten Gründen wurden diese Benennungsvorschläge gemacht, und sie sind auch geeignet, jeweils einen bestimmten Sektor oder eine spezifische Sicht auf die in Rede stehen­ de Literatur plausibel abzugrenzen - was ihre Tauglichkeit als übergeordne­ te Epochenbezeichnung aber in Frage stellt.

P lädoyer für "Bürger­ licher Realismus"

Das lässt sich auch gegen die Bezeichnung "Bürgerlicher Realismus" ein­ wenden, zu der ich hier zurückkehre: Nimmt man (...) den Zusatz "bürgerlich" rein als standesspezifische Ka­ tegorisierung des Seins und Bewußtseins der Schriftsteller im Zeitalter des Realismus, so müssen sich berechtigte Einwände einstellen; Stifter, Freytag, Spiel hagen, Hebbel, Storm, Meyer, Fontane, von Fran