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German Pages 253 [254] Year 2023
Renaissancen des Realismus?
Mimesis
Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette
Band 105
Renaissancen des Realismus? Romanistische Beiträge zur Repräsentation sozialer Ungleichheit in Literatur und Film Herausgegeben von Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus
ISBN 978-3-11-102189-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-102236-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-102290-1 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2022950479 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Patrick Eser/Jan-Henrik Witthaus ‹Soziale Ungleichheiten› und ‹Realismus› als Paradigma – literatur- und kulturwissenschaftliche Vorüberlegungen 1
1 Aufklärungsnarrative Julian Drews Diderots Neveu de Rameau ‹korrigiert› durch die Lesarten sozialer Ungleichheit 21 Beate Möller Soziale Ungleichheit in der Literatur der spanischen Aufklärung
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2 Französische Gegenwartsnarrative Robert Lukenda ‹Die Unsichtbaren der Republik› – soziale Ungleichheit in der französischen Gegenwartsliteratur, insbesondere bei Annie Ernaux, Didier Eribon und Éric Vuillard 59 Caroline Mannweiler Soziale Ungleichheit als Lokalkolorit – zur Serie Marseille (2016–2018) Jochen Mecke Soziale Ungleichheit (in) der Literatur: Ethische Dimensionen literarischer Ästhetik 111 Gregor Schuhen Vom autobiographischen «je» zum sozialen «Je»: Autosoziobiographien als Form der littérature engagée 135
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Inhaltsverzeichnis
3 Lateinamerikanische Gegenwartsnarrative Javier Ferrer Calle «Es mejor un día como rico que una vida como pobre»: Korruption und soziale Ungleichheit in Mexiko im Film von Luis Estrada 157 Patrick Eser Verschleierung, (Un-)Sichtbarkeit oder Prägnanz sozialer Ungleichheiten?: Medienökologie, Ästhetik und Hermeneutik des Sozialen im argentinischen Gegenwartskino 173 Jan-Henrik Witthaus Soziale Ungleichheit in Film und Roman: Iñárritu und Bolaño
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Christian von Tschilschke Wohlstandssezession. Gated Communities im lateinamerikanischen Kino: Kleber Mendonça Filhos O som ao redor (2012) 229
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‹Soziale Ungleichheiten› und ‹Realismus› als Paradigma – literatur- und kulturwissenschaftliche Vorüberlegungen 1. Einige Soziolog:innen und Historiker:innen, die sich der Untersuchung von sozialer Ungleichheit gewidmet haben, behaupten, dass kaum eine westliche Gesellschaft existiert habe, in der es keine ungleiche Verteilungen von Vermögen, Funktionen und Prestige gab. So heißt es beim britischen Soziologen Walter Garrison Runciman: «All societies are inegalitarian.»1 Der Historiker Walter Scheidel formuliert noch schärfer: «Inequality has been written into the DNA of civilization ever since humans first settled down to farm the land.»2 In einem Parforceritt durch die europäische Geschichte – The Great Leveler (2018) – erklärt Scheidel Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien zu den einzigen auf sozialer Bühne sichtbaren ‹Gleichmachern›, und angesichts der noch andauernden Corona-Krise deutete er zu Beginn der Pandemie Ereignislinien an, die zu einer stärkeren Nivellierung der gegenwärtigen sozialen Ungleichheit führen könnten: «If we’re entering a more long-term depression as a result of Covid-19, I think all kinds of more radical policies will be on the table for the first time in a very long time.»3 Freilich würden Impfungen (wie sie uns nun zur Verfügung stehen) den Krisenschauplatz wesentlich verändern: «But now assume that science fails to do that because the virus is more complicated and can’t be fixed in the short term, then you’ll have a more severe protracted crisis, with greater potential for transformative change.»4 Die bis zum heutigen Tag verfügbaren Erfahrungen deuten jedoch eher darauf hin, dass die Covid-19-Krise die Gräben sozialer Ungleich-
Walter G. Runciman: Relative Deprivation and Social Justice. A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century England. Harmondsworth: Penguin 1972, S. 3. Walter Scheidel: The Only Thing, Historically, That’s Curbed Inequality: Catastrophe. In: The Atlantic (21.02.2017), verfügbar unter: https://www.theatlantic.com/business/archive/2017/02/schei del-great-leveler-inequality-violence/517164/ (letzter Zugriff: 28.01.2022). Kyrill Hartog: Interview. Black Death historian: ‹A coronavirus depression could be the great leveller›. In: The Guardian (30.04.2020), verfügbar unter: https://www.theguardian.com/world/ commentisfree/2020/apr/30/walter-scheidel-a-shock-to-the-established-order-can-deliver-change (letzter Zugriff: 28.01.2022). Vgl. ebenda. https://doi.org/10.1515/9783111022369-001
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heit noch vertieft hat, was nicht nur an der medizinisch-wissenschaftlichen Abfederung der unmittelbaren Pandemiefolgen liegen dürfte.5 Die These von der ‹Universalität sozialer Ungleichheit› ist nicht gerade neu – so könnte man meinen – angesichts der geschichtsphilosophisch aufgeladenen Aussagen, mit denen das Kommunistische Manifest (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels beginnt und in denen die historischen Zeitläufe als die Abfolge von Klassenkämpfen beschrieben werden: «In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen.»6 Der französische Ökonom Thomas Piketty warnt demgegenüber in Capital et idéologie (2019) vor Argumentationsfiguren, in denen soziale Ungleichheit zur naturgegebenen Kondition jeglicher Gesellschaft erklärt werde. Vielmehr sei jene immer ein sozial konstruiertes und historisch variables Phänomen und müsse im Kontext von Institutionen, Ideen und Ideologien stets aufs Neue bewertet werden: Autrement dit, le marché et la concurrence, le profit et le salaire, le capital et la dette, les travailleurs qualifiés et non qualifiés, les nationaux et les étrangers, les paradis fiscaux et la compétitivité, n’existent pas en tant que tels. Ce sont des constructions sociales et historiques qui dépendent entièrement du système légal, fiscal, éducatif et politique que l’on choisit de mettre en place et des catégories que l’on se donne.7
Pikettys umfangreiche Untersuchung versteht sich als kritische Stellungnahme, die gegen die weit verbreitete Auffassung zu Felde zieht, dass Ungleichheit für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt unvermeidbar sei oder sogar die Bedingung seiner Möglichkeit. Dabei entschärft er den Ideologiebegriff und wendet sich im gleichen Gestus gegen die mechanistische Geschichtsauffassung gewisser Spielarten des Marxismus, «selon lesquelles l’état des forces économiques et des rapports de production déterminerait presque mécaniquement la ‹superstructure› idéologique d’une société. J’insiste au contraire sur le fait qu’il existe une véritable
Vgl. z. B. Carolin Butterwegge/Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt. Frankfurt am Main: Campus 2021, S. 169–212; o.N.: Datenreport 2021. Corona-Pandemie erhöht soziale Ungleichheit. In: DW (10.03.2021), verfügbar unter: https:// www.dw.com/de/corona-pandemie-erh%C3%B6ht-soziale-ungleichheit/a-56827971 (letzter Zugriff: 28.01.2022); Ulrich Möller Arnsberg/Kathrin Hodl: Corona-Krise hat globale soziale Ungleichheit weiter verschärft. In: BR24 (17.01.2022), verfügbar unter: https://www.br.de/nachrichten/deutsch land-welt/corona-krise-hat-globale-soziale-ungleichheit-weiter-verschaerft,SulwPmQ (letzter Zugriff: 28.01.2022). Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 4. Berlin: Dietz 1959, S. 462. Thomas Piketty: Capital et idéologie. Paris: Seuil 2019, S. 20.
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autonomie de la sphère des idées, c’est-à-dire de la sphère idéologico-politique.»8 So sehr man einerseits nachfragen möchte, was bei Piketty genau unter einer ‹autonomen (!) Sphäre der Ideen› verstanden werden soll, so sehr ist andererseits sein Vorstoß aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze zu begrüßen – verdeutlicht er doch, dass Ungleichheiten nicht allein auf ökonomisch-materiellen Grundlagen zementiert werden, sondern umfassender auf den Ebenen gesellschaftlicher Einteilungen, struktureller Gewalt und symbolischer Grenzziehungen betrachtet werden sollten, wobei Erzählungen, Kommunikationen, Ausdrucksmuster und Gedächtnisformen eine besondere Bedeutung zukommt. Pikettys Hinweis auf die Bedeutung der ideologisch-politischen Sphäre in der Konstitution sozialer Ungleichheiten kann bedeutende Hinweise für die kulturund literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit deren fiktional-narrativen Explorationen enthalten. Dieser Hinweis könnte mithin gewinnbringend in den Kontext sozialtheoretischer Topologien und nicht-reduktionistischer Ideologietheorien gestellt werden, wie sie im Anschluss an die vermeintlich in die Jahre gekommene, aber immer wieder als stimulierend rezipierte Ideologietheorie Louis Althussers möglich erscheinen,9 die relevante Einsichten über die Materialität des Sozialen, die Ritualität des Bewusstseins, die ‹ideologische Anrufung› und die Funktionsweise des Subjekts mit psychoanalytischen Theoremen verbindet.10 Ausgehend von diesem Theorietypus ist weder eine Auseinandersetzung mit mechanistischen Basis-Überbau-Ableitungen notwendig, noch ließe dieser sich dazu verleiten – und würde es gar als naiv erachten –, eine ‹Autonomie der Sphäre der Ideen› (vgl. das Zitat oben) zu behaupten. Darüber hinaus kann ein Abgleich der Register der alltagsweltlichen Rede über die Welt, der gesellschaftlichen Imaginationen und künstlerischen Fiktionen des Sozialen nachzeichnen, wie Kognition, historisch-kulturelle Wissensformationen und Prozesse der sozialen (Un-)Sichtbarkeit aufeinander verweisen (und im klassischen wie kritischen Sinne ideologisch wirken, wenn sie soziale Ungleichheitsverhältnisse als natürlich erscheinen lassen). An diesem Punkt wäre zu überlegen, ob nicht eine Reformulierung ideologiekritischer Aspekte und die konzeptuelle Logik kritischer Ideologiebegriffe
Ebda. S. 21. Vgl. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001; Isolde Charim: Der Althusser-Effekt: Entwurf einer Ideologietheorie. Wien: PassagenVerlag 2002. Vgl. Louis Althusser: Idéologie et appareils idéologiques d’État (Notes pour une recherche). In: POSITIONS (1964–1975). Paris: Les Éditions sociales 1976, S. 67–125.
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eine hilfreiche analytische Orientierung für literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsanstrengungen anbieten könnten.11 So skizzierte Begrifflichkeiten der Ideologie könnten zusätzlich mit Michel Foucault kontrastiert oder präzisiert werden. Analysiert würden dann «nicht die Ideen, nicht die Gesellschaften und nicht ihre ‹Ideologien›[,] sondern die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden.»12 Foucault distanziert sich hier nicht nur von der Ideengeschichte, sondern als Althusser-Schüler auch vom klassischen Marxismus und weist, wie gewisse Lesarten Foucaults das nahelegen, einen Weg in das ‹postideologische Zeitalter›. Einerseits könnte also eine kulturhistorische Ausrichtung von Studien zur Untersuchung sozialer Ungleichheit den Schwerpunkt auf die Frage legen, wann diese als wahrnehmbare Struktur im alltäglichen Dasein von Akteuer:innen auftaucht und welchem historischen Wandel sie unterworfen ist, mithin zu einem Problem oder ‹problematisch› wird – in dem Sinne, dass das Sprechen und Denken sie nur schwer übergehen kann bzw. von ihr auszugehen hat. Andererseits wird hier der Ideologiebegriff ein wenig vorschnell verabschiedet, denn nicht nur das Problematischsein, ebenso die Verdunkelung von Ungleichheit verdient es, thematisiert zu werden, etwa in Studien zu den Strategien, soziale Schieflagen durch variable, kontingente kulturelle Repräsentationsmechanismen zu verschleiern und dafür zu sorgen, dass sie in der Sphäre des Nichtthematisierten verharren, quasi ‹naturalisiert› werden – was wiederum an Roland Barthes’ Mythenkritik anschließen würde.13 Fachwissenschaftliche Analysen fiktionaler, literarischer wie audiovisueller Erzählungen wären auf diese Weise in ein Milieuwissen einzubetten, das nicht nur materielle Bedingungen, sondern ebenso die symbolischen Mechanismen und Repräsentationsformen zur Kenntnis nimmt, die auf soziale Kontexte, gesellschaftliche Konstellationen und Machtstrukturen bezogen sind. Auch hier ergeben sich Brücken zu Foucault.14
Generell zu den verschiedenen Spielarten der Ideologietheorie vgl. Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2000; Jürgen Link: Wie ‹ideologisch› war der Ideologie-Begriff von Marx? Zur verkannten Materialität der Diskurse und Subjektivitäten im Marxschen Materialismus. In: Klaus-Michael Bogdal/Rüdiger Scholz (Hg.): Literaturtheorie und Geschichte. Zur Diskussion materialistischer Literaturwissenschaft. Opladen: Westdt. Verlag 1996, S. 132–148. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 19 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 22–25. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 113. Die neomarxistischen Grundlagen seiner Mythenkritik treten in der Folge recht deutlich in Erscheinung (vgl. S. 123–133). Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 289.
‹Soziale Ungleichheiten› und ‹Realismus› als Paradigma
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2. Eine ‹Geschichte der Problematisierung und Verschleierung von Ungleichheiten› lässt sich bei leichter Verschiebung des Vokabulars als eine zyklisch immer wieder auftretende Konfrontation mit der ‹Realität› beschreiben, die eine Revision bisheriger Realitätsmodelle anstößt oder bewirkt – sowohl in der fachwissenschaftlichen Auslotung des Sozialen als auch in künstlerischen Bereichen. ‹Realismus› muss also nicht unbedingt ontologisch fundiert sein, er kann zudem geschichtlichgesellschaftliches Sein in seinem ‹Realitätsgehalt› erfahrbar machen. Krisen und Revisionen bringen an den Tag, was bislang systematisch außerhalb des eigenen Realitätsmodells lag, sie fördern und schaffen neue Sichtbarkeiten bzw. neue politisch-ästhetische Muster der «Aufteilung des Sinnlichen».15 Eine Aufnahme berühmter Realismusdebatten, die ebenfalls kriseninduziert waren, erscheint in diesem Kontext inspirierend, sind doch die durchaus instruktiven Kriterien und Kategorien einstiger Auseinandersetzungen – etwa die im Realismusstreit der 1930er Jahre zwischen Georg Lukács und Bertolt Brecht aufgekommenen – kaum mehr präsent.16 Diese Debatten verdeutlichen, dass sich die Frage des Realismus in der Kunst mitnichten auf das Konstatieren und Nachzeichnen von Realitäts- und Authentizitätseffekten beschränkt. Eine ‹neue Konfrontation mit der Realität› wird auch in den Beiträgen dieses Bandes verhandelt, wenn soziale Ungleichheiten, welcher Art, Perspektivierung und ästhetischer Modellierung sie auch immer sein mögen, zum Thema erhoben werden. Zahlreiche Kommentare der Gegenwartskulturen gehen in diese Richtung: Von einem neuen Realismus ist sowohl in den literatur- und kulturwissenschaftlichen als auch in den zeitdiagnostischen und feuilletonistischen Debatten die Rede. Beispielsweise beginnt der Theaterwissenschaftler und Dramaturg Bernd Stegemann seinen Essay «Lob des Realismus» mit dem Satz: «Die Realität meldet sich seit einigen Jahren mit Gewalt zurück.»17 Sein Plädoyer lässt sich als eine kritische Revision und Aktualisierung des Realismus angesichts neuer sozialer Härten und Wirklichkeiten lesen, die in einem jüngst aufgestellten artistischen Feld der Gegenwart die zentralen Impulse geben. Stegemann erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Kunst nicht bloß an der Verrätselung der Welt gearbeitet habe, sondern
Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik. In: ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Hg. v. Maria Muhle. Berlin: b_books 2008, S. 21–73. Vgl. Bernd Stegemann: Lob des Realismus. Berlin: Theater der Zeit 2015, S. 32–54. Stegemann referiert die konträren Positionen aus dem Realismusstreit der 1930er Jahre und macht Brechts Position stark, dass unterschiedliche stilistische Mittel für realistische Kunst in Anschlag gebracht werden können. Zentrales Anliegen sei dann, eine kritische Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Formen des Anscheins anzustreben, mit diesen zu brechen und tiefer liegende Probleme zu verhandeln. Ebda. S. 7.
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auch an ihrer Sichtbarkeit und Verstehbarkeit: Er beobachtet, dass in der postmodernen Kultur an verschiedenen Stellen der Gesellschaft nunmehr ein «Glaube an Erkennbarkeit und Veränderbarkeit» entstehe, der für die künstlerischen Realismen kennzeichnend gewesen sei – der Glaube daran, «dass es eine künstlerische Erfahrung [gibt], die den Menschen ein gemeinsames Erleben ermöglicht, das sie momentweise davon befreit, ihr eigenes Leben als unverständliche Folge von Zufällen zu erleiden.»18 Schließlich stößt Stegemann die Diskussion darüber an, ob es sich beim Realismus um einen Stil oder eine Methode handelt, wie sich die ästhetischen Mittel zum möglichen Projekt einer realistischen Kunst verhalten oder inwiefern den künstlerischen Raum nicht doch, in einem politischeren Sinne, eine «Haltung der sozialen Welt gegenüber» kennzeichne.19 3. Vergegenwärtigen wir uns einige Schlagwörter aus den Titeln der in diesem Sammelband vereinten Beiträge, so stellen wir eine starke Präsenz genuin sozialwissenschaftlicher Begriffe fest: Milieu, Klasse, Armut, Klassenkämpfer, Wohlstandssezession, Kampf um Anerkennung, Klassengesellschaft und soziale Differenz. Welche Formen könnte angesichts dieser Begriffe ein social turn in den Literatur- und Kulturwissenschaften annehmen?20 Und was bedeutet es, «das Soziale als Bezugssystem nicht nur der Literatur, sondern auch der Literatur- und Kulturwissenschaften zu reetablieren», wie Elke Brüns vorschlägt?21 Mit Blick auf die zu untersuchenden Korpora ist stets auszuloten, welche Instrumentarien als erkenntnisfördernde, ergänzende Handwerke der Fiktionsanalyse aktualisiert werden können, wenn sich die literatur- und filmwissenschaftlichen Untersuchungen auf Frage- und Themenstellungen im Lichte eines social turn einlassen möchten. Einige mögliche gesellschaftstheoretisch informierte, inspirierte oder ausgerichtete Zugänge werden im Rahmen dieser Einleitung kurz an- bzw. eingeführt (von der Literatursoziologie bis zur Systemtheorie, von der Ideologietheorie bis hin zur Theorie des mimetischen Begehrens). Auch Forschungsleistungen der letzten Jahre unterstreichen nochmals das Potenzial, das literatur- und kulturwis-
Ebda. S. 8. Wolfgang Engler: Es geht (wieder) um Realismus. Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung. In: Nicole Gronemeyer/Bernd Stegemann (Hg.): Lob des Realismus. Die Debatte. Berlin: Theater der Zeit 2017, S. 9–32, hier: S 19 f. Vgl. zur germanistischen Debatte: Elke Brüns (Hg.): Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur. München: Wilhelm Fink 2008; Haimo Stiemer/Dominic Büker u. a. (Hg.): Social Turn. Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(-wissenschaft). Weilerswist: Velbrück 2017. Elke Brüns: Einleitung. Plädoyer für einen social turn in der Literaturwissenschaft. In: dies. (Hg.): Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur. München: Wilhelm Fink 2008, S. 7–20, hier S. 16.
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senschaftliche Analysen aufweisen, wenn sie sich einem auf soziale Begebenheiten ausgerichteten Frage- und Erkenntnisinteresse widmen und sich somit am produktiven Dialog sozialtheoretischer und ästhetischer Perspektiven beteiligen. So ergeben sich produktive Verschränkungen von Film- und Literaturanalyse und kultureller Zeitdiagnostik, in denen das Potenzial von Literatur als Seismograph von Krisenszenarien eruiert wird: Solche Perspektiven sind nicht zuletzt von Seiten der romanistischen Literatur- und Kulturwissenschaften mit Blick die auf Pandemie,22 die Finanzmarktkrisendiskurse23 oder abstrakt und gesellschaftstheoretisch fundiert auf literarische Kapitalismusnarrative24 produktiv angewandt worden. Aber was bedeutet eigentlich ‹soziale Ungleichheit›? Der grundlegende Begriff ist keineswegs selbsterklärend. Selbst in den Sozialwissenschaften ist seine Verwendung als analytische Kategorie der Beschreibung und Untersuchung von Gegenwartsgesellschaften keineswegs selbstverständlich – noch weniger sind es die Bestimmungen des Begriffs oder die Methoden der Untersuchung, die seit einigen Jahrzehnten durch die Theorie der Intersektionalität weiter ausdifferenziert worden sind.25 In zentralen Sozialtheorien sind Ungleichheiten ein umstrittener Objektbereich, sie werden in konträren Theorieentwürfen unterschiedlich modelliert und erhalten dort, je nach Erkenntnisinteresse, -gegenstand und Analysefokus, verschiedene Gewichtungen. Unter den sozialwissenschaftlichen Ungleichheitstheorien befinden sich unterschiedliche Paradigmen, so prominent Klassentheorien marxistischer und nichtmarxistischer Provenienz, Ansätze nach Bourdieu, feministische sowie antirassistische und postkoloniale Theorien. Soziale Ungleichheiten werden so ausgehend von verschiedenen theoretischen Modellen, Instrumenten und anhand analytischer Instrumente und Begriffe wie Sphäre, soziales Feld, Klasse, soziales Milieu und Intersektionalität untersucht. Paradigmatisch seien hier die Entwürfe
Für einen Überblick über literarische Fiktionen und deren Ausleuchtung pandemischer Krisenkonstellationen vgl. Enno Stahl: Chronisten der Plagejahre. In: junge welt vom 16.11.2021; Angela Oster/Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Pandemie und Literatur. Wien: Mandelbaum Verlag 2021. Inspirierend war hier vor allem Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010; vgl. romanistischerseits: Kurt Hahn/Marita Liebermann (Hg.): Finanznarrative als Krisennarrative. Literarische und filmische Modellierungen ‹kapitaler› Erschütterungen. Frankfurt am Main/New York: Peter Lang. Vgl. Annika von Gonnermann/Sina Schuhmaier u. a. (Hg.): Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021; hierin aus romanistischer Perspektive: Patrick Eser: Modelle literarischer Kapitalismuskritik in der Romania: apokalyptische Szenarien und utopische Gegenentwürfe im Zeichen des ‹kapitalistischen Realismus›, S. 231–254. Vgl. Nina Degele/Gabriele Winker: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, verfügbar unter: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/degele/dokumente-publikationen/intersek tionalitaet-mehrebenen.pdf (letzter Zugriff: 28.10.2021).
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von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann gegenübergestellt. Während ersterer seine Beobachtung der Differenzierung mit einem Klassenbegriff verbindet und dabei die strukturell asymmetrische Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten im Blick hat, die das soziale Feld aufteilen, hat in Luhmanns Theorie der Aspekt der Stratifikation oder Ungleichheit im Kontext der Moderne keine Relevanz. Entsprechend vertritt Luhmann die Auffassung, dass «die funktional differenzierte Gesellschaft sich gegen Schichtung als Differenzierungsprinzip»26 wendet, so dass Fragen nach sozialen Klassen und asymmetrischen Machtverhältnissen in seiner Beobachtung und Analyse des Kunstsystems ausgeblendet sind. Im von Luhmann selbst so präsentierten ‹Höhenflug der Theorie› gehören derlei Begriffe nur noch in die plane Draufsicht auf eine «Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus.»27 Jenseits dieser Fragen sind systemtheoretische Denkfiguren für eine Bearbeitung des ‹Realismusproblems› gleichwohl äußerst relevant. Etwa lässt sich im Kontext der System-Umwelt-Debatte zeigen,28 dass in künstlerischen Ausdrucksformen die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Genres eine Eigengesetzlichkeit mit sich führt, die die Beschreibung sozialer Welten als Teil der eigenen Umwelt behandelt.29 Darüber hinaus liefert Luhmanns Theorieansatz mit dem Theorem der Beobachtung zweiter Ordnung ein überaus relevantes Modell für die Analyse sozialer Anschauung und narrativer Perspektivengestaltung, das die Untersuchung der Bewusstwerdung sozialer Ungleichheit in Literatur und Film inspirieren kann. Zugänge dieser Art gelingen, wenn Erzählliteratur und Film nicht nur als rein künstlerische Ausdrucksformen begriffen werden. Als Kulturreflexionsmedien – wenngleich nicht im Sinne überkommener, abbildtheoretischer Spiegelmetaphern – erweisen sich literarische wie filmische fiktionale Erzählungen als Archive sozialer Anschauung und Achtsamkeit, auch wenn ihre konkreten Beispiele nicht unbedingt den sozial engagierten Genera zuzurechnen, sprich sie keine Werke expliziter ‹Parteilichkeit›30 sein müssen. Sie können zwar den sozial engagierten Genera zuzu-
Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 169. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 13. Vgl. den Beitrag von Julian Drews im vorliegenden Band. Dies lässt sich nachverfolgen bspw. anhand der sozial-urbane Segregation in der französischen Serie Marseille, die dort eher im Sinne voyeuristischer Intentionen ausgebeutet wird – dies zeigt der (allerdings nicht systemtheoretisch ausgerichtete) Beitrag von Carolin Mannweiler. Vgl. Rüdiger Scholz: Die Parteilichkeit fiktionaler Literatur. In: ders./Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Literaturtheorie und Geschichte. Zur Diskussion materialistischer Literaturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 217–236.
‹Soziale Ungleichheiten› und ‹Realismus› als Paradigma
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rechnen sein und im eigenen Namen das Wort ergreifen.31 Sie müssen es aber nicht unbedingt. Gerade in der Modellierung von individuellen, aber auch vielseitigen Perspektiven und in den Ausdrucksmöglichkeiten von Affekten und Emotionen liegt ein hohes, aus unserer Sicht nicht abgegoltenes Potenzial, das durch kulturwissenschaftliche Zugänge gewinnbringend thematisiert werden kann. Wie allerdings bekommen literarische Texte soziale Ungleichheit auf der Grundlage gesellschaftlicher Heterogenität in den Blick? Inwiefern und unter Aufwendung welcher Übersetzungsleistungen können die vermeintlich harten Begriffe der Sozialwissenschaften in Kultur-, Film- und Literaturanalysen überführt werden? Wie lassen sich hierfür sozialwissenschaftliche Begriffe und Perspektiven nutzbar machen, ohne dass man sich allzu soziologisierende Analyseperspektiven einhandelt, die die Eigengesetzlichkeiten der ästhetischen Fiktionen unter ihrem objektivierenden Ballast unsichtbar machen und desartikulieren? Welche Kriterien und Begriffsvorschläge können in einem so umrissenen Themenfeld Orientierung für die Untersuchung der in fiktionalen Welten imaginierten sozialen Ungleichheiten stiften? Ungleichheit ist nicht nur im obigen Sinne ‹eine gesellschaftliche Realität›, sie ist immer auch ein Beobachtungsphänomen, wobei literarische und filmische Darstellungen auf die Bereiche der Wahrnehmung und Psychologie spezialisiert sind. Sie agieren im Relativen, insofern sie Figuren, Geschehnisse und Zustände zueinander ins Verhältnis setzen. Affekte wie die soziale Scham, die unter bestimmten Umständen in die Körper von Angehörigen der ‹Unterschicht› eingeschrieben ist, lässt sich relational als Handlungs- und Wahrnehmungsdisposition ebenso beobachten wie die sozialräumlich ungleiche Verteilung von Freizeitaktivitäten, Verhaltensmustern, ja von kollektiven Mentalitäten. Einer Somatisierung von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen ist demnach auf der Ebene der Perzeption und Affizierung wie auch hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung nachzuspüren, in der sich Unrechts- und Stigmatisierungserfahrungen, Formen alltäglicher und struktureller Diskriminierung wie Missachtung sozial verselbständigen und in Formen des sozialen Habitus kondensieren. Ein weiterer Vorschlag würde darin bestehen, den Begriff der ‹relativen Deprivation› auf die Literatur anzuwenden. Der schon eingangs zitierte Walter Runciman machte diesen Begriff bereits 1972 bekannt.32 Zugrunde liegt hier ein Narrativ, welches das Begehren über vergleichende Wahrnehmung in den Fokus bringt. Romane sind voll von derlei Geschichten, dies hat der französische Literarturwissenschaftler und Kulturanthropologe René Girard gezeigt, auf den die Theorie des mimetischen
Vgl. zu diesem Phänomen den Beitrag von Gregor Schuhen in diesem Band. Vgl. Runciman 1972, S. 10–41. Zurück geht der Begriff, wie Runciman angibt, auf Herbert Hyman (vgl. S. 12).
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Begehrens zurückgeht.33 Darüber hinaus ist relative Deprivation ebenso auf symbolisches Kapital zu beziehen und damit auch auf den Verlust von geringeren Möglichkeiten, sich von den Sozialgenoss:innen zu unterscheiden. Wenn stigmatisierte Unterschichten Zugang zu Orten und Konsumgütern der Mittel- oder Oberschicht erhalten, ist für letztere zwar kein Verlust realer Güter, aber der Verlust von Unterscheidungspotenzial zu verzeichnen. Relative Deprivation ist ein Phänomen von brüchigen oder ungewollten Nachbarschaften, von wahrgenommener Nähe und Distanz in der Topologie des Sozialen, die hinsichtlich der zugrundeliegenden Struktur durch verschiedene soziale Lagen, Lebenswelten, Habitūs, ja letztlich Milieus gekennzeichnet ist. Auch Segregationserzählungen34 spielen in diese Thematik hinein. Die Wahrnehmung der eigenen sozialen Position und die damit einhergehenden Identifikationsmuster sind im dynamischen Verhältnis von sozio-ökonomischer Situation, politischer Identifikation, kollektiven milieuspezifischen Mentalitäten und nicht zuletzt in den Prozessen der sozialen Klassifikation anzusiedeln. Hier ist besondere Sensibilität für die Sprache und die Beschreibungsmuster aufzubringen, anhand derer die Welten des Sozialen ins Bild, in die Szene, in die Handlung gesetzt werden. Die Bedeutung der Prozesse der sozialen Klassifikation, der Wahrnehmung und Signifikation des Sozialen sowie der ‹Division und Vision des Sozialen›, um eine Wendung von Pierre Bourdieu zu verwenden,35 sind in der Analyse der fiktionalen Welten aufzuspüren und in ihren spezifischen diegetischen Ausprägungen zu identifizieren. 4. Dass sich Armut darstellen lässt, ist jeder:jedem Kenner:in politisch engagierter Romane vollends vertraut – ebenso, dass dabei unterschiedliche Darstellungstechniken, ästhetische Eigenarten, narrative Muster, Ikonographien und Mittel der Stilisierung zum Einsatz kommen, was den Kernuntersuchungsgegenstand literatur- und filmwissenschaftlicher Zugänge darstellt. Werden ausgewählte soziale Milieus zum Gegenstand fiktionaler Erzählungen erhoben, impliziert dies die Konstruktion eines spezifischen gesellschaftlichen Blickes, dem soziale Konnotationen, Implikationen und Klassifikationen eingeschrieben sind – etwa dann, wenn sozial exkludierte, randständige und marginalisierte Milieus in den Blick geraten. Hinsichtlich der Darstellung unterer sozialer Schichten lassen sich Darstellungsstrategien identifizieren,
Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 215 sowie den Beitrag von Jan-Henrik Witthaus in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Christian von Tschilschke in diesem Band. Vgl. Gerhard Wayand: Pierre Bourdieu: Das Schweigen der Doxa aufbrechen. In: Peter Imbusch (Hg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien. Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 221–237.
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die jeweils in einem kultur- und repräsentationsgeschichtlichen Kontext stehen sowie in ihren sozio-ideologischen Implikationen analysiert werden können. Tiefer noch reichen Fragestellungen, die (insbesondere die klassische) Literatur selbst als ein kulturelles Epiphänomen sozialer Ungleichheit betreffen. Für die These, dass die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in der Vormoderne noch nicht systematisch, sondern wiederkehrend und episodisch sei, spricht die Beobachtung, dass in einem umfassenden Sinn erst nach der Formulierung universeller oder rechtlicher Gleichheitsansprüche im Gefolge der Französischen Revolution und sodann im 19. Jahrhundert die Ungleichheit zu einem Problem wird, dann nämlich, wenn «besondere Vergleichsroutinen nicht zuletzt durch die notorischen Divergenzen zwischen formaler Gleichheit und materiellen Ungleichheiten implantiert» wurden.36 Der Französischen Revolution käme dann nicht unbedingt die Bedeutung eines historischen telos zu. Auch wurde unlängst im Zuge einer postkolonialen Rahmung der europäischen Aufklärungsbewegungen argumentiert, dass die Emanzipationsbestrebungen jener Epoche nicht nur sozial, sondern weltregional beschränkt gewesen seien und in ihren Ausprägungsformen liberaler Gesellschaftsordnungen im globalen Maßstab Exklusionen produziert hätten.37 Allerdings ist nicht abzustreiten, dass im 18. Jahrhundert von Rousseau zu Raynal die Reflexion über gesellschaftliche Ungleichheit nicht länger anekdotisch ist. Sie wird zu einem Leitmotiv, auch in den Diskursen der spanischen Aufklärung, die ja gerade nicht in eine Revolution mündete, aber in deren Rahmen strukturelle soziale Trennungslinien des Ancien Régime zur Disposition gestellt wurden.38 Hier könnte sich die Frage danach anschließen (die zum eingangs zitierten Piketty zurückführt), welche weltanschaulichen Prädispositionen und Erzählungen einer nachdrücklichen und kontinuierlichen Problemwerdung stratifikatorischer Ordnung in vorherigen Epochen entgegenarbeiteten. In diesem unmittelbaren Zusammenhang ist das Phänomen aufzugreifen, dass von der Vormoderne bis hinein die Epoche des Bildungsbürgertums Dichtkunst, Theater und Roman, aber auch ihre Darstellungsregime auf Ungleichheit beruhen – ebenso wie der geisteswissenschaftliche Literaturbetrieb.39 Bereits Erich Auerbach
Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. München: Beck 2021, S. 164. Vgl. Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Frankfurt am Main: Fischer 2017, S. 65–97. Vgl. den Beitrag von Beate Möller in diesem Sammelband. Hans Peter Hahn: Auf der Suche nach den Armen. Warum Armut in den Kulturwissenschaften so oft unsichtbar bleibt. In: Harald Meller (Hg.): Arm und Reich – Zur Ressourcenverteilung in prähistorischen Gesellschaften. Halle: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie SachsenAnhalt 2016, S. 101–109.
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ebnete in seiner berühmten Realismus-These den Weg zu der Erkenntnis,40 dass neben dem Christentum erstmals der bürgerliche Realismus durch die ernste, tragische und geschichtliche Darstellung des Alltags der Unterschichten eine neue Form der Sozialkritik ermöglicht habe – die teilweise auch kulturpolitisch eingefordert wurde, so etwa in den sozialdemokratischen Debatten im ausgehenden 19. Jahrhundert, in denen breit und heftig darüber diskutiert wurde, wie marginalisierte soziale Milieus in einer sich dem Ziel der sozialen Emanzipation verpflichtenden Ästhetik dargestellt werden sollen.41 Eine solche Frage stellte sich angesichts einer entstehenden naturalistischen Ästhetik, in der die Literat:innen des Bürgertums, wie beispielsweise Zola, nicht nur gesellschaftliche Missverhältnisse anprangerten, sondern gleichzeitig auch Schreckensbilder vom Proletariat zeichneten.42 Aber die erwähnten Aspekte werfen vorranging Fragen hinsichtlich der inhaltlichen Vermittlung kultureller Repräsentationen auf. Auf einer formalen Ebene ergeben sich genauso berechtigte Forschungsfragen, darunter z. B. diejenige danach, wann der einer Erzählstimme eingeschriebene Distinktionsmodus einer integralen Diegese Platz macht, die sie nicht länger von unterprivilegierten Figuren trennt.43 5. Von der literatursoziologischen Seite aus hat vor allem Bourdieu die Diskussion mit seinen Untersuchungen zum literarischen Feld im Frankreich des 19. Jahrhunderts ergänzt.44 Gerade die Forschung zu Realismus und Naturalismus zeitigte umfangreiche Folgediskurse, in denen in jüngerer Zeit – nun allerdings mit anderen terminologischen Instrumenten – wieder an Auerbachs Mimesis-Begriff angeschlossen worden ist. Bourdieu wurde insbesondere im Kontext der französischen
Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen: Narr Francke Attempto 1994. Vgl. Rebekka Habermas: Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollten. Debatten um 1890 oder «Cactatum non est pictum!». In: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der «Armen» in Geschichte und Gegenwart. Freiburg im Breisgau: Rombach 2008, S. 97–122 sowie Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der II. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen einer sozialistischen Literaturpolitik. Neuwied: Luchterhand 1972. Vgl. Klaus-Michael Bogdal: «Schaurige Bilder». Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus. Frankfurt am Main: Syndikat 1978. Vgl. mit Blick auf die französische Literatur den Aufsatz von Jochen Mecke in diesem Sammelband. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; vgl. auch Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Wien: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; vgl. die in harschem Ton geführte, aber in jedem Fall bereichernde Kritik Stierles an Bourdieus Kultursoziologie: Karlheinz Stierle: Glanz und Elend der Kunstsoziologie. Pierre Bourdieus ‹Die Regeln der Kunst› ist der fixen Idee des Feldes verfallen. In: Die Zeit 34 (1999), S. 42.
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Gegenwartsliteratur aufgegriffen.45 Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei Didier Eribons Retours à Reims zu, ein autobiographisch gefärbter Text über Milieuflucht.46 Ein weiteres Land der globalen Romania, in dem seit dem letzten Jahrzehnt eine lebendige gegenwartsbezogene Realismusdebatte geführt wird, ist Argentinien.47 Die parallel geführte Untersuchung soziologischer wie auch literarischer Blickkonstruktionen auf die ‹popularen Klassen› von Claude Grignon und Jean-Claude Passeron in Le savant et le populaire. Misérabilisme et populisme en sociologie et en littérature (1989) identifiziert so unterschiedliche narrative Muster und Ästhetiken in den Imaginations- und Konstruktionsprozessen des Sozialen, die sich in einem Feld von Positionen zwischen ‹Populismus› und ‹Miserabilismus› aufspannen.48 Der Umstand, dass das Werk der dissidenten Bourdieu-Schüler Grignon und Passeron, das in Deutschland kaum beachtet und bislang nicht übersetzt wurde,49 in anderen akademischen Kulturen – so z. B. in der argentinischen Kultursoziologie50 – zu einem Standardwerk avancieren konnte, sagt möglicherweise auch etwas darüber aus, wie in den deutschen Literaturwissenschaften kultur- und literatursoziologische Ansätze in den letzten Dekaden vernachlässigt oder als überholt erachtet
Vgl. das DFG-Projekt «Bourdieus Erben. Zur Rückkehr der Klassenfrage in der französischen Gegenwartsliteratur», das seit 2020 unter der wissenschaftlichen Leitung von Gregor Schuhen läuft. Vgl. hierzu den Beitrag von Robert Lukenda in diesem Sammelband. Vgl. statt vieler: Sandra Contreras: Realismos, cuestiones críticas. Rosario: Centro de Estudios de Literatura Argentina 2013 sowie den Beitrag von Patrick Eser in diesem Sammelband, der die Einsätze auf dem künstlerischen Feld und in den literatur- und filmkritischen Debatten streift, des Weiteren Patrick Eser: Konfigurationen des Urbanen. Die Fragmentierung des Sozialen und Krisendiskurse in El aire (Sergio Chejfec). In: Haimo Stiemer/Dominic Büker u. a. (Hg.): Social Turn. Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(-wissenschaft). Weilerswist: Velbrück 2017, S. 161–191. Claude Grignon/Jean-Claude Passeron: Le savant et le populaire. Misérabilisme et populisme en sociologie et en littérature. Paris: Seuil 1989. Stark heruntergebrochen lassen sich die beiden Positionen wie folgt charakterisieren: Populistische Repräsentationen artikulieren idealisierte und folkloristische Sichtweisen auf ‹populare› Gesellschaftssektoren und ihre Kultur, deren Homogenität zudem angenommen wird; dabei verkennen sie die Auswirkungen der sozialen und kulturellen Subordination, die sich in der symbolischen Produktivität jener gesellschaftlicher Schichten ausdrückt. Der Miserabilismus sieht in der Kultur der popularen Sektoren hingegen primär Defizitäres. Die symbolische Produktion und Kultur der Armen wird essenziell, stets gemessen an den Standards einer unterstellten ‹Hochkultur›, als eine arme Kultur bewertet und behandelt. Vgl. als Ausnahme Lothar Peter: Das Ärgernis Bourdieu: Anmerkungen zu einer Kontroverse. In: Das Argument 231 (1999), S. 545–569. Vgl. Patrick Eser: Die ewige Wiederkehr des Populismus: Übersetzungsversuche, Missverständnisse und Eigenlogik der «culturas populares». In: ders./Alke Jenss u. a. (Hg.): Globale Ungleichgewichte und soziale Transformationen. Beiträge von Dieter Boris aus 50 Jahren zu Lateinamerika, Klassenanalyse und Bewegungspolitik. Wien: Mandelbaum Verlag 2018, S. 327–332.
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wurden. Angeregt wird an dieser Stelle weniger ein Plädoyer für die Aktualisierung einer Sozialgeschichte der Literatur oder für ein detektivisches Aufspüren soziologisch verwertbarer fiktional dargestellter Informationen zum Sozialen. Vielmehr geht es uns um eine Verschränkung verschiedener Zugänge zu Gesellschaftsfiktionen, durch welche jenseits eines Sprach- oder Formimmanentismus vielschichtige Kontexte zur Kenntnis genommen und betrachtet werden. Das Soziale im und des Ästhetischen könnte auf diese Weise einen neuen Stellenwert erlangen. 6. Der vorliegende Band enthält die ausgearbeiteten Vorträge der 2019 auf dem Deutschen Romanistentag an der Universität Kassel durchgeführten Sektion «Soziale Ungleichheit in Literatur und Film (Lateinamerika, Spanien und Frankreich)». Abschließend sei ein kurzer Überblick gegeben: Den Impuls zu dieser Sektion gaben die Auseinandersetzungen um die französische Gegenwartsliteratur, die im Anschluss an Didier Eribons Retours à Reims (2009) aufgelebt sind und in diesem Band in den Beiträgen von Gregor Schuhen und Robert Lukenda thematisiert werden. Wie schon oben erwähnt, wurde ebenso in Argentinien eine lebendige gegenwartsbezogene Realismusdebatte geführt. Hinsichtlich der französischen Gegenwartsliteratur untersucht zum einen Gregor Schuhen das literarische Genre der Autosoziobiographie, das sich im Rahmen einer littérature engagée, inspiriert durch Pierre Bourdieu und Annie Ernaux, herausgebildet hat. Robert Lukenda thematisiert zum anderen am Beispiel der Gegenwartsliterat:innen Annie Ernaux, Didier Eribon und Éric Vuillard den Umgang mit sozialer Ungleichheit. Jochen Mecke legt in seinem Beitrag eine Perspektive des historischen Längsschnitts an und rekonstruiert anhand verschiedener Paradigmen Ethiken und Ästhetiken der französischen Literatur in ihrem Umgang mit sozialer Ungleichheit. Schon diese drei vom Gegenstandsbereich recht naheliegenden Aufsätze weisen auf die Unterschiede der verschiedenen Medien und Genres der sozialen Ungleichheit hin. Dieses Spektrum differenziert sich mit Blick auf die anderen in diesem Band versammelten Beiträge noch weiter aus, sowohl kulturhistorisch und stoffgeschichtlich wie auch hinsichtlich der medialen Träger, der Sujets und der Genres. Im Aufklärungskontext sind die Beiträge von Beate Möller und Julian Drews angesiedelt: Während Möller zentrale Textzeugnisse der spanischen Aufklärung in ihrem Umgang mit sozialen Ungleichheiten untersucht, thematisiert Drews am Beispiel von Diderots Le Neveu de Rameau (1774) literarische und genrebedingte Fortführungen und Interpretationen aus systemtheoretischer Perspektive und vor dem Hintergrund der Systemevolution moderner Literatur. Audiovisuelle Medien stellen für die kulturwissenschaftliche Ungleichheitsforschung eine umfangreiche Materialreserve zur Verfügung, die verschiedene Genres und Formate von Film und Fernsehen umfasst und anhand dessen die ungleichheits-
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bezogenen Repräsentationsmuster, die Imaginationen des Sozialen, die Ikonographie sowie generell die Narrativik untersucht werden können. Mediale Vergleichsperspektiven thematisiert Jan-Henrik Witthaus, der der Fiktionalisierung sozialer Ungleichheit in Film und Roman an den Beispielen des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu und des chilenischen Autors Roberto Bolaño nachgeht. Rein auf audiovisuelle Inszenierung sind die Beiträge von Javier Ferrer Calle, Christian von Tschilschke, Patrick Eser und Caroline Mannweiler bezogen. Ferrer Calle setzt sich mit den Fragen der Korruption und der sozialen Ungleichheit am Beispiel von Filmen des mexikanischen Regisseurs Luis Estrada auseinander, von Tschilschke untersucht das Sujet der Wohlstandssezession anhand des im lateinamerikanischen Kino zunehmend populären Soziotops der Gated Communities am Beispiel eines Films des brasilianischen Regisseurs Kleber Mendonça Filhos. Einen ebenso auf die lateinamerikanischen Gegenwartskulturen bezogenen Beitrag liefert Eser, und zwar hinsichtlich des argentinischen Kinos. Die Medien und Genres fiktionalisierter sozialer Ungleichheiten sind breit gestreut, der vorliegende Band ist nicht mehr als eine erste kulturraum- wie epochenübergreifende Exploration der vielfältigen Ausprägungen der Ungleichheitsfiktionen in der Romania. Dabei geraten selbstverständlich nicht sämtliche kulturgeschichtliche Erscheinungen und Trends der Gegenwartskulturen in den Blick, deren weitere Untersuchung und Integration in künftig zu untersuchende Korpora überaus zu begrüßen wäre. Im Kontext der Gegenwartskulturen wären zum einen die in letzter Zeit beliebten zivilisationskritischen Genres der (Post-)Apokalypse und der Dystopie zu berücksichtigen, für die narrative Bezüge auf drastisch angestiegene soziale Ungleichheiten oftmals konstitutiv sind, zum anderen die neuen Formen der vielbeachteten filmischen Inszenierungen von Armut und sozialer Ungleichheit, in denen diese zu attraktiven Sujets werden. Hier sind globale Kinematographien zu erwähnen. Vom Erfolgsfilm Slumdog Millionaire (2008) über den mit mehreren Oscars prämierten südkoreanischen Spielfilm Parasite von Bong Joon-ho (2019) bis hin zu den NetflixProduktionen Roma (2018) des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón oder Lazzarro felice (2018) der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher ist ein gewachsenes Interesse an dieser Thematik festzustellen. Die populären filmischen Ungleichheitsund Armutsnarrative können dabei auch solche Zugänge umfassen, deren filmästhetische Inszenierung lokaler Elendssituationen global verwertbare Medienspektakel kreieren, wie es im Falle des argentinischen Spielfilms Elefante blanco (2012, Pablo Trapero) oder noch deutlicher in The Ghosts of Cité Soleil (2006, Asger Leth) geschieht, der zur Melodie und Ästhetik des Hip Hop den ‹gefährlichsten Slum der Welt› – die in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince gelegene Cité Soleil – ausleuchtet und dem globalen Publikum aus sicherer Distanz Einblicke in exotische und
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elende soziale Welten vermittelt.51 Derartige globale Armutsspektakel kennzeichnet ein sensationsgieriger, ja ‹elendspornographischer› Blick, der sich im Zeichen zuspitzender globaler Ungleichheiten einer zunehmenden Beliebtheit erfreut – und dem trotz all der Ästhetisierung und Spekularisierung von Marginalität, Armut und Ungleichheit die ästhetische Haltung eines ‹neuen Realismus› attestiert wird. Was das über die jüngere Kinematographie der sozialen Härte und über den Gehalt des von der feuilletonistischen Filmkritik gerne attribuierten Merkmals des ‹neuen Realismus› genau aussagt, wäre Stoff für weitere Diskussionen. Wir möchten uns bei allen Beteiligten für die Diskussion und für die schriftlichen Beiträge bedanken. Ein Wort des Dankes geht darüber hinaus an Karolin Schäfer für ihr genaues und engagiertes Lektorat.
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Vgl. zu beiden genannten Filmen Patrick Eser: Milieufiktionen. Kontraste, Schwellen und Ungleichheiten in zeitgenössischen Großstadterzählungen Lateinamerikas (Film und Literatur). Habilitationsschrift am Fachbereich 02 – Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel 2021, S. 530–576 sowie S. 677–718.
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1 Aufklärungsnarrative
Julian Drews
Diderots Neveu de Rameau ‹korrigiert› durch die Lesarten sozialer Ungleichheit Abstract: Diderots Le Neveu de Rameau erprobt in einem frühen Entwicklungsstadium des modernen Literatursystems eine bestimmte Form. Die Stimme des Neffen aus Diderots Text, die v. a. in der Literatur des 20. Jahrhunderts zu monologischen Tiraden weiterentwickelt wird, kann als beispielhaft für die Fähigkeit der Literatur, soziale Ungleichheit zu denunzieren, verstanden werden. Sie klagt vehement an, versperrt sich aber andererseits einer klaren Parteinahme jenseits des Literarischen. Dies beruht auf der zunehmenden Autonomie der modernen Literatur, die ebenfalls in der Figur des Neffen veranschaulicht wird. Hans Magnus Enzensbergers Voltaires Neffe greift die Vorlage Diderots auf und gibt ihr eine postkoloniale Wendung. Das wird zum Anlass genommen, um aus systemtheoretischer Perspektive nach der Wirkungsweise von Ansätzen zu fragen, die Begriffe sozialer Ungleichheit als Interpretationsschema nutzen. Keywords: Diderot, Systemtheorie, Enzensberger, Postkolonialismus Abstract: Written during an early developmental stage of the modern literary system, Diderot’s Le Neveu de Rameau can be considered an attempt to experiment with a specific literary form. The nephew’s voice found in Diderot’s text is an example of how literature can denounce social inequality and was refined into monological tirades in the course of the 20th century. While it expresses numerous accusations, it does not encourage taking sides beyond the literary context, hereby emphasizing the increasing autonomy of modern literature, which is further illustrated by the character of the nephew. With Voltaires Neffe, Hans Magnus Enzensberger revives Diderot’s original piece, shifting it towards a postcolonial angle. Appreciating this occasion, the following article, pursuing a systems-theoretical perspective, investigates the effects generated by approaches that evolve around social inequality as interpretation scheme. Keywords: Diderot, systems theory, Enzensberger, postcolonialism
Julian Drews, Potsdam https://doi.org/10.1515/9783111022369-002
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Julian Drews
1 Einleitung In einem Kommentar über wechselnde Moden im Bereich des musikalischen Geschmacks und der schleichenden Durchsetzung des Wahren, Guten und Schönen zieht der Neffe des Komponisten Jean-Philippe Rameau einen theologischen Vergleich: «Le dieu étranger se place humblement sur l’autel à côté de l’idole du pays; peu à peu, il s’y affermit; un beau jour, il pousse du coude son camarade; et patatras, voilà l’idole en bas.»1 In ähnlicher Weise ließe sich der methodische Ansatz der vorliegenden Überlegungen beschreiben. Sie folgen einer systemtheoretischen Perspektive und schmiegen sich sowohl in der Form ihrer Begriffsbildung als auch in der Rekonstruktion der historischen Situation eng an den theoretischen Stand, den uns Niklas Luhmann hinterlassen hat, an. Gleichzeitig versteht sich die Studie aber auch als Arbeit an einer Textualitätstheorie, der vielleicht «un beau jour» auffällt, dass sie keine soziologische Zweigstelle sein will, sondern dass umgekehrt auch soziologische Supertheorien letztlich Texte sind und somit in ihren Gegenstandsbereich fallen.2 Bis dahin aber profitiert sie für ihre eigene Begriffsbildung vom bereits erreichten Niveau bzw. fokussiert die Aufgabe, Systemtheorie und Textualität zu verbinden.3 Die theoretische Ausrichtung dieses Beitrags soll dabei helfen, das Thema sozialer Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen anzusteuern. Es geht im Weiteren nicht nur darum, Momente zugespitzter Ungleichheit als literarische Motive in einem entsprechend gewählten Text aufzuzeigen. Auch das Aufdecken verborgener Asymmetrien durch die Interpretation soll nicht im Vordergrund stehen. Primär geht es darum, die Ausrichtung der Interpretation an Theorien, die ihre Perspektive auf Begriffe sozialer Ungleichheit stützen, kritisch zu befragen. Dide-
Denis Diderot: Le Neveu de Rameau. In: ders.: Œuvres, Contes. Édition établie par Laurent Versini. Paris: Éditions Robert Laffont 1994, S. 676, im Weiteren zitiert mit der Sigle NR. Zum Begriff der Supertheorie vgl. Luhmann, Niklas: Soziologie der Moral. In: ders.: Die Moral der Gesellschaft. Hg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008a, S. 56–162, hier: S. 57–79. Die Grenze der Metaphorik ist letztlich schon beim Begriff des «idole du pays» erreicht. Als solcher kann die Systemtheorie wenigstens in der Literaturwissenschaft kaum bezeichnet werden. Vgl. hierzu Abschnitt drei des vorliegenden Beitrags. Die Ausgangsfrage einer Textualitätstheorie auf systemtheoretischer Grundlage wäre, ob nicht größere semantische Zusammenhänge, eben weil sie als Zusammenhänge bereits in Textform vorliegen, ihre selbstreferenzielle Wiederholung in neuen Texten begünstigen. Stellvertretend für den Forschungsstand sei hier nur auf die Anregungen in Luhmann 2008b verwiesen. Skeptisch zu dieser Möglichkeit verhält sich Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Francke Verlag 2005.
Diderots Neveu de Rameau ‹korrigiert› durch die Lesarten sozialer Ungleichheit
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rots hochgradig selbstreflexive Texte bieten sich für diese methodologische Fragestellung in besonderem Maße an.
2 Der Neffe und die Selbstreferenz An den Beginn meiner Auseinandersetzung möchte ich eine systemtheoretische Begrifflichkeit stellen, nämlich die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz.4 Sie erinnert daran, dass Literatur, wie jede Form der Kommunikation, Verweise in zwei Richtungen enthält – einerseits bezieht sie sich auf etwas außerhalb ihrer selbst und andererseits auf sich selbst. So kommuniziert etwa ein Roman ein bestimmtes Bild der Welt jenseits des Literarischen und kann dabei jeden Aspekt der Wirklichkeit thematisieren. Gleichzeitig aber kommuniziert er die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Textsorte. Er zeigt, dass er ein Roman ist, was im Laufe der Gattungsgeschichte Unterschiedliches bedeuten kann, und signalisiert damit, dass die fremdreferenzielle Funktion auf irgendeine Weise mit der Spezifik der Textsorte verrechnet werden muss. Die Bedeutung der fremdreferenziellen Dimension für die vorliegende Untersuchung scheint also selbstverständlich: Sie geht davon aus, dass soziale Ungleichheit etwas ist, das sich in der Welt findet – etwas, zu dem sich Film und Literatur verhalten können, das aber auch unabhängig von ihnen existiert. Entsprechend müsste die Interpretation aufzeigen, wie der Text von Diderot zur Thematik steht.5 Diese Frage wird aber vorerst noch zurückgestellt. Zunächst soll die selbstreferenzielle Seite des Gegenstandes besprochen werden. Hier lassen sich nämlich Kriterien für die Wahl des Textes ausmachen, die bereits vor der Zuordnung über das passende Thema greifen. Le Neveu de Rameau markiert einen bestimmten Moment in der Entwicklung literarischer Formen und damit auch einen bestimmten Schritt der Systemevolution moderner Literatur, die wie alle Bereiche der modernen Gesellschaft durch einen Prozess fortschreitender Autonomie im Sinne funktionaler Differenzierung gekennzeichnet ist.6 Roland Galle hat in Diderots Texten die schrittweise Dialogi-
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 201516, S. 593–646. Wie die Selbst- hat auch die Fremdreferenz verschiedene Ebenen. Hier beschränke ich mich auf die oben genannte. Nichts anderes ist hier mit Autonomie gemeint. Das ist wichtig, da der Begriff in der Literaturwissenschaft noch häufig im Sinne einer L’art pour l’art-Programmatik verstanden und dann zurecht zurückgewiesen wird.
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sierung der Aufklärung aufgezeigt.7 Damit ist gemeint, dass Aussagen zwar gesetzt werden, im Dialog dann aber einen Widerspruch erfahren, der sie nicht widerlegt bzw. korrigiert, sondern ihren Status vom klaren Geltungsanspruch zur Möglichkeit verschiebt. Dies ließe sich auch als Stärkung des Weltzugangs fiktionaler Texte gegenüber demjenigen faktualer Texte verstehen. Diderot nutzt nicht einfach die Möglichkeiten einer zunehmend autonom vollzogenen Literatur, vielmehr erforscht und reflektiert er diese Möglichkeit. Galle bezeichnet die Funktion des Dialogs für das erzählerische Werk «als Verabschiedung auktorialer Souveränität und als Ironisierung metaphysischer Kategorien».8 In diesem Narrativ bildet Le Neveu de Rameau eine Vorstufe zu Jacques le Fataliste et son maître, mit dem die Entwicklung bei Diderot ihren Höhepunkt erreicht. Von den verschiedenen Türen, die der Neveu zur Literatur der Moderne öffnet, soll hier aber eine ganz bestimmte beachtet werden, für die der intratextuelle Schritt nicht notwendig ist. Der entscheidende Faktor ist dabei die Stimme des Neffen. Sie bildet eine Form, deren literarisches Potential erst über hundert Jahre nach Diderot, ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vollständig entfaltet wird. Während Diderots Innovation noch darin bestand, dem MOI und seiner normativ unmarkierten Position einen ebenbürtigen Widerpart zu geben, werden die Erben des LUI, in Texten von Dostojewskij, Céline, Bernhard und Castellanos Moya nun auch vom Dialogpartner, dessen laufender Kommentar sich wertend und einordnend zwischen die Figur und den Leser schiebt, befreit. Dabei entwickeln sich Monologe, die wesentlich in einer Abfolge harscher Urteile bestehen – z. T. nachvollziehbar, aber der Form nach immer bitterböse oder aggressiv zugespitzt, auch unterhaltsam, gelegentlich zum Lachen reizend, aber nicht primär komisch-skurril, wie noch die opinions eines Tristram Shandy. Die Stimme übernimmt polemische Stilmittel der Aufklärung, etwa die effektvolle Gegenüberstellung eines hohen und eines niedrigen Wertes, deren kunstvollen Einsatz bei Voltaire Erich Auerbach am Beispiel des Textes über die Londoner Börse erläutert hat.9 Verfahren dieser Art hat Alexander Pope hat in seinem satirischen Text Περι Bαθουσ or, Martinus Scriblerus his Treatise of the Art of Sinking in Poetry als Bathos bezeichnet.10 Die
Roland Galle: Diderot – oder die Dialogisierung der Aufklärung. In: Jürgen v. Stackelberg u. a. (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Europäische Aufklärung III. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1980, S. 209–247. Ebda., S. 245. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen/ Basel: A. Francke Verlag 200110, S. 376 f. Alexander Pope: περι Bαθουσ or, Martinus Scriblerus his Treatise of the Art of Sinking in Poetry. In: ders.: The Major Works. Mit Vorwort und Kommentaren hg. v. Rogers. Oxford: Oxford University Press 2006, S. 195–239.
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Nachfahren des Neveu urteilen permanent, was aber gleichzeitig dazu führt, dass sie sich selbst als urteilende Instanzen innerhalb ihrer literarischen Tiraden delegitimieren. Im 19. Jahrhundert bieten Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch das Beispiel einer solchen Tirade.11 Insgesamt aber scheint sich das literarische Potential der Form bis zur Jahrhundertwende eher latent zu entwickeln, was damit zu tun haben könnte, dass wesentliche Komponenten dieser Stimmen zunächst noch philosophisch im Einsatz sind, und zwar immer dort, wo grundsätzliche Umwertungsprojekte artikuliert werden. Man könnte etwa eine Linie über Max Stirner und Karl Marx zu Friedrich Nietzsche ziehen. Besonders im Umfeld materialistischer Überlegungen, denen Diderot ja auch nahestand, scheint Rameaus Neffe häufig zu winken. Der Materialismus ist auch rhetorisch aufs Engste mit der Geste des Bathos verwoben. Schließlich unterstellt er per se die traditionell höher konnotierten Werte – die Idee, das Ideal, den Geist, die Tradition, den Glauben – den niedriger konnotierten – der Kreatürlichkeit, den wirtschaftlichen Zusammenhängen oder der Biologie –, indem diese kausal aus jenen abgeleitet werden. Was faktuale Texte jener Zeit indes nicht ohne Weiteres leisten können, ist die Delegitimation der eigenen Stimme als urteilender Instanz. Dieses Wegziehen des eigenen Bodens ist wohl eher ein literarisches oder später ein dekonstruktives Moment. Bei Nietzsche wird es sichtbar, nicht zufällig in dem Moment, als sich der Übergang ins Literarische wieder vorbereitet. In der Folge wird die Form in Louis-Ferdinand Célines Voyage au bout de la nuit aufgenommen,12 von Thomas Bernhard prominent weiterentwickelt13 und anschließend von Horacio Castellanos Moya14 in den Bereich der rezenten lateinamerikanischen Literatur transferiert.15 Charakteristisch für die genannten Texte und Autoren ist dabei jeweils die Form des Monologs. Sie alle sind also im Verhältnis zum Neveu de Rameau durch den Wegfall des Dialogpartners / Erzählers gekennzeichnet. Dabei handelt es sich
Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Übersetzung von Swetlana Geier, Nachwort von Hans Walter Poll. Stuttgart: Reclam 2018. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Christian von Tschilschke. Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit. Paris: Éditions Gallimard 2017. Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Bereits im Titel des Textes lässt sich ein expliziter Rückgriff auf Diderot erkennen. Horacio Castellanos Moya: El asco: Thomas Bernhard en San Salvador. Barcelona: Tusquets editores 2007. Zu beachten ist hier nicht nur El asco, der den Transfer explizit im Untertitel führt, sondern v. a. die Weiterentwicklung der Tirade in dem 2004 erschienenen Insensatez. Angrenzend finden sich immer Texte, deren Bezug diskutiert werden kann, wie J.D. Salingers The Catcher in the Rye, Miguel Delibes Cinco horas con Mario oder Peter Handkes Publikumsbeschimpfung.
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allerdings nicht um ein rein historisches Verhältnis, von welchem die Interpretation der einzelnen Texte jeweils absehen könnte, sondern um ein rhetorisch aktives. Die Forschung hat bereits darauf hingewiesen, dass der Dialog der beiden Figuren bei Diderot im Grunde auch das Verhältnis der Leser:innen zum Text illustriert.16 Wenn MOI sich über die widersprüchlichen Charakterzüge seines Gegenübers wundert, macht er nur explizit, was Leser:innen angesichts der Figur wahrscheinlich empfinden und was gleichzeitig den Reiz des Textes ausmacht. Die Rezeption erhält Hilfestellung durch den Erzähler, der den Leser:innen bestätigt, dass er auf die Figur des Neffen tatsächlich mit einer Mischung aus Irritation und Faszination reagieren soll. Dass die oben genannten Werke ihre Stimmen als Monolog inszenieren können, bedeutet, dass sie der Öffentlichkeit als Umwelt des Literatursystems nun zumuten, selbst die Leistung der wertenden Einordnung zu übernehmen, für die Diderot noch eine Erzählstimme benötigte. Etwas fällt in der formalen Ausarbeitung weg, aber der Text kalkuliert mit der Ergänzung durch die Leser:innen. Ebendiese Auslassung macht den Text wiederum interessanter. Die genannten Tiraden bilden also Beispiele gattungsrhetorischer detractio.17 Sie so zu bezeichnen, lenkt die Aufmerksamkeit von ihrer Struktur als geschlossene Werke hin zu ihrer Stellung als Glieder der kommunikativen Ketten, die das System der modernen Literatur bilden. Sie sind vom evolutionären Standpunkt aus betrachtet voraussetzungsreich. Warum sollte man schließlich mehrere hundert Seiten vernichtende Urteile über diesen oder jenen kulturellen Kontext rezipieren, wenn sie in Form notorischer Rundumschläge geliefert werden, die eine Parteinahme, trotz möglicher punktueller Übereinstimmungen, im Ganzen so unwahrscheinlich machen? Warum einem Autor einen solchen Text nicht nur nachsehen, sondern ihm diesen hoch anrechnen? Wie voraussetzungsreich solch eine Kommunikationssituation ist, zeigt sich immer dann, wenn die Systemgrenze von einer Seite überschritten wird. So hat Bernhards Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises einen Skandal provoziert, weil man die Urteile in diesem Kontext anders wertete als jene, die innerhalb der Romane geäußert werden. Über die antisemitischen Ausfälle Célines in Briefen Martin Raether: Pantomime und Mimesis: Die Interpretationen des Neveu. In: Dietrich Harth/ ders. (Hg.): Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung. Würzburg: Königshausen und Neumann 1987, S. 111. Gattungsrhetorische Figuren markieren eine Differenz, die analog zu derjenigen Differenz verstanden werden kann, welche die Tropen zur grammatikalischen Norm unterhalten. Letztere ändern die Norm im Dienste des Effekts. Die Figuren der Gattungsrhetorik stellen die gattungsrelevante Veränderung eines literarischen Musters dar. Sie bezeichnen also die Differenz eines Textes zu seinen Vorgängern in der Gattung. Um Verwechslungen zu vermeiden, schlage ich vor, für die gattungsrhetorischen Änderungen die lateinischen Bezeichnungen zu verwenden, hier also detractio statt Ellipse.
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und Traktaten muss kaum diskutiert werden.18 Die sich aufzwingenden Schlüsse werden aber in der Regel nicht automatisch auch auf seine Romane projiziert. Im Falle von Castellanos Moya zeigt sich dagegen, was geschehen kann, wenn die Grenze seitens der Öffentlichkeit ignoriert wird, d. h. wenn Teile des Publikums nicht bereit sind, den Aussagen, die innerhalb eines Romans getätigt werden, ihren gattungsspezifischen Status zu belassen. Auf die Publikation von El asco und die darin enthaltenen Angriffe auf die salvadorianische Gesellschaft folgten Todesdrohungen. Der Autor lebt seitdem im Exil. Daran lässt sich auch sehr klar ablesen, wie systemtheoretische oder allgemein kommunikationsorientierte Betrachtungen die strukturalistisch geprägten Intertextualitäts- oder Gattungstheorien ergänzen. Die Entwicklung der Literatur lässt sich nicht allein in der Untersuchung von Varianten als Abfolgen auf der formalen Ebene untersuchen, sondern muss gleichzeitig im Wechselverhältnis zu einer mitkonstituierten Öffentlichkeit gedacht werden, die sie konditioniert und auf deren Rückmeldung (z. B. in Form von Skandal, Kritik oder Verkaufszahlen) sie reagiert.19 Selbstverständlich könnte ausgehend von Diderots Text ebenso nach Vorläufern in der Linie gefragt werden: Ernst Robert Curtius verwies hier bereits auf die Satiren des Horaz.20 Hans Robert Jauß sah einerseits inspiriert durch Michail Bachtins Arbeiten zur Dialogizität eine Verbindung zur menippeischen Satire und andererseits zu den platonischen Dialogen, insbesondere zum Gorgias.21 Darüber hinaus lassen sich Anklänge an die novela picaresca ausmachen, und Foucault wies in seiner Histoire de la folie u. a. auf Parallelen und Unterschiede zum mittelalterlichen Narren hin.22 Die Entwicklung der Tiraden im Ausgang vom Neveu de Rameau bilden eine grundsätzliche Möglichkeit moderner Literatur aus, sich zu sozialer Ungleichheit
Gero von Randow: Spucken und bespuckt werden. Die misanthropischen Briefe Célines geben auch Auskunft darüber, wie der Franzose zum Antisemiten wurde. In: Die Zeit (30.12.2009), https://www.zeit.de/2010/01/L-B-Celine/komplettansicht (letzter Zugriff: 04.09.2020). Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: Springer VS 20175, S. 125–129. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen: A. Francke Verlag 199311, S. 554–562. Kritisch zu Curtius’ Ansatz verhalten sich Herbert Diekmann: Kritische Bemerkungen zum vorstehenden Beitrag. In: Jochen Schlobach (Hg.): Denis Diderot. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 194–195 und Hans Robert Jauß: Der dialogische und der dialektische Neveu de Rameau oder: Wie Diderot Sokrates und Hegel Diderot rezipierte. In: Karlheinz Stierle/Rainer Warning [Hg.]: Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik 11. München: Wilhelm Fink Verlag 1996, S. 393–419. Jauß, ebda. Michel Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique. Paris: Éditions Gallimard 1972, S. 363–371. Vgl. hierzu auch Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Berlin: Suhrkamp 2016.
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zu verhalten. Sie können moralisch aufgeladene Urteile formulieren, aber gleichzeitig können sie sich selbst und damit jeden Standpunkt, von dem aus geurteilt werden könnte, infrage stellen. Warum das so ist, lässt sich ebenfalls an Diderots Text ablesen. Bereits die Form des Dialogs bei Diderot wurde ja mit der Stärkung literarischer Eigenlogik in Verbindung gebracht. Darüber hinaus kann der Text als Reflexion über die Möglichkeiten des Romans bzw. von Geschichten als erzählender Fiktion gelesen werden. Die Figur des Neffen stellt dabei einen Metadiskurs zum Status der Romanfigur dar. In seinem der Beziehung zwischen Diderot und Horaz gewidmeten Exkurs charakterisiert Ernst Robert Curtius die titelgebende Figur des Textes: Rameaus Neffe selbst ist nicht nur, und vielleicht, nach Diderots Ansicht, nicht in erster Linie Musiker: er ist mindestens ebensosehr ein Virtuose der – hier allerdings wortlosen – Pantomime. Er ist der geborene, der geniale Imitator: und alle Kunst ist nach Diderots Überzeugung imitatio naturae. Insofern ist der Neffe nicht nur feiler Parasit, sondern auch eine hochbegabte Künstlernatur, die an eigenen Fehlern, aber auch an der sozialen Ungerechtigkeit zugrunde gegangen ist.23
Das in der Pantomime aufgerufene Motiv der Imitation zeigt jedoch nicht nur, was der Neffe unter anderen Bedingungen tun, sondern auch was er sein könnte. Seine musikalische Empfänglichkeit ordnet ihn dem ästhetischen Bereich zu, aber er stellt nicht einfach einen gescheiterten Künstler dar, sondern den Gegenstand des literarischen Kunstwerks. Seine Pantomime und die Gedanken an Verbrechen, die er theoretisch begehen könnte, loten das romaneske Potential der Figur aus. Seine faktische Armut und Abhängigkeit zeigen dabei aber den letztlich fiktionalen Status all dieser Ideen. Er kann als schöpferisches Subjekt nicht fruchtbar werden, weil gerade seine eigenartige Zwischenstellung das Faszinosum ausmacht, welches die Fortsetzung der Geschichte gewährleistet. Er muss Objekt bleiben und leidet darunter. Er ist ein wesentlicher Teil der Gesellschaft, genießt gewisse Sonderrechte, aber zu dem Preis, dem Bereich der Fiktion anzugehören und letztlich nichts zu gelten: «[...] hors de table une liberté que je prenais sans conséquence; car moi, je suis sans conséquence.»24 Wahrheit stellt sich zufällig ein, nicht wie im wissenschaftlichen oder philosophischen Text methodisch: «Oh! Vous voilà, vous autres! Si nous disons quelque chose de bien, c’est comme des fous, ou des inspirés; par hasard.»25 Und die gelegentliche Wahrheit
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen: A. Francke Verlag 199311, S. 561. Denis Diderot: Le Neveu de Rameau. In: ders.: Œuvres, Contes. Édition établie par Laurent Versini. Paris: Éditions Robert Laffont 1994, S. 633. Ebda., S. 629.
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inmitten der erwarteten Unterhaltung kann den Genuss durchaus stören, wofür das Abendessen bei Bertin steht. Nun ist der gattungsgeschichtliche Moment, an dem wir uns befinden, natürlich nicht derjenige an dem die moderne Romanfigur erfunden wurde. Die Metareflexion des Neveu steht in einem anderen Zusammenhang zur Autonomie und damit zur Herausbildung des modernen Literatursystems. In seiner wegweisenden Studie zum Thema bemerkt Niels Werber: Die Umstrukturierung der Gesellschaft soll im Folgenden als epochaler Wandel begriffen werden, der die Voraussetzungen schafft für ein Kunst- und Literatursystem, das nach ausschließlich selbstgesetzten Kriterien seine Umwelt beobachten und codieren kann. Erst unter diesen Bedingungen kann überhaupt erwartet werden, daß sich die Literatur von ihren Restriktionen löst und die Möglichkeit gewinnt, auch das Böse, Ungerechte oder Schreckliche als schön zu behandeln, ohne dies noch länger moralisch, philosophisch oder didaktisch rechtfertigen zu müssen.26
Werber entwickelt in der Folge einen plausiblen Zusammenhang zwischen der Einheit der Trias gut, wahr und schön und den kommunikativen Gegebenheiten der Ständegesellschaft, in der die oberen gesellschaftlichen Schichten und die Ordnung als Ganze eben durch die Vereinigung aller positiven Attribute und deren Zuweisung auf ihre Repräsentant:innen stabilisiert werden mussten.27 Die Abkehr von der Trias im Übergang zum modernen Literatursystem wird anhand der wechselnden Funktionen von der Theodizee (bzw. vormals damit verbundenen Motiven wie dem Erdbeben) und der Darstellung des Mordes erläutert, so dass die Frage, «ob eine autonom gewordene Literatur signifikant neue Möglichkeiten entwickelt, das Böse einzusetzen»,28 positiv beantwortet werden kann. Grundlegend hierfür ist unter anderem ein Wandel der Funktionalität vom Primat der Aufklärung zur Unterhaltung des Publikums.29 In diesem Zusammenhang müssen die Denkspiele des Neffen gesehen werden, die sich mit der Möglichkeit befassen, ein großer Verbrecher sein zu können und doch stets den fiktionalen Status dieser Option mitkommunizieren. Dass die Verabschiedung der Trias das zentrale Thema des Neveu ist, wurde bereits durch Hans Robert Jauß betont. Im Vordergrund seiner Analyse steht dabei die Trennung von Moral und Ästhetik: «Das Genie, das ästhetisch unersetzbar ist, ist moralisch [...] nicht zu rechtfertigen.»30
Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung moderner Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 38. Ebda., S. 34 f. Ebda., S. 104. Ebda., S. 109. Jauß: Der dialogische und der dialektische Neveu de Rameau, S. 405.
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Dass Literatur als eigenständige Größe noch nicht in ihrem Recht steht, wird durch die moralische Einbettung derjenigen Figur deutlich, die das Dargestellte erst zum Ereignis werden lässt, nämlich Rameaus Neffen. Die Einbettung erfolgt durch den rahmenden Kommentar. Das Aufbrechen des magistralen Monologs ist nicht nur die Infragestellung der Autorität, sondern gleichzeitig auch die Etablierung einer Gegenautorität, nämlich der Literatur als eigenständiger Größe. Auch Jauß betont die potenzielle Überlegenheit des Musikers über seinen Gesprächspartner. Allerdings beobachtet er dann das Wiedereinfangen der widerständigen Figur im Begrifflichen durch Hegels Phänomenologie des Geistes.31 Wir wissen inzwischen, dass diese Disziplinierung vorübergehend bleibt, bis die Stimme nach einer Latenzphase, nun befreit von ihrem Dialogpartner, als literarische Form zurückkehrt.
3 Der Neffe und die Fremdreferenz Neben den maßgeblichen Innovationen im System, die oben dargestellt wurden, hat der Text aber auch Reaktionen im Sinne der Parodie oder Fortsetzung hervorgebracht. In diesen Zusammenhang gehört Hans Magnus Enzensbergers Mitte der neunziger Jahre erschienenes Theaterstück Voltaires Neffe. Eine Fälschung in Diderots Manier.32 Auch hierbei handelt es sich im Wesentlichen um einen Dialog zwischen zwei Figuren, der demjenigen der Vorlage teilweise wortwörtlich ähnelt. Das Gespräch findet irgendwann zwischen 1760 und 1777 im Foyer eines Pariser Auditoriums statt, wobei gewisse Details bereits spielerisch ins 20. Jahrhundert hinüberdeuten.33 Eine rahmende Erzählung gibt es hier jenseits der Regieanweisungen nicht, folglich werden die Figuren auch nicht als MOI und LUI, sondern als der ‹Neffe› und der ‹Philosoph› tituliert. Ersterer wird nun nicht dem Musiker Rameau, sondern, wie der Titel schon sagt, Voltaire zugeordnet. Der Philosoph wiederum trägt Züge Diderots. Im Laufe des Gesprächs kommen die beiden auf den Neid und die selbst empfundene Mittelmäßigkeit des Neffen zu sprechen. Auch Enzensberger lässt seine Titelfigur das normative Selbstverständnis ihres Gesprächspartners infrage stel-
Ebda., S. 418 f. Hans Magnus Enzensberger: Voltaires Neffe. Eine Fälschung in Diderots Manier. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. An einer Stelle summt der Neffe den Rolling Stones-Titel Satisfaction vor sich hin (S. 28) und die Personen, die das Auditorium zunächst in zeittypischen Kostümen betreten haben, verlassen es in der Kleidung des 20. Jahrhunderts, aus Nonnen werden Krankenschwestern etc. (S. 71).
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len, hier, indem die Grenze zwischen dem sozialen Parasiten und den vermeintlich seriösen Leuten, von denen er abhängt, verwischt wird. Die unschönen Wahrheiten, die der Neffe wiederum mit Blick auf die ihn umgebende Gesellschaft ausspricht, deuten allerdings schwerpunktmäßig in eine bestimmte Richtung, die sich in Diderots Text nicht vergleichbar prominent findet. Sie betreffen den kolonialen Ausgriff Europas auf andere Teile der Welt. Voltaire wird in diesem Zusammenhang kritisiert, weil er sich finanziell am Sklavenhandel beteiligt.34 Der Philosoph seinerseits hält zwar eine glühende Rede gegen Sklaverei und Kolonialismus, doch der Neffe bezweifelt, dass sein Gegenüber die wirtschaftlichen Folgen eines Bruchs mit diesem System wirklich mittragen würde. Er selbst habe schließlich dem Neffen seiner Geliebten zu einer Stelle als Sekretär des Gouverneurs von Guayana verholfen.35 Der Philosoph reagiert äußerst gereizt. Mit dem Verdacht konfrontiert, er sei Koautor der nur Raynal zugeschriebenen Histoire des deux Indes, wagt er überdies nicht, sich zu bekennen, da er fürchtet, ihm könnten daraus Nachteile erwachsen, und Raynal selbst wird nachgesagt, er habe sich jahrelang vom Marineministerium bezahlen lassen, also gerade von der Behörde, die für die Kolonien zuständig sei.36 Man würde diesem Text wohl nicht gerecht, wenn man die dargestellten Konflikte allgemein als Illustration der Diskrepanz von Anspruch oder Ideal einerseits und der Wirklichkeit andererseits läse. Die Feststellung, dass auch Menschen, die das Gute wollen, nicht notwendig gute Menschen sind, ist relativ banal und das Stück verdient eine Deutung auf anderer Abstraktionsebene. Es zielt auf einen blinden Fleck der europäischen Aufklärung. Eben diejenigen Kontexte, in denen die Rede von der Gleichheit aller Menschen für das Selbstverständnis der Moderne geprägt wird, erweisen sich als in die Verhältnisse radikaler Ungleichheit verstrickt, welche die europäische Expansion mit sich bringt und befördert. Praktisch ist es ein schmaler Grat zwischen emanzipativer Forderung und der Rechtfertigung von Repression, denn die Ideale der Aufklärung gehen zum Teil fließend in den zivilisatorischen Anspruch über, mit dem die europäischen Nationen ihre Kolonialprojekte begründen. Maximal verallgemeinert, verweist die Verstrickung der philosophes also auf die Infragestellung des europäischen Universalismus – in dieser Form wird das Problem gegenwärtig wieder diskutiert.37 Folgt man dieser Fährte nun von der Fälschung zurück zum Original, zeigt sich allerdings, dass auch hier schon eine Infragestellung von Universalismen
Ebda., S. 18. Ebda., S. 64. Ebda. Markus Messling: Universalität nach dem Universalismus. Über frankophone Literaturen der Gegenwart. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
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stattfindet, die in eine etwas andere Richtung weist. Da wäre zunächst die Feststellung der idiotismes de métier. Nachdem der Neffe die kleinen Tricks und Finten darlegt, mit denen es ihm gelingt, Klavierunterricht zu geben, ohne das Instrument selbst besonders gut zu beherrschen, stellt MOI ihn zur Rede: MOI: Et pourquoi employer toutes ces petites viles ruses-là? LUI: Viles? et pourquoi, s’il vous plaît? Elles sont d’usage dans mon état. Je ne m’avilis point en faisant comme tout le monde. Ce n’est pas moi qui les ai inventées. Et je serais bizarre et maladroit de ne pas m’y conformer. Vraiment, je sais bien que si vous allez appliquer à cela certains principes généraux de je ne sais quelle morale qu’ils ont tous à la bouche, et qu’aucun d’eux ne pratique, il se trouvera que ce qui est blanc sera noir, et que ce qui est noir sera blanc. Mais, monsieur le philosophe, il y a une conscience générale. Comme il y a une grammaire générale; et puis des exceptions dans chaque langue que vous appelez, je crois, vous autres savants, des ... aidez-moi donc ... des ... MOI: Idiotismes. LUI: Tout juste. Eh bien, chaque état a ses exceptions à la conscience générale auxquelles je donnerai volontiers le nom d’idiotismes de métier. (NR, 645)
LUI konstatiert also Ausnahmen von der allgemeinen Moral, die es typischerweise für jeden Beruf gäbe. Die Beobachtung des Neffen zeigt ein signifikantes Reibungsverhältnis zwischen einzelnen gesellschaftlichen Funktionsbereichen und der Semantik, die ihre allgemeine Integration (die der Gesamtgesellschaft) garantieren sollte, auf. Wenn es im Habitus der unterschiedlichen Berufsgruppen jeweils etablierte moralische Verstöße gibt, damit also Regelverstoß zur Regel wird, die allgemeine Norm in ihrem Geltungsanspruch davon aber nicht berührt wird, dann stellt sich die Frage, welchen gesellschaftlichen Stellenwert letztere faktisch hat. Für den Neffen funktioniert die Gesellschaft nur, weil allgemeine Regeln in den konkreten Zusammenhängen jeweils ein bisschen anders interpretiert werden. Als Extrem zeichnet sich dabei die Möglichkeit ab, dass sich Diskursteilnehmer:innen auf dieselben normativen Sätze beziehen und damit jeweils Handlungsweisen begründen, die einander diametral entgegensetzt sind. In solch einem Fall könnte man davon sprechen, dass trotz Verwendung gleichen Vokabulars keine Verständigung mehr stattfindet. Diese Möglichkeit ist in der systemtheoretisch rekonstruierten Moderne real. Entsprechend vielsagend ist hier die Gleichsetzung von Moral und Grammatik durch den Neffen. Man könnte die Infragestellung von Universalität bei Diderot also als Thematisierung von Entwicklungen verstehen, die in Richtung funktionaler Differenzierung weisen.38
Zur naheliegenden Frage nach der Universalität der Systemtheorie vgl. Oliver Jahraus: Supertheorie? In: ders. u. a. (Hg.): Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag 2012, S. 432–436.
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Sowohl in der ‹Fälschung› Enzensbergers wie auch in Diderots Original sind demnach Formen erkennbar, welche die universelle Geltung der aufklärerischen Werte einzuschränken scheinen. Im einen Text werden Zweifel geschürt, ob die adressierte Menschheit wirklich als ganze gemeint sein kann oder ob der ‹Mensch› hier nicht eher eine Extrapolation des Europäers ist, im anderen Text wird die faktische gesellschaftliche Wirkung normativer Rede infrage gestellt, was wiederum den Glauben an eine Semantik, die den allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang begründen könnte, für die Moderne grundsätzlich erschüttert. Dieser Unterschied ist auch deshalb relevant, weil an beiden Möglichkeiten jeweils eine bestimmte Form der (Literatur-)Theorie mit ihrem eigenen Begriffsapparat hängt. Im Spektrum kultur- und literaturtheoretischer Methoden legt der Problemaufriss bei Enzensberger eine Interpretation im Sinne der postkolonialen Theorien nahe, während man an die Darstellung bei Diderot sehr gut aus systemtheoretischer Perspektive anschließen kann. Mit dieser Feststellung platziere ich meine Lesarten innerhalb einer laufenden Diskussion, die hier nicht erschöpfend wiedergegeben, geschweige denn entschieden werden könnte. Dass mein Beitrag in dieser Frage parteiisch ist, dürften die methodischen Bemerkungen eingangs klar gemacht haben. Der fragliche Dissens soll aber nur angeführt werden, weil er auf eine besondere Facette der Rede von sozialer Ungleichheit verweist, nämlich auf deren epistemologische Funktion. Die oben beschriebene Herausbildung des modernen Literatursystems als eigener gesellschaftlicher Bereich hat den Spielraum literarischer Texte, Interesse ohne moralische, religiöse oder politische Rücksichtnahmen zu erzeugen, maßgeblich erhöht. Genauso gestaltet sich das Verhältnis zu den faktualen Gattungen. Literatur darf Wissen, Glauben, Moral und politische Überzeugung nicht nur im Dienst der Herstellung von Interesse beiseitelassen, sondern kann eben durch die Konfrontation mit diesen Größen interessant werden. Literaturwissenschaft als Fach bzw. die Textsorte der Literaturinterpretation rechnet sich selbst eher dem Wissenschafts- als dem Kunstsystem zu und ist entsprechend der Erkenntnis verpflichtet. Einen wesentlichen Teil der Interpretation stellt die Kontextualisierung des literarischen Textes durch ein bestimmtes, häufig fachwissenschaftliches Vokabular dar, das den Wissenszuwachs sichern soll, indem es den fiktionalen Gegenstand faktual einbettet. Bei einem Thema wie sozialer Ungleichheit wären entsprechende Kontexte naheliegend – soziologische Untersuchungen bestehender Asymmetrien, politisches Vokabular, das einen bestimmten Handlungsbedarf anzeigt, journalistische Beiträge zu bestimmten Themen, wie dem Leben in gated communities etc. In diesen Bereich gehören auch Ansätze, die von vornherein mit einer begrifflichen Differenz arbeiten, die ein bestimmtes soziales Gefälle unterstellt. Ein prägnantes Beispiel scheinen mir hier die sogenannten postkolonialen Theorien mit ihrer leitenden Unterscheidung von Kolonisator und Kolonisiertem zu sein. Natürlich kann in diesem Rahmen keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit
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einer gesamten Theorierichtung oder auch nur mit einer Auswahl ihrer relevantesten Autor:innen geleistet werden. Stattdessen möchte ich mich auf die existierende Diskussion zwischen Systemtheorie und postkolonialen Studien beziehen und dabei speziell die Vorwürfe oder Anregungen betrachten, mit denen mein bevorzugter theoretischer Ansatz dabei konfrontiert wird. Als Gegenstand bietet sich somit der Sammelband Riskante Kontakte: Postkoloniale Theorien und Systemtheorie? von Mario Grizelj und Daniela Kirschstein an.39 Das Ziel des Projekts ist eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen System Mario Grizeli/Kirschstein, Daniela (Hg.): Riskante Kontakte: Postkoloniale Theorien und Systemtheorie? Berlin: Kadmos 2014. Stellungnahmen zu einem so voraussetzungsreichen Projekt im Rahmen einer Einzeluntersuchung, welche die Argumentation der Herausgeber:innen eher beispielhaft aufführt, sind heikel; die Gefahr, selektiv und somit unfair zu urteilen, hoch. Ich möchte daher zunächst auf einige bemerkenswerte Aspekte dieses Bandes eingehen. Schon der Ansatz, eine Begegnung zwischen den genannten Richtungen zu ermöglichen und ein entsprechendes Gespräch zu beginnen, ist außerordentlich produktiv. Dass dieser Gesprächsauftakt gelungen ist (und das ist er ja, ob man nun kritisch oder affirmativ anschließt), liegt nicht zuletzt an der Entscheidung der Herausgeber:innen, einen eigenen 86-seitigen Beitrag voranzustellen, der einige Eckpunkte der theoretischen Bezugnahme definiert (S. 18–104). Besonders glücklich ist hier der Blick auf das differenztheoretische Vorgehen der Theoretike:innen zu nennen, da es bereits jenseits der Themenbereiche auf der Ebene grundlegender methodischer Operationen eine Gegenüberstellung erlaubt. Überhaupt fällt auf, dass der Text in der Rekonstruktion der Ansätze, jedenfalls soweit ich sie beurteilen kann, sehr gründlich und differenziert agiert. Eine neutrale Arena, in der sich die Kontrahenten:innen zu gleichen Bedingungen begegnen, scheint mir der Beitrag indes nicht zu sein (einzelnen Untersuchungen, wie Daniela Kirschsteins Überlegungen zu Robert Müllers Tropen, gelingt dies eher [S. 278–312]). Das zeigt sich vor allem daran, dass die vermeintlichen Defizite in Luhmanns Methode direkt vom begrifflichen Bedarf der postkolonialen Theorien aus beurteilt werden, während andersherum die Ansätze Walter Mignolos und Dipesh Chakrabartys nicht primär systemtheoretisch kritisiert werden. Ein grundsätzliches Problem der Argumentation liegt wohl im Verhältnis von Gegenstand und Methode. Zwar werden die beiden Ebenen einleitend klar getrennt (hinsichtlich der postkolonialen Theorien vgl. ebda., S. 19), doch die Grenzen verschwimmen punktuell wieder, wenn die Fähigkeit der Systemtheorie, bestimmte Themen wie Körper (S. 70), Raum (S. 53) oder die Unterscheidung von lokal und global (S. 72) zu beobachten, erörtert wird. Zunächst lässt sich ja einfach feststellen, dass all diese Themen in Form historischer Semantik durchaus systemtheoretisch aufgegriffen werden können. Darüber hinaus finden sich in den einschlägigen Arbeiten Luhmanns auch Hinweise dazu, wie lokale Zusammenhänge im Rahmen eines Ansatzes, der Kommunikation fokussiert, für die Beobachtung erster Ordnung relevant werden könnten. So sieht er partiell lokale Netzwerke, die quer zu den großen Funktionssystemen operieren und auf direkter Kontaktaufnahme basieren, gerade weil sie inoffiziell, evtl. sogar illegal funktionieren (Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 237–264, bes. S. 251 f.). Wenn man einbezieht, dass räumliche Erreichbarkeit hier zu einer Bedingung des Netzwerks wird, dass sie die einzelnen Kommunikationen sowie die mögliche Reichweite der ganzen Struktur bestimmt, ließe sich überlegen, ob so nicht kommunikationstheoretisch Lokalität erst produziert wird. Des Weiteren finden sich
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theorie und postkolonialen Theorien, von der beide Ansätze profitieren können. Tatsächlich werden auch explizit Vorschläge in beide Richtungen unterbreitet, doch die angestrebte Symmetrie, die jede der theoretischen Linien in gleichem Maße zur Quelle und zum Empfänger konstruktiver Kritik der jeweils anderen machen würde, scheint mir, wenigstens in dem ausführlichen Beitrag der Herausgeber:innen, der den Rahmen dieser Begegnung vorgibt, in eine gewisse Schieflage zu geraten. Anscheinend wird der Lernbedarf seitens der Systemtheorie höher eingeschätzt als derjenige der postkolonialen Theorien. Beispielhaft hierfür kann der Vorwurf des Eurozentrismus stehen, der gegen die Systemtheorie nach Luhmann erhoben wird.40 Dieser Vorwurf ist eigentlich nur vom Standpunkt eines ganz bestimmten theoretischen settings aus plausibel. Er bezieht sich näm-
Ansätze zu einer Beschreibung der Kommunikation im Medium der Körperlichkeit (S. 263), die wiederum für unterschiedliche Themen anschlussfähig sind – nicht zuletzt für die Beobachtung von Zusammenhängen, die auf den ersten Blick als Reduktionen auf reine Körperlichkeit erscheinen mögen, faktisch aber eben nicht die Grenze der Theorie markieren (Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp 20163, S. 138–150., S. 147). Anders formuliert, kann es sein, dass hinter den konstatierten blinden Flecken der Systemtheorie häufig lösbare theoretische Aufgaben stecken. Die tatsächliche Unvereinbarkeit findet auf einer anderen Ebene statt, nämlich auf derjenigen der Grundbegriffe, welche die Theorie konstituieren. Die Möglichkeit, Raum zu thematisieren, ist schließlich nicht dasselbe wie kompatibel mit Raumtheorien zu sein (Grizelj/Kirchstein: Riskante Kontakte, S. 216). Gemessen an den Ansprüchen einer Theorie, welche der Unterscheidung Kolonisator / Kolonisierter epistemologischen Stellenwert einräumt, kann die Systemtheorie diesem Gegenstand nicht gerecht werden, selbst wenn sie ihn als relevanten Faktor für die Entwicklung der modernen Gesellschaft thematisiert (Grizelj/Kirschstein: Riskante Kontakte, S. 66). Dieser Anspruch ist demselben Theoriedesign geschuldet, dem die Systemtheorie wegen der Reichweite ihrer deskriptiven Absicht als eurozentrisch-kolonialistische Geste erscheint. Mit diesem Vorwurf erfüllt die postkoloniale Argumentation ironischerweise eine wesentliche Bedingung von Supertheorien, nämlich die Rekonstruktion von theoretischen Konkurrenten oder Gegnern mit eigenen Begriffen, inklusive der Erklärung, warum sie opponieren (Luhmann: Soziologie der Moral, S. 56–162, bes. S. 67f.). Diese Hinweise sollen nicht die Systemtheorie und schon gar nicht den historischen Autor Luhmann pauschal entlasten. Gerade an so vielbeforschten Bereichen wie der Unterscheidung von Inklusion / Exklusion lassen sich sicherlich konstruktiv Kritikpunkte festmachen. Aber den entscheidenden Sachverhalt sehe ich an anderer Stelle. Wir können das Schema, nach dem Begriffe und Unterscheidungen, sofern sie hinreichend allgemein sind, in den Status einer Supertheorie überführt werden, inzwischen recht klar benennen. Auf seiner Grundlage lassen sich Textualitäts-, Gender-, Postkolonialismus-, Lebens-, Präsenz-, Medien-, Technik-, Materialitäts-, Raum- und Zeittheorien begründen. Die Frage wäre nun, ob wir allen Ansätzen, welche die epistemologischen Minimalbedingungen erfüllen, um als Theorie bezeichnet werden zu können, per se dieselbe Geltung zusprechen möchten oder ob es gelingt, Kriterien zu entwickeln, die darüber hinaus erlauben, guter von schlechter Theorie zu unterscheiden. Grizelj/Kirschstein: Riskante Kontakte, S. 72.
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lich nicht primär auf die Tatsache, dass Bielefeld geographisch innerhalb des Bereichs liegt, den wir aktuell als Europa bezeichnen, sondern auf den deskriptiven Anspruch, von dem die Systemtheorie als selbsternannte Supertheorie ausgeht. Als Theorie der Gesellschaft, die ihren Gegenstand in Kommunikationsprozessen findet, sieht sie ihre Zuständigkeit, soweit diese Prozesse reichen. Eurozentrischkolonialistisch ist offenbar der Anspruch, von einer bestimmten theoretischen Warte so umfassend beschreiben zu können.41 Das Hauptproblem mit dieser Kritik scheint mir zu sein, dass sie durch ihre moralische Unterfütterung (wer möchte sich schon eine eurozentrisch-kolonialistische Geste vorwerfen lassen) eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen deskriptiven Potential der Systemtheorie vermeiden kann. Ansprüche, die Luhmann an die konstative Funktion der Theorie stellt, werden hinsichtlich der unterstellten performativen Funktion nebensächlich. Das hat Auswirkungen auf die Entwicklung theoretischer Debatten, denn deren Schwerpunkt verlagert sich fort von der Erörterung mehr oder weniger adäquater Beschreibung und hin zu einer Kritik der Rahmenbedingungen, die anhand ethnokultureller und politischer Begriffe gefasst werden sollen.42 Hier scheint mir zur Vermeidung von Missverständnissen eine kurze Randbemerkung angebracht. Die Frage nach den Rahmenbedingungen von Erkenntnis ist nicht nur sinnvoll, man könnte sie als das sine qua non von Theorie im stärksten Sinne des Wortes beschreiben. Dieser Vorschlag folgt der Einschätzung, dass die Bedingtheit von Wahrheit die grundlegende Einsicht moderner Epistemologie ist. Dass das Erkenntnisobjekt nicht vollkommen unabhängig vom Erkenntnissubjekt ist und dass die Korrespondenz zwischen Sätzen und den Sachverhalten, die sie beschreiben, keine selbsttragende Erklärung für Wahrheit, sondern eine voraussetzungsreiche Konstellation darstellt, deren jeweilige Bedingungen beschrieben werden können, haben moderne Theorien in verschiedensten Fassungen reformuliert. Nicht zuletzt auch Luhmanns Systemtheorie beruht auf diesen Prämissen. Was damit aber nicht klar definiert wird, ist die Frage, in was für einem Vokabular die Bedingungen von Erkenntnis beschrieben werden, und eben hier liegt der Einsatzpunkt, an dem sich theoretische Richtungen unterschiedlichster Provenienz zu Supertheorien aufschwingen. Sie erklären ihre zentralen Unterscheidungen (etwa die Differenz von kulturellem und biologischem Geschlecht oder auch diejenige zwischen Kolonisator und Kolonisiertem) zu Bedingungen der Erkenntnis und erlangen so ihre epistemologische ‹Vertiefung› und den Status von Supertheorien.43 Bernard, Andreas: Wen kümmert's wer spricht? In: /Die Zeit/ (19.08.2020), verfügbar unter: https:// www.zeit.de/2020/35/identitaet-gender-studies-denkbewegungen-veraenderung (letzter Zugriff: 05.09.2020). Zu den primär auf Identität setzenden Theorien äußerte sich jüngst in der Zeit Bernard 2020. Mit Blick auf diejenigen Formen postkolonialer Theorie, die an Diskursanalyse und Strukturalismus anschließen, formulieren Grizelj und Kirschstein: «Auch gilt, dass maßgebliche Kategorien wie bspw.
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Mit der Kritik am Eurozentrismusvorwurf soll also nicht etwa angezweifelt werden, dass auch methodisch erreichte Erkenntnisse bedingt sind, sondern es soll die Frage ins Zentrum der Diskussion gerückt werden, wie diese Bedingungen formuliert sind. Genauso wird die performative Funktion von wissenschaftlichen Terminologien nicht übersehen, wenn man kritisch hinterfragt, was die Bevorzugung des (politisch) Performativen gegenüber dem (deskriptiv) Konstativen mittelfristig für die theoretische Entwicklung der Literatur- und Kulturwissenschaften für Folgen haben wird. Es entsteht ein – hier freilich nur hypothetisch formulierbarer – Verdacht. Könnte es nicht sein, dass die Suggestion, durch die Wahl eines bestimmten theoretischen Zugangs selbst performativ an der Überwindung sozialer Ungleichheit mitzuwirken, die Aufmerksamkeit für das Kriterium der bestmöglichen Beschreibungs- und Analysefähigkeit schwächt? Man könnte dann etwas zugespitzt weiterfragen, ob Ansätze, die so arbeiten, nicht die relative moralische Indifferenz moderner Literatur wieder aufheben wollen.44 Sie ebnen die Grenze zum politischen Aktivismus ein und können Forderungen nach effektiverer analytischer Deskription stets als moralisch konnotierten Übergriff abweisen. Als Faktor im Wissenschaftssystem müsste eine solche Tendenz Auswirkungen auf unseren Umgang mit Fakten haben. Mit Blick auf die oben besprochenen Texte ließe sich fragen, ob nicht die von Enzensberger so benannte Fälschung auf diese Weise zur Korrektur umdeklariert würde. Die Interpretation würde eine moralische Eindeutigkeit fordern, die mit einer Literatur, die ihre Möglichkeiten voll ausspielt, kollidiert. Literatur hat in der Moderne die Möglichkeit, sich in hohem Maße moralisch ambivalent zu verhalten und gerade deshalb interessant zu sein. Die denunziatorische Funktion der Literatur tritt dann nicht ungebrochen auf, sondern beispielsweise in Form von Tiraden, die sich gegen die unterschiedlichen Formen sozialer Ungleichheit sowie gegen die moralisch vermeintlich gesicherten Positionen, von denen aus kritisiert wird, richten können.
Nation, Sex, Gender, Race oder Class als konstitutiv von kolonialem Unterscheidungsgebrauch affiziert bzw. konditioniert beobachtet werden müssen. Diese Thesen lassen sich epistemologisch noch radikaler wenden und zwar dann, wenn grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die Problematik des repräsentierenden, also repressiven Aneignens unseren basalen Weltaneignungsmodi wie bspw. der Subjekt-Objekt-Dialektik oder der Verwendung von Zeichen vorausgeht. Die Welt ist für uns Welt als eroberte Welt, als Ergebnis unserer unhintergehbar das ‹Andere› repressiv repräsentierenden kolonialen Logik» (Grizelj/Kirschstein: Differenztheorien, S. 21). Das epistemologische Grundproblem postkolonialer Theorien scheint entsprechend darin zu liegen, wie man selbst kolonialismuskritisch schreiben kann, wenn schon die Repräsentation selbst übergriffig ist (vgl. ebda., S. 23, 28, 36, 44). Moralische Indifferenz bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass Leser:innen Moralvorstellungen während der Lektüre vollständig suspendieren müssten sondern dass die Darstellung von moralisch fragwürdigem Verhalten nicht mehr durch explizite Hinweise (etwa indem Protagonist:innen [s. o.] zum warnenden Beispiel gemacht werden) die gesellschaftliche Verträglichkeit der Darstellung sicherstellen muss.
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Beate Möller
Soziale Ungleichheit in der Literatur der spanischen Aufklärung Abstract: Obgleich die (Selbst-)Beschreibung von Gesellschaft unter dem Aspekt der sozialen Ungleichheit der Moderne zugeschrieben wird, haben auch die Gesellschaften früherer Epochen über soziale Differenzen reflektiert. Dies trifft auch auf das Spanien der Aufklärung zu, was in der Literatur jener Epoche seinen mannigfaltigen Ausdruck findet. Vor dem Hintergrund eines hohen Maßes an sozialer Ungleichheit, die sich neben der Geschlechterungleichheit und der Ständeordnung der Feudalgesellschaft auch durch die ethnische Vielfalt der spanischen Regionen auszeichnet, stellt der vorliegende Beitrag eine Analyse der Darstellung sozialer Differenzen in der Literatur der spanischen Aufklärung vor. Keywords: Aufklärung, soziale Ungleichheit, Gewohnheitskritik, Gleichheitspostulat, christliche Anthropologie, Steuergerechtigkeit Abstract: The (self-)analysis of society regarding social inequality is commonly seen as a contribution made by modernity. However, there have been earlier instances of societies reflecting upon their inner differences. This is true for Spain in the Age of Enlightenment and can be confirmed by examining the literature written during this period. Considering the high level of social inequality linked to gender as well as the feudalistic estate system and the ethnic diversity found within the different regions of Spain, this article investigates social differences depicted in Spanish Enlightenment literature. Keywords: Enlightenment, social inequality, critique of custom, postulate of equality, Christian anthropology, taxation equity
Einleitung Die Gesellschaft in ihrer sozialen Strukturierung wahrzunehmen und zu thematisieren, gilt gemeinhin als ein Phänomen der Moderne. Gleichwohl finden sich in der Literatur bereits vor 1789 Darstellungen, die nicht nur die Ordnung der Feudalge-
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sellschaft utopisch unterlaufen, sondern insbesondere ab dem 18. Jahrhundert auch eine kritische Beschäftigung mit der Frage nach der natürlichen Gleichheit des Menschen und dem freien Zugang zu Institutionen und Ressourcen widerspiegeln.1 Wenn wir uns mit der Frage danach auseinandersetzen, wie soziale Ungleichheit in der Literatur reflektiert wird, so ist im Umkehrschluss die Erforschung dessen legitim, worauf die Rede über die Gleichheit der Menschen beruht, so auch die Frage, auf welcher Kontrastfolie soziale Ungleichheit bedeutsam wird. Für die Erforschung sozialer Ungleichheit ist eine Untersuchung der Literatur der spanischen Aufklärung besonders ertragreich, da es am Rande der offiziellen Regierungsrhetorik im Kontext aufklärerischen und politisch-ökonomischen Denkens zur Kritik an der Hierarchie der Ständegesellschaft und den ihr zugrundeliegenden Geschlechter- und Eigentumsverhältnissen kommt. Auch gibt die ethnische Vielfalt des spanischen Königreichs, das aus einem vormodernen Verbund historisch gewachsener und kulturell und sprachlich verschiedener Regionen besteht, den Literat:innen stets Anlass zur Reflexion sozialer Differenzen. Ferner kann die Frage aufgeworfen werden, inwiefern auch die gegenwärtige Betrachtungsweise sozialer Ungleichheit einen Teil ihrer Wurzeln im Denken der Aufklärung hat, die dazu angetreten ist, den Aufbruch in die Moderne ideell vorzubereiten. Diese Fragen zu beleuchten und Impulse für weitergehende Studien zu geben, bildet das Ziel des vorliegenden Beitrags, der auf der Grundlage einer Auswahl an exemplarischen Texten der spanischen Aufklärung die darin enthaltenen Formen sozialer Ungleichheit in Anlehnung an die Kategorien ‹Geschlecht›, ‹Ethnizität› und ‹Klasse›2 analysiert.
Die aufklärerische Kritik von Geschlechterentwürfen Im Kontext der Diskussion über die antiguos y modernos wird die Geschlechterfrage seit dem 17. und verstärkt ab dem 18. Jahrhundert europaweit mit der für die
Vgl. Joaquín Álvarez Barrientos: La novela del siglo XVIII, Madrid: Ediciones Júcar 1991, S. 131–139; Klaus-Dieter Ertler: Tugend und Vernunft in der Presse der spanischen Aufklärung: ‹El Censor›, Tübingen: Gunter Narr 2004, S. 65–71. Für eine Erforschung historischer Texte auf die darin enthaltenen Darstellungen sozialer Ungleichheit unter Anwendung der Strukturkategorien ‹Geschlecht›, ‹Klasse› und ‹Ethnizität› plädieren auch Florin, Gutsche und Krentz. Vgl. Moritz Florin/Victoria Gutsche/Natalie Krentz: Diversity – Gender – Intersektionalität. Überlegungen zu Begriffen und Konzepten historischer Diversitätsforschung. In: dies. (Hg.): Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel. Bielefeld: transcript 2018, S. 9–31.
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Aufklärung zentralen Frage nach der universellen Vernunftfähigkeit des Menschen verbunden. Es kommt zu einem Wandel der Rechtfertigungsdiskurse der Geschlechterrollen, in dem die traditionelle Legitimation für den gesellschaftlichen Vorrang des Mannes, basierend auf der scholastischen Interpretation von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall, zugunsten eines aufklärerischen Gleichheitsmodells an Geltung verliert.3 Von den Literat:innen4 wird die Geschlechterfrage in diesem Zusammenhang als ein Thema von allgemeiner Relevanz aufgefasst. Der Frühaufklärer Feijoo unternimmt im Zuge seiner enzyklopädischen Vorurteilskritik eine erste diskursiv bedeutsame Intervention bezüglich der Gleichwertigkeit beider Geschlechter. In der «Defensa de las mujeres» des ersten Bandes seines Teatro Crítico Universal bezieht er sich auf drei Kriterien – die weibliche Unmoralität, die physische sowie die verstandesmäßige Unterlegenheit von Frauen –, die zur Begründung eines ‹feminin schwachen Geschlechts› angeführt werden: En grave empeño me pongo. No es ya sólo un vulgo ignorante con quien entro en la contienda: defender a todas las mujeres, viene a ser lo mismo que ofender a casi todos los hombres: pues raro [hombre; Anm. B.M.] hay que no se interese en la precedencia de su sexo con desestimación del otro. [...] En lo moral las llena de defectos, y en lo físico de imperfecciones. Pero donde más fuerza hace, es en la limitación de sus entendimientos. Por esta razón [...] discurriré [...] sobre su aptitud para todo género de ciencias, y conocimientos sublimes.5
Durch die Übertragung der Fragestellung von der Theologie in das Feld der aufklärerischen Kritik6 gelingt es Feijoo, die Fehlurteile über das ‹feminin schwache Geschlecht› von männlichen Autoren, die damit ihre politisch-soziale Vorrangstellung7 absichern wollen, aufzudecken. Den männlichen Fehlurteilen begegnet er
Vgl. Claudia Gronemann: Polyphone Aufklärung. Zur Textualität und Performativität der spanischen Geschlechterdebatten im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2013, S. 111. Einen Überblick über die Tätigkeit von Frauen als Schriftstellerinnen und Übersetzerinnen im spanischen 18. Jahrhundert gibt Hertel-Mesenhöller. (Vgl. Heike Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Lebenswirklichkeit und Fiktion. Frankfurt am Main: Vervuert 2001, S. 48 ff). Benito Jerónimo Feijoo: Teatro Crítico Universal o Discursos varios en todo género de materias, para desengaño de errores comunes, Bd. 1 (1778), discurso 16, verfügbar unter: http://www.filo sofia.org/bjf/bjft116.htm, (letzter Zugriff: 31.12.2022). Für dieses und alle weiteren Zitate aus historischen Texten gilt: Orthographie und Interpunktion laut Original. Vgl. Gronemann: Polyphone Aufklärung, S. 95 f. Das Diccionario de Autoridades listet für ‹precedencia› zwei Einträge auf, von denen der zweite den Begriff auf den Vorrang von Personen in öffentlichen und politischen Ämtern bezieht. Vgl. Real Academia Española (Hg.): Diccionario de Autoridades, Bd. 5 (1737), verfügbar unter: http://apps2.rae. es/DA.html (letzter Zugriff: 31.12.2022). Von einer von Feijoo konstatierten hierarchischen Geschlechterbeziehung spricht auch Gronemann (vgl. Gronemann: Polyphone Aufklärung, S. 100f).
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mit einer vorurteilskritischen Gegenargumentation, die auf dem Gedanken von der Gleichwertigkeit der Geschlechter als Schöpfung Gottes im Sinne einer christlichhumanistischen universalitas8 basiert. Beide Geschlechter entspringen der Natur und sind als Teil der göttlichen Kreation in ihrer Perfektion nicht anzuzweifeln. Die große Leistung von Feijoos Intervention liegt nun nicht nur darin, die Fehlurteile über das weibliche Geschlecht und deren Grundlagen aufklärerisch zu entkräften, sondern vor allem auch darin, Frauen den Zugang zur bis dahin männlich dominierten Schriftkultur und in der Folge zur sich in der Entstehung befindlichen Sphäre ständeübergreifender Öffentlichkeit zu ermöglichen.9 Aus Feijoos Verteidigung erwächst eine intensive Geschlechterdebatte, die sich in der spanischen Literatur bis über das 18. Jahrhundert hinaus fortsetzt.10 Den konservativen Vertreter:innen des Konzepts von der natürlichen Unterlegenheit der Frauen halten die progressistischen Aufklärer:innen die Kritik an dem entgegen, was gegenwärtig als die diskursive Konstituierung eines femininen Geschlechts durch eine maskulin hegemoniale Kultur bezeichnet wird: Nosotros [los hombres; Anm. B.M.] fuimos los que, contra el designio de la Providencia, las hicimos débiles y delicadas. Acostumbrados a mirarlas como nacidas sólo para nuestro placer, las hemos separado con estudio de las profesiones activas, las hemos encerrado, las hemos hecho ociosas y, al cabo hemos unido a la idea de su existencia una idea de debilidad y flaqueza que la educación y la costumbre han arraigado más y más cada día en nuestro espíritu.11
In Weiterführung der Diskurslinie, die Feijoo mit seiner «Defensa de las mujeres» begründet, erkennen wir zunächst auch hier die Einbettung des Gleichheitsgedankens in die christliche Anthropologie,12 was aus der Wendung «el designio de
Vgl. Gronemann: Polyphone Aufklärung, S. 112. Vgl. Gronemann: Polyphone Aufklärung, S. 97. Vgl. Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau, S. 58–65; Francisco Alonso-Fernández: Revisión de las ideas del Padre Feijoo sobre la igualdad de los sexos. In: Inmaculada Urzainqui (Hg.): Feijoo, hoy. Semana Marañon 2000. Oviedo: Instituto Feijoo de Estudios del Siglo XVIII 2003, S. 91–118, Kristina Heße: Männlichkeiten im Spanien der Aufklärung. Der Diskurs der Moralischen Wochenschriften ‹El Pensador›, ‹La Pensadora gaditana› und ‹El Censor›. Berlin: Logos 2008, S. 84–89; Gronemann: Polyphone Aufklärung, S. 11 f. Gaspar Melchor de Jovellanos: Obras Completas, Bd. 6. Hg. v. Venceslao de Linaros y Pucheco. Barcelona: Imprenta D. Francisco Oliva 1810, S. 219 f. Vgl. Jan-Henrik Witthaus: Sozialisation der Kritik im Spanien des aufgeklärten Absolutismus. Von Feijoo bis Jovellanos. Frankfurt am Main: Klostermann 2012, S. 290; Jan-Henrik Witthaus: Homo oeconomicus, Kaufmannsethos und Liberalismus im Spanien des aufgeklärten Absolutismus. In: Christoph Lütge/Christoph Strosetzki (Hg.): Zwischen Bescheidenheit und Risiko. Der Ehrbare Kaufmann im Fokus der Kulturen. Wiesbaden: Springer 2017, S. 151–174, hier S. 154–159; Beate Möller: Konfessionsdynamische und interkonfessionelle Aspekte der Wissenschaftsprosa
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la Providencia» ersichtlich wird. Gleichwohl spiegelt das Zitat durchaus einen modernen Blick auf Geschlechterungleichheit wider. So wird neben der Beschreibung der Entstehung des ‹feminin schwachen Geschlechts› auch darauf Bezug genommen, dass Frauen von Männern weitgehend aus dem öffentlichen Leben in die Privatheit gedrängt werden, was bedeutet, dass ihnen der Zugang zu Institutionen und Ressourcen erschwert wird. Weiterhin wird mit der Erwähnung der Erziehung auf das verwiesen, was heute unter dem Begriff der Sozialisation gefasst wird. Mit der Verwendung des costumbre-Begriffs13 wird ferner ein Bereich genuin aufklärerischen Denkens aufgerufen, der für unser Thema von Bedeutung ist. Seit der Frühen Neuzeit steht die costumbre, und mit ihr die ‹Macht der Gewohnheit›, unter dem Verdacht, durch die Sozialisation einer Gewohnheit eine bestimmte Vorstellung von der Normalität zu erzeugen.14 Die Gewohnheitskritik wird nun zu einem Instrument der Sichtbarmachung sozialer Sachverhalte, indem sie die ‹trügerische Macht der Gewohnheit› aufzeigt und so durch ihre Demaskierung (desengaño) den Menschen die unverfälschte Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglicht. Dass Jovellanos dieses Prinzip bezogen auf die Schaffung des ‹feminin schwachen Geschlechts› erkannt hat, lässt sich seinen Ausführungen im voranstehenden Zitat entnehmen, in denen er erklärt, dass die Gewohnheit der Vernunft («espíritu»)15 entgegenwirkt. Übertragen auf unser heutiges Verständnis umschreibt Jovellanos, wie das von den Wissensautoritäten unter dem Einfluss des Katholizismus erzeugte Bild des ‹feminin schwachen Geschlechts› durch die Sozialisation («educación») institutionalisiert und durch die ‹Macht der Gewohnheit› («Acostumbrados a mirarlas») aufrechterhalten wird.
und der politisch-ökonomischen Literatur der spanischen Aufklärung. In: Daniel Fliege/Rogier Gerrits (Hg.): Reformation(en) in der Romania. Zur Frage der Interkonfessionalität in den romanischen Literaturen der Frühen Neuzeit. Heidelberg: Winter 2020, S. 279–291, hier S. 282–284. Bezogen auf die gleiche Vernunftfähigkeit von Frauen und Männern bestätigt dies Campomanes wie folgt: «La muger tiene el mismo uso de razon que el hombre: solo el descuido, que padece en su enseñanza, la diferencia, sin culpa suya.» (Pedro Rodríguez de Campomanes: Discurso sobre la educacion popular de los artesanos, y su fomento. Madrid: Imprenta Real 1775, S. 367). Die costumbre bezeichnet im 18. Jahrhundert sowohl die Gewohnheit als auch die Sitte oder das Brauchtum. Um welche Entsprechung es sich handelt, lässt sich jeweils nur aus dem Kontext erschließen (vgl. Real Academia Española: Diccionario de Autoridades, Bd. 2 (1729), o.S.). Vgl. Beate Möller: Die spanischen Provinzen im Zeitalter der Aufklärung – Literarische Darstellungen und politisch-ökonomische Reform. Berlin 2019: Peter Lang, S. 89. Hier ist darauf zu verweisen, dass der Begriff espíritu im 18. Jahrhundert auch zur Bezeichnung der Vernunft verwendet wird (vgl. Real Academia Española: Diccionario de Autoridades Bd. 3 (1732), o.S.).
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Zur Überwindung dieses Umstands setzt Jovellanos neben der Gewohnheitskritik auch auf die aufklärerische Erziehung, die im Zeichen der Perfektibilität des Menschen und der Gesellschaft die Aufhebung der Geschlechterungleichheit zum Ziel haben soll: «¡Tanto podía la educación sobre las costumbres! Y tanto pudiera todavía si, encaminada a más altos fines, tratase de igualar los dos sexos, disipando tantas ridículas y dañosas diferencias como hoy los dividen y desigualan.»16 Soziale Ungleichheit in ihrer Form als Geschlechterungleichheit wird hier zwar noch nicht auf der Grundlage eines positiven Rechtsanspruchs, sondern nur im Spiegel des Gleichheitspostulats der christlichen Anthropologie17 wahrgenommen, aber ihre Kritik richtet sich auf die Ursachen, die in der Tradierung maskuliner Machtverhältnisse begründet liegen, wie sie der Katholizismus in Spanien bis ins 18. Jahrhundert hinein institutionalisiert hat. Mit seiner Betonung, dass die Erziehung die Sitten übertreffen könne, deutet Jovellanos implizit auf das Machtpotential des Staates hin, die Vorherrschaft der katholischen Sozialmoral und ihrer Geschlechterordnung durch die Säkularisierung des Bildungswesens aufbrechen zu können. Diese Interpretation lässt sich dadurch stützen, dass sich Jovellanos auch in Traktaten, die er im Auftrag der Regierung verfasst, für die Verstaatlichung der Schulbildung ausspricht, was nicht zuletzt die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen fördert.18 Bezüglich der Frage nach dem Verhältnis des Reformverlangens des aufgeklärten Absolutismus Spaniens zur Geschlechterfrage gilt es, zwischen moderaten und progressistischen Positionen zu differenzieren. Während die moderaten Aufklärer:innen die maskuline Vorherrschaft nicht in Zweifel ziehen und das Tätigkeitsfeld von Frauen im privaten Bereich sehen, wo sie die Kinder zu guten Staatsbürger:innen erziehen und so ihren Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft leisten sollen, befürworten die progressistischen Aufklärer:innen die Beteiligung von Frauen in der industriellen Produktion sowie in öffentlichen Ämtern und Institutionen. Ein Beispiel hierfür bildet die gut dokumentierte Diskussion über die Aufnahme von Frauen in die Madrider Ökonomische Gesellschaft (Real Sociedad Económica Matritense de los Amigos del País), die stellvertretend für alle Ökonomischen Gesellschaften Spaniens steht. Im Kontext dieser Debatte führen die Befürworter der Aufnahme von Frauen aus, dass die Beteiligung
Gaspar Melchor de Jovellanos: Memoria sobre espectáculos y diversiones públicas. Madrid: Cátedra 1998, S. 141. Vgl. José Luis Fernández Fernández: Jovellanos: Antropología y teoría de la sociedad. Madrid: Publicaciones de la Universidad Pontificia Comillas 1991, S. 101–104. Vgl. Gaspar Melchor de Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria. Madrid: Cátedra 1998, S. 401 sowie S. 51 des vorliegenden Artikels; ferner Jutta Schütz: Das 18. Jahrhundert in Spanien – el siglo de las luces? In: Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.): Spanische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 2006, S. 185–230, hier S. 189.
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von Frauen aufgrund spezifisch weiblicher Tugenden für den Fortschritt der Ökonomischen Gesellschaft in verschiedener Weise nützlich ist.19 Wenngleich sich diese utilitaristische Argumentation an den diskursiven Vorgaben des staatlichen Reformprojekts orientiert und somit zunächst nicht den Eindruck erweckt, Gleichberechtigung einzufordern, ist uns aus anderen Zusammenhängen bekannt, dass die progressistischen Aufklärer:innen eine utilitaristische Begründung eines Reformschritts als Vehikel für die Durchsetzung eines liberalistischen Ziels einsetzen.20 In der Folge führt dieses Streben nach Gleichberechtigung zur aktiven Mitgliedschaft von Frauen in den Ökonomischen Gesellschaften, wodurch sie den Zugang zu einem politisch und ökonomisch mächtigen, Spanien übergreifenden Netzwerk erhalten.21
Ethnizität im Spiegel aufklärerischer Sitten- und Gewohnheitskritik Unter den Begriff der Ethnizität fällt im spanischen 18. Jahrhundert zunächst die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Nation, hier im protomodernen Sinn des Wortes. Von zentraler Bedeutung sind für die Literatur der spanischen Aufklärung die Thesen Saavedra y Fajardos, der in seinen Empresas die kulturelle Vielfalt Spaniens beschreibt. Laut Saavedra y Fajardo wird die naturgegebene Vielzahl der spanischen Kulturnationen von klimatischen Bedingungen beeinflusst, die sich auf die ethnischen Unterschiede, auf den Geist, den Charakter, die Mentalitäten und die Sitten der einzelnen Provinzen auswirken.22 Eine prägnante Darstellung dazu lässt sich erneut Feijoos Werk entnehmen, der im Zuge seiner Sittenkritik Saavedra y Fajardos Klimatheorie zur Erklärung der Unterschiede zwischen den Völkern auf eine rationale Grundlage stellt.23 Zwar bestätigt er zunächst Saavedra y Fajardos These bezüglich des klimatischen Einflusses auf die Beschaffenheit der Völker, jedoch betont er anschließend, dass er in Bezug auf die intellektuellen Fähigkeiten keinen Unterschied zwischen den Nationen erkennen kann: No es dudable que la diferente temperie de los Países induce sensible diversidad en hombres, brutos, y plantas. [...] A las distintas disposiciones del cuerpo se siguen distintas calidades del
Vgl. Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau, S. 87–92; Fernández Fernández: Jovellanos, S. 102 f. Vgl. Möller: Die spanischen Provinzen, S. 262. Vgl. Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau, S. 87. Vgl. Diego Saavedra y Fajardo: Idea de un Príncipe Christiano: Representado en cien empresas. Amsterdam: Imprenta Joh. Janssen Jun 1659; Möller: Die spanischen Provinzen, S. 102. Vgl. Giovanni Stiffoni: Introducción biográfica y crítica. In: Benito Jerónimo Feijoo: Teatro Crítico Universal. Hrsg. v. Giovanni Stiffoni. Madrid: Castalia 1986, S. 9–77, hier S. 44.
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ánimo: de distinto temperamento resultan distintas inclinaciones, distintas costumbres. [...] [T]engo por casi imperceptible la desigualdad que hay de unas Naciones a otras en orden al uso del discurso. Lo cual no de otro modo puedo justificar mejor que mostrando que aquellas Naciones, que comúnmente están reputadas por rudas, o bárbaras, no ceden en ingenio, y algunas acaso exceden a las que se juzgan más cultas.24
Auf der Grundlage seiner Vorurteilskritik stellt Feijoo fest, dass die unterschiedliche physische Beschaffenheit der Völker sich nicht auf ihre intellektuellen Fähigkeiten auswirkt, womit hier nicht zuletzt auf die gleiche Vernunftfähigkeit aller Menschen im Sinne einer universalitas verwiesen wird.25 Von zentraler Bedeutung sind weiterhin die Sitten einer Volksgemeinschaft. So wirken die gemeinsamen Sitten wie ein vereinendes Band, das den Umgang der Menschen untereinander vereinfacht und eine besondere kulturelle Prägung mit sich bringt. Im Zuge seiner Sittenkritik führt Feijoo das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk auf die bereits erwähnte ‹Macht der Gewohnheit› zurück. Sie sorgt dafür, dass sich Menschen in der Umgebung am wohlsten fühlen, in der sie aufwachsen sind und die Mitglieder der eigenen Volksgemeinschaft gegenüber anderen vorziehen (paisanismo).26 Allerdings bewirkt die ‹Macht der Gewohnheit› laut Feijoo weiterhin auch, dass die Menschen nicht nur die tatsächlichen Vorteile des eigenen Heimatlandes sehen, sondern auch imaginäre. Diese imaginären Vorteile können schließlich dazu führen, dass Menschen das eigene Volk oder das eigene Heimatland über alle anderen stellen: Es verdad que no sólo las conveniencias reales, más también las imaginadas, tienen su influjo en esta adherencia. El pensar ventajosamente de la región, donde hemos nacido, sobre todas las demás del mundo, es error entre los comunes comunísimo. Raro hombre hay [...] que no juzgue que es su Patria la mayorazga de la naturaleza.27
Feijoo kommt in seiner Kritik zu dem Urteil, dass die imaginären Vorzüge, die von Menschen auf das eigene Volk projiziert werden, einen besonders weit verbreiteten Irrtum darstellen. Eine gefährliche Dimension nimmt dieser Irrtum nun ferner an, wenn er in Verbindung mit der pasión nacional, einem fehlgeleiteten Patriotismus,
Feijoo: Teatro Crítico Universal, Bd. 2 (1779), discurso 15, verfügbar unter: http://www.filo sofia.org/bjf/bjft215.htm (letzter Zugriff: 31.12.2022). Vgl. Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 320. Vgl. Feijoo: Teatro Crítico Universal, Bd. 3 (1777), discurso 10, verfügbar unter: http://www.filo sofia.org/bjf/bjft310.htm, (letzter Zugriff: 31.12.2022); Christian von Tschilschke: Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2009, S. 145; 149; Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 330. Feijoo: Teatro crítico universal, Bd. 3, discurso 10, o.S.
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in Chauvinismus umschlägt.28 Feijoos Darstellung der Ethnizität weist hier zunächst einen vormodernen Charakter auf, da sie sich auf gemeinsame Sitten und Gewohnheiten stützt. Darüber hinaus wird die übersteigerte Heimatliebe mit ihren imaginären Vorzügen, die sich diskriminierend auf den Umgang mit anderen Ethnien auswirken kann, als eine Form des Chauvinismus beschrieben, die sich bis in die Gegenwart beobachten lässt. Den Hintergrund dieser Erkenntnis bildet die aufklärerische Gewohnheits- und Sittenkritik, die auch hier mit dem Ziel der Wahrheitsfindung (desengaño) die übersteigerte Heimatliebe als ein Trugbild der ‹Macht der Gewohnheit› offenlegt.
Die Kritik sozialer Ungleichheit bezogen auf die ‹Klasse› Im Kontext des Reformverlangens des aufgeklärten Absolutismus geht in Spanien mit dem Ziel der wirtschaftlichen Erneuerung das liberalistische Bemühen einher, eine Privilegienkultur zu beseitigen, die sich hemmend auf die ökonomische und soziale Modernisierung auswirkt. Adressiert wird diese Privilegienkritik an die Eliten in Kirche, Adel und Politik. Die Forderung, die Privilegien des Adels an Meriten zu binden, erhebt auch Feijoo in seinem Teatro Crítico Universal. Obschon Feijoo in seiner Eigenschaft als Theologe die sozialen Unterschiede bezogen auf die ‹Klasse› mit der göttlichen Gerechtigkeit im Jenseits begründet und sich somit in dieser Frage innerhalb der von Staat und Kirche gesetzten Grenzen bewegt,29 lassen sich in seinem Text Bestrebungen nach einem sozialen Ausgleich in der Form nachvollziehen, dass der Adel an seinen Leistungen für das Gemeinwohl gemessen werden soll und die desolate Lage der Landarbeiter:innen einer dringenden Verbesserung bedarf.30 Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wird die Kritik an den Privilegien des Adels und des Klerus lauter. Ein Beispiel hierfür entstammt einem Passus des Informe sobre la Ley Agraria von Jovellanos. Im Kontext einer Besprechung der unterschiedlichen Abgabenhöhe zwischen den verschiedenen spanischen Provinzen setzt
Vgl. Tschilschke: Identität der Aufklärung, S. 147 f.; ferner Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 323. Vgl. Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 99, Anm. 89. Vgl. Feijoo: Teatro Crítico Universal, Bd. 1 (1778), discurso 3, verfügbar unter: http://www.filo sofia.org/bjf/bjft103.htm, (letzter Zugriff: 31.12.2022); Feijoo: Teatro Crítico Universal, Bd. 8 (1779), discurso 12, verfügbar unter: http://www.filosofia.org/bjf/bjft812.htm, (letzter Zugriff: 31.12.2022).
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er sich auch mit der ungleichen Steuerlast zwischen den verschiedenen sozialen Klassen auseinander. Dabei kritisiert er die Befreiung des Klerus von bestimmten Abgaben, die zulasten der Armen geht, scharf: «¿[Q]ué razón habrá para que un orden propietario tan rico, cuyos individuos todos están por lo menos suficientemente dotados, concurra a la renta pública con menos auxilios que las clases pobres y laboriosas que lo mantienen?»31 Bemerkenswert ist an diesem Passus, dass Jovellanos von «arbeitenden Klassen» statt von Kasten spricht, was eine Betrachtung der Gesellschaft in ihrer sozialen und nicht in ihrer religiösen Fundierung widerspiegelt und auf die Rhetorik der politischen Ökonomie der Folgejahre vorausweist. Ferner kritisiert er die soziale Hierarchie, aus der die ungleiche Steuerpflicht abgeleitet wird, da sie jeglicher Legitimation entbehrt.32 Er verurteilt die willkürlich festgelegte («por ventura») Ungleichheit («desigualdad») der staatlichen Abgabenordnung und betont, dass es ohne eine gerechte Gleichheit («justa igualdad») vor dem Steuergesetz keine Gerechtigkeit («justicia») im Steuerwesen geben kann.33 Jovellanos fordert hier eine juristische Gleichheit der Bürger:innen vor dem Steuergesetz ein, in der die Abgabenlast nicht mehr an den Stand gebunden ist. Aus dieser Forderung resultiert schließlich auch sein Plädoyer für die Abschaffung der ökonomischen Privilegien des Adels und des Klerus.34 Weiterhin ist festzustellen, dass sich die Kritik bei Jovellanos von der bei Feijoo unterscheidet. Während Feijoos Kritik an sozialen Differenzen auf der aufklärerischen Gewohnheits-, Vorurteils- oder Sittenkritik fußt, lässt Jovellanos’ Kritik am Steuergesetz zwar eine utilitaristische Färbung erkennen, stellt jedoch unter Verwendung der Begriffe «desigualdad» und «justa igualdad» vielmehr eine frühe Form der Gesellschaftskritik dar.35 Soziale Ungleichheit erscheint hier als ein politischer Fehler und nicht mehr wie bei Feijoo als Teil der göttlichen Gerechtigkeit. Zumindest bezogen auf das Steuergesetz hat soziale Ungleichheit ihre uneingeschränkte Legitimität eingebüßt. Wenngleich Jovellanos’ Forderung noch nicht die Auflösung der Standesgrenzen oder der Feudalgesellschaft insgesamt intendiert und sich somit im Rahmen des Reformverlangens des aufgeklärten Absolutismus
Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria, S. 375 f. Eine vergleichbare Feststellung macht Jüttner bezüglich der Schriften Cabarrús’, der von einer «funesta desigualdad» spricht und sich mit dem Ziel der Umverteilung von oben nach unten für ein gerechtes Steuersystem einsetzt (vgl. Jüttner, Siegfried: ¡Divina Libertad! – Spaniens Aufklärer im Bannstrahl der Revolution. In: ders. (Hg.): Die Revolution in Europa – erfahren und dargestellt. Frankfurt am Main: Peter Lang 1991, S. 84–120, hier: S. 98). Vgl. Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria, S. 375. Vgl. Möller: Die spanischen Provinzen, S. 132. Zum Typus der Gesellschaftskritik in der Zeitschrift El Censor vgl. Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 416 f.
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bewegt, markiert sie dennoch einen bedeutenden Schritt hin zur Nivellierung struktureller sozialer Ungleichheit. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Chancengleichheit spielt und wie bedeutsam Bildung für die Chancengleichheit ist, zeigt die folgende Forderung nach freiem Zugang zur Grundschulbildung für alle Kinder, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft: Dígnese, pues, Vuestra Alteza de multiplicar en todas partes la enseñanza de las primeras Letras; no haya lugar, aldea [...] que no la tenga; no haya individuo, por pobre y desvalido que sea, que no pueda recibir fácil y gratuitamente esta instrucción.36
Über die Frage nach der sozialen Herkunft hinaus soll der freie Zugang zu Bildung auch unabhängig vom Geschlecht ermöglicht werden, was im Begriff des individuo zum Ausdruck gebracht wird.37 Es wird ersichtlich, dass die spanische Aufklärungsgesellschaft nicht nur das Vorhandensein sozialer Ungleichheit reflektiert, sondern darüber hinaus auch die Bedeutung des Zugangs zu Institutionen und Ressourcen für die Entstehung und Reproduktion sozialer Unterschiede einzuschätzen vermag. Einen weiteren Beleg für diesen differenzierten Blick auf soziale Ungleichheit sehen wir in Jovellanos’ Konzept zur personellen Besetzung der Ökonomischen Gesellschaften. Männer und Frauen werden in diese Sozietäten nicht nur als gleichberechtigte Mitglieder aufgenommen, sondern sie sollen zudem auch unabhängig von ihrem Stand und Beruf als gleich gelten und durch ein gemeinsames Projekt, hier den Einsatz für die eigene Region, miteinander vereint werden: Situadas en todas las provincias, compuestas de propietarios, de magistrados, de literatos, de labradores y artistas, esparcidos sus miembros en diferentes distritos y territorios, reuniendo como en un centro todas las luces que puedan dar el estudio y la experiencia e ilustradas por medio de repetidos experimentos y de continuas conferencias y discusiones.38
Das Licht der aufgeklärten Wissenschaft (las luces) verbindet die sonst voneinander getrennten sozialen Gruppen. Durch die Vulgarisierung von Wissen und Wissenschaft soll ein Schritt hin zur Überwindung der Standesgrenzen gemacht werden. Besteht die Gelehrtenrepublik aus freien und gleichen Mitgliedern, die sich jedoch auf eine privilegierte Elite beschränken, welche sich von anderen sozialen Schichten distanziert, so wird die Trennung zwischen Gelehrsamkeit und
Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria, S. 401. Vgl. Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau, S. 43–48. Zur Bedeutung des Begriffs des individuo als einer beide Geschlechter umfassenden Bezeichnung vgl. Fernández Fernández: Jovellanos, S. 95 f; 102. Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria, S. 406.
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arbeitender Bevölkerung in den Ökonomischen Gesellschaften aufgehoben.39 Ferner lässt sich in dem hier skizzierten Idealmodell der Sozietäten ein Entwurf für eine Gesellschaft sehen, in der Standes- und Geschlechterunterschiede keine gesteigerte Bedeutung mehr haben. Möglicherweise wird hiermit die utopische Vorstellung von einer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht, deren Mitglieder nicht hierarchisch, sondern frei und gleichberechtigt zueinanderstehen.40 Einen utopischen Entwurf einer Gesellschaft freier und gleicher Menschen, in der die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Ethnie keine Bedeutung hat, formuliert Jovellanos in einem Gedicht, das er seinem Freund Leandro Fernández de Moratín 1796 schickt: El fatal nombre de propiedad, primero detestado, será por fin desconocido. [...] Nueva generación desde aquel punto la tierra cubrirá, y entambros mares; al franco, al negro etíope, al britano hermanos llamará, y el industrioso chino dará, sin dolo ni interese, al transido lapón sus ricos dones.41
Auch wenn diese Epistel erst 1832 das Licht der Öffentlichkeit erblickt,42 so vermag sie Aufschluss darüber zu geben, dass die Vorstellung progressistischer Aufklärer:innen von einer Gesellschaft,43 in der soziale Differenzen überwunden werden, das Reformverlangen des aufgeklärten Absolutismus noch im 18. Jahrhundert selbst deutlich überschreitet.
Für die Aufhebung der Trennung von gebildeten und arbeitenden sozialen Gruppen plädiert Jovellanos: «Y por ventura, ¿sería imposible remover este valladar, este muro de separación que el orgullo literario levantó entre los hombres que estudian y los que trabajan?» (Jovellanos: Informe sobre la Ley Agraria, S. 397. Vgl. ferner Möller: Die spanischen Provinzen, S. 208 f). Bezüglich der ständeübergreifenden Ausbildung in den Ökonomischen Gesellschaften vgl. Schütz, Das 18. Jahrhundert, S. 189 f.; Hertel-Mesenhöller: Das Bild der Frau, S. 44. Gaspar Melchor de Jovellanos: Respuesta de Jovellanos a Moratín, In: ders. Obras Completas, Bd. 1. Hg. v. José Miguel Caso González. Oviedo: Centro de Estudios del Siglo XVIII 1984, S. 281; 287. Vgl. Jovellanos: Obras Completas, S. 48; 281. Vgl. Jüttner, ¡Divina Libertad!, S. 108 f.
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Fazit Im Zuge aufklärerischer Vorurteils-, Gewohnheits- und Sittenkritik werden Geschlechterentwürfe und Ethnizität in den hier vorgestellten Texten intensiv reflektiert. Dabei erweisen sich Gewohnheits- und Vorurteilskritik nicht nur als Mittel der Wahrheitsfindung, sondern auch als Instrumente der sozialen Beobachtung, die die Reflexion eines sozialen Sachverhalts in der Literatur jener Epoche ermöglichen. Aus dieser Reflexion resultiert in den Beispielen eine kritische Hinterfragung sozialer Ungleichheit, da die Legitimationsgrundlagen für soziale Differenzen mittels einer Überprüfung durch die Vernunft in den meisten Fällen als voraufklärerische Gewohnheiten, Vorurteile oder Irrtümer klassifiziert werden. Neben der Gewohnheits- und Vorurteilskritik fungiert die Rede über die Gleichheit der Menschen als eine Kontrastfolie zur Thematisierung sozialer Differenzen. Hierbei ist an erster Stelle das Gleichheitspostulat der christlichen Anthropologie zu nennen, das die Gleichheit der Menschen als eine christlich-humanistische universalitas zugrunde legt. Im Gegenlicht dieses Gleichheitspostulats gelten Frauen Männern gegenüber als ebenbürtig und der Mensch ungeachtet seiner ethnischen Zugehörigkeit als vernunftfähig. Weiterhin entdecken wir in der Forderung nach einem gerechten Steuersystem einen juristischen Gleichheitsgedanken, der sich mit der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen befasst. In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der Gerechtigkeit, der hier zwar auf die Steuergerechtigkeit abzielt, der jedoch gleichzeitig auf die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen zwischen den Klassen verweist. Dabei ist die Kritik an der Steuerungerechtigkeit nun nicht mehr auf die Aufdeckung eines Irrtums oder Trugbilds gerichtet, sondern auf die Sichtbarmachung eines politischen Fehlers im Sinne einer Gesellschaftskritik. Eine weitere Vorstellung von sozialer Gleichheit wird durch das humanistische Aufklärungsdenken geprägt. So soll das Licht der Aufklärung (las luces) durch die Vulgarisierung von Wissen und Wissenschaft und durch den freien Zugang zu Bildungsinstitutionen zur Förderung der Gleichheit in Bezug auf das Geschlecht und die Klasse beitragen. Festzuhalten bleibt, dass sich die in den Texten formulierte Kritik an sozialen Differenzen innerhalb der Grenzen des Reformverlangens des aufgeklärten Absolutismus bewegt. Gleichwohl sehen wir in der Frage bezüglich der Geschlechtergleichheit und hinsichtlich der Forderungen nach freier Bildung und nach einem gerechten Steuersystem ein progressistisches Potential angelegt, das auf die Überwindung struktureller sozialer Ungleichheit abzielt. Die jahrhundertübergreifende Debatte über die Geschlechterentwürfe, die schließlich dem männlichen Widerstand zum Trotz in der Eröffnung des Zugangs für Frauen zu Bildungsinstitutionen mündet, bildet einen Beleg hierfür.
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Von herausragender Bedeutung sowohl für das 18. Jahrhundert selbst als auch für die weitere historische Entwicklung der westlichen Auffassung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit scheint hierbei die Projektionskraft zu sein, mit der die progressistischen Aufklärer:innen eine solidarische, von Gleichberechtigung geprägte und gerechte Gesellschaft imaginieren.
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2 Französische Gegenwartsnarrative
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‹Die Unsichtbaren der Republik› – soziale Ungleichheit in der französischen Gegenwartsliteratur, insbesondere bei Annie Ernaux, Didier Eribon und Éric Vuillard Abstract: In der Literatur werden derzeit eifrig Ungleichheitsfragen debattiert. Das Thema der Ungleichheit aufgrund sozialer Herkunft scheint jedoch in den akademischen wie nicht-akademischen Diskriminierungsdebatten im deutschsprachigen Raum erst allmählich Beachtung zu finden. Anders in Frankreich, wo seit geraumer Zeit schon eine literarische Wiederentdeckung der sozialen Klassenproblematik im Gange ist. Der vorliegende Artikel setzt sich zum Ziel, (in einer historisch fundierten Perspektive) zum einen den aktuellen Diskurs um die question sociale im Kontext gesellschaftlicher, soziologischer und literarischer Entwicklungen und Debatten sichtbar zu machen, die sich insbesondere mit der Situation der ‹alten› und ‹neuen› classes populaires beschäftigen. Zum anderen soll anhand von Texten von Annie Ernaux, Didier Eribon und Éric Vuillard sowie unter Rückgriff auf Jacques Rancières Überlegungen zu einer Politik der Ästhetik verdeutlicht werden, wie die französische Gegenwartsliteratur mit der Problematik der historischen wie zeitgenössischen sozialen Ungleichheit umgeht. Im Vordergrund steht dabei auch die Frage, welche formalen und ästhetischen Lösungsmöglichkeiten sie zur Bewältigung einer zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Repräsentationskrise vorschlägt. Keywords: französische Gegenwartsliteratur, Literatur und soziale Ungleichheit, Politiken der Ästhetik, politische Repräsentationsdiskurse in der Literatur, classes populaires Abstract: In contemporary literary debates on inequality in the German-speaking context, inequality based on social origin is hardly ever addressed. In France, though, recent literary texts have rediscovered the problem of classicism. This article aims at presenting the current discourse about the question sociale against the background of societal, sociological, and literary developments regarding the ‹old›
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and the ‹new› classes populaires. Moreover, on the basis of texts written by Annie Ernaux, Didier Eribon, and Éric Vuillard and recurring to Jacques Rancières’ elaborations on Politics of Aesthetics, the following analysis will demonstrate how contemporary French literature negotiates both historical and present-day dimensions of social inequality. In the course thereof, focus will be laid upon the implicit suggestions made in order to overcome the current crisis of political, social, and cultural representation. Keywords: contemporary French literature, literature and social inequality, Politics of Aesthetics, political discourses of representation in literature, classes populaires In vielen Bereichen westlicher Gesellschaften toben derzeit heftige Repräsentationskonflikte. Neben Wirtschaft und Politik muss sich auch der Kultur- und Literaturbetrieb seit geraumer Zeit intensiv mit Fragen etwa nach seinem In- und Exklusionspotential auseinandersetzen: «Ist Literatur eigentlich für alle da, oder für manche mehr und für manche weniger? Ist der Zugang zu Literatur, der ja viel idealistischer gehandelt wird als, sagen wir, der Zugang zu Mietwohnungen oder Aufsichtsratsposten, auch fairer verteilt?»1 Wie steht es um die Geschlechterparität, wenn es um die Besetzung wichtiger Jurys im Literatur- und Filmbetrieb geht? Wie um die Präsenz von Autorinnen im Literaturkanon? Und wie viele People of Color sind unter den Preisträger:innen, wenn die Oskars vergeben werden? Solche gesellschaftspolitischen Repräsentationsfragen, die unter dem Schlagwort diversity firmieren, sind dabei auch Gegenstand inhaltlicher und ästhetischer Auseinandersetzungen: Wie werden Minderheiten im Kino oder in der Literatur dargestellt? Dürfen bzw. können z. B. Diskriminierungen, die Menschen aufgrund ihrer Sexualität oder Ethnie erleben, überhaupt authentisch und aggressionsfrei von Autor:innen dargestellt werden, die den betroffenen Gruppen nicht angehören? – eine Debatte, die unter dem Stichwort Verbot kultureller Aneignung derzeit die Feuilletons beschäftigt.2
Marie Schmidt: Vielfalt macht nun mal Arbeit. In: Süddeutsche Zeitung (09.03.2020), verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/gerechtigkeit-literatur-buecher-fruehjahr-1.4837679 (letzter Zugriff: 03.06.2020). Vgl. Sarah Pines: Darf sie das? In: zeit.de (07.02.2020), verfügbar unter: https://www.zeit.de/2020/ 07/american-dirt-jeanine-cummins-buch-fluechtlinge-mexiko (letzter Zugriff: 03.06.2020). Vgl. dazu auch den Streit darum, ob die Gedichte der afroamerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman, die bei der Inauguration Joe Bidens im Januar 2021 auftrat, von einer weißen Person übersetzt werden können/dürfen/sollen. Dabei geht es um die Frage, ob man gewisse Identitätsmerkmale benötigt, um sich in Inhalte und Erfahrungen einfühlen zu können. Vgl. Kraft, Marion: Es geht nicht um
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Wo bleibt die soziale Herkunft in der zeitgenössischen Diskriminierungsdebatte? Dass es für die Mechanismen der narrativen Repräsentation von Minderheiten und generell für die Fragen, wie Machtverhältnisse zwischen Akteuren und Gruppen durch sprachliche, semiotische und mediale Verfahren ausgehandelt werden, in der Literatur und den Sozialwissenschaften seit geraumer Zeit schon eine hohe Sensibilität gibt, ist spätestens seit der Etablierung der postkolonialen Studien oder seit der Writing-Culture-Debatte in der Ethnologie bekannt.3 Wie ist es jedoch um das Thema der Ungleichheit aufgrund sozialer Herkunft bestimmt, wenn man sich die zeitgenössischen Diskriminierungs- und Repräsentationsdebatten auf akademischer Ebene anschaut? Zwar tendiert man heute dazu, den drängenden sozialen Ungleichheitsfragen in der Forschung möglichst ‹intersektional› Rechnung zu tragen.4 Dennoch scheint etwa das ‹klassische› Problem einer klassenbedingten Ungleichheit in den skizzierten Debatten kaum Gehör zu finden. So hat die Politikwissenschaftlerin Jennifer Hochschild nach dem Wahlsieg Donald Trumps von 2016 festgehalten: «Wir haben in den Staaten viel zu Rassen- und Geschlechtsungleichheiten geforscht, aber die Klassenungerechtigkeit missachtet. Vergleicht man die Anzahl von Forschungsarbeiten, ergibt sich schätzungsweise ein Verhältnis von 500:1.»5 Auch Oliver Nachtwey schreibt über die heutige «Abstiegsgesellschaft»: «Gewiss, das steigende Ausmaß von Armut, Prekarität und sozialer Ungleichheit wird in der politischen Öffentlichkeit mittlerweile immer häufiger thematisiert, die neuen Ungleichheiten werden bisher aber nicht adäquat verhandelt.»6 Schon 2009 warf der französische Soziologe Didier Eribon in seinem vielbeachteten Bestseller Retour à Reims, einer autobiographischsoziologischen Recherche in seinem proletarischen Herkunftsmilieu, selbstkritisch die Frage auf, «[p]ourquoi moi, qui a tant écrit sur les mécanismes de la domination, n’aije jamais écrit sur la domination sociale?»7 Eribon, selbst einer der profiliertesten Hautfarbe, sondern um Erfahrungswelten. In: Deutschlandfunk Kultur, verfügbar unter https:// www.deutschlandfunkkultur.de/streit-um-amanda-gorman-uebersetzung-es-geht-nicht-um.2156.de. html?dram:article_id=493425 (letzter Zugriff 02.03.2021). Vgl. Doris Bachmann-Medick: Einleitung: Übersetzen als Repräsentation fremder Kulturen. In: dies. (Hg.): Übersetzen als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Schmidt 1997, S. 1–18, hier S. 3. Vgl. Gabriele Winkler/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript 2009. Jennifer Hochschild: Was hat die Wissenschaft versäumt? In: Forschung & Lehre 12 (2016), verfügbar unter https://www.forschung-und-lehre.de/politik/was-hat-die-wissenschaft-versaeumt216/ (letzter Zugriff 03.06.2020). Oliver Nachtwey: Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 12. Didier Eribon: Retour à Reims [2009]. Paris: Flammarion 2018, S. 21.
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französischen Theoretiker auf dem Gebiet der soziologischen Homosexualitätsforschung, schickt die These hinterher, dass die Erforschung sozialer Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung im öffentlichen, ja sogar im politischen Diskurs weit akzeptierter sei als die Auseinandersetzung mit der sozialen Herkunft.8 Die Gründe hierfür sind eine eigene Untersuchung wert und können hier nicht ausführlich behandelt werden. Dennoch scheint der bei Eribon anklingende Hinweis auf die herrschende diskursive ‹Großwetterlage› berechtigt, in der sich mit dem Niedergang der großen (gesellschaftsstrukturierenden) Erzählungen, der traditionellen Kollektive (Nation, Dorf, Familie) und sozialen Strukturen, auch das Thema der alten/neuen Klassenungleichheiten erledigt hat.9 Aber haben sich aus diesen Wortmeldungen nennenswerte Impulse für eine intensivere literarische und akademische Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit ergeben, die nicht in erster Linie auf die Kategorien Geschlecht, Ethnie oder Minderheit verweisen? Obwohl in den zurückliegenden Jahren Forschungsinitiativen entstanden sind, die sich einschlägigen Phänomenen, beispielsweise Formen und
Vgl. ebda., S. 21 f. Ähnliche Wortmeldungen gibt es in Frankreich derzeit viele. Wie Garcia in seiner Reportage über den größten öffentlich-rechtlichen Radiosender Frankreichs (France Inter) argumentiert, fokussiert sich der Diversitätsdiskurs in den Medien nur auf die Bereiche Geschlecht und ethnischer Herkunft (s. David Garcia: France Inter, écoutez leurs préférences. In: Le Monde diplomatique (August 2020), verfügbar unter: https://www.monde-diplomatique.fr/2020/08/ GARCIA/62081#nh8 (letzter Zugriff: 29.10.2020)). Vgl. hierzu den mittlerweile auch in Frankreich vieldebattierten Vorwurf, dass die heutige politische Linke ihre sozialen Kernanliegen, den Kampf gegen Klassenungerechtigkeiten und das Streben nach universellen Rechten, seit geraumer Zeit schon gegen die Beschäftigung mit identitätspolitischen und partikulären Interessen getauscht habe (vgl. Caroline Fourest: Génération offensée: De la police de la culture à la police de la pensée. Paris: Grasset 2020). Nachtwey zufolge ist es das weiterhin vorherrschende Leitbild der Aufstiegsgesellschaft, das den Blick für die neuen Ungleichheiten und Abstiegsphänomene immer noch verstellt (vgl. Nachtwey, Abstiegsgesellschaft, S. 12). Vgl. in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht auch die Cultural Studies, die als Kulturwissenschaften der ‹unteren› Schichten entstanden waren, diesen Fokus nicht längst ad acta gelegt haben (vgl. Mark Terkessidis: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. In: Deutschlandfunk Büchermarkt (10.11.1999), verfügbar unter: https://www. deutschlandfunk.de/cultural-studies-grundlagentexte-zur-einfuehrung.700.de.html?dram:article_ id=79605 (letzter Zugriff: 03.06.2020)).
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Diskursen sozialer Prekarisierung in Literatur und Film, widmen,10 ist dieses Feld im deutschsprachigen Raum (noch) recht übersichtlich.11
Die Rückkehr der sozialen Frage in die französische Literatur Anders verhält es sich in Frankreich, wo die zeitgenössische soziale Frage seit geraumer Zeit schon Gegenstand einer wachsenden literarischen wie literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit ist.12 Dieser Umstand hat natürlich viel mit den sozioökonomischen, kulturellen und politischen Transformationsprozessen der
Vgl. Roswitha Böhm/Cécile Kovacshazy (Hg.): Précarité. Littérature et cinéma de la crise au XXIe siècle. Tübingen: Narr-Francke-Attempto 2015. Darunter fällt natürlich auch der vorliegende Band sowie eine Reihe weiterer Initiativen: das von der DFG geförderte Projekt «Bourdieus Erben. Zur Rückkehr der Klassenfrage in der französischen Gegenwartsliteratur»; die vom Centre Interdisciplinaire d’études et de Recherches sur l’Allemagne (CIERA) und dem Centre Marc Bloch veranstaltete Tagung zum Thema Machtverhältnisse in der Literatur. Manifestationen und Inszenierungen von Stigmatisierungs-, Herrschafts- und Widerstandsformen im literarischen Bereich (06.–07.2021); den 13. Kongress des Frankoromanistenverbands (Wien, 21.–24.09.2022) zum Thema Populaire! Populär? (Sektion: Zur Popularität der classes populaires – Elendsnarrative in Literatur und Film). Zwar erfreut sich die ‹Klassenliteratur› Eribons auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile einer wachsenden (akademischen) Aufmerksamkeit, hat jedoch – mit Ausnahmen wie Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) – in der Literatur bisher jedoch kaum Nachahmung hervorgerufen (Der Hinweis auf Baron verdankt sich Gregor Schuhen). Im Literaturbetrieb selbst scheint das Thema der sozialen Herkunft nur ab und an in den Feuilletons aufzuflackern, wenn man etwa an Florian Kesslers Polemik über die deutschen Literaturinstitute als «soziale Selektionsmaschine» (Florian Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: zeit.de (16.01.2014), verfügbar unter: https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-kon formistisch (letzter Zugriff: 03.06.2020)) denkt. Vgl. diesbezüglich eine Auswahl an Publikationen, die den Manifestationen des Sozialen in der zeitgenössischen Literatur nachspüren: Michel Collomb (Hg.): L’Empreinte du social dans le roman depuis 1980. Montpellier: Service des Publications de l’Université Paul-Valéry 2005; Dominique Viart: Écrire le travail. Vers une sociologisation du roman contemporain. In: ders./Gianfranco Rubino (Hg.): Écrire le présent, Paris: Armand Colin 2012, S. 135–155; Dominique Viart: Qu’est-ce qu’une écriture solidaire? De quelques pratiques contemporaines (Bon, Kaplan, Ernaux, Cornay). In: Djemaa Maazouzi/Nelly Wolf (Hg.): La France des solidarités (mai 1986 - mai 1981): littérature, cinéma, discours. Villeneuve d’Ascq: PUS 2015, S. 171–190; Corinne Grenouillet: La littérature française contemporaine face à la question sociale et ouvrière. L’invention d’un ‹nouveau› réalisme (François Bon, Jean-Paul Goux). In: Raison Publique 15 (2011), S. 83–99; Corinne Grenouillet: Usines en textes, écritures au travail. Témoigner du travail au tournant du XXe siècle. Paris: Classiques Garnier 2015.
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letzten Jahrzehnte zu tun, die in Frankreich als besonders tiefgreifend empfunden wurden. Als vielbeachtetes Symptom dieser Entwicklungen gilt das Erstarken rechtspopulistischer Tendenzen seit den 1980er Jahren. Die erwähnten Prozesse haben zum einen die soziale Struktur der französischen Gesellschaft nachhaltig verändert und soziale Ungleichheiten weiter verschärft,13 zum anderen aber auch die Persistenz herkunftsbedingter Mechanismen der sozialen Selektion ins Bewusstsein gerückt und eine Reihe von Fragen aufgeworfen, auf die weder Politik noch Wissenschaften bisher schlüssige Antworten (geschweige denn wirksame Gegenmittel) gefunden haben. Darunter auch die Frage, der Eribon am Beispiel der eigenen Familiengeschichte nachgeht, weshalb so viele Arbeiter:innen heute den einstigen ‹Klassenfeind› Front bzw. Rassemblement National (RN) wählen. Trotz der Beobachtung, dass sich die Literatur mittlerweile wieder stärker mit Phänomenen der sozialen Ungleichheiten beschäftigt, muss sich das literarische Feld Frankreichs die Kritik gefallen lassen, dass es das Thema der klassenbedingten Ungerechtigkeiten weiterhin vernachlässige und große Teile der französischen Gesellschaft damit inhaltlich außen vorlasse.14 So hat auch Édouard Louis vielfach beklagt, dass die «Ausgeschlossenen» und ihre Lebenswelt nicht nur von der Politik, sondern auch von der Literatur ignoriert würden. Mit Blick auf die Publikationsgeschichte seines autobiographischen Romans En finir avec Eddy Bellegueule (2014) bemerkt der Autor: Als ich das ‹Eddy›-Manuskript an einen berühmten Pariser Verleger schickte, antwortete der mir, er könne das nicht veröffentlichen, weil es die Welt, über die ich da schrieb, seit Émile Zolas ‹Germinal› nicht mehr gebe. Niemand würde mir glauben. Und niemand würde das kaufen. Die Ausgeschlossenen kommen in Büchern und Filmen so wenig vor, dass dieser hochgebildete Mann reinen Herzens glaubte, dass es diese Menschen schlichtweg nicht gibt. Und
Vgl. Thomas Piketty: Le capital au XXIe siècle. Paris: Seuil 2013. Vgl. in diesem Zusammenhang die zunehmende Kritik an den ‹Auswüchsen› der postmodernen Literatur, die sich in einer «quête de singularité» und «idéalisation de la différence» (Alexandre Gefen: Réparer le monde: La littérature française face au XIXe siècle. Paris: José Corti 2017, S. 41 & Kap. 2) erschöpft und immer subtilere Formen und Schreibweisen erfindet, um dem Bedürfnis des zeitgenössischen Subjekts nach Einzigartigkeit Rechnung zu tragen. Was hier gefordert wird, ist eine Literatur, die nicht mehr nur dem individualistischen Zeitgeist huldigt, sondern den Blick vielmehr auf soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse, auf die kollektiven Dimensionen des Lebens in der Gesellschaft richtet und neue emanzipatorischen Formen des Schreibens entwickelt (vgl. Coste, Florent: Littérature et théorie littéraire à l’ère du singularisme. In: Tracés. Revue de Sciences humaines 34 (2018), verfügbar unter: DOI: https://doi.org/10. 4000/traces.7815. Vgl. in diesem Zusammenhang die jüngeren Entwicklungen auf dem Feld der Autobiographie, wo mit dem Aufkommen der auto-sociobiographie das Individuum wieder in seiner sozialen Bedingtheit betrachtet wird. Neben Eribon kann man hier Ernaux’ Projekt einer unpersönlichen Autobiographie erwähnen (Annie Ernaux: Les années. Paris: Gallimard 2008).
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diese sehen, dass der Prix Goncourt jedes Jahr an einen bourgeoisen Autor geht, der über die Probleme der Bourgeoisie schreibt. Also wissen sie, dass Literatur sie einfach nicht angeht.15
Dass man mit dem Thema der sozialen Ungleichheit jedoch mittlerweile im französischen Literaturbetrieb wieder ‹punkten› kann, zeigen der große Erfolg von Autor:innen wie Eribon oder Édouard Louis’. So ging der Prix Goncourt 2018 an Nicolas Mathieus Roman Leurs enfants après eux (2018) über das Leben Jugendlicher in den ehemaligen Industrierevieren Frankreichs.16 Die erwähnten Beispiele Eribon und Louis sind nur zwei Belege dafür, dass ein wachsender Kreis französischer Schriftsteller:innen an vorderster Front agiert, wenn es darum geht, eine in der Öffentlichkeit verdrängte (aktuelle und historische) soziale Frage aufzuwerfen. Wenngleich sich nun Eribon mit der Arbeiterklasse auseinandersetzt, wird die zeitgenössische soziale Frage – und dies scheint mir eine in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch weithin unberücksichtigte Entwicklung zu sein – jedoch nicht mehr nur als Problem der ‹klassischen unteren› Schichten – allen voran der Arbeiterschaft, ihren Lebensbedingungen sowie ihren politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Teilhabechancen – diskutiert. Im Zuge der seit geraumer Zeit in der Soziologie konstatierten Auflösungstendenzen der Mittelschicht17 ist mit der sozialen Frage vielmehr ein Problemkomplex gemeint, der immer größere Teile der französischen Gesellschaft betrifft. Dabei handelt es sich um heterogene Bevölkerungsteile, die zwar in unterschiedlicher Weise von den negativen Folgen der sozioökonomischen Transformation betroffen sein mögen, die jedoch gemeinsam eine zunehmende Prekarisierung ihrer Lebensumstände, soziale Abstiegssorgen und
Édouard Louis: «Die Linke müsste meine Eltern ansprechen, ohne soziorassistisch zu sein». In: Süddeutsche Zeitung (20.04.2017), verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/frank reich-die-linke-muesste-meine-eltern-ansprechen-ohne-soziorassistisch-zu-sein-1.3469363 (letzter Zugriff: 30.03.2020). Wie die zahlreichen Übersetzungen der Texte von Eribon, Louis oder Ernaux aus der jüngeren Vergangenheit ins Deutsche zeigen, kann dies mittlerweile auch für den deutschsprachigen Markt gelten. Auch wird – und dies verdeutlicht die Polarisierungen, die mittlerweile auch innerhalb des Literaturbetriebs zur sozialen Frage existieren – bisweilen eine geradezu obsessive Fixierung der Gegenwartsliteratur auf die Thematik der sozialen Ungleichheit beklagt, wie eine Polemik Frédéric Beigbeders (2016) über Ernaux’ autobiographischen Roman Mémoire de fille (2016) illustriert (vgl. Frédéric Beigbeder: Annie Ernaux, l’écrivain officiel. In: lefigaro.fr (22.04.2016), verfügbar unter: http://www.lefigaro.fr/livres/2016/04/22/03005-20160422ARTFIG00192-annie-ernaux-l-ecrivainofficiel.php (letzter Zugriff: 30.03.2020); Annie Ernaux: Mémoire de fille. Paris: Gallimard 2016). Vgl. Christophe Guilluy: No society. La fin de la classe moyenne occidentale. Paris: Flammarion 2018; Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2019.
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eine kulturelle Marginalisierung beklagen.18 Gemeint ist eine Bevölkerungsmehrheit Frankreichs, die man heutzutage in der Soziologie unter dem Begriff der nouvelles classes populaires fasst und die das als überholt betrachtete Konzept einer homogenen classe ouvrière ersetzt hat. Während sich Letzteres im Kern auf das Milieu der weißen Industriearbeiter bezog, versucht man mit den schwer zu übersetzenden Termini der ‹neuen› oder ‹zeitgenössischen› classes populaires, der zunehmenden Diversität der ‹unteren› sozialen Schichten Rechnung zu tragen und insbesondere die soziale Lage von Frauen, Migrant:innen sowie von Angestellten mit kleineren Einkommen stärker einzubeziehen.19 Dabei sind es gerade diese ‹neuen› classes populaires, denen man (neben den ‹alten›) einen Status der politischen, sozialen und auch kulturellen Unsichtbarkeit zuspricht20 und die beispielsweise als protestierende Gelbwesten mittlerweile stärker in den öffentlichen Diskurs drängen. Wie stellt sich vor diesem Hintergrund nun die (alte und neue) soziale Frage in der Literatur Frankreichs dar? In welchen diskursiven (v. a. sozialwissenschaftlichen und medialen) Kontext fügt sich die Behandlung dieser Thematik ein, die, wie nicht nur Eribon beklagt, vom Radar der Öffentlichkeit verschwunden war, nun aber in der Krise wiederkehrt? Und mit welchen erzählerischen und ästhetischen Mitteln erfolgt die Repräsentation sozialer Ungleichheitsverhältnisse – in einer Zeit, in der, wie Nelly Wolf bemerkt, «les discours mettant en scène les classes populaires se sont usés, et ont perdu de leur valeur symbolique [...]»?21 Im Sinne einer tableauartigen Darstellung aktueller Entwicklungen, Inhalte und Überlegungen, die den literarischen Umgang mit dem Thema der sozialen Ungleichheit prägen, sollen mit Eribon, Annie Ernaux und Éric Vuillard Vertreter:innen behandelt werden, die man in besonderer Weise mit dieser Thematik verknüpft. Mit ihrem Schreiben ste-
Vgl. diesbezüglich die Rede von der zeitgenössischen Abstiegsgesellschaft (Nachtwey: Abstiegsgesellschaft), mit der sich die französische Literatur eingehend befasst. Reckwitz (Das Ende der Illusionen) spricht von der neuen Unterklasse und der alten Mittelklasse als Verlierer des sozioökonomischen Wandels der Spätmoderne. Die zeitgenössische Abstiegsgesellschaft ist dabei seit geraumer Zeit auch Gegenstand literarischer Aufmerksamkeit, wenn man an Virginie Despentes: Vernon Subutex. 3 Bde. Paris: Grasset 2015–2017 denkt. Vgl. Jasmine Siblot/Marie Cartier u. a.: Sociologie des classes populaires contemporaines. Paris: Armand Colin 2015. Vgl. Christophe Guilluy: La France périphérique. Paris: Flammarion 2014; Stéphane Beaud/Joseph Confavreux u. a. (Hg.): La France invisible. Paris: La Découverte 2006. Mit gewissen Einschränkungen: Wie zu sehen sein wird, beklagen zunehmend auch Vertreter:innen aus der Soziologie, dass einzelne Bereiche wie die Banlieue medial überrepräsentiert seien, während andere, allen voran die Räume abseits der urbanen Zentren, kaum politische, kulturelle und mediale Berücksichtigung fänden. Nelly Wolf: Le Peuple dans le roman français de Zola à Céline. Paris: PUF 1990, S. 7.
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hen sie nicht nur für eine Tendenz, soziale Ungleichheit auf unterschiedlichen Ebenen (zeitgenössisch wie historisch, inhaltlich wie ästhetisch) zu behandeln, sondern zugleich symptomatisch für eine Reihe grundlegender Merkmale im literarischen Umgang mit dem Thema: Zum einen geht es hier um die Nähe zu sozialen und sozialwissenschaftlichen Diskursen sowie um Versuche, sich engagiert in soziale und politische Debatten einzubringen; zum anderen darum, und dies zeigt insbesondere Vuillards Revolutionserzählung 14 juillet, sinnstiftend auf die Gesellschaft einzuwirken und mit erzählerischen Mitteln den sozialen Zusammenhalt zu stärken.22 Wenn ich mich im Folgenden dem Thema der sozialen Ungleichheit in der Gegenwartsliteratur zuwende, so mit der Absicht, diese Debatte auch in ihren historischen Bezügen und in ihren Verflechtungen mit politischen Repräsentationsdebatten zu beschreiben. Diese historisch erweiterte Perspektive erscheint mir nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil erstens die im politischen System Frankreichs strukturell verankerte Problematik im Umgang mit sozialer Differenz erhebliche Auswirkungen auf den literarischen Umgang mit sozialer Ungleichheit hatte (und bis heute hat); und weil zweitens gerade die Literatur in Frankreich historisch betrachtet oft als Korrektiv politischer und sozialer Repräsentationsdefizite fungierte.23 Trotz der häufigen Kritik am vermeintlichen Elitarismus des französischen Literaturbetriebs und des vorherrschenden Literaturverständnisses nimmt die Literatur im nationalen Repräsentationsgefüge einen signifikant höheren Stellenwert ein, als dies etwa in Deutschland der Fall ist.
Éric Vuillard: 14 juillet. Arles: Actes Sud 2016a, S. 19. Zwar schreibt Vuillard gemeinhin über historische Themen, jedoch sind Texte wie 14 juillet, in denen die Sichtbarkeit eines historischen peuple gestärkt wird, wie vom Autor selbst hervorgehoben, als Parabeln auf aktuelle gesellschaftliche Zustände und soziale Fragen zu lesen. Die Problematik der sozialen Herkunft, die hier im Mittelpunkt steht, ist bei den erwähnten Autor:innen natürlich an ‹intersektionale› Faktoren geknüpft. Bei Eribon ist es beispielsweise die Homosexualität in einem proletarischen Milieu. Auf den Umstand, dass sich soziale Ungleichheiten zudem nicht schematisch entlang von Kategorien wie Klasse oder Ethnie festmachen lassen, sondern sich in unterschiedlichen dynamischen Figurationen zeigen (z. B. Alteingesessene vs. Zugezogene), haben Norbert Elias und John L. Scotson hingewiesen (vgl. Norbert Elias/John L. Scotson: The Established and the Outsiders: A Sociological Enquiry into Community Problems. London: F. Cass 1965). Ähnliche Ausführungen habe ich bereits in einem Artikel gemacht, der sich mit der Inszenierung der classes populaires in Literatur, Medien und Sozialwissenschaften befasst (vgl. Robert Lukenda: Verdrängt, vernachlässigt und vergessen? Die classes populaires als neue/alte Paragesellschaft? (Annäherungen an ein französisches Diskursphänomen unter Berücksichtigung von Literatur und Sozialwissenschaften). In: Teresa Hiergeist/Agnes Bidmon u. a. (Hg.): Paragesellschaften. Imaginationen – Inszenierungen – Interaktionen. Berlin: De Gruyter 2021, S. 25–57). Sie erscheinen mir zum Verständnis der Problematik jedoch auch in diesem Kontext hilfreich.
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Die Repräsentation der classes populaires – ein strukturelles Gesellschaftsproblem Wie Benedict Anderson gezeigt hat, bringt die politische Moderne einen Nationenbzw. Volksbegriff hervor, der im Wesentlichen eine ‹vorgestellte Gemeinschaft›24 ist und daher von sozialen Begebenheiten abstrahiert: Aus einer politisch-juristischen Perspektive erscheint das Volk als Souverän, als Kollektiv und Einheit von Bürger: innen gleicher Rechte. Diese Vorstellung kollidiert mit einer soziologischen Perspektive, die das Volk als Masse höchst ungleicher Individuen präsentiert. Genau in jenem historischen Moment, in dem es mit der Französischen Revolution die öffentliche Bühne betritt, erscheint es somit ungreifbarer denn je.25 Die skizzierte Repräsentationsproblematik entpuppt sich als eine bis heute virulente Problemlage. Neben der Frage der politischen Organisation von Gesellschaft sowie der institutionellen und auch ästhetischen Figuration von Gemeinschaft geht es hier grob gesagt darum, Wissen über die soziale Welt zu generieren und kollektiven Zusammenhalt zu stiften.26 Im Rahmen der republikanischen Gesellschaftsidee werden Repräsentationsinstrumente wie die Historiographie und auch die Literatur idealerweise zu Medien und Ausdrucksformen einer imaginären Demokratie, die darauf zielt, dem Volk eine angemessene Präsenz in den wichtigen nationalen Diskursen zu verleihen.27 Und dennoch bemerkt Wolf mit Blick auf die Endphase des 19. und das frühe 20. Jahrhundert, dass die literarische Repräsentation der classes populaires mit der politischen und sozialen nicht schritthält: «[l]’épanouissement d’une grande littérature dédiée au peuple ne s’observe pas. Le roman de la IIIe République ne réussit pas dans la figuration démocratique. Ce n’est pas lui, qui crée, pour représenter les classes populaires, des personnages et situations génériques.»28 Bei genauerem Betrachten sind hier unterschiedliche Dynamiken zu beobachten: Wolf zufolge halten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Volksmassen,
Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 1983. S. hierzu und im Folgenden: Pierre Rosanvallon: Le peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France. Paris: Gallimard 1998. Die vielfältigen Bedeutungen des Repräsentationsbegriffs, der im Französischen ein überaus weites semantisches Spektrum umfasst, können hier nicht Gegenstand einer ausführlichen Betrachtung sein. Zum grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen der politisch-juristischen und der soziologischen Perspektive (s. ebda., v. a. Kap. 1). Zu dieser Auffassung vgl. Nelly Wolf: Le Roman de la démocratie. Saint-Denis: PUV 2003. Im Bereich der Historiographie sei an dieser Stelle die Geschichtsschreibung Michelets erwähnt. Jules Michelet: Histoire de la Révolution française. Hg. v. Gérard Walter. Paris: Gallimard 1952. Wolf: Le Roman, S. 8.
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etwa bei Victor Hugo, in großem Stil inhaltlich Einzug in die Literatur und in das politische und wissenschaftliche Denken, jedoch geht die reale, politische und soziale Integration nur schleppend voran. Diese Dynamik kehrt sich ihr zufolge im Laufe des Jahrhunderts um: Während sich nun die politische Lage des Volkes verbessert, scheint ein Entfremdungsprozess zwischen den ‹unteren› Schichten, ihrer Lebenswelt und der Literatur einzusetzen. Die «promotion symbolique des classes populaires»29 verlagert sich mit Autoren wie Céline nun verstärkt auf die Ebene des Stils, über den die parole des Volkes sich in der Literatur etabliert.30 Zugleich haben sich die Arbeiter:innen, die lange vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, schon im frühen 19. Jahrhundert in Ermangelung einer politischen Repräsentation eine, wie Eugène Sue es umschrieb, eigene «représentation poétique»31 geschaffen, und zwar in Form von Chansons und Zeitschriften, in denen sie auf ihre Lage aufmerksam machten. Hier zeigt sich die politische und existentielle Relevanz einer ästhetischen, selbstbestimmten Repräsentation. Diese bildete eine zentrale Prämisse für die Konstruktion eines Klassenbewusstseins in der französischen Arbeiterschaft. Dieses wiederum war eine Voraussetzung, auf deren Grundlage sie Forderungen nach politischer Mitbestimmung und sozialer Integration geltend machen konnte. Dennoch begründete jenes politisch-juristische Prinzip der Repräsentation – jene universellen Gleichheitsgrundsätze, nach denen auch die Arbeiter:innen strebten – eine fundamentale Schwierigkeit der französischen Demokratie, die mit den Worten Rosanvallons darin besteht, «à penser simultanément la diversité sociale et l’universalisme civique.»32 Anders formuliert: Jener verfassungsmäßig garantierte Primat der volonté générale gegenüber jeglichen Partikularinteressen, mit dem auf politischer Ebene der real existierenden sozialen Ungleichheit entgegengewirkt werden sollte, erschwerte es nicht nur den sprachlichen und kulturellen Minderheiten Frankreichs, ihre spezifischen Anliegen politisch zu vertreten. Sie hemmte letztlich auch die soziale Integration der Arbeiter:innen, wenn man daran denkt, dass spezifische Organe der Interessenvertretung wie die Gewerkschaften in Frankreich relativ
Ebda. S. 7. «La démocratie entre dans la littérature par la langue. Les romanciers républicains ne parviennent pas à produire des figures convaincantes sur la base des pratiques sociales des classes populaires, mais ils parviennent de composer des styles sur la base de leurs pratiques linguistiques» (Wolf: Le Roman, S. 8). Eugène Sue 2014, zit. n. Pierre Rosanvallon: Le parlement des invisibles. Paris: Seuil 2014, S. 38, Herv. i. O. Rosanvallon: Le peuple introuvable, S. 87.
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spät, d. h. erst 1884, zugelassen wurden.33 Aus dieser Situation resultiert ein scheinbares Paradoxon: Die Arbeiterschaft wurde nach der Französischen Revolution sukzessive politisch integriert, wissenschaftlich erforscht und medial dargestellt, zugleich jedoch sozial marginalisiert. Die republikanische Idee einer organischen Nation, zu der die Integration der Arbeiter:innen in die Gemeinschaft politisch und rechtlich gleicher citoyens gehörte, begünstigte die Ausblendung ihrer spezifischen sozialen Bedürfnisse und machte aus ihnen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine «population à part»,34 in der eine eigene Mentalität, Identität und Kultur entstehen konnten – ein Klassenbewusstsein, das sich stets in Abgrenzung zur bürgerlichen (Mehrheits-)Gesellschaft begriff und aus der Not der Ausgrenzung eine Tugend machte, indem es die eigenen Interessen vielfach außerhalb des parlamentarischen Systems, auf der Straße und über Streiks, zu erkämpfen suchte. Der französische Reflex, über alternative Repräsentationsformen wie die Literatur eine Art sozialer Ungleichheit in der Wirklichkeit ausgleichen oder ihr entgegenwirken zu wollen, ist so gesehen das Ergebnis einer spezifischen Schwierigkeit des politischen Systems im Umgang mit sozialer Alterität.
Die Unsichtbarkeit der classes populaires – eine zeitgenössische literarische und soziologische Debatte Zwar hat sich bis heute eine Abschwächung dieser Problematik vollzogen. Dennoch sind die systemischen Ambivalenzen im Umgang mit sozialer Ungleichheit geblieben. Durch die sozioökonomischen Transformationsprozesse und die Zunahme sozialer Spannungen in der Gegenwart haben sie sogar an Virulenz hinzugewonnen. Aus vielen dieser Prozesse sind, wie oft bemerkt wurde, insbesondere die classes populaires, die in der wirtschaftlichen Blütephase der Nachkriegsjahrzehnte noch auf einen gewissen sozialen Aufstieg hoffen konnten, als Verlierer hervorgegangen – nicht nur deshalb, weil sie infolge der Wirtschaftskrise am Ende der 1970er Jahre und des Rückgangs der Industriearbeit einen ökonomischen Abstieg und einen inneren Zersetzungsprozess erlebten, sondern auch weil sie durch den Nie-
Vgl. Jacques Juillard: Le peuple. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire, Bd. 2. Paris: Gallimard 1997, S. 2359–2394, hier S. 2382. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in den 1980er und 1990er Jahren gescheiterten Bemühungen, Geschlechterparität und Frauenquoten in politischen Institutionen durchzusetzen (vgl. Rosanvallon: Le peuple introuvable, S. 347–345). Juillard: Le peuple, S. 2382.
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dergang der kommunistischen Partei sowie durch den Autoritätsverlust der Gewerkschaften ihre traditionellen Organe der Interessenvertretung und damit an öffentlicher Sichtbarkeit eingebüßt haben. Mit diesem Abgleiten in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit hat sich Eribon in Retour à Reims auseinandergesetzt. Seiner Ansicht nach vollzog sich seit den 1980er Jahren durch die von Mitterand initiierte ‹Sozialdemokratisierung› der Linken ein Ausschluss der classe ouvrière und der Arbeiter:innen aus den Diskursen und der Öffentlichkeit.35 Festzumachen sei diese Entwicklung zugleich auch an diskursiven Brüchen, im Zuge derer Begrifflichkeiten wie classe, condition oder lutte, die historisch betrachtet die Identität und die politischen Forderungen der Arbeiter:innen zum Ausdruck brachten, aus der gesellschaftlichen Debatte verbannt bzw. durch ‹Modebegriffe› wie Reformen ersetzt wurden.36 Eribons Kritik am sprachlichen Umgang mit sozialer Ungleichheit, mit dem die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse neu strukturiert und die Lebenswirklichkeit der Arbeiter:innen zum Verschwinden gebracht wird, ist als Versuch zu werten, traditionelle, jedoch seiner Ansicht nach keineswegs überholte Kategorien und Muster der sozialen Wahrnehmung wie den Klassenbegriff stark zu machen. Wichtig ist hier der Bezug zur Literatur: In einer von ‹Singularitäten› dominierten literarischen Welt, in der sich die Individuen nur noch auf sich selbst beziehen, ist es Annie Ernaux, die mit ihrem literarisch-soziologisch Schreiben für Eribon eine Vorbildrolle einnimmt, weil sie die sozialen Verhältnisse beim Namen nennt und als eine der wenigen Stimmen der Erfahrungswelt der classes populaires und der sogenannten transfuges de classe Ausdruck verleiht, z. B. dem Gefühl der ‹sozialen Scham›. Die gesellschaftlichen Folgen, die sich durch die politische, soziale und kulturelle Marginalisierung der classes populaires in der französischen Provinz ergeben haben, sind im zurückliegenden Jahrzehnt nicht nur zum Gegenstand einer wachsenden literarischen Aufmerksamkeit geworden, wovon neben Eribons Retour die Texte von Édouard Louis’ (z. B. En finir avec Eddy Bellegueule) oder Nico «Ce n’est pas seulement le ‹mouvement ouvrier›, ses traditions et ses luttes qui disparurent du discours politique et intellectuel et de la scène publique, mais les ouvriers eux-mêmes, leur culture, leurs conditions de vie, leurs aspirations ... » (Eribon: Retour à Reims, S. 128). Vgl. ebda., S. 127–143. Vgl. hierzu auch Nachtwey, der von einer Aussperrung des politischen Konflikts in spätmodernen Gesellschaften spricht: «Über Expertentum, Verrechtlichung und die Konstruktion von Sachzwängen», so Nachtwey in Anlehnung an Chantal Mouffe, «wird der politische Konflikt in einen ‹postpolitischen› Konsens überführt, in dem Widersprüche und soziale Gegensätze weitgehend negiert werden» (Nachtwey: Abstiegsgesellschaft, S. 92). Ein zentrales Merkmal dieser postdemokratischen Verhältnisse sind neue Klassenstrukturen, in denen Bürger: innen «Einfluss auf politische Entscheidungen verlieren», «Arbeitnehmer zu randständigen Sozialfiguren [werden], während die Eliten gleichzeitig mehr Privilegien erhalten» (ebda. S. 91).
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las Mathieus (Leurs enfants après eux) zeugen. Im selben Zeitraum hat sich zugleich eine Soziologie der nouvelles classes populaires formiert, die sich mit der Lage dieser heterogenen, und daher bis dato weitgehend medial unsichtbaren ‹prekären Klasse› beschäftigt. Diese Untersuchungen haben unter anderem gezeigt, dass der traditionelle Graben zwischen Paris und der Provinz mittlerweile eine tiefgreifende sozioökonomische und -kulturelle Kluft zwischen den urbanen, wirtschaftlich dynamischen Räumen und jener geographischen und soziokulturellen Sphäre abseits der Metropolen ist, die der Geograph Christophe Guilluy als France périphérique bezeichnet.37 Politik, Medien und Wissenschaften, so der in Guilluys Texten erhobene Vorwurf, würden das Bild einer sozialen Schieflage zeichnen, das von stark mediatisierten Phänomenen wie der seit Jahrzehnten immer wieder hochkochenden Banlieue-Problematik dominiert wird. Guilluy zufolge führte die verbreitete Auffassung, wonach sich die soziale Frage Frankreichs in den Vorstädten entscheide, letztlich dazu, dass diejenigen ‹peripheren› Gebiete, in denen sich heutzutage die nouvelles classes populaires konzentrieren und in denen es lange Zeit keine aufsehenerregenden Proteste und Unruhen gab, weitgehend vom politischen, medialen und wissenschaftlichen Radar verschwanden und erst jetzt Aufmerksamkeit erfahren, nämlich zu einem Zeitpunkt, als die Auswirkungen dieser Nichtbeachtung sichtbar werden – sei es durch die Wahl extremer Parteien oder durch die Proteste der gilets jaunes.38 Wie Guilluy bereits einige Jahre vor den ersten Gelbwestenprotesten schrieb, entstehen jedoch in den ‹abgehängten› Gebieten der France périphérique jene «nouvelles radicalités»,39 die das Potential haben, die politische Landschaft, die Werte der Republik und den sozialen Frieden dauerhaft zu untergraben. Wohingegen, wie er argumentiert, die Banlieue-Konflikte bis heute keine soziale Bewegung hervorgebracht hätten, die das politische System grundlegend gefährde. Vielmehr habe ihre me-
Vgl. Christophe Guilluy: Fractures françaises. Paris: François Bourin 2010; Guilluy : La France périphérique. Das Bild einer zunehmenden kulturellen und sozialen Distanz zwischen den beschriebenen Sphären – der Lebenswirklichkeit der ‹einfachen› Franzosen und der urbanen ‹Eliten› – findet sich jedoch in unterschiedlichen Spielarten in der Literatur wieder: bei Eribon (Retour à Reims) im Gegensatz zwischen den Intellektuellen und den Arbeiter:innen, bei Ernaux im Vorwurf einer Lebensferne vieler ‹Expert:innen›, die die soziale Realität im Land nicht kennen würden. Annie Ernaux: Regarde les lumières mon amour. Paris: Seuil 2014, S. 12. Die vermeintliche Unsichtbarkeit der France périphérique ist, wie Berlioux/Maillard in ihrer Studie über die Probleme französischer Jugendlicher auf dem Land gezeigt haben, demographisch betrachtet ein Mehrheitsproblem: zwei Drittel der Jugendlichen wohnen in den ländlichen Regionen, die öfter von Arbeitslosigkeit, Strukturwandel und schlechter Verkehrsanbindung betroffen sind (vgl. Salomé Berlioux/Erkki Maillard: Les invisibles de la République. Paris: Robert Laffont 2019). Guilluy: Fractures françaises, S. 11.
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diale Omnipräsenz dazu geführt, dass die Tragweite der sozialen Frage aus dem Blick geraten und diese zu einer ethnischen Frage umgedeutet worden sei. Was hier von Guilluy beklagt wird, ist die Transformation der question sociale in eine, wie es heißt, question sociétale, in der sich die Analyse sozialer Ungleichheiten weg vom Kollektiven hin zum Individuellen, von Klassenfragen hin zu begrenzten Problembereichen wie der Banlieue bewegt und sich vor allem auf Minderheitenproblematiken fokussiert. Diese Akzentverschiebung führe zu einer Ausblendung der France périphérique und der classes populaires in den gesellschaftlichen Diskursen: La réalité sociale d’un électorat ouvrier et populaire s’efface alors des discours, l’immigré remplaçant peu à peu la figure de l’ouvrier. [...] L’attention de plus en plus grande pour les banlieues et les minorités ira ainsi de pair avec une indifférence croissante pour la classe ouvrière en particulier et, plus massivement encore, pour les couches populaires des espaces périurbains et ruraux. Ce basculement du social vers le sociétal est corroboré par l’omniprésence du thème des banlieues et/ou de la question ethnique dans tous les discours politiques.40
Derartige vermeintlich simplifizierende Argumentationsweisen sind politisch natürlich brisant, zumal sie eine Benachteiligung der ‹alteingesessenen› Franzosen gegenüber Einwanderern suggerieren, die immer wieder auch von der extremen Rechten skandalisiert wird. Wenngleich sich hier der Vorwurf des Populismus aufdrängt, so geht es in der beschriebenen Debatte doch grundsätzlich darum, die vielfältigen Ausprägungen sowie die Instrumentalisierungen der question sociale offenzulegen. Man könnte hier die von Stuart Hall aufgeworfene Frage nach den Ursachen der Faszination von ‹Differenz› bemühen, wenn es, wie im gegebenen Zusammenhang, um die Repräsentation der sozialen Frage geht:41 Wie Guilluy argumentiert, werde allein schon rhetorisch – etwa durch die stigmatisierende Formel des «ghetto à la française»42 als Bezeichnung für die Banlieues, die auch jenseits der politischen Rechten zu finden ist und die den Blick auf das vermeintlich ‹Heterotope› und ‹Andere› (Einwanderer:innen, Muslim:innen, Asylsuchende etc.) lenkt – verschleiert, dass die soziale Frage trotz aller Unterschiede letztlich eine allgemeinere sei.43 Begriffe wie «ghetto à la française» suggerieren, dass sich diese Frage heutzutage scheinbar kaum mehr in Kategorien des Gewöhnlichen, jenseits ethnischer, kultureller Implikationen
Ebda. S. 34. Stuart Hall: The Spectacle of the ‹Other›. In: ders. (Hg.): Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. London/Thousand Oaks u. a.: Sage 1997, S. 223–290. Guilluy 2010, S. 17. Umgekehrt greifen diese Mechanismen auch dort, wo durch den politischen, medialen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch vermeintlich existierende Klassendifferenzen zum Verschwinden gebracht werden sollen (s. hierzu erneut Eribon: Retour à Reims, S. 127–143).
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repräsentieren lässt, die den politischen und medialen Diskurs bestimmen.44 Solche Mechanismen der Alteritätskonstruktion greifen letztlich auch dort, wo, wie in der medialen Repräsentation der Gelbwestenproteste zu sehen, die gewalttätigen Elemente stark in den Vordergrund rücken, um die Bewegung zu diskreditieren.45 Wenn, wie zumeist in der politischen Philosophie argumentiert wird,46 bürgerlicher Ungehorsam seine Legitimität verspielt, sobald er in Gewalt gegen Personen oder Dinge umschlägt, so gibt es Louis zufolge nicht nur unterschiedliche Formen von Gewalt, sondern, wie auch Vuillard in 14 juillet zeigt, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe in Bezug darauf, welches Leben und welches Eigentum verletzt wird.47 Soziale Konflikte sind hier jedoch nicht nur in der Form von Alteritätserscheinungen ausgelagert. Sie offenbaren sich darüber hinaus als Konflikte von Deutungsmustern, in denen vermeintlich autorisierte Stimmen anderen gegenüberstehen, die, um es mit Bourdieu zu formulieren, weniger kulturelles und symbolisches Kapital haben. Man denke diesbezüglich an das von François Bégaudeau, Arno Bertina und Oliver Rohe (2007) verfasste Reportagebuch Une année en France – eine literarische Kartographie des konfliktreichen Jahres 2005, die, was die Darstellung der banlieue-Krawalle angeht, mit einer Gegenüberstellung von Stimmen arbeitet: den ‹autoritätsbehafteten› paroles, z. B. von Philosophen wie Alain Finkielkraut, und den vermeintlich skandalösen Äußerungen von Jugendlichen aus den Vorstädten. Die ‹Ungleichheit› der Rede verweist hier auf herrschende, ungleiche Diskursverhältnisse, die über die Legitimität der Auffassungen und über die Deutungshoheit der sozialen Lage entscheiden.
Genau dies versucht, wie unten zu sehen sein wird, Ernaux mit Regarde les lumières mon amour (2014). Vgl. dazu Christophe Guilluy: Tout a été fait pour effacer la dimension majoritaire des gilets jaunes. In: marianne.net (08.11.2019), verfügbar unter: https://www.marianne.net/societe/christo phe-guilluy-tout-ete-fait-pour-effacer-la-dimension-majoritaire-des-gilets-jaunes (letzter Zugriff: 30.03.2020); Édouard Louis: «Chaque personne qui insultait un gilet jaune insultait mon père». In: Les Inrockuptibles (04.12.2018), verfügbar unter: https://www.lesinrocks.com/2018/12/04/livres/ac tualite/edouard-louis-chaque-personne-qui-insultait-un-gilet-jaune-insultait-mon-pere/ (letzter Zugriff: 30.08.2019). John Rawls: A Theory of Justice. Cambridge, Mass.: HUP 1971. Vgl. Louis: Chaque personne; Vuillard: 14 juillet, S. 19.
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Die Repräsentation der classes populaires in der Literatur – soziale und poetologische Hierarchien umwälzen (Annie Ernaux und Jacques Rancière) Die Frage der Repräsentationswürdigkeit des monde ordinaire entpuppt sich im gegebenen Kontext nicht nur als ein politisches, soziales und mediales Phänomen. Sie ist, wenn man sich folgende Aussage von Ernaux vor Augen hält, literarisch betrachtet auch ein inhaltliches und ästhetisches Problem: Dans les rédactions, j’essayais d’utiliser ce qui fait bien, c’est-à-dire ce qui se rapprochait de mes lectures, «tapis jonché de feuilles», etc. [...] Et comme la littérature que je connaissais ne parlait pas d’une mère qui s’endormait à table de fatigue après souper ou de repas d’inhumation où l’on chante, je jugeais qu’il ne fallait pas en parler.48
Wenn man nun doch über eine schlafende Mutter am Esstisch schreiben müsste, wie würde man das tun? Anders gefragt: Mit welchen sprachlichen und stilistischen Mitteln repräsentiert man ‹einfache› Verhältnisse? Für Ernaux selbst liegt der Schlüssel für ihre angemessene Repräsentation darin, sich formal und ästhetisch (durch das Unterlaufen von Gattungskonventionen des Romans) von den Darstellungstraditionen der ‹unteren› Schichten zu distanzieren. Während ihre Texte mit ihrer fragmentarischen, collagehaften Struktur der klassischen Form des Romans entsagen, hat sie sich im Laufe ihres Schaffens stilistisch eine deskriptive, unpersönliche Schreibweise zu eigen gemacht, die sie selbst als «écriture plate»49 bezeichnet hat. Dabei handelt es sich um eine Schreibweise, die sich außerhalb des Literarischen verortet und die condition sociale möglichst objektiv zum Ausdruck bringt. Eine Existenz wie diejenige des Vaters, der jegliche Ästhetik fernliege, dürfe, so Ernaux, nicht durch romaneske Elemente verfälscht werden: Plate parce que je décris la vie de mon père, ni avec mépris, ni avec pitié, ni à l’inverse en idéalisant. J’essaie de rester dans la ligne des faits historiques, du document. Une écriture sans jugement, sans métaphore, sans comparaison romanesque, une sorte d’écriture objective qui ne valorise ni ne dévalorise les faits racontés.50
Es geht Ernaux also nicht darum, eine neue literarische Ästhetik zu begründen. Vielmehr ist das Ziel, zu einer Schreibweise zu gelangen, die sich von den Kategorien der miserabilistischen auf der einen und der populistisch-emphatischen Tradition
Annie Ernaux, zit. n. Isabelle Charpentier: ‹Quelque part entre la littérature, la sociologie et l’histoire ... ›. In: COnTEXTES 1 (2006), verfügbar unter: DOI: https://doi.org/10.4000/contextes.74. Annie Ernaux: La place. Paris: Gallimard 1983, S. 24. Ernaux, zit. nach Charpentier: ‹Quelque part entre la littérature, la sociologie et l’histoire ... ›.
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auf der anderen Seite befreit – Kategorien, mit denen man, wie Claude Grignon und Jean-Claude Passeron (1989) gezeigt haben, die ‹unteren› Schichten in Frankreich zumeist repräsentiert hat. Zum Vergleich: In seinem Essay Le Degré zéro de l’écriture hat Roland Barthes den Begriff der «écriture blanche»51 geprägt und damit unter Verweis auf die existentialistische Literatur eines Albert Camus (z. B. L’Étranger) eine ‹transparente› Schreibweise bezeichnet, die durch eine scheinbar vollkommene Abwesenheit von Stil und Werturteil besticht. Hinzuzufügen ist, dass Ernaux hier keineswegs die alten Illusionen der vermeintlichen Transparenz von Literatur und Sprache reproduziert, sondern die literarisch konstruierte Wirklichkeit und die Rolle der Sprache immer wieder kritisch hinterfragt. So kommt sie beispielsweise in Regarde les lumières mon amour auf das Problem zu sprechen, eine, wie sie schreibt, «femme noire» angemessen darzustellen.52 Ohne die Stelle hier im Detail zu beschreiben, offenbart sie doch, dass der literarische Diskurs um die Thematik der sozialen Ungleichheit natürlich wesentlich auch von den gesellschaftlichen Debatten um die Bedeutung von race und gender bestimmt ist, die auch in den Texten Eribons und Louis’ eine wichtige Rolle spielen. Ziel ihrer Überlegungen ist es jedoch nicht, die Darstellung der Wirklichkeit nach aktuellen gesellschaftspolitischen Vorstellungen auszurichten, sondern, wie Ernaux schreibt, der Wirklichkeit und den Menschen gerecht zu werden, wie sie sich der Betrachterin (und darüber hinaus einer zumeist ‹weißen› Leserschaft) im Supermarkt bietet.53 Worum geht es bei diesen formalen und sprachlichen Entscheidungen noch? Letztlich darum, mit poetologischen und zugleich sozialen Hierarchien zu brechen, «en écrivant», wie es Ernaux in Regarde les lumières praktiziert, «de manière identique sur des ‹objets› considérés comme indignes de la littérature, par exemple les supermarchés, le RER, l’avortement, et sur d’autres, plus ‹nobles›, comme les mécanismes de mémoire, la sensation du temps, etc., et en les associant.»54 In diesem Sinne zeugt Ernaux’ Schreiben von einer Haltung, nach der sich existierende soziale Verhältnisse durch eine bestimmte Schreibweise zementieren bzw. unterlaufen lassen. Dieser Versuch, ein vermeintlich elitäres Literaturideal zu hinterfragen und einer ‹Demokratisierung der Repräsentation› Vorschub zu leisten, ist
«[...] une écriture blanche, libérée de toute servitude à un ordre marqué du langage.» Roland Barthes: Le Degré zéro de l’écriture. Paris: Seuil 1972, S. 55. Ernaux: Regarde les lumières mon amour, S. 21 f. «Non pas faire un manifeste en faveur de la diversité ethnique, seulement donner à ceux qui hantent le même espace que moi l’existence et la visibilité auxquelles ils ont droit. Donc j’écrirai ‹une femme noire›, ‹un homme asiatique›, ‹des ados arabes›, quand bon me semblera» (ebda. S. 22). Annie Ernaux: L’Écriture comme un couteau. Paris: Stock 2003, S. 81.
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in Frankreich derzeit Gegenstand konkreter literarischer Entwicklungen wie auch literatursoziologischer und -philosophischer Überlegungen. Während sich erstere z. B. mit Éric Vuillard in Verbindung bringen lassen und weiter unten noch ausführlicher behandelt werden, verbindet man letztere insbesondere mit dem Namen Jacques Rancière, der sich in zahlreichen Schriften, von denen seine Essaysammlung Le fil perdu (2014) eines der jüngeren Beispiele ist, mit dem ‹ästhetischen Regime› in der Literatur und Kunst der Moderne beschäftigt hat. Um an dieser Stelle die eingangs im Kapitel bei Ernaux aufgeworfene Frage nach der Repräsentierbarkeit des monde ordinaire in der Literatur aufzugreifen: Die Voraussetzungen für die Darstellbarkeit ‹einfacher› Verhältnisse liegen für Rancière in einer Enthierarchisierung der Repräsentation in der Literatur des 19. Jahrhunderts begründet, die mit der klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden poetologischen Unterscheidung zwischen der angeblich bedeutungsvollen Welt der höheren Schichten (der ein hohes sprachliches Register und die ‹erhabene› Gattung der Tragödie entsprechen) und der vermeintlich bedeutungslosen des ‹einfachen› Volkes (die in einem ‹niederen› Stil und der Komödie zum Ausdruck kommt) bricht. Mit dem Interesse für die lebensweltlichen Details des peuple, das bereits Auerbach in der Mimesis beschrieb, geht eine stilistische Aufwertung einher – eine neue Ernsthaftigkeit, mit der die Realität und der Alltag der ‹unteren› Schichten im realistischen Roman thematisiert werden.55 Gerade die Bedeutung dieser realistischen Dimension des monde ordinaire war und ist in der Literaturwissenschaft bis in die Gegenwart umstritten. So hat Barthes mit Blick auf die ‹Möblierung› des realistischen Romans mit Dingen – konkret geht es um ein Barometer in Gustav Flauberts Novelle Un cœur simple – von einem reinen effet de réel gesprochen. Die einzige Bedeutung dieses Elements liege, so Barthes, in der Erzeugung eines realistischen Eindrucks. Sie offenbare sich in einem reinen Verweischarakter, der darin bestehe, der Leserschaft zu signalisieren: «nous sommes le réel!»56 Realismus, so die Folgerung, ist hier eine Abwesenheit von Bedeutung. In diesem Punkt setzt nun die Kritik von Rancière an, der Barthes vorwirft, mit seiner Unterscheidung zwischen bedeutungsvollen und bedeutungslosen Elementen der literarischen Erzählung die traditionelle poetologische Hierarchie zu reproduzieren, deren Persistenz im französischen Literaturbetrieb auch Ernaux
Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke 19592, S. 480. Roland Barthes: L’effet de réel. In: Communications 11 (1968), S. 84–89, hier S. 88 (Herv. i. O.).
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immer wieder bekräftigt hat.57 Die als effet de réel bezeichneten realistischen Verfahren haben in den Augen Rancières durchaus eine wichtige poetologische und auch kognitive Funktion. Diese bildet die Voraussetzung, dass zum einen bis dato Unsichtbares bzw. ‹Bedeutungsloses›, z. B. das Mobiliar einer kleinbürgerlichen Wohnung, in den Blick gerät.58 Anders gesagt: Den literarischen Dynamiken des frühen 19. Jahrhunderts ist es laut Rancière zu verdanken, dass die Lebenswelt des ‹einfachen Volkes› in einem poetologischen wie moralisch-ethischen Sinne auch repräsentationswürdig ist. Sie wird zum Bestandteil eines neuen «partage du sensible»,59 einer Neustrukturierung der sinnlich wahrnehmbaren Welt, in der sich auf einer ästhetischen Ebene die radikale Unterschiedslosigkeit (nicht die universelle Gleichheit!) sozialer Erfahrungen und Existenzen widerspiegelt.60 Es handelt sich um ein Anliegen, das Rancière zufolge einen genuinen Gegenstand der Politik verkörpert – die Aushandlung von Gemeinsamkeiten, auf denen Gemeinschaften basieren: «La politique consiste à reconfigurer le partage du sensible qui définit le commun d’une communauté, à y introduire des sujets et des objets nouveaux, à rendre visible ce qui ne l’était pas et à faire entendre comme parleurs ceux n’étaient perçus que comme animaux bruyants.»61 Eine solche Demokratisierung der Repräsentation, die Rancière in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts verortet, heißt jedoch nicht nur, dass sich der Wahrnehmungshorizont der ‹ernsten› Literatur um neue Subjekte und Objekte erweitert und die Volkmassen auf breiter Ebene Einzug in die Literatur halten. Vielmehr bedeutet sie, dass die erhabensten Geschehnisse in der Lebenswelt des peuple verankert und Erfahrungswelten in Literatur modelliert werden, in denen sich auch Menschen aus dem ‹einfachen Volk› einen Horizont aus ‹großen› Taten, Gefühlen, und Leidenschaften erschließen, der in der aristotelischen Poetik noch
«Qu’on s’étonne qu’un livre évoque le monde ordinaire en dit long sur la conception élitiste de la littérature en France», Annie Ernaux, zit. n. Isabelle Charpentier: De corps à corps. Réceptions croisées d’Annie Ernaux. In: Politix 7/27 (1994), S. 45–75, verfügbar unter: DOI: https://doi.org/ 10.3406/polix.1994.1863, hier S. 63. Wie schon Auerbach argumentiert, ist die ernste Darstellung des Alltäglichen in der Literatur die Prämisse für eine neue Form der Sozialkritik, die nicht, wie noch zu Zeiten Molières, «rein moralistisch» (Auerbach 1959, S. 348) daherkommt. Vgl. Jacques Rancière: Le partage du sensible. Esthétique et politique. Paris: La Fabrique 2000. Rancière spricht von einer «égalité indifférence», die er in der Literatur Flauberts am Werk sieht (Rancière: Le partage du sensible, S. 16–17). Diese steht für die Beseitigung sämtlicher poetologischer und ästhetischer Hierarchien zwischen den beschriebenen Figuren und Objekten. Diese lässt sich auch in der von Ernaux praktizierten écriture plate erkennen und prägt ihren beschriebenen Ansatz, vermeintlich erhabene literarische Gegenstände mit vermeintlich banalen ontologisch auf eine Stufe zu stellen. Jacques Rancière: Malaise dans l’esthétique. Paris: Galilée 2004, S. 38 f.
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einer Elite vorbehalten war. Diese Veränderungen im poetologischen Repräsentationsgefüge setzen Rancière zufolge Mechanismen der ‹Desidentifikation› von tradierten Rollenmustern und Lebensformen in Gang, was sich am Beispiel von Emma Bovary aus Flauberts gleichnamigem Roman zeigt: L’entreprise d’Emma Bovary, désireuse d’expérimenter le sens de quelques mots lus dans des livres qui n’étaient pas destinés aux filles de paysans, témoigne d’un mouvement plus large d’affirmation de la capacité des anonymes: des fils d’ouvriers ou des filles de paysans, identifiés par l’occupation d’une place définie dans la totalité sociale et destinés à la forme de vie correspondant à cette position, rompent avec ces assignation identitaire. Ils rompent avec l’univers de la vie invisible et répétitive pour mettre en œuvre des capacités et vivre des formes de vie qui ne correspondent pas à leur identité. Ces opérations de désidentification qui défont les relations ‹normales› entre identités et capacités rendent possible la révolution littéraire qui détruit les identités et les hiérarchies de l’ordre représentatif.62
Demokratisierung der Repräsentation bedeutet also, dass dargestellte Existenzen aus dem ‹einfachen› Volk ihre angestammten Identitäten, ihr soziokulturelles Umfeld und die ihnen zugewiesene Position im sozialen Gefüge verlassen können. Es handelt sich hierbei um Verschiebungen im poetologischen System, die gleichermaßen auf den Ebene der histoire und des discours wirksam werden, wenn etwa, wie in Zolas Roman L’Assomoir, eine Hochzeitsgesellschaft aus dem ‹niederen› Volk einen Besuch in den Louvre unternimmt – ein Ort der Hochkultur, an dem sie in der Logik der klassisch-literarischen Fiktion eigentlich nichts zu suchen hat – und der Argot des Volkes auf die kunstvollere Form der erlebten Rede trifft und nun im discours indirect libre wiedergegeben wird.63 Von den geschilderten Brüchen auf fiktionaler Ebene auf eine unmittelbare soziale und politische Wirkung zu schließen, würde jedoch zu kurz greifen, zumal auch die politische Repräsentationswürdigkeit des Volkes bis in das 20. Jahrhundert hinein letztlich mit ähnlichen Argumenten begründet wurde, wie sie für die klassi-
Jacques Rancière: Le fil perdu du roman. In: ders.: Le fil perdu. Essais sur la fiction moderne. Paris: La Fabrique 2014, S. 15–72, hier S. 32. Ein solches literarisches Potential der Desidentifikation versuchte sich der Autor François Bon in seiner Methodik für Schreibworkshops zunutze zu machen, die er in sozialen Brennpunkten durchgeführt hat. Seiner Ansicht nach können Menschen aus randständigen sozialen Verhältnissen das transgressive Potential unterschiedlicher Autoren, Schreibweisen und Texte, die sie selbst wahrscheinlich nie gelesen hätten, mit denen sie aber im Unterricht konfrontiert werden, dazu verwenden, ihre persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und sich dadurch ein Stück aus ihrer kulturellen Isolation zu befreien (vgl. François Bon: Tous les mots sont adultes. Méthode pour l’atelier d’écriture. Paris: Fayard 2000). Claude Grignon/Jean-Claude Passeron: Le Savant et le Populaire. Misérabilisme et populisme en sociologie et en littérature. Paris: Gallimard/Seuil 1989, S. 220 f.
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sche Tragödie galten: einem Mangel an Dignität, Größe und Bewusstsein.64 Und auch der Blick in die literarische Tradition des 19. Jahrhunderts offenbart natürlich, wie diese sozialen und emotionalen Transgressionen im realistischen Gesellschaftsroman sehr oft enden – tragisch, aber keineswegs die soziale Ordnung destabilisierend, wie auch das Beispiel Julien Sorels aus Stendhals Le Rouge et le Noir bestätigt.65 Und dennoch sind es Rancière zufolge die im 19. Jahrhundert angestoßenen Umwälzungen im poetischen Gefüge, die in der Folge ein destabilisierendes Potential auf herrschende ästhetische Ordnungen entfalten.66 Ein Roman wie Hugos Les Misérables So schrieb Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre von 1928, dass «[e]twas Totes, etwas Minderwertiges oder Wertloses, etwas Niedriges [...] nicht repräsentiert werden [kann]. Ihm fehlt die gesteigerte Art Sein, die einer Heraushebung in das öffentliche Sein, einer Existenz, fähig ist. Wörter wie Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm, Würde und Ehre suchen diese Besonderheit repräsentationsfähigen Seins zu treffen» (Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin: Duncker & Humblot 1954, S. 210). Wie Grignon/Passeron gezeigt haben, lässt sich auch in den Texten Flauberts, der Goncourts oder Zolas ein Fortbestand jener klassischen Repräsentationshierarchie konstatieren, die nach dem sozialen Status differenziert. Je niedriger der soziale Stand, desto markanter sei die Tendenz hin zur miserabilistischen Darstellung, die das Volk letztlich auf die Rolle passiver Objekte bzw. Opfer gesellschaftlicher Zustände beschränkt (vgl. Grignon/Passeron: Le Savant et le Populaire, S. 209). Auch jene naturalistischen Werke, die eine soziale Ungleichheit denunzieren und sich gemeinhin einem sozialen Fortschrittsdenken verschreiben, werden, wie Jochen Mecke just am Beispiel von Zolas L’Assomoir veranschaulicht, durch eine Logik der sozialen Distinktion bestimmt: Ihm zufolge hat der ‹divergierende› Einsatz des français populaire in Zolas Roman keine sozialemanzipatorische Funktion, sondern folgt dem naturalistischen Programm, «das Milieu, in dem die Handlung spielt, zu charakterisieren» (Jochen Mecke: Literatur hart an der Grenze: Célines Poetik der Überschreitung. In: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 263–290, hier S. 270). Der Figurendiskurs bleibt letztlich doch einfacher, während sich die Erzählerrede, so Mecke, bedeutend elaborierter präsentiert. Mecke zufolge manifestieren sich diese Veränderungen auf breitere Ebene erst bei Céline, in dessen Voyage au bout de la nuit «die Hierarchien zwischen Autor, Erzähler und Figur nicht bloß nivelliert, sondern [...] geradezu umgekehrt werden. Die Figur der Handlung befleißigt sich der Tugenden des schriftlichen, elaborierten Diskurses der Literalität, während sich Erzähler und Autor den Prinzipien der Oralität verpflichtet zu haben scheinen. Mit dieser Umkehrung der Hierarchie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit überschreitet Céline jedoch auch jene Grenzen, welche zu den fundamentalen Differenzmerkmalen des literarischen Diskurses gehören» (Mecke 2008, S. 274). Diese ästhetischen Umkehrungen haben nach Ansicht Meckes auch eine politische Relevanz: «Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Célines Ästhetik eine politische Dimension hat, denn die von ihm vollzogene doppelte Transgression verstößt nicht nur gegen die Gesetze von Schriftlichkeit und Literatur, überschreitet nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern kündigt überhaupt einer auf ästhetischen Urteilen beruhenden sozialen Hierarchie die Gefolgschaft auf» (ebda. S. 278). Wenngleich der kulturelle und künstlerische Effekt dieser Transgressionen außer Frage steht und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts beeinflusst, ist ihre politische und soziale Wirkung dennoch nicht zu überschätzen: Soziale Gegensätze wurden und werden, wie man seit Bourdieus Untersuchungen zur sozialen und kulturellen Bedeutung des Geschmacks weiß, immer auch auf der Ebene der Ästhetik verhandelt (vgl. Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Minuit 1979).
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kann in diesem Zusammenhang als Beispiel einer engagierten littérature populaire gelten, die, wie Didi-Huberman schreibt, ihre Wirkung über den (bürgerlichen) Adressaten- und Rezipientenkreis hinaus im breiten Volk entfaltet, wo sie – abgekoppelt von der konkreten Lektüre – nicht primär als ästhetischer, sondern als politischer Gegenstand rezipiert wird und eine identifikatorisch-emanzipatorische Bedeutung gewinnt: Les Misérables, une fois publiés et largement diffusés, deviendront quelque chose comme un objet politique à part entière, une parole désormais assumée par le peuple bien au-delà de la seule population des lecteurs effectifs (c’est ainsi que Gavroche ou Cosette, par-delà des noms de personnages fictifs, sont devenus de véritables types sociaux.) Telle serait l’essentielle fonction politique du lyrisme poétique: il invente une beauté du peuple dans laquelle les peuples, à un moment, décideront – ou pas – de se reconnaître.67
Trotz der vermeintlichen Ambivalenz mit der das ‹einfache Volk› im Assommoir gezeichnet wird, steht auch für Grignon/Passeron fest: «Et pourtant L’Assommoir ‹fait peuple› et ‹sonne peuple›»68 – und zwar deshalb, weil sich Zola in den Augen der Leserschaft scheinbar die Sprache und die Wahrnehmungen des peuple zu eigen macht und damit in eine Rolle als ‹glaubwürdiger› Repräsentant des Volkes hineinschlüpft. Wenn nun also das ‹einfache› Volk, wie zuvor geschildert, bei Flaubert, Zola und Co. in die ernsthafte Literatur hineingeholt wird, so geht es – um den Bogen zurück in die Gegenwart zu schlagen – für Ernaux darum, es durch den Verzicht auf jegliche Form von (miserabilistischer oder populistischer) Ästhetik, auf ausschmückende Details, effets de réel etc., aus den ‹Fesseln› der traditionellen, ‹bürgerlichen› Repräsentation zu befreien.
Historische Ungleichheiten durch die Literatur bekämpfen – Éric Vuillards 14 juillet Wenn Rancière davon spricht, dass sich das ‹einfache› Volk in der Literatur des 19. Jahrhunderts ein Spektrum an heroischen Handlungsmöglichkeiten und Emotionen erschließt, das traditionellerweise den höheren sozialen Schichten vorbehalten war, so lassen sich diese Veränderungen auf den ersten Blick auch im Bereich anderer Diskurse und Felder gesellschaftlicher Selbstinszenierungen kon-
Georges Didi-Huberman: Peuples exposés, peuples figurants. Paris: Minuit 2012, S. 127. Grignon/Passeron: Le Savant et le Populaire, S. 220.
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statieren, allen voran in der Historiographie des 19. Jahrhunderts. Dass die neue politische Bedeutung des Volkes als Träger der Staatsgewalt eine neue Rolle und Sichtbarkeit erforderte, in der es als handelndes Subjekt in Erscheinung trat und sich aus dem Schatten der ‹großen Männer› löste – diese Einsicht hatte schon die Politiker, Philosophen und Historiographen in der Ära der Französischen Revolution beschäftigt.69 Wenngleich in der revolutionären und postrevolutionären Ära erhebliche Anstrengungen einer ästhetischen und narrativen Figurierung des Volkes als historischer Akteuer unternommen wurden – man denke an Eugène Delacroix’ Revolutionsgemälde La Liberté guidant le peuple (1830) oder an die erwähnte Geschichtsschreibung Jules Michelets –, so erwiesen sich die Bemühungen bei genauerem Hinsehen doch als nicht eingelöste Versprechen.70 So lautet eine zentrale These, die Éric Vuillards Erzählung vom Ausbruch der Französischen Revolution (14 juillet) zugrunde liegt. Dieser Umstand, so Vuillard, sei der Tatsache geschuldet, dass nahezu alle historischen Darstellungen der Revolution aus der Feder sogenannter notables stammten, die ihren eigenen Stellenwert in der Revolution nicht selten überhöht hätten. Die Bedeutung des peuple werde daher in den historischen Darstellungen der Revolution, selbst bei Michelet, minimiert oder verfälscht.71 Das Markante an 14 juillet ist nun, dass Vuillard versucht, die Erstürmung der Bastille konsequent aus der Perspektive des ‹einfachen› Volkes zu erzählen, das kaum schriftliche Zeugnisse hinterlassen hat. Um – einem historiographischen Ansatz Walter Benjamins folgend – das «Gedächtnis der Namenlosen zu ehren»,72 müsse man daher nach den spärlich vorhandenen Augenzeugenberichten der ‹einfachen› Menschen suchen. Ziel sei es, der Rolle der Masse gerecht zu werden und den am Aufstand vom 14. Juli beteiligten Menschen «ein Gesicht zu geben».73
Vgl. Dirk Hoeges: Der vergessene Rest: Tocqueville, Chateaubriand und der Subjektwechsel in der französischen Geschichtsschreibung. In: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 287–310. Der ‹Imperativ der Gleichheit› sorgte zumeist dafür, dass die Volksmassen in der revolutionären Malerei und Historiographie eine bisweilen allegorisch stilisierte, zumeist jedoch abstrakte Größe blieben, die sich wie in Delacroix’ Bild schemenhaft im Hintergrund abzeichnet. Vgl. hierzu Rosanvallon (Le peuple introuvable, S. 27–31), der auf die weitgehende ‹Gesichtslosigkeit› des Volkes in der (post-)revolutionären Ikonographie verweist. Vgl. Vuillard: 14 juillet, S. 99–102. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [Anmerkungen und Notizen]. In.: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teilbd. 3. Hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 19903, S. 1223–1266, hier S. 1241. Éric Vuillard: Le 14 juillet est l’instant où l’on a vu pour la première fois un peuple entrer sur la scène de l’Histoire. In: France Culture (05.09.2016b), verfügbar unter: https://www.francecul ture.fr/emissions/paso-doble-le-grand-entretien-de-lactualite-culturelle/eric-vuillard-le-14-juilletest (letzter Zugriff: 03.06.2020), (Übers. v. R. L.).
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Wenn, wie Vuillard andernorts schreibt, das Volk mit Balzac, Zola und Aragon in die Literatur hineingeholt wurde, so geht es in 14 juillet darum, diesen literarischen Entwicklungen vorauszugreifen und eine Repräsentationslücke zu schließen: den Einbruch des peuple in die Geschichte und in die Politik zu schildern.74 Während die traditionelle Historiographie das Medium der ‹großen Männer› sei, so müsse gerade die Literatur die Repräsentationsform sein, in der die ‹kleinen Leute› Sichtbarkeit erlangen.75 Die extremen sozialen Gegensätze zwischen Unter- und Oberschicht der damaligen Zeit, mit denen Vuillards Revolutionsbericht beginnt und die bekanntlich ein wesentlicher Grund für den Ausbruch der Revolution waren, manifestieren sich in der offiziellen Quellenlage zu den revolutionären Geschehnissen: Während, so der Ich-Erzähler, der materielle Schaden, der dem Fabrikanten JeanBaptiste Réveillon durch den Aufstand in seiner Manufaktur Folie Titon vom 28. April 1789, dem Auftakt zur Revolution, entstanden war, polizeilich akribisch erfasst und überliefert wurde, hat man die Zahl der dabei getöteten Menschen aus dem ‹einfachen Volk› nie ermittelt.76 Ähnliches gilt für den Sturm auf die Bastille: Von den umgekommenen Revolutionären sind nur einige namentlich bekannt, wohingegen der Tod des Kommandanten der Bastille, Marquis de Launay, en détail dokumentiert ist.77 Es sei nun dieser Fokus auf den ‹Großen› der Geschichte, der die Sicht auf die Revolutionserfahrung der breiten Masse verstelle. Diese Unsichtbarkeit des peuple in den historischen Quellen ist für Vuillard Anlass, die Geschichte im Sinne Walter Benjamins ‹gegen den Strich zu bürsten›. Der historische Perspektivenwechsel führt in der Erzählung dazu, dass grands hommes wie Mirabeau, die in der Geschichtsschreibung als Protagonisten der Revolution präsentiert werden und dort folglich den Großteil des erzählerischen Raumes beanspruchen, nur en passant Erwähnung finden, während diejenigen, die für gewöhnlich die Statistenrollen bekleiden – Menschen aus dem ‹einfachen› Volk – zu den Hauptfiguren des Geschehens werden.78
«Balzac, Zola ou Aragon, pour prendre la littérature française, ont fait pénétrer le grand nombre dans le roman. Le 14 juillet est le jour où ce grand nombre est entré dans l’histoire. Il était donc important de le raconter du point de vue de ceux qui l’ont fait, d’écrire cette intrusion du peuple de Paris dans la vie politique, qui prélude à son irruption dans la littérature sous la figure de Julien Sorel» (Éric Vuillard: Il n’est pas illusoire d’espérer. In: Les Lettres françaises 141 (2016c), S. ii, verfügbar unter: http://www.les-lettres-francaises.fr/wp-content/uploads/2016/10/LF141.pdf (letzter Zugriff: 30.03.2020). Vgl. Vuillard: 14 juillet, S. 33. Vgl. ebda., S. 19. Vgl. ebda., S. 183–185. Vgl. ebda., S. 156 f.
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Wie lässt sich nun die Präsenz des ‹vergessenen Rests› konkret nachweisen? Breiten Raum nimmt in der Erzählung zunächst die Darstellung physischer Körperlichkeit ein, z. B. durch seitenlange Beschreibungen getöteter Revolutionäre, deren Gesichtszüge, Physiognomie und Kleidung z. T. minutiös geschildert werden.79 Beim Versuch, die vermeintliche Anonymität der Aufständischen aus dem Volk zu hinterfragen, orientiert sich der Erzähler an jenem spärlichen Bestand aus Aufzeichnungen, Protokollen und Berichten, in denen die Anwesenheit des peuple bezeugt ist, so beispielsweise an einer «lückenhaften Liste», um den vor der Bastille zusammenströmenden Menschen eine Biographie zu geben – und sei es mangels Informationen auch nur durch die seitenlange alphabetische Erwähnung von Namen, Beruf oder Herkunftsort: «Une mauvaise liste, dressée plus tard, permet déjà d’affirmer ceci. Ce jour-là, à la Bastille, il y a Adam, né en Côte-d’Or, il y a Aumassip, marchand de bestiaux [...].»80 Dabei geht es auch darum, der Rolle der Frauen, deren Abwesenheit in den Quellen noch weit frappierender ist, gerecht zu werden. Das revolutionäre Volk, so der Tenor der Erzählung, ist kein Abstraktum, sondern eine Realität aus Fleisch und Blut, die vor der Bastille eine konkrete – physische wie politische – Gestalt annimmt: «et ce jour-là, c’est en chair et en os qu’ils étaient à la Bastille. Oui, il y avait Pinon, le bottier, Paul, le médecin, et Pinson, et Pinson, et Potron, et Pitelle [...].»81 Durch die stakkatoartige, rhythmische Aufzählung und den spielerischen Gebrauch rhetorischer Figuren (Alliterationen, Polysyndeta, Parallelismen) nimmt die historische Quelle und mit ihr die Repräsentation des Volkes selbst einen (volks-)poetischen Charakter an. Die Lücken der Historiographie werden dabei nicht zuletzt auch durch die Imaginationskraft der Fiktion geschlossen, in der die verzeichneten Biographien Leben gewinnen. Aus der versammelten Menge werden immer wieder einzelne Figuren fokussiert, die handelnd in Erscheinung treten – und wenn es nur durch ein irgendwo erwähntes Besorgen von Brettern ist. Der (Makro-)Mythos der Revolution wird hier auf eine Perspektive kleinster (Mikro-)Handlungen heruntergebrochen, die in der traditionellen Geschichtsschreibung als vermeintliche Banalitäten kaum Erwähnung finden, sich bei Vuillard jedoch als die wahren heroischen Taten entpuppen.
Vgl. Vuillard: 14 juillet, S. 19–28. Ebda. S. 84. Ebda. S. 86 f.
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Anstatt eines Fazits: Auf der Suche nach der verlorenen parole des Volkes – eine literarische, soziologische und gesamtgesellschaftliche Herausforderung Vuillards Version einer anderen Geschichte vom Ausbruch der Revolution versteht sich nicht nur als historischer oder historiographischer Beitrag, sondern nimmt explizit die sozialen und politischen Verhältnisse der Gegenwart ins Visier. So hat Éric Vuillard sein literarisches Engagement denn auch mit der aktuellen gesellschaftlichen Krise begründet, in der man sich, so der Autor, «auf der Suche nach einem Volk befindet» und ein allgemeiner Wunsch nach mehr Freiheit und Gleichheit besteht.82 Da die gesellschaftlichen Freiheiten jedoch zunehmend durch autoritäre Entwicklungen und Eingriffe von oben beschränkt werden, macht sich folglich ein kollektives Gefühl der Ohnmacht breit macht, auf das 14 juillet in überspitzter, ja populistisch anmutender Manier mit einem revolutionären Appell reagiert, die Paläste der Mächtigen zu stürmen und alles aus dem Fenster zu werfen, was (wie Gesetzte, Dekrete etc.) die Freiheit eingrenzt.83 Die Rückbesinnung auf die revolutionäre Kraft und Tradition des Volkes soll im Sinne von empowering narratives dessen Rolle als gesellschaftliche und politische Kraft stärken. Diese von einem emanzipatorischen Gestus bestimmte Sichtweise auf das Volk zieht ihre Notwendigkeit aus der Beobachtung, nach der der Volksbegriff in den öffentlichen Diskursen heutzutage eher als regressive, ja reaktionäre, denn als gesellschaftlich progressive Größe wahrgenommen wird.84 Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Krise Frankreichs und der ausgetragenen Dispute, wer oder was das Volk ist, wer dazugehört und wer nicht, kann Vuillards Text als Beispiel für ein neues politisches Engagement der Literatur gelten, die nicht einfach nur den Weg zurück zur Wirklichkeit sucht, wie es die Rede vom retour au réel suggeriert, sondern sich in einer gesellschafts(re)konstituierenden, d. h. insbesondere auch sinnstiftenden Rolle sieht. Die erwähnten literarischen Texte begreifen sich dabei als ein Korrektiv politischer, wissenschaftlicher
Vuillard: Le 14 juillet est l’instant. In dieser Hinsicht zeigt 14 juillet, dass sich die sozialen und politischen Rhetoriken und damit auch Grundzüge der sozialen Frage damals wie heute auf verblüffende Weise ähneln – beispielweise wenn es um Lohnverzicht, Preissteigerungen von Lebensmitteln und Kürzungen im Sozialwesen geht und insbesondere von den ‹unteren› Schichten gefordert wird, den ‹Gürtel enger zu schnallen› (vgl. ebda. 14 juillet, S. 10). Ebda. S. 200. Vgl. Alain Badiou/Pierre Bourdieu u. a. (Hg.): Was ist ein Volk? Übers. v. Richard SteuerBoulard. Hamburg: Laika 2017.
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und medialer Diskurse, indem sie vor allem jenem Reservoir an Erfahrungen, Sichtweisen und Stimmen nachspüren, denen es, so der erwähnte Vorwurf an politischer, kultureller und medialer Repräsentation mangelt. Vielfach zielen sie nicht nur auf die klassischen Ränder, sondern gewissermaßen in die (untere) Mitte der Gesellschaft und beschäftigen sich mit den alten und neuen classes populaires, die zu den Verlierern des sozioökonomischen Wandels gezählt werden und deren Probleme, wie die Gelbwesten argumentieren, in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum politische und öffentliche Aufmerksamkeit erfahren haben. Derartige Bestrebungen, die Stimmen und Erfahrungen des peuple d’en bas sichtbar zu machen, um einer politischen und sozialen, epistemologischen und identitären Krise der Gesellschaft zu begegnen, haben in Frankreich seit geraumer Zeit Konjunktur. So sind gerade in der jüngeren Vergangenheit vielfältige literarische, wissenschaftliche wie zivilgesellschaftliche Formen und Initiativen entstanden, die von der Einsicht getragen werden, dass es neben politischem Engagement zur Überwindung der Krise zugleich erhöhter erzählerischer Anstrengungen und, so diffus der Begriff auch scheint, demokratischer Formen der Repräsentation bedarf, um Wissen über eine Gesellschaft im Wandel zu erzeugen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.85 Bevor wir uns abschließend kurz diesen Formen zuwenden, sei ergänzt, dass sich auch Vuillards Engagement in eine lange Traditionslinie einordnet, in der politische und soziale, wissenschaftliche und kulturelle Felder und Diskurse zusammenwirken. Neben den erwähnten historiographischen Bemühungen zur Stärkung der Sichtbarkeit des peuple im zeitlichen Kontext der Französischen Revolution, neben dem im 19. Jahrhundert aufstrebenden Feld der enquêtes sociales, in dem die soziale Lage der Arbeiterschaft beschrieben wird, und neben den erwähnten Formen einer ‹poetischen› Selbstdarstellung der Arbeiter:innen in Chansons, Gedichten und Zeitschriften fällt darunter beispielsweise auch die Strömung der littérature prolétarienne im beginnenden 20. Jahrhundert. Als eine von Arbeitern produzierte Literatur sollte sich diese von den romans populistes abgrenzen, in denen Vertreter der Bourgeoisie über die Lebenswelt der ‹einfachen› Menschen schrieben. Diesen literarischen Demokratisierungsbestrebungen entsprachen, wie dargestellt, nicht nur der Einbruch des Volkes und seiner Lebenswelt in die ‹ernste› Literatur, sondern auch grundsätzliche Verschiebungen im poetologischen und ästhetischen Repräsentationsgefüge, in denen das Volk zwar noch vielfach auf die Rolle des Objekts eines bürgerlich-naturalistischen Blicks reduziert war, sich auf fiktionaler Ebene jedoch zugleich neue Handlungsspielräume und neue Ausdrucksweisen erschloss.
Vgl. hierzu Rosanvallon: Le parlement des invisibles.
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Trotz des verstärkten Bemühens um eine mehr oder weniger (selbst-)bestimmte Repräsentation der classes populaires blieben im frühen 20. Jahrhundert der Objektstatus und der beschränkte Zugang zu politischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Repräsentation für die unteren Schichten prägende Diskussionsgegenstände einer politischen Gesellschaftstheorie, die sich als sozial progressiv verstand. Zu nennen ist hier in erster Linie Antonio Gramscis Subalternitätskonzept. Dessen Frage nach den klassenbedingten, limitierten Artikulationsmöglichkeiten und den historischen Ursachen für die eingeschränkte politische Selbstständigkeit der classes populaires86 wurde im Rahmen der Subaltern Studies, und hier vor allem von Gayatri Chakravorty Spivak (Can the Subaltern Speak?), in einen postkolonialen und feministischen Kontext transferiert.87 Bis heute dient das Konzept als eine der zentralen Referenzfolien, um die politischen, kulturellen und diskursiven Machtverhältnisse zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt, zwischen dem Westen und seinen ehemaligen Kolonien bzw. zwischen Zentrum und Peripherie zu beschreiben. Die Frage nach den diskursiven Schranken, die die Ausdrucksmöglichkeiten und den gesellschaftlichen Status der Subalternen konditionieren, avancierte in den meisten globalisierten, von Einwanderung geprägten Staaten zu einem Kernthema, das – nun auch verstärkt auf nationaler Ebene – die Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit verhandelt und sich dabei vor allem auf den Zugang zu politischer, sozialer und kultureller Repräsentation der ‹sichtbaren› oder ‹unsichtbaren› Minderheiten fokussiert, wie die eingangs erwähnten Diskussionen um die Problematik der kulturellen Aneignung zeigen. In der zeitgenössischen Krise der Repräsentation drängt mit Texten wie 14 juillet nun wieder ein literarischer Subalternitätsdiskurs in den Vordergrund, der auf der einen Seite stärker die klassenbedingten Ungleichheiten in der Verfügbarkeit von politischen und kulturellen Ressourcen der Repräsentation in den Blick nimmt.88 Auf der anderen manifestiert sich – als ein Erbe des (Post-)Strukturalismus – zugleich eine starke Tendenz, neben den politischen, sozialen und kulturel-
Vgl. Antonio Gramsci: Ai margini della storia. Storia dei gruppi sociali subalterni [= Quaderno 25 (XXIII)]. In: ders.: Quaderni del carcere, Bd. 3. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino: Einaudi 1975, S. 2277–2294. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press 1988, S. 271–313. Siehe hierzu die Definition des Begriffs der sozialen Klasse bei Nachtwey, die neben ökonomischen Faktoren den Zugang zu politischer Repräsentation betont: «Die Klassenbasis der Postdemokratie wird häufig übersehen, da soziale Klassen in der öffentlichen Debatte zumeist mit bestimmten äußerlichen kulturellen Merkmalen gleichgesetzt werden. [...] Klasse ist ein relationales Konzept, das ökonomische Positionen in den Blick nimmt und danach fragt, welchen Zugang zu politischer Macht die entsprechenden Gruppen haben» (Nachtwey: Abstiegsgesellschaft, S. 93).
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len Bedingungen der öffentlichen Rede das Instrument der Sprache selbst einer fundamentalen Kritik zu unterziehen und die Sprachlosigkeit und fehlende Repräsentation der classes populaires, wie bei Ernaux der Fall, als Produkt ästhetischer und poetologischer Entscheidungen zu begreifen, in denen sich soziale und diskursive Ordnungen manifestieren. Während man das Interesse am ästhetischen Regime mit Jacques Rancière in Verbindung bringt, hat sich, um hier nur einige wegweisenden Projekte zu nennen, schon Michel Foucault in seinem unvollendeten Projekt La vie des hommes infâmes (1977) mit den historischen Diskursverhältnissen beschäftigt, die aus Menschen soziale Außenseiter machen.89 Diese Beschäftigung mit den sozialen ‹Rändern› und Heterotopien wurde ergänzt durch eine Soziologie und Literatur, die, wie erwähnt den Blick auf den Alltag der Massengesellschaft richtete,90 sowie eine Historiographie, die sich in Gestalt der Annales-Schule in Frankreich oder der in Italien entwickelten microstoria der unsichtbaren Lebenswelt des ‹einfachen› Volkes annahm.91 Wenn, wie Didi-Huberman konstatiert, die zeitgenössischen Mechanismen der medialen und politischen Repräsentation Menschen aus dem ‹einfachen› Volk zumeist als Objekte sichtbar machen,92 so verbindet sich dem wiederentdeckten Anliegen, die Sichtbarkeit der classes populaires zu stärken, in der jüngeren Vergangenheit sowie in der Gegenwart eine Reihe literarischer wie soziologischer, in jedem Fall sozial engagierter Formen und Projekte.93 Dieses überaus dynamische Feld kann freilich nicht zur Gänze dargestellt werden. An vorderster Stelle muss man hier Bourdieus Studie La misère du monde (1993) erwähnen, die, als eine soziologische Interview-Studie konzipiert, die Stimmen und sozialen Erfahrungen der classes populaires sammelt – eine Herangehensweise, die sich, um ihre Nähe zur Literatur aufzuzeigen, gezielt der polyphonen Verfahren der literarischen Moderne bedient, um, wie Bourdieu schreibt, der Perspektivengebundenheit sozialer Erfahrungen Rechnung zu tragen,94 und die seitdem in Frankreich Schule gemacht hat.95 Im Zusammenhang des sozialen Engagements der Gegenwartsliteratur wären auch die Schreibworkshops des Autors François Bon in sozialen Brennpunkten zu nennen. Die Erfahrungen dieser Form der therapeutischen Schreibarbeit z. B. mit Vgl. Michel Foucault: La vie des hommes infâmes. In: Cahiers du chemin 29 (1977), S. 12–29. Vgl. z. B. Michel de Certeau: Invention du quotidien. Paris: Gallimard 1980; Marc Augé: Un ethnologue dans le métro: Textes du XXe siècle. Paris: Hachette 1986. Vgl. dazu Emmanuel Ladurie: Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Paris: Gallimard 1975; Carlo Ginzburg: Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del Cinquecento. Torino: Einaudi 1976. Vgl. Didi-Huberman: Peuples exposés, peuples figurants, S. 11. Vgl. hierzu erneut Berlioux/Maillard: Les invisibles de la République. Vgl. Bourdieu, Pierre (Hg.): La misère du monde. Paris: Seuil 1993, S. 9 f. Vgl. Beaud/Confavreux u. a.: La France invisible.
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Häftlingen, die Bon in Erzählungen wie Prison verarbeitet hat, zielen darauf ab, die schriftliche Artikulationsfähigkeit der Marginalisierten zu stärken und den kulturellen und literarischen Diskurs um Stimmen zu bereichern, die dort für gewöhnlich fehlen.96 Während hier – der Tradition Foucaults aus La vie des hommes infâmes folgend – v. a. die gesellschaftlichen Randbereiche im Fokus sind, lässt sich zugleich – durchaus in vager Anlehnung an die Tradition der littérature prolétarienne – eine Konjunktur sogenannter écritures du travail konstatieren, in denen mehr oder weniger ‹anonyme› Arbeiter:innen sowie Angestellte ihre Arbeitswelt darstellen, die durch den ökonomischen Wandel und den Rückgang der großen Industriebetriebe an medialer Sichtbarkeit eingebüßt hat.97 Dieses Nachdenken darüber, wie man das vielfach ignorierte Reservoir an Sichtweisen und Erfahrungen des peuple erschließt und den sozialen – spezialisierten wie allgemeinen – Diskurs um die Stimmen der ‹Unsichtbaren› erweitert, liegt auch dem von Pierre Rosanvallon geleiteten kollektiven Erzählprojekt Raconter la vie (2013–2017) zugrunde, das neben Persönlichkeiten aus Literatur, Journalismus und Wissenschaft allen Bürger:innen die Möglichkeit gab, im Internet und im Rahmen einer kleinen Buchreihe Beobachtungen aus dem sozialen Alltag zu veröffentlichen.98 In der Gesamtschau sollte hier ein, wie es auf der Internetseite des Projekts hieß, «roman vrai de la société d’aujourd’hui» entstehen,99 der den Anspruch erhebt, ein Korrektiv zu den politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskursen zu bilden, die, so Rosanvallon in einem Begleitmanifest, ein oftmals verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit Frankreichs zeichnen würden.100 Mit seinem ungewöhnlichen, aber, wie Wolf Lepenies be-
Vgl. François Bon: Prison. Paris: Verdier 1997. Vgl. hierzu Grenouillet: Usines en textes. Vgl. hierzu Robert Lukenda: Erzählen, repräsentieren und dechiffrieren. Literarische «Antworten» auf gesellschaftliche Zerfallsprozesse in Frankreich. In: Teresa Hiergeist (Hg.): Parallelund Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen. Focus: Gegenwart, Bd. 4. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 77–103. www.raconterlavie.fr (letzter Zugriff 2016, mittlerweile nicht mehr verfügbar). In einer parallel herausgegebenen Buchreihe ist auch Ernaux’ Text Regarde les lumières erschienen. Das Projekt wurde 2017 unter die Trägerschaft der Gewerkschaft CFDT gestellt und mittlerweile beendet. Vgl. Rosanvallon: Le parlement des invisibles, S. 11; Politische, soziale und diskursive Unsichtbarkeit ist für Rosanvallon ein Problem, das zwar in besonderem Maße die sozial benachteiligten Schichten betrifft, sich im Grunde jedoch durch die gesamte Gesellschaft zieht. Da sich diese immer weiter singularisiere, rückten neben der condition sociale zunehmend persönliche Umstände und Erfahrungen in den Vordergrund, wenn es um die Analyse zeitgenössischer Formen und Ursachen sozialer Ungleichheiten gehe (vgl. Rosanvallon: Le parlement des invisibles, S. 20–22). Die erzählerische Artikulation einzelner sozialer Erfahrungen könne in dieser Hinsicht einen Beitrag dazu leisten, diese als soziale Fragen zu konstituieren (vgl. ebda., S. 26). Die zweifellos interessante und heikle Frage nach den Eingriffen in die parole der an solchen Projekten teilnehmenden Personen,
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merkt, ‹typisch› französischen Ansatz, «den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft mit Hilfe der Literatur zu stärken»,101 versteht sich Raconter la vie als eine Reaktion auf die gegenwärtige Krise, in der fieberhaft nach neuen Impulsen für eine politische und gesellschaftliche Teilhabe breiterer Schichten gesucht wird. Wenngleich die Idee, dass Literatur und Kunst idealerweise den sozial existierenden Ungleichheiten entgegenwirken und zur Herstellung von Konsens (z. B. in ästhetischen Fragen) beitragen können, zu den gescheiterten Utopien von Aufklärung und Moderne zu zählen ist,102 so scheint genau dieses demokratische, kohäsionsfördernde Potential heute wieder verstärkt gefragt zu sein. In jedem Fall muss man die behandelten Texte und Debatten als Beleg dafür nehmen, dass in Frankreich derzeit intensiv um die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Literatur gerungen wird. Diese gemeinhin idealistische, historisch betrachtet phasenweise auch ganz konkrete Bedeutung der Literatur erklärt jedoch, dass nicht nur Literat:innen, sondern auch anerkannte Politologen und Historiker wie Pierre Rosanvallon mit Raconter la vie auf literarisches (bzw. erzählerisches) Engagement zurückgreifen, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken – ein Ansatz, der für den deutschsprachigen Raum aus historischen Gründen ungewöhnlich und politisch heikel ist. Auch den Anspruch, die Gesellschaft müsse in ihrer sozialen Bandbreite nicht nur in der Politik, sondern auch in der Literatur repräsentiert sein, würde man hierzulande kaum erheben – zumindest nicht in dieser Vehemenz und Vielstimmigkeit, wie es derzeit in Frankreich der Fall ist.
die Bourdieu in La misère du monde thematisiert und die ein soziales und diskursives Machtgefälle zwischen den beteiligten Seiten offenbart, lassen wir in diesem Abriss beiseite. Zur Problematik und Ambivalenz solcher Formen des Selbstsprechens vgl. das abschließende Kap. Comprendre in Bourdieu 1993, insbes. S. 920–922. Vgl. Wolf Lepenies: Wahre Romane zur Rettung der Demokratie. In: welt.de (28.01.2014), verfügbar unter: http://www.welt.de/kultur/article124314606/Wahre-Romane-zur-Rettung-der-Demo kratie.html (letzter Zugriff: 05.06.2020). Nicht verschwiegen werden soll, dass diese Suche nach der parole des Volkes auch in Film und TV deutliche Spuren hinterlassen hat. Man denke im französischen Zusammenhang an den Kinofilm Les Habitants (F 2016, Regie: Raymond Depardon), in dem Dialoge aus der ‹Provinz› gesammelt werden, oder an Doku-Formate wie Les Français (2016, France 2, Regie: Laurent Delahousse), in denen der schwierige Alltag ‹einfacher Menschen› porträtiert wird. Vgl. Yves Michaud: La crise de l’Art contemporain. Paris: PUF 1997.
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‹Die Unsichtbaren der Republik›
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Robert Lukenda
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Filmographie Les Français (F 2016, France 2, Regie: Laurent Delahousse) Les Habitants (F 2016, Regie: Raymond Depardon)
Internetquellen www.raconterlavie.fr (letzter Zugriff 2016)
Caroline Mannweiler
Soziale Ungleichheit als Lokalkolorit – zur Serie Marseille (2016–2018) Abstract: Der Beitrag zeigt, wie in der ersten europäischen Netflix-Originalproduktion Marseille soziale Ungleichheit als Teil des Lokalkolorits einer Stadt präsentiert wird, die dadurch für die Zuschauer:innen an ‹flair› gewinnt, was nicht zuletzt für die internationale Vermarktung der Serie von Vorteil ist. Ein kritischer Umgang mit sozialer Ungleichheit, wie er in vielen Realismuskonzepten explizit oder implizit gefordert ist, wird in Marseille mithin nicht angeregt. Vielmehr dienen die Figuren aus den prekären cités der Aufwertung der liberalen Sympathieträger:innen aus den etablierten Zentren der Stadt, denen durch den (höchst unplausiblen) Kontakt mit den Marginalisierten ein attraktiver non-konformistischer ‹touch› verliehen wird. Die existentiellen Bedrohungen, denen die marginalisierten Figuren ausgesetzt sind, geraten dabei seltsam aus dem Blick. Keywords: Realismus, Liberalismus, Alteritätsindustrie, Fernsehserien Abstract: The article discusses to which extent the first European Netflix original series, Marseille, portrays social inequality as local color of the respective urban space. Due to this strategy, the city obtains a unique flair from the audience’s point of view, thus contributing notably to the international commercialization of the series. However, Marseille does not explicitly encourage a critical approach towards social inequality, even though numerous conceptions of realism would call for it. In fact, the characters inhabiting the precarious cités rather contribute to the idealization of the darlings of the public, for these, albeit residing in wealthier neighborhoods, associate with the less privileged and thus gain an appealing touch of non-conformity. At the same time, the focus shifts away from any existential crises faced by the marginalized characters. Keywords: realism, liberalism, alterity industry, TV-series
Caroline Mannweiler, Mainz https://doi.org/10.1515/9783111022369-005
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Caroline Mannweiler
Einleitung Die 2016 bis 2018 in zwei Staffeln ausgestrahlte Hochglanz-Netflix-Serie Marseille im Kontext literarischer und filmischer Bearbeitungen sozialer Ungleichheit zu behandeln, mag zunächst nicht naheliegen, da das Thema der sozialen Ungleichheit in dieser Serie gewiss nicht von zentraler Bedeutung ist. Worum es stattdessen geht, ist gar nicht so leicht festzustellen, jedenfalls spielen politische Machenschaften eine nicht unwesentliche Rolle, da die Serie um den fiktionalen Bürgermeister von Marseille Robert Taro herum aufgebaut ist, der die Stadt seit 20 Jahren regiert1 und eigentlich schon seinen Nachfolger gefunden hat, der sich aber als sein unehelicher Sohn und Rivale entpuppt. Zur Politik gesellen sich also eine Vater-Sohn-Geschichte und diverse andere Handlungsstränge, darunter die Krankheitsgeschichte Taros, der Kokain zur Schmerzbehandlung nimmt und dessen engster Vertrauter sein Arzt und Freund ist. Hierin wollte man Anklänge an die Serie Boss erkennen, die sich um einen fiktiven Bürgermeister Chicagos dreht.2 Wie zwingend diese Bezüge sind, mag hier dahingestellt bleiben; fest steht jedenfalls, dass das Thema der sozialen Ungleichheit in Marseille nicht im Mittelpunkt steht, wiewohl Drehbuchautor Dan Franck in Youtube-Kommentaren sogar Eugène Sue als Inspirationsquelle für seine Arbeit nennt und betont, intensive Recherchen in den ‹schwierigen› Vierteln Marseilles vorgenommen zu haben. Doch abgesehen davon, dass man sich zur Darstellung Marseilles naheliegendere literarische Referenzen vorstellen könnte (man denke nur an die sehr erfolgreichen Krimis Jean-Claude Izzos),3 zeugt zumindest das filmische Endergebnis nicht wirklich von diesen Bemühungen Francks, der im Übrigen im Laufe der Serie als Drehbuchautor abgelöst wurde. Auch wenn die Darstellung und Verhandlung von sozialer Ungleichheit also gewiss kein zentrales Anliegen der Serie ist, was sie als Gegenstand von Realismuskonzepten, wie am Ende der Studie ausgeführt werden soll, nur bedingt brauchbar macht, sind Aspekte sozialer Ungleichheit gleichwohl unverkennbar Teil ihrer Inszenierung. Diese Inszenierung wird im Folgenden näher unter die Lupe genommen und dabei zugleich die Frage
Diese lange Amtszeit legt natürlich Parallelen zum langjährigen Bürgermeister Marseilles Jean-Claude Gaudin nahe, der von 1995 bis 2020 Bürgermeister Marseilles war. Diese Parallelen spielen für die hier vorgenommene Analyse jedoch keine Rolle. Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass Netflix-Produktionen ein internationales Publikum anvisieren, dem keine lokalpolitischen Verhältnisse in Marseille unterstellt werden können. James Poniewozik: Le Pure Political Soap, With Mayor Depardieu. In: New York Times (11.05.2016), S. 3. Zu den in der Serie ebenfalls weitgehend ungenutzt gelassenen filmischen Referenzen zu Marseille vgl. Daniel Winkler, Daniel: Marseille! Eine Metropole im filmischen Blick. Marburg: Schüren 2013.
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aufgeworfen, ob und wie soziale Ungleichheit in einer liberalen Selbstbeschreibung von Gesellschaft verhandelt wird. Marseille als Teil einer solchen Selbstbeschreibung zu fassen, sei dabei deshalb erlaubt, weil die Serie einen eindeutigen Sympathieträger aufweist, nämlich besagten Bürgermeister Robert Taro. Gespielt von Gérard Depardieu, inkarniert dieser Bürgermeister eine liberale Haltung und Politik, für die es in Frankreich keine eigene Partei gibt (es sei denn, man möchte Macrons République en marche als solche bezeichnen, aber die gab es während der Dreharbeiten für die Serie noch gar nicht), die sich aber sehr deutlich an einigen politischen Aussagen Taros festmachen lässt: Exemplarisch sei hierfür Taros Plan erwähnt, Marseille in die «Hauptstadt des Südens» zu verwandeln und mit einem Casino und einem Yachthafen das Hafengebiet attraktiver zu gestalten: Robert Taro: La mairie défend le réaménagement du port depuis des années. On doit faire comme Shanghai. Shanghai était devenu le premier port du monde, en développant les centres d’affaires qui ont fait venir des investisseurs du monde entier. C’est ça notre boulot.4
Und im gleichen Zusammenhang versucht er gegenüber seinem Widersacher und eben zugleich unehelichen Sohn Lucas Barrès die zumindest vorgeschobenen Bedenken gegenüber ausländischen Investor:innen zu zerstreuen: Lucas Barrès: Réaménager le port comme vous le souhaitez, Monsieur le maire, c’est le livrer aux puissances étrangères, comme c’est le cas à Athènes, qui, je vous le rappelle, est sous la coupe des Chinois. Je ne veux pas que Marseille soit la victime d’un libéralisme qui la condamnerait. Moi aussi, je veux moderniser Marseille. Mais tout en restant proche de ses traditions, dont je vous le rappelle, la première, est l’indépendance. – Robert Taro: Et vous croyez sérieusement, M. Barrès, que les Chinois font peur aux Marseillais? Mais vous les prenez pour qui? On les attend, les Chinois, ils mangeront notre bouillabaisse avec leurs baguettes, et nous leur riz avec nos fourchettes. Si c’est ça le libéralisme, alors tant mieux. On formera ensemble une grande famille. On trinquera même.5
Staffel 1, Folge 1, 33:30: «Die Stadtverwaltung verteidigt die Neugestaltung des Hafens seit Jahren. Wir müssen es wie Shanghai machen. Shanghai ist zum wichtigsten Hafen der Welt geworden, indem es die die Geschäftszentren ausgebaut hat, die Investoren aus der ganzen Welt angezogen haben. Das ist unser Job» [eigene Übersetzung, auch nachfolgend]. Staffel 1, Folge 8, 06:50: «Barrès: Den Hafen so zu erneuern, wie Sie es vorhaben, Herr Bürgermeister, heißt, ihn den ausländischen Mächten auszuliefern, wie es in Athen der Fall ist, das, ich darf Sie daran erinnern, unter der Fuchtel der Chinesen steht. Ich will nicht, dass Marseille das Opfer eines Liberalismus wird, der es in den Ruin führen würde. Auch ich will Marseille modernisieren, dabei aber nahe an seinen Traditionen bleiben, deren erste, ich darf Sie daran erinnern, die Unabhängigkeit ist. – Taro: Und Sie glauben ernsthaft, M. Barrès, dass die Chinesen den Marseillern Angst machen? Was haben Sie denn für eine Meinung von den Marseillern? Wir erwarten sie, die Chinesen, sie werden unsere Bouillabaisse mit ihren Stäbchen essen und wir ihren Reis mit unseren Gabeln. Wenn das Liberalismus ist, dann umso besser. Wir werden eine große Familie bilden. Wir werden sogar miteinander anstoßen.»
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Diese Zitate spiegeln die liberale Haltung Taros in fast schon klischeehafter Deutlichkeit, inklusive ihrer ebenfalls recht eindeutigen ‹souverainistischen› und tendenziell globalisierungskritischen Gegenposition, verkörpert durch Lucas Barrès, der ideologisch allerdings recht flexibel ist. Er nimmt diese Gegenposition vor allem zur eigenen Profilierung gegenüber seinem ‹Übervater› Taro ein. Da diese jedoch keineswegs als positive Alternative zu Taro aufgebaut wird, sondern der Bürgermeister vielmehr als letzte Bastion gegenüber Barrès, aber später auch gegenüber einer dem Front national ähnelnden Partei präsentiert wird, lässt sich sagen, dass der Liberalismus in der Serie alles in allem als die sympathischste Position erscheint.
«Marketing the margins»6 Interessant ist nun, zu analysieren, welche Rolle soziale Ungleichheit in solch einer Serie einnimmt, und hier drängt sich der Begriff des Lokalkolorits auf. Dieser wirkt zwar etwas altmodisch oder, um Kapors zentrale Studie zu diesem Begriff zu zitieren, «undertheorised»,7 enthält aber doch einige zentrale Aspekte,8 die ihn für die Beschreibung Marseilles geeignet erscheinen lassen: Da ist zum einen die Einsicht, dass – einerlei, ob man annimmt, dass Lokalkolorit sich notwendigerweise auf fiktionale, künstlerische Darstellungen eines Ortes bezieht, oder nicht – dieser Ausdrucksweise ein gewisser Konstruktionscharakter innewohnt. Das heißt, das Lokalkolorit setzt sich aus mehr oder minder stereotypen Elementen zusammen, die als ‹charakteristisch› für einen Ort gelten, was den Begriff gleichzeitig attraktiv für den Tourismus macht, der ja aus Orten in gewissem Sinne konsumierbare Marken machen muss. Weiterhin ist bemerkenswert, dass die Rede über Lokalkolorit schon früh auch auf solche Phänomene bezogen wurde, die nicht auf den ersten Blick pittoresk erscheinen, aber eben doch ‹charakteristisch› anmuten, wie eben Armut, als Manifestation sozialer Ungleichheit. So führt Kapor in seinem Eintrag ‹local colour› für das Handbuch Keywords for Travel Writing Studies treffend Henry James an, der in seinen Italian Hours bemerkt: «The misery of Venice stands there for all the world to see; it is part of the
Vgl. Graham Huggan: The postcolonial exotic. Marketing the margins. London, New York: Routledge 2001 Vladimir Kapor: Local colour – a travelling concept. Oxford: Peter Lang 2009, S. 1. Vgl. ebda.
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spectacle – a thoroughgoing devotee of local colour might consistently say it is part of the pleasure.»9 Wie Henry James’ Zögern bereits andeutet, haftet diesem Genuss an solchen für das Lokalkolorit von Städten typischen Szenen von Armut – wobei der Begriff ‹Szene› hier nicht meint, dass die Armut gespielt sei, sondern dass sie von den Beobachter:innen ähnlich rezipiert wird, insofern klar ist, dass sie in diese Armut nicht eingreifen werden – ein gewisser problematischer Beigeschmack an. Dieser lässt sich wohl am treffendsten mit dem englischen Begriff liberal guilt erfassen, der häufig nicht nur ein Schuldgefühl angesichts von Armut und eigenem materiellen Wohlstand impliziert, sondern auch die Tatsache, dass dieses Schuldgefühl keineswegs als rein negative Empfindung einzuordnen ist. Nur so lassen sich Phänomene wie Armutstourismus in Form von Besuchen entsprechender Viertel oder der Erwerb von Bildkalendern mit Darstellungen städtischer Armutsviertel erklären, die im liberalen England bereits im 19. Jahrhundert Konjunktur hatten und die Gosh in ihrer Studie zu solchen Publikationen explizit mit den «pleasures of liberal guilt» assoziiert.10 Zu beobachten ist dabei, wie das Bedürfnis, sich seiner eigenen ethischen, weil empathischen Position zu versichern, in die angenehme Sphäre des Konsums überführt wird. Durchaus bemerkenswert ist nun, wie gut sich einige Facetten dieses Begriffs auch auf den nicht-britischen und sehr viel aktuelleren Kontext von Marseille übertragen lassen. So trifft etwa Ghoshs Beschreibung der eskapistischen Funktion der Armenviertel für ihre ‹liberalen› Besucher:innen ziemlich genau einen Aspekt, der auch für Marseille relevant ist: «The slums became a space of freedom from repressive bourgeois norms for those who ventured into it for philanthropy, adventure, or social and sexual experiments.»11 Konkret betrifft dies vor allem die weibliche Hauptfigur der Serie, nämlich Julia Taro, die Tochter des Bürgermeisters Taro, deren Kontakt mit den cités nicht zuletzt dem Muster des sexuellen Abenteuers folgt. Doch ehe diese Zusammenhänge näher ausgeleuchtet werden, kann festgehalten werden, dass die Begriffe ‹Lokalkolorit› und ‹liberal guilt› geeignet scheinen, eine Situation zu erfassen, in der soziale Ungleichheit ein paradox ‹attraktives› Element aufweist, das für Zuschauer:innen und Konsument:innen einen interessanten Mehrwert aufweist. Dieser Mehrwert dürfte dabei durchaus mit demjenigen vergleichbar sein, den Graham Huggan in einem postkolonialen Kontext als «Alteritätsindustrie»12 bezeichnet hat und der sich auf die Kommerzialisierung kultureller Differenzen bezieht. Was beiden
Zitiert nach Vladimir Kapor: Local colour. In: Charles Forsdick u. a. (Hg.): Keywords for Travel Writing Studies: A Critical Glossary. London/New York: Anthem Press 2019, S. 139–141, hier S. 139 f. Vgl. Thanushree Ghosh: Gifting Pain: the Pleasures of Liberal Guilt in London, A Pilgrimage and Street Life in London. In: Victorian Literature and Culture, 41/1 (2013), S. 91–123, hier S. 92. Ebda., S. 94. Huggan: The postcolonial exotic, S. 12.
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Kontexten gemein ist, ist die Tatsache, dass die Alterität jeweils so gestaltet werden muss, dass sie ausreichend anders ist, um interessant werden zu können, aber auch ausreichend vertraut und harmlos, um konsumierbar zu bleiben. Welche Folgen eine solche Prämisse für die Darstellung und Funktionalisierung sozialer Ungleichheit hat, kann an Marseille besichtigt werden. Den Grundton zeigt dabei eine Dialogpassage, in der Robert Taro im entspannten Familienkreis Folgendes äußert: Robert Taro: La grandeur de Marseille, c’est que les gens d’ici détestent qu’on parle de leur ville comme d’une ville particulière. – Mais si on en parlait comme d’une ville normale, sans l’OM, sans violence, sans la drogue, ils détesteraient.13
Abgesehen von der etwas hölzernen Qualität, die alle Dialoge in Marseille kennzeichnet, ist diese Passage inhaltlich sehr aufschlussreich, da sie in gedrängter Form darlegt, was sozusagen zur lokalen Farbe Marseilles gehört, nämlich der Fußballverein OM, Drogen und Gewalt. Nun ist natürlich zu bemerken, dass soziale Ungleichheit hier nicht explizit angesprochen ist, und, rein ökonomischfinanziell gesehen, verhilft etwa Drogenhandel ja tatsächlich zu mehr Gleichheit, da er den Beteiligten in ihrem Milieu unüblich hohe Einnahmen verschafft. Trotzdem ist die Verbindung dieser Themen mit dem Phänomen der sozialen Ungleichheit im Grunde evident und wird dies auch in der Serie, allen voran durch die Verortung dieser Themen in den sogenannten cités. Dort verknüpfen sich Drogen, Gewalt und eben Armut bzw. soziale Ungleichheit in nahezu unauflösbarer Art und Weise, wie es auch der folgende kurze Dialog zwischen Sélim, einem Bewohner der cité, und Julia, der Tochter des Bürgermeisters Taro, zeigt. Es geht dabei um einen Überfall auf einen Juwelier, den Sélim mit seinem Freund aus der cité, Eric, durchgeführt hat und von dem Julia, die nacheinander mit Eric und Sélim eine Affäre hat, nun erfährt: Julia: Pourquoi est-ce que tu fais de la merde? Pourquoi est-ce que tu fais des trucs comme ca? Sélim: Oh, Julia, j’suis né à Félix-Pyat, moi, d’accord? Si je gagne le smic, dans 30 ans, j’y suis encore. Ce qu’il faut que tu comprennes, c’est que la Cité, c’est comme les placards. Et j’ai pas envie de prendre perpet. Mais ça, tu peux pas comprendre, toi. Parce que t’es né avec une cuillère en argent dans la bouche. T’es qu’une sale petite bourgeoise. Elle le gifle.
Staffel 1, Folge 1, 30:33: «Die Größe Marseilles, das ist, dass die Leute hier es hassen, wenn man über ihre Stadt als eine besondere Stadt spricht. Aber wenn man über sie als eine normale Stadt sprechen würde, ohne OM, ohne Gewalt, ohne Drogen, würden sie es hassen.»
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Sélim: Tu ne serais pas venue avec moi si t’avais su? Julia: Je t’aurais jamais regardé.14
Félix Pyat, das ist der reale Name einer dieser berüchtigten cités, ironischerweise benannt nach dem Frühsozialisten Félix Pyat, und im Falle von Félix Pyat in Marseille handelt es sich tatsächlich um eines der ärmsten Viertel nicht nur innerhalb Marseilles, sondern ganz Frankreichs. Das heißt keineswegs, dass dort alle kriminell werden, aber es macht Sélims Begehren, dem Viertel zu entfliehen, doch mehr als nachvollziehbar. An anderer Stelle in der Serie erläutert er diesen Wunsch auch nochmals in durchaus anrührender Form, wenn er erklärt, er würde gerne in einer richtigen Wohnung, mit funktionierendem Aufzug wohnen, was darauf hinweist, dass ihm all diese Annehmlichkeiten in Felix Pyat verwehrt bleiben werden. Und sein Vergleich der cité mit einem Gefängnis – «placards» bedeutet hier so viel wie Knast, und «à perpet» meint à perpétuité also ‹lebenslänglich› – spricht wohl ebenfalls für sich, was Sélims legitimen Wunsch eines Entkommens aus seinem Viertel angeht. Aufschlussreich ist nun aber, was Julia zu diesen cités, in denen verfestigte Armut vorherrscht, an anderer Stelle in der Serie zu sagen hat, nämlich dass die cités in Marseille, anders als in vielen Städten, wo diese in die Banlieues verbannt sind, mitten in der Stadt liegen. Hierzu passt folgender Dialog Julias und ihrer Mutter Rachel, die im Café sitzen und unter anderem über Julias Idee zu einem Zeitungsartikel plaudern: Rachel: Et donc, c’est sur ça que tu veux écrire ton article, sur les cités? Julia: Ouai. Je trouve que c’est le gros problème à Marseille. Rachel: Ben, c’est un peu partout pareil, non? Julia: Non, ici, les cités, elles sont dans la ville. Et ailleurs, comme à Paris, elles sont autour. Ça change tout.15
Staffel 1, Folge 5, 25:40: «Julia: Warum baust du Scheiße? Warum machst du so ein Zeug? – Sélim: Hey, Julia, ich bin in Félix Pyat geboren, okay? Wenn ich Mindestlohn verdiene, bin ich in 30 Jahren noch hier. Was du verstehen musst, ist, die Viertel, das ist wie der Knast. Und ich will nicht lebenslänglich bekommen. Aber das, das kannst du nicht verstehen. Weil Du mit einem goldenen Löffel im Mund geboren bist. Du bist nur eine dreckige kleine Bürgerliche. [Sie ohrfeigt ihn.] – Sélim: Du wärst nicht mit mir gekommen, wenn Du es gewusst hättest? – Julia: Ich hätte Dich nie angeschaut.» Staffel 1, Folge 2, 06:10. «Rachel: Also, darüber willst du deinen Artikel schreiben, über die cités? – Julia: Yep, ich finde, das ist das große Problem in Marseille. – Rachel: Na ja, das ist doch überall ein bisschen das gleiche, oder? – Julia: Nein, hier sind die cités in der Stadt. Woanders, wie in Paris, sind sie drumherum. Das ändert alles.»
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‹Das ändert alles› Dieser recht unscheinbare Satz am Ende des Dialogs spricht bei näherer Betrachtung Bände, denn er zeigt, wie die Präsenz sozialer Ungleichheit innerhalb einer Stadt zu einer Art Qualitätsmerkmal mutiert, das die Stadt besonders ‹interessant› macht. Natürlich ändert sich nicht alles dadurch, dass benachteiligte Viertel jenseits oder diesseits eines périphérique16 situiert sind; für die Bewohner: innen dieser Viertel ändert es sogar relativ wenig, wie man an Marseille gut beobachten kann, wo keinerlei soziale Durchlässigkeit zwischen den ‹schlechten› und den ‹guten› Vierteln gegeben ist. Umso aussagekräftiger ist aber Julias Bemerkung, für die diese Präsenz der Armut innerhalb der Stadt ja einen besonderen Reiz zu haben scheint. Eine Armutsproblematik wird somit nicht alleine als soziale Problematik betrachtet, sondern als binnengesellschaftliche Alteritätsproblematik nach den Mustern der Alteritätsindustrie exotisiert, womit sie zur Attraktivität einer Stadt beiträgt.
Eine Stadt frisst ihre Kinder? Dieses Phänomen, das in dem eingangs genannten Zitat zu Drogen und Gewalt als Signum Marseilles bereits deutlich wird, lässt sich dabei sehr gut auf Figurenebene ausbuchstabieren, da auch hier ganz konkret Figuren aus der cité zur Aufwertung der Hauptfiguren aus den sozial besser gestellten Schichten dienen. Sie machen diese in gewisser Weise ‹interessanter›, was sich an verschiedenen Beispielen ausführen lässt: Da ist zunächst Eric, der Freund des bereits erwähnten Sélim, zugleich dessen partner in crime (beide rauben wie erwähnt einen Juwelier aus), der wie Sélim in der cité wohnt. Er hat, wie Sélim, eine Beziehung zu Julia, was eine höchst unrealistische Konstellation ist, aber das spielt für die Serienlogik überhaupt keine Rolle. Denn Eric dient im Grunde genommen vor allem dazu, Julia als liberale Idealfigur zu profilieren, die offen, lebensfroh, sexuell selbstbestimmt und mit einem ‹Touch› Nonkonformismus durchs Leben geht. Sie übt den liberalen Idealberuf der Journalistin aus, und es wird angedeutet, dass sie über die cités recherchieren möchte; was genau, bleibt relativ unklar, jedenfalls rekrutiert sie zu diesen Zwecken ihren Liebhaber – oder zu diesem Zeitpunkt genauer Ex-Liebhaber – Eric, der ihr Zugang zur cité und Informationen über selbige verschaffen soll. Dieser jedoch hat wenig Interesse daran, sie über sein Leben und das Soziotop, in dem er lebt, zu informieren, sondern sieht in Julia die Frau seines Lebens, die er über alles liebt. Diese Spannung, die darin besteht, dass hier Menschen aus völlig unterschiedlichen
So lautet die Kurzform für ringförmig um eine Stadt verlaufende Stadtautobahnen nach dem Vorbild des Pariser Boulevard Périphérique.
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Kontexten aufeinandertreffen und der eine dem anderen im Grunde als Untersuchungsobjekt und als Zugang zu einer ‹exotischen› im Sinne von aufregend unbekannten Welt dient, wird in der Serie in keiner Weise reflektiert. Julia weist Eric, der auf ihre Informationsbesuche mit dem Versuch körperlicher Annäherung reagiert, schroff zurück, und als er ihr bis in ihre Lebensumgebung folgt und ihr unter anderem am Eingang ihrer Zeitungsredaktion auflauert, herrscht sie ihn an: «Je veux plus te voir, Eric, tu dégages.»17 Diese doch sehr abwertende Ausdrucksweise, der man ähnliche hinzufügen könnte («Casse-toi», «tu vas te faire foutre» etc.), trägt aber nicht dazu bei, Julia als herzlose Person darzustellen, die Menschen instrumentalisiert, sondern eher dazu, Eric als Stalker zu stigmatisieren, oder, wie es Julias Vater, Robert Taro, ausdrückt, als «mytho bourré de coc». Doch damit nicht genug: Denn der «mytho bourré de coc» erfüllt zusätzlich die Funktion, Julia aufzuwerten. Neben Szenen schroffer Ablehnung gibt es solche, in denen sich Julia mit Eric ‹abgibt›, der ihr im Laufe der Serie immerhin das Leben rettet, nämlich als Julia sich in Recherchen zu Kriminalität verstrickt und am Hafen in Gefahr gerät. In einer dieser Szenen, in denen Julia sich dazu bequemt, Eric zu begegnen, immer auch vor dem Hintergrund ihrer Rechercheinteressen, findet sich der folgende bemerkenswerte Dialog, in dem Eric Julia seine Liebe gesteht, auch weil er sich in ihrer Gegenwart nicht wie üblich ‹dumm› fühlt: Eric: Avec toi j’ai pas l’impression de passer pour un con. Quand je suis avec les autres, j’ai l’impression d’avoir un QI à moins 60. Un poisson avec des belles nageoires et puis c’est tout. Julia: T’es très beau, t’es passionné, t’es romantique. Et tu as des yeux incroyables. Ça fait pas du tout de toi un poisson à moins 60. [Elle lui caresse le visage.] Eric: Moins 30? Rire Eric: Remets ta main, s’il te plait. Juila: Non, faut que j’y aille. Bisous, mon petit poisson.18
Auch hier dient der (wie so oft erschreckend schlechte) Dialog nicht zur Kritik an Julia als arrogant und unsensibel, sondern zu ihrer Aufwertung als Person, die
Staffel 1, Folge 5, 30:30: «Ich will dich nicht mehr sehen, Eric, hau ab!» Staffel 1, Folge 3, 21:30: «Eric: Mit dir habe ich nicht das Gefühl, ein Idiot zu sein. Wenn ich mit den anderen zusammen bin, habe ich das Gefühl, einen IQ von minus 60 zu haben. Ein Fisch mit schönen Flossen und das war’s. – Julia: Du bist sehr schön. Du bist leidenschaftlich. Du bist romantisch. Und du hast unglaubliche Augen. Das macht aus dir garantiert keinen Fisch mit minus 60. [Sie streichelt ihm über das Gesicht.] – Eric: Minus 30? [Lachen] Eric: Leg deine Hand wieder dahin. – Julia: Nein, ich muss gehen. Kuss, mein kleiner Fisch.»
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neben ihren vielen anderen Aktivitäten noch in der Lage ist, einen ‹pauvre pommé› (armen Nichtsnutz) aus der cité zu therapieren. Genau diese Bewertung Julias findet sich auch am Ende der Serie, als sie Lucas Barrès (als unehelicher Sohn Taros zugleich ihr Halbbruder) von ihrem Besuch des inzwischen völlig aus der Bahn geratenen Eric in der Psychiatrie berichtet: Julia: Un zombie. Bourré de médicaments, il ne me voyait même pas. Je lui avais promis d’aller le voir. Mais franchement, dans cet état, c’est au-dessus de mes forces. Lucas: C’est bien ce que tu as fait pour lui, Julia. Mais maintenant, il faut que tu prennes un peu de distance.19
Lucas lobt Julia also dafür, Eric besucht zu haben, wobei mitschwingt, dass es ihr besonders hoch anzurechnen sei, sich überhaupt diese Mühe mit einem ‹Loser› wie Eric gegeben zu haben. Dass dieser ‹Loser› ihr das Leben gerettet hat und unter anderem auch daran zugrunde geht, dass er merkt, dass dies keinen der Beteiligten zu interessieren scheint, bleibt dabei seltsam unbeachtet. Vielmehr ist man aufgefordert, Julias Aussage gegenüber Lucas, «cette ville dévore ses enfants»,20 «diese Stadt frisst ihre Kinder» auf Julia selbst sowie auf ihre Freundin Barbara zu beziehen, die diesen Satz in der vorherigen Folge gegenüber Julia äußert hat: «Julia: Tu sais, hier, Barbara m’a dit que cette ville dévorait ses enfants. Je crois qu’elle n’a pas tort. J’ai beaucoup trop souffert ici.»21 Und dass diese Sympathielenkung so funktioniert, dass man also mit «ses enfants» die privilegierteren Töchter der Stadt assoziiert, ist ein sehr bemerkenswerter Vorgang, denn dadurch bleiben die eigentlichen Opfer, also die Kinder, die die Stadt tatsächlich «gefressen» hat, seltsam stumm. Das sind neben Eric, der in der Psychiatrie endet und von dem wir nichts weiter erfahren, unter anderem Sélim, der zweite Liebhaber Julias aus der cité, der vom eifersüchtigen Eric im Affekt erstochen wird, und Ruby, die Geliebte Barbaras, die bei von Rechtsextremen eingefädelten Auseinandersetzungen nach einem Spiel von OM ums Leben kommt. Auch bei ihr haben wir es mit einer Figur zu tun, die gegenüber der zentraleren Figur Barbara sozial weniger privilegiert ist. Sie ist Erzieherin und im Staffel 2, Folge 8, 24:20: «Julia: Ein Zombie. Vollgestopft mit Medikamenten, er hat mich nicht mal gesehen. Ich hatte ihm versprochen, ihn zu besuchen. Aber ehrlich gesagt, unter diesen Umständen, das geht über meine Kräfte – Lucas: Es ist gut, was du für ihn gemacht hast, Julia. Aber jetzt musst du ein wenig Abstand gewinnen.» Dieser assoziationsreiche Satz könnte sich auf Robert Guédiguians in Marseille spielenden Film Die Stadt frisst ihre Kinder (2000) beziehen, dessen französischer Originaltitel allerdings La ville est tranquille [Die Stadt ist ruhig] lautet. Allgemein ist die Suche nach Filmzitaten in Marseille nicht sonderlich weiterführend. Staffel 2, Folge 8, 24:25: «Julia: Weißt du, gestern hat Barbara mir gesagt, dass diese Stadt ihre Kinder frisst. Ich glaube, sie hat nicht unrecht. Ich habe hier viel zu sehr gelitten.»
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Fanclub von OM aktiv; wie Sélim trägt auch sie, wenn man den Faktor ‹race› noch hinzunehmen möchte, hier einen Minoritätsmarker. Diese beiden reellen Opfer der Stadt, die durchaus als positive Figuren gezeichnet sind (Ruby ist in der Flüchtlingshilfe aktiv, Sélim schreibt rührende Gedichte, die er an seine Mutter in Algerien schickt), fallen als Identifikationsfiguren nahezu vollständig aus, weil sie den Serientod sterben und auch vorher nie über den Status von Nebenfiguren hinauskommen. Ihre Funktion liegt wie bei Eric vor allem darin, die mit ihnen in Beziehung stehenden Figuren zu profilieren. Julia erhält durch die Beziehung zu Sélim noch einen liberalen Wert der Toleranz gegenüber ‹People of Color› zugeschrieben, was ganz geschickt inszeniert wird, wenn sie inmitten von muslimischen Frauen zum Grab Sélims geht. Und in ganz ähnlicher Weise gilt diese ‹Aufwertung› für Barbara bzw. ihre Beziehung zu Ruby, wobei hier noch die Liberalität der sexuellen Orientierung hinzukommt, da Barbara nach instrumentellen Beziehungen zu Männern eine offensichtlich glücklichere Beziehung mit Ruby eingeht, deren Tod sie daher durchaus persönlich mitnimmt. So kommt sie zur Aussage «cette ville dévore ses enfants», «diese Stadt frisst ihre Kinder», die sich aber eben nicht lediglich auf Ruby bezieht, sondern primär auf das Leid Barbaras und Julias, der gegenüber sie diesen Satz äußert. Außerdem wird Rubys Tod genutzt, um weitere Figuren zu profilieren, und zwar Robert Taro, der zum Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr Bürgermeister, sondern Präsident des Fußballvereins OM geworden ist, sowie Driss, seines Zeichens Besitzer des Vereins und Lebensgefährte Julias. Während Taro der Fanclubvorsitzenden Ruby inmitten der Anhänger:innen des Clubs gedenkt und sich dabei als tapferer Kämpfer gegen Rechts feiern kann, benennt Driss eine Fankurve in ‹Rubykurve› um, was Julia als «bel hommage», also eine schöne Würdigung, bezeichnet. Genau wie im Falle von Lucas Barrès, der Julia dafür lobt, Eric besucht zu haben, finden wir also auch hier wieder ein Selbstlob innerhalb der ‹privilegierten› Schicht, die sich so ihrer sozialen Sensibilität versichert. Wobei der Fußballclub OM hierzu ideale Gelegenheit bietet, steht Fußball doch gerade für die Zusammenkunft von Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten – weshalb Robert Taro sogar so weit geht, zu behaupten, der Posten des Vereinspräsidenten sei wichtiger als derjenige des Bürgermeisters. Dass der gemeinsame samstägliche Stadionbesuch keine adäquate Antwort auf die mit sozialer Ungleichheit einhergehenden Probleme sein kann, ist evident, umso bemerkenswerter ist es aber, mit welcher Penetranz der Fußballverein als Seele der Stadt bezeichnet wird, die zu konservieren oberstes politisches Gebot ist. Auch hier dient bei genauer Betrachtung soziale Ungleichheit wieder als attraktivitätssteigernder Aspekt, mit dessen Bekämpfung sich nicht zuletzt Politiker:innen gerne schmücken.
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Um die Möglichkeiten einer positiven (im Sinne von sozial sensiblen) Selbstinszenierung liberaler Eliten zu vervollständigen, findet sich in der Serie außerdem eine kleine Binnengeschichte, in der die zweite weibliche Hauptfigur, Rachel, die Frau Robert Taros, einen kleinen Flüchtlingsjungen vor der Abschiebung rettet. Dieser lebt illegal und in ärmlichsten Verhältnissen in Marseille; die Hauptmotivation von Rachel, ihm zu helfen, entspringt aber nicht diesem Umstand, sondern viel eher ihrer Bewunderung für dessen musikalisches Talent, das sie entdeckt, als der Junge am Bahnhof auf einem öffentlichen Klavier Debussy spielt. Rachel ist selbst Cellistin, kann aber aufgrund einer Erkrankung der Hand nicht mehr spielen, sodass ihre Rettungsaktion auch ein wenig als Selbsttherapie erscheint. Das ändert nichts am Grundmuster, dass Robert Taro seine Frau, obwohl sie bei der Rettung alle möglichen Gesetze missachtet (und obwohl die beiden eigentlich gar nicht mehr zusammenleben), öffentlich für ihre humanitäre Aktion lobt und verteidigt, womit das Phänomen der moralischen Selbstbestätigung auf Seiten der liberalen Sympathieträger ein weiteres Mal anzutreffen ist. Dass sich dieses Selbstverständnis in der Serie dabei zunehmend aus der Abgrenzung zu ‹rechten› und ‹fremdenfeindlichen› Positionen speist, dürfte bereits angeklungen sein. Um dies zu illustrieren, sei eine letzte kleine Szene aus der zweiten Staffel der Serie skizziert, als der Parti Français, das Serienpendant zum Front national, der Macht in der Stadt nahegekommen ist. Die Szene zeigt eine Bettlerin mittleren Alters und mit Migrationshintergrund, die auf der Treppe des Rathauses sitzt und an der zunächst die Abgeordnete des Parti Français vorbeigeht. Diese gibt ihr kein Geld, sondern korrigiert die Orthographie auf dem Bittschild der Bettlerin und erscheint mithin als völlig unsensibles, arrogantes Ekel. Lucas Barrès hingegen, der sich politisch mehr und mehr Taro annähert, legt der Bettlerin einige Zeit später fröhlich lächelnd Geld in den Korb, was so natürlich wie heiter sympathisch wirkt. Ohne diese Szene überinterpretieren zu wollen, erkennt man doch anhand ihrer in nuce den Status der sozialen Ungleichheit in Marseille: Diese wird keineswegs völlig ausgeblendet, sie darf und soll sogar ins Bild, allerdings nicht in einer Weise, in der man sie als empörende, bedrückende und möglichst abzuschaffende Situation ansehen müsste, sondern als Element des Dekors, des ‹Lokalkolorits›, das der Stadt eine typische Farbe verleiht und den Hauptfiguren gleichzeitig erlaubt, sich als besonders offen, tolerant und nicht-stigmatisierend zu inszenieren. Dass diese Inszenierung bei gleichzeitiger Anwesenheit von intoleranten Rechtsextremen umso leichter fällt, liegt auf der Hand und legt Bezüge zur aktuellen politischen Situation in Frankreich nahe, in der die politische Debatte sich mitunter auf einen Gegensatz zwischen ‹rechts› und ‹weltoffen-liberal› zu reduzieren scheint, womit es schwierig wird, dem Problem sozialer Ungleichheit einen Ort im politischen Diskurs zuzuweisen.
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Ein relativer Erfolg Damit soll nicht behauptet sein, dass Marseille eine überzeugende Analyse gegenwärtiger politischer Verhältnisse vornimmt. Im französischen Feuilleton wurde die Serie denn auch nicht gerade gefeiert, im Gegenteil. Obwohl ein gewisser Stolz darüber herrschte, mit Marseille die erste europäische Netflix-Produktion geliefert zu haben, waren die Kritiken verheerend. Eine vertane Chance, so könnte man den Tenor vieler Kritiken zusammenfassen. International jedoch stieß die Serie auf mehr Resonanz22 und erfüllte außerdem ihren Zweck, mehr Tourist:innen nach Marseille zu locken. Insbesondere die Aufnahmen aus der Luft, die die Stadt aus einer Perspektive zeigen, die Normalsterbliche niemals einnehmen könnten, die aber natürlich beeindruckende Bilder ermöglicht, dürften das Ihrige dazu beigetragen haben. Insofern ist sowohl die Rechnung der lokalen Unterstützer:innen der Serie als auch diejenige der NetflixVerantwortlichen durchaus aufgegangen, die mit Marseille eine Reihe europäischer Netflix-Originals-Produktionen lanciert haben. Ziel ist es dabei stets, lokalen «content» mit «global appeal» zu generieren – so der JP Morgan Analyst Doug Anmuth23 –, was in den Aussagen des Netflix Chief Content Officers Ted Sarandos folgendermaßen klingt: «Marseille is an ambitious, diabolically smart fictitious exploration of local politics in one of the world’s most vibrant and fascinating cities.»24 «Diabolically smart» mag man dabei unkommentiert lassen, auffallend ist jedoch der touristische Aspekt der Stadtinszenierung, der durch die erwähnten Aufnahmen, die Marseille wirklich als ‹eye-candy› präsentieren, forciert wird. Dass soziale Ungleichheit in diesem Bild nicht zentral sein kann, leuchtet ebenfalls ein, ganz fehlen darf sie indessen nicht, trägt sie doch in der Logik der Alteritätsindustrie durchaus zur Faszination von Städten bei, macht sie insofern «vibrant and fascinating» – wenn auch nur als Lokalkolorit. Aus der Perspektive des Stadtmarketings kann man Marseille also durchaus als Erfolg werten – zeitweise zierte sogar ganz ‹hollywood-like› der Schriftzug aus der Serie einen Hügel Marseilles, das sich mehr und mehr zur Filmhauptstadt Frankreichs entwickelt, nicht zuletzt dank der überaus erfolgreichen Telenovela Plus belle la vie, aber eben auch dank des Prestigeerfolgs, Schauplatz der ersten europäischen Netflix-Produktion geworden zu sein.
Vgl. Martin Dale: Netflix Series Builds Buzz for Marseille. In: Variety (13.10.2016). Zitiert in Madeline Berg: Netflix Is About To Give You $800 Million Worth Of More Original Content. In: Forbes.com (24.10.2016). Dale 2016.
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Aus ästhetischer Perspektive lässt sich bezogen auf die Serie Marseille nur bedingt von einem Erfolg sprechen, was zu belegen jedoch Aufgabe der Kritik und nicht der hier versuchten Analyse ist.
Epilog: Bemerkungen zum Realismus Gleichwohl ließe sich Marseille vielleicht zum Anlass nehmen, so etwas wie eine Warnung auszusprechen, auf mediale Produktionen, die aus der Perspektive der Zuschauer:innen Marginales zeigen, reflexhaft mit Realismusdiskussionen zu reagieren. Denn zumindest wenn man die Geschichte des Realismusbegriffs nicht gänzlich ausblendet, liegen diesem doch stets gewisse ethische Positionierungen zugrunde, die sich nicht zuletzt in einem bestimmten Umgang mit sozialer Ungleichheit äußern. So konstatiert René Wellek in seiner Überblicksdarstellung zum Realismusbegriff unmissverständlich: Theoretisch gesehen schlösse eine völlig getreue Darstellung der Wirklichkeit jede soziale Absicht oder Propaganda aus. In genau diesem Punkt liegt der Widerspruch, die theoretische Schwierigkeit des Realismus. Vielleicht scheint uns dies heute völlig klar; aber es ist eine einfache Tatsache der Literaturgeschichte, daß der bloße Wechsel zur Darstellung der zeitgenössisch-sozialen Wirklichkeit Mitleid mit den Menschen, soziale Reform und Kritik und oft Ablehnung und Empörung gegen die Gesellschaft in sich schloß.25
Welche künstlerischen Werke diesen impliziten Anspruch des Realismus am besten einlösen, war bekanntlich stets umstritten. Doch gerade weil sie sich in der Zielsetzung einer kritischen Position einig waren, konnten etwa in der sogenannten Realismusdebatte überhaupt solch unterschiedliche ästhetische Richtungen wie sozialistischer Realismus, klassische Moderne und avantgardistische Positionen untereinander in Konflikt geraten. Marseille jedoch, so viel ist klar, ist von allen möglichen Ausformungen einer Kunst, die den so begriffenen Ansprüchen an Realismus gerecht würde, recht weit entfernt. So bietet die Serie dem Zuschauer keine Möglichkeit, sich tatsächlich mit Figuren aus unterprivilegierten Schichten zu identifizieren und den tragischen Ernst ihrer Lage wahrzunehmen (wie es Auerbachs Realismuskonzept bzgl. des 19. Jahrhunderts vorsieht), da in Marseille letztlich nur Figuren aus privilegierteren Milieus als Identifikationsfiguren fungieren. Des Weiteren lässt die Serie, wie es u. a. progressive Ästhetiken
René Wellek: Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft (1961). In: Richard Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des Literarischen Realismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 400–433, hier S. 420.
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auch Brecht’scher Prägung vom Realismus forderten, kaum Zusammenhänge, also Ursachen und Konsequenzen, sozialer Ungleichheit erkennen. Und schließlich vermeidet Marseille eine Ästhetik im Sinne Adornos, die soziale Ungleichheit zwar nicht explizit thematisiert, aber durch eine insgesamt nicht-affirmative Haltung dazu beiträgt, bestehende Zustände als überwindungswürdig darzustellen. Dass Produktionen, die solchen Realismusbegriffen eher entsprechen, nach wie vor möglich sind – und das selbst auf Netflix –, belegen Filme wie Roma (2018). Doch für Marseille wie für viele andere Produktionen scheinen Konzepte, die den Fokus auf die Vermarktung des Marginalen legen, wie dasjenige des Lokalkolorits oder der Alteritätsindustrie, in jedem Fall zutreffender als jegliche Referenzen auf Realismus. Auch wenn das die Macher:innen der Serie möglicherweise anders sehen würden.
Literaturverzeichnis Berg, Madeline: Netflix Is About To Give You $800 Million Worth Of More Original Content. In: Forbes.com (24.10.2016), verfügbar unter: https://www.forbes.com/sites/maddieberg/2016/10/ 24/netflix-is-about-to-give-you-800-million-worth-of-original-content/?sh=77f30fe33498 (letzter Zugriff: 04.06.2021). Dale, Martin: Netflix Series Builds Buzz for Marseille. In: Variety (13.10.2016), verfügbar unter: https://variety.com/2016/artisans/news/netflix-series-builds-buzz-for-marseille-1201885821/ (letzter Zugriff: 31.08.2020). Ghosh, Thanushree: Gifting Pain: the Pleasures of Liberal Guilt in London, A Pilgrimage and Street Life in London. In: Victorian Literature and Culture, 41/1 (2013), S. 91–123. Huggan, Graham: The postcolonial exotic. Marketing the margins. London/New York: Routledge 2001. Kapor, Vladimir: Local colour. In: Forsdick, Charles u. a. (Hg.): Keywords for Travel Writing Studies: A Critical Glossary. London/New York: Anthem Press 2019, S. 139–141. Kapor, Vladimir Local colour – a travelling concept. Oxford: Peter Lang 2009. Poniewozik, James: Le Pure Political Soap, With Mayor Depardieu. In: New York Times (11.05.2016), S. 3. Wellek, René: Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft (1961). In: Brinkmann, Richard (Hg.): Begriffsbestimmung des Literarischen Realismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 400–433. Winkler, Daniel: Marseille! Eine Metropole im filmischen Blick. Marburg: Schüren 2013.
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Soziale Ungleichheit (in) der Literatur Ethische Dimensionen literarischer Ästhetik Abstract: Der Beitrag untersucht die wichtigsten Etappen in der literarischen Geschichte der Thematisierung der Ungleichheit. Ausgegangen wird von frühen literarischen Formen, die die Darstellung der Ungleichheit regelmäßig durch eine Ungleichheit der Darstellung verdoppeln (Verniedlichung, komödiantische oder sentimentalische Darstellung des Volkes in der klassischen Komödie bzw. im romantischen Roman). Aus der Perspektive einer Ethik der Ästhetik werden sodann die besondere Form der Repräsentation unterer Schichten im Figuren- und Erzählerdiskurs des Naturalismus von Zola, Célines neuartige Auslotung der Ungleichheit im Roman sowie Annie Ernaux’ radikale Aufhebung der ästhetischen Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Diskurs des Romans thematisiert. Dabei wird gezeigt, dass die jeweiligen Ästhetiken eine unterschiedliche ethische Einstellung zur gesellschaftlichen Ungleichheit entwickeln. Keywords: literarische Darstellung sozialer Ungleichheit, Ethik der Ästhetik, Émile Zola, Louis-Ferdinand Céline, Annie Ernaux Abstract: The following article investigates major stages of portraying inequality throughout history. Firstly, it will be demonstrated how various early literary forms intensified the inequality depicted by means of belittling the common people as well as equipping them with comedic or sentimental features, as can be seen in classic comedies and, respectively, romantic novels. From a perspective of ethical aesthetics, specific forms of representing the lower classes will be analyzed with regard to Zola’s naturalism. Subsequently, the focus will be placed on Céline negotiating novelistic depictions of inequality as well as on Annie Ernaux radically abolishing the practice of reproducing social inequality via the novelistic discourse. It will be concluded that all of the respective approaches develop their own, unique ethical position towards social inequality. Keywords: literary depictions of social inequality, ethical aesthetics, Émile Zola, Louis-Ferdinand Céline, Annie Ernaux
Jochen Mecke, Regensburg https://doi.org/10.1515/9783111022369-006
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1 Die Wiederkehr der Ungleichheit? Soziale Ungleichheit hat Konjunktur, nicht nur in Literatur und Film, sondern auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Dies belegen unter anderem zwei neuere umfangreiche Werke aus Ökonomie und Soziologie: Am 12. September 2019 veröffentlicht Thomas Piketty unter dem Titel Capital et Idéologie seine fast 1200 Seiten umfassende empirische Studie zu Formen gesellschaftlicher Ungleichheit, die gleichzeitig auch die zentralen Ideologien behandelt, die sie legitimieren. Chaque société humaine doit justifier ses inégalités : il faut leur trouver des raisons, faute de quoi c’est l’ensemble de l’édifice politique et social qui menace de s’effondrer. Chaque époque produit ainsi un ensemble de discours et d’idéologies contradictoires visant à légitimer l’inégalité telle qu’elle existe ou devrait exister, et à décrire les règles économiques, sociales et politiques permettant de structurer l’ensemble. De cette confrontation, qui est à la fois intellectuelle, institutionnelle et politique, émergent généralement un ou plusieurs récits dominants sur lesquels s’appuient les régimes inégalitaires en place. Dans les sociétés contemporaines, il s’agit notamment du récit propriétariste, entrepreneurial et méritocratique : l’inégalité moderne est juste, car elle découle d’un processus librement choisi où chacun a les mêmes chances d’accéder au marché et à la propriété, et où chacun bénéficie spontanément des accumulations des plus riches, qui sont aussi les plus entreprenants, les plus méritants et les plus utiles. Cela nous situerait aux antipodes de l’inégalité des sociétés anciennes, qui reposait sur des disparités statutaires rigides, arbitraires et souvent despotiques.1
Allerdings haben auch diejenigen Ideologien, die Ungleichheit kritisieren und abschaffen wollen, den paradoxen Effekt, dass sie diese auf indirekte Weise insofern zementieren, als sie bis zum Eintritt der Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft für eine abwartende Haltung sorgen, die noch durch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gehorchende Abfolge der verschiedenen Phasen des Kapitalismus verstärkt wird. L’étude des différentes trajectoires historiques et des multiples bifurcations inachevées du passé est le meilleur antidote tout à la fois au conservatisme élitiste et à l’attentisme révolutionnaire du grand soir. Un tel attentisme dispense souvent de réfléchir au régime institutionnel et politique réellement émancipateur à appliquer au lendemain du grand soir, et conduit généralement à s’en remettre à un pouvoir étatique tout à la fois hypertrophié et indéfini, ce qui peut s’avérer tout aussi dangereux que la sacralisation propriétariste à laquelle on prétend s’opposer.2
Trotz ihrer diametralen Entgegensetzung stimmen konservative und marxistische Strömungen laut Piketty somit darin überein, dass sie die soziale Ungleichheit entweder, wie im Falle des meritokratischen Narrativs, als Natur oder aber, wie
Thomas Piketty: Capital et idéologie. Paris: Seuil 2019, S. 24, Hvg. J.M. Ebda., S. 33, Hvg. J.M.
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in der marxistischen Version, als eine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgende notwendige Phase der Entwicklung des Kapitalismus legitimieren bzw. in Kauf nehmen. Gleichfalls im September dieses Jahres kam die ebenfalls über 1200 Seiten starke Studie des Soziologen Bernard Lahire mit dem Titel Enfances de classe: de l’inégalité parmi les enfants heraus, deren erste Sätze die grundlegende These des Buches zur durch das Bildungssystem bedingten sozialen Ungleichheit verdeutlichen: «Les enfants vivent au même moment dans la même société, mais pas dans le même monde.»3 Aber auch jenseits soziologischer und ökonomischer Studien beschäftigen sich Faktion und Fiktion in Frankreich bereits seit geraumer Zeit intensiv mit allen Formen der Ungleichheit. Zur selben Zeit wie die Studien von Lahire und Piketty kam im September 2019 der die Zukunftschancen der Jugendlichen der Banlieue thematisierende Film La vie scolaire des Regisseurs Mehdi Idir und des Rappers Grand Corps Malade in die Kinos. Dieser Film setzt eine seit mehr als einem Jahrzehnt währende Welle von Filmen und Romanen zur sozialen Ungleichheit fort, in denen ebenfalls häufig die Schule als Herd der Ungleichheit dargestellt wird wie zum Beispiel in Laurent Cantets, Entre les murs (2008), oder Jean-Paul Lilienfelds La journée de la jupe (F 2008). Bisweilen verirrt sich die soziale Thematik der Ungleichheit auch in die Komödie, wie zum Beispiel in Riad Sattoufs Les beaux gosses (2009), Gabriel Julien Laferrières Neuilly, sa mère (2009), ganz zu schweigen von den früheren Beispielen aus den 80er oder 90er Jahren, wie etwa Étienne Chatiliez’ La vie est un long fleuve tranquille (1988) oder Mathieu Kassovitz’ La Haine (1995), einem der vielleicht wirkmächtigsten sozialen Filme des französischen Gegenwartskinos. Das gleiche gilt für die Literatur der letzten Jahre: François Bégaudeaus Entre les murs (2006), Didier Eribons Retour à Reims (2009), Shumona Sinhas Roman Assommons les pauvres (2011), Virginie Despentes’ Vernon Subutex I–III (2015–2017), Édouard Louis’ Qui a tué mon père (2018) oder den 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Leurs enfants après eux (2018) von Nicolas Mathieu. Alle diese Werke weisen darauf hin – ebenso wie das große Echo, das sie in der Presse gefunden haben –, dass die soziale Ungleichheit eines der zentralen Themen der französischen Gegenwartsliteratur ist. Allerdings zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Literaturgeschichte, dass es sich keineswegs um ein neues Phänomen, sondern vielmehr um eine lange Tradition handelt, die von der attischen Tragödie über die französische Klassik und den Naturalismus bis hin zu den populistes reicht. Aus dieser Feststellung ergeben sich zwei Fragen: Wenn Literatur soziale Ungleichheit seit jeher dargestellt
Bernard Lahire: Enfances de classe, de l’inégalité parmi les enfants. Paris: Seuil 2019, S. 482.
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hat, worin liegt dann das Spezifikum der Gegenwartsliteratur? Die zweite Frage steht damit im Zusammenhang: Wie und in welcher Form bezieht Literatur zur Ungleichheit Stellung? Betrifft diese Stellungnahme lediglich ihren Gegenstand oder auch die literarische Form selbst? Dabei sollen die Formen der Ungleichheit in einem theoretischen Licht betrachtet werden, das die ethische Dimension ästhetischer Darstellungen in den Fokus rückt.
2 Soziale Ungleichheit in der literarischen Tradition Soziale Unterschiede zwischen einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft werden von der Literatur seit ihren Anfängen ins Visier genommen. Bereits die HerrenSklaven bzw. Herren-Diener-Konstellationen im Theater und in der Epik der attischen Epoche sind als Darstellung sozialer Ungleichheit zu betrachten, selbst wenn diese nicht im Fokus des literarischen Interesses der einzelnen Werke stehen und nicht explizit thematisiert werden. So verbindet sich die Darstellung der Handlungen und der Rede von Sklav:innen im attischen Drama – wie Kelly L. Wrenhaven in ihrer Untersuchung Reconstructing the Slave: the Image of the Slave in Ancient Greece (2012) am Beispiel von Euripides’ Orestes oder Aristophanes’ Thesmophoriazusai gezeigt hat –, als unbeherrscht, ausgelassen, simpel oder gestelzt mit der Auffassung der sozialen Deklassierung der Sklav:innen.4 Die Verdoppelung der tragischen Handlungen der Herren durch die komischen Aktionen von Sklav:innen in anderen Stücken entspricht durch die Art der Darstellung der auch in der attischen Gesellschaft zu konstatierenden grundlegenden Ungleichheit zwischen den beiden Gruppen in der Konstellation des Dramas. Diese Asymmetrie wird in der französischen Klassik beibehalten und auf das Verhältnis ‹Herr und Diener› übertragen. So wird, um ein Beispiel herauszugreifen, in Molières Dom Juan (1665) die adlige Herrinnenklasse der Dom Juan, Élvire, Dom Carlos, Dom Louis und anderen hochgestellten Figuren derjenigen der durch Sganarelle, Charlotte, Mathurine oder Pierrot vertretenen Diener:innen und Bäuer:innen gegenübergestellt. Während jedoch Dom Juan selbst trotz seiner schweren Vergehen als tragische Figur auftritt und ernst genommen wird, erscheinen die Figuren der niederen Schichten durchweg als komisch, obwohl ihnen gravierendes Unrecht widerfährt. Die
Kelly L. Wrenhaven: Reconstructing the Slave: the Image of the Slave in Ancient Greece. London/New York: Bloomsbury 2013, S. 31.
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unteren Gesellschaftsschichten, die einer literarischen Darstellung an sich unwürdig sind, müssen die Eintrittskarte der Komik zahlen, um auf die Bühne zu gelangen. Das Gefälle zwischen der tragischen Darstellung der hohen Figuren und der komischen Behandlung der niedrigen Figuren verdoppelt somit die soziale Ungleichheit durch die literarische Ungleichheit ihrer Darstellung. In Dom Juan wird dies noch verstärkt durch eine Wiedergabe der sprachlichen Besonderheiten der niedrig gestellten Figuren, die diese gleich mehrfach der Lächerlichkeit preisgibt: CHARLOTTE. Nostre-dinse, Piarrot, tu t’es trouvé là bien à point. PIERROT. Parquienne, il ne s’en est pas fallu l’époisseur d’une éplinque qu’ils ne se sayant nayés tous deux. CHARLOTTE. C’est donc le coup de vent da matin qui les avait renvarsés dans la mar ? PIERROT. Aga, guien, Charlotte; je m’en vas te conter tout fin drait comme cela est venu; car, comme dit l’autre, je les ai le premier avisés, avisés le premier je les ai.5
Die Stelle zeigt deutlich, dass die Wiedergabe der sprachlichen Besonderheiten der niederen Figuren dazu dient, diese nicht nur sozial, sondern auch literarisch herabzusetzen. Molières Stücke, wie zum Beispiel Dom Juan, sind symptomatisch für die traditionelle Darstellungsform der Ungleichheit. Sie entsprechen ganz offenkundig der von Erich Auerbach untersuchten klassischen Stiltrennungsregel, nach der nur gesellschaftlich hochstehende Charaktere mit Würde im hohen, tragischen Stil porträtiert werden dürfen, während die niederen Figuren im niedrigen und komischen Stil darzustellen sind: […] alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden. […] jedes literarische Ernstnehmen der alltäglichen Berufe und Stände – Kaufleute, Handwerker, Bauern, Sklaven – der alltäglichen Schauplätze – Haus, Werkstatt, Laden, Feld – der alltäglichen Lebensgewohnheiten – Ehe, Kinder, Arbeit, Ernährung – kurzum des Volkes und seines Lebens fiel fort.6
Mit der Beachtung der Stiltrennungsregel beziehen literarische Werke allerdings auch eine bestimmte ethische Position gegenüber den sozialen Differenzen zwischen ihren Figuren. Während die Probleme der hochgestellten Figuren mit Größe
Molière: Dom Juan. In: ders.: Oeuvres Complètes, Vol II. Paris: Gallimard, Pléiade 2010 [1665], S. 859. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke 1971 [1946], S. 35. Allerdings zeigt Auerbach auch, dass die Evangelien eine Ausnahme von dieser Regel bilden, denn dort erlangen etwa arme und ungebildete Fischer sogar dann noch tragische Größe, wenn sie wie Simon Petrus in der Szene nach der Verhaftung Jesu durch den dreimaligen Verrat kläglich versagen (Auerbach 1971, S. 44).
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und Würde dargestellt werden, erscheinen die Schicksalsschläge der niedrigen Figuren unter dem umgedrehten Fernrohr der Komik als klein, unbedeutend, unwichtig und lächerlich. Die Stiltrennungsregel war immer auch eine Klassen- bzw. Ständetrennungsregel, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten unterschiedliche Gattungen zuwies: den oberen Schichten die hohen und angesehenen Gattungen wie Tragödie oder Epik, den unteren hingegen die niedrigen wie Komödie oder Satire. Die soziale Ungleichheit spiegelt sich in der literarischen Ungleichheit ihrer Darstellung. Neben der sozialen enthält die Stiltrennungsregel auch eine ethische Dimension, die der literarischen Darstellung allerdings nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist, das heißt, die sich aus der literarischen Form selbst erst ergibt. Um diese Dimension literarischer Ungleichheit näher zu fassen, ist es hilfreich, Roland Barthes’ Begriff der écriture heranzuziehen, der gleichfalls als eine literarische Kategorie zur Erfassung verschiedener Arten der Ungleichheit dienen kann. Mit diesem Begriff versuchte der noch unter marxistischem Einfluss stehende Roland Barthes in den 50er Jahren, eine Art des literarischen Engagements zu beschreiben, das nicht im Inhalt, sondern in einer sich von Sprache und Stil abgrenzenden Form eines Werkes selbst begründet liegt.7 Sprache ist für Barthes eine nicht frei wählbare, auferlegte Dimension der Formkategorie, die für Schriftsteller:innen eine Art Horizont des eigenen Schaffens darstellt, ein kollektiver Zwang, über den sie nicht hinausgehen können. Die Wahlmöglichkeiten werden darüber hinaus noch von einer zweiten, individuellen Notwendigkeit eingeschränkt, denn der persönliche Stil ist gleichfalls nicht frei wählbar, da es sich hier um den unmittelbaren Ausdruck des Temperaments handelt. Diese beiden Kategorien bilden die Horizontale und Vertikale eines Rahmens, innerhalb dessen sich die Wahl der Schriftsteller:innen überhaupt erst vollziehen kann: «L’horizon de la langue et la verticalité du style dessinent donc pour l’écrivain une nature, car il ne choisit ni l’une ni l’autre.»8 Sind parole bzw. langue als selbsttätige Formen gegeben, so erfasst écriture einen dritten Aspekt der Form als Objekt der Wahl, durch die die Schriftsteller:innen Verantwortung übernehmen und eine gesellschaftliche Bindung eingehen, die ihren Ausdruck in literaturimmanenten Zeichen findet. So wählen etwa Zola, Queneau und Céline die Sprache der unteren Schichten und gehen damit ein progressives literarisches Engagement ein, während Schriftsteller:innen, die sich des passé simple und der dritten Person Singular bedienen, sich im Rahmen des bürgerlichen Schreibens bewegen. Schreiben in diesem Sinne erfasst somit den gesellschaftlich relevanten Akt, mit dem die Schriftsteller:innen ihre Form auswählen. Ein- und demselben Schreiben verpflichtet zu sein, heißt, das gleiche Instrument
Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture. Paris: Seuil 1972 [1953], S. 14 ff. Ebda., S. 14.
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mit der gleichen Geste und in derselben gesellschaftlichen Intention zu verwenden und dadurch dieselbe Moral der Form zu vertreten.9 Bietet Roland Barthes bereits erste Ansätze zu einer theoretischen Erfassung der Ethik literarischer Formen, die klar im Rahmen der relativen Autonomie der modernen Literatur angesiedelt ist, so kann der Begriff einer ‹Ethik der Ästhetik› dennoch Anlass zu Missverständnissen geben, da er sich unmittelbar mit dem Vorwurf konfrontiert sehen könnte, hinter die mühsam erreichte Ausdifferenzierung des literarischen Feldes als relativ autonomem, nach eigenen Gesetzen funktionierenden Bereich künstlerischer Produktion zurückzufallen, der sich spätestens mit den sogenannten Immoralismus-Prozessen gegen Baudelaire und Flaubert von den gesellschaftlich aufoktroyierten moralischen Forderungen unabhängig gemacht hat.10 So versteht die vor allem von Martha Nussbaum und Richard Rorty propagierte sogenannte ‹ethische Wende› der Kultur- und Literaturtheorie literarische Werke als Mittel, um ethische Normen und Regeln auf effektive Weise zu kommunizieren und durchzusetzen.11 Dank ihrer Fähigkeit, auch Gefühl und Phantasie des Lesepublikums anzusprechen, ist Literatur in den Augen der beiden prominentesten Vertreter:innen des ‹ethic turn› bestens dazu geeignet, moralische Normen zu vermitteln. Nussbaums und Rortys Versuch, Literatur auf die Vermittlung von Moral zu verpflichten, entspricht allerdings paradoxerweise einer Verletzung der ihr eigenen ‹Ethik›, die vor allem in der Verteidigung der eigenen, relativen Autonomie begründet liegt, aus der allein sich der Anspruch auf die Erfüllung des kategorischen Imperativs der Authentizität ableiten lässt.12 Denn wenn Literatur und Kunst in der modernen Gesellschaft überhaupt eine Funktion haben, dann besteht diese sicher gerade darin, keine unmittelbare Funktion für die Gesellschaft zu übernehmen und es ihr dadurch zu erlauben, sich selbst aus einer distanzierten und desinteressierten Perspektive zu betrachten. Daher kann die Rede von einer allgemeinen Ethik der Ästhetik im Kontext der Moderne nur eine Ethik meinen, die nicht heteronom ist. Denn gerade diese relative Autonomie räumt Literatur ja die Möglichkeit ein, der gesellschaftlich geltenden heteronomen eine eigene autonome ethische Haltung entgegen Ebda., S. 14 f. Siehe dazu das Buch von Klaus Heitmann: Der Immoralismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert. Bad Homburg: Gehlen 1971. Vgl. Marjorie Garber u. a.: The Turn to Ethics. London: Routledge 2000; Martha Nussbaum: Finely Aware and Richly Responsible: Moral Attention and the Moral Task of Literature. In: The Journal of Philosophy, 82/10 (1985), S. 516–529 sowie Richard Rorty: Contingency, Irony and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press 1989. Zur Authentizität als kategorischer Imperativ der Moderne vgl. Jochen Mecke: Der Prozeß der Authentizität: Strukturen, Paradoxien und Funktionen einer zentralen Kategorie moderner Literatur. In: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.): Authentizität: Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München: Fink 2006, S. 82–114, hier S. 96–99.
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zusetzen. Es geht hier mithin um ethische Haltungen, die mit und aus den jeweils unterschiedlichen spezifischen Formen eines literarischen Werkes entstehen, d. h. um diejenigen ethischen Stellung-Nahmen, die sich unter anderem aus der DarStellung sozialer Ungleichheit in literarischen Werken ergeben.
3 Die Darstellung sozialer Ungleichheit in der modernen Literatur Mit der klassischen Form der Stiltrennung als literarischer Form sozialer Trennung bricht die Romantik insofern, als hier die unteren Gesellschaftsschichten bzw. das ‹einfache Volk› als würdige und ernste Figur der Handlung erscheinen, deren Schicksal tragische Formen annehmen kann. Victor Hugos Darstellung des Volkes in Notre-Dame de Paris (1844) bricht auf eine ganz bestimmte Weise mit der Stilund Klassentrennungsregel, indem der Schriftsteller die Figuren des einfachen Volkes, wie z. B. Esmeralda, Phoebus, Quasimodo und Paquette, als ernstzunehmende Figuren mit erhabenen Gefühlen und Ideen präsentiert, während er im Gegenzug König Louis XI. als kleinlich und geizig, d. h. mit Eigenschaften darstellt, die einer Komödie Molières, wie etwa L’Avare, durchaus würdig gewesen wären. Natürlich ist diese Haltung bei Hugo als Ausdruck einer Poetik zu verstehen, die das Erhabene und das Groteske nebeneinanderstellt, um durch den daraus resultierenden Bruch mit der Ästhetik der Klassik bestimmte Schockeffekte zu erzielen. Darüber hinaus zahlen auch die Figuren der unteren Schichten, die ‹Zigeuner›, Glöckner und Diebe des cours des miracles, einen Preis für das Recht darauf, literarisch ernst genommen zu werden, denn sie werden nicht in der gleichen Weise geschildert wie die Figuren aus der höheren Gesellschaftsschicht. Im Kapitel über Stendhal geht Auerbach beiläufig auf Hugo ein, allerdings lediglich, um deutlich zu machen, dass es Hugo gar nicht auf eine ernste oder ernstzunehmende Schilderung der Realität ankam, sondern vielmehr auf einen poetischen Effekt, der sich aus der Stilmischung zwischen dem Erhabenem und der Groteske, hohem und niedrigen Stil ergab.13 Dies gilt möglicherweise für die realistische Darstellung des Alltags, die für Hugo in den Hintergrund rückt und erst bei Stendhal und Balzac zu ihrem vollen Recht gelangt. Was allerdings die ungleiche Darstellung der sozialen Ungleichheit angeht, so lässt sich festhalten, dass auch den Figuren der unteren Gesellschaftsschichten der nötige Ernst und literarischer Respekt gezollt werden. Quasimodos Liebe und Verzweiflung kommt tragische Größe zu, der Konflikt zwischen der
Auerbach: Mimesis, S. 436.
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Pflichterfüllung gegenüber seinem Herren Frollo und seiner Neigung zu Esmeralda wird ebenso tragisch dargestellt, wie Esmeraldas verzweifelter Liebe zu Phoebus Größe zukommt. Bedenken ergeben sich eher in einer anderen Hinsicht. Zwar ist unbestritten, dass die Darstellung der niedrigen Figuren auch tragisch ist, dass ihnen eine gewisse Größe zugebilligt und die literarische Ungleichheit der Darstellung von Ungleichheit dadurch aufgehoben wird, doch kommt an dieser Stelle ein anderer Einwand ins Spiel, der sich gleichfalls aus der Betrachtung der romantischen Poetik ergibt. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass auch die Figuren der unteren Gesellschaftsschichten einen Preis für ihre Aufnahme in das Elysium literarischer Darstellung zahlen, selbst wenn dieser Preis nicht mehr der der Komik ist. In der romantischen Poetik wird die ernste Darstellung der Figuren aus niederen Schichten dadurch möglich, dass sie nicht mehr in ein komisches, sondern in ein sentimentalisches Licht getaucht werden – ein Effekt, der im Fall von Notre-Dame de Paris noch durch den Bezug auf eine Vergangenheit verstärkt wird, die als unwiederbringlich verloren und von der Gegenwart abgetrennt gilt, wie Hugo selbst in dem berühmten Kapitel Ceci tuera cela (zweites Kapitel des Livre V) anhand des Wandels von der Architektur zum Buchdruck deutlich macht.14 Die Figuren der niederen Schichten werden in das milde Licht einer fernen Vergangenheit getaucht, ihnen kommt die mythische Aura des ‹einfachen› Volkes zu, das die Grundlage für sentimentalische Projektionen auf eine soziale Einheit bildet, die in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft verlorengegangen ist. Aufgrund dieser Einstellung, die alles mit einer romantischen Patina überzieht, kann auch die romantische Poetik letztendlich nicht wirklich als Beispiel für einen radikalen Wandel zur Gleichheit der Darstellung der Figuren in Anspruch genommen werden, denn die Figuren werden zwar ernstgenommen und ihnen wird auch eine tragische Größe eingeräumt, allerdings geschieht dies im Rahmen einer sentimentalischen Haltung. Dass die für die literarische Tradition geltende poetologische Gleichung zwischen der literarischen Darstellung der Ungleichheit und der literarischen Ungleichheit der Darstellung im Naturalismus durchbrochen wird, dürfte nicht sonderlich überraschen. In Émile Zolas Rougon-Macquart-Zyklus wird sie nicht nur zum zentralen Gegenstand, sondern hier wird die Stiltrennungsregel insgesamt aufgehoben, und den Figuren, die den unteren Gesellschaftsschichten angehören, wird eine gewisse menschliche Größe zugestanden auch und gerade dort, wo ihnen tragische Ereignisse widerfahren. Gegenüber den klassischen Formen der Darstellung von Ungleichheit stellt der Roman L’Assommoir jedoch insofern eine Neuerung dar, als Zola seine Figuren viel radikaler als dies etwa bei Molière oder Hugo der Fall war
Victor Hugo: Notre-Dame de Paris. Paris: Perrotin 1844, S. 167–179.
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in der ihnen eigenen bzw. den unteren Schichten zuzuordnenden Sprache reden lässt. Dabei durchdringt die Sprache der Figuren die literarische Sprache in unterschiedlichen Graden. Zunächst setzt Zola die mündliche Sprache der einfachen Figuren gegen die schriftliche und elaborierte Sprache des Erzählers ab. – Qui donc ? demanda madame Patois. – L’accoucheuse du bout de la rue et sa bonne, vous savez, une petite onde … Une gale cette fille. Elle criait à l’autre « Oui, oui, t’as décroché un enfant à la fruitière, même que je vais aller chez le commissaire, si tu ne me payes pas. » Et elle en débagoulait, il fallait voir ! L’accoucheuse, là-dessus, lui a lâché une baffre, v’lan, en plein museau. Voilà alors que ma sacrée gouine saute aux yeux de sa bourgeoise, et qu’elle la graffigne, et qu’elle la déplume, oh ! mais aux petits ognons ! … Il a fallu que le charcutier la lui retirât des pattes.15
Offenkundig bemüht sich Zola um eine möglichst authentisch wirkende Wiedergabe der mündlichen Erzählung seiner Protagonistin aus der unteren Gesellschaftsschicht. Das Vokabular ist dem Argot nachempfunden, metaphorische Ausdrücke (débagoulait, museau, ma sacrée gouine, sa bourgeoise, graffigne, déplume, aux petits oignons), Interjektionen (v’lan), nachträgliche Präzisierungen (une gale, cette fille) und syntaktische Umstellungen (même que je vais aller) sorgen dafür, dass der Eindruck einer lebendigen mündlichen Erzählung im sprachlichen Soziolekt der unteren Schichten entsteht. Natürlich sind diese formalen Besonderheiten der Figurenrede dem Bemühen geschuldet, einen realistischen Eindruck nicht nur des Ortes, des Aussehens und des Verhaltens der Figuren zu vermitteln, sondern auch ihrer Art, zu kommunizieren. Zola geht allerdings über diese Anwendung des naturalistischen Prinzips hinaus, denn zunächst einmal lässt sich festhalten, dass damit auch eine bestimmte Stellungnahme oder ethische Einstellung zu den Figuren gegeben ist, die auf diese Weise nicht nur sprachlich zu ihrem Recht kommen. Diese Haltung wird insofern zurückgenommen, als Zola sie zunächst mit dem Diskurs des Erzählers kontrastiert: A la barrière, le piétinement de troupeau continuait, dans le froid du matin. On reconnaissait les serruriers à leurs bourgerons bleus, les maçons à leurs cottes blanches, les peintres à leurs paletots, sous lesquels de longues blouses passaient. Cette foule, de loin, gardait un effacement plâtreux, un ton neutre, où le bleu déteint et le gris sale dominaient. Par moments, un ouvrier s’arrêtait court, rallumait sa pipe, tandis qu’autour de lui les autres marchaient toujours, sans un rire, sans une parole dite à un camarade, les joues terreuses, la face tendue vers Paris, qui, un à un, les dévorait par la rue béante du Faubourg-Poissonnière.16
Es handelt sich um eine typische Beschreibung des frühen Morgens in dem von Gervaise, Lantier und anderen Figuren der Unterschicht bewohnten Viertel. Das
Émile Zola: L’Assommoir. Paris: Mapron & Flammarion 1870, S. 192; Hvg. J.M. Ebda., S. 7.
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Vokabular ist präzise, reichhaltig, differenziert und die Syntax komplex, sodass ein dem traditionellen Erzählerdiskurs entsprechender elaborierter Code entworfen wird. Durch den Kontrast der Erzählweisen wird das Gefälle zwischen Erzähler und Figuren deutlich, womit Zola die im Roman und im gesamten Zyklus thematisierte Ungleichheit auf literarischer Seite wiederholt. Oft finden sich solche Binnendifferenzierungen im selben Satz: Contre le mur de la maison voisine, son aide, un gamin de dix-sept ans, fluet et blond, entretenait le feu du réchaud en manœuvrant un énorme soufflet, dont chaque haleine faisait envoler un pétillement d’étincelles.17
Während auf der einen Seite ein ausgesuchtes Vokabular, eine komplexe Syntax und eine literarisch avancierte Sprache vorherrschen, findet sich auf der anderen Seite der restringierte Code des Argot mit einer einfachen Syntax, um zwischen Erzähler- und Figurendiskurs eine Trennlinie einzuziehen. Die besondere narrative und sprachliche Form des Romans führt somit ein Element der ‹Distinktion› ein, und zwar nicht nur auf der Ebene der dargestellten Realität, sondern auch auf der Ebene ihrer Darstellung. Das Gefälle zwischen Erzählerdiskurs und Protagonistenrede sorgt dafür, dass die soziale Differenz, die bereits Thema des Romans ist, auf der Ebene der Darstellung als Differenz zwischen literarischem Werk und behandeltem Objekt wiedereingeführt wird, sie wird unterstrichen und dadurch gleichzeitig verdoppelt. Die Differenz zwischen den Figuren auf der Ebene der Handlung wird als re-entry der Unterscheidung zwischen Darstellungsmedium und Darstellungsobjekt in den Roman selbst eingeführt. Die Darstellung der Ungleichheit schlägt somit letztlich auch hier um in eine Ungleichheit der Darstellung. Die literaturpolitische und -soziologische Funktion dieses Verfahrens liegt auf der Hand: Durch die sprachliche Absetzung von ihrem Gegenstand definiert sich das Werk als distinguiert, es schreibt sich selbst eine literarische Legitimation zu, die es ihm erlaubt, einen an sich unwürdigen Gegenstand darzustellen, nämlich die unteren Schichten der Gesellschaft. Anders formuliert: Die einzelnen Werke zahlen für die Lizenz zur Darstellung niedriger Gesellschaftsschichten den Preis eines besonders ambitionierten literarischen Stils. Das niedrigstehende Objekt wird durch eine hochstehende Form kompensiert. Dies bedeutet für die Autor:innen zum einen die Möglichkeit, trotz niedriger Themen kulturelles, symbolisches und spezifisch symbolisches Kapital zu erwerben, hat jedoch gleichzeitig Auswirkungen auf dem Gebiet der Ethik der Ästhetik, denn die hohe Darstellungsform unterstreicht umso mehr die kulturelle und soziale Diskrepanz, die sie auch zum Thema hat.
Ebda., S. 14; Hvg. J. M.
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Damit nimmt die Darstellung sozialer Ungleichheit aber an der Auseinandersetzung über diese Ungleichheiten selbst teil. Das gilt zunächst einmal in einem offensichtlichen Sinn, da die Beschreibung von Ungleichheiten diese gleichzeitig denunziert. Sie ist nicht bloß neutrale Repräsentation, sondern deckt sie im Sinne von Sartres Funktion des dévoiler auf: Ainsi le prosateur est un homme qui a choisi un certain mode d’action secondaire qu’on pourrait nommer l’action par dévoilement. Il est donc légitime de lui poser cette question seconde : quel aspect du monde veux-tu dévoiler, quel changement veux-tu apporter au monde par ce dévoilement?18
Aber darüber hinaus hat die Darstellung sozialer Ungleichheiten auch in einem tieferen Sinne teil an der Auseinandersetzung über diese selbst. Denn sie schafft etwa durch die Herstellung bestimmter Figurenkonstellationen eine soziale Unterteilung in gesellschaftliche Gruppen – die wiederum auf die sozialen Ungleichheiten zurückwirken –, indem sie zum Beispiel ein Bewusstsein für die Existenz gesellschaftlicher Klassen herstellt oder aber diese Kategorien erschafft. Damit kommt ihr jedoch eine ethische Funktion zu. Sie interveniert durch die bloße Darstellung – ob sie dies will oder nicht – in der Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Ungleichheit, die sie beschreibt. Ihre Wirkung ist daher widersprüchlich: Sie denunziert eine soziale Ungleichheit, die sie gleichzeitig reproduziert. Ihre ethische Position ist damit vieldeutig. Die reflexive Anwendung sozialer Ungleichheit auf die literarischen Stilniveaus ist allerdings nur der erste Schritt in L’Assommoir, denn im Laufe des Romans mischt sich der Diskurs des Erzählers immer mehr mit der Rede der Figuren. Zumeist nimmt diese Mischung die Form der erlebten Rede, des discours indirect libre, an, wodurch sich die Vorstellungswelt und die Sprache von Erzähler und Figuren wechselseitig durchdringen: Ils parlaient de Lantier. Gervaise ne l’avait pas revu; elle croyait qu’il vivait avec la sœur de Virginie, à la Glacière, chez cet ami qui devait monter une fabrique de chapeaux. D’ailleurs, elle ne songeait guère à courir après lui. Ça lui avait d’abord fait une grosse peine; elle voulait même aller se jeter à l’eau mais, à présent, elle s’était raisonnée, tout se trouvait pour le mieux. Peut-être qu’avec Lantier elle n’aurait jamais pu élever les petits, tant il mangeait d’argent.19
Hier ist der discours indirect libre allerdings noch eindeutig auf Gervaise bezogen, sodass die Hierarchie zwischen Erzählerdiskurs und Figurenrede erhalten bleibt. Es gibt jedoch Passagen im Roman, in denen sich die Diskurse viel stärker durch-
Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature. Paris: Gallimard 1948, S. 28. Zola: L’Assommoir, S. 39.
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dringen. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich der Träger des discours indirect libre insofern der Erzählinstanz annähert, als er sich nicht mehr auf ein einzelnes Individuum, sondern auf ein Kollektiv bezieht, das nicht mehr eindeutig auszumachen ist und daher die Funktionen des anonymen Erzählers übernimmt, so zum Beispiel bei der Erzählung des Festes, das die Coupeaus anlässlich von Gervaises Namenstag geben. Die erlebte Rede beginnt zunächst mit einer klar dem Erzähler zuzuordnenden Passage: Alors, elle dit Ah ! laissez-moi dormir ! d’une voix faible et douce; quand elle arrivait au refrain, à ce souhait d’un sommeil peuplé de beaux rêves, ses paupières se fermaient un peu, son regard noyé se perdait dans le noir, du côté de la rue. Tout de suite après, Poisson salua les dames d’un brusque signe de tête et entonna une chanson à boire, les Vins de France […]20
Der Erzähler deutet Gervaises Blick im Rahmen des elaborierten Codes der écriture romanesque mit literarischen Metaphern in einer gewählten Sprache, die einen ‹feinen Unterschied› zur Sprache der Figuren bildet. Doch kurze Zeit später tritt der Erzähler fast völlig zurück, diesmal jedoch nicht mehr, um einer einzelnen individuellen Person den Vortritt zu lassen, sondern einem Kollektiv, das aufgrund seiner Anonymität die Funktionen des Erzählers übernimmt: Lorsque Clémence se mit à roucouler: Faites un nid, avec un tremblement de la gorge, ça causa aussi beaucoup de plaisir; car ça rappelait la campagne, les oiseaux légers, les danses sous la feuillée, les fleurs au calice de miel, enfin ce qu’on voyait au bois de Vincennes, les jours où l’on allait tordre le cou à un lapin.21
Der discours indirect libre wird hier aus seiner Funktion der Codierung der Sprechund Denkweise einer bestimmten Figur gelöst und vermischt den kollektiven und anonymen Diskurs der Figuren mit dem anonymen und neutralen Diskurs des Erzählers, um ihn schließlich zu ersetzen. Wenn Flaubert ein wichtiges und zentrales Element seiner für die Moderne wegweisenden Romanpoetik in seinem berühmten Brief an Louise Collet mit dem Stichwort der «impersonnalité» auf den Punkt brachte, so gilt dies auch für die besondere Art der Verwendung des discours indirect libre durch Émile Zola.22 Allerdings verbindet Zola mit seiner Form der impersonnalité nicht die beiden anderen, für Flaubert zentralen Punkte der impartialité und der impassibilité. Ganz im Gegenteil ist der Stil besonders stark von Emotionen geprägt und nimmt eine zur Ungerührtheit und Leidenschaftslosigkeit der Flaubert’schen Romanpoetik entgegengesetzte Position ein. Durch diesen veränderten Kontext kommt der besonderen Form der impersonnalité, oder besser der person Ebda., S. 236; Hvg. J. M. Ebda. Gustave Flaubert: Correspondance, tome II: 1851–1858. Paris: Gallimard/Bibliothèque de la Pléiade 1980, S. 691.
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nalité collective, in L’Assommoir jedoch eine andere Funktion zu. Sie dient hier vor allem dazu, die ‹feinen Unterschiede› zwischen dem ausgefeilten Erzählerdiskurs und der ungeschliffenen Redeweise der Figuren zu nivellieren, wenn nicht sogar zu dekonstruieren. Damit durchbricht Zola die für den konventionellen Roman geltende Symbiose zwischen der Darstellung der Ungleichheit und der Ungleichheit der Darstellung – und damit auch die Logik der Distinktion, die ihr zugrunde liegt – und verwirklicht eine erste Form literarischer Gleichheit, die einem ethischen Engagement durch die literarische Form selbst gleichkommt. Lange Zeit wird der Roman in der Dekonstruktion literarischer Ungleichheit nicht wesentlich weiter gehen als Zola. So bleiben beispielsweise die Werke der sogenannten populistes hinter Zolas Poetik zurück, obwohl man hier erwarten könnte, dass ihre Werke eine nicht-bürgerliche Form des Schreibens entwerfen und damit durch ihre eigene Poetik in ethischer Hinsicht Stellung beziehen. Wenn man allerdings die Romane etwa Eugène Dabits näher betrachtet, so stellt sich auch hier trotz aller Experimente mit der Sprache der ‹einfachen Leute› der Eindruck einer kontinuierlichen Fortschreibung traditioneller Schreibprinzipien ein. Obwohl Dabit häufig als eine Art Anti-Proust betrachtet wird, unterscheidet sich seine literarische Sprache wenig von der ästhetisch anspruchsvollen Schreibweise des bürgerlichen Romans, wie der folgende Romanausschnitt illustriert: – Le voilà justement ! fit Lecouvreur. Il tira sur ses manches et toucha gauchement sa casquette. Il avait conscience d’être à un moment décisif de sa vie. Il fut saisi par l’importance du personnage qui s’avançait. M. Mercier n’eut aucune peine à expliquer son retard. Il l’attribua à une vente sur folle enchère, compliquée de «purge». Lecouvreur hochait la tête avec gravité. Il devait, pensa-t-il, s’agir d’une maladie. Ils traversèrent la rue, M. Mercier et Lecouvreur côte à côte, Louise suivant avec son fils Maurice. M. Mercier ouvrit la porte de l’hôtel; cérémonieusement il introduisit Louise Lecouvreur qui, un feu aux joues, se tenait derrière son mari.23 – Cette garce de Renée, grogne-t-il. Elle faisait celle qui balaie. J’ai dû m’enfermer aux water pour la dépister … Le jour où je pourrai la faire foutre dehors ! (Renée a toujours repoussé ses avances).24
In dem Textausschnitt lässt sich die gleiche Distinktion gehobener literarischer und niedriger mündlicher Sprache feststellen, die soziale Unterscheidungen in der literarischen Tradition auf der Ebene der Darstellung reproduziert. Auch hier gilt, dass sich das literarische Werk das Recht auf die Darstellung unterer Schichten und der sozialen Ungleichheit durch eine ausgesucht ästhetische Form der Darstellung im Erzählerdiskurs erkauft.
Eugène Dabit: Hôtel du Nord. Paris: Denoël 1929, S. 9 f. Ebda., S. 58.
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Der oftmals für seine massive Verwendung eines – allerdings stilisierten – Argot gelobte Henri Barbusse bedient sich im Erzählerdiskurs der von Roland Barthes mit der Bourgeoisie gleichgesetzten, konventionellen écriture romanesque, wenngleich es sich um einen autodiegetischen Erzähler handelt, der die Kriegserlebnisse seiner eigenen Schwadron im ersten Weltkrieg erzählt: Le grand ciel pâle se peuple de coups de tonnerre: chaque explosion montre à la fois, tombant d’un éclair roux, une colonne de feu dans le reste de nuit et une colonne de nuée dans ce qu’il y a déjà de jour. Là-haut, très haut, très loin, un vol d’oiseaux terribles, à l’haleine puissante et saccadée, qu’on entend sans les voir, monte en cercle pour regarder la terre.25
Von diesem ausgesucht literarischen Diskurs des Erzählers weichen die Dialoge der Figuren jedoch stark ab: – V’là Volpatte. Ça ira-t-il, Firmin ? Ça va, ça va t’et ça vient, dit Volpatte. Il a un accent lourd et traînant qu’un enrouement aggrave. Il tousse. – J’ai attrapé la crève, c’coup-ci. Dis donc, t’as entendu, c’te nuit, l’attaque ? Mon vieux, tu parles d’un bombardement qu’ils ont balancé. Quelque chose de soigné comme décoction!26
Synkopen, ethische Dative und ein dem Argot entnommenes Vokabular erzeugen den Eindruck einer volkstümlichen Sprache, die allerdings auch hier klar vom Diskurs des Erzählers abgesetzt wird, so dass letztendlich trotz aller Sympathien für die Figuren aus dem einfachen Volk und einer autobiographischen Perspektive ein klares literarisches Gefälle entsteht, eine ethische Haltung der Distinktion, die sich aus einer literarischen Tradition speist, welche auf der klassischen Äquivalenz zwischen der Darstellung der Ungleichheit und der Ungleichheit der Darstellung beruht. Dieses Prinzip ändert sich erst mit einem Roman, der an Radikalität kaum zu überbieten ist. In Célines erstem Roman Voyage au bout de la nuit findet eine wahre Revolution der Sprache statt, die auch die Darstellungsform sozialer Ungleichheit und ihr klassisches Äquivalenzprinzip involviert. Bereits der Anfang des Romans gleicht in dieser Hinsicht einem Manifest: Ça a débuté comme ça. Moi, j’avais jamais rien dit. Rien. C’est Arthur Ganate qui m’a fait parler. Arthur, un étudiant, un carabin lui aussi, un camarade. On se rencontre donc place Clichy. C’était après le déjeuner. Il veut me parler. Je l’écoute. «Restons pas dehors ! qu’il me dit. Rentrons !» Je rentre avec lui. Voilà. «Cette terrasse, qu’il commence, c’est pour les oeufs à la coque ! Viens par ici !» Alors, on remarque encore qu’il n’y avait personne dans les rues, à cause de la chaleur ; pas de voitures, rien. Quand il fait très froid, non plus, il n’y a personne dans les rues ; c’est lui, même que je m’en souviens, qui m’avait dit à ce propos : «Les gens de Paris ont l’air toujours d’être occupés, mais en fait, ils se promènent du matin
Henri Barbusse: Le Feu: journal d’une escouade. Paris: Flammarion 1917, S. 6. Ebda., S. 8.
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au soir ; la preuve, c’est que lorsqu’il ne fait pas bon à se promener, trop froid ou trop chaud, on ne les voit plus ; ils sont tous dedans à prendre des cafés-crème et des bocks. C’est ainsi ! Siècle de vitesse ! qu’ils disent. Où ça ? Grands changements ! qu’ils racontent. Comment ça ? Rien n’est changé en vérité. Ils continuent à s’admirer et c’est tout. Et ça n’est pas nouveau non plus. Des mots, et encore pas beaucoup, même parmi les mots, qui sont changés ! Deux ou trois par-ci, par-là, des petits … » Bien fiers alors d’avoir fait sonner ces vérités utiles, on est demeuré là assis, ravis, à regarder les dames du café.27
Synkopen (ça statt cela), Wiederholungsfiguren (ça … ça), eine extrem reduzierte, einfache Syntax, leere Deiktika – denn das Lesepublikum kann ja noch gar nicht wissen, worum es geht – und die Ersetzung des für den Roman in den 30er Jahren nach wie vor verbindlichen passé simple durch das passé composé erteilen der écriture romanesque eine radikale Absage. Der zweite Satz verlängert diesen Impuls mit Figuren der Reprise (Moi, je … ), der erneuten Synkope («je n’avais jamais» → «j’avais») und der Anaphern in Zusammenhang mit dem nächsten elliptischen Satz («rien dit. Rien».). Wiederholungsfiguren, einfache Syntax, Ellipsen, Synkopen, Figuren der mise en relief, Reprisen, leere Deiktika, Füllwörter wie donc, all diese Merkmale der Céline’schen Schreibweise modellieren eindeutig einen für die untere Gesellschaftsschicht charakteristischen Sprachgebrauch, dies alles noch ohne dass bisher ein einziges Wort aus dem Lexikon des Argot – ein Markenzeichen der Céline’schen Poetik – gefallen ist.28 Céline erweist sich insofern als ein gelehriger Schüler des Naturalismus und des literarischen Populismus, als er die Welt der unteren Schicht zu einem würdigen Objekt der Darstellung befördert und deren Sprache in direkter, indirekter und erlebter Rede wiedergibt, allerdings in einem entscheidenden Punkt über sie hinausgeht. Denn Voyage au bout de la nuit reißt die Grenze zwischen komplexem schriftlichen Erzählerdiskurs und einfacher, reduzierter mündlicher Sprache des Volkes komplett ein, der Damm gegen die Sprache der unteren Schichten, der für die konventionelle bürgerliche écriture charakteristisch war, ist gebrochen. Die Sprache der Unterschicht überschwemmt den Erzählerdiskurs, um ihn komplett zu durchdringen. Céline lässt es somit nicht, wie etwa Zola, Barbusse oder Dabit, mit einigen Einsprengseln des Argot bewenden, die Sprache der niederen Schichten durchdringt Lexikon und Syntax des Erzählers komplett, sodass die Ungleichheit der Darstellung hier abgeschafft ist. Und damit wird auch die Stil- bzw. Schichtentrennungsregel aufgehoben, die eine von all diesen Romanen gestaltete und kritisierte Ungleichheit der Darstellung auf der literarischen Ebenen reproduziert. Man könnte gegen diese These einwenden, dass diese Aufhebung zunächst insofern amortisiert wird, als sie sich im Rahmen einer autodiegetischen Erzäh-
Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit. Paris: Gallimard 1979, S. 15. Zur Mündlichkeit bei Céline aus linguistischer Perspektive vgl. Andreas Blank: Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Céline und Raymond Queneau. Tübingen: G. Narr 1991.
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lerposition vollzieht. Denn der Erzähler Bardamu ist gleichzeitig der den unteren Schichten entstammende Antiheld der erzählten Geschichte. Diesem Einwand lässt sich entgegenhalten, dass Céline an diesem wie ein poetologisches, ästhetisches und ethisches Manifest wirkenden Romananfang noch einen wesentlichen Schritt weitergeht, denn er kehrt die Ungleichheit der Darstellung sogar um. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die narratologische Gleichung zwischen Autor, Erzähler und Figur nicht ganz aufgeht. Ausgerechnet eine der Ebene der Handlung angehörige Figur, Bardamus Freund Arthur Granat, redet in einem elaborierten Code, der sich der konzeptionellen Schriftlichkeit annähert: Les gens de Paris ont l’air toujours d’être occupés, mais en fait, ils se promènent du matin au soir ; la preuve, c’est que lorsqu’il ne fait pas bon à se promener, trop froid ou trop chaud, on ne les voit plus ; ils sont tous dedans à prendre des cafés-crème et des bocks.29
Die konventionellen Stilhierarchien zwischen Autor, Erzähler und Figur werden hier nicht bloß nivelliert, sondern geradezu umgekehrt. Die Figur der Handlung befleißigt sich in ihrem Kommentar der Tugenden des elaborierten konventionellen Diskurses, während sich Erzähler und Autor einer oralen und restringierten Sprechweise bedienen, die im traditionellen Roman den unteren Gesellschaftsschichten entspricht. Mit dieser Umkehrung der Hierarchie zwischen Erzähler- und Figurendiskurs überschreitet Céline jedoch auch jene Grenze, die zu den fundamentalen Differenzmerkmalen des konventionellen literarischen Diskurses gehört. Er vollzieht damit eine Revolution der romanesken Sprache, die die fundamentale Hierarchie der konventionellen écriture romanesque bzw. écriture bourgeoise im Sinne von Roland Barthes umkehrt. Auf der einen Seite wird so die Sprache des literarischen Höhenkamms und damit auch die poetologische Logik der Distinktion, die der Ungleichheit der Darstellung zugrunde liegt, aus der Literatur vertrieben.30 So wird jene Norm sozial motivierter Geschmacksurteile verletzt, nach der laut Pierre Bourdieu ästhetisches und gesellschaftliches Urteil in einer Hierarchie der Distinktion miteinander kurzgeschlossen werden.31 Bourdieu stimmt dabei Kants Theorie des ästhetischen Urteils insofern zu, als er diesem tatsächlich eine gewisse Interesselosigkeit attestiert. Aller-
Céline: Voyage, S. 15; Hvg. J. M. Einen umfassenden Eindruck der zeitgenössischen Kritiken von Voyage au bout de la nuit liefert der von André Derval herausgegebene Band Voyage au bout de la nuit de Louis-Ferdinand Céline: Critiques 1932–1935. Paris: Gallimard 2005. «Nichts unterscheidet die Klassen mithin strenger voneinander als die zur legitimen Konsumtion legitimer Werke objektiv geforderte Einstellung […]»; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 80.
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dings schränkt er diese im Unterschied zu Kant auf den Gegenstand der ästhetischen Betrachtung ein, um dann hervorzuheben, dass jedes ästhetische ein verdecktes soziales Urteil impliziert, getragen von dem gleichfalls verdeckten Interesse an der Distinktion, der gesellschaftlichen Unterscheidung von anderen Individuen, Gruppierungen und Schichten der Gesellschaft. Um es verkürzt zu sagen: Die einen lesen Proust und die anderen bloß Courths-Mahler, Delly oder Anne und Serge Goulon.32 Ästhetische Urteile ziehen dort Grenzen, wo allein auf der Basis des ökonomischen Kapitals keine existieren. Sie bilden eine Grenze zwischen legitimem Bildungsadel und ungebildeten Neureichen oder – in der klassischen Version – zwischen Adel und dem Bourgeois gentilhomme.33 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Célines Ästhetik eine ethische Dimension aufweist, denn die von ihm vollzogene doppelte Transgression verstößt nicht nur gegen die Gesetze von Schriftlichkeit und Literatur, überschreitet nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern kündigt überhaupt einer auf ästhetischen Urteilen beruhenden sozialen Ungleichheit die Gefolgschaft auf. Die Oralität der Syntax unterminiert hier das System sozialer Distinktion mittels ästhetischer Urteile. Dies zu erkennen, bedurfte es bei Célines Zeitgenossen keiner komplexen Theorien. Ein flüchtiger Blick auf die Literaturkritik der 30er Jahre zeigt, dass die meisten Rezensent:innen des Romans sich im Klaren darüber waren, dass die Revolution der Darstellungsform gleichzeitig eine soziale und politische war.34 Allerdings geht es Céline nicht um eine authentische Wiedergabe der Sprache der Unterschicht, sondern um deren Verwandlung in eine ambitionierte, hochgradig ästhetische literarische Sprache, die durch ihre kühne Metaphorik und ihre rhythmischen wie syntaktischen Deformationen gleichfalls eine Distanz zur einfachen Sprache der Figuren erzeugt. Dadurch werden zwar die Distanzen und Distinktionen zwischen Erzähler und Figuren aufgehoben, aber Céline zahlt dafür einen Preis. Strenggenommen findet die Revolution der romanesken Sprache im umgrenzten Bereich des literarischen Sandkastens statt. Der Sturm tobt im ästhetischen Wasserglas, denn die Logik der Distinktion ist insofern nach wie vor wirk-
Delly ist das Pseudonym für die Geschwister Jeanne-Marie (1875–1947) und Frédéric Petitjean de la Rosière (1876–1949), die gemeinsam über 100 Romane verfassten. Anne (Simone Changeux) und Serge (Vsevolod Sergeïvich Goloubinoff) Goulon sind die Autor:innen der auch in Deutschland veröffentlichten Angélique-Romanreihe (z. B. Angélique, marquise des anges Paris: Hachette 1978). Molière: Le Bourgeois gentilhomme. Paris: Lemonnier 1671. Welche politische Richtung diese Revolution der romanesken Sprache einschlagen würde, war allerdings unklar. Sowohl die Rechte als auch die Linke vereinnahmten den Autor für sich (vgl. hierzu Derval: Voyage).
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sam, als die Sprache der unteren Schichten zu einer hochgradig ästhetischen Sprache ausgearbeitet wird, die sich ihrerseits deutlich von ihren Ursprüngen absetzt und diese nur noch als Material gebraucht.
4 Reflexive Subversion der Ungleichheit als Ethik der Ästhetik Eine wirkliche Aufhebung der Fortsetzung sozialer Distinktion und Ungleichheit mit den Mitteln der Ästhetik erfolgt erst in der französischen Gegenwartsliteratur. Es ist sicherlich kein Zufall, dass eine französische Schriftstellerin am weitesten in diese Richtung gegangen ist, die selbst aus der Arbeiterklasse stammt und deren kritisches Bewusstsein durch die Theorien und Konzepte der strukturalen Soziologie Pierre Bourdieus geschärft war. Der unmittelbare Anlass für Annie Ernaux’ Erzählung La Place ist die Rückkehr der Erzählerin in ihre Heimatstadt anlässlich des Todes ihres Vaters, der für sie der Ausgangspunkt einer Reihe von chronologisch nicht geordneten, fragmentarischen Erinnerungen an den Werdegang ihres Vaters, ihren eigenen und die Lebensform ihrer Herkunftsfamilie ist. Dabei bedient sie sich einer besonderen Schreibweise: On avait tout ce qu’il faut, c’est-à-dire qu’on mangeait à notre faim (preuve, l’achat de viande a la boucherie quatre fois par semaine), on avait chaud dans la cuisine et le café, seules pièces où l’on vivait. Deux tenues, l’une pour le tous-les-jours, l’autre pour le dimanche (la première usée, on dépassait celle du dimanche au tous-les-jours). J’avais deux blouses d’école. La gosse n’est privée de rien. Au pensionnat, on ne pouvait pas dire que j’avais moins bien que les autres, j’avais autant que les filles de cultivateurs ou de pharmacien en poupées, gommes et taille-crayons, chaussures d’hiver fourrées, chapelet et missel vespéral romain.35
Die Sicht- und Sprechweise der Eltern, die der Arbeiterklasse angehören, wird hier durch Kursivsetzung hervorgehoben, die den Unterschied zwischen Erzähler- und Figurendiskurs markieren. Aber wie bereits bei Zola durchdringt die Darstellung der Stimme der Eltern, die im Sinne Michail Bachtins Sprech- und Sichtweisen umfasst,36 den Diskurs der Erzählerin. In einigen Passagen passt sich die Erzählerin mimetisch der Sprache und auch der Perspektive ihrer Eltern an. Sie schreibt, wie im folgenden Beispiel der Beschreibung einer Photographie, in einer einfachen, wenig komplexen Sprache:
Annie Ernaux: La Place. Paris: Gallimard 2009, S. 43, Hvg. im Original. Michail Bachtin: Das Wort im Roman. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
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Alentour de la cinquantaine, encore la force de l’âge, la tête très droite, l’air soucieux, comme s’il craignait que la photo ne soit ratée, il porte un ensemble, pantalon foncé, veste claire sur une chemise et une cravate. Photo prise un dimanche, en semaine, il était en bleus. De toute façon, on prenait les photos le dimanche, plus de temps, et l’on était mieux habillé. Je figure à côté de lui, en robe à volants, les deux bras tendus sur le guidon de mon premier vélo, un pied à terre. Il a une main ballante, l’autre à sa ceinture. En fond, la porte ouverte du café, les fleurs sur le bord de la fenêtre, au-dessus de celle-ci la plaque de licence des débits de boisson. On se fait photographier avec ce qu’on est fier de posséder, le commerce le vélo, plus tard la 4 CV, sur le toit de laquelle il appuie une main, faisant par ce geste remonter exagérément son veston. Il ne rit sur aucune photo. Par rapport aux années de jeunesse, le trois-huit des raffineries, les rats de la Vallée, l’évidence du bonheur.37
Umgangssprachliche Wendungen, Parallelismen, Ellipsen, der gänzliche Verzicht auf literarische Ausschmückungen sind hier Ausdruck einer Poetik, die sich ihrerseits in einer Art Distinktion der Distinktion von der Ästhetik der Distinktion unterscheidet und damit Position gegen die écriture romanesque und für die Eltern der Erzählerin bezieht. Das Motiv für diese ‹literaturfreie› Form von Literatur erklärt die Erzählerin im Roman selbst. An einem bestimmten Punkt der Erzählung, die sich vor allem mit dem Leben des Vaters beschäftigt, stellt sie fest, dass sie das Buch nicht in einem literarischen Stil schreiben kann, sondern nur in dem Stil und auf dem sprachlichen Niveau, auf dem sich ihr Vater und ihre Mutter bewegten: Depuis peu, je sais que le roman [i. e. La place, J.M.] est impossible. Pour rendre compte d’une vie soumise à la nécessité, je n’ai pas le droit de prendre d’abord le parti de l’art, ni de chercher à faire quelque chose de «passionnant», ou d’ «émouvant». Je rassemblerai les paroles, les gestes, les goûts de mon père, les faits marquants de sa vie, tous les signes objectifs d’une existence que j’ai aussi partagée. Aucune poésie du souvenir, pas de dérision jubilante. L’écriture plate me vient naturellement, celle-là même que j’utilisais en écrivant autrefois à mes parents pour leur dire les nouvelles essentielles.38
Es wird deutlich, dass aus dieser anti-literarischen Haltung nicht – wie bei Céline – eine neue hochgradig literarische Ästhetik entsteht. Daher stellt sich die Frage nach der ästhetischen Einstellung, die dieser Haltung zugrunde liegt. Die Besonderheit der Behandlung der Ungleichheit im Roman Annie Ernaux’ wird deutlich, wenn man zum Vergleich Erzählungen anderer Autor:innen hinzuzieht, die sich mit der gleichen Problematik auseinandersetzen. Eines der bekanntesten Werke, die sich mit sozialer Ungleichheit beschäftigen, ist sicherlich Retour à Reims von Didier Éribon, der ebenfalls anlässlich des Todes seines Vaters in
Ebda., S. 41. Ebda., S. 18; Hvg. J. M.
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seine Heimatstadt zurückkehrt und dieses Ereignis zum Ausgangspunkt einer langen, von soziologischen Reflexionen durchzogenen autobiographischen Erzählung nimmt: Longtemps, ce ne fut pour moi qu’un nom. Mes parents s’étaient installés dans ce village à une époque où je n’allais plus les voir. De temps à autre, au cours de mes voyages à l’étranger, je leur envoyais une carte postale, ultime effort pour maintenir un lien que je souhaitais le plus ténu possible. En écrivant l’adresse, je me demandais à quoi ressemblait l’endroit où ils habitaient. Je ne poussais jamais plus loin la curiosité. Lorsque je lui parlais au téléphone, une fois ou deux par trimestre, souvent moins, ma mère me demandait : «Quand viens-tu nous voir ?» J’éludais, prétextant que j’étais très occupé, et lui promettais de venir bientôt. Mais je n’en avais pas l’intention. J’avais fui ma famille et n’éprouvais aucune envie de la retrouver.39
Das passé simple, eine komplexe Syntax und ein reiches Lexikon markieren eine elaborierte Sprache, die sich deutlich von dem Milieu absetzt, das sie im Text schildert. Im Unterschied zu der von Éribon in seinem Text erwähnten Annie Ernaux, die ein einfaches Leben mit Hilfe eines einfachen Vokabulars und einer äußerst reduzierten Syntax beschreibt, hält Didier Éribon zu seinem Gegenstand der Arbeiterklasse und seinem Thema der sozialen Ungleichheit eine große Distanz ein. Dass diese das Ergebnis einer bewussten Entscheidung ist, sein eigenes Herkunftsmilieu zu verlassen, macht Éribon selbst deutlich, als er von seiner schulischen Sozialisation erzählt: Réapprendre à parler fut tout autant nécessaire : oublier les prononciations et les tournures de phrase fautives, les idiomatismes régionaux (ne plus dire qu’une pomme est «fière», mais qu’elle est «acide»), corriger l’accent du Nord-Est et l’accent populaire en même temps, acquérir un vocabulaire plus sophistiqué, construire des séquences grammaticales plus adéquates … bref, contrôler en permanence mon langage et mon élocution. «Tu parles comme un livre», me dira-t-on souvent dans ma famille pour se moquer de ces nouvelles manières, tout en manifestant que l’on savait bien ce qu’elles signifiaient.40
Man mag gegen den Vergleich einwenden, dass es sich bei Éribons Text, wie der Untertitel Une théorie du sujet verdeutlicht, um einen soziologischen Essay handelt und nicht um einen Roman und dass die stilistischen Unterschiede vor allem dadurch bedingt sind. Allerdings betreibt Éribon in Retour à Reims jene besondere autobiographische Art von Soziologie, die Bourdieu bereits in Esquisse pour une autoanalyse (2001) entworfen hat und die, auch wenn Bourdieu selbst sie als Anti-Autobiographie bezeichnet, narrative Passagen aus der Innenperspektive enthält, die im Kontrast zu den distanzierten Analysen seiner eigenen Position im akademischen Feld gerade deren Reiz ausmachen.
Didier Éribon: Retour à Reims: Une théorie du sujet. Paris: Fayard 2018, Kapitel 2. Ebda.
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Ein wenig mehr in die Richtung von Annie Ernaux geht hingegen Édouard Louis in seiner autobiographischen Erzählung Qui a tué mon père (2018): Tu ne t’es jamais remis de la séparation avec ma mère. Quelque chose en toi a été détruit. Comme toujours, c’est la séparation qui t’a fait comprendre à quel point tu l’aimais. Après la rupture tu es devenu plus sensible au monde, tu es tombé plus souvent malade, tout te blessait. C’est comme si la douleur de la séparation avait ouvert une plaie qui avait permis soudain à ce qui t’entourait, au monde et donc à la violence, d’entrer en toi.41
Louis bedient sich eines einfachen Vokabulars und parataxtischer Strukturen, er ersetzt das passé simple durch das passé composé und erzählt die Geschichte als inneren Dialog mit seinem Vater, dessen Tod er Jahre zuvor – wie er selbst im Buch berichtet – mit einer Flasche Pastis gefeiert hatte. Die Poetik seines Schreibens nähert sich jenem degré zéro de l’écriture an, die Roland Barthes im gleichnamigen Aufsatz untersucht hat, eine anti-artistische «écriture blanche», die sich der Transparenz der journalistischen Sprache nähert und sich etwa in L´Étranger (1942) von Albert Camus findet.42 Allerdings hat diese besondere Form, die sich auch vor Wiederholungen nicht scheut, bei Louis eine andere Ursache, wie er im Text deutlich macht: Ça aussi je l’ai déjà raconté – mais est-ce qu’il ne faudrait pas se répéter quand je parle de ta vie, puisque des vies comme la tienne personne n’a envie de les entendre ? Est-ce qu’il ne faudrait pas se répéter jusqu’à ce qu’ils nous écoutent ? Pour les forcer à nous écouter ? Estce qu’il ne faudrait pas crier ? Je n’ai pas peur de me répéter parce que ce que j’écris, ce que je dis ne répond pas aux exigences de la littérature, mais à celles de la nécessité et de l’urgence, à celle du feu.43
Auch Édouard Louis versteht die Poetik seiner Schreibweise als dezidiert nichtliterarisch. Seine Begründung, ob bewusst oder unbewusst, ähnelt der Beschreibung der Merkmale des Nullgrads der Schreibweise bei Roland Barthes und erfährt ihre Legitimation – gleichfalls wie bei Barthes – durch das gesellschaftliche Engagement und die Dringlichkeit seines Anliegens. Indessen ist keiner der genannten Autor:innen so weit gegangen wie Annie Ernaux, bei der die Schreibweise eindeutig darauf abzielt, die ästhetische Gleichung zwischen der Darstellung der Ungleichheit und der Ungleichheit der Darstellung zu durchbrechen und auch auf der Ebene der literarischen Darstellung jene Logik der Distinktion zwischen hohem literarischem Stil und niedrigem Gegenstand aufzukündigen, die die literarische Tradition jahrhundertelang bestimmt hat. Ernaux’ Schreibweise ist damit mehr als ein literarisches Engagement mittels der gewählten Form. Die
Édouard Louis: Qui a tué mon père? Paris: Seuil 2018, S. 30. Barthes: Le degré zéro, S. 56. Louis: Qui a tué, S. 21; Hvg. J. M.
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Pointe ihres Schreibens liegt offenkundig darin, dass die Darstellung sozialer Ungleichheit ein reflexives Element enthält, das die Schilderung sozialer Ungleichheit mit der literarischen Ungleichheit, die durch eine bestimmte Form von Literatur erzeugt wird, kurzschließt und aufhebt. Ernaux unternimmt den Versuch, die Darstellung der Ungleichheit mittels der literarischen Form zu überwinden und damit soziale Gleichheit nicht mehr bloß einzufordern, sondern durch die eigene Schreibweise im Rahmen des Literatursystems selbst zu realisieren! Mehr noch als eine bestimmte Form des literarischen Engagements vertritt sie damit eine bestimmte Ethik des Schreibens, die aus der literarischen Ästhetik ihres Werkes resultiert.
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Vom autobiographischen «je» zum sozialen «Je» Autosoziobiographien als Form der littérature engagée Abstract: Im Zentrum des Beitrags steht die Darstellung sozialer Ungleichheit in zeitgenössischen französischen Texten, die man in der Nachfolge von Pierre Bourdieu und Annie Ernaux stehend als Autosoziobiographien bezeichnen kann. Hierbei geht es um die eigenen Geschichten des Bildungsaufstiegs als Narrative der sozialen Nicht-Reproduktion. Die Schriften von Didier Eribon und Édouard Louis setzen die Tradition der littérature engagée fort und teilen mehr als nur die politische Motivation: Erstens rekurrieren sie auf die Theoreme Pierre Bourdieus, um sich selbst und ihren Habitus zu situieren. Zweitens verkörpern sie den Typus des «transclasse», des sozialen Überläufers, dessen Herkunftsmilieu dem der sogenannten Abgehängten entspricht. Und schließlich rekapitulieren sie – dieser Disposition zum Trotz im intellektuellen Kulturbetrieb arriviert – ihre Vergangenheit in hybriden Texten, die zwischen Autobiographie, Roman und Essay changieren. Keywords: Autosoziobiographie, Intellektuelle, Bourdieu, Engagement, Klassenübergänge Abstract: The article evolves around the depiction of social inequality in contemporary French texts that may be described as autosociobiographic, as they resume the tradition coined by Pierre Bourdieu and Annie Ernaux. Here, the main focus is laid on how the respective individual’s educational upward mobility can be understood as a non-reproductive social narrative. The more recent texts written by Didier Eribon and Édouard Louis continue this tradition while sharing more than their mere political motivation: Firstly, in order to situate themselves as well as their own habitus, both writers draw upon Pierre Bourdieu’s theorems. Secondly, they represent the type of the «transclasse», of the social deserter, whose milieu of origin is that of the underprivileged. And, lastly, having gained a foothold in their country’s cultural elite in spite of their disadvantaged backgrounds, Eribon and Louis recapitulate their past through hybrid texts that exhibit features found in the autobiographic genre as well as in novels and essays. Keywords: autosociobiography, intellectuals, Bourdieu, engagement, social mobility
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1 Das «Je» in «J’accuse ... !» Die Geschichte der modernen französischen Intellektuellen beginnt bekanntlich mit einem «Je». Als am 13. Januar 1898 auf der Titelseite der Tageszeitung L’Aurore der offene Brief des Schriftstellers Émile Zola an den französischen Präsidenten Félix Faure veröffentlicht wird, der mit dem performativ und durch das Ausrufezeichen emphatisch anmutenden J’accuse ... ! übertitelt ist, ist sich vermutlich nicht einmal der Verfasser selbst der enormen Tragweite dieser Aktion bewusst, die erst einige Jahre später als eben jene Geburtsstunde der engagierten Intellektuellen gewürdigt wird – so sehen es etwa Bourdieu (1992), Bredin (1984) oder Jurt (2012). Zolas Intervention zugunsten des zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus gilt als Wendepunkt innerhalb des Verfahrens, das zum Erscheinungsdatum von J’accuse ... ! bereits seit rund fünf Jahren im Gange ist. Die Dreyfus-Affäre hatte zu einer beispiellosen Spaltung der französischen Bevölkerung geführt, was den Topos «Les Deux France»1 verfestigte, der auch heute wieder eine gewisse Renaissance erfährt, etwa nach den vorletzten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017.2 Ich möchte zum Einstieg in das Thema des intellektuellen Engagements keineswegs einen ausführlichen Bezug zu dieser historischen Zäsur innerhalb der häufig retrospektiv euphemisierten Pariser Belle Époque herstellen, mir geht es lediglich um ein paar wenige Punkte, die mir im Hinblick auf heutige Ausprägungen dieses Phänomens als grundlegend erscheinen und die helfen, das gegenwärtige Engagement in einer Tradition zu situieren. Zunächst scheint auffällig, dass Zola, der 1898 bereits zu den erfolgreichsten und bekanntesten Schriftstellern des Landes gehört und somit über eine gewisse «(relative) Autonomie»3 verfügt, sich öffentlich in eine erbitterte Debatte einmischt, die weit über den konkreten Fall hinausgeht, indem sie das die Nation spaltende Problem des Antisemitismus aufgreift. Schon zwei Jahre zuvor hatte Zola auf der Titelseite des Figaro den Artikel «Pour les Juifs» veröffentlicht, der jedoch noch keinen direkten Bezug zum Dreyfus-Skandal herstellte. In J’accuse ... ! allerdings findet zunächst eine performative Selbstermächtigung statt, indem sich Zola sozusagen
Vgl. dazu das gleichnamige Kapitel in Bredin (1984). Die Tageszeitung Le Monde setzte am 25. April 2017, also nach der ersten Wahlrunde, «Les Deux France» als Titelschlagzeile. Vgl. zur Einordnung Gregor Schuhen: Spaltungen, Risse, Ungleichheiten. Französische Gegenwartsliteratur und die Kehrseite der Menschenrechte. In: Bluhm, Lothar u. a. (Hg.): «Bist du ein Mensch, so fühle meine Not». Menschenrechte in kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Baden-Baden: Tectum 2019, S. 170–175. Joseph Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu. Göttingen: Wallstein 2012, S. 28. In Anlehnung an Bourdieu (1992).
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zum Advokaten erhebt, der den Präsidenten und damit sein Land vor den ‹beschämenden Schmutzflecken› des Antisemitismus zu befreien versucht.4 Auf diese Weise macht er sich auf der Grundlage seiner eigenen Popularität zum Anwalt der Unterdrückten, denen es zusehends schwerer fällt, sich Gehör zu verschaffen. Dass es nicht nur die Juden sind, denen Zola Aufmerksamkeit schenkt, sondern auch die vom rasanten Fortschritt des Second Empire überrollten Abgehängten, hatte er schon in seinem Rougon-Macquart-Zyklus unter Beweis gestellt, so etwa anhand streikender Bergmänner in Germinal oder anhand des Schicksals der Prostituierten Nana im gleichnamigen Roman. Auch hatte er in einer Verteidigungsschrift zugunsten des Malers Manet versichert, dass er stets auf Seiten der Besiegten stehen werde.5 Man kann daher sagen, dass Zolas gesellschaftskritisches Engagement schon seinem literarischen Schaffen inhärent ist und gleichsam den Keim des Handelns in sich trägt, indem der Naturalist bisher ungehörten Stimmen einen Platz in der Literatur zugewiesen hat. Ferner lässt sich bereits im Übergang zum 20. Jahrhundert der enorme Stellenwert der Medien ausmachen, die aus einer persönlichen Intervention eine öffentliche Verlautbarung machen und damit den Habitus des Intellektuellen erst ermöglichen. Matthias Waechter bezeichnet die Dreyfus-Affäre als «das erste moderne politische Medienereignis der französischen Geschichte», das gleichzeitig die «Geburtsstunde des modernen Intellektuellen» darstelle.6 Christian von Tschilschke hat mit Blick auf die französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts ebenfalls auf die Unverzichtbarkeit medialer Inszenierungen hingewiesen, die keinerlei Berührungsängste mit dem Boulevard und seinen oft populistischen Berichterstattungsmethoden aufweisen: Erst die Nähe zum Boulevard, so kann man zuspitzen, verlieh dem französischen Intellektuellen jene schillernde Ambivalenz und Breitenwirksamkeit, die ihn zum Mythos, oder, in einer weniger verklärenden Sichtweise, zu einem Sozialtypus werden ließen.7
Von den selbstverliebten Inszenierungen eines Jean-Paul Sartre oder gar eines Bernard-Henri Lévy sind wir im Jahre 1898 noch meilenweit entfernt, wenngleich Waechter zumindest auf den prägenden Charakter der Dreyfus-Affäre für das
Émile Zola: J’accuse ... ! (1898). Wikisource-artikel, verfügbar unter: https://fr.wikisource.org/ wiki/J’accuse ... ! (letzter Zugriff: 14.7.2020). Vgl. Wortlaut Zolas, zitiert nach: Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris: Seuil 1992, S. 213. Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2019, S. 94. Christian von Tschilschke: La philosophie dans le boulevard. Der französische Intellektuelle zwischen dem Boulevard als Medium und dem Medium als Boulevard. In: Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor (Hg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung. Tübingen: Narr 2012, S. 151–173, hier S. 151.
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«Rollenbild des französischen Intellektuellen»8 hinweist. Doch auch Zola nutzte im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten das Medium der auflagenstarken Tageszeitung, um für seine Einmischung eine größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen. So entpuppt sich die gesamte Dreyfus-Affäre – nicht zuletzt durch Zolas Intervention – immer mehr zu einer der ersten Medienschlachten, die eine ganze Nation spaltete und die bereits all das aufzubieten hatte, was uns heute vertrauter denn je erscheint: Fälschungen bzw. Fake News, Verleumdungen, Enthüllungen, Emotionalisierung und eine moralische Mobilisierung der Massen. Ein letzter Punkt, auf den ich noch eingehen möchte und auf den ich schon ganz zu Beginn angespielt habe, ist die Betonung des eigenen Engagements mithilfe des Gebrauchs der ersten Person Singular. Wenn Jurt schreibt, dass Intellektuelle meist «Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller [sind], die sich auf ihrem Gebiet eine spezifische Kompetenz erworben haben und die aufgrund dieser Autorität Stellung beziehen zu konkreten – oft aktuellen – Problemen der Gesamtgesellschaft»,9 steckt in diesem Definitionsansatz der transgressive Charakter der Intervention, nämlich vom spezialisierten Feld zur persönlichen Stellungnahme, die wiederum ein ganz anderes Thema umfassen kann, ein ‹Feld›, auf dem die: der Intellektuelle nicht unbedingt über eine Expertise verfügt. Die gesellschaftliche Anerkennung, ja die auctoritas der Intellektuellen verdankt sich demnach ersterem und legitimiert zugleich letzteres. Dieser Aspekt der engagierten Selbstermächtigung mag banal erscheinen, doch ist er für meine folgenden Ausführungen zu den Autosoziofiktionen absolut zentral. Ich fasse vorläufig zusammen: Die engagierten Intellektuellen reagieren auf gesamtgesellschaftliche Problemlagen, häufig mit hohem Spaltungspotential, wobei sie ihre eigene Popularität und/ oder Expertise als Trumpf ausspielen, die Medien für die breite Wirksamkeit ihrer Interventionen einsetzen und sich dezidiert als gesellschaftliche Subjekte, mithin als kampflustige citoyens und citoyennes, einsetzen.
2 Das große Vorbild Bourdieu Bourdieu ist vielleicht im elitären Kreis der französischen Vorzeige-Intellektuellen der unwahrscheinlichste: Als Sohn eines kleinen Postbeamten und aus einem kleinen Bauerndorf im südfranzösischen Béarn stammend, wurde ihm seine außerordentliche Karriere nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Es sind seine glänzenden schuli-
Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2019, S. 96. Joseph Jurt: Zur Geschichte der Intellektuellen in Frankreich. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 24/2 (1999), S. 136.
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schen Leistungen, die ihn zunächst an das berühmte Lycée Louis-le-Grand in Paris bringen und schließlich an die École Normale Supérieure. Während seines Militärdienstes in Algerien unternimmt er seine ersten Feldforschungen und erlebt nach eigenen Angaben seine Berufung, ja Konversion zum Soziologen, die ihn von der deutlich prestigereicheren Laufbahn der Philosophie wegführt. In der Folge setzt er mit seinen Forschungen zur algerischen Land- und französischen Provinzbevölkerung aus seiner Heimatregion, zum französischen Bildungssystem, zur Distinktion der Eliten sowie schließlich zu den Abgehängten in den Banlieues Standards in den Sozialwissenschaften und verhilft damit der Soziologie zu höherem Renommee innerhalb des verkrusteten akademischen Feldes, auf dem sich Bourdieu zeitlebens als marginalisierter Dissident sah.10 Auch wenn Bourdieu mit der Wahl seiner Arbeitsbereiche immer schon den Themenkomplex der sozialen Ungleichheit aus verschiedenen Blickwinkeln gleichsam skalpellartig seziert hat, waren doch seine zahlreichen Studien stets vom Ideal der «objectivité participante»11 geprägt, mithin von einer wissenschaftlichen, ja unpersönlichen Distanznahme, zu der ihn ausgerechnet ein Literat inspiriert hat, nämlich Gustave Flaubert: «Flaubert hat mir geholfen, mein eigenes Unternehmen durch und durch konsequent zuende zu denken und zu führen».12 Folglich sucht man in den wichtigsten Texten Bourdieus vergeblich nach einem klein geschriebenen empirischen «je», das sich auf den Autor selbst bezieht. Das Bemühen um Wissenschaftlichkeit kann allerdings nicht ganz verschleiern, dass Bourdieu sämtliche seiner Forschungsthemen und -gegenstände aus seinem eigenen Werdegang schöpft, dass er stets «Theorie als geheime Autobiographie»13 betrieben hat, um eine Formel von Dieter Thomä, Vincent Kaufmann und Ulrich Schmid zu zitieren. Laut den drei Autoren lassen sich insbesondere bei den Denkern und Denkerinnen des 20. Jahrhunderts gewisse Analogien zwischen ihren Lebensgeschichten und den Theorien entdecken, was jedoch keineswegs auf der Basis eines naiven Biographismus dargestellt wird: Wenn sich die Theorie auf die Autobiographie bezieht, reduziert sie sich nicht aufs Persönliche, sondern wird lebensnah und bricht mit ihrer falschen Selbstgenügsamkeit. Und umgekehrt: Wenn sich die Autobiographie von der Theorie instruieren lässt, wird sie nicht kopflastig, sondern bricht mit bornierter Selbstbespiegelung.14
Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse. Paris: Raisons d’agir 2004, S. 31. Pierre Bourdieu u. a.: La misère du monde. Paris: Seuil 1993, S. 12. Vgl. Pierre Bourdieu/Franz Schultheis: Das Elend der Welt – Eine zweifache Herausforderung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis. In: Pierre Bourdieu u. a.: Das Elend der Welt. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997, S. 440. Thomä, Dieter u. a.: Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie. München: Hanser 2015. Ebda.: 14–15.
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Bourdieu gilt ihnen neben Benjamin, Arendt und anderen als mustergültiges Beispiel für dieses Wechselverhältnis, insbesondere im Hinblick auf sein Lebensthema, d. h. die Frage nach der Reproduktion der sozialen Ordnung. Als Gemeinsamkeit mit Zola ließe sich sagen, dass Bourdieu lange Zeit über die «Reproduktionslogik sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften unter den Bedingungen der ‹Illusion der Chancengleichheit›»15 geschrieben hat, ohne sich selbst explizit als Akteur in diesen Diskurs einzuschreiben. Aber auch Bourdieu hat seinen «J’accuse ... !»-Moment, als er sich im Jahr 1995 an der Gare de Lyon öffentlich zum Unterstützer der Arbeitslosenbewegung macht und dann auch bis zu seinem Tod dieser Rolle als engagierter Intellektueller treu bleibt. Erst kurz vor seinem Tod setzt er schließlich das eigene Ich prominent, indem er seine Esquisse pour une auto-analyse veröffentlicht, zunächst 2002 in deutscher Übersetzung, da er in Deutschland eigenen Aussagen zufolge mit mehr Empathie rechnete als in seinem Heimatland. Wer jedoch eine Autobiographie im klassischen Sinne erwartet, wird schnell enttäuscht. Die ersten drei Viertel des schmalen Textes beschreiben das akademische Feld im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte, in dem sich Bourdieu als Vertreter einer «discipline paria»16 verortet bzw. als «arrivierter Häretiker»,17 wie es Ulrich Schmid formuliert. Dieser Teil changiert demnach eher «zwischen Mentalitäts- und Wissenschaftsgeschichte».18 Erst im letzten Viertel erzählt Bourdieu von seiner sozialen Herkunft, seinem Elternhaus und dem gespaltenen Habitus sowie der damit verbundenen sozialen Scham, die ihn und seine Arbeit lebenslang bestimmen sollten. Zu dem Zeitpunkt, als Bourdieu, dem öffentliche Auftritte stets unangenehm waren, erstmalig als öffentliche Figur des engagierten Intellektuellen, ja als Klassenkämpfer auftritt, blickt er bereits auf den Großteil seines Œuvres zurück, ganz so wie Zola im Jahr 1898, wodurch er längst über die nötige Autorität und Expertise verfügt, um wirkmächtig als Anwalt der vom Sozialsystem Benachteiligten aufzutreten. Schmid formuliert es folgendermaßen: «Vermutlich ist Bourdieus gesellschaftliches Engagement in den 1990er Jahren als Versuch zu sehen, seine zumindest subjektiv wahrgenommene Schuld gegenüber den soziologisch Ausgebeuteten in politischer Währung wieder zurückzuzahlen.»19
Franz Schultheis: Nachwort. In: Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 140. Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse, S. 52; Hvg. im Original. Ulrich Schmid: Pierre Bourdieu (1930–2002). Der arrivierte Häretiker. In: Dieter Thomä u. a.: Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie. München: Hanser 2015, S. 282. Markus Rieger-Ladich: Klassenkämpfe. Pierre Bourdieu über Bildung. In: Pierre Bourdieu: Bildung. Schriften zur Kultursoziologie 2. Hg. von Franz Schultheis u. Stephan Egger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018, S. 389. Ulrich Schmid: Pierre Bourdieu (1930–2002), S. 286.
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Anders als Zola jedoch hat sich Bourdieu seine Expertise nicht nur durch seine Schriften erarbeitet, sondern auch – wenn man so will – durch sein eigenes Leben, genauer: seine Erfahrungen als «transfuge»20 – genauer: als «transfuge de classe»,21 wie es Eribon präzisiert. Mit anderen Worten: Bourdieu wusste, worüber er schrieb. Dieser Aspekt war für ihn sehr wichtig, wie er zumindest indirekt in einem Interview zur Rolle des Intellektuellen zum Ausdruck bringt, indem er dort zunächst Salon-Intellektuelle wie den bereits genannten Lévy als ‹lächerlichen› Intellektuellen und Medienphilosophen bezeichnet, um sodann, auf den Urtypus des Intellektuellen bezugnehmend, zu konstatieren: «Ce sont des Zola qui lanceraient des ‹J’accuse› sans avoir écrit L’Assommoir ou Germinal.»22
3 Bourdieus Erben Der zeitgenössische französische Roman steht nach einer Zeit des Experimentierens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder im Zeichen der (sozial)realistischen Tradition: Wolfgang Asholt spricht von einem «renouveau du ‹réalisme›»,23 Robert Lukenda kommt zu ähnlichen Beobachtungen.24 Das «Écrire le présent», wie es Dominique Viart und Gianfranco Rubino nennen,25 reagiert damit – so könnte man sagen – auf das zentrale Thema des vorliegenden Bandes, nämlich auf die Verschärfung sozialer Ungleichheit, die Frankreich in noch größerem Ausmaß betrifft als Deutschland, was nicht zuletzt mit der zentralistischen Struktur und dem schwierigen Umgang mit dem kolonialen Erbe zusammenhängt. Diese französischen Eigenheiten machen trotz der Globalisierung die fractures sociales zu spezifischen «Fractures françaises», wie der Sozialgeograf Christophe Guilluy immer wieder in seinen zahlreichen Publikationen hervorhebt,26 die vielleicht auch gerade deshalb bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurden. In seinem gleichnamigen Erstlingswerk aus dem Jahr 2010 beklagt Guilluy etwa, dass
Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse, S. 109. Didier Eribon: Retour à Reims. Paris: Fayard 2009, S. 25. Pierre Bourdieu/Hans Haacke: Libre-échange. Paris: Seuil 1994, S. 58. Vgl. Wolfgang Asholt: Un renouveau du ‹réalisme› dans la littérature contemporaine? In: Lendemains, 150–151 (2013), S. 22–35. Vgl. Robert Lukenda: Dynamiken und Diskurse der Repräsentation – aktuelle Strategien und Tendenzen der Gesellschaftsdarstellung in der französischen Gegenwartsliteratur. In: PhiNBeiheft, 16 (2019), S. 98–125. Vgl. Dominique Viart/Gianfranco Rubino (Hg.): Écrire le présent. Paris: Armand Collin 2012. Vgl. u. a. Christophe Guilluy: Fractures françaises. Paris: Flammarion 20132 ; La France périphérique. 2014.
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die krassen Spaltungserscheinungen zwischen den Städten und den ländlichen Regionen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung fänden. Die Medien, so Guilluy, würden lieber über die Ausschreitungen in den Banlieues berichten, da die jugendlichen Gewalttäter zumeist afrikanischer Herkunft die spektakuläreren Bilder abgäben – es gehe mithin um Storytelling.27 Einerseits hat Guilluy mit dieser Einschätzung sicher nicht ganz Unrecht, und man kann die Protestbewegung der Gilets Jaunes durchaus als Reaktion auf diesen medialen blinden Fleck interpretieren. Andererseits jedoch lässt er, wenn er über ‹die Medien› räsoniert, eines der ältesten Medien völlig außer Acht, nämlich die Literatur, die sich auch 2010 schon vermehrt mit der schwierigen Lage in den französischen Peripherien und den sogenannten classes populaires beschäftigt, so etwa Werke von Annie Ernaux, Pierre Jourde oder Aurélie Filippetti. Auch werden Bourdieus Studien, allen voran das Kollektivwerk La misère du monde (1993), das in Frankreich ein regelrechter Bestseller war, kaum erwähnt. Selbst Eribons Retour à Reims lag 2010 bereits vor – insofern ist klar, dass Guilluy mit ‹den Medien› besonders die Massenmedien meint, denen er eine Boulevardisierung28 der Banlieues vorwirft. Damit beklagt er zumindest indirekt auch, dass es die intellektuelle Leerstelle, die Bourdieus Tod in Frankreich hinterlassen hat, immer noch zu füllen gelte; so sieht es im Übrigen auch Jurt am Ende seiner Geschichte von Frankreichs engagierten Intellektuellen im Jahr 2012, also immerhin zehn Jahre nach Bourdieus Tod. Mit Eribons Retour à Reims (2009), dessen Übersetzung hierzulande noch sieben Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage von den Feuilletons als ‹Buch der Stunde› gefeiert wurde, ist nun, so mein Eindruck, ein Wendepunkt markiert. Der ehemalige Schüler Bourdieus versucht mit einiger Vehemenz und gemeinsam mit seinem eigenen Schüler Édouard Louis und dem Sozialphilosophen Geoffroy de Lagasnerie, das Erbe des großen Soziologen anzutreten. Die drei präsentieren sich in der Öffentlichkeit häufig gemeinsam als Vertreter der radikalen Linken, unterstützen Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise, engagieren sich im Comité Vérité pour Adama gegen Polizeigewalt gegen people of color, solidarisieren sich mit den Gilets Jaunes, widmen sich gegenseitig einige ihrer Werke und stehen sogar für Homestorys zur Verfügung, so etwa für die Süddeutsche Zeitung im September 2018. Dass die drei den Habitus des Intellektuellen auf überaus selbstbewusste Weise für sich reklamieren, zeigt u. a. ein Ankündigungsplakat zu einer gemeinsamen Vortragsveranstaltung im Mai 2018 an der Harvard University, auf dem sie unter dem Motto «Fifty Years Later» als «The New French Intellectuals» vorge-
Vgl. Guilluy: Fractures françaises, S. 15–19. Unter Verwendung des Neologismus «pipolisation», Guilluy: Fractures françaises, S. 29.
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stellt werden. Aber auch gemeinsame Events hierzulande sind zu nennen, so etwa eine Podiumsdiskussion im Herbst 2018 auf dem Literaturfestival in Berlin, wo sie über das Frankreich unter Emmanuel Macron redeten – Macron gilt längst als Lieblingsfeind des Trios. Man könnte sagen, dass Eribon, Louis und Lagasnerie Bourdieus Ideal des Intellektuellenkollektivs verkörpern, das der ehemalige Bourdieu-Mitarbeiter Franz Schultheis kürzlich als «Unternehmen Bourdieu» ausführlich dargestellt hat.29 Wie Bourdieu in seiner Esquisse äußerte, hat er stets die Arbeit im Team bevorzugt, innerhalb dessen er sich als «animateur» oder «chef d’orchestre»30 sah. Im nun Folgenden soll es jedoch weniger um die zahlreichen öffentlichen Auftritte der drei gehen als um deren Texte, die sie erst auf die politischen Bühnen des Westens gebracht haben, besonders häufig hierzulande. Es ist ausgerechnet Bourdieus letzter Text, sein soziologischer Selbstversuch, den man wohl als wichtigste Inspirationsquelle nennen muss, da sowohl Eribon als auch Louis Bourdieus Lebensweg aus einfachsten Verhältnissen und damit auch den gespaltenen Habitus des transfuge de classe teilen. Den gespaltenen, mit doppelter Scham besetzten Habitus erläutert Bourdieu im letzten Teil seines Selbstversuchs anhand seiner eigenen Biographie. Dort beschreibt er ihn als Scham angesichts des eigenen Herkunftsmilieus in der Ankunftswelt und gleichzeitig als Scham, ebendieses Herkunftsmilieu verraten zu haben.31 So erklärt sich auch, dass Bourdieu an dieser Stelle nicht den eher positiv besetzten Begriff des Aufsteigers benutzt, sondern den des ‹Überläufers›. Er macht deutlich, dass dieser «habitus clivé» nicht nur ihn selbst lebenslang geprägt hat, sondern auch seine Arbeiten: «Mais cet habitus clivé [...] ne se manifeste sans doute aussi clairement que dans le style propre de ma recherche, le type d’objets qui m’intéressent, la manière qui est la mienne de les aborder.»32 Ohne die Esquisse pour une auto-analyse wären wohl weder Eribons Retour à Reims noch dessen Nachfolger La société comme verdict oder Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule in ihrer je spezifischen Form denkbar. Allerdings loten sie das Verhältnis von autobiographischen Passagen und soziologischen Reflexionen anders aus: Eribon weitet die Darstellung seiner Lebensgeschichte aus, was seinen Text deutlich hybrider erscheinen lässt, als es bei Bourdieu der Fall ist; Louis schließlich wählt die klassische Form des autobiographischen Romans, wobei er die typischen Bourdieu-Termini in den eher reflektierenden Passagen übernimmt.
Vgl. Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. Bielefeld: transcript 2019. Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse, S. 33. Vgl. ebda., S. 127–131. Ebda., S. 130 f.
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Hinsichtlich des Grads an Beeinflussung lässt sich beobachten, dass zwar auch die autobiographischen Werke von Annie Ernaux, Paul Nizan und Simone de Beauvoir des Öfteren in den Texten von Louis und Eribon explizit als Referenzen genannt werden, aber Bourdieu am intellektuellen Firmament der beiden ganz unbestritten die Rolle des Leitsterns spielt – und das bis in die Terminologie hinein. Bourdieu muss demnach für das Genre der Autosoziobiographie als stilbildend bezeichnet werden,33 auch wenn er nicht der erste war, der im Zusammenspiel von Selbstbericht und Sozialstudie die Bilanz seines Lebens zieht – man denke etwa an die derzeit wiederentdeckten Schriften von James Baldwin oder Frantz Fanon. Annie Ernaux stellt, was die direkte Beeinflussung durch Bourdieu angeht, nur scheinbar eine Ausnahmeerscheinung dar. Sie hat zwar schon seit den frühen 1980er Jahren das Genre der Autosoziobiographie als narrativ-epistemologische Klammer ihres Gesamtœuvres gewählt und liegt in der Chronologie damit rund 20 Jahre vor Bourdieus Esquisse. Gleichwohl hat sie in einem 2013 von Édouard Louis herausgegebenen Sammelband zum Erbe Bourdieus einen Essay geschrieben, in dem sie ihre soziologische Prägung durch Bourdieu nachzeichnet: Im Jahr 1979 sei dessen Hauptwerk La distinction erschienen, das auf sie wie ein «aérolithe dans le paysage culturel français»34 gewirkt habe; nur wenig später veröffentlicht Ernaux mit La place ihre erste Autosoziobiographie, in der die Protagonistin ihren eigenen Namen trägt. Hauptfiguren von Autosoziobiographien sind stets Klassenwechselnde, sogenannte transclasses,35 die einen respektablen Aufstieg hingelegt haben, wobei der Bildungsaufstieg deutlich im Vordergrund steht. Dies gelingt jedoch nur, so legen es die Zeugnisse nahe, um den Preis des mit sozialer Scham besetzten gespaltenen Habitus. Die in der Gesellschaft vorherrschende soziale Ungleichheit ist ihnen mithin in das eigene Ich eingeschrieben, und zwar nicht nur kognitiv, sondern auch in den Körper. Sie gelten a priori als Ausnahmefälle, die mit ihren unwahrscheinlichen Werdegängen den Reproduktionsmechanismen sozialer Macht trotzen, wie es Chantal Jaquet in Anlehnung an Bourdieu formuliert. Jaquet ist Philosophin und selbst eine transclasse, was sie in ihrer gleichnamigen Studie nicht verschweigt. Sie versucht das scheinbar Unmögliche, nämlich eine ohne empirisches Material gestützte Theorie des Klassenübergangs, also eine allgemeine Regel des Unregelmäßigen, auf-
Vgl. Julia Reuter: Literarische Zeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen zwischen Autobiographie und Sozioanalyse. In: dies. u. a. (Hg.): Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Bielefeld: transcript 2020, S. 108–111. Annie Ernaux: La distinction, œuvre totale et révolutionnaire. In: Édouard Louis (Hg.): Pierre Bourdieu. L’insoumission en héritage. Paris: PUF 2013, S. 23. Vgl. Chantal Jaquet: Les transclasses ou la non-reproduction. Paris: PUF 2014.
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zustellen: «L’existence de quelques cas singuliers qui ne vérifient pas la règle générale ne saurait suffire pour l’infirmer ou de nier la réalité.»36 Jaquet macht damit deutlich, dass sie die transclasses keineswegs als Beweis für die Nichtexistenz eines sozialen Determinismus verstanden haben will, sondern eher als Ausnahmen, die die Regelhaftigkeit der Reproduktion bestätigen. Aufgrund des Mangels an empirischen Daten greift Jaquet – neben eigenen Erfahrungen und den Biographien von Bourdieu, Ernaux und Eribon – immer wieder auf literarische Figuren zurück, etwa auf Stendhals Julien Sorel oder Balzacs Eugène de Rastignac, und begründet ihr Vorgehen mit dem realistischen Potential, mithin der Weltbezogenheit einiger Romane: «La philosophie ne peut en effet se passer de la littérature qui lui fournit un champ d’expériences et d’hypothèses d’une richesse et d’une justesse trop souvent insoupçonnées.»37 Damit macht sie einerseits deutlich, dass sie eben keine soziologische Studie vorlegen möchte, und andererseits, dass unwahrscheinlichen Aufstiegen stets ein hohes narratives Potential inhärent sei und dass der Ehrgeiz des Aufsteigers durch seine mimetische Qualitäten Rückschlüsse auf gesellschaftliche Machtstrukturen zulasse. Der oder die transclasse muss nämlich, um an sein Ziel zu gelangen, die Verhaltensweisen, die Codes und den Geschmack der herrschenden Klassen nachahmen, um am Ende zu reüssieren. Daher, so Jaquet, sei der Ehrgeiz stets mimetisch. Dieses Zusammenspiel von literarischer Narrativität und gesellschaftspolitischer Faktizität gehört auch für Carlos Spoerhase zu den Grundmerkmalen einer jeden Autosoziobiographie: Demnach handele es sich um «ein Genre, das das Persönliche mit dem Politischen, die soziologische Theorie mit der literarischen Form, die Selbstmit der Gesellschaftsanalyse verbindet.»38 Um ein konkretes Beispiel soll es nun im letzten Teil meines Beitrags gehen.
4 Von Eddy zu Édouard Bereits 16 Jahre vor dem soziologischen Selbstversuch, also 1986, schreibt Bourdieu mit «L’illusion biographique» einen Aufsatz, in dem man im Nachhinein das poeto-
Ebda., S. 7–8. Ebda., S. 18. Carlos Spoerhase: Nachwort. Aufstiegsangst: Zur Autosoziobiographie des Klassenübergängers. In: Chantal Jaquet: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Konstanz: Konstanz University Press 2018, S. 232.
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logische Programm des Genres der Autosoziobiographie sehen kann.39 «Bourdieu setzt sich in diesem kurzen Text kritisch mit der Vorstellung auseinander, dass eine Lebensgeschichte [sei sie nun biographisch oder autobiographisch, G. S.] eine Abfolge intentionaler und signifikanter Akte sei, die sich kohärent darstellen und erzählen lassen.»40 Anders als dem Bildungsroman fehle der individuellen Lebensgeschichte ein telos; der Eindruck von Kohärenz würde lediglich durch die identitätsstiftende Funktion des Eigennamens vorgegaukelt, wodurch sich ebenjene Kohärenz als Illusion erweise: Le nom propre est l’attestation visible de l’identité de son porteur à travers les temps et les espaces sociaux, le fondement de l’unité de ses manifestations successives et de la possibilité socialement reconnue de totaliser ces manifestations dans des enregistrements officiels.41
Die klassische Autobiographie laufe daher dem tatsächlichen «vieillissement social»42 der Akteure entgegen, enthalte jedoch legitime und notwendige Verfahren der literarischen Kontingenzbewältigung. Das Bios an sich bewertet Bourdieu als «anti-histoire»43 so, wie er später seinen eigenen Lebensbericht als Anti-Autobiographie bezeichnen wird. Die Amalgamierung von Lebensbericht und Gesellschaftsstudie müsse sich folglich eher durch Fragmentierung, Kontingenz und Alinearität auszeichnen als durch narrative Geschlossenheit. Schaut man sich nun den Roman En finir avec Eddy Bellegueule von Édouard Louis näher an, fällt sogleich eine Reihe von spezifischen narrativen Merkmalen auf, z. B. dass es zwar eine gewisse temporale Sukzession gibt, der Erzählfluss aber keineswegs chronologisch organisiert ist. Wiederkehrende Rituale werden ohne genaue Datierung geschildert, und narrative Sequenzen, die sich zumeist um die Scham des Protagonisten, um Gewalterfahrungen und Ekel drehen, wechseln sich mit reflexiven Passagen zum Habitus, zur Distinktion und zur Reproduktion sowie mit Beschreibungen des deprivilegierten Herkunftsmilieus ab. Das Ende der Erzählung bleibt offen. Interessanter erscheinen mir jedoch zwei paratextuelle Rahmungen des Textes. Zum einen die Widmung an Didier Eribon, die sogleich auf jene sowohl intertextuelle als auch intellektuelle Wahlverwandtschaft schließen lässt, auf die ich schon eingegangen bin. Die zweite Rahmung betrifft eher die beiden Eigennamen
Dieses Kapitel enthält stellenweise Überlegungen, die bereits an anderer Stelle ausgeführt wurden, vgl. Schuhen: Spaltungen. Anja Tippner/Christopher F. Laferl (Hg.): Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2016, S. 218. Pierre Bourdieu/Hans Haacke: Libre-échange. Paris: Seuil 1994, S. 85. Vgl. ebda., S. 88, Hvg. im Original. Ebda., S. 83.
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auf der Titelseite: Édouard Louis und Eddy Bellegueule. Wenn Bourdieu von der identitätsstiftenden Funktion des Eigennamens in autobiographischen Texten schreibt, was im Übrigen auch zu den essentiellen Bestandteilen des autobiographischen Paktes nach Philippe Lejeune zählt,44 dann führt bereits der Umschlag des Romans als vielleicht wichtigster Paratext eines literarischen Werks zu einer gewissen Verunsicherung auf Seiten der Leserschaft. Zu den Paratexten zählt Genette neben Vor- und Nachwörtern, Klappentexten und Widmungen eben auch Autorennamen, Werktitel und Genrezuordnungen. Paratexte dienen ihm zufolge dazu, den Text zu rahmen, ihn zu verlängern, ihn «präsent zu machen [...] und damit seine ‹Rezeption› und seinen Konsum zu ermöglichen.»45 Mit anderen Worten: Der Paratext führt die Lesenden über die Schwelle des Textes und formatiert damit auch den Erwartungshorizont des Publikums. Im Fall von Louis kann man also beobachten, dass die beiden Paratexte, die den Autorennamen sowie den des erzählenden Helden vorstellen, eine nominale Inkongruenz begründen, wodurch die Erwartungen an eine klassische Autobiographie konterkariert werden. Zur Lösung dieses Problems mag ein Blick in weiter entfernte Paratexte beitragen, so etwa in den Wikipedia-Eintrag zu Édouard Louis, wo man nachlesen kann, dass dieser 1992 als Eddy Bellegueule geboren wurde und 2013, d. h. ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans, seinen Namen aktenkundig hat ändern lassen.46 Nach der Lektüre des Romans selbst ändert sich nichts an der diesbezüglichen Irritation, da man dort nichts über diese Namensänderung oder die möglichen Gründe dafür erfährt. Dessen ungeachtet wird der Geburtsname des Protagonisten gleich im ersten Kapitel des Romans thematisiert: [Mon père] avait décidé de m’appeler Eddy à cause des séries américaines qu’il regardait à la télévision (toujours la télévision). Avec le nom de famille qu’il me transmettait, Bellegueule, et tout le passé dont était chargé ce nom, j’aillais donc me nommer Eddy Bellegueule. Un nom de dur.47
Auch wenn der Roman die konkreten Gründe für den Namenswechsel verschweigt, so bekommt man ein recht deutliches Gespür für dessen mögliche Motivation, ist doch das Leben von Eddy im Wesentlichen von drei Faktoren geprägt: von Ekel, von sozialer und sexueller Scham sowie von Gewalt. Gleich die erste Handlungsse-
Vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris: Seuil 1975, S. 15. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen v. Dieter Hornig. Frankfurt am Main u. a.: Campus 1989, S. 9, Hervorhebung im Original. Vgl. den Eintrag «Édouard Louis». In: Wikipédia, verfügbar unter: https://fr.wikipedia.org/ wiki/%C3%89douard_Louis (letzter Zugriff: 21.12.2021). Édouard Louis: En finir avec Eddy Bellegueule. Paris: Seuil 2014, S. 24.
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quenz des Romans beschreibt mit einem drastischen Realismus ein alltägliches Ritual aus Eddys Schulzeit: Dans le couloir sont apparus deux garçons, le premier, grand, aux cheveux roux, et l’autre, petit, au dos voûté. Le grand aux cheveux roux a craché Prends ça dans ta gueule. Le crachat s’est écoulé lentement sur mon visage, jaune et épais, comme ces glaires qui obstruent la gorge des personnes âgées ou des gens malades, à l’odeur forte et nauséabonde. [...] Il suffirait d’une fraction de seconde, d’un geste minuscule pour que le crachat n’entre pas en contact avec mes lèvres, mais je ne le fais pas, de peur qu’ils se sentent offensés. [...] La violence ne m’était pourtant pas étrangère, loin de là.48
Diese Ouvertüre des Romans führt in nuce die Kernthemen des weiteren Erzählverlaufs ein: Sowohl das familiäre als auch das schulische Umfeld werden als dunkle Zonen beschrieben, in denen Ekel und Scham sowie Angst und Gewalt in allen möglichen Nuancierungen die dominanten Affekte darstellen. Um auf das Thema des Eigennamens zurückzukommen, liest sich diese Szene wie die Schilderung eines pervertierten Taufrituals, aus dem am Ende der Name Bellegueule als Stigma hervorgeht – auf der subjektiven wie auf der sozialen Ebene. Des Weiteren erzeugt die Duplizität des Namens einen Riss, der sich durch den gesamten Roman zieht: Eddy Bellegueule verweist auf das soziale Milieu der Arbeiterklasse, während Édouard Louis emblematisch auf das Intellektuellenmilieu der Ankunftswelt anspielt, wo sich das ‹neue› Leben des Autors zuträgt. Die Namensänderung, die wohlgemerkt kein Pseudonym ist, sondern einen performativen juristischen Akt kennzeichnet, verhindert jegliche Versöhnung dieser beiden Sphären: Der Bruch bleibt sichtbar und spürbar, weit über die Grenzen des Textes hinaus. Man könnte hier sowohl im psychologischen als auch im sozialen Sinne von einer Art Schizophrenie sprechen, die auf literarische Weise den gebrochenen Charakter des Textes und den habitus clivé des Protagonisten hervorhebt. Dieser Kunstgriff wiederum wird überhaupt erst durch die autodiegetische Erzählweise möglich. Anders jedoch als in klassischen Autobiographien, in denen sich erzählendes und erzähltes Ich im Verlauf der Erzählung immer weiter annähern, findet hier eine zunehmende Dissoziation beider Instanzen statt, was den Aspekt der Klassenflucht unterstreicht. Indem Louis mit der identitätsstiften Funktion des Eigennamens radikal bricht, signiert er damit gleichsam den gespaltenen Habitus des transclasse. Wie Annie Ernaux wird auch Louis in seinen späteren Werken immer wieder das Material für seine Texte aus der eigenen Lebensgeschichte schöpfen. In Histoire de la violence geht es um die eigene Vergewaltigung durch einen Mann maghrebinischer Herkunft und den daraus resultierenden Kampf gegen rassistische Ressentiments; Qui a tué mon père kehrt zum Erstling zurück und stellt ge-
Ebda., S. 13–14.
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wissermaßen die nachgereichte Rehabilitation des eigenen Vaters dar, indem Louis ihn nicht länger nur als häuslichen Täter, sondern als Opfer der französischen Sozialpolitik charakterisiert – dieser Text steht sicherlich am deutlichsten in der Tradition von Zolas J’accuse ... !, indem er am Ende sämtliche französische Präsidenten der letzten 20 Jahre für den schleichenden Tod seines Vaters verantwortlich macht. Insofern beschreiben die drei bisher publizierten Texte von Édouard Louis nicht zuletzt auch den Weg vom angry young man aus einfachsten Verhältnissen zum engagierten Intellektuellen Bourdieu’scher Prägung.
5 Schluss: Bourdieu auf Instagram Die Geschichte der modernen französischen Intellektuellen beginnt, wie ich zu zeigen versucht habe, mit einem «Je», und man könnte mit Blick auf die gegenwärtige intellektuelle Szene feststellen: Sie schreibt sich auch so fort. Ich möchte abschließend noch einmal nach der offenkundigen Attraktivität des «je» im engagierten Kontext fragen und speziell das Genre der Autosoziobiographie fokussieren. Natürlich ist das «je» grundsätzlich im Rahmen gesellschaftspolitischer Interventionen unabdingbar, um als Absender von Anklagen, Solidarisierungen oder Kritik in Erscheinung zu treten. Im Kreise der ‹neuen› Intellektuellen fällt auf, dass das «je» nahezu omnipräsent ist, ganz gleich ob in soziologischen Essays, in Autobiographien oder eben in den Zwischenstufen der Autosoziobiographien: Alles scheint sich um das Ich und das eigene Erleben zu drehen. Dies verdankt sich sicherlich der seit einigen Jahren zu beobachtenden Prävalenz identitätspolitischer Diskurse und dem Postulat ihrer Vertreter und Vertreterinnen, dass man immer mitreflektieren sollte, von welcher Position aus gesprochen wird. Im vorliegenden Fall der sozialen Klasse und des Überwindens von Klassengrenzen dient mithin das «je» als Beglaubigungsinstanz nicht nur des Erlebten, sondern auch der Sozialanalysen, die sich daran anschließen. Die Attraktivität dieser Ich-Fixiertheit besteht ferner in zwei weiteren Merkmalen: Zunächst lässt sich nach narratologischen Prämissen das Ich in ein erzählendes und ein erzähltes Ich aufteilen, was in den Autosoziobiographien ganz konkret die beiden Welten markiert, zwischen denen die transclasses hin und her oszillieren: das erzählte Ich des einfachen Herkunftsmilieus und das erzählende Ich des Aufsteigermilieus. Das Ich dient somit in seiner binären Ausrichtung als Veranschaulichung des gespaltenen Habitus und damit auch als Katalysator sozialer Scham, die sowohl bei Ernaux als auch bei Eribon und Louis als Schreibanlass erkennbar ist. Zum zweiten wird durch die soziologische Reflexion das eigene Ich zum Interpretandum und durchläuft den Weg vom kleingeschriebenen «je» zum «Je» in Großschreibung, da es eben nicht nur um das rein subjektive Erleben individueller Scham, sondern um das
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Ich als Träger einer sozialen Identität geht. Was nun im Fall von Eribon, Louis und Lagasnerie die gemeinsame Inszenierung als Intellektuellen-Kollektiv angeht, fällt auf, dass es jenseits der autosoziobiographischen Texte immer häufiger zum Einsatz der ersten Person Plural kommt. Der bisher erst wenig zur Sprache gekommene Geoffroy de Lagasnerie, der einzige des engagierten Trios ohne transclasse-Erfahrung und gleichwohl der radikalste der drei, plädiert in seinem 2017 erschienenen und – «bien sûr»49 – Didier Eribon gewidmeten Essay Penser dans un monde mauvais dafür, dass es keine unpolitische Literatur mehr geben dürfe, dass es im Einzelfall in der Verantwortung der jeweiligen Autoren und Autorinnen läge, sich politisch einzumischen, ganz gleich ob man nun dem Feld der Wissenschaft oder der Literatur angehöre sei.50 Lagasnerie spricht von der «exigence de produire une connaissance émancipatrice»51 und konstatiert, dass sich die politische Frage stets ex ante und nicht ex post stelle.52 Lagasnerie benutzt – im Gegensatz zu Eribon und Louis – durchgehend die erste Person Plural, und man darf davon ausgehen, dass er damit «Wir linke Intellektuelle» meint. Wir wissen nicht zuletzt von Tristan Garcia, dass das «nous» keineswegs nur einen solidarischen Gemeinschaftssinn stiftet, sondern ihm stets auch eine aus identitätspolitischer Sicht exkludierende Qualität innewohnt53 – und hier zeigen sich meines Erachtens ganz deutlich die Grenzen des politischen Engagements des Trios, nämlich mit Blick auf die anvisierte Zielgruppe. Lagasnerie fordert zwar im besten marxistischen Sinne, dass die Intellektuellen mit dem Proletariat eine «communauté d’influence réciproque»54 eingehen sollen, aber wie soll die aussehen? Die Veröffentlichung von Louis’ Eddy Bellegueule hat in seinem Heimatdorf angesichts der extrem pejorativen Darstellung seines Herkunftmilieus nachvollziehbarerweise zu massiven Missstimmungen geführt;55 Eribon rief kurz vor dem zweiten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahl dazu auf, besser nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen, als seine Stimme Macron zu geben;56 Lagasnerie lässt sich anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung von Penser dans un monde mauvais für das Kulturmagazin Vgl. Geoffroy de Lagasnerie: Penser dans un monde mauvais. Paris: PUF 2017, S. 5. Vgl. ebda., S. 8. Ebda., S. 15. Ebda. Vgl. Tristan Garcia: Nous. Paris: Grasset 2016. Ebda., S. 110. Vgl. zur Rezeption Pia Keßler: Nachwort. In: Édouard Louis: En finir avec Eddy Bellegueule. Stuttgart: Reclam 2018, S. 217–222. Vgl. Dorothea Gross: Didier Éribon. «Wer Macron wählt, wählt Le Pen». In: SZ-Online, verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/praesidentschaftswahl-in-frankreich-didier-eri bon-wer-macron-waehlt-waehlt-le-pen-1.3470851 (letzter Zugriff: 21.12.2021).
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Titel Thesen Temperamente in seiner mit Dixhuitième-Möbeln ausgestatteten Pariser Altbauwohnung interviewen, um zu konstatieren, dass die Zeit des L’art pour l’art definitiv vorbei sei. Ob es in Frankreich auf diese Weise zu einer Einebnung sozialer Spaltungen und einer Reduktion sozialer Ungleichheit kommen kann, mag berechtigte Zweifel hervorrufen. Es ist daher sicher auch kein Zufall, dass das intellektuelle Engagement des Trios eher im Ausland, insbesondere in Deutschland und den USA, als solches gewürdigt wird als in Frankreich selbst. Die Auftritte der drei Intellektuellen, die Homestorys, die ständige Instagram-Präsenz, die gegenseitigen Widmungen und das ständige Sich-Zitieren, der mitunter denunziatorische Blick auf die classes populaires in den Texten von Louis und Eribon sowie die Omnipräsenz des «je» – all das erweckt doch sehr stark den Eindruck einer intellektuellen Selbstbezogenheit, die man in dieser Ausprägung weder bei Zola noch bei Bourdieu entdecken konnte. Sie erinnert sehr viel mehr an die Selbstinszenierungen der französischen Medienintellektuellen im Stil von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir oder später Bernard-Henri Lévy.57 Sartre zumindest war Bourdieu aufgrund ebendieser Inszenierungsstrategien stets suspekt,58 was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er Sartres Primat des engagierten Schreibens und Forschens durchaus teilte. Dem Trio Eribon, Louis und Lagasnerie wohnt in der Nachfolge von Sartre und Bourdieu etwas gleichsam Zwitterhaftes inne: Die drei selbsternannten Erben perpetuieren und variieren auf der einen Seite die Gesellschaftsanalysen des eher medienscheuen und -kritischen Bourdieu, bedienen sich jedoch auf der anderen Seite zum Zwecke der Verbreitung und Popularisierung ihres dezidiert linken Engagements der Marketingstrategien Sartres.
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Vgl. Tschilschke 2012. Vgl. Pierre Bourdieu: À propos de Sartre. In: French Cultural Studies 6 (1963), S. 209–221.
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Gregor Schuhen
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Vom autobiographischen «je» zum sozialen «Je»
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3 Lateinamerikanische Gegenwartsnarrative
Javier Ferrer Calle
«Es mejor un día como rico que una vida como pobre» Korruption und soziale Ungleichheit in Mexiko im Film von Luis Estrada Abstract: Mehrere Studien haben festgestellt, dass die Einkommensverteilung, d. h. die wirtschaftliche Ungleichheit, eine der Hauptursachen für Korruption ist. So argumentieren einige Autor:innen, dass unter Bedingungen starker Ungleichheit und Armut die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass Amtsträger:innen korrupt werden. Diese Analyse wird jedoch von anderen Autor:innen infrage gestellt, die vorbringen, dass Ungleichheit eine Folge und nicht die Ursache von Korruption sei. In diesem Zusammenhang soll der vorliegende Beitrag zwei der jüngsten und erfolgreichsten audiovisuellen Fiktionen des mexikanischen Regisseurs Luis Estrada analysieren, die Filme Un mundo maravilloso (2006) und El infierno (2010). Ziel dieses Artikels ist es, kritisch zu untersuchen, auf welche Weise diese audiovisuellen Fiktionen die Ursachen für soziale Ungleichheit und Korruption darstellen. Keywords: Korruption, mexikanisches Kino, lateinamerikanisches Kino Abstract: As has been confirmed by various studies, the main reason for corruption can be found in the unequal distribution of income. On these grounds, some scholars argue that in contexts of both high inequality and poverty public officials are more prone to becoming corrupt. Other scientists, however, express their doubts about this theory, stating that instead of being seen as primary source of corruption, inequality should rather be considered a subsequent consequence. Based on these considerations, the following article analyzes two of the most recent as well as most successful motion pictures by Mexican director Luis Estrada, Un mundo maravilloso (2006) and El infierno (2010). The objective is to critically investigate the reasons for social inequality and corruption depicted in these films. Keywords: corruption, Mexican cinematography, Hispanic cinematography
Javier Ferrer Calle, Siegen https://doi.org/10.1515/9783111022369-008
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1 Einführung Korruption wurde nicht immer in einem schlechten Licht gesehen. So argumentierten in den 1960er Jahren einige Theoretiker:innen, dass Korruption Marktversagen behebe und gleichzeitig die Fehler ineffizienter Regierungen vermindere. In diesem Sinne war Nathaniel Leff (1964) eine der ersten Personen, welche die positiven Auswirkungen der Korruption in ‹unterentwickelten Ländern›1 des Globalen Südens aufzeigten und argumentierten, dass bestimmte korrupte Praktiken den Abbau unnötiger Bürokratiekosten ermöglichten. Ab Ende der 1970er Jahre kam es jedoch zu einer Wende in der Erforschung der Korruption. Die revisionistischen Postulate veralteten, und es wurde eine neue Perspektive eingeführt, die ihre negativen Auswirkungen deutlich machte. Hier stechen die Arbeiten von Ökonom:innen wie Robert Klitgaard (1988) und Susan RoseAckerman (1978) hervor, die darauf hinweisen, dass Korruption wirtschaftlich nicht tragfähig sei und ihre Toleranz über einen langen Zeitraum betrachtet das gesamte demokratische System pervertieren könne. Der in der Sozialwissenschaft eingeleitete Paradigmenwechsel brachte die Frage der Korruption ins öffentliche Leben und gleichzeitig auf die politische Agenda.2 Diese neue Perspektive wurde durch die große Zahl von Korruptionsfällen in Lateinamerika und Osteuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch in Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland befeuert.3 So entwickelt sich die Korruption zu einem gesellschaftlichen Problem, dessen fatale Folgen nicht mehr nur das System selbst, sondern auch diejenigen betreffen, die sich als Akteur:innen darin bewegen. In diesem Sinne sind, wie Morales Quiroga (2009) in seinem Essay Corrupción y democracia: América Latina en perspectiva comparada feststellt, die bisher entwickelten Ansätze zur Untersuchung dieser ‹sozialen Krankheit› sehr unterschiedlich ausgerichtet. Zunächst ist der institutionelle Ansatz zu nennen, welcher die Beziehung zwischen einem hohen Maß an wahrgenommener Korruption und einem niedrigen Maß an Pressefreiheit und Institutionalisierung hervorhebt, worin sich auch ein geringes interpersonelles und institutionelles Vertrauen widerspiegelt.4 RoseAckerman weist darauf hin, dass in Gesellschaften, die auf zwischenmenschlichem Vertrauen basieren, Korruption Teil des Geschäfts sei: «Such interpersonal
Diesen Begriff verwendet Leff selbst durchgehend. Hier einschlägig: Francisco J. Laporta/Silvina Álvarez: La corrupción política. Madrid: Alianza Editorial 1997. Vito Tanzi: Corruption Around the World: Causes, Consequences, Scope, and Cures. In: IMF Staff Papers, 45/4 (1998), S. 559–594. Charles H. Blake/Stephen D. Morris: Corruption and Democracy in Latin America. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2009.
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trust, far from deterring corruption, is often an essential element of corrupt deals; it provides assurance of performance when payment and quid pro quo are separated in time.»5 In einem ähnlichen Sinn zeigen Studien wie die von Gray und Kaufmann (1998), dass Korruption einen negativen Effekt erzeugen, der die Legitimität der politischen Institutionen und letztlich das demokratische System beeinträchtigt. Darüber hinaus stechen die Ansätze der ökonomischen Studien hervor, in denen die Vermutung geäußert wird, dass Korruption einen negativen Einfluss auf die Wachstumsraten in den betroffenen Ländern habe.6 Dabei werden auch Staaten mit niedrigen Investitionsraten beobachtet.7 Andere Untersuchungen weisen allerdings auf die bürokratische Trägheit als einen der entscheidenden Faktoren hin. Die Verzögerung bei den Entscheidungsfindungen deutet darauf hin, dass das Auftreten privater Akteur:innen begünstigt wird, die gezwungen sind, bestimmte illegale Anreize zur Beschleunigung der Verfahren zu geben.8 In diesem Sinne wird in einigen Studien festgestellt, dass die Einkommensverteilung, d. h. die wirtschaftliche Ungleichheit, eine der Hauptursachen für Korruption ist.9 So zeigen die betreffenden Autor:innen, dass unter Bedingungen starker Ungleichheit die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass Amtsträger:innen korrupt werden. Folglich argumentieren sie, dass die niedrigen Gehälter der Beamt:innen Anreize für korrupte Praktiken böten.10 Diese Analyse wird jedoch von anderen Autor:innen infrage gestellt, die annehmen, dass Ungleichheit eine Folge und nicht die Ursache von Korruption sei. Sie betonen, die Ungleichheit in der Einkommensverteilung werde direkt von der Korruption beeinflusst, da zum Ausgleich von Verlusten, die z. B. durch Bestechungsgelder oder falsch zugeteilte Aufträge entstehen, beschlossen werde, die Steuern zu erhöhen oder die Ausga-
Susan Rose-Ackerman/Bonnie J. Palifka: Corruption and government: Causes, consequences, and reform. New York u. a.: Cambridge University Press 2016, S. 251. Alberto Ades/Rafael Di Tella: The Causes and Consequences of Corruption: A Review of Recent Empirical Contributions. In: IDS Bulletin, 27/2 (1996), S. 6–11. Wayne Sandholtz/William Koetzle: Accounting for Corruption: Economic Structure, Democracy, and Trade. In: International Studies Quarterly, 44/1 (2000), S. 31–50. Sebastián Mauro: La tematización de la corrupción como clivaje de la política argentina en los noventa. In: Estudios Sociales. Revista de Alimentación Contemporánea y Desarrollo Regional, 20/ 40 (2012), S. 68–95. Vito Tanzi/Hamid Reza Davoodi: Corruption, Public Investment, and Growth. Washington, D.C.: International Monetary Fund (IMF Working Papers Working Paper No. 97/139) 1997. Daron Acemoglu/Thierry Verdier: The Choice Between Market Failures and Corruption. In: American Economic Review, 90/1 (2000), S. 194–211. Ebda.
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ben für Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu senken.11 Diese Studien zeigen auch auf, wie Korruption die Einkommensungleichheit – gemessen am Gini-Koeffizienten12 – sowie die Ungleichheit in der Bildung und Landverteilung erhöht.13 Im Kontext der so skizzierten Diskussion hat dieser Artikel zum Ziel, kritisch zu untersuchen, wie die Fiktion, und insbesondere zeitgenössische mexikanische audiovisuelle fiktionale Narrative, die Zusammenhänge zwischen Korruption und sozialer Ungleichheit darstellt. So soll erläutert werden, wie in diesen Filmen öffentliche Debatten und Diskurse über Korruption eingeführt werden. Dabei werden einige der offiziellen Narrative bestätigt, anderen wird widersprochen. Hieran anschließend zielt der vorliegende Beitrag unter Berücksichtigung des narrative turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts14 darauf ab, zu untersuchen, wie diese Narrative die Konstruktion von Korruption und Ungleichheit als soziales Objekt beeinflussen. Im Fokus steht also der performative Charakter von Erzählungen, um zu erforschen, welche Arten von Geschichten erzählt und wie diese in das gesellschaftliche Imaginäre eingeführt werden.15 Dabei ist die Rolle des Kinos als ‹Schöpfer› von Erzählungen hervorzuheben. Der Begriff des Narrativs umfasst, über das Erzählgenre hinausgehend, jene diskursiven Mittel, die während des Aktes des Erzählens geschaffen werden. Zusammengefasst sollen in Anlehnung an Hayden White und sein Konzept des emplotment Narrative als jene Operationen gedacht werden, die, kulturell erkennbaren Handlungsschemata folgend, historische Ereignisse in Episoden einer Erzählung umwandeln.16 Zu diesem Zweck konzentriert sich diese Arbeit auf zwei der jüngsten und erfolgreichsten audiovisuellen Fiktionen des mexikanischen Regisseurs Luis Estrada. Im Mittelpunkt stehen die Filme Un mundo maravilloso (2006) und El infierno (2010). Konkret
Vgl. das nicht paginierte Paper von Susan Rose-Ackerman: The Political Consequences of Corruption. Causes and Consequences. In: World Bank, Note 74 (1996). Der Gini-Koeffizient ist eine der am häufigsten verwendeten Methoden zur Messung der Lohnungleichheit. Er ist ein Analyseinstrument, das die Verteilung des Einkommens unter den Einwohner:innen einer Region über einen bestimmten Zeitraum erfasst. Der Wert des Gini-Index liegt zwischen 0 und 1, wobei 0 die maximale Gleichheit bedeutet (alle Bürger:innen haben das gleiche Einkommen) und 1 die maximale Ungleichheit. Sanjeev Gupta/Hamid Davoodi/Rosa Alonso-Terme: Does corruption affect income inequality and poverty? In: Economics of Governance, 3/1 (2002), S. 23–45. Hierzu einschlägig: Luc Herman/Bart Vervaeck: Handbook of narrative analysis. Lincoln: Lincoln University of Nebraska Press 2005. Hierzu einschlägig: Gérard Imbert: Cine e imaginarios sociales: El cine posmoderno como experiencia de los límites, 1990–2010. Madrid: Cátedra (Signo e Imagen 131) 2010. Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Stuttgart: Reclam 1994, S. 123–157.
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werden die Protagonisten untersucht, da diese dem Publikum ein erhöhtes Identifikationspotential bieten. Ebenso ermöglicht die Analyse dieser Charaktere, die Perspektiven der Erzählungen zu thematisieren, die beide Filme vermitteln. Insbesondere wird analysiert, auf welche Weise die Filme jeweils Weltanschauungen zum Gegenstand machen, die mit neoliberalen Ideologien assoziiert sind. Dabei werden ‹Prozesse des Widerstands› sichtbar. Hierzu werden vor allem die Filmenden mit der moralischen Ambiguität der Figuren in Beziehung gesetzt. Das ästhetische Engagement des Regisseurs spielt dabei eine besondere Rolle, soll sich doch herausstellen, dass in den Filmen Gegennarrative von Straffreiheit oder Bestrafung lanciert werden.
2 Analyse 2.1 Un mundo maravilloso (2006) Bevor auf die Analyse dieser beiden Filme eingegangen wird, sollen der Regisseur und sein Werk vorgestellt werden. Der Mexikaner Luis Estrada wurde im Jahr 1962 in Mexiko-Stadt geboren. Im Jahr 1981 feierte er die Premiere seines ersten Kurzfilms Recuerdo de Xochimilco, bis heute hat er vier Kurzfilme und sieben Langspielfilme gedreht, doch erst im Jahr 1999 erfuhr er mit seinem Film La Ley de Herodes mit dem Schauspieler Damián Alcázar in der Hauptrolle breitere Anerkennung. Dieser Film wurde mit zehn Ariel-Preisen17 ausgezeichnet, darunter der Preis für den besten Regisseur, für den besten Film und für den besten Schauspieler in einer Hauptrolle. La Ley de Herodes kritisiert die politische Korruption der mexikanischen Revolutionspartei (PRI) während der Präsidentschaft von Miguel Alemán in den 1950er Jahren. Es handelt sich um den ersten Film in einer inoffiziellen Tetralogie des Regisseurs, in der die Mängel des politischen System Mexikos angeprangert werden. Die Tetralogie umfasst neben dem letzten – La dictadura perfecta (2014) – die beiden Filme, die in diesem Artikel analysiert werden sollen: Un mundo maravilloso (2006) und El infierno (2010). Un mundo maravilloso erzählt die Geschichte von Juan Pérez, dem ‹Ärmsten der Armen›, der durch Zufall berühmt wird. Der Protagonist wird, nachdem er in ein Bürogebäude gegangen ist, um sich nach einem Übernachtungsplatz umzusehen, von einer Putzfrau überrascht. Daraufhin will er durch das Fenster fliehen, was die Umstehenden fälschlich glauben lässt, er versuche, Selbstmord zu bege-
Die Ariel Awards wurden 1946 gegründet und werden jährlich von der Academia Mexicana de Artes y Ciencias Cinematográficas (AMACC) als Anerkennung für professionelle Vertreter: innen der mexikanischen Filmindustrie verliehen.
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hen. Die Zeitung El Mercurio berichtet, ein Mann habe versucht, sich aus Protest gegen die Regierung und gegen seine soziale Benachteiligung das Leben zu nehmen. Der Wirtschaftsminister Pedro Lascuráin gerät durch die Berichterstattung in den Medien und die öffentliche Debatte unter Druck, nachdem er für Pérez’ Selbstmordversuch verantwortlich gemacht worden ist. Angesichts dieser Situation beschließt das Wirtschaftsministerium, den Skandal aufzuklären, indem es den Lebensstandard des Protagonisten verbessert. Infolgedessen versorgt die Regierung Pérez mit einem kleinen Haus, einem Auto und einem Arbeitsplatz. Sie verändert damit das Schicksal des Protagonisten, der nun auch die von ihm begehrte Rosita heiraten kann. Als jedoch andere in Armut lebende Freunde von seinem Schicksalswandel erfahren, kommen sie auf die Idee, ihn nachzuahmen und in Mexiko-Stadt Selbstmordversuche vorzutäuschen. Der Wirtschaftsminister, erschrocken über die mögliche ‹Bettlerplage›, beschließt, nicht der Armut, sondern den Armen ein Ende zu setzen und diese ins Gefängnis zu schicken, auch Pérez. Drei Jahre später, nach Verbüßung seiner Strafe, verlässt der Protagonist das Gefängnis und kehrt zu seinem früheren sozialen Status zurück. Die erste Sequenz des Films zeigt den mexikanischen Wirtschaftsminister Pedro Lascuráin, begleitet von Mitgliedern des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, bei einem Gala-Bankett im Rahmen einer Weltkonferenz gegen Armut. Der Politiker rühmt sich mit den Erfolgen seiner Regierung im Kampf gegen die Armut in seinem Land, ohne dabei zu vergessen, «[qué den] gracias a los consejos de nuestros socios y amigos,»18 womit der IWF und die Weltbank gemeint sind – ein Bild, das mit der Figur des Protagonisten des Films, Juan Pérez, kontrastiert, der unten zu sehen ist, während er durch die Straßen der Stadt streift (siehe Abbildung 1). So unterstreicht diese Sequenz die Absurdität der Behauptung des Wirtschaftsministers, der so weit geht, zu sagen: «No hay un solo hombre sin techo y sin trabajo.»19 Dieser Satz wird unmittelbar durch Juan Pérez’ Situation widerlegt, der auf der Suche nach einem Unterschlupf durch den Sturm läuft. Er hält kurz inne, um vor dem Fenster eines Wohnhauses eine Familie zu beobachten, von der er angesichts seiner sozialen Lage nur träumen kann (siehe Abbildung 2). Diese Gegenüberstellung der Szenen verhöhnt die Erzählung der politischen herrschenden Klasse. Gleichzeitig hebt sie die soziale Distanz zwischen der allgemeinen Bevölkerung und einer Elite hervor, die, wie der Titel des Films und dessen Soundtrack – das Lied A Wonderful World – ironisch andeuten, jenes Universum bewohnt, das für die Armen in eine utopische himmlische Musik verwandelt wird.20 Un mundo maravilloso. Regie: Luis Estrada. México 2006, 00:01:31–00:01:36. Ebda., 00:02:28–00:02:36. Das Lied, das als Soundtrack zu hören ist, heißt What A Wonderful World, geschrieben von Bob Thiele und George David Weiss, und wurde 1967 von Louis Armstrong uraufgeführt. Die ers-
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Abbildung 1: Un mundo maravilloso. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2006, 00:02:09.
Abbildung 2: Un mundo maravilloso. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2006, 00:03:28.
Die Funktion der Filmeröffnung besteht darin, die Hauptnarrative des Films als Märchen zu gestalten. Dies wird in einer der ersten Einstellungen anschaulich illustriert, in der ein riesiges Lederbuch geöffnet wird und durch das Umblättern der Seiten die Zuschauer:innen mit den folgenden Worten in die Geschichte eingeführt werden: «Érase una vez / En un futuro no muy lejano / Un país en el que todo era maravilloso.»21 Durch die Darstellung der Filmerzählung als Märchen etabliert der Film eine Erwartungshaltung bei den Zuschauer:innen, die, wenn sie mit den Merkmalen des Genres bekannt sind, die moralisierende Absicht der kommenden Erzählung erahnen werden. Der Film ‹verspottet› somit die Konstruktion dieses ‹Märchens›, das der Neoliberalismus erfunden hat. Das fiktive Universum, welches der Film vorschlägt, zeigt damit die Ursachen des Neoliberalismus in Mexiko wie seine Folgen auf und unterstreicht den Trugschluss einer Denkweise, die, um Fortschritt und Wirtschaftswachstum zu erreichen, soziale Ungleichheit voraussetzt. Die Idee des Neoliberalismus lässt sich mit Bezug auf David Harvey wie folgt definieren:
ten beiden Strophen lauten: «I see trees of green, red roses too / I see them bloom for me and you / And I think to myself, what a wonderful world / I see skies of blue and clouds of White / The bright blessed day, the dark sacred night / And I think to myself, what a wonderful world» (Lyrics Collection: https://www.mathematik.uni-ulm.de/paul/lyrics/louisa~1/whataw~1.html [letzter Zugriff: 20.01.2022]). Estrada: Un mundo maravilloso, 2006, 00:00:45–00:01:02.
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a theory of political economic practices that proposes that human well-being can best be advanced by liberating individual entrepreneurial freedoms and skills within an institutional framework characterized by strong private property rights, free markets and free trade. The role of the state is to create and preserve an institutional framework appropriate to such practices.22
Gleichzeitig verdeutlicht diese Kontraposition von Realitäten, mit denen der Film spielt, was Ulrich Beck als eines der größten Probleme des Zeitalters der Globalisierung herausstellt: die Auflösung des Zusammenhangs «between market economy, welfare state and democracy».23 In dieser Fiktion wird die Auflösung jener Sphären durch die beiden Protagonisten verkörpert: durch den Wirtschaftsminister Pedro Lascuráin, der die Interessen der Marktwirtschaft vertritt, und durch den Armen Juan Pérez, der die Versäumnisse oder Unzulänglichkeiten des Sozialstaates darstellt. Was aus der Marktperspektive als angemessen betrachtet wird, schadet dem sozialen und demokratischen Staat – und umgekehrt. Diese Diskrepanzen führen zu einer Zersetzung der Zivilgesellschaft, da nur die politischen und wirtschaftlichen Eliten vollen Zugang zu dieser ‹Netzwerkgesellschaft› haben, die eine Folge der Globalisierung ist.24 Zu einem so zu beschreibenden sozialen Ungleichgewicht hat vor allem das Eindringen von supranationalen Akteur:innen wie der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds beigetragen. Diese formulieren – durch die Figur des Wirtschaftsministers im Film als Partner und Freunde bezeichnet – die Aktivitäten der Staatsregierung neu. Ziel ist es, die Autorität und die Rolle dieser Regierung einzuschränken, um das gute Funktionieren der neoliberalen Wirtschaftsreformen zu erleichtern.25 Eine weitere Schlüsselszene des Films ist der Augenblick, in dem der Wirtschaftsminister, von den Medien und der öffentlichen Meinung bedrängt, beschließt, den Protagonisten ins Ministerium einzuladen, um mit ihm zu sprechen und ihn davon zu überzeugen, seine angeblichen Forderungen zurückzunehmen. Vor Ort befragt Lascuráin sein Team bezüglich möglicher Lösungen zur Beendigung des Skandals. Dieses Fragment zeigt auf paradigmatische Weise, wie soziale Ungleichheit und Korruption im Film und darüber hinaus miteinander verbunden sind. Der wahre Charakter des Wirtschaftsministers wird offenbar, als dieser erklärt, «que ayudar a este cabrón es reconocer que el Estado aún tiene responsabilidades sociales pendientes.»26 An dieser Stelle äußert sich die neoliberale Ideo-
David Harvey: A Brief History of Neoliberalism. Cary: Oxford University Press 2005, S. 2. Ulrich Beck: What is globalization? Cambridge: Polity Press 2000, S. 4. Manuel Castells: El poder de la identidad. Madrid: Alianza Editorial 2003, S. 33. Graham Harrison: The World Bank and Africa: The Construction of Governance States. London: Routledge 2004, S. 9. Estrada: Un mundo maravilloso, 00:30:04–00:30:10.
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logie des Ministers, die im Widerspruch zu seiner früheren Proklamation und dem vermeintlichen Ziel, die Armut zu bekämpfen, steht. In ähnlicher Weise lehnt der Minister zwar zunächst die Bestechung von Pérez ab, denn, wie er sagt «eso va en contra de mis principios.».27 Aber diese flüchtige Ehrlichkeit findet schnell ihr Ende, wenn er daraufhin erklärt: «bueno que, aunque en esta ocasión creo que tienes razón.»28 Er akzeptiert den Vorschlag eines Beraters, den Skandal durch Bestechung zu beenden. Das Bestechungsgeld wird von Juan Pérez angenommen, der sich dadurch wie ein Komplize des korrupten Systems verhält. Indes unterstreicht der bedeutsamste Aspekt der Szene die Distanz, welche die herrschende Klasse von der sozioökonomischen Realität des Landes trennt: Der Minister fragt sein Team unwissend: «¿a cuánto está el salario mínimo?»29 Diese Ignoranz betrifft jedoch nicht nur den Politiker, sondern auch seine Berater:innen, die stottern, wenn sie Lascuráins Frage hören. Die Szene appelliert, wie Robinson anmerkt, direkt an die Zuschauer:innen und testet während der kurzen Pause deren eigenes (Un-)Wissen über das tägliche Leben in Mexiko.30 Die letzte Szene des Films zeigt Juan Pérez, wie er nach seiner Zeit im Gefängnis mit seinem ältesten Sohn, seiner Frau Rosita und seinen armen Freunden den Heiligen Abend in einem gemütlichen bürgerlichen Heim feiert. In der abschließenden Kamerafahrt werden die ermordeten tatsächlichen Hausbesitzer:innen gezeigt, deren Leichen auf dem Rasen liegen (siehe Abbildung 3). Das Bild wird wieder von Louis Armstrongs Lied What A Wonderful World untermalt. Es handelt sich um dasselbe Haus und dieselbe Familie, die der Protagonist zu Beginn des Films mit Neid durch das Fenster betrachtet hatte. Auf diese Weise enthüllt das beschriebene Fragment die Entwicklung der Figur sowie deren moralische Korruption. Sie ermordet die bürgerliche Familie, um ein Ziel zu erreichen: «un día como rico, es mejor que una vida como pobre»31 eine Devise, die Pérez an einer Stelle des Films äußert. Das heißt, ein solches Vorgehen eliminiert metaphorisch die Mittelschicht in dem Bewusstsein, dass dies der einzige Weg ist, die eigene soziale Lage zu verändern. Auch dieses ironische Ende, das typisch für das postmoderne Kino ist, überrascht und schockiert das Publikum durch die im Garten liegenden Leichen. Es handelt sich jedoch um ein Ende, das nur im Kontext des Films Sinn ergibt und die Erzählung des traditionellen Happy Ends im Märchen umkehrt.
Ebda., 00:30:25–00:30:28. Ebda., 00:30:31–00:30:35. Ebda., 00:30:40–00:30:42. Amy Robinson: The Powerful, the Poor, and the Politics of Representation in Luis Estrada’s Un mundo maravilloso (2006). In: Studies in Latin American Popular Culture, 32 (2014), S. 40. Estrada 2006, 01:42:22–01:42:28.
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Javier Ferrer Calle
Abbildung 3: Un mundo maravilloso. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2006, 01:51:42.
So erhält Pedro Lascuráin zeitgleich mit dem Mord in Oslo für seine Theorie Globalisierung und freier Markt, Werkzeuge der sozialen Gerechtigkeit zur Beendigung der Armen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
2.2 El infierno (2010) Der Film El infierno erzählt die Geschichte von Benjamín García, auch El Benny genannt. Nachdem dieser zwanzig Jahre illegal als Einwanderer in den Vereinigten Staaten gelebt hat, wird er nach Mexiko abgeschoben und kehrt in sein Dorf San Miguel Arcángel zurück. In Mexiko angekommen, findet El Benny sich in einer trostlosen sozialen Landschaft wieder, die von Gewalt und Drogenhandel geplagt ist. Seine Mutter und sein Patenonkel erzählen ihm, dass sein jüngerer Bruder getötet wurde und eine Frau und einen Sohn zurückgelassen hat. In dieser Situation, zudem in seine Schwägerin Guadalupe verliebt, beginnt der Protagonist, für Don José zu arbeiten, den Chef des Drogenkartells in der Region, bekannt als Los Reyes. Dabei hat El Benny das Ziel, seine neue Familie – Guadalupe und seinen Neffen – aus dem Elend zu retten. In der ersten Szene des Films ist zu sehen, wie der Protagonist nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten in der Altstadt von San Miguel Arcángel umherschlendert. Der Stadtname führt von Anfang an einen sarkastischen Ton in den Film ein, denn in der Engelskunde ist der Erzengel Michael derjenige, der den Teufel bekämpft und besiegt. Demgegenüber ist San Miguel Arcángel eine Stadt, in der Verlassenheit, Verwahrlosung und Einsamkeit vorherrschen – Zustände, die dem Protagonisten nicht mehr bekannt sind. Dieser wird Zeuge einer Schießerei, im Zuge derer ein Mann getötet wird. Die Szene ist Teil einer längeren Sequenz, die den Anfang zeigt, den ersten Kontakt El Bennys mit einer ihm unbekannten Hölle, in die er nun als Opfer involviert ist. Seine Unwissenheit spiegelt sich in der Frage wider, die er erstaunt der Zeugin des beschriebenen Ereignisses stellt: «¿Qué pasó?»32 Darauf antwortet diese noch ungläubiger: «el pan nuestro
El infierno. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2010, 00:08:09–00:08:11.
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de cada día.»33 Auch diese Nebenfigur unterstreicht den politischen und sozialen Kontext, in dem der Film spielt, indem sie hinzufügt: «Acuérdese que estamos en guerra.»34 Damit verweist sie auf den Krieg, der seit dem Jahr 2006 von der Regierung um Felipe Calderón gegen Drogenkartelle in Mexiko geführt wird. Dieses Fragment zeigt über das Offensichtliche hinaus – d. h. die Rohheit der Gewalt, welche die Szene beherrscht – das Ausmaß des Elends dieses Ortes, an dem sich auch die Frau am Raub beteiligt und die tragische Situation des Opfers ausnutzt, indem sie sich über die Wertsachen des leblosen Körpers hermacht (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: El infierno. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2010, 00:08:38.
Jenseits dieses Binoms von Drogenkartell einerseits und Opfern andererseits ist im Film ein Schlüsselakteur zu finden, der Teil dieses ‹höllischen› Raums von Gewalt und Elend ist: die politische Autorität. Es handelt sich um eine korrupte politische Behörde, die gemäß der Maxime laissez faire handelt und von der Situation profitiert, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Unter den verschiedenen Figuren, welche diese Korruption der Exekutive im Film darstellen, ist der Polizeichef Mancera beispielhaft. Im folgenden Dialog trifft er auf die Hauptfigur El Benny, die sich mit dem Polizeichef auseinandersetzen muss, um ihren Neffen aus dem Gefängnis zu befreien: – El Benny: Comandante, yo sé que es grave la falta del Chamaco, ¿pero no habría alguna otra forma de arreglarlo? – Comandante Mancera: Mire Mister García ya se va acordando de cómo funcionan las cosas en México. – El Benny: Y más o menos ¿cómo de a cuánto sería el chingalazo? – Mancera: Por ser para usted y entiendo que acaba de regresar a México se lo voy a poner en 50 kilos.35
Dieser Dialog, in dem Mancera zynisch erklärt: «Ya se va acordando de cómo funcionan las cosas en México»,36 unterstreicht die Idee der Korruption. Diese wird
Ebda., 00:08:12–00:08:14. Ebda., 00:08:14–00:08:16. Ebda., 00:33:52–00:34:17. Ebda., 00:34:02–00:34:06.
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hier nach den Studien des Politologen David Arellano als ein organisatorisches Phänomen dargestellt, dessen Handlungsweisen bereits rationalisiert sind.37 Mit anderen Worten: Es handelt sich um systemische Korruption, die sich aus einer klar definierten Organisationsstruktur ergibt. Ebenso verweist der zitierte Ausschnitt auf die kulturelle Perspektive der Korruptionsstudien, der zufolge Korruption den Traditionen und Bräuchen eines jeden Landes entspreche und daher bestimmte Staaten anfälliger für korrupte Handlungen seien als andere.38 Folglich wird Korruption, wenn sie als eine Erfahrung angesehen wird, die in der Vergangenheit wirksam war, die Zeit überdauern und bleiben.39 In ähnlicher Weise wird in anderen Werken argumentiert, dass Korruption die Aufrechterhaltung bestimmter kultureller Muster begünstigen kann, da in bestimmten Arten von Gesellschaften Gesetze nicht als Verpflichtungen, sondern als Vorschläge angesehen werden.40 In diesem Sinne werden – wie in diesem Fall der Protagonist El Benny – die Personen, denen es gelingt, Verfahren zu beschleunigen oder die Kosten zu senken, nicht als unehrlich, sondern als gerissen angesehen. Diese korrupten Einstellungen sind dann nicht mehr als singuläre Vorkommnisse zu verrechnen, vielmehr werden sie von den Eltern auf die Kinder übertragen und übertragen wie stabilisieren diese Art von Verhalten und Werten.41 Diese Szene enthüllt somit den Ursprung des Abstiegs des Protagonisten in die Hölle. In dieser Unterwelt wird die Korruption zum Hebel, zum Betriebsmechanismus. Dort ist El Benny nicht mehr nur Opfer, sondern auch ein Täter, der, wie in mehreren Sequenzen des Films gezeigt wird, nicht zögert, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen. Diese Dekadenz spiegelt sich in einer weiteren Szene wider. Darin sinnt der Protagonist auf Rache, nachdem er erfahren hat, dass der Drogenboss Don José, für den er arbeitet, für den Tod seines vor Jahren verstorbenen Bruders verantwortlich war. So nähert sich El Benny mit einem Maschinengewehr langsam der Bühne, auf der die Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit in San Miguel Arcángel stattfindet. Diese wird von Don José geleitet,
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der nicht nur der Chef der Narcos, sondern auch der neue Bürgermeister ist. Folgt man der Höllenmetaphorik, die der Film von Anfang an anbietet, lässt sich feststellen, dass der Protagonist am Ende in der Unterwelt verbrannt wird. Seine messianische Tat, der Mord an Don José, beendet zwar sein eigenes Leben, aber nicht den Kreis von Korruption und sozialer Ungleichheit, der die fiktive Geografie von San Miguel Arcángel charakterisiert. Im Gegenteil, die Gewalt erhält diesen Kreis aufrecht und nährt ihn, wie die letzte Szene des Films zeigt. In dieser verwandelt sich der Neffe des Protagonisten in einen jungen Drogendealer. Außerdem bringt dieses Filmergebnis die Debatte über Ursachen und Folgen von Korruption ins Spiel, z. B. soziale Ungleichheit und Gewalt. Erstere trägt hier dazu bei, das korrupte Verhalten der politischen Eliten zu fördern. So nutzen die Eliten, deren Priorität die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien ist, die Verwundbarkeit der unterprivilegierten Klassen aus, die gezwungen sind, klientelistische Beziehungen oder sogar Bestechungsgelder zu etablieren, um zu überleben.42 Im Falle von Gewalt handelt es sich um direkte, physische Gewalt, verstanden als der körperliche Angriff gegen Menschen, aber auch um strukturelle Gewalt.43 Diese rührt von einer korrupten politischen Struktur her, welche die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bürgerschaft durch den unrechtmäßigen Gebrauch der öffentlichen Mittel beeinträchtigt. Außerdem ist die symbolische Gewalt gemeint,44 welche die Einbürgerung und Normalisierung der Korruption als Teil der aufgezwungenen Ordnung ermöglicht, während sie die Prozesse der Herrschaft und der sozialen Ungleichheit aufrechterhält. Gerade gegen diese symbolische und strukturelle Gewalt versucht der Protagonist durch seine Handlung zu rebellieren und zeigt damit, dass er sich nun seiner Rolle als dominiertes Subjekt innerhalb eines unterdrückenden Systems bewusst ist.
3 Schlussfolgerungen Anhand der beiden in diesem Artikel analysierten Filme lässt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Korruption verdeutlichen. Er wurde zunächst durch die Figuren der beiden Protagonisten aufgezeigt, indem jeweils ein gewöhnlicher Mann aus einer niedrigen sozialen Schicht seine moralischen Grund-
Nieves Zuñiga: Correlation between corruption and inequality. In: U4/ Transparency International (2017), S. 1–11. Johan Galtung: Violence, Peace, and Peace Research. In: Journal of Peace Research, 6/3 (1969), S. 167–191. Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes. Paris: Seuil (Essais) 2003.
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sätze opfert und sich korrumpieren lässt, um zu überleben und aus dem Elend herauszukommen, was für beide schreckliche Folgen hat. Dies gilt allerdings nicht für jene Figuren, die der Oberschicht oder der politischen Autorität angehören. Beide Filme vermitteln in diesem Kontext die Existenz und Wirkung eines Narrativs der Straffreiheit, in welchem die Ursachen der Korruption zu sehen sind. Die Folgen für die zuletzt genannten Figuren sind demnach nicht nur nicht negativ, sondern geben überdies Anreize zu erkennen, indem sie korrupte Praktiken fördern und aufrechterhalten. Außerdem wird der Zusammenhang durch die Heterotemporalität gezeigt, die Luis Estrada mit seinem Kino auf die Bühne bringt, wie Price betont.45 Sie ermöglicht die Koexistenz verschiedener historischer Epochen unter dem gleichen Kamerawinkel.46 Dies erzeugt in den analysierten Sequenzen eine Spannung beim Publikum, das zu bestimmten Zeitpunkten thematische Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wahrnehmen kann. Dadurch wird die Realität in die Fiktion eingeführt oder, mit anderen Worten, leicht fiktionalisiert, um die Vorstellung eines Landes ohne Alternativen zu suggerieren. Schließlich zeigen beide Filme, dass der Neoliberalismus im mexikanischen Fall zu einer der Hauptursachen für die Verstetigung der sozialen Ungleichheit innerhalb einer Bevölkerung wird, die sich durch die Herrschaft und die Handlungen einer reichen und perversen Elite machtlos und zerrissen fühlt. In diesem Sinne entwirft das Kino von Luis Estrada eine Ästhetik des Widerstands gegen die Korruption des neoliberalen Systems, welches als ein biologischer Prozess dargestellt wird, der die Herrschaftsverhältnisse durch Machtmuster reproduziert und somit die Expansion und Naturalisierung kultureller, territorialer und epistemischer Hierarchien ermöglicht.
Filmographie El infierno. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2010. La ley de Herodes. Regie: Luis Estrada. Mexiko 1999. Un mundo maravilloso. Regie: Luis Estrada. Mexiko 2006.
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Patrick Eser
Verschleierung, (Un-)Sichtbarkeit oder Prägnanz sozialer Ungleichheiten? Medienökologie, Ästhetik und Hermeneutik des Sozialen im argentinischen Gegenwartskino Abstract: Der Beitrag setzt sich am Beispiel von zwei Spielfilmen des argentinischen Gegenwartskinos, Diagnóstico esperanza (2013) sowie Medianeras (2011), mit Mustern der (Un-)Sichtbarkeit sozialer Ungleichheiten auseinander. Die filmästhetische Machart, die narrativen und medialen Spezifika sowie die Modi und Strategien der Darstellung sozialer Ungleichheiten werden vor dem Hintergrund der in den Filmen angelegten sozialen Optik untersucht. Es wird ein Dialog mit der sozialen Hermeneutik gesellschaftstheoretischer Entwürfe (unter anderem systemtheoretische und medienökologische Ansätze) gesucht. Die so erzeugte produktive Spannung ermöglicht es, die filmischen Fiktionen vor dem Hintergrund der Frage nach der Eröffnung oder Verstellung des Blicks auf soziale Ungleichheiten zu untersuchen. Keywords: Imagination und Repräsentation des Sozialen, Ästhetik und Sozialtheorie, Ästhetik und Sozialtheorie, Ästhetik und Sozialtheorie Abstract: Referring to two recent Argentinean motion pictures – Diagnóstico esperanza (2013) and Medianeras (2011) –, this article examines different patterns regarding the (non-)visualization of social inequalities. Based on the visual appearance of social dimensions found in the films, both the aesthetic design and the narrative as well as the medium-related specifics will be analyzed. The simultaneous employment of different paradigms originating from socio-theoretical models (system theory and media ecology) results in a tension, thus enabling an elaboration on the cinematic depiction of social conditions, discussing the modes of opening or blocking the view on social inequalities in the aforementioned cinematic fictions. Keywords: imagining and representing society, aesthetics and social theory, contemporary Argentinean cinema, film aesthetics
Patrick Eser, Kassel/Buenos Aires https://doi.org/10.1515/9783111022369-009
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1 Soziale Ungleichheiten in den Kulturen der Zeitdiagnostik Die Feststellung sozialer Ungleichheiten und Aussagen über deren Entwicklung (d. h. ihrer Zunahme) sind fester Bestandteil zeitdiagnostischer Kommentare. Diejenigen, die offensiv und überzeugt den Glauben propagiert hatten, dass mit dem Ende des Systemkonflikts und der Errichtung der one world of capital nun die Bedingungen dafür gegeben wären, die Menschen- und Freiheitsrechte global umzusetzen, sind angesichts der Persistenz und Zunahme sozialer Ungleichheiten im Weltmaßstab kleinlaut geworden. Die von Pierre Bourdieu angeleitete umfangreiche Studie über das Leiden am Elend der Welt, La misère du monde (1997),1 sowie Mike Davis Abhandlung über den Planet of Slums (2006)2 können als frühe sozialempirische Studien über die neuen sozialen Ungleichheiten in globalem Ausmaß gelten. Die jüngste Covid-Krise scheint sich zudem, um in drastischen Bildern zu bleiben, als Brandbeschleuniger dieser Entwicklung und zugleich als ihr Brennglas zu erweisen. Auch nach Durchlaufen dieses Krisenzusammenhangs werden die sozialen Ungleichheiten wieder zugenommen haben. Die aktuellen Zeitdiagnosen divergieren in ihren Zeitbildern, in den behaupteten Trends und Zustandsbeschreibungen. Neben dem ‹Klimawandel› ist die ‹soziale Ungleichheit› das zentrale Schlagwort zeitdiagnostischer Genres. In den Künsten wie in den verschiedenen Kunst- und Kulturwissenschaften wird Ähnliches attestiert. In den letzten Jahren prominent geworden ist in der französischen Gegenwartsliteratur eine Neigung zu sozialen Themen. Sie scheint sich dem Anspruch stellen zu wollen, Auskunft über die Gegenwart zu leisten: «écrire le présent».3 Die beeindruckende Rezeption der autobiographischen Schriften Didier Eribons (und später auch seines Umfeldes) in Deutschland4 ist ein Beispiel für die literarische Hinwendung zum ‹Sozialen›, die seit den letzten Jahren auch die deutschen Feuilletons und kulturwissenschaftlichen Kreise beschäftigt. Zuvor schon hatte die so genannte «Kessler-Debatte» einen auserwählten Kreis von Kulturschaffenden und Akademiker:innen beschäftigt. Diese hatte sich an der provokant vorgetragenen These des Kulturjournalisten Florian Kessler entzündet, der zufolge die deutsche Gegenwartsliteratur überwiegend durch Kohorten von Absolvent:innen Pierre Bourdieu u. a.: La misère du monde. Paris: Seuil 1997. Mike Davis: Planet of Slums. London: Verso 2005. Vgl. Dominique Viart/Gianfranco Rubino: Écrire le présent. Paris: Armand Colin 2013. Die Eribon-Rezeption setzte zeitversetzt ein, verlief dafür hierzulande aber besonders ex- und intensiv; vgl. hierzu die Beiträge von Schuhen, Mecke und Lukenda in diesem Band sowie generell die Besprechung: Lothar Peter: Didier Eribon, Rückkehr nach Reims. In: Soziologische Revue, 41, 1 (2018), S. 138–141.
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von Schreibhochschulen produziert werde, die eine ähnlich saturierte soziale Herkunft aufweisen würden («Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!»5). Zielten diese Thesen polemisch auf die soziale Homogenität der Akteur:innen des gegenwärtigen Literaturbetriebs und somit auf dessen soziale Abschließung ‹nach unten› ab, so ist das Sujet der sozialen Ungleichheit in den Gegenwartsliteraturen ebenso zu einem prominenten Gegenstand avanciert. Schon vor dem Hype um Eribon wurde in germanistischen Kreisen über einen social turn in der Literatur(-wissenschaft) diskutiert.6 Fragen der sozialen Ungleichheit spielten in diesen Zusammenhängen eine prominente Rolle, als ästhetische Sujets, als Hintergrund poetologischer Perspektiven7 sowie als kritische Bestandsaufnahme des analytischen Instrumentariums der Geistes- und Kulturwissenschaften.8 Auch die romanischen Philologien und Kulturwissenschaften weisen entsprechende thematische Öffnungen auf, so beispielsweise im Kontext der Folgen der großen Weltwirtschaftskrise ab 2008, die in den philologischen, kultur- und medienwissenschaftlichen Debatten eine verstärkte Sensibilisierung für Fragestellungen des Sozialen und Ökonomischen hinterlassen hat. Das kritische Nachdenken über die Gespenster des Kapitals9 und die Auswirkungen des (Finanzmarkt-)Kapitalismus scheint in den Akademien des ‹Globalen Nordens› wieder angekommen zu sein.10 Titel – «Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!» – und Untertitel – «Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so brav und konformistisch? Weil die Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim alle aus demselben saturierten Milieu kommen» – von Kesslers Intervention bringen ihre Stoßrichtung treffend zum Ausdruck; vgl. Florian Kessler: «Literaturdebatte: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!», in: Die Zeit vom 16.01.2014. Vgl. Elke Brüns: Der Social Turn – Keiner unter vielen? In: Haimo Stiemer/Dominic Büker/Esteban Martinez Sanchino: Social Turn? Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(-wissenschaft). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017, S. 15–29; Elke Brüns: Einleitung. Plädoyer für einen social turn in der Literaturwissenschaft. In: dies. (Hg.): Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur. München: Wilhelm Fink 2008, S. 7–19; Haimo Stiemer/Dominic Büker/Esteban Martinez Sanchino: Social Turn? Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(-wissenschaft). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017. Vgl. Enno Stahl: Diskurspogo: Über Literatur und Gesellschaft. Berlin: Verbrecher 2013. Vgl. u. a.: Eva Blome/Patrick Eiden-Offe/Manfred Weinberg: Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 35, 2 (2010), S. 158–194. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Berlin: Diaphanes, 2010. Auf dem 34. Deutschen Romanistentag (2015) in Mannheim widmeten sich einige Sektionen literarischen Krisen- und Kapitalismusnarrativen; vgl. statt vieler: Kurt Hahn/Marita Liebermann (Hg.): Finanznarrative Als Krisennarrative: Literarische und Filmische Modellierungen «kapitaler» Erschütterungen in der Romania. Frankfurt am Main: Peter Lang 2021. Vorlesungsreihen und Sammelbände widmen sich literarischen Perspektiven auf den Kapitalismus, vgl. statt vieler: Annika Gonnermann/Sina Schuhmaier/Lisa Schwander (Hg.): Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus: Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2021 sowie darin: Vgl. Patrick Eser: Modelle literarischer Kapitalismuskritik in der Romania. Apoka-
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Die thematische Präsenz sozialer Problemlagen und Ungleichheiten in den Gegenwartskulturen ist gleichwohl kein Novum, wie der obige Verweis auf Frankreich sowie der Blick auf den lateinamerikanischen Kontinent und konkret die argentinische Kulturdynamik, die im Rahmen dieses Aufsatzes im Vordergrund stehen soll, zeigen. In diesen Ländern, in deren akademischer und intellektueller Kultur ein kritisches politisches Bewusstsein deutlich ausgeprägt ist, geht die Kulturkritik und -analyse mit ästhetisch-politischen Perspektiven auf die Entwürfe der Gegenwartsliteratur und -kinematographie einher. So können die hierzulande in ästhetischen Teildisziplinen zuletzt entfachten Debatten über einen ‹neuen Realismus der Gegenwartskunst›11 mit Blick auf die französischen12 oder argentinischen Debattenzusammenhänge13 durchaus als ein ‹Aufholen› gewertet werden. In dem Maße, in dem sich die kommentierenden ästhetischen Diskurse mit sozialen Tatbeständen auseinandersetzen, verwandeln sie sich selbst indirekt in Akteure der Zeitdiagnostik, sie gewinnen ihr analytisches Instrumentarium zur Untersuchung der ästhetischen Modellierung der Gegenwart oftmals aus Begriffen und Klassifikationsschemata anderer gegenwartsbezogener Diskurse.14 Die Kategorie der sozialen Ungleichheit ist eines dieser extra-ästhetischen Konzepte sozialwissenschaftlicher Provenienz. Sie hat in diesen Herkunftsdiskursen selbst unterschiedliche Problemdefinitionen erfahren, mit ihr sind zahlreiche Forschungsmethoden und konkrete Analysen verbunden. Hinsichtlich der Definition sozialer Ungleichheit besteht ebenso wenig Konsens wie in Bezug auf die Erforschung ihrer Ursachen oder auf ihre Beurteilung. Dass dem Begriff ein normativer Gehalt inhärent ist, zeigt die
lyptische Szenarien und utopische Gegenentwürfe im Zeichen des ‹kapitalistischen Realismus›. In: Gonnermann, Annika/Schuhmaier, Sina/Lisa Schwander (Hg.): Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021, S. 231–254, inbes. S. 231–234. Vgl. statt vieler: Veronika Thanner/Joseph Vogl/Dorothea Walzer (Hg.): Die Wirklichkeit des Realismus. Paderborn: Wilhelm Fink 2018; Helmut Lethen/Ludwig Jäger/Koschorke, Albrecht: Auf die Wirklichkeit zeigen: Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Campus, 2016; Bernd Stegemann: Lob des Realismus. Berlin: Theater der Zeit 2015. Vgl. Viart/Rubino (2013) sowie den Beitrag von Schuhen in diesem Band. Vgl. hierzu: u. a. Sandra Contreras (2018): En torno al realismo y otros ensayos. Rosario: Nube Negra. Patrick Eser: Konfiguratonen des Urbanen. Die Fragmentierung des Sozialen und Krisendiskurse in El aire (Sergio Chejfec), in: Stiemer, Haimo; Büker, Dominic; Sanchino Martinez, Esteban (Hg.): Social Turn? Das Soziale in der gegenwärtigen Literatur(wissenschaft), Weilerswist: Velbrück, S. 161–191; Horne Luz (2011): Literaturas reales: transformaciones del realismo en la narrativa latinoamericana contemporánea. Rosario: Beatriz Viterbo. Ein Beispiel könnte die Untersuchung der filmischen Narrative über die gated communities sein, wie sie Christian von Tschilschke in seinem Beitrag für diesen Band vornimmt.
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Empörung und Skandalisierung, die durch ihn zum Ausdruck gebracht werden kann: Der Terminus ‹soziale Ungleichheit› wird alltagssprachlich häufig verwendet, um soziale Missstände zu denunzieren. Die Relevanz, die dem Phänomen der sozialen Ungleichheit in sozialwissenschaftlichen Diskursen beigemessen wird, ist ebenso keinesfalls einheitlich. Es ist nicht selbstverständlich, dass Gesellschaftstheorien – denen dies eigentlich zugetraut werden könnte – soziale Ungleichheiten berücksichtigen. So finden sich komplexe Makrotheorien des Sozialen, die gesellschaftliche Dynamiken beschreiben und modellieren, ohne sich im Rahmen ihrer theoretischen Operationen für die systematische Ungleichverteilung von Ressourcen, soziale Ungleichheiten oder Phänomene der Armut zu interessieren. Die weiter unten noch zu kommentierende Theorie sozialer Systeme Luhmann’scher Prägung und ihr kybernetischer Fokus auf Kommunikationsprozesse kann, zumindest in ihren frühen Ausprägungen, hierfür als prominentes Beispiel dienen. Die weitgehende Zurückweisung des Themas der sozialen Ungleichheit in der Soziologie der frühen BRD, die ein Verständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft als Klassengesellschaft vermied und in den Augen kritischer Beobachter:innen einer Verschleierung ihres Klassencharakters zugearbeitet hat,15 kann hierfür als weiterer Beleg gelten. Die gegenwärtige Sensibilisierung für soziale Ungleichheiten, sowohl in den Feuilletons als auch in den fachwissenschaftlichen Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften, ist in ihrer Konjunktur vor dem Hintergrund ‹realer› sozialstruktureller Entwicklungen und politisch-ideologischer Auseinandersetzungen über die Gegenwart zu verstehen. Ihre Sichtbarkeit als gesellschaftlich relevantes Thema steht im Zusammenhang mit der verstärkten Wahrnehmung der angestiegenen sozialen Ungleichheiten, was auch das Wiederaufleben der Diskussion der jahrzehntelang als ideologisch verbrämten Klassentheorie bewirkt hat.16 Diese anekdotischen
1963 konstatierte der Philosoph Hans Heinz Holz in dem Essay Die verschleierte Klassengesellschaft die Persistenz der Klassenstruktur in der Sozialstruktur der BRD, auch wenn diese nicht bewusst im Sinne kollektiver Identifikation von Klassenbewusstsein sei; dennoch sei sie wirkmächtig als «verschiedene Integration von Menschen in den gesellschaftlichen Prozess im ganzen»; Hans Heinz Holz: Die verschleierte Klassengesellschaft. In: Krüger, Horst (Hg.): Was ist heute links? Thesen und Theorien zu einer politischen Position. München: Paul List 1963, S. 69–84, hier: S. 71. Die in der damaligen sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik vorherrschende Anschauung war die These von der ‹nivellierten Mittelstandsgesellschaft›, wie sie repräsentativ von Helmut Schelsky vertreten wurde. Diese, so Holz kritisch, treffe keine angemessenen Aussagen über die Sozialstruktur und verschleiere lediglich deren Struktur als Klassengesellschaft, auch als Fortwirken eines Denkens der Gesellschaft, das die Logik der Kategorie der ‹Volksgemeinschaft› fortsetzt. Vgl. hierzu u. a. Hans-Jürgen Urban: Klassen, Klassenpolitik und Klassenliteratur – gibt es das noch? In: Stahl, Enno/Kock, Klaus (Hg.): Literatur in der neuen Klassengesellschaft. (#Richtige Literatur im Falschen 4). Leiden: Brill/Fink 2020, S. 33–54, hier S. 35 ff.
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Kommentare der Diskursgeschichte sozialer Ungleichheit machen die Relativität ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sowie die Varianz ihrer Repräsentation, Symbolisierung und Klassifikation deutlich. Diese diskursive Kontingenz lässt es wiederum als bedeutsam erscheinen, die wechselseitige Beeinflussung und Verflechtung von Zeitdiagnostik, akademischer Wissensproduktion und ästhetischen Diskursen in den Blick zu rücken. Gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse bestehen aus «unterschiedlichen Verfügungsgewalten über Menschen, Vermögen und Güter», wie Karl-Hermann Tjaden und Margarete Tjaden-Steinhauer apodiktisch festhalten.17 Eine Sozialwissenschaft, die sich der Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene widmet, kann mit unterschiedlichen Haltungen auf die Faktizität und Effekte dieser Verfügungsgewalten reagieren, nämlich mit Kritik, Beschwichtigung, Ausblendung oder Rechtfertigung. Ob es sich um explizite und exponierte Thematisierungen oder bloß implizite Kommentare handelt: Eine Gesellschaftstheorie wird das Thema nicht vollends umgehen können, wenn es auch bloß als blinder Fleck in ihr präsent ist. Für die Soziologie gilt Folgendes: Wissenschaft, die sich mit Gesellschaft, gesellschaftlichen Aktivitäten und Beziehungen beschäftigt, wird immer, ob sie es möchte oder ob sie dessen gewahr wird oder nicht, mit der Existenz der sozialen Ungleichheit, Herrschaft und materieller und symbolischer Gewalt konfrontiert. Alle soziologischen Theorien, Diagnosen und Erhebungen enthalten, unabhängig davon, inwieweit sie das reflektieren, Befunde, Sachaussagen und Werturteile darüber, ob sie gesellschaftliche Ungleichheit und Herrschaft dulden, akklamieren und wünschen oder aber kritisieren, zurückweisen und als etwas notwendig zu Veränderndes begreifen.18
Verbunden mit der Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit sozialer Ungleichheiten in sozialtheoretischen Modellen ist die nach den theoretischen Konzepten, anhand derer jene beschrieben und systematisch analysiert werden können.19 Hinsichtlich der Analyse ästhetischer Repräsentation und Imaginationen von Ungleichheiten Vgl. Margarete Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden: Gesellschaft von Rom bis Ffm. Ungleichheitsverhältnisse in West-Europa und die iberischen Eigenwege. Kassel: Jenior 2001, S. 13. Lothar Peter: Rechtfertigung und Beschwichtigung. Gesellschaftskonzepte in der heutigen Soziologie. In: Mies, Thomas/Tjaden, Karl Hermann u. a. (Hg.): Gesellschaft, Herrschaft und Bewusstsein. Symbolische Gewalt und das Elend der Zivilisation. Kassel: Jenior 2009, S. 353–381, hier S. 353. Orientiert an den Begriffen ‹Klasse› und ‹soziales Milieu›, sind vielversprechende Ansätze der Sozialstrukturanalyse entstanden, die gesellschaftsstrukturelle Ungleichheiten identifizieren und analysieren, auch in globaler Perspektive: vgl. statt vieler: Klaus Eder: Klasse, Macht und Kultur. Zum Theoriedefizit der Ungleichheitsforschung. In: Weiß, Anja/Koppetsch, Cornelia u. a. (Hg.): Klasse und Klassifikation. Die symbolische Dimension sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2001, S. 27–60. Michael Vester: Die Gesellschaft als Kräftefeld. Klassen, Milieus und Praxis in der Tradition von Durkheim, Weber und Marx. In: Huber, Florian/Wessely, Christina (Hg.): Milieu. Umgebungen
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stellen sich diese Fragen in ähnlichem Ausmaß, wobei hier jenseits der Thematisierung des Sujets die genuin ästhetische Fragestellung nach den Möglichkeiten, Formen und Strategien der Darstellung eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Im Rahmen dieses Essays soll ausgehend von einer Analyse zweier zeitgenössischer argentinischer Spielfilme die Frage erörtert werden, welche Verfahren der Sichtbarmachung, Verschleierung und Thematisierung sozialer Ungleichheit in filmischen Erzählungen zu beobachten sind. Anhand der filmischen Ästhetik und audiovisuellen Muster der Beobachtung und Darstellung des Sozialen sollen Strukturen sozialer Ungleichheit rekonstruiert und sodann mit gesellschaftstheoretischen Konzeptionen ins Verhältnis gesetzt werden. Die in den fiktionalen Imaginationen konstruierten Lesarten des Sozialen werden mit gesellschaftstheoretischen Begriffen kurzgeschlossen, die selbst oftmals im Dialog mit den Imaginationen und der fiktionalen Modellierung des Sozialen in künstlerischen Diskursen gewonnen wurden. Der sozialwissenschaftliche Rückgriff auf die literarische Zeichnung sowie die (audio-)visuelle Exploration von Zonen der Armut ist ein Motiv, das im Folgenden wieder aufzugreifen sein wird. Zygmunt Baumans Hinweis darauf, dass «Soziologie und Literatur [...] auf der gleichen Wiese [grasen] und [...] sich von der gleichen Nahrung [ernähren], das heißt vom menschlichen Erleben der von Menschen konstruierten Welt»,20 bringt die Verschränkung von Literatur und Soziologie ins Spiel, die im Folgenden auf die audiovisuelle Erzählform des Spielfilms ausgeweitet werden soll. Die Auseinandersetzung mit der filmischen Darstellung sozialer Ungleichheit wird dabei rückgebunden an einen disziplinübergreifenden, zwischen den Polen der Ästhetik und Hermeneutik des Sozialen oszillierenden Austausch über die Darstellung und Beobachtung, Sichtbarmachung sowie Verschleierung sozialer Ungleichheit. Die gegenwärtige Debatten über die Wiederentdeckung sozialer Ungleichheiten und ‹Klassen›, die Virulenz von Schlagwörtern wie ‹Klassismus› und ‹Intersektionalität›, die zwischen den ästhetischen Sinnangeboten der Gegenwartskultur, den Feuilletondiskursen sowie den Kultur- und Sozialwissenschaften beobachtet wird,21 bildet dabei den Hintergrund. Die Spannung zwischen filmästhetischen Entwürfen, film- und kulturwissenschaftlicher Analyse und sozialwis-
des Lebendigen in der Moderne. München: Wilhelm Fink 2017, S. 136–175. Anja Weiß: Soziologie Globaler Ungleichheiten. Berlin: Suhrkamp, 2017. Agnieszka Hudnik: Europa ist ein Sprachgewirr. Interview mit Zygmunt Baumann. In: Die Zeit (23.11.2011), verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-09/zygmunt-bauman-in terview (letzter Zugriff: 18.10.2021). Vgl. hierzu als feuilletonistischen Einblick: Nils Markwardt: Du gehörst nicht dazu! In: Die Zeit (15.02.2021), verfügbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-02/klassismus-soziale-grup pen-soziologie-literatur-gesellschaft (letzter Zugriff: 18.10.2021).
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senschaftlicher Diagnostik sowie deren wechselseitige Befruchtung auszuloten, ist das Ziel der folgenden Ausführungen.
2 Luhmann im Elendsviertel: Diagnóstico esperanza Diagnóstico esperanza (2013) ist der erste Film des argentinischen Regisseurs César González (✶1989), der selbst in einer so genannten villa miseria (die argentinische Bezeichnung für Elendsviertel) aufgewachsen ist. González hat seit diesem Erstlingswerk mehrere Spielfilme über sein Herkunftsmilieu gedreht und das neuartige Genre des cine villero maßgeblich mitgeprägt. Diagnóstico esperanza handelt vom Alltagsleben von Jugendlichen und Heranwachsenden in einer villa miseria. Anhand verschiedener Erzählstränge werden die Lebensentwürfe und Alltagspraxen von männlichen Viertelbewohnern zwischen ungefähr 12 bis 25 Jahren gezeigt.22 Während bei dem mit Abstand jüngsten Protagonisten, Alan, der Zeitvertreib im Vordergrund steht, sind die älteren Jugendlichen damit beschäftigt, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Tätigkeiten sind eng mit illegalen Handlungen verschränkt: Alan beklaut seine dealende Mutter, um sich mit seinem gleichaltrigen Freund einen Drogenrausch zu ermöglichen, die Aktivitäten der Heranwachsenden richten sich auf Raubüberfälle und Straßenkriminalität. Die Figurencharakterisierung fußt größtenteils auf Stereotypisierung. Ein Großteil des Personals besteht aus flachen Charakteren, die Figuren erfahren eine kaum entwickelte Zeichnung. Sie tragen nur wenige Merkmale und werden in der sozialen Interaktion mit ihren Freunden und ‹Artgenossen› gezeigt, wobei sie oftmals ‹übercoole› Haltungen und Redeweisen an den Tag legen. In ihrer stereotypisierten Haltung und Gestik entsprechen sie dem Erscheinungsbild der Sozialfigur des pibe chorro. Dieser ist ein jugendlicher Delinquent («pibe»), der Raubüberfälle ausübt («chorro»: Dieb), oftmals unter brutaler Anwendung von Gewalt und Schusswaffen. Aufgrund massiver medialer Präsenz und reißerischer Berichterstattung in den Printmedien sowie Fernsehnachrichtensendungen hat sich der pibe chorro zu
Der geschlechtsspezifische Bias der männlichen Protagonisten der (frühen) Filme von González wird an dieser Stelle nicht weiter kommentiert. Zur Verschränkung der Aspekte von class und gender mit Blick auf die subalterne Maskulinität und am Beispiel der Film von González vgl.: Eser, Patrick: Männlichkeiten in sozialen Randlagen: ästhetische Fiktionen der argentinischen Sozialfigur des villero zwischen Stigma und Emblem. In: Schuhen, Gregor/Schröer, Marie/Henk, Lars (Hg.): Prekäre Männlichkeiten: Klassenkämpfe, soziale Ungleichheit und Abstiegsnarrative. Bielefeld: transcript 2022, S. 215–236.
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einem Zerrbild und einer Schreckensfigur des kriminellen Jugendlichen aus den Vorstadt- und Elendsvierteln verdichtet. Die Gespräche unter den Protagonisten sind im Soziolekt des Milieus gehalten. Die Alltagskommunikation ist von rüden Gesten und präpotentem sprachlichen Ton geprägt. Die jugendlichen Delinquenten propagieren ihre Entschlossenheit, Raubüberfälle durchzuführen, der Waffengebrauch erscheint als normales und legitimes Mittel der eigenen Durchsetzungsfähigkeit. Ihr Alltag oszilliert zwischen gemeinsamem Zeitvertreib, Marihuana-Konsum, dem Aushecken künftiger Überfälle und dem Kontakt zu zwielichtigen Polizisten, die ihnen einerseits Aufträge vermitteln, sie andererseits aber auch auffliegen lassen. Unter den delinquent akzentuierten Charakteren stechen zwei Figuren hervor, die in ihrer Zeichnung sehr wohl eine gewisse Tiefe erfahren: Neben dem schon erwähnten etwa zwölfjährigen Alan, dessen alleinerziehende Mutter zu Hause einen Drogenvertrieb organisiert (und dieses ‹Geschäft› mit der tätigen Unterstützung ihrer Kinder betreibt), ist dies der anonym bleibende Straßenverkäufer, der im Abspann durch seinen Beruf («vendedor de medias»: Sockenverkäufer) charakterisiert wird. Beide Figuren werden, Alan dabei allerdings deutlich prominenter als der ‹Sockenverkäufer›, in Szenen ihres Alltags in Großaufnahmen gezeigt, was eine gewisse Nähe zu ihnen vermittelt. Nachdem er über mehrere Stunden hinweg – zunächst im Vorstadtzug, später auf den Straßen im Zentrum von Buenos Aires – erfolglos versucht hat, seine Ware ‹an den Mann› zu bringen, wird der Sockenverkäufer in einer niedergeschlagenen Pose gezeigt. Er sitzt zusammengekauert und entmutigt auf einem Bürgersteig, Tränen rollen über sein nahezu regungsloses Gesicht, sein Blick geht in die Leere. Drei seriell montierte Großaufnahmen fangen das bewegungslose Gesicht aus verschiedenen Blickwinkeln ein und erzeugen eine große Empathie mit dem Straßenverkäufer.23 Alan, der Jüngste der Protagonisten, wird zu Beginn des Films ebenfalls in Großaufnahme gezeigt. Er sitzt in einer Ruheposition am Bordsteinrand und registriert seine Umgebung mit apathischen, in sich gekehrten Blicken. Sein Gesichtsausdruck lässt eine traurige Stimmung vermuten. Über mehrere Sekunden hinweg zeigen Close-Ups aus verschiedenen Blickwinkeln sein Gesicht. Alans Blick ist nachdenklich auf den Straßenasphalt gerichtet. Im Hintergrund ist vereinzelt Hundebellen zu vernehmen. Diese Darstellung Alans ist in die Exposition des Films eingebunden, die in die Topographie des Schauplatzes der villa miseria einführt. Da diese Eröffnungssequenz das Thema der sozialen Ungleichheit kontrastreich einführt, soll sie im Fokus der folgenden Ausführungen stehen.
Diagnóstico esperanza, Regie: César González. Argentinien 2013, 00:09:52–00:10:44.
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Der Film setzt mit einer mehrere Sekunden andauernden Totaleinstellung in Schwarz-Weiß ein, die im Hintergrund einen Wohnblock, im Vordergrund aufgetürmte Müllberge und im Zentrum eine Brache zeigt, auf der ein Fußballtor installiert ist. Es folgt eine Serie weiterer Einstellungen, in der eine sich minimal bewegende Kamera Ausschnitte des öffentlichen Raums des Viertels in Halbtotale ablichtet. Begleitet von Hintergrundgeräuschen wie Kinderstimmen, Motorrädern und Hundegebell zeigt die Kamera Außenwände heruntergekommener Wohnblocks, vor denen verrostende, ihrem Verfall überlassene Autos stehen. Die deprimierende Atmosphäre, die diese Aufnahmen vom profilmischen Raum erzeugen, wird durch die Schwarz-Weiß-Ästhetik verstärkt. Während die Bildspur zur Ausgangseinstellung von der Brache zurückspringt, die von der Müllansammlung und den Wohnblöcken eingerahmt ist, sind auf der Tonspur vereinzelte Schüsse zu hören, die sich zu einem heftigen Schusswechsel in Stakkato steigern. Die Schusssalven dauern an, sie sind in einer folgenden Einstellung noch entfernt zu hören, bevor wieder Ruhe einkehrt. Einige beobachtende Einstellungen zeigen aus Distanz eine Straßenszene, auf der eine Ansammlung von Polizeiwagen, Polizeikräften und einem Krankenwagen zu sehen ist, was visuell auf die ‹Befriedung› der Situation nach dem Schussgefecht anspielt. Es folgt ein harter Schnitt, in Farbeinstellung erscheint der am Straßenrand in sich gekehrte Alan, dem sodann die Kamera auf seinem Weg durch das Viertel folgt. Er durchschreitet die trostlose Brachlandschaft des Viertels und bahnt sich einen Weg durch die schlammige Fläche, die gezeichnet ist durch Pfützen, Abfallhaufen und ausgeschlachtete Autokarosserien. Teils mit tastendem Schritt, schreitet er voran durch enge Schluchten zwischen prekären Hausbauten. Die durchschrittenen Szenarien sind belebt, Hunde, Anwohner:innen und Kinder halten sich in ihnen auf, letztere spielen zwischen Müllhaufen. Die Kamera folgt dem jugendlichen villa-Flaneur in einer Over-the-shoulderEinstellung. Dem Publikum erschließt sich so, geführt durch Alan, das Elendsviertel, es gewinnt einen Eindruck von dessen Topographie. Nun in Farbe abgelichtet, erscheint die Umgebung in Zeichen des Verfalls: Abfall, Pfützen und Matsch prägen, in den abgedunkelten Farbtönen eines verregneten Tages, die Erscheinung der Wohnsiedlung. Klassische visuelle Topoi des ‹Schlammviertels› und slums werden aufgerufen. Ausgebrannte Autowracks und teils brennende Müllberge sind wiederkehrende Motive, die prominent ins Blickfeld der Kamera gerückt werden. Der visuelle Prolog des Films vermittelt trostlose Eindrücke von der Lebensumgebung der villa miseria und stellt die prekären Lebensbedingungen in diesem Milieu aus. Der profilmische Raum jener Wohn- und Lebensumgebung wird in einer Mischung aus objektiv-beobachtender Kameraeinstellung und subjektiver Kamera ausgeleuchtet, die, indem sie Alans Schritten folgt, die prekäre villa-Landschaft lebensnah exploriert. Beobachtende Einstellungen auf Ausschnitte der Topographie des
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Viertels und des Lebens in seinen öffentlichen Räumen werden in Form von atmosphärischen Zwischeneinblendungen in die Filmerzählung einbezogen. In ihnen werden Alltagsleben und Zeichen des Verfalls, spielende Kinder und brennende Müllhaufen in Schwarz-Weiß gezeigt, musikalisch untermalt von extradiegetischem Hip-Hop oder klassischer Musik. So begleiten die Töne von Bachs Präludium und Fuge C-Dur zum Wohltemperierten Klavier die Szene, in der Alan mit einem Freund die Straße hinabläuft, nachdem er seiner Mutter Drogen entwendet hat, um sie gemeinsam mit ihm zu konsumieren. Auch andere Sequenzen, in denen Alan das Viertel durchschreitet und mittels der Over-the-shoulder-Perspektive von der Kamera begleitet wird, sind von klassischer Musik untermalt, von Beethovens Mondscheinsonate und Mozarts Kleiner Nachtmusik. Die Dissonanz zwischen der Hochkultur der klassischen Musik, der von ihr transportierten Stimmung der andächtigen Erhabenheit einerseits und den visuellen, quasi-dokumentarischen Eindrücken von den in vielerlei Hinsicht prekären Realitäten des Elendsviertels andererseits, dieser Stilmix aus klassischer Musik und den tristen visuellen Eindrücken der Lebensverhältnisse kreiert eine besonders intensive Atmosphäre. Das unverstellt eingefangene visuelle Rohmaterial erhält durch diese musikalische Untermalung eine zusätzliche Schwere und Tristesse. Die filmische Erzählung von Diagnóstico Esperanza vermittelt einen für die argentinische Kinematographie in dieser Form neuartigen Einblick in die Lebensbedingungen der (männlichen) Jugend der villa miseria und generell in dieses soziale Milieu. Das Subgenre des so genannten cine villero, das in der villa von Bewohner:innen gemacht wird und vom dortigen Leben handelt, hat durch die Filme von González Sichtbarkeit und Auftrieb erhalten.24 Die Verwendung von Aufnahmen der Originalschauplätze und die Integration der Lebenswelt der villa miseria als profilmischer Raum verleiht diesem sozialen Milieu eine neuartige mediale Präsenz. Der parcours der Protagonisten durch das Viertel ermöglicht das Eintauchen in dessen Topographie. Es werden visuelle Rohdaten produziert und unmittelbare Eindrücke eingefangen, die zur Basis der filmischen Fiktion werden. Der Film spielt auch an sozial anders konnotierten Schauplätzen, so z. B. im ‹besser situierten› Stadtzentrum von Buenos Aires,25 was schon auf der Ebene der unmittelbaren visuellen Eindrücke einen sozialen Kontrast konstituiert. Die mit Blick auf soziale Ungleichheit provozierende Geste, die von dem Film ausgeht, besteht jedoch weniger in diesen zuweilen aufblitzenden starken sozialen Kontrasten,
Vgl. Carlos Luis Bosch: La discursividad del Cine Villero. In: Imagofagia. Revista de la asociacion argentina de estudios de Cine y Audiovisual 15 (2017), verfügbar unter: http://asaeca.org/ima gofagia/index.php/imagofagia/article/download/1257/1081 (letzter Zugriff: 18.10.2021). Ein Teil der Handlung findet in den Interieurs von Cafés oder einer hellen, schicken Wohnung eines ambitionierten Paares aus den aufstrebenden Mittelschichten statt.
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als vielmehr in den empörend prekären Lebensumständen, die die Kamera vermittels ihrer ‚rohen‘ und sozialdokumentarischen Exploration einfängt. Das Bildmaterial mag Irritationen provozieren und möglicherweise auch Assoziationen zu dem Eindruck wecken, den die Konfrontation mit dem sozialen Milieu des Elendsviertels auf Niklas Luhmann machte, als dieser eine brasilianische favela besuchte. Beeindruckt von dem Gesehenen, konstatierte der deutsche Soziologe, dessen ambitionierter Anspruch es war, eine umfassende Theorie sozialer Systeme aufzustellen, dass sich jene «Art von Elend [...] der Beschreibung entzieht».26 Luhmann musste angesichts der erfahrenen Realitäten des drastischen sozialen Elends feststellen, dass seine Theorie des Sozialen, die auf einem Modell der Beobachtung und Kommunikation fußt, in dieser Situation zum Schweigen gezwungen war. Er reagierte auf diese Sprachlosigkeit später mit einer Selbstkorrektur seiner Theorie. Den beobachteten Totalausschluss, den die Lebensbedingungen der Elendsviertel implizieren, indem sie deren Bevölkerung von Recht, Politik und Ökonomie exkludieren, versuchte er nun mit dem Exklusionsbegriff zu fassen. Luhmann verbalisiert seine theoretische Wortlosigkeit und Verblüffung angesichts des factum brutum dieses Elends wie folgt: Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die Stilllegung des Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen. Es bedarf dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.27
Weder Empirie noch Theorie würden den Beobachtungsdaten gerecht; die Faktizität des massenhaften Elends schien die Luhmann’sche Differenzierungstheorie vor erhebliche Erklärungsprobleme zu stellen. Interessanter jedoch als Luhmanns Hinweis auf mögliche theorieimmanente Schwächen ist der auf die sprachliche Undarstellbarkeit des Beobachteten, womit er auf das rhetorische Verfahren des Unsagbarkeitstopos zurückgreift, ein klassisches «literarisches Skript [...], das die kommunikative Vermittelbarkeit einer konkreten subjektiven Erfahrung verneint.»28 Auch Friedrich Balke hat hervorgehoben, dass in der Geste, dem theoretischen Problem der Exklusion durch Rückbezug auf den literarischen Diskurs
Niklas Luhmann: Jenseits von Barbarei. In: Miller, Max/Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 219–245, hier S. 227. Ebda. Sina Farzin: Sichtbarkeit durch Unsichtbarkeit. Die Rhetorik der Exklusion in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Soziale Systeme, 14, 2 (2008), S. 191–209, hier S. 193.
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gerecht zu werden, ein «surprising switch [...] of central and, maybe, symptomatic importance»29 zu sehen ist. Luhmann, kein großer Vertreter empirischer Erhebungen und von Feldforschung, schlägt vor, der Bezeugungsfähigkeit des Blicks, der unmittelbaren Wahrnehmung, in einer Situation zu vertrauen, die sich jeglicher Beschreibung entzieht. Gleichwohl ist hier mit Beobachtung nicht, wie sonst bei ihm, die Differenzierungsleistung kybernetischer Systeme gemeint, sondern die bewusste optische Wahrnehmung menschlicher Körper in einem bestimmten Raum. Die Systemtheorie nähert sich quasi-literarischen Beschreibungen, zumal den Textgenres der ethnographischen Skizzen und Feldbeobachtungen, den Erlebnis- und Augenzeugenberichten, an, um Zugang zu den Zonen der Exklusion zu erhalten und dadurch das Unbeschreibbare einer Symbolisierung und Reflexion zuzuführen.30 Ethnographische Textsorten ermöglichen offensichtlich eine Annäherung an das Phänomen der Exklusion, die späteren Schriften Luhmanns verlassen, wie kommentiert wurde, die «wissenschaftlichen Schreibroutinen zu Gunsten einer literarisch aufgeladenen Sprachform».31 Luhmanns Exklusionsbeschreibungen weisen ein Nahverhältnis zum literarischen Schreiben auf. Der Rückgriff auf eine bildreiche Sprache und personalisierende Darstellungen ist vor der grundsätzlichen Angewiesenheit soziologischer Theorie und abstrakter Äußerungen über die soziale Welt auf metaphorische und rhetorische Mittel zu sehen.32 Ohne den Aspekt der wahrnehmungsnahen Register sozialwissenschaftlicher Theorie und die Frage ihrer leitenden Begründungsmetaphorik zu vertiefen,33 soll anknüpfend an die Reflexion des wechselseitigen Verhältnisses von Gesellschaftstheorie und ihren bildlichen und literarischen Erkenntnisressourcen Diagnóstico esperanza vor dem Hintergrund des Problems der Sichtbarkeit der Ausgeschlossenen und des zeitdiagnostischen Potenzials der entworfenen ästhetischen Welten interpretiert werden. Die Frage nach der Exklusion ist eng mit der nach der Sichtbarkeit der Exkludierten verbunden. Wenn Luhmanns Lösung für das Problem der allzu großen Realitätsferne seiner theoretischen Abstraktion darin besteht, lebensweltlich verfahrende Beobachtung und nicht-wissenschaftliche Formen der Symbolisierung einzubeziehen, so kann die fiktionale Erzählung von Geschichten aus der villa miseria ebenso die Funktion erfüllen, einem sozial randständigen Bereich durch künstlerische Darstellung Sichtbarkeit zu verleihen. Der Hinweis darauf, dass etwas mit bloßem Auge zu erfassen sei und sich gleichzeitig einer Beschrei-
Friedrich Balke: Tristes Tropiques. Systems Theory and the Literary Scene. In: Soziale Systeme 8/1 (2002), S. 27–37, hier S. 29. Vgl. ebda., S. 30 f. Farzin: Sichtbarkeit, S. 193. Vgl. ebda., S. 195 ff. Vgl. ebda.
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bung widersetze, konstituiert eine epistemologische Spannung, die auch Diagnóstico esperanza kennzeichnet. Doch die audiovisuellen Eindrücke, die der Film wie auch die weiteren Filme von González übermitteln, ermöglichen einen Einblick in Lebensrealitäten, die für gewöhnlich lediglich im Modus sensationslüsterner Berichterstattung über die dortige Drogen- und Bandenkriminalität oder als Schreckens- und Zerrbilder von der lokalen Bevölkerung mediale Präsenz erhalten. González hat das Viertel seiner Sozialisation in den Schauplatz seiner Spielfilme verwandelt, die vom Leben der dortigen Jugend erzählen. Durch das Filmen an Originalschauplätzen und die Schaffung von Bildern der Interieurs, zu denen sonst keine Instanz der medialen Beobachtung Zugang hat, erhalten seine Filmen Züge einer realistischen Ästhetik, die zugleich durch den vielfältigen spielerischen Einsatz filmästhetischer Mittel konterkariert wird. Diagnóstico esperanza ist eine kritische Auseinandersetzung mit Klischees und Stereotypen, die als Stigma auf die soziale Welt der villa bezogen sind, zugleich aber auch als gelebte Realität wirkmächtig werden – sei es in der paranoiden Außenwahrnehmung dieser Viertel oder in den Gangster-Selbstbildern, die in der dortigen Jugend populär sind.34 Das soziale Milieu der villa miseria erhält als soziokulturelle Realität in seinem Facettenreichtum eine Repräsentation auf kinematographischer Ebene. Die Exklusion, von deren Darstellungsproblemen Luhmann handelt – ein Kriterium der Exklusion ist für Luhmann die Unsichtbarkeit –, wird in ihrer Visualität zugänglich. Der Ikonizität der Filmkunst kommt eine ästhetische Vorreiterfunktion in der Darstellung und Sichtbarmachung von Zonen der Marginalität zu.35 Durch die filmkünstlerische Gestaltung der Lebensweise ausgegrenzter Bevölkerungsteile verwandelt sich die soziale Exklusion in einen Gegenstand der Beobachtung; sie verleiht ihm Sichtbarkeit und stiftet durch die Gestaltung des visuellen Materials, auch durch die eingeflochtenen Stilkontraste, intensive kulturelle Sinnbilder der Marginalität. Die Kraft des Films liegt in der Spannung, die er «zwischen der Kulisse des miserablen Lebens und den in ihr verborgenen ästhetischen Möglichkeiten auf-
Mit diesem Aspekt setzt sich César González in seinem Essay El fetichismo de la marginalidad (Lomas de Zamora: Sudestada 2021) auseinander. Luhmann hebt die mögliche Funktion der bildenden Kunst in der Darstellung von Exklusionsphänomenen hervor: «Was hier auffällt, ist zunächst einmal eine Art semantisches und ästhetisches Wiedereinbringen der Exklusion in den Inklusionsbereich: eine Ästhetik der Langsamkeit und des Zurückbleibens, das gepflegt Ungepflegte der Präsentation des eigenen Körpers: die bewusste Provokation von Abweisung als Kunst der Entlarvung von Gesellschaft; und nicht zuletzt: die Einbeziehung von Schrott und Müll in Darstellungen, die als Kunst gewürdigt werden wollen»; Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 237–265, hier S. 234.
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baut.»36 Diese auf einen anderen Film bezogene Wendung lässt sich ebenso auf Diagnóstico esperanza wie auf die anderen villa-Filme von González anwenden, da sie eine ähnliche ästhetisch-politische Spannung kennzeichnet, wie die Filme, auf die der Kommentar ursprünglich abzielte: Er stammt von Jacques Rancière und dessen Analyse der Spielfilme des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa, die in den Vorstadtmilieus von Lissabon spielen und in denen die sozialen Außenseiter kapverdischer Immigrant:innen die Protagonist:innen sind. Rancière hebt in diesen audiovisuellen Narrativen die Darstellung der marginalisierten Milieus hervor, die sich nicht nur durch die Bildlichkeit des Dekors und Interieurs der marginalen Wohnstätten auszeichnet, sondern auch durch die Spannung, die in den körperlich-materiellen Eigenschaften der Viertelbewohner:innen wohnt.37 Die Sichtbarkeit des Subalternen, die Rancière hervorhebt, ist auch im Kontext des andiskutierten Films sowie mit Blick auf die Systemtheorie und ihren blinden Fleck in der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit thematisch. Die Beobachtungsleistung des Films erscheint zunächst als bedeutende Visualisierung und Symbolisierung der Zonen der Marginalität. Die «Repräsentation der Exklusion durch die Kunst» macht ein «Wissen zugänglich [...], das die wissenschaftliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft [...] schlichtweg übersieht.»38 Die Beobachtungsleistung der zur Filmerzählung montierten Bewegtbilder der Kamera ist gleichwohl, anders als es die Maximen der kybernetischen Abstraktion und Kommunikation der Systeme nach Luhmann suggerieren, anthropomorph. Das Auge, dem hier vertraut wird, ist das eines ‹involvierten Betrachters›.39 Seine Beobachtungsleistung ist die eines Augenzeugen, dem eine ironische und systematische Distanzierung schwerfällt oder gar unmög-
Jacques Rancière: Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. In: ders: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006, S. 75–100, hier S. 98. Aufgrund ihrer unaufhörlichen Aktivität verdichteten sich diese körperlichen Ausdrucksphänomene zu einem bedeutenden Zeichen. «[D]iese gedämpften Stimmen und kleinen Handlungen [erscheinen] als ein andauernder Triumph über die Stille und Apathie, als ein Versuch, die Körper zum Weitermachen zu bewegen und ihren Worten die Fähigkeit zu verleihen, die eigenen Lebensbedingungen zu reflektieren und sich auf die Höhe ihres eigenen Schicksals zu stellen ... Das Fehlen von Erklärungen [bringt] zu Tage [...], was wirklich politisch ist: nicht das Wissen über die Gründe, die dieses oder jenes Leben hervorbringt, sondern die direkte Konfrontation eines Lebens mit dem, was es vermag. Der Film entzieht sich diesen Spannungen nicht, er setzt sie vielmehr in Szene»; Rancière: Politik, S. 99. Rancières politisch-ästhetische Lesarten der zeitgenössischen Kinematographie enthalten instruktive Problematisierungen der Frage nach der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung subalterner sozialer Segmente, die in der vorherrschenden Repräsentationsordnung nicht oder höchstens entstellt vorkommen. Farzin Sichtbarkeit, S. 204. Ebda.
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lich ist. Die Rahmung der visuellen Rohdaten durch das musikalische Setting, das der Atmosphäre zunehmende Schwere verleiht, teils aber auch eine Leichtigkeit, wenn nämlich die visuellen Eindrücke von positiven Reggae-Beats untermalt werden und im hellen Tageslicht erstrahlen, bringt eine Empathie mit dem gezeigten Milieu zum Ausdruck. Die Instanz der Beobachtung der sozialen Exklusion ist die Kamera, die eine geteilte und allen zugängliche Wahrnehmung ins Bild setzt. Sie wirkt als Sensorium für die Beobachtung sozialer Ungleichheit, die in manchen Gesellschaftstheorien lediglich in Form eines blinden Flecks präsent ist.
3 Sozialneutrale Medienökologien in Medianeras Wie Diagnóstico esperanza handelt auch Medianeras (2011)40 von einem homogenen sozialen Milieu. Hier ist es nicht ein am Rande der urbanen Zivilisation lebender und von den offiziellen Verkehrsformen ausgeschlossener Bevölkerungsteil, der im Zentrum des Films steht, sondern das Milieu der jungen kreativen urbanen Mittelschichten. Medianeras, der erste Langspielfilm des argentinischen Fotografen, Musikers und Filmemachers Gustavo Taretto (✶1965), handelt vom Schicksal von Martín und Mariana, zwei Mittdreißigern, die in ihrem Singledasein Sinnkrisen durchlaufen und unter der Nichterfüllung einer erhofften glücklichen Liebesbeziehung leiden. Das Sujet der versagten Liebe steht im Zentrum des Films, der vom unglücklichen Dasein der beiden Protagonist:innen handelt: dieses wird ausgeleuchtet hinsichtlich des individuellen Berufswegs, der schon erreichten Schritte und der noch nicht erfüllten beruflichen Ambitionen, sowie des Scheiterns vergangener Liebesbeziehungen. Die Charakterisierung der beiden Figuren erhält dadurch Tiefe, dass ihrem Erleben und ihrer Sicht auf die Welt in inneren Monologen ein breiter Raum zugestanden wird. So werden Einblicke in das psychische Leiden, die Neurosen, die Einsamkeit, aber auch in die romantischen Phantasien der beiden vermittelt. Der Film erzählt die Einzelschicksale in Parallelmontage. Er deutet die Kreuzung der Lebenswege der beiden Figuren an, lässt ein tatsächliches Aufeinandertreffen jedoch immer wieder scheitern. Schließlich endet er mit einem Happy End, indem es dann doch zum ersehnten Zusammentreffen kommt, das in kitschiger Überzeichnung als magisches Ereignis eines glücklichen Kennenlernens inszeniert wird. Soziale Kontraste spielen in der Ausbreitung der filmischen Diegese keine Rolle. Kontrastmilieus zu dem der beiden Mitglieder der creative class, durch die Ungleichheitsbeziehungen sichtbar würden, tauchen nicht auf. Martín wie Mariana Medianeras, Regie: Gustavo Taretto. Argentinien 2011.
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lassen sich in Einstiegsmonologen, die sie zugleich als Figuren einführen, über die Metropole Buenos Aires aus. Sie kommentieren die architektonische und soziale Beschaffenheit der Stadt und des modernen Lebens in ihr, das zum Unglück tendiert. Der Film startet mit einem Monolog der Off-Stimme Martíns, die aneinandergereihte visuelle Eindrücke von der bonaerensischen Stadtlandschaft kommentiert. Sie kommentiert das unkontrollierte, wilde Wuchern des gebauten Raumes in der Stadt, äußert Kritik an den viel zu kleinen Wohnungen, an der Isolation als sozialem Normalzustand sowie an dem neurotischen Leiden der Stadtbevölkerung. Marianas Selbstvorstellung erfolgt ebenso im ersten Teil des Films in Form eines inneren Monologs, in dem sie ihr Unbehagen zum Ausdruck bringt. Sie kommentiert den ‹Zustand der Welt› anhand visueller Stadteindrücke und des Aspekts der Konstruktion. Dabei schlägt sie eine Brücke vom Urbanismus der Metropole, über ihren Beruf (sie ist ausgebildete Architektin, hat jedoch noch keine Anstellung als solche erfahren) hin zu ihrem Scheitern, eine stabile Liebesbeziehung ‹aufzubauen›. Die Monologe werden durch visuelle Ausschnitte von Oberflächen der Großstadt begleitet, sie äußern zudem Momente einer kulturellen Entfremdungskritik, die sich mit der postmodernen Subjektivität auseinandersetzt. Soziale Kontraste oder Zonen sozialer Exklusion spielen in Medianeras keine Rolle. Das Genre des Großstadtfilms ist nicht auf die Durchleuchtung der sozialen Substrate der Großstadt angewiesen, um auch in sozialer Hinsicht relevante und ästhetisch gelungene Stadtbilder zu entwerfen.41 Was an Medianeras von Interesse erscheint, ist die Art der Verschleierung sozialer Ungleichheiten, die den Film kennzeichnet. Die Protagonist:innen leben vereinzelt und ins Private bzw. in ihre Appartementwohnungen zurückgezogen, Martín noch mehr als Mariana. Sie stehen mit der Außenwelt vornehmlich über digitale Medien vermittelt in Kontakt; auch dieser Zug ist bei Martín, der an einer Soziophobie leidet und deswegen in psychiatrischer Behandlung ist, deutlicher ausgeprägt. Er arbeitet als Webdesigner von zuhause aus und kann seinen Berufsalltag mit seinem psychischen Leiden vereinbaren. Mariana jobbt als Schaufensterdekorateurin in einem Modegeschäft. Die Handlung des Films trägt sich in den Stadtteilen Palermo und Recoleta zu; die renommierte Avenida Sante Fé, wo die Wohnhäuser der Beiden liegen, ist das topographische Zentrum des Films, der dank Mariana auch imaginäre Ausflüge zum Plaza San Martín und zu den Parques de Palermo (gleichermaßen Orte, die an die Avenida Santa Fé angrenzen) enthält. In diesen erläutert Marianas Off-Stimme die
Dies ist zum Beispiel der Fall bei Manhattan von Woody Allen, den Medianeras mehrfach zitiert und ‹würdigt›, so deutlich in dem Protagonistenmonolog, mit dem Medianeras einsetzt. Vgl. hierzu: Patrick Eser: Milieufiktionen. Kontraste, Schwellen und Ungleichheiten in zeitgenössischen Großstadterzählungen Lateinamerikas (Film und Literatur). Habilitationsschrift. Universität Kassel 2021, S. 398 f.
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Architekturgeschichte des in den Parques de Palermo gelegenen Planetariums sowie des Kavagna-Gebäudes an der Plaza San Martín. Ihre Anekdoten vermengen architekturhistorisches Wissen mit urban legends und eigenen romantischen Phantasien. Die von der Avenida Sante Fé aufgespannte Achse markiert die Zone, in der die Schauplätze des Films liegen und die traditionellerweise vom gehobenen Bürgertum und der Oberschicht bewohnt wird. Die Schauplätze des Films weisen deutliche soziale Konnotationen auf, die allerdings kaum akzentuiert werden. Ebenso unmarkiert, weil in der Selbstverständlichkeit des Impliziten verharrend, bleiben soziale Herkunft und Lage der Beiden. Es handelt sich, wie schon erwähnt, um freie Kreative, die dem Gesellschaftssegment der Mittelschichten und der creative class angehören: Sie sind qualifizierte postindustrielle Wissensarbeiter:innen, die eine Qualifikation als Fachkräfte haben, deren berufliche Aspirationen sich jedoch noch nicht (typisch für Fachkräfte der Mittelschichten in der frühen Karrierephase) in einer stabilen Position im oberen Mittelschichtssegment niedergeschlagen haben.42 Die Filmästhetik etabliert einen intensiven Dialog zwischen verschiedenen Medien. Der Film stellt Bezüge zu anderen Formen visueller Kommunikation her, so kommt dem Comic als Erzählmedium in Form der Comicfigur Wally eine prominente Rolle zu. Wally, der Protagonist aus Where is Wally?, ist für Mariana die romantische Personifikation des von ihr vergeblich gesuchten ‹Prinzen›. Er ist sowohl als Figur des Puzzlerätsels wie auch als bewegte Comicfigur präsent. Weitere intermediale Bezüge finden sich in den zahlreichen Filmzitaten, aber auch visuelle Erzählformen wie das Computerspiel tauchen auf. Zudem werden digitale Trickfilme verwendet, um die architekturgeschichtlichen Anekdoten Marianas zu untermalen. Diese visuellen Exkurse kombinieren auf multimediale Weise architektonische Skizzen mit historischen Fotografien und Gegenwartsaufnahmen. Auch das Fernsehen ist präsent, und zwar als Unterhaltungsmedium, das eine imaginäre wie anonyme Gemeinschaft schafft. In einer Parallelmontage wird gezeigt, wie Martín und Mariana eines Abends zur selben Zeit denselben Film im Fernsehen sehen: Manhattan. Weitere Formen der visuellen Kommunikation, die im Film eine Funktion erhalten, sind großflächige Werbeflächen im städtischen Raum oder auch das
Die Mittelschichten sind in den lateinamerikanischen Sozialstrukturen ein besonderes Phänomen, das mit den Dynamiken westeuropäischer Gesellschaften nur bedingt verglichen werden kann. Vgl. hierzu: Dieter Boris: Aspekte von Mittelschichten in Lateinamerika heute. In: Journal für Entwicklungspolitik, 33, 4 (2017), S. 16–36. Gabriel Kessler/Maria Mercedes Di Virgilio: «Neue Armut» und Mittelschichten in Lateinamerika und Argentinien. In: Boris, Dieter u. a. (Hg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika. Ein Überblick. Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 95–119; Zur Dynamik des Milieus als «Sozialagentur»: vgl. Eder 2001, S. 38 ff.
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Schaufenster, das als visuelles Medium in seiner Spiegel-43, Bühnen- und Repräsentationsfunktion inszeniert wird. Das Schaufenster und die ihm inhärente Blicklogik sind ein Element des spielerischen Umgangs, den der Film mit den architektonischen Oberflächen der städtischen Topographie und deren Spiegelwirkungen betreibt. Auf der Ebene der visuellen Erzählung lässt sich eine Aufmerksamkeit für Oberflächen beobachten, die eine Reflexion der Intransparenz der (post)modernen Urbanität und der in ihr situierten Produktion von Sichtbarkeit anstößt. Die Dichte der medialen Bezüge unterschiedlicher visuellnarrativer Genres sowie die angestoßenen transmedialen Reflexionsformen haben dazu geführt, dass der Film unter dem Aspekt seiner medialen Reflexivität interpretiert wurde. So hat zum Beispiel Joanna Page Medianeras aufgrund seiner hohen visuell-medialen Reflexivität als einen «post-cinematic film» bezeichnet, in dem sich multimediale Praktiken und Bezugnahmen verständigen und die Filmnarrativik dominieren.44 Page interpretiert das städtische Gefüge, wie es in Medianeras entworfen wird, unter dem Aspekt der Medienökologie. Dies ist insofern stichhaltig, als die mediale Infrastruktur und die Wirkmächtigkeit der medialen Umgebungen tatsächlich ein zentraler aktantieller Faktor im filmischen Geschehen ist. Anknüpfend an die Definition der Ökologie durch Ernst Haeckel, die den Einfluss nichtorganischer Umweltbedingungen auf Organismen und Lebewesen untersucht, schlägt Page vor, die Stadt im Lichte zeitgenössischer stadtanthropologischer Debatten als ein «complex system continually forged by human and nonhuman forces»45 zu begreifen, in dem sich die menschlichen und technologischen Prozesse wechselseitig durchdringend entwickeln. Diese Koevolution humaner und nichthumaner Kräfte aus medienökologischer Perspektive zu betrachten, bedeutet für Page, zu untersuchen, wie sich Virtuelles und Materielles, Simulation und Reales in der «mediatised city» zunehmend miteinander vermengen. Die Kräfte, Ströme und Widersprüche, die mit dem großstädtischen Milieu verbunden sind, übersteigen den Willen und die Handlungen ihrer Schöpfer und ‹Architekten›. Die Stadt wird zu einem eigenständigen Faktor und Aktanten. Als solcherart beschaffene ‹materielle Fabrik› umfasse sie auch
Mariana nutzt das Schaufenster nachts, wenn es draußen dunkel ist, in seiner Spiegelfunktion, bekleidet sich mit der dort ausgestellten Mode. Ihrer Interaktion mit dem Schaufenster kommt in der bildsprachlichen Ausleuchtung ihrer Psyche eine bedeutende Funktion zu: Das Spiel von Innen und Außen, das der Scheibe inhärent ist, wird zu einer Metapher in der Ausleuchtung von Marianas ‹seelischem Theater›; vgl. Eser: Milieufiktonen, S. 413 ff. Vgl. Joanna Page: New Urban and Media Ecologies in Contemporary Buenos Aires. In: Johan Andersson/Lawrence Webb (Hg.): New Urban and Media Ecologies in Contemporary Buenos Aires. New York: Columbia University Press 2016, S. 79–94, hier S. 85. Ebda., S. 90.
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die Medien, die zu den zentralen materiellen Trägern der Erfahrung der spätmodernen Großstadt werden. In ihnen seien die Lebensvollzüge und die menschliche Subjektivität vor dem Hintergrund der Hybridität humaner und nichthumaner agency zu situieren: «[H]uman subjectivity [...] is primarily forged, not through language or discourse, but through material engagement.»46 Pages Argumentation bezieht sich auf bedeutende Theoriestränge aus dem Debattenumfeld des new materialism, der mit seinen Denkimpulsen bezüglich der Materialität des menschlichen Daseins in den letzten Jahren zunehmende Popularität genießt. Vor dem Hintergrund der These vom Anthropozän, vom Eintritt des Menschen in eine Epoche, in der seine Eingriffe in die natürlich-materiellen Bedingungen der Erde zu einem bedeutenden und problematischen Einflussfaktor geworden sind, schlagen diese Ansätze vor, die Ein- und Rückwirkungen der materiellen Kontexte auf menschliche Kulturen verstärkt zur Kenntnis zu nehmen. Medianeras ist eine gelungene filmische Inszenierung der materiellen und medialen Infrastrukturen und ihres Einflusses auf die zeitgenössische Form großstädtischer Subjektivität. Diese strukturelle Abhängigkeit wird im Film schlagartig durch einen Stromausfall vor Augen geführt, der den gerade begonnenen Chat zwischen Martín und Mariana, die kurz zuvor auf einer Dating-App miteinander in Kontakt getreten waren, unwiderruflich unterbricht. Die Anekdote des Stromausfalls unterstreicht die These von der Koevolution von Technik, Kultur und Gesellschaft im Technikmilieu der spätmodernen Großstadt, in der die Erfolgsbedingungen menschlicher Interaktion eng an technologische und materielle Faktoren gebunden sind. Page schlägt vor, die Szene des Stromausfalls im Anschluss an die Konzeption des ‹vitalen Materialismus› von Jane Bennett, für die das Stromnetz das Paradebeispiel der Vitalität der Materie ist, zu interpretieren: Die Menschen würden zunehmend von nichtmenschlichen Aktanten, z. B. von den Medien- und Objektumgebungen, und von deren agency beeinträchtigt. Diese seien «quasi agents or forces with trajectories, propensities, or tendencies of their own».47 Der Film führt zentrale Aspekte der grundlegenden Strukturierung der großstädtischen Lebensbedingungen durch materielle, mediale und technologische Infrastrukturen vor Augen. Der Fokus liegt auf der Großstadt als medienökologisches System, das, dies ist der kritische Subtext des Films, die Trennung und Distanz zwischen den Bewohner:innen sowie deren Einsamkeit eher verstärkt, als dass sie diese zu überwinden hilft. Das evozierte Bild der modernen Großstadt inszeniert diese als großes medientechnologisches Milieu. Die von Page eingeführten Debattenimpulse aus dem Umfeld des new materialism zielen auf ein medienanthropologi-
Ebda. S. 92. Bennett, zit. n. Page: New Urban, S. 88.
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sches Erkenntnisinteresse ab, das in Debatten hierzulande unter dem Label einer allgemeinen Ökologie diskutiert wird.48 In diesem Diskussionszusammenhang wird an die ökologische (im ursprünglichen Sinn des Begriffs) Vorstellung einer beeinflussenden Umgebung angeknüpft. Die umweltlichen Wirkmächte werden mit Fokus auf technisch-mediale Aspekte hervorgehoben. Zentral für den dabei angesetzten Milieubegriff – der im Anschluss an die kybernetische Medien- und Technikphilosophie von Gilbert Simondon gewonnen wird –, ist der Fokus auf die environmentalen Medien- und Technokulturen und deren Relation zu neuen ökologischen Subjektivitäten.49 Der Blick einer so verstandenen allgemeinen Ökologie interessiert sich primär für die kybernetischen Verschaltungen und ökotechnologischen Umgebungen, die als aktantielle Faktoren Einfluss auf die menschliche Existenz nehmen. Milieueffekte geraten hier in ihrer medial-technologischen und informationellen Dimension in den Blick, soziale Facetten des Milieubegriffs, wie sie in Gesellschafts- und Sozialstrukturtheorien zentral sind,50 spielen hingegen keine oder kaum eine Rolle. Die allgemein ökologietheoretischen Paradigmen des Milieudenkens auf den filmischen Stadtessay Medianeras anzuwenden, ist insofern passgenau, als der Film Annahmen einer allgemeinen Ökologie teilt und die Großstadt in ihrer Wirkung als vielschichtige sozial- wie auch medientechnologische Apparatur ausleuchtet. Er legt seinen Fokus auf diese Milieu-Effekte, die auf die ökologisch gefasste Existenz und Subjektivität der Großstadtbewohner:innen wirken. Im Lichte dieser environmentalen Wirkungen der großstädtischen Milieus als technologische Medienmilieus der spätmodernen Zivilisation wird die Gemüts- und Geistesdimension der Stadtbewohner:innen ausgelotet. Mögliche soziale Auswirkungen des Großstadtzusammenhangs – ein sozialer, sozio-distinktiver, intersubjektiver oder sozialstruktureller Gehalt – spielen in der Großstadtvision von Medianeras ebenso kaum eine Rolle wie in den allgemein-ökologischen Milieubegriffen aus den Debatten über die Technologie- und Medienum-
Vgl. u. a. Erich Hörl: «Technisches Leben». Simondons Denken des Lebendigen und die allgemeine Ökologie. In: Maria Muhle/Christine Voss (Hg.): Black Box Leben. Berlin: August 2017, S. 239–266. Vgl. ebda., S. 241 f.; Hörl schlägt, an Gilbert Simondons Milieutheorie und Theorien des technischen Lebens anschließend, die Konzeption einer allgemeinen Ökologie vor: «Dies geht einher mit einer Umwertung des Sinns von Ökologie, die nunmehr natürliche und nicht-natürliche Umwelten gleichermaßen umfasst und dabei zu unserer neuen historischen Semantik kristallisiert, die nicht so sehr von Gesellschaftsstrukturen als vielmehr von den environmentalen medienkulturellen Tatsachen der Gegenwart und von der Genese eines neues Bildes des Denkens Zeugnis ablegt»; Hörl: Technisches Leben, S. 42. So etwa in der Konzeption des sozialen Milieus von Michael Vester: Gesellschaft, vgl. Fußnote 19.
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gebungen. Eine allgemein-ökologische Interpretation von Medianeras ist insofern konsequent, da die filmischen Umgebungsreflexionen keine sozialstrukturellen Gehalte hervorheben, die eine auf soziale Dynamiken und Kontraste abzielende Interpretation erforderlich machen würden. Das sozial homogene Personal sowie das Sujet des Films, die soziale Isolation und das psychische Leiden an der spätmodernen Urbanität, machen Vertiefungen eines sozialen Gehaltes nicht erforderlich. Der Fokus auf die Psyche der Stadtbewohner:innen entspricht dem subjektiven Zugang zum urbanen Leben, den der Simmel-Schüler und Begründer der Stadtsoziologie Robert E. Park geprägt hat, als er die Stadt als «a state of mind»51 definierte. Das in Medianeras entworfene Stadtbild konzentriert sich auf die subjektiv-psychische Dimension des Stadterlebens und das entsprechende Leiden. Die postmoderne Großstadterfahrung wird im Film ausgehend von den subjektiven Befindlichkeiten sowie vom lebensweltlichen Einbezug der menschlichen Aktanten in architektonische und technologisch-mediale Infrastrukturen non-humaner Aktanten ausgeleuchtet. Aus medienökologischer Perspektive zerfällt die städtische Gesellschaft in voneinander isolierte Monaden, die zurückgezogen und selbstgenügsam ihr Dasein fristen.
4 Verschleierung und Sichtbarkeit sozialer Ungleichheit: Kinematographie und Hermeneutik des Sozialen Beide Filme sind zur gleichen Zeit, zu Beginn der 2010er Jahre, entstanden und spielen im Metropolraum von Buenos Aires. Die von Medianeras und Diagnóstico esperanza filmisch inszenierten Lebenswelten sind für sich genommen in sozialstruktureller Hinsicht sehr homogen. Ein vergleichender Blick auf die entworfenen Stadtbilder offenbart einen großen Kontrast, der nicht bloß die ästhetische Machart der Filme betrifft, sondern zugleich Licht wirft auf die Differenz der filmisch evozierten sozialen Lebenswelten. Eine Kontrastierung der entsprechenden Milieuskizzen macht die Spezifik der filmischen Lebensweltentwürfe deutlich. Die Gegenüberstellung vermittelt zugleich eine Idee von der inneren Fragmentierung des Großstadtraums, der den sozialen wie topographischen vorfilmischen Raum der Diegese bildet. Die Gegenüberstellung der beiden Stadterzählungen ergibt einen hetero-
Robert E. Park: The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment. In: Ders./Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie (Hg.): THE CITY. Chicago: University Press, S. 1–46, hier S. 3.
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genen sozialen Flickenteppich, oder, um eine Metapher des Doyens der Stadtsoziologie Robert E. Park aufzugreifen, das Bild eines ‹Mosaiks kleiner Welten›, dessen Teile sich nicht nur soziokulturell unterscheiden, sondern zugleich auch tiefgründende soziale Ungleichheiten zwischen den Elementen sichtbar machen. Eine Kontrastierung der beiden Filme ermöglicht es, die filmspezifisch-mediale Beobachtung des Sozialen mit Blick auf die von ihnen bewerkstelligte (Un-)Sichtbarkeit sozialer Ungleichheiten zu thematisieren – eine Perspektive, die sich zunächst anhand der sozial homogenen filmischen Wirklichkeiten der jeweiligen Filme nicht aufdrängt. Die Fragestellung, wie soziale Ungleichheiten thematisch, sichtbar und beschreibbar werden, setzt eine Sensibilisierung der sozialen Beobachtung voraus, die dazu befähigt, die möglichen ‹blinden Flecken› der filmästhetischen Entwürfe und ihrer sozialtheoretischen Hermeneutik auszuloten und die Frage der sozialen Ungleichheit anhand der entworfenen Bilder im Dialog mit gesellschaftstheoretischen Erklärungsmustern zu erörtern. Diagnóstico esperanza veranschaulicht das Potenzial ethnographisch-visueller Zugänge. Der Film exploriert Zonen der Armut und sozialen Exklusion auf innovative Weise, die sich deutlich von der gewöhnlichen Bildproduktion der Mainstreammedien absetzt. Diese schafft sensationserregende Bilder jener ‹exotischen› sozialen Milieus, die ansonsten im Verborgenen der medialen Aufmerksamkeit bleiben. In ihnen drückt sich eine Lust des Schauens auf das Elend aus, die in der langen Tradition des Narrativs der Exotik des sozialen Elends steht und kulturgeschichtlich bis zu den sozialdokumentarischen Genres der journalistischen Stadtteilreportage über Elendsviertel zurückreicht.52 Jene Diskurstradition der «Erkundung des Armenviertels als einer exotischen und zugleich unheimlichen Welt»,53 in der sich im Blick auf die ‹fremde› Lebensweise eine Mischung von Schauer, Neugierde und Faszination regt, hat sich in den letzten beiden Dekaden auch in einer new ghetto aesthetic des Mainstream-Kinos ausgedrückt: Filme wie Cidade de Deus (2002) oder Slumdog Millionaire (2008) präsentieren ein massenmedial applaudiertes und goutiertes Spektakel prekärer Lebensbedingungen und materiellen Elends, das mit bunter Bildästhetik und expressiv-poppigen Sounds globale Kinoerfolge feiert.
So die Tradition des slumming, das von Londoner Aristokrat:innen und gehobenen Bürger: innen erfunden wurde, die im Rahmen von Wochenendausflügen das proletarische East End durchstreiften, um dort unzugänglich geglaubte ‹fremde Kontinente› zu entdecken und diese als Exotikum zu beschnuppern; vgl. Rolf Lindner: Walks on the wild side: eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Main: Campus 2004, S. 71 ff. Ebda., S. 19.
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Gegen diesen Trend zur Spektakularisierung des Elends wendet sich die Filmästhetik von Diagnóstico esperanza explizit.54 Der Film schafft Bilder vom sozialen Elend, die im Lichte abstrakter Sozialtheorien, die für solche Phänomene der sozialen Exklusion kein analytisches Instrumentarium zur Verfügung stellen, zunächst unbegreifbar bleiben. Die Konfrontation mit solchen visuellen Rohdaten und filmästhetisch kondensierten Wirklichkeiten vermag es, zu motivieren, sich mit der latenten Blindheit der eigenen Optik und Hermeneutik auseinanderzusetzen. Luhmanns Vorschlag, die Starrheit seiner Theorie über den Umweg der Bildlichkeit und ästhetisch-literarischen Darstellung zu mildern, erscheint hier als interessanter Ausweg aus der theorieimmanenten Sackgasse. Diagnóstico esperanza weist trotz der ethnographischen Dichte seiner Bilder eine eigene künstlerisch-artifizielle Struktur auf. Die narrative Bauart des erzählten Geschehens, die Arbeit mit den stereotyp gezeichneten Figuren sowie die (Ent-)Dramatisierung des visuellen Materials durch die Tonspur verleihen den vorgefundenen Alltagswirklichkeiten neue Töne. Die Konstruktion der filmischen Erzählung ermöglicht zudem einen Bruch mit Realitätsillusionen, die aus den visuellen Eindrücken entstehen könnten. Das narrative Ins-Bild-Setzen der prekären Lebensbedingungen konstituiert eine ästhetische Repräsentation einer habitats- und milieuspezifischen sozialen Erfahrung, anhand derer Fragestellungen der sozialen Exklusion und Ungleichheit verhandelbar werden. Die soziale Beobachtung, die der Film anhand der visuellen Rohdaten und ihrer filmästhetischen Modellierung bewerkstelligt, verhilft, die Grenzen und blinden Flecken sozialtheoretischer Ambitionen und Abstraktionen sichtbar zu machen, die mit sozialempirischen Informationen nicht umgehen können. Das Kurzschließen des audiovisuell-fiktionalen Verfahrens mit gesellschaftstheoretischen Entwürfen kann einen solchen Luhmann’schen favela-Effekt provozieren, der Irritationen auslöst und das Bewusstsein für die wechselseitige Einschränkung der eigenen Optik, Wahrnehmung und Darstellung schärft. Es regt dazu an, die Perspektiven von Ästhetik und Hermeneutik des Sozialen zu verschränken. Eine analog gelagerte Irritation lässt sich anhand der sozialen Optik von Medianeras erreichen, dessen epistemologische Grenzen von der filmästhetischen Perspektive und der impliziten Gesellschaftstheorie gezogen werden. Der Fokus des Films kreist vor allem um die Einsamkeit und Isolation des Großstadtlebens, dessen frustrierende Wirkungen in kulturkritischen Thesen sublimiert ausgedrückt werden. Zudem richtet sich der Blick auf die mediale und infrastrukturelle Rahmung
Vgl. die scharfe Kritik des «Fetischismus der Marginalität» und der audiovisuellen Spektakularisierung des Elends durch César González in seinem Essay El fetichismo de la marginalidad (2021).
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der zeitgenössischen großstädtischen Existenz. Der kulturkritische Kommentar über die spätmoderne Lebensweise, den der Film artikuliert, fußt auf der Erfahrung eines sozialen homogenen Personals. Die urbane Lebenswelt erscheint in der Perspektivenstruktur des Films als ein medial und informationell gekoppeltes Netzwerk. Die materielle wie kybernetische Infrastruktur wird in Bezug zur Isolation und Einsamkeit der Protagonist:innen gesetzt. Dass deren Leiden Ursachen in überindividuellen Kontexten haben, suggeriert der Film in der Tradition modernekritischer Reflexionen über die Urbanität und ihre psychisch-subjektiven Auswirkungen. Das großstädtische Milieu, für das sich Medianeras interessiert, besteht essenziell aus diesen medialen und technologischen Infrastrukturen; soziale Umweltbeziehungen spielen hingegen kaum eine Rolle, soziale Differenzen innerhalb des evozierten großstädtischen Milieus werden nicht markiert. Das sozial homogene Substrat des Figurenpersonals der qualifizierten Arbeitskräfte der creative class dreht sich um sich selbst. Aus einer sozialen Milieuperspektive konzentriert sich Handlung und Optik des Films auf die Selbstbespiegelung der beiden Protagonist: innen, bis sie sich schließlich begegnen und die Bespiegelung eine andere Ebene erfährt. Soziale Ungleichheit als Kontrastwirkung einer fragmentiert dargestellten filmischen Wirklichkeit spielt in Medianeras keine Rolle. Der Fokus auf Artefakte, Technologie und Infrastrukturen und deren aktantielle Wirkung auf die Subjekte konstituiert das zentrale Thema des Films. Diese medienökologische Epistemologie bedingt wiederum die latente Blindheit der dem Film inhärenten sozialen Hermeneutik. Die Limitation einer solchen Gesellschaftsvision, die Medianeras mit neuerer medien- und technikanthropologischen Umwelttheorien teilt, wird offenbar, wenn sie in Kommunikation gesetzt wird zu jenen Zonen der Exklusion, die von den non human agents der medialen Verschaltungen und Infrastrukturen abgekoppelt sind. Eine Anwendung dieser Theorien auf soziale Milieus der Marginalisierung würde nicht nur ihre Passungenauigkeit offenbaren, sondern zugleich die spezifische Blindheit ihrer analytischen Optik (vor allem gegenüber dem Phänomen der sozialen Ungleichheit) manifestieren. Die paradigmatisch am Beispiel der Luhmann-inder-favela-Anekdote aufgezeigte und (von ihm selbst) problematisierte Limitation, würde sich dann auch mit Blick auf das sozialtheoretische Erklärungspotenzial des medienökologischen und technikanthropologischen Paradigmas ergeben. Sowohl dem Film wie auch der zu seiner Interpretation angemessenen medienökologischen Epistemologie liegt die Ausblendung eines informativen sozialen Gehalts zugrunde, was nicht an sich problematisch ist, aber doch dann, wenn sich das Erkenntnisinteresse auf soziale Ungleichheiten richtet. Kontrastive Perspektiven auf gegenwartsbezogene filmische Stadtvisionen ermöglichen, indem sie die ästhetischen Muster der Imagination des Sozialen vergleichend gegenüberstellen, diese daraufhin zu befragen, anhand welcher Darstellungsmechanismen sie implizit, willentlich, unbewusst oder systematisch eine Verschleierung von
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Ungleichheitsrelationen bewirken. Die Frage nach den Strategien der Sichtbarmachung sozialer Ungleichheit ist stets verschränkt mit der nach ihrer Verschleierung. Die an die kritische Evaluation der gesellschaftstheoretischen Modelle herangetragenen Kriterien sind selbstverständlich andere als jene, die auf ästhetisch-fiktionale Genres angewandt werden, da Letztere in ihrem Bezug auf außerfiktionale, gesellschaftliche Begebenheiten (sofern diese denn überhaupt relevant sind) von den Kriterien der Realitätsadäquanz und der empirischen Evidenz- und Faktentreue entpflichtet sind. Mit Blick auf die kulturellen Praktiken der Zeitdiagnostik, die ästhetischen Imaginationen sowie die akademischen Repräsentationsformen des Sozialen vermögen verschränkte Perspektiven filmästhetischer, kultur- und gesellschaftstheoretische Entwürfe zu zeigen, dass das Problem des blinden Flecks von besonderer Virulenz ist, wenn es um die Frage der (Un-)Sichtbarkeit sozialer Ungleichheit geht. Die Bilder der Gegenwart, die Diagnóstico esperanza und Medianeras entwerfen, sind auf den ersten Blick hinsichtlich der sozialen Ungleichheit thematisch nicht einschlägig. Eine Gegenüberstellung beider macht deutlich, inwiefern relativ homogene soziale Milieus das Personal und den sozialen Kontext konstituieren. Die fiktional-narrativen Beobachtungsleistungen des Sozialen laden dazu ein, die Optik, Wahrnehmungsmuster und Repräsentationen der sozialen Welt vergleichend zu untersuchen und im Lichte des Kontrasts die Imaginationen der sozialen Ungleichheit und ihre zeitdiagnostische Tönung zu erörtern. Eine Information der Lektüre fiktionaler Wirklichkeiten des Sozialen durch gesellschaftstheoretische Perspektiven kann die kulturanalytische Optik schärfen oder aber auch verschleiern. Der Eindruck, dass bundesdeutsche sozialwissenschaftliche Modelle sowie generell die gegenwartskulturelle Diagnostik im internationalen Vergleich dazu tendieren, mit Blick auf soziale Ungleichheiten Blickwinkelverengungen aufzuweisen, scheint mitunter auch in liberalen Milieus vertreten zu werden.55 Die Orientierung und Auswahl von Untersuchungsansätzen sollte somit wohl bedacht sein, wenn es darum geht, eine kultur-, literatur- und filmwissenschaftlich ausgerichtete Ungleichheitsforschung sozialtheoretisch zu orientieren. Die Notwendigkeit, den Blick auf soziale Ungleichheit sorgfältig zu schärfen, anstatt ihn zu verstellen oder theoretisch zu verschleiern, ist eine bedeutende Erkenntnis des Dialogs zeitgenössischer ästhetisch-fiktionaler Entwürfe sowie zeitdiagnostisch
Knapp 60 Jahre nach der oben in Fußnote 15 zitierten Beobachtung Holzens über die ‹verschleierte Klassengesellschaft› im Gefolge der Hegemonie von Schelskys Annahme einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft stellt der Soziologe Jens Beckert mit Blick auf die deutsche Soziologie fest, dass diese sich – ebenso wie die deutsche Gegenwartskultur – schwer damit tue, soziale Unterschiede und Ungleichheiten wahrzunehmen; vgl. Thadden, Elisabeth von: «Unsere Gesellschaft ist keine einheitliche Herde. Interview mit Jens Beckert». In: Die Zeit (17.04.2021).
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orientierter gesellschaftstheoretischer Modelle. Diesen Schritt rechtzeitig vorzunehmen, kann in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive eine Lehre darstellen, so dass sich die Kulturanalyse nicht, wie es einst Luhmann unterlief, erst im Zeichendschungel der favela verirren muss, um festzustellen, dass sie über keinerlei analytische Instrumente verfügt, einen Zugang zum Phänomen herzustellen. Die eigene Wahrnehmungsapparatur, die Beobachtungsleistungen sowie theoretischen Annahmen immer wieder zu überprüfen und zu revidieren, ist eine weitere Lehre, die aus Luhmanns Selbstkritik gezogen werden kann. Eine nicht minderbedeutende Anregung kann darin bestehen, dass teils sehr abstrakt verfahrende Sozialtheorien auf nichtwissenschaftlich verfahrende Register der sozialen Beobachtung, der Sichtbarmachung, Symbolisierung ja auch Fiktionalisierung gesellschaftlicher Erfahrung angewiesen sind. Die ästhetische Modellierung und Gestaltung des Sozialen stellt einen bedeutenden Gegenstandsbereich der Sozial- wie Kulturanalyse dar. Ästhetik und fachwissenschaftliche Hermeneutik des Sozialen können trotz epistemologischer und methodischer Differenzen in einen gewinnbringenden Dialog treten, der das Potenzial hat, produktive Irritationen der jeweiligen Beobachtungsleistungen zu bewirken.
Filmographie Diagnóstico esperanza, Regie: César González. Argentinien 2013. Medianeras, Regie: Gustavo Taretto. Argentinien 2011.
Bibliographie Balke, Friedrich: Tristes Tropiques. Systems Theory and the Literary Scene. In: Soziale Systeme 8/1 (2002), S. 27–37. ——— Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus. In: ders./Engelmeier, Hanna (Hg.): Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des «Figura»-Aufsatzes von Erich Auerbach. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 13–88. Biersack, Martin/Hiergeist, Teresa u. a. (Hg.): Parallelgesellschaften: Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur. München: AVM. edition 2019. Boris, Dieter: Aspekte von Mittelschichten in Lateinamerika heute. In: Journal für Entwicklungspolitik, 33, 4 (2017), S. 16–36. Bosch, Carlos Luis: La discursividad del Cine Villero. In: Imagofagia. Revista de la asociacion argentina de estudios de Cine y Audiovisual 15 (2017), verfügbar unter: http://asaeca.org/imagofagia/index. php/imagofagia/article/download/1257/1081 (letzter Zugriff: 18.10.2021). Bourdieu, Pierre u. a. : La misère du monde. Paris: Seuil 1997. Davis, Mike: Planet der Slums. Berlin, Hamburg: Assoziation A 2007.
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Soziale Ungleichheit in Film und Roman: Iñárritu und Bolaño Abstract: Der nachfolgende Artikel thematisiert zwei unterschiedliche Darstellungsformen sozialer Ungleichheit in Film und Roman. Unter Bezugnahme auf den Begriff der ‹relativen Deprivation› (Runciman) wird erstens gezeigt, dass insbesondere Erzählprosa durch die Modellierung von Perspektiven die individuelle Erfahrung und Bewusstwerdung von ungleichen materiellen Lebensverhältnissen ermöglicht und die Folgen für die binnengesellschaftliche Wahrnehmung von Besitz- und Lebensverhältnissen in Einzelfällen nachvollziehen lässt. Darüber hinaus ergibt sich zweitens insbesondere für Bildmedien die Möglichkeit, soziale Unterschiede in Juxtapositionen zusammenzuziehen und damit dem Urteil externer Beobachter:innen anheimzustellen. Die Darstellung des Sozialen erfolgt in beiden Fällen durch die Modellierung von Lebensräumen oder die Verwendung von ‹Requisiten› wie Kleidung, Konsumobjekte oder Artefakte, deren Auftauchen soziale anagnorisis, wie es hier genannt wird, beim Publikum antizipieren soll. Exemplifiziert werden beide Vorgehensweisen anhand des Films Amores perros (2000) von Alejandro González Iñárritu einerseits und des Kurzromans Estrella distante (1996) von Roberto Bolaño andererseits. Keywords: soziale Ungleichheit, Roman, Film, relative Deprivation, Parallelmontage, Amores perros, Estrella distante Abstract: The following article focusses on two distinct ways of depicting social inequality in films and novels. Referring to Runciman’s concept of ‹relative deprivation›, firstly it will be demonstrated that narrative prose is particularly apt to depict different manners in which unequal material living conditions may be experienced and reflected upon as well as the consequences entailed for the inner-societal perception of ownership structure and economic status. Secondly, audio-visual media has the ability to juxtapose various levels of social distinction and therefore encourages the recipients to draw their own conclusions regarding the extent of inequality displayed in the respective œuvre. In both instances, the portrayal of the social dimension occurs through modelling the characters’ living spaces and equipping them with specific garments, objects of consumption, and artefacts, thus anticipating social anagnorisis in the audience. Both of the aforementioned approaches will be
Jan-Henrik Witthaus, Kassel https://doi.org/10.1515/9783111022369-010
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exemplified by means of Alejandro González Iñárritu’s film Amores perros (2000) and Roberto Bolaño’s novel Estrella distante (1996). Keywords: social inequality, novel, film, relative deprivation, cross-cutting, Amores perros, Estrella distante
1 Einleitung Über statistische Erfassung und Koeffizienten ist die soziale Ungleichheit zu einem Parameter der europäischen Krisendiskurse geworden. Jürgen Link hat diese Krisendiskurse als die Hervorbringung ‹datifizierter Gesellschaften› charakterisiert,1 in deren Gestalt sich die zeitgenössische Biopolitik zu erkennen gibt: Kollektive überleben demnach durch die Herstellung von Normalität und durch ein Oszillieren um ihre Werte, genauer: durch Normalisierung auf der Grundlage demographischer und ökonomischer Ziffern. In diesem Kontext werden Indizes wie der Gini-Koeffizient zu Indikatoren in Bezug auf die Stabilität von Gesellschaften. «Wenn eine Normalverteilung wie die von Reichtum und Armut ‹ausbüxt› und der sogenannte Armutssockel breiter wird und das Ganze eine Quasipyramide wird, heißt das, Normalität ist verloren gegangen.»2 Im Gegenzug werden Phänomene wie soziale Ungleichheit als Krisen beschreibbar, und Länder, deren soziale Konfiguration dauerhaft massiven Ungleichheitsphänomenen unterworfen ist, also überwiegend Länder des globalen Südens, verharren demnach im Zustand der «Dauerkrise»: «Horrorinflation, hohe Arbeitslosigkeit und breite Armut».3 ‹Datifizierte Gesellschaften› und ihr globales Hegemoniestreben erlauben es auf diese Weise, Krisen nicht länger als existentielle Infragestellung struktureller Gegebenheiten wahrzunehmen,4 sondern als Aufruf
Jürgen Link: Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus. Göttingen: vandenhoeck & ruprecht 2018, S. 155–170. Jürgen Link: Staaten aus Daten (Inerview). In: der Freitag 16 (2019), verfügbar unter: https:// www.freitag.de/autoren/der-freitag/staaten-aus-daten (letzter Zugriff: 23.04.2021). Robert Lessmann: Argentinien in der Dauerkrise gefangen. In: Der Standard (16.02.2019), verfügbar unter: https://www.derstandard.de/story/2000097858010/argentinien-in-der-dauerkrise-ge fangen (letzter Zugriff: 23.04.2021). Reinhart Koselleck: Krise. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 1235–1240. Die Krise, etymologisch verstanden als einen Moment der Entscheidung, kann man als eine unmittelbar bevorstehende Bifurkation in der Zeit begreifen. Ein zweiter Weg öffnet sich, der in einem weiteren Sinne Jürgen Links Begriff des Antagonismus entspricht.
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zur ‹Arbeit an den Daten›. Vorausgesetzt wird damit also das Vermögen, Krisen bearbeiten zu können, wenn man nur die Zahlen in den Griff bekommt.5 Demgegenüber bieten künstlerische Ausdrucksformen wie Film oder Erzählliteratur andere Wege, gesellschaftliche Verhältnisse wie soziale Ungleichheit sichtbar zu machen.6 Sie thematisieren ihre Beobachtung oder sie machen sie beobachtbar. Sie veranschaulichen anhand konkreter Bilder oder Situationen, was soziale Ungleichheit konkret heißen kann oder aber wie sie sich einem Individuum als gesellschaftliches Verhältnis präsentiert, ja welche Emotionen damit verbunden sind. Ihr Darstellungsmodus orientiert sich dabei nicht an modernen Diskursen statistischer Wahrheit, die letztlich eine Erneuerung der platonischen Vorstellung ins Feld führen, «dass die Wirklichkeit nur das unscharfe Bild einer jenseits der Welt liegenden idealen Ordnung sei.»7 Kunst und Literatur richten ihre Darstellungsweisen weniger am Wahren, mehr am traditionell Wahrscheinlichen aus.8 Als Arbeitshypothese sei hier formuliert, dass die Bezugnahme des Textes auf den gesellschaftlichen Kontext immer dort, wo soziale Anschauung statthat, exemplarisch erfolgt.9 Sie kommuniziert mit der Wiedererkennung in einem Lektüre- oder Kunstpublikum. Hier wird vorgeschlagen, diese Rezeptionsweisen, die Anteil an der positiven oder negativen Aufnahme eines Romans oder
Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch der Corona-Krise ablesen. Dies bezeichnet eine Grundthese von Jacques Rancière. Vgl. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006. Manfred Schneider: Wir Serienmenschen. In: Neue Zürcher Zeitung (11.12.21), S. 21. Vgl. die berühmte Stelle über die Dichtkunst bei Aristoteles: Poetik. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 29. Hier geht es also nicht um eine mathematische Wahrscheinlichkeit, die freilich in ihrer Frühgeschichte auch Wechselwirkungen mit dem Roman hat (vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen: Wallstein 2002, S. 309–343). Aristoteles markiert vielmehr den Ausgangspunkt für eine viele Jahrhunderte andauernde Diskussion, die mit dem Begriff der Mimesis verquickt ist (vgl. nicht nur Erich Auerbach: Mimesis. Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen: Francke 19888, sondern bspw. auch Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek 1992, S. 90–167). An dieser Stelle könnte man an Aristoteles’ Ausführungen über das Beispiel als Mittel der rhetorischen Induktion erinnern. Beispiele haben immer schon eine narrative Grundstruktur. Nach Aristoteles ist die größte Valenz jenen Beispielen zuzusprechen, die die bekanntesten sind (vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hg. v. Franz G. Sieveke, München: Reclam 19955, S. 134 ff.). Die kognitive Funktion literarischer Beispielbildung erläutert in kantianischer Terminologie Manuel García Serrano: Ficción y conocimiento. Filosofía e imaginación en Unamuno, Borges y Ortega. Vigo: Academia del Hispanismo 2014, S. 69–80. Der Aspekt der normierenden Kraft des Beispiels ist von Giorgio Agamben aktuell wieder aufgegriffen worden: Was ist ein Paradigma? In: ders.: Signatura rerum. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 9–39.
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Films haben und zu Kanonisierungsprozessen beitragen, sowie ihre Antizipation durch Autor:innen versuchsweise soziale anagnorisis zu nennen.10 Dabei braucht die Betrachtung der Gesellschaft nicht unbedingt im Vordergrund der literarischen Darstellung zu stehen, die immer nach Gattung oder Genre zu differenzieren ist. Das bedeutet, dass soziale anagnorisis ab dem 19. Jahrhundert nicht nur auf den traditionell realistisch-naturalistischen Literaturtyp beschränkt oder ausschließlich der littérature engagée zuzuordnen ist, sondern auch in einem Setting, einem Hintergrund angelegt sein kann, was in einer neohistoristischen Perspektive zu einer Lektüre an den Rändern ermutigt. Umgekehrt tragen künstlerische Ausdrucksformen dazu bei, soziale Verhältnisse paradigmatisch hervorzuheben und damit auf die Gesellschaft zurückzuwirken, sie mit ‹sozialer Energie› aufzuladen.11 Romane, aber ebenso Filme sind auf mehreren Ebenen als Archive gesellschaftlicher Anschauung und als Mediatoren sozialer anagnorisis zu begreifen. Sie stellen Sphären des Sozialen vor Augen. Insbesondere die Erzählliteratur beobachtet das sozial Beobachtete. Sie rangiert also auf einem Niveau zweiter Ordnung. In einer ‹Phänomenologie sozialer Ungleichheit›, also in der Darstellung ihrer Bewusstwerdung, wird sie häufig über die Wahrnehmung von Figuren vermittelt. Hieraus ergibt sich, dass soziale Ungleichheit nur sehr unzureichend unter dem Regime datengestützter Bearbeitung von Krisen thematisiert werden kann. Als gesellschaftliches Verhältnis wird sie erst sichtbar im Sinne von durch soziale Akteure wahrgenommene und bewertete Ungleichheit, die vor allem mit Emotionen, ja Affekten verbunden ist. In der Soziologie wurde daher schon vor einiger Zeit der Faktor der ‹subjektiven Wahrnehmung sozialer Ungleichheit› eingeführt, basierend auf dem Begriff der ‹relativen Depravation› von Walter G. Runciman. Anhand verschiedener historischer Paradigmen zeigt dieser, dass die jeweils eigene materielle und symbolische Stellung innerhalb einer Gesellschaft durch Vergleichsmomente und die individu-
Dieser Begriff lehnt sich an Roland Barthes’ Begriff des ‹Realitätseffektes› (Roland Barthes: L’effet de réel. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. von Eric Marty. Paris: Éditions du Seuil 2002, S. 25–32) an und erweitert ihn sogleich. An Rezeptions- und Kanonisierungsprozessen sozialer anagnorisis sind nicht nur empirische Leser:innen beteiligt, sondern ebenso Verlagshäuser, Literaturkritik und andere Instanzen, die zur Sichtbarkeit von Literatur oder gar zu ihrer Kanonisierung beitragen. Aus diesem Grund sind literarisch vermittelte Beispiele nicht selten auch Indikatoren für die Verhandlung von Werten und Handlungen in Gesellschaften oder Kulturen. Vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford: Clarendon 1988, S. 1–20; Helmut Pfeiffer: Das Ich als Haushalt. Montaignes ökonomische Politik. In: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft. Würzburg: Könighausen & Neumann 1995, S. 69–90 (insb. S. 71–74).
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elle Bezugnahme auf «Referenzgruppen» reflektiert wird.12 Was uns fehlt, wird deutlich, wenn wir auf das schauen, was anderen Individuen verfügbar ist, allerdings vornehmlich dann, wenn diese Individuen unserer eigenen gesellschaftlichen Gruppe oder aber einer angrenzenden angehören. Diese Zusammenhänge sind gewinnbringend mit René Girards Thesen zum mimetischen Begehren in Verbindung zu bringen,13 die – etwas gerafft – darauf hinauslaufen, dass das Begehren durch Nachahmung zuallererst hervorgebracht wird. Bevor etwas begehrt wird, wird beobachtet, wie und was andere Individuen begehren. Der Umstand, dass Girard seine Thesen vornehmlich an literarischen Texten entwickelt, stützt die Vermutung, dass die Erzählliteratur sich sehr gut als Archiv sozialer Anschauungen eignet. Runcimans Begriff der ‹relativen Deprivation› gibt den zentralen Hinweis zur sozialen Beobachtung von Ungleichheit, die in künstlerischen Ausdrucksformen verdichtet wird. Dennoch erweist er sich im Hinblick auf seine Anwendung im Kontext von Erzählliteratur und Film als ergänzungsbedürftig, weil er in der Wahrnehmung von Figuren mit ganz verschiedenen Emotionen verknüpft sein kann – mit Neid, Wut oder Aggression einerseits, mit Scham, Resignation oder Verzweiflung andererseits. Zudem wäre zu überlegen, ob die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit nicht historisch mit der Formulierung von allgemeinen Gleichheitsansprüchen einhergeht. In dieser Hinsicht ist die Bewusstwerdung von gesellschaftlicher Exklusion und Unterprivilegierung in besonderem Maße als eine Erscheinung der Moderne anzusehen. «On ne parle aujourd’hui que de l’égalité. Et nous vivons dans la plus monstrueuse inégalité économique que l’on ait jamais vue dans l’histoire du monde»,14 so schreibt Charles Péguy 1913. Es sind die Gleichheitsforderungen, die Disponierung von «rechtlichen Gleichheitsversprechen»,15 die mit Anbruch der Moderne eine besondere Dynamik der gegenseitigen sozialen Beobachtung und der Wahrnehmung von Exklusion und Unterprivilegierung grundieren. Dies bedeutet gleichzeitig, dass soziale Beobachtung, mimetisches Begehren und das Auftauchen von Referenzgruppen oder ‹Referenzpersonen› sich vervielfachen.16 Nicht von ungefähr lässt sich parallel hierzu die Tendenz moderner Kunst und Literatur
Vgl. Walter G. Runciman: Relative Deprivation and Social Justice. A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century England. Harmondsworth: Penguin 1972, S. 10–41; vgl. Zygmunt Bauman: Retrotopia. Cambridge: Polity Press 2017, S. 86–116. Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 215. Charles Péguy: L’argent. In: Cahiers de la Quinzaine 6/14 (1913), S. 29 f. Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. München: Beck 2021, S. 163. Vgl. Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Frankfurt am Main: Fischer 2017, S. 76. Für Mishra ist das mimetische Begehren nach Girard ein Grundelement des modernen Ressentiments geworden.
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aufzeigen, die Normen überkommener Gattungs- und Stilkonventionen hinsichtlich der von diesen modellierten sozialen Wirklichkeiten zu überschreiten. Andere Bereiche der Gesellschaft werden auf neue Weise wahrnehmbar,17 andere Stimmen – auch wenn sie simuliert werden – vernehmbar. Jenseits einer literarischen Phänomenologie ‹relativer Deprivation› zeigt sich in künstlerischen Ausdrucksformen ebenso die Möglichkeit, soziale Ungleichheit als unmittelbare Nachbarschaft krasser Gegensätze auf den Punkt zu bringen. Hier ist von einer ‹Juxtaposition der Extreme› zu sprechen. Wirkungsvoller als Koeffizienten ist die konkrete, in einem Bild oder in einem Filmschnitt versammelte Anschauung, die zeigt, aus welchen Gegensätzen sich Gesellschaft zusammensetzt. Auf diese Weise können Paradigmen sozialer Ungleichheit energetisch aufgeladen werden und in die allgemeineren gesellschaftlichen Debatten zurückfließen. Dem Laokoon-Prinzip folgend, lässt sich von der Tendenz her vermuten,18 dass Bild- und Filmmedien für eine Darstellung der ‹Juxtaposition sozialer Extreme› und für die Entwicklung sozialenergetischen Potentials geradezu prädestiniert sind. Wie ein Bild zum Paradigma gesellschaftlicher Unterschiede in Lateinamerika hat werden können, demonstriert Tuca Vieras berühmt gewordene Aufnahme der Favela Paraisópolis in São Paulo. Aus einem Hubschrauber heraus kontrastiert der brasilianische Fotograf das Elendsviertel mit einer vielstöckigen, direkt angrenzenden Immobilie, auf deren Balkons Swimmingpools angebracht sind. Mit den Mitteln der Fotografie stellt Vieira seinem Publikum massive gesellschaftliche Unterschiede vor Augen, er macht sie evident im rhetorischen Sinne des Wortes und appelliert an das moralische Bewusstsein der Rezipient:innen.19 Dabei besteht die besondere Dynamik der Aufnahme im ‹Realitätseffekt› des Fotos,20 welches eine konkret wieder auffindbare Gegebenheit ablichtet, aber diese aus einer Perspektive zeigt, die nicht allgemein zugänglich, sondern aufwändig und ungewohnt ist: eine Draufsicht von oben, mit dem Grenzwert des Kartographischen. Die Aufnahme provoziert soziale anagnorisis, überschreitet sie aber zugleich dadurch, dass der Blickwinkel gerade nicht – oder aber erst im Zeitalter von Google Earth – kollektivfähig ist.
Vgl. Jacques Rancière: The Politics of Aesthetics. London/New York 2014. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerei und Poesie. In: Lessings Werke, Bd. 4. Hg. v. Georg Witkowski. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1911, hier Abschnitt 16, S. 118–125. Vgl. Manfred Schneider: Bilderkrieg und orbitale Moral. In: Thomas Oberender/Wim Peeters u. a. (Hg.): Kriegstheater. Die Zukunft des Politischen III. Berlin: Alexander 2006, S. 217–253. Vgl. neben Barthes (L’effet de réel) auch: Roland Barthes: Rhetorik des Bildes. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 28–46.
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Möglicherweise beruht genau auf diesem Spannungsverhältnis der Erfolg des Fotos. Wir finden es auf der Homepage von Vieira, und darüber hinaus gibt es den folgenden Kommentar des Journalisten Lorenzo Mammì zu entdecken: Em 2012, em seu terceiro número, a revista ZUM publicou uma foto famosa de Tuca Vieira, representando, à esquerda, o bairro de Paraisópolis e, à direita, um empreendimento imobiliário de luxo. A foto não era nova: já em 2007, fora utilizada como cartaz da exposição Cidades globais, da Tate Modern de Londres. Mas continuava (e continua) a circular pelas redes sociais, gerando milhares de comentários.21
Längst hat das Foto die Wissenschaften erobert, in Vorträgen und Präsentationen wird es gern vorgezeigt, um die sozialen Gegensätze der lateinamerikanischen Regionen zu veranschaulichen. Es ist zu einem Paradigma geworden, von dem viele Diskurse politologischer, städtebaulicher oder gesellschaftswissenschaftlicher Provenienz ausgehen: zu einem Beispiel, auf das Stellungnahmen mit rhetorischer Absicht gern zurückkommen. Wie das Foto von Tuca Vieira zeigt, gehört die Juxtaposition sozialer Extreme sicherlich zu den aufsehenerregendsten Darstellungsmodi gesellschaftlich-ökonomischer Schieflagen. Die filmische Gestaltung dieses ästhetischen Prinzips sowie die Funktionsweise sozialer anagnorisis sollen nachfolgend anhand des Filmes Amores perros von Alejandro González Iñárritu aufgezeigt werden, bevor es dann ausführlicher um die literarische Phänomenologie ‹relativer Deprivation› gehen soll, die als Inszenierung komplexer Wahrnehmung von Ungleichheit insbesondere Erzähltexten zukommt. Anschauungsbeispiele hierzu finden sich im Kurzroman Estrella distante von Roberto Bolaño.
2 Soziale anagnorisis und Juxtaposition sozialer Extreme Amores Perros (2000) von Alejandro González Iñárritu gehört ganz zweifellos zu den großen Medienereignissen der jüngeren mexikanischen Kinogeschichte, was sich bereits an den Daten seiner erfolgreichen Kommerzialisierung im In- und Ausland schnell zeigen lässt. Gleichzeitig markiert der Film einen Neuansatz unabhängiger Regisseur:innen und Produzent:innen in Mexiko, die jenseits staatlicher Filmunterstützung auf den zahlungskräftigen Zuspruch des Publikums angewiesen
Tuca Vieira: Paraisópolis, verfügbar unter: https://www.tucavieira.com.br/paraisopolis (letzter Zugriff: 11.05.2021).
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sind und sich daher seinem mutmaßlichen Geschmack entgegenbewegen,22 ganz im Gegensatz zum vorher einflussreichen ‹Dritten Kino›, «dessen dekoloniale, sozialistische und dezidiert kontinental-lateinamerikanistische Prinzipien nach dem Ende der linken Projekte und der neuen neoliberalen Hegemonie auf dem Kontinent in ihrer ursprünglichen Form obsolet geworden sind.»23 Die erwähnten Daten und genannten Zusammenhänge lassen sich nicht nur mit Gewinn bei Christian von Tschilschke, Maribel Cedeño Rojas, Isabel Maurer Queipo sowie Benjamin Loy, sondern darüber hinaus auch bei Deborah Shaw nachlesen.24 Shaw vertritt die These, dass Amores perros die Darstellung sozialen Konfliktlagen, die der Handlung zugrunde liegen, entschärfe – und dies geschehe zugunsten einer Betonung universaler Probleme, wie Liebe, Gewalt und Neid. «‹Universal emotions› are seen to unite the characters, and make national and international audiences able to identify with them, despite their individual circumstances.»25 Nur ‹gegen den Strich› gelesen würden – so Shaw – die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse und Differenzen sichtbar und als Grundlagen der dargestellten Konflikte erkennbar.26 Nachfolgend wird es darum gehen, diese ‹Lektüre gegen Strich› fortzuführen und sie in eine ‹Lektüre an den Rändern› zu überführen, womit zunächst gezeigt werden soll, an welchen Stellen sich Angebote für soziale anagnorisis zu erkennen geben. Zwar mag man Amores perros als einen kommerziellen Film ansehen, der sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten sucht. Gleichwohl führt er unzweifelhaft soziale Ungleichheit vor dem Hintergrund der neoliberalen Politiken Lateinamerikas in den 1990er Jahren und der ‹Kommodifizierung› sozialer Handlungen und Interaktionen vor Augen.27 Hiervon ausgehend soll in der Folge darge-
Ein umstrittener Aspekt der Kritik ist hierbei die Gewaltdarstellung, wobei insbesondere die Hundekämpfe im Vordergrund stehen, vgl. dazu Bob Flynn (Love’s a bitch. In: New Statesman (28.08.2000), S. 34) und Alejandro Solomianski (Significado estructural, historia y tercer mundo en Amores perros. In: Contracorriente 3/3 (2006), S. 17–36, hier S. 28 ff.), der die Gewalt als Allegorie des Kalten Krieges in Lateinamerika (S. 30) verstanden wissen will, wobei verkannt wird, dass im Film gerade der Neoliberalismus der Motor der Gewalt ist. Benjamin Loy: Fragile Parallelitäten. Neoliberalismus, Poststaatlichkeit und Gewalt im mexikanischen Gegenwartskino. In: Teresa Hiergeist (Hg.): Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 109–144, hier S. 119. Vgl. Deborah Shaw: Contemporary Cinema of Latin America. Ten Key Films. New York: continuum 2003, S. 51 ff.; Christian von Tschilschke/Maribel Cedeño Rojas u. a.: Einleitung. In: dies. (Hg.), Lateinamerikanisches Kino der Gegenwart. Themen, Genres/Stile, RegisseurInnen. Tübingen: Stauffenburg 2015, S. 7–19; Loy 2017, S. 118 ff. Shaw: Contemporary Cinema, S. 57. Ebd. So die These jeweils bei Mónica López Lerma (City and Globalization in Amores Perros. In: Hispanic Culture Review 14 (2008), S. 69–74) sowie bei Loy: Fragile Parallelitäten, und Solomianski: Significado estructural.
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legt werden, dass gerade in der Schnitttechnik ziemlich deutliche Verweise auf soziale Ungleichheit eingebaut sind, die im oben ausgeführten Sinne als ‹Juxtaposition der Extreme› bezeichnet werden können und die durch Zusammenführung von gesellschaftlichen Gegensätzen die überaus verschiedenen Lebensbedingungen und -voraussetzungen sozial divergenter Gruppen drastisch zum Ausdruck bringen.
2.1 Die Modellierung sozialer Räume durch die Episodenstruktur In seiner Aufsatzsammlung zur Praktischen Vernunft formuliert Pierre Bourdieu neben anderen Überlegungen en passant eine These zum urbanen Raum: Die räumliche Herausprägung unterschiedlicher Gesellschaftsmilieus reguliere den binnensozialen Kontakt und kanalisiere auf diese Weise Allianzen über die bloße Wahrscheinlichkeit von körperlicher Begegnung. Dies heißt, «dass die Leute, die oben im sozialen Raum angesiedelt sind, nur mit geringer Wahrscheinlichkeit sich mit Leuten verheiraten, die sich weiter unten befinden, zunächst allein deswegen, weil die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass sie sich physisch begegnen.»28 Damit wird die räumliche Aufteilung der Stadt zu einer Skala von Wahrscheinlichkeiten, mit der die Bewohner:innen von urbanen Zentren miteinander in Interaktion treten. Hierbei sind die Varianten möglicher Kontaktaufnahme sehr vielgestaltig: Bourdieu denkt an die Heirat als gesellschaftliche Möglichkeit des Auf- oder Abstiegs mit Blick auf die unterschiedlichen Kategorien von Kapital, die normalhin sein Thema darstellen. Aber darüber hinaus sind andere soziale Bezugnahmen wie Freundschaft oder Feindschaft denkbar, die voraussetzen, dass Bekanntschaften bestehen, an die angeschlossen werden kann.29 Natürlich verfügen Großstädte über öffentliche Räume, die – wie öffentliche Plätze, öffentliche Verkehrsmittel oder schlicht die Straßen – Angehörige verschiedener Sozialmilieus zusammenführen. Allerdings ist auch hier die Wahrscheinlichkeit für Anschlusskommunikation zwischen sozialen Gruppen nicht immer gegeben, vielmehr treten Anonymität oder spontane Gewalt vor die Anbahnung von nachhaltigen Kontakten. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die Zunahme der sozialen Segregation und die urbane Verortung von Gesellschaftsschichten in einem direkten Verhältnis zur Ungleichheit stehen, die mit Bezug auf Lateinamerika immer wieder von
Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 24. Vgl. ebd.
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verschiedenen Politolog:innen thematisiert wird. Die Entstehung von Vororten und Armenvierteln, aber auch die Abschottung der Oberschichten gehört zu den Phänomenen, die für diese Tendenzen ins Feld geführt werden können. So liegt es nahe, die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der physischen Begegnung der Einwohner:innen und der binnensozialen Reproduktion von Armut über die Generationen hinweg an die räumliche Aufteilung der lateinamerikanischen Metropolen heranzutragen. Wenn nun Amores perros als ein Stück Großstadtliteratur Lateinamerikas an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts thematisiert werden soll,30 so geschieht dies einerseits vor dem Hintergrund urbaner Segregation, jedoch andererseits im Anschluss an die von Bourdieu inspirierten Fragen, in welcher Weise die Angehörigen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen sich als solche zu erkennen geben und ob es Begegnungen zwischen den differenten Schichten gibt. Sicherlich muss man zwischen Städten unterscheiden, in denen sich soziale Ungleichheit mehr oder weniger direkt proportional zur topographischen Entfernung der jeweiligen Vermögensverhältnisse verhält, und jenen, in denen die verschiedenen Gesellschaftsgruppen in direktem alltäglichen Kontakt miteinander stehen.31 Die urbane Segregation der Einkommensschichten in Mexikostadt entspricht jedoch einem für lateinamerikanische Metropolen weitgehend typischen Muster und deutet auf räumliche Trennung unterschiedlicher sozialer Gruppen hin.32 Zu beginnen ist mit der These, dass die Anordnung der gezeigten Geschichten vermittelt, dass die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Stratifikation zunächst als gering dargestellt wird, allerdings durch Delinquenz und Geld Kanäle eröffnet werden, durch welche die Angehörigen unterschiedlicher Sozialprovenienz miteinander in Berührung kommen und die Stabilität dieser Räume gefährden. Die Ökonomisierung von Verbrechen und Gewalt zeigt sich als letzte Konsequenz einer ubiquitären ‹Kommodifizierung des urbanen Zusammenlebens›.33 Bei Amores perros handelt es sich um einen Episodenfilm, «like Robert Altman on speed»,34 wie ein Filmkritiker kommentierte. Diese Episoden seien hier kurz ohne Anspruch auf Vollständigkeit in Erinnerung gerufen. Erstens: Octavio macht
Vgl. die zentralen Thesen bei Solomianski: Significado estructural. Vgl. z. B. S. 20: «En este sentido Amores perros es una recreación estética fuertemente enfocada en la representación de la experiencia urbana, en una megalópolisposcolonial latinoamericana al cierre del siglo XX.» Vgl. Stefan Peters: Segregación socioespacial y políticas sociales en América Latina. Vivienda, transporte y educación. In: Papeles de coyuntura 40 (2015), S. 6–18, hier S. 9. Vgl. Paavo Monkkonen: La segregación residencial en el México urbano: niveles y patrones. In: EURE 381/14 (2012), S. 125–146. Vgl. die bereits zitierten Artikel von López Lerma, Solomianski und Loy. Vgl. Flynn: Love’s a bitch, S. 34.
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seiner Schwägerin Susana Avancen, der Frau seines Bruders Ramiro, der den mexikanischen Machismo in Reinform abbildet. Tatsächlich kommt es zum Betrug. Octavio möchte mit der Geliebten durchbrennen, braucht dafür allerdings nach eigener Auffassung reichlich Bargeld. Dieses stellt sich ihm in Aussicht, als er seinen Hund Cofi für Hundekämpfe feilbieten kann, auf die hohe Wetten abgeschlossen werden. Hierdurch kommt er in Kontakt nicht nur mit dem Wettkartell, das die Spiele ausrichtet, sondern auch mit der Gang von Jarocho, der seine Hunde gegen Cofi antreten lässt, welcher dieser nacheinander zerfetzt. Als Jarocho Cofi schließlich bei einem Kampf mit einer Schusswaffe verletzt, revanchiert sich Octavio mit einem Messerstich gegen Jarocho. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd durch Mexiko-Stadt, die mit einem fatalen Autounfall endet. Diesen Autounfall wird das Publikum insgesamt viermal sehen. Zweitens: Daniel, Inhaber einer Modezeitschrift, verlässt seine Familie und zieht mit seiner Geliebten, dem spanischen Fotomodell Valeria, in eine Luxuswohnung. Auf einer Autofahrt wird die junge Frau vom heranrasenden Auto Octavios so verheerend erwischt – der Unfall aus der ersten Geschichte –, dass sie mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Nach ihrer Heimkehr in die Wohnung verschwindet ihr kleiner Hund Richi unter den Fußbodendielen; beim Versuch, ihn vor den lauernden Ratten zu retten, nimmt sie ihr verletztes Bein so sehr in Anspruch, dass dieses wenig später amputiert werden muss, was das Aus für ihre Karriere bedeutet. Zwar taucht Richi am Ende wieder auf, aber die Beziehung mit Daniel geht über die erwähnten Katastrophen in die Brüche. Drittens: Ein Stadtstreicher, den man Chivo nennt, arbeitet als Auftragskiller, macht sich gleichsam seine Kompetenz an der Waffe zunutze, die er sich in grauer Vorzeit als revolutionärer Guerrillero angeeignet hatte. Auch versucht er, mit seiner Tochter Kontakt aufzunehmen. Die Revolution legte ihm damals nahe, sich von seiner Familie zu trennen. Chivo beobachtet den Unfall, greift sich das Geld aus dem Auto von Octavio wie auch den Hund Cofi, den er in seine vermutlich am Stadtrand verortete Bruchbude mitnimmt. Der Killer-Clochard lebt in Ermangelung familiärer Kontakte mit einer Vielzahl von Hunden zusammen. Kaum ist Cofi wieder bei Kräften, tötet er in Abwesenheit des Herrchens – er ist ja Kampfhund – fast alle seine Artgenossen. Außerdem erzählt die Episode, wie Chivo von einem Angehörigen des Großkapitals beauftragt wird, dessen Halbbruder und Konkurrenten zu beseitigen. Schließlich überlässt der Killer-Clochard die verfeindeten Brüder sich selbst, nimmt den Hund, rasiert sich, legt einen Anzug an und sucht das Weite, nachdem er seiner Tochter reichlich Geld und eine Botschaft auf dem Anrufbeantworter zurückgelassen hat. Was den Aufbau des Films anbelangt, fällt ins Gewicht, dass alle erwähnten Episoden voneinander getrennt und nur durch den Unfall und den Stadtstreicher, der diesen beobachtet, verbunden sind. Es ist zwar so, dass im Kontext der jeweiligen Episoden Sequenzen aus den anderen Handlungssträngen durch Parallel-
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montage eingesetzt werden. Aber dies wirkt geradezu wie ein Umschalten der Programme. Die Figuren der Episoden begegnen einander nicht wirklich, ebenso wenig entsteht Anschlusskommunikation. Wie vielfach kommentiert, ist der Unfall die eigentliche – und auch einzige Scharnierstelle –, die alle Figuren miteinander in Verbindung bringt und die Fragilität der erzählten gesellschaftlichen Einzelwelten anzeigt.35 Diese Verbindung ist allerdings nicht nachhaltig. Der Unfall ist für die Geschichten das von außen kommende Element, ein im Zufall wohnender grausamer Deus ex machina. Die Kreuzung, die den Schauplatz bildet, ist ebenso die Kreuzung von Erzählreihen, die sich an unterschiedlichen Punkten treffen. Für Octavio ist der Unfall ein Endpunkt, für Valeria ist er die Anfangskatastrophe, die die Identitäts- und Beziehungskrise mit Daniel ins Rollen bringt. Für Chivo ist er gleichbedeutend mit dem Fund des Hundes, der später seine Hundefamilie zur Strecke bringen wird. Darüber hinaus sind die Geschichten selbstständig, keine kommunizierenden Röhren, sondern nur über das unheimliche Wurmloch des Unfalls miteinander verbunden.36 Diese Art der episodenhaften Verknüpfung signalisiert, dass alle erzählten Geschichten sich unabhängig voneinander abspulen. Und sie erzählen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Die untere Mittelschicht beheimatet Octavio. Daniel und Valeria leben in der Welt der Schönen und Reichen, die sich selbst bespiegeln. Der sozial marginalisierte Chivo tritt durch das Verbrechen und die dafür bereitgestellte Gage in Kontakt mit der Oberschicht. Hätte man doch auf diese Weise seinen Handlungsstrang mit dem von Daniel und Valeria in Verbindung bringen können, sieht der Regisseur dennoch davon ab. Im Ergebnis bleibt der Unfall die einzige Verbindungsstelle, und hier assoziiert man unwillkürlich, dass das spanische accidente von der Real Academia wie folgt definiert wird: «Suceso eventual que altera el orden regular de las cosas»,37 d. h. ein Zufall, der, ohne ein Teil ihrer zu sein, in eine Ordnung der Dinge tritt und diese dabei verwüstet. Das wird durch die altscholastische Bedeutung von Akzidenz noch ergänzt: «Cualidad o estado que aparece en algo, sin que sea parte de su esencia o naturaleza.»38
Vgl. Loy: Fragile Parallelitäten, S. 123. Die Straße kann in diesem Sinne Michail Bachtins als Chronotopos begriffen werden, der nicht nur die Zeitlichkeit und Kausalität der drei Einzelgeschichten organisiert, sondern auch die Kommunikation von getrennten urbanen Räumen, barrios und segregierten Gesellschaften bewerkstelligt (vgl. Rainer Warning: Der Chronotopos Paris bei Émile Zola. In: Roland Galle/Johannes Klingen-Protti (Hg.): Städte der Literatur. Heidelberg: Winter 2005, S. 145–160). Real Academia Española (Hg.): Diccionario de la lengua española (online), verfügbar unter: https://dle.rae.es/accidente?m=form (letzter Zugriff: 14.07.2021). Ebda.
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Der Anordnung der Ereignisse im Films lässt sich entnehmen, dass die Handlungssyntagmen Reihen bilden, die für unterschiedliche gesellschaftliche Milieus stehen und die so gut wie nie in nachhaltige Berührung miteinander kommen – außer durch den krassen Zufall eines verheerenden Autounfalls, der in der jeweiligen Ordnung der Dinge nicht vorgesehen ist und die Richtung der jeweiligen Schicksale beeinflusst, ohne dass aber die Figuren Kontakt aufnehmen oder Interaktion initiieren. Der Zufall als Unfall ereignet sich auf der Straße als einem öffentlichen Ort und einer Schnittstelle der Gruppen. Er wird somit zur Ausnahme in einem urbanen Raum, in dem, mit Bourdieu gesprochen, der physische Kontakt zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Schichten eher unwahrscheinlich ist. Die Interaktion verbleibt geschichtenintern und verlässt damit auch nicht die jeweiligen Milieus, es sei denn – das ist eine zweite gegenläufige Aussage des Films, wie zu zeigen sein wird – durch Delinquenz oder Geld.
2.2 Soziale anagnorisis: prekäre Mittelschichten Es ist insbesondere im ersten Drittel von Amores perros, wo soziale Gruppenzugehörigkeit signalisiert wird. Das gesellschaftliche Milieu von Susana und Octavio wird mitunter als untere Mittelschicht bezeichnet. Aber wie können wir das wissen? Die Zugehörigkeit wird kommuniziert durch die äußere Erscheinungsform der Akteur:innen sowie durch den Umstand, dass sich diese untereinander weitgehend bekannt sind. Hervorstechend ist zunächst das regelrechte Productplacement der Sportartikelfirma Adidas. Ob es sich um eine Einnahmequelle des kommerziellen Kinos handelt, sei dahingestellt. Vielmehr hat es den Anschein, durch die Modellierung der Filmfiguren werde den Zuschauer:innen soziale anagnorisis und die Identifizierung einer bestimmten sozialen Gruppe ermöglicht. Octavio erscheint in seiner ersten Filmszene in einem Adidas-Shirt. Sein Gegenspieler Jarocho trägt eine Trainingshose desselben Herstellers. Später zeigt sich Octavio auch mit einer Adidas-Trainingshose. Diese Zurschaustellung eines äußeren Habitus, der an aktuellen Modevorgaben orientiert ist, wird noch durch Tattoos verstärkt, die sowohl Jarocho als auch Octavios Bruder Ramiro tragen. Unterstützt wird diese soziale Kohäsion qua Habitus durch die gefärbten Haare Jarochos und des Freundes von Octavio, der zwar zunächst mit der Gang des Erstgenannten assoziiert ist, aber unter abstrakterem Gesichtspunkt das soziale Verbindungsglied zu der Bande darstellt, die aus diesem Milieu hervorgeht. Ebenso wird die Zusammengehörigkeit der Gruppe deutlich, nämlich dadurch, dass Jarocho Octavio, der nicht Mitglied seiner Gang ist, kennt. Bevor Octavio seinen Hund auf Cofi hetzt, sagt man ihm, dies sei Octavios Hund, was als Information ausreicht. Zudem kennt er den Weg zu seinem Haus, wo er sich kurz
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nach diesem Hundekampf mit seinen Kumpanen einfindet. Der Eindruck einer räumlichen Einheit wird nicht nur dadurch erweckt, dass Jarocho kurze Zeit, nachdem sein Hund getötet wurde, bei Octavio vorstellig wird, obschon die Distanz in einem Auto zurückgelegt wird, mit dem er den toten Hundekörper und seine Gang transportiert. Auch sind die meisten Orte fußläufig, d. h. in Laufweite von Menschen oder im Revier eines Hundes, was daraus ersichtlich wird, dass Cofi in einer Szene aus seinem Zuhause entwischt, in einer rasanten Kamerafahrt eingefangen in die Nähe der Hundekampfarena läuft und dort von Jarochos Gang gesichtet wird. Dringen nun die Figuren der anderen Handlungssphären in dieses Milieu ein? Das Fotomodell Valeria tritt in der ersten Episode in Erscheinung, aber als unerreichbare Schönheit im Fernsehen. Der Freund von Octavio kann die Augen gar nicht vom Bildschirm abwenden. In seinem träumenden Blick wird die Unerreichbarkeit des Begehrensobjektes treffend zum Ausdruck gebracht. Des Weiteren erscheint der Stadtstreicher Chivo gleich zu Beginn mit seinen Hunden neben der Hundekampfarena. Jarocho erwägt, seinen Pancho auf die anderen Hunde zu hetzen, der später von Cofi zur Strecke gebracht wird. Hier stellt sich plötzlich der Clochard mit einer Machete vor seine Tiere und droht mit Vergeltung. Diese Geste wird sofort ernst genommen – die Interaktion bricht ab. Noch bezeichnender ist eine weitere Szene aus der dritten Episode. Hier sind Ramiro und Susana mit dem gemeinsamen Baby auf dem Arm zu sehen. Sie begegnen auf der Straße Chivo, der hier im Mittelpunkt der Handlung steht. Obwohl sich die Beteiligten nicht kennen, entsteht ein deutlicher Blickkontakt zwischen Ramiro und Chivo. Es folgt daraus gar nichts – weder ein Gespräch noch ein Konflikt. Zwar kommt es auf diese Weise zu Überlappungseffekten zwischen den Episoden. Allerdings wird deutlich, dass das Milieu, in dem sich die Figuren bewegen, so kohärent ist, dass sie einander mehr oder weniger bekannt sind und in diesem Rahmen jederzeit Anschlussinteraktion möglich ist. Im sozialen Gesamtpanorama von Amores perros finden sich dagegen nur – wenn überhaupt – transitorische Begegnungen und Gewalt, die zu einem primären urbanen Ereignishorizont ausgestaltet werden.
2.3 Transversale Verbindungen: Delinquenz und Geld Eine Betrachtung des Films an seinen Rändern deckt mithin die Kohäsion der sozialer Gruppen auf, die in ihm dargestellt werden. Ungleichheitseffekte werden durch die erwähnten ‹Fremdauftritte› angedeutet, im Vordergrund steht die Undurchlässigkeit der gesellschaftlichen Umfelder. Lediglich in der letzten Episode wird die Ungleichheit direkt, werden aber auch die Prinzipien, die diese überbrücken, handlungsintern dargestellt: Delinquenz und Geld. Vertreter:innen der ver-
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mögenden Klassen müssen mit dem Auftragskiller Chivo selbst in Kontakt treten, um ihre dunklen Machenschaften ins Werk zu setzen. Eingefädelt wird dies durch einen bestechlichen Polizeibeamten, der wiederum zufällig zugegen ist, wenn gegen Ende Octavios Bruder Ramiro bei einem Banküberfall erschossen wird. Korrupte Polizei vermittelt zwischen oben und unten. Der Auftraggeber mit Namen Gustavo erscheint in feinem Zwirn in Chivos Bleibe. Er schaut sich in dieser ungewohnten Welt befremdet um, sein Unbehagen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Bei seinem zweiten Besuch sagt ihm Chivo, er solle seinen Van abschließen, da in der Gegend häufig Autos gestohlen würden. Angriffsziel ist Gustavos Halbbruder und Kompagnon, von diesem heißt es, er wohne in der Sierra de Maika, was sich wiederum in den Lomas de Chapultepec befindet, in jenem Viertel von Mexiko-Stadt, in dem sich die absolute Oberschicht befindet und die Immobilien oder Grundstücke in astronomischen Höhen schweben. Als Chivo das erfährt, antwortet er sarkastisch:39 «todo un proletario». Dieser letzte Fall zeigt eindrucksvoll, dass der soziale Kitt, der die Schichten verbindet, im bezahlten Kapitalverbrechen besteht. Die Killer sind Kampfhunden nicht unähnlich, auf die man eine Summe setzt, um damit schließlich durch den indirekten Mord am Kompagnon ein höheres Vermögen zu erzielen. Gewalt überbrückt soziale Grenzziehungen mühelos.40 Chivo und Cofi sind strukturell in der gleichen sozialen Position, und Chivo erkennt sich in ihm wieder – nun durch interne anagnorisis. Zwar kann Chivo nicht wissen, allenfalls vermuten, dass Cofi ein Kampfhund ist – es handelt sich um einen Rottweiler. Klar wird dies jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt, als Cofi, der nunmehr Negro heißt, seine Hundefamilie totgebissen hat. Dieser Vorfall gibt Chivo vermutlich den Impuls, dem bezahlten Kapitalverbrechen zu entsagen. Assoziiert mit der Delinquenz ist das Geld, welches im Film, «in permanenter und ostentativer Häufung [und] in seiner Materialität sichtbar gemacht»41 gemacht wird. Es läuft in die sozialen Fugen und setzt die Milieus in Verbindung. Dabei wird das Geld nicht eindeutig ausgezeichnet oder markiert, d. h. eine Zirkulation ein und derselben Geldnoten wird nicht eindeutig eingefangen. Aber immerhin wird sie nahegelegt. Eine mögliche Reihe lässt sich wie folgt aufstellen: Octavio generiert Geld bei den Hundekämpfen; dieses fließt zwar anteilig an Susana ab, jedoch bleibt ein Teil zurück, mit dem der Schlusskampf gegen Jarocho bestritten werden soll. Nach der Eskalation bekommt Octavio sein Geld zurück,
Zitiert wird nach der DVD: Alejandro González Iñárritu (Regie): Amores perros. Hamburg: Warner Home Videos 2000, 01:35:55. Vgl. Solomianski: Significado estructural, S. 23. Loy: Fragile Parallelitäten, S. 124; vgl. auch Solomianski: Significado estructural, S. 24. Beide Beiträge betonen die transversale Macht des Geldes.
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er hat es also beim Unfall in der Tasche, woraufhin es in die Taschen von Chivo wandert, der es mit dem Hund aus dem Auto entwendet. Schließlich transferiert Chivo seine Gelder an seine Tochter, die in einem gutbürgerlichen Haushalt lebt. An den Killer war gleichfalls das Honorar des Auftragsmordes, den er letztlich nicht ausgeführt hatte, sowie der Erlös des Vans von Gustavo geflossen, den Chivo am Schluss verkauft. Insgesamt ist darauf zu hinzuweisen, dass das Geld kein Bindemittel für nachhaltige milieuübergreifende Interaktion darstellt. Bereits Georg Simmel hat mit Blick auf die urbane Moderne die Anonymisierung aufgezeigt, die ökonomischer Interaktion zugrunde liegt: Der Lieferant, der Geldgeber, der Arbeiter, von denen man abhängig ist, wirken gar nicht als Persönlichkeiten, weil sie in das Verhältnis nur nach der je einen Seite eintreten, daß sie Waren liefern, Geld geben, Arbeit leisten, und anderweitige Bestimmtheiten ihrer gar nicht in Betracht kommen, deren Hinzutreten zu jenen doch allein ihnen die persönliche Färbung verleihen würde [...]. Die allgemeine Tendenz [...] geht zweifellos dahin, das Subjekt zwar von den Leistungen immer mehrer [sic!] Menschen abhängig, von den dahinterstehenden Persönlichkeiten als solchen aber immer unabhängiger zu machen.42
Tendenziell beendet eine Bezahlung die jeweilige gesellschaftliche Interaktion. Umso mehr trifft dies zu, wenn die bezahlte Dienstleistung sittlich oder moralisch zweifelhaft, ja kriminell ist. Sobald (und insofern) Banknoten fließen, ist man ‹fertig damit›. Gerade die beständig obszöne Sichtbarkeit des Bargeldes in Amores perros verdeutlicht vor allem eines: Immer wenn Geld und Dienstleistung ausgetauscht werden – Hundewetten, Bestechung, Killergage, Schenkung –, verschwindet die persönliche Komponente hinter dem Deal, der beide Seiten befriedigen soll. Anschluss erfolgt lediglich, wenn die Akteur:innen in ihren ‹Geschäften› konkurrieren. Wo allerdings diese Logik durchbrochen wird, so beispielsweise als am Ende Chivo den Auftraggeber mit dessen Bruder und Mordopfer konfrontiert und somit die Kommunikation auf eine persönliche Ebene überführt wird, tritt der ungewohnte und ungewöhnliche Charakter einer solchen Situation zu Tage.
2.4 Parallelmontage und soziale Ungleichheit Regelrecht ausmodelliert wird die Ungleichheitsthematik zu Beginn des Filmes durch den auffallenden Einsatz der Schnitttechnik, mit der zwischen den Akteur: innen der unterschiedlichen Episoden hin und her geschaltet wird. Die Schnitte der
Georg Simmel: Philosophie des Geldes. In: ders.: Philosophische Kultur. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008, S. 251–751, hier S. 522.
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Parallelmontage markieren nicht nur die Universalität menschlicher Probleme und die Brüchigkeit sozialer Grenzziehungen;43 sie markieren ebenso die auffälligen Differenzen zwischen den sozialen Klassen. Zwei Beispiele sind hier zu nennen, zunächst sei auf folgende Szene verwiesen: Octavio sitzt am Mittagstisch und verspeist Spiegeleier und Bohnenpüree. Schnitt: Großeinstellung, Brokkoli, Zucchini und Wurstschnecken auf der großen Grillfläche in einem Luxusrestaurant, hier speist ein Mordopfer von Chivo kurz vor seiner Hinrichtung, es befinden sich Weinflaschen im Vordergrund.44 Als zweites Beispiel dient die Ehebruchszene zwischen Octavio und Susana. Im Beisein des Babys kommt es zum Beischlaf.45 Schnitt: Eine Laterna Magica im Closeup; Daniel, der Inhaber der Modezeitschrift bringt seine Kinder zu Bett, die er wenig später verlassen wird, und gibt ihnen noch einen Gutenachtkuss. Beide Fälle von Parallelmontage zeigen, dass derlei «juxtaposed scenes»46 nicht allein dazu dienen, die universalen Probleme der Menschen über die sozialen Unterschiede hinweg zu signalisieren, sondern oftmals auch dazu eingesetzt werden, die sozialen Differenzen – wie auf dem Foto von Tuca Vieira – geradezu plakativ auf den Punkt zu bringen. Effektvoll wird die Ungleichheit zudem in der Schnitttechnik in sich geschlossener Sequenzen zum Ausdruck gebracht, so auch in der ersten Hinrichtungsszene im Restaurant. Das spätere Mordopfer sitzt im Lokal und ist durch eine Glasscheibe vom Außen der Straße getrennt, hinter dem sich dann der Clochard mit der Pistole aufbaut. Die Differenz von Innen- und Außenraum die auch eine soziale Grenze markiert, wird nicht nur ins Bild gesetzt, sondern auch akustisch verdeutlicht. Man beachte dabei insbesondere die Differenz der Tonspuren, die Innen- und Außenraum markieren: innen die garenden Speisen auf der Grillplatte und die Gespräche, außen die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos.47 Dieser Gegensatz von Innen und Außen ‹kracht› also nicht zuletzt akustisch in einem geradezu anarchischen Gewaltakt durch die Explosion des Kalibers und der Glasscheibe zusammen. Daher ist Loy darin zuzustimmen, dass hier in der Gewaltbereitschaft und ihrem Marktwert soziale Grenzen zum Einsturz gebracht werden,48 allerdings werden zuvor überhaupt erst die Räume und ihre Differenzen filmisch eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Segregation und ihre Überwindung sind dialektisch miteinander verknüpft. Diesem Funktionsgesetz
Vgl. zur ersten These Shaw: Contemporary Cinema, S. 58; zur zweiten Loy: Fragile Parallelitäten, S. 123. Vgl. González Iñárritu: Amores perros, 00:14:00–00:15:15. Vgl. ebda. 00:40:50–00:41:50. Shaw: Contemporary Cinema, S. 58. Vgl. González Iñárritu: Amores perros, 00:15:32. Loy: Fragile Parallelitäten, S. 124.
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folgt auch die Parallelmontage: Die momentartige Überbrückung der sorgsam auseinandergehaltenen Handlungsstränge und sozialen Repräsentationen potenziert erst die Wirkung, die die Darstellung der Ungleichheit entfaltet.
3 Kleine Phänomenologie ‹relativer Deprivation› in Estrella distante von Roberto Bolaño Die Juxtaposition sozialer Extreme ist nur eines von mehreren Ausdrucksmitteln, die bei der literarischen Inszenierung sozialer Ungleichheit zum Tragen kommen. Darüber hinaus eignet sich insbesondere Erzählliteratur zur psychischen Introspektion sowie zur Anordnung von Beobachtungsvorgängen auf verschiedenen Stufen. Fremdwahrnehmung, Selbstbezug und Vergleich werden hier gerade hinsichtlich sozialer Ungleichheit zum Gegenstand gesellschaftlicher Modellierung und Interaktion – und dies immer auch dort, wo diese Modellierung lediglich als Hintergrundgestaltung eines eigentlich anderen thematischen Schwerpunktes erfolgt. So ist das nachfolgend behandelte Beispiel eher zufällig gewählt. Zwar könnte man argumentieren, dass in den Romanen von Roberto Bolaño eine besondere Achtsamkeit hinsichtlich sozialer Ungleichheiten zu verzeichnen ist, die es verdient hätte, genauer und systematischer thematisiert zu werden. Bei einem solchen Unternehmen wäre jedoch dringend vorauszuschicken, dass diese Achtsamkeit keineswegs in ein Konzept engagierter oder sozialkritischer Literatur eingebunden ist.49 So ließe sich das, was in diesem Abschnitt entwickelt wird, ebenso anhand alternativer literarischer Beispiele von anderen Autor:innen zeigen. Erzählliteratur verschiedenster Genres oder Konzepte können im Sinne einer Lektüre an ihren Rändern als Archive sozialer Anschauung begriffen werden.
Vgl. Jan-Henrik Witthaus: La representación de la desigualdad social en la obra de Roberto Bolaño. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 61 (2020), S. 273–295. Zu Bolaños Literaturverständnis und dazu, wie sich ein solches in Estrella distante bekundet, vgl. Benjamin Loy: Roberto Bolaños wilde Bibliothek. Eine Ästhetik und Politik der Lektüre. Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 243–306. Estrella distante wird häufig und mit voller Berechtigung im Kontext der Bewältigung der Pinochet-Diktatur und der Frage nach der Darstellung von Gewalt oder dem Bösen gelesen (vgl. hierzu Fernando Moreno (Hg.): Roberto Bolaño. La experiencia del abismo. Santiago de Chile: Lastarria 2011; Daniuska González: La escritura bárbara. La narrativa de Roberto Bolaño. Lima: Cultura Peruana 2010; vgl. exemplarisch Matías Ayala: Bolaño, Zurita, Vidal: Vanguardia, violencia, sacrificio. In: Ursula Hennigfeld (Hg.): Roberto Bolaño. Violencia, escritura, vida. Frankfurt am Main: Vervuert 2015, S. 33–48). Das Thema der sozialen Ungleichheit in den Romanen von Roberto Bolaño wird demgegenüber eher selten thematisiert.
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Estrella distante handelt vom Aufstieg des späteren chilenischen Luftwaffenpiloten Carlos Wieder alias Carlos Ramírez Hoffmann, der zu Beginn der 1970er Jahre unter dem Namen Alberto Ruiz-Tagle als Einzelgänger und Dandy in literarischen Workshops im Süden von Chile verkehrt. Späterhin absolviert er nach dem Putsch durch Augusto Pinochet eine militärische Laufbahn und lanciert in seiner keineswegs abgelegten Künstlerrolle eine radikale, ja grausame Form der Ästhetik, die durch Happenings, Gewaltausübung und sadistische Verbrechen ins Werk gesetzt wird. Verse, die mit Kondensstreifen in den Himmel geschrieben werden, wirken noch harmlos im Vergleich zur skandalösen Fotoausstellung in Santiago, bei der Ablichtungen von versehrten und zerstückelten, mehrheitlich weiblichen Körpern von verschwundenen Personen – zu Mannequins drapiert – zu sehen sind. Nach seinem Untertauchen zum Ende der Diktatur hin wird Wieder im Finale der Erzählung von einem Ermittler an der Costa Brava in Spanien mutmaßlich ausfindig gemacht und ebenso mutmaßlich hingerichtet. Der Romanbeginn spielt in Concepción, «la llamada capital del sur»,50 und zur Zeit der Regierung Salvador Allendes. Vermittelt wird die Handlung über den homodiegetischen Erzähler Arturo B., wobei diese narratologische Kategorie voraussetzt, dass die Hauptgeschichte jene ist, die von Carlos Wieder handelt. Tatsächlich ist im Laufe der Erzählung nicht so eindeutig zu klären, wer denn die Hauptfigur sein soll, folgt jene doch – wie es für Roberto Bolaños Texte typisch ist – einer Poetik der Digression.51 Der Erzähler und Bibiano O’Ryan begegnen Ruiz-Tagle in einer Schreibwerkstatt, die von einem gewissen Juan Stein geleitet wird. Die Beschreibung dieser kleinen Literaturszene wird durchzogen von Betrachtungen sozialer Unterschiede. Bei den hier anzutreffenden Personen handelt es sich um einen Kreis von Autodidakt: innen, von denen gesagt wird, sie seien alle «arm» («pobres»52) und befänden sich ansonsten immer in einem prekären psychologischen Zustand.53 Dass Ruiz-Tagle sich selbst als Autodidakten bezeichnet, erscheint aus der Erzählperspektive heraus denkbar unwahrscheinlich: «[S]e vestía demasiado bien para no haber pisado nunca una universidad.»54 Die nachfolgende Beschreibung eines eher ‹eklektischen› Bekleidungsstils läuft auf die Bemerkung hinaus, auf die es letztlich an-
Roberto Bolaño: Estrella distante. Barcelona: Debolsillo 2019, S. 13. Vgl. María Paz Oliver: Digression and subversion of the crime fiction genre in Roberto Bolaño’s Estrella distante. In: Acta Literaria 44 (2012), S. 35–51; Ignacio Echevarría: Digresión y disidencia. In: Fundación Luis Goytisolo (Hg.): La novela digresiva en España. El Puerto de Santa María: Bollullo 2005, S. 75–82. Bolaño: Estrella distante, S. 14. Vgl. ebda. Ebda.
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kommt: «[S]iempre llevaba ropas caras, de marca.»55 So deutet die Kleidung nicht nur auf einen bestimmten materiellen Hintergrund – wie anhand von Amores perros konkret gezeigt wurde –, sondern darüber hinaus auch auf Symbol-, Kulturund Sozialkapital hin. In dieselbe Richtung weist die Bemerkung, sein Vater oder Großvater habe einen Bauernhof in Puerto Montt besessen. Da das Incipit im Süden Chiles spielt, scheint dieser Hinweis auf Herkunft und Besitzverhältnisse naheliegend. Puerto Montt ist darüber hinaus in diesen Jahren («en 1971 o en tal vez 1972»56) mit der Tötung von zehn Landarbeiter:innen durch chilenische Carabineros im Jahre 1969 assoziiert, für die die damalige Opposition den Innenminister Edmundo Pérez Zujovic verantwortlich machte, der wiederum später einem von einer linksgerichteten Guerilla verübten Attentat zum Opfer fiel. Nicht zuletzt durch Víctor Jaras Protestlied «Preguntas por Puerto Montt» ist die gewaltsame Auflösung der Landbesetzung im kollektiven Gedächtnis jenes Landes geblieben. In diesem Kontext erscheint folgende Information in einem ganz anderen Licht: Alguna vez dijo que su padre o su abuelo había sido propietario de un fundo cerca de Puerto Montt. Él contaba, o se lo oímos contar a Verónica Garmendia, decidió dejar de estudiar a los quince años para dedicarse a los trabajos del campo y a la lectura de la biblioteca paterna.57
Die Hinweise des ‹unzuverlässigen Erzählers› A. Belano lassen keine genaueren Rückschlüsse zu;58 fest steht allerdings, dass Ruiz-Tagles Studienabbruch und seine Hinwendung zur Landwirtschaft in eine Zeit der politischen Auseinandersetzung um Arbeitsverhältnisse und Bodenkapital fällt, wobei er auf der Seite der Grundbesitzer steht. Die Wendung «dedicarse a los trabajos del campo» ist so allgemein gehalten, dass damit nicht unbedingt gemeint sein muss, dass er selbst den Pflug gelenkt oder eigenhändig Erntehilfe geleistet habe. Ein weiteres Potential im Spiel der Distinktionen von Ruiz-Tagle bildet sein mündlicher Sprachgebrauch: «Ese español de ciertos lugares de Chile (lugares más mentales que físicos) en donde el tiempo parece no transcurrir.»59 Damit hebt er sich von den anderen Heranwachsenden ab, die sich eher in Umgangssprache und
Ebda. Ruiz-Tagle ist also eigentlich im Warenkapitalismus angekommen und insofern mit den Dandys der europäischen Moderne nicht zu vergleichen. Vielmehr erscheint er nur innerhalb dieses spezifischen Milieus wegen seiner finanziellen Unabhängigkeit und seiner zur Schau gestellten impassibilité als Dandy. Ebda. S. 13. Ebda. S. 14. Vgl. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press 1969 (insb. S. 158 f.). Bolaño: Estrella distante, S. 16.
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marxistisch-revolutionärem Jargon üben. Seine Unterkunft befindet sich zudem nicht ‹in den armseligen Wohnheimen der Studierenden› («en pobres pensiones de estudiantes»60), vielmehr hat er allein eine Vierzimmerwohnung im Zentrum von Concepción bezogen. So treten in diesen Gegenüberstellungen recht deutlich die ‹Unterschiede› zu Tage, die sich zwischen Ruiz-Tagle einerseits, den restlichen Besucher:innen des Workshops von Juan Stein andererseits materialisieren: «[Las] diferencias entre Ruiz-Tagle y el resto eran notorias»61 – Unterschiede, die auf seinen freien Zugang zu ökonomischen Ressourcen verweisen. «Nosotros casi nunca teníamos plata (es divertido escribir ahora la palabra plata: brilla como un ojo en la noche); a Ruiz-Tagle nunca le faltó el dinero.»62 Während das am Cono Sur umgangssprachlich sehr geläufige plata auf das konkret zirkulierende Bargeld hindeutet (und auf den kolonialen Hintergrund, nämlich den des Silberabbaus qua Zwangsarbeit in den ehemaligen Kolonien), gibt «dinero» die eher allgemeinere Begriffsverwendung desjenigen zu erkennen («Ese español»), dem der Zugriff auf ökonomisches Kapital zur zweiten Natur geworden ist. Der zentrale Aspekt dieser Beschreibung von sozialer Ungleichheit besteht aber nicht allein in der Frage, welche allgemeinen Kontexte und Hintergründe die abgebildeten gesellschaftlichen Strukturen erläutern helfen. Die Inszenierung des ganzen Milieus ist unzweifelhaft so geschaffen, dass durch die Anlage des literarischen Textes soziale anagnorisis ermöglicht werden soll. Darüber hinaus wird es – und das ist der entscheidende Punkt – den Leser:innen nahegelegt, die Wahrnehmung des Erzählers nachzuvollziehen, dessen Erinnerung und Blickwinkel laufend als fallibel markiert werden. Angestrebt wird hier also nicht eine Erzählung sozialer Ungleichheit, sondern die diegetische Vermittlung ihre Perspektivierung. Und in dieser Hinsicht wird deutlich, dass das Minderwertigkeitsgefühl mit dem erotischen Begehren amalgiert ist, welches die Schwestern Garmendia auf sich ziehen: Die erzählende Instanz ist eifersüchtig auf den finanzpotenten Konkurrenten: «En realidad, todas las suposiciones que podíamos hacer en torno a Ruiz-Tagle estaban predeterminadas por nuestros celos o tal vez nuestra envidia.»63 Die Bedenken scheinen begründet gewesen zu sein, heißt es doch wenig später: «Las hermanas Garmendia se hicieron amigas de Ruiz-Tagle de inmediato.»64 Dieser Misserfolg aus Sicht des Erzählers und seines Freundes wird
Ebda. Ebda. S. 15. Ebda. S. 16. Die Metapher verweist darüber hinaus auf die spanische Wendung salir por un ojo de la cara, mit der gesagt wird, dass etwas sehr teuer ist, was eher der Perspektive der ärmeren Gesellschaftsschichten entspricht. Ebda. S. 14. Ebda. S. 15.
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durch die Kränkung verstärkt, dass die nicht zuletzt wegen ihres literarischen Talentes verehrten Schwestern sich ihrerseits vom finanziell unabhängigen Dandy Ruiz-Tagle beeindrucken lassen und damit das Wertesystem des sozialrevolutionären Bohème-Milieus, das sie selbst exemplarisch vertreten, unterwandern. Aus dieser Episode, die Estrella distante einleitet, lässt sich zweierlei lernen: Erstens gilt es, das Konzept der Referenzgruppe nach Runciman zu überdenken. Ist diese ihm zufolge als eine homogene Gruppe von Menschen mit ungefähr gleichen Einkommensverhältnissen anzusehen, so zeigt das vorliegende literarische Beispiel, dass die Gemeinschaften des mimetischen Begehrens an ein Milieu gebunden sein können, an dem durchaus Individuen unterschiedlicher sozialer Herkunft teilhaben. Divergente Besitzverhältnisse treffen aufeinander und werden dann zum Konfliktpotenzial, wenn sie in einem Beziehungsgeflecht sichtbar werden, das eigentlich durch andere Wertekataloge geprägt ist. Dabei wird zweitens deutlich, dass die Entbehrung bzw. das Begehren keineswegs immer materieller, sondern oftmals eher emotionaler Natur ist – dies ist ein Dauerthema der Literatur. Soziale Benachteiligung wirkt sich auf zwischenmenschliche Beziehungen aus, um die gleichermaßen konkurriert und gekämpft wird. Der Umstand, dass die angebahnten Beziehungen amourös bis erotisch sind, potenziert mimetische Begehrensformen. Die ‹Relativität› der ‹Deprivation› bezieht sich damit nicht mehr auf einen realistisch erreichbaren Besitzstand oder Lebensstandard, sondern auf Personen als Begehrensobjekte – die Garmendia-Schwestern –, die als Dritte die Konkurrenzrelation zweier Akteure stiften und organisieren, wobei Alter und Ego hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft sehr unterschiedlichen Individuen sein können. Mit Blick auf diese Konstellation ließe sich, um zugunsten dieser Überlegungen ein berühmtes, aber in literarischer Hinsicht ganz anderes Beispiel zu nennen, El amor en los tiempos del cólera (1985) von Gabriel García Márquez anführen.
4 Schluss Es lässt sich festhalten, dass die angeführten Beispiele, die der rezenten Filmkunst und Erzählliteratur Lateinamerikas entnommen sind, auf zwei unterschiedliche Optionen der künstlerischen Verarbeitung sozialer Ungleichheit hinweisen. (a) Die Juxtaposition der Unterschiede, die wirkungsvoll in Bildern, Fotos und Filmen angewandt wird, zeugt von dem rhetorischen Verfahren des Vor-AugenStellens. Synchronisiert wird hier das, was räumlich auseinanderliegt und getrennt ist: Milieus, Viertel, Lebens- und Besitzverhältnisse. Das Verfahren ist durch seinen Appellcharakter gekennzeichnet; und obschon es bisweilen plakativ anmutet, hat
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es eine bestechende Wirkung, die geeignet ist, weiterführende Diskurse zu zeitigen – was sich anhand der Fotografie von Tuca Vieira nachvollziehen lässt. Von oben wird sichtbar, worüber nicht gesprochen wird und was in Alltag und Gewohnheit eingesenkt ist. Der Filmschnitt der Parallelmontage leistet ähnliches wie der Helikopterflug über Städte – und dies auch ohne den Nachdruck, der im dokumentarischen Gestus der Fotografie wohnt. Vielmehr ist es die Wiedererkennbarkeit der parallel montierten Szenen, die auch in erfundenen Filmgeschichten einen ‹Effekt des Realen› produzieren oder soziale anagnorisis hervorrufen. (b) Romane entwerfen ebenso soziale Horizonte, bevor oder während die referierten Handlungen in Gang kommen, auch wenn sie im engeren Sinne keine sozialkritischen Texte sind. Die hohe Sensibilität des literarischen Erzählens für unterschiedliche Perspektiven, aber auch für mehrstufige Beobachtung, ermöglicht darüber hinaus psychologische Entwürfe, die der individuellen Wahrnehmung sozialer Ungleichheit nahekommen. Entbehrungen werden in ihren Konsequenzen, aber auch im Zusammenspiel mit den ihnen zukommenden Emotionen und Affekten zum Thema gesellschaftlicher Erfahrung. Die erzählerischen Mittel der Introspektion erlauben es nicht nur, das Bewusstwerden über individuelle Benachteiligung zu thematisieren, sondern auch, die Wege des mimetischen Begehrens nachzuvollziehen, die dem Gefühl der Deprivation oftmals vorangehen. In dem vorgelegten Beispiel – dem Incipit von Estrella distante – ist es das dichterische Talent, das den Garmendia-Schwestern im betreffenden Milieu nachgesagt wird und sie als allgemein begehrenswerte Frauen erscheinen lässt. Die Wahrnehmung, dass sie sich von Ruiz-Tagle beeindrucken lassen, nimmt einen Weg, der unweigerlich über das Bewusstwerden jener sozialen Unterschiede führt, die die Erzählinstanz vom Provinzdandy trennen. Und eine solche Phänomenologie der Deprivation spult sich unabhängig von der Frage ab, ob es tatsächlich das Geld und der Habitus gewesen sind, die die Garmendia-Schwestern an Ruiz-Tagle faszinierten.
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Wohlstandssezession. Gated Communities im lateinamerikanischen Kino Kleber Mendonça Filhos O som ao redor (2012) Abstract: In Bezug auf Lateinamerika wird soziale Ungleichheit im urbanen Kontext vor allem mit der Existenz von Armuts- und Elendsvierteln in Verbindung gebracht. Seltener denkt man dabei an die seit Jahren wachsende Zahl von Gated Communities aller Art, in denen sich eine wohlhabende Mittel- und Oberschicht vom Rest der Gesellschaft abschottet. Im hispanoamerikanischen Film erfährt die Darstellung dieser besonderen Form der Wohlstandssezession seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur. Das in diesem Zusammenhang ebenfalls relevante brasilianische Kino wurde bisher jedoch kaum behandelt. Ausgehend von der Frage, inwiefern dieses neue filmische Sujet in seinen verschiedenartigen Ausprägungen tatsächlich zur Thematisierung von sozialer Ungleichheit genutzt wird, steht daher der Spielfilm O som ao redor (2012) des brasilianischen Regisseurs Kleber Mendonça Filho im Zentrum der vorliegenden Analyse. Keywords: Gated Community, brasilianisches Kino, soziale Ungleichheit, soziale Segregation, Recife, Gentrifizierung Abstract: Whenever social inequality is discussed with regard to urban settings in Latin America, the focus of attention tends to shift towards the existence of slum areas. One aspect elaborated on less frequently is the fact that the number of gated communities – wealthy middle- and upper-class people sealing themselves off from the rest of society – has been increasing for years. In the course thereof, a considerable number of recent Hispanic films have been portraying this very secession. However, until now there have been few attempts to investigate respective depictions in Brazilian cinematography. Based on the question whether this new cinematic subject in fact serves as means to negotiate social inequality, the following article will examine O som ao redor (2012), a motion picture supervised by the Brazilian director Kleber Mendonça Filho. Keywords: gated community, Brazilian cinematography, social inequality, social segregation, Recife, gentrification
Christian von Tschilschke, Münster https://doi.org/10.1515/9783111022369-011
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1 Soziale Ungleichheit und Gated Communities Kleber Mendonça Filho ist einer der international bekanntesten Vertreter:innen des brasilianischen Gegenwartskinos. In seinem zweiten Spielfilm Aquarius (2016), dessen Handlung in der im Nordosten Brasiliens gelegenen Küstenstadt Recife angesiedelt ist, gibt es eine Sequenz, in der die Protagonistin Clara Bragança (Sônia Braga), eine bekannte Musikkritikerin im Ruhestand, zusammen mit ihrem Lieblingsneffen Tomás (Pedro Queiroz) und dessen Freundin Julia (Julia Bernat) am Strand entlangläuft.1 Ihr Ziel ist die Favela Brasília Teimosa, in der Claras langjährige Haushälterin Ladjane (Zoraide Coleto) lebt, die sie zu einem Familienfest eingeladen hat.2 Auf dem Weg dorthin bittet Tomás seine Tante, seiner Freundin und ihm (und damit auch uns, den Zuschauer:innen) etwas über die Gegend zu erzählen. Clara verweist auf ein Rinnsal, das unmittelbar vor ihnen aus einem Kanalrohr über den Strand ins Meer fließt, und erklärt, dass genau diese unscheinbare Stelle die Grenze zwischen dem Wohnviertel der ‹Reichen› und dem der ‹Armen› markiere. Jenseits dieser Trennlinie befinde sich das Stadtviertel Pina und gleich dahiner Brasília Teimosa. Diesseits davon liegt das ‹Reichenviertel› Boa Viagem, in dem Clara selbst wohnt – in einem Apartmenthaus direkt an der berühmten Strandpromenade. Später folgen zwei Einstellungen – ein Panoramaschwenk aus großer Höhe3 und eine den Raum verdichtende Teleaufnahme4 –, die beide schlagend vor Augen führen, wie schroff hier luxuriöse Wohntürme und ärmliche Flachbauten aneinandergrenzen.5 So illustriert Mendonça Filhos Film auf emblematische Weise am Beispiel des Stadtbilds von Recife, dass Lateinamerika bis heute als die Weltregion mit der größten sozialen Ungleichheit gilt – nicht nur im Hinblick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch in Bezug auf die Teilhabe an elementa-
Aquarius. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2016, 01:24:14–01:28:10. Kleber Mendonça Filho, geboren 1968, stammt selbst aus Recife und begann seine berufliche Laufbahn im Filmgeschäft zunächst) als Filmkritiker. Sein erster Langspielfilm war O som ao redor (2012), sein dritter Spielfilm Bacurau wurde im Frühjahr 2019 im Rahmen der 72. Internationalen Filmfestspiele von Cannes uraufgeführt. In Domenach (2016) äußert sich Mendonça Filho selbst über seinen Werdegang und sein Werk. Mendonça Filho: Aquarius, 01:28:10. Ebda., 01:30:47. Diese Gegenüberstellung ist auch ein visuelles Klischee, das seine wohl bekannteste Ausprägung in einem Bild des brasilianischen Fotografen Tuca Viera gefunden hat, auf dem das Armenviertel «Paraisópolis» in São Paulo in direkter Nachbarschaft zu dem 1981 gebauten «Edificio Penthouse» mit seinen terrassenartigen Gärten zu sehen ist. Vgl. dazu auch den Beitrag von JanHenrik Witthaus in diesem Band.
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ren öffentlichen Gütern und Ressourcen wie Sicherheit, Bildung und Gesundheit.6 Wahrscheinlich kommt die räumliche Dimension der sozialen Ungleichheit im urbanen Kontext Lateinamerikas am deutlichsten in der Koexistenz von Slums und den Gated Communities zum Ausdruck. Während das Leben in den Wellblechhütten der favelas und villas miserias den Armen und Elenden vorbehalten ist, handelt es sich bei den Gated Communities um geschlossene Wohnanlagen und von Sicherheitsdiensten bewachte Siedlungszentren, in denen sich ein finanziell meist gut gestellter Mittelstand und eine reiche Oberschicht von den ‹Armen› und dem Rest der Gesellschaft abschotten.7 Dabei ist die seit Jahren wachsende Zahl von Gated Communities das Resultat eines Prozesses der sozialen Segregation und urbanen Fragmentierung, für den der US-amerikanische Politologe und ehemalige US-Arbeitsminister Robert B. Reich in einem Artikel für The New York Times Magazine vom Januar 1991 den Begriff «Secession of the Successful»,8 die Absonderung der Erfolgreichen, geprägt hat: Wer es sich leisten kann, kehrt Gesellschaft und Staat den Rücken, um in zum Teil selbst verwalteten, autarken Gemeinschaften in einem sicheren, sauberen, ‹gesunden› und naturnahen Umfeld zu leben, das nicht nur Sport- und Freizeitanlagen wie Golf- oder
«Lateinamerika gilt vor allem wegen seiner im weltweiten Vergleich [...] besonders ungleichen Einkommensverteilung als die Weltregion tiefgreifender sozialer Ungleichheit.» Siehe auch das gesamte Kapitel «Dimensionen sozialer Ungleichheit» in: Heinrich-W. Krumwiede: Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur in Lateinamerika. Baden-Baden: Nomos 2018, S. 45–88. Das Schwellenland Brasilien nimmt diesbezüglich nach wie vor einen Spitzenplatz ein. Einen ersten Überblick vermitteln Cabrales Barajas/Luis Felipe (Hg.): Latinoamérica: países abiertos, ciudades cerradas. Guadalajara: Universidad de Guadalajara 2002; Marie-France PrévôtSchapira: Quartiers fermés et condominios fechados. In: Paquot, Thierry (Hg.): Ghettos de riches. Tour du monde des enclaves résidentielles sécurisées. Paris: Perrin 2009, S. 55–76 sowie Georg Glasze: Gated Community. In: Marquardt, Nadine/Schreiber, Verena (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2012, S. 126–132. Vgl. speziell zu Brasilien Caldeira (2000). In den allgemeinen Teilen dieses Beitrags greife ich stellenweise auf eigene frühere Veröffentlichungen zum Thema zurück: vgl. Christian von Tschilschke: La ‹zone›. Les quartiers résidentiels fermés comme nouveau sujet dans la littérature et le cinéma hispano-américains. In: Bontemps, Véronique u. a. (Hg.): Les villes divisées. Récits littéraires et cinématographiques. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion 2018a, S. 139–154; Christian von Tschilschke: Betreten verboten! Gated Communities in der Literatur und im Film Lateinamerikas. In: Hülk, Walburga/Schwerter, Stephanie (Hg.): Mauern, Grenzen, Zonen. Geteilte Städte in Literatur und Film. Heidelberg: Winter 2018b, S. 109–124; Christian von Tschilschke: El ‹barrio cerrado› en la literatura y el cine hispanohablantes: un reto a la idea de diversidad. In: Hartwig, Susanne (Hg.): Diversidad cultural – ficcional – ¿moral? Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/ Vervuert 2018c, S. 281–303. Robert B. Reich: Secession of the Successful. In: The New York Times Magazine (20.01.1991), S. 16.
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Tennisplätze und Schwimmbäder einschließt, sondern oft auch Einkaufszentren, Schulen, Kinderkrippen, Krankenhäuser und andere Versorgungseinrichtungen. Solche Gated Communities kommen in den unterschiedlichsten Formen fast überall auf der Welt vor und sind ein Phänomen, das schon länger existiert. In den lateinamerikanischen Ländern haben sie aber seit den 1990er Jahren unter verschiedenen Namen – barrios cerrados, countries, urbanizaciones cerradas, condomínios fechados – einen besonders starken Aufschwung erfahren. Zu den frühesten Gründungen gehört etwa die 1852 eröffnete Villa Montmorency im 16. Arrondissement von Paris, die es bis heute gibt. Die erste Gated Community Argentiniens, der elitäre Tortugas Country Club in der Provinz Buenos Aires, entstand im Jahr 1930. In Brasilien wurde das Wohnmodell vor allem durch das in den 1970er Jahren in der Metropolenregion São Paulo entwickelte Projekt «Alphaville» heimisch. Das Agglomerat aus zahlreichen geschlossenen Wohnsiedlungen bezog seinen Namen – «[p]erverserweise»9 – von Jean-Luc Godards düsterem Science-Fiction-Film Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (1965). Gleichzeitig wurden, ebenfalls in São Paulo, die ersten condomínios verticais, gut gesicherte Apartmenthochhäuser, errichtet. Von dort aus fand das «modèle brésilien de la ‹sécession par le haut›»10 in ganz Lateinamerika Verbreitung. Natürlich hängt die Tendenz zur Gated Community auch mit den neoliberalen Politikprogrammen der jüngeren Vergangenheit zusammen, durch die sich die soziale Ungleichheit in den Gesellschaften noch verschärft hat. Gleichzeitig ist der Staat in vielen Fällen nicht willens oder überhaupt in der Lage, seinen Bürger:innen mehrheitlich ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Genauso wenig wie Gated Communities nur in Lateinamerika vorkommen, sind sie auch kein künstlerisches Sujet, auf das die lateinamerikanische Literatur oder der lateinamerikanische Film ein Monopol hätten. Der unübertroffene Klassiker unter den literarischen Darstellungen ist immer noch T.C. Boyles Roman The Tortilla Curtain, der wohl nicht zufällig im selben Jahr 1995 erschien wie die erste nennenswerte stadtgeographische Studie zum Thema Gated Communities von Edward James Blakely und Mary Gail Snyder, aus der zwei Jahre später das Standardwerk Fortress America (1997) hervorging. Aber es ist doch erstaunlich, wie erfolgreich dieses Thema gerade in Lateinamerika ist. Dazu trägt im Bereich der Literatur vor allem der argentinische Thriller bei: in erster Linie Claudia Piñeiros Las viudas de los jueves (2005) und Betibú (2011), die beide auch ins Deut-
Mike Davis: Planet der Slums, aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Berlin: Assoziation A. 2007, S. 124. Prévôt-Schapira: Quartiers fermés, S. 63.
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sche übersetzt sind, aber auch Raúl Argemís Retrato de familia con muerta (2008) und zuletzt Los caimanes (2019) von Inés Arteta.11 Im Bereich des Kinos, auf den ich mich im Folgenden konzentriere, ist die Zahl der Beispiele deutlich größer, wobei das argentinische Kino auch hier am stärksten vertreten ist. Das Panorama reicht von Lucrecia Martels kurzem Dokumentarfilm La ciudad que huye (2006) bis zu den erfolgreichen Verfilmungen von Piñeiros Romanen durch Marcelo Piñeyro (2009) und Miguel Cohan (2014) unter denselben Titeln.12 Hinzukommen die Teenagerkomödie Cara de queso. Mi primer gueto von Ariel Winograd (2006) sowie die ebenfalls im Jugendlichenmilieu und in einem argentinischen country angesiedelte fiktionale Sozialstudie Una semana solos von Celina Murga (2009) und das Spielfilmdebüt von Benjamín Naishtat, Historia del miedo (2014). Zu erwähnen sind außerdem die effektvolle, auch im deutschen Fernsehen gezeigte, spanisch-mexikanische Koproduktion La zona (2007) von Rodrigo Plá, die in Mexiko-Stadt situiert ist, und der spanische Spielfilm Pájaros muertos (2009) von Guillermo und Jorge Sempere, der zum Teil an argentinischen Schauplätzen gedreht wurde. Das vorläufig jüngste Beispiel ist der Film Los decentes (2016) des österreichisch-argentinischen Regisseurs Lukas Valenta Rinner. Dieser Film erzählt von der unmittelbaren Nachbarschaft zwischen einer vornehmen Gated Community und einer naked community, einer von Hippies bevölkerten Mischung aus Nudistenkolonie und Swingerclub in der Nähe von Buenos Aires.13
Aus der argentinischen Literatur sind dieser Liste noch die Romane De tripas corazón (2010) von Mercedes Reincke und Amores enanos (2016) von Federico Jeanmaire hinzuzufügen. In Deutschland wurde das Thema Gated Communities von Juan Sebastian Guse in seinem Debütroman Lärm und Wälder (2015) gestaltet, in Frankreich von Karine Tuil in L’insouciance (2016) und Jean Echenoz in Vie de Gérard Fulmard (2020). Genannt werden muss in diesem Zusammenhang auch der deutsche TV-Dokumentarfilm Das Paradies hinter dem Zaun. Nordelta und seine Nachbarn (2005) von Rouven Rech über die Entstehung des Siedlungsprojekts «Nordelta» im Norden von Buenos Aires und das direkt angrenzende Armenviertel «Las Tunas». Siehe zur Darstellung von Gated Communities im lateinamerikanischen Film in chronologischer Reihung bisher: Stéphane Degoutin/Gwenola Wagon: Les gated communities au cinéma et dans la littérature. In: Paquot, Thierry (Hg.): Ghettos de riches. Tour du monde des enclaves résidentielles sécurisées. Paris: Perrin 2009, S. 252–261; Laura Elina Raso: El edén cerrado. Segregación espacial y construcción de identidades en las urbanizaciones privadas. In: Tópicos del Seminario. Revista de Semiótica, 24 (2010), S. 25–39; Hugo Hortiguera: Después de la globalización, la destrucción de lo social en dos filmes argentinos. Las viudas de los jueves y Carancho. In: Letras Hispanas. Revista de Literatura y Cultura, 8/1 (2012), S. 111–127; Jeremy Lehnen: Disjunctive Urbanisms. Walls, Violence and Marginality in Rodrigo Plá’s La zona (2007). In: Mexican Studies/ Estudios Mexicanos, 28/1 (2012), S. 163–182; Bernice M. Murphy: ‹How Will I Explain Why We Live behind a Wall?› La zona (2007) as Suburban Gothic Narrative. In: Ilha do Desterro. A Journal of
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Im Vergleich mit dem argentinischen Kino hat das brasilianische Kino in Bezug auf die Darstellung von Gated Communities bislang jedoch kaum von sich reden gemacht. Zumindest aus europäischer Perspektive wird es immer noch stark mit dem Blick auf die Favelas identifiziert, wie er etwa in Cidade de Deus (2008) von Fernando Meirelles und Kátia Lund oder Tropa de élite (2008) und Tropa de élite 2: o inimigo agora é outro (2010) von José Padilha spektakulär in Szene gesetzt wurde. Doch zeugen gerade auch die Filme Kleber Mendonça Filhos von einer erstaunlichen Sensibilität für den Wohn- und Lebensstil der (oberen) Mittelschicht in einem zeitgenössischen urbanen Kontext.14 Was die konkrete Siedlungsform der Gated Community betrifft, ist allerdings weniger Aquarius als vielmehr Mendonça Filhos erster fiktionaler Langfilm mit dem rätselhaften Titel O som ao redor (2012)15 von Belang, dessen Handlung ebenfalls in Recife spielt. Abgesehen davon, dass sich O som ao redor vor allem auf das für brasilianische Metropolen typische condomínio vertical konzentriert, dessen Höhe allein schon Sicherheit verspricht, weist Mendonça Filhos Film auch sonst eine Reihe origineller Merkmale auf, die es sinnvoll erscheinen lassen, genauer der Frage nachzugehen, welchen Einfluss nationale und kulturelle Faktoren auf die filmische Veranschaulichung sozialer Unterschiede am Beispiel von Gated Communities besitzen. Bevor im Detail analysiert wird, inwiefern O som ao redor das Grundmuster der filmischen Inszenierung lateinamerikanischer Gated Communities bestätigt, modifiziert oder in Frage stellt, soll zunächst dieses Grund-
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Wohlstandssezession. Gated Communities im lateinamerikanischen Kino
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muster selbst – eine flexible Verbindung aus bestimmten Topoi und Darstellungskonventionen – in groben Zügen rekonstruiert werden.
2 Gated Communities im lateinamerikanischen Kino: die Matrix Um Aufschluss darüber zu gewinnen, was die Gated Communities für den Film überhaupt zu einem attraktiven Sujet macht, liegt es nahe, zwischen extrinsischen, das heißt in der äußeren Umwelt vorhandenen, und intrinsischen, im Medium Film selbst angelegten Motiven zu unterscheiden.16 Unter den extrinsischen Motiven sind natürlich in erster Linie die in den letzten zwei Jahrzehnten stark gestiegene Verbreitung der Gated Communities bzw. deren erhöhte kulturelle Sichtbarkeit in den lateinamerikanischen Ländern zu nennen sowie die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die zu diesem Aufschwung beigetragen haben. Offensichtlich lässt sich der Film – ebenso wie die Literatur – nicht die Gelegenheit entgehen, diesen Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit Lateinamerikas für die Filmzuschauer:innen näher zu erkunden und an der Aktualität des gewählten Sujets zu partizipieren, um auch selbst interessant zu erscheinen. Er empfiehlt sich damit dem Publikum als kritischer Beobachter der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität und bringt dabei gleichzeitig die Stärken, durch die sich der Modus der narrativ-fiktionalen Veranschaulichung auszeichnet, wirkungsvoll zur Geltung. Denn die künstlerische Fiktion ist ja in besonderer Weise gefragt, wenn es darum geht, das darzustellen, was sich dem Wissen und den Blicken der meisten Menschen entzieht, etwa das Leben der Privilegierten, die jenseits der Mauern und Gitter, des Stacheldrahts und der Kontrollposten, der Tore und Schlagbäume leben. Innerfiktional werden der damit verbundene Schlüssellocheffekt, der Appell an den Voyeurismus und die Sensationslust der Rezipient:innen noch dadurch verstärkt, dass keiner der Spielfilme darauf verzichtet, den Moment des Übergangs von der Außenwelt in den geschützten Raum der Gated Communities detailliert in Szene zu setzen: das angespannte Warten vor dem Schlagbaum, die Identitätskontrolle und Befragung durch das Sicherheitspersonal, das Öffnen und Schließen der Eingangstore und Zugangsschranken usw.
Mit dem Begriffspaar «extrinsisch/intrinsisch» zur Kennzeichnung außer- bzw. innerliterarischer Sachverhalte arbeiten auch René Wellek/Austin Warren: Theory of Literature. London/ New York: Penguin 1985 [1949], S. 71 ff. und 137 ff.
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Das Privileg des Spielfilms, die Zäune und Mauern zwischen den bewachten Villenkolonien oder Apartmenthochhäusern und ihrer Umgebung nach Belieben zu überwinden, erstreckt sich aber nicht allein auf die Ebene der mise en scène, sondern auch auf die des Diskurses. Das fällt vor allem bei einigen vertikalen Kamerafahrten ins Auge, die wie die spektakuläre, fast anderthalb Minuten dauernde Plansequenz zu Beginn von Rodrigo Plás La zona simultan, das heißt in ein und derselben Einstellung, champ und hors-champ, den geschützten Innenraum der gepflegten Wohnsiedlung und die ärmlich-schmutzige Außenwelt jenseits des Stacheldrahts zeigen.17 Diese auktoriale Geste verweist den Zuschauer:innen auf den enormen wirtschaftlichen, sozialen und nicht zuletzt ästhetischen Kontrast zwischen der Welt innerhalb und außerhalb der Gated Communities. Allerdings wird das Joint Venture zwischen lateinamerikanischer Realität und filmischer Fiktion auch dadurch begünstigt, dass der Film bereits über etablierte Modelle in Form bestimmter traditioneller Genres verfügt, die für das Sujet der Gated Community besonders empfänglich sind. Vom dramaturgischen Gesichtspunkt aus ist zunächst festzustellen, dass die Beschränkung des Raums und der Figurenzahl, wie sie mit der Wahl einer Gated Community als Setting zwangsläufig einhergeht, die Entstehung und Entwicklung von Konflikten generell begünstigt, seien diese krimineller, familiärer, sexueller, generationeller, religiöser, ethnischer oder anderer Natur. Schon Aristoteles war ja in seiner Poetik zu dem Schluss gekommen, dass Ereignisse ihre größte dramatische Wirkung entfalteten, wenn sie «innerhalb von Naheverhältnissen»18 stattfänden. Hinzu kommt, dass sich Gated Communities gut als Gegenstand filmischer Erzählungen eignen, weil sie besonders leicht auf Erzählschemata ansprechen, die ihre Wirkung aus der Konstruktion oder Dekonstruktion von Oppositionen beziehen. Die polemische Gegenüberstellung der Hippie-Kultur und des Lebensstils des Establishments, wie sie in Valenta Rinners Film Los decentes erfolgt, ist dafür das beste Beispiel.19 In Los decentes, aber auch in Las viudas de los jueves oder La zona wird unmittelbar einsichtig, wie die elementaren Gegensätze von innen/ außen, offen/geschlossen, Exklusion/Inklusion, reich/arm, Gewinner:innen/Verlie-
La zona. Regie: Rodrigo Plá. Mexiko 2007, 00:00:52–00:02:16. Als champ bezeichnet man den im Bildausschnitt gezeigten, als hors-champ den nicht gezeigten, aber zum erzählten Universum gehörenden Raum. Aristoteles: Poetik, Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1991, S. 43. Dabei ist der Film aber so klug, keinen Zweifel daran zu lassen, dass diese auf den ersten Blick so gegensätzlichen Welten in Wirklichkeit strukturell, in ihrer Eigenart als soziale und ideologische Blasen, die sich gegen die ‹Welt draußen› abschirmen, konvergieren; vgl. Christian von Tschilschke: The (un)happy few, S. 91–107.
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rer:innen, Schein/Sein, Gruppe/Individuum, Utopie/Dystopie, Paradies/Hölle zum Motor des Erzählens selbst werden. Im Hinblick auf die Affinität des Sujets der Gated Community zu einzelnen filmischen Genres ist schließlich hervorzuheben, dass jeder der hier erwähnten Filme an diesem Reservoire an Codes und Regeln auf seine Weise partizipiert: dem Thriller, der Dystopie, der Science-Fiction, dem Horrorkino, der Groteske, dem Sozialexperiment oder der Teenagerkomödie. Ungeachtet der unterschiedlichen Erscheinungsformen, unter denen sich die Geschichten vom Leben in den Gated Communities im Kino präsentieren, ist das zentrale Motiv, das ihnen zugrunde liegt, jedoch immer dasselbe. Es ist die Kritik an der Bildung exklusiver, möglichst homogener Gemeinschaften, deren Streben nach einem sorgenfreien Leben als Verrat an den Ideen des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit aufgefasst wird. Dabei widerspricht der Wunsch nach Abschottung, der in den Gated Communities zum Ausdruck kommt, eklatant dem alten, aber bis heute weithin als gültig erachteten städtebaulichen Ideal des «empfehlenswerten Durcheinanderwohnens»20 aller sozialen Klassen, das der preußische Stadtplaner James Hobrecht (1825–1902) bereits 1868 aufstellte und das noch in Richard Sennetts jüngstem Lobpreis auf die ‹offene Stadt›, Building and Dwelling. Ethics for the City (2018), nachklingt, zu der man sich die Gated Community als direkten Gegenentwurf vorstellen muss. Im Zuge der mehr oder weniger polemischen Kritik an diesem Zustand kommen nun vor allem zwei Delegitimationsstrategien zum Einsatz, die beide auf einer ethisch-moralischen Ebene operieren. Sie lassen sich jeweils auf eine plakative Formel bringen: ‹Geld macht nicht glücklich› und ‹Das Verdrängte kehrt wieder›. Für die erste Strategie sind die vielen deskriptiven Einstellungen und Sequenzen charakteristisch, die ein geradezu ethnographisches Interesse an den Verhältnissen in den Gated Communities verraten. Sie vermitteln einen umfassenden Eindruck von den weitläufigen Parkanlagen, den Golf- und Tennisplätzen, den Schwimmbädern und den luxuriösen Wohnhäusern mit ihren teuren und geschmackvollen Inneneinrichtungen. Immer wieder wird verdeutlicht, wie sehr sich die Figuren über ihren materiellen Wohlstand, ihren Dingbesitz und ihren zur Schau gestellten Konsum definieren. In Las viudas de los jueves – um nur ein Beispiel zu nennen – fürchten die Protagonisten Tano Scaglia, Gustavo Masotta und Martín Urovich, die infolge der argentinischen Wirtschaftskrise ihre hoch bezahlten Arbeitsplätze verloren haben, den sozialen Abstieg und den Verlust ihres Lebensstandards so sehr, dass sie kollektiv Selbstmord begehen und ihren Tod als Unfall kaschieren, um die
James Hobrecht: Über öffentliche Gesundheitspflege und die Bildung eines Central-Amts für öffentliche Gesundheitspflege im Staate. Stettin: Von der Nahmer 1868, S. 16.
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dann fälligen Lebensversicherungen ihren Familien zugutekommen zu lassen. In Wahrheit lauern hinter den Fassaden aus Glas, Beton und Stahl jedoch – das ist ausnahmslos der Tenor – Einsamkeit, Schlaflosigkeit, Neid, Zukunftsangst, selbstzerstörerischer Ehrgeiz, Sprachlosigkeit, emotionale Kälte, innere Leere, Langeweile, unterdrückter Hass und Heuchelei. In der Verfilmung von Las viudas de los jueves wird die Unerträglichkeit dieses Zustands unter anderem dadurch visualisiert, dass Teresa Scaglia ein aus den USA bekanntes Antidepressivum, die happy pill Prozac, nimmt. Die Packung erscheint in Großaufnahme, damit auch alle die Botschaft verstehen.21 Die zweite Strategie besteht darin, in einem ersten Schritt zu zeigen, dass das Streben nach Wohlstand und Sicherheit mit einem dreifachen Exklusionsprozess einhergeht: Vom Leben in den Gated Communities ausgeschlossen sind zunächst die unteren Bevölkerungsschichten, die nur als Dienstleister und Zulieferer oder in den Rollen des Gärtners, des Wachmanns, der Putzfrau oder des Haus- und Kindermädchens zugelassen sind. Vom Ausschluss aus der Gemeinschaft betroffen sind aber auch diejenigen, die sich den aufwendigen Lebensstil der ‹Clubmitglieder› nicht oder nicht mehr leisten können, so wie Martín Urovich in Las viudas de los jueves, der seinen Arbeitsplatz verloren hat und erwägt, sein Haus zu verkaufen. Schließlich droht all jenen der Ausschluss, die in welcher Hinsicht auch immer das kulturell Andere verkörpern. In topographischer Hinsicht entspricht der Tendenz zur Exklusion und Isolation die deutlich markierte Grenze zwischen Drinnen und Draußen, die sich in einer omnipräsenten ‹Architektur der Angst› niederschlägt: Mauern, Elektrozäune, Stacheldraht, Zugangssperren, Eingangspforten, Sicherheitspatrouillen und Überwachungskameras sorgen rund um die Uhr dafür, dass diese Grenze respektiert wird. Die implizite Verurteilung dieser abgesonderten Lebensform erfolgt nun in einem zweiten Schritt dadurch, dass alles, was die Siedlungsbewohner:innen aus ihren elitären Gemeinschaften verbannt, verdrängt und ausgeschlossen haben, mächtiger denn je in ihrem Inneren wiederkehrt und eine zerstörerische Kraft entfaltet, die das vermeintliche Paradies zur Hölle werden lässt. Am dramatischsten stellt sich dieser Prozess in den Fällen dar, in denen der Traum von der absoluten Sicherheit Monstren der Angst hervorbringt, der Angst vor der sozialen Deklassierung zum Beispiel, von der sich in Las viudas de los jueves die ehemaligen Gewinner:innen der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Argentinien ergreifen lassen, oder der Angst, von den Massen der Benachteiligten überrannt zu werden, die in den Armensiedlungen leben, die sich oft in unmittelbarer Nachbarschaft der Gated
Las viudas de los jueves. Regie: Marcelo Piñeyro. Argentinien 2009, 00:54:21.
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Communities befinden. Benjamín Naishtat hat seinen Erstlingsfilm nicht umsonst Historia del miedo genannt. Die Unruhe, Besorgnis und Angst, die sich in den Gated Communities aufstaut, kulminiert regelmäßig in Akten der Gewalt, der Zerstörung und der Selbstzerstörung: vom gemeinsamen Selbstmord der Ehemänner und Familienväter in Las viudas de los jueves über den kollektiven Mord an einem jungen Einbrecher in La zona bis hin zu dem Massaker, das am Ende von Los decentes die bewaffneten Nudisten-Hippies an den Mitgliedern der angrenzenden Gated Community verüben – ein Angriff, der zwar faktisch von außen kommt, auf einer allegorischen Ebene aber ebenfalls als Akt der Autodestruktion der Sozialform ‹Gated Community› erscheinen muss.
3 Affirmation und Dekonstruktion der Matrix in O som ao redor (2012) Im Unterschied zu allen anderen erwähnten Spielfilmen verankert Kleber Mendonça Filho das Geschehen seines Films O som ao redor sehr präzise in der außerfilmischen Realität. So wie schon in dem Kurzfilm Recife frio (2009) und danach in Aquarius (2016) ist der Schauplatz seine Geburtsstadt Recife. Im Vergleich zu Aquarius wählt er hier jedoch das etwas ruhigere, familiärere Stadtviertel Setúbal – ein dem nahegelegenen Strand abgewandter Teil von Boa Viagem. Im Grunde genommen beschränkt sich der Radius weitgehend auf eine einzige Straße, in der Mendonça Filho noch dazu selbst wohnt.22 Darüber hinaus erlauben mehrere Panoramaeinstellungen, vom Dach einiger Hochhäuser aufgenommen, eine ziemlich genaue räumliche Orientierung,23 zu der auch die Abbildung von Straßennamen, Gebäudebezeichnungen und Hausnummern beiträgt. Im Abspann werden vierundzwanzig verschiedene Bauwerke aufgelistet: condomínios, Einzelhäuser und andere, die im Film in irgendeiner Form vorkommen und aus denen sich die fiktionale Wirklichkeit zusammensetzt. Die Anwendung des Begriffs ‹Gated Community› auf Mendonça Filhos Film bedarf zunächst einer Präzisierung, haben wir es doch in O som ao redor nicht mit den umzäunten parkähnlichen Wohnsiedlungen zu tun, die in den übrigen Filmen im Mittelpunkt stehen, sondern mit benachbarten Gebäuden, die in derselben Straße liegen. Zu ihnen gehören luxuriöse Appartementhochhäuser (condomínios verticais) «It is where I live. We had to change a few things due to permissions denied, but 70% of the locations are in and around the actual street»; Aaron Cutler: Recife Breathes: Kleber Mendonça Filho on Neighboring Sounds. In: Cinema Scope, 14/50 (2012). z. B. O som ao redor. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2012, 00:49:41–00:50:59.
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ebenso wie villenartige Einzelbauten, deren Existenz jedoch – auch das wird im Film thematisiert – von dem herrschenden Immobilienboom bedroht ist (Abbildung 1).
Abbildung 1: Die Gentrifizierung von Setúbal; O som ao redor. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2012, 00:19:43.
Allen gemeinsam ist, dass sie durch hohe Mauern, Zäune, Tore, Überwachungskameras und Hunde, durch Park- und Nachtwächter und durch Zugänge, die von Portiers kontrolliert werden, geschützt sind. So bilden sie jeweils für sich eine Art Gated Community. Durch die Etablierung eines privaten Sicherheitsdienstes in der gemeinsamen Straße ist dieser Teil des Viertels aber auch auf dem besten Weg, sich in eine Gated Community traditionellen Zuschnitts zu verwandeln. Indem der Film diesem Prozess große Aufmerksamkeit widmet, liefert er eine anschauliche Mikrostudie der schleichenden Privatisierung des öffentlichen Raums (Abbildung 2).
Abbildung 2: Installation eines privaten Sicherheitspostens; O som ao redor. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2012, 01:47:17.
Das Vorgehen der privaten Sicherheitsfirma um Clodoaldo Pereira dos Anjos (Irandhir Santos) und seine Mitarbeiter:innen, die den Anwohner:innen ihre Dienste unter latenten Drohungen aufdrängen, spiegelt sich auch in den Zwischentiteln des in drei Teile untergliederten Films: «Cães de guarda» (Wachhunde), «Guardas noturnos» (Nachtwächter) und «Guarda-Costas» (Leibwächter). Dieser Teil der Handlung weist noch am ehesten Grundzüge eines narrativen Schemas auf. Ansonsten präsentiert sich der Film als Mosaik aus locker gefügten Alltagsbeobachtungen, die sich vor allem auf zwei Personen konzentrieren: die junge Hausfrau und Mutter zweier schulpflichtiger Kinder Beatriz Linhares, genannt Bia (Maeve Jinkings), und João (Gustavo Jahn), einen jungen Mann, der als Immobilienverwalter für seinen Großvater Francisco Oliveira (Waldemar José Solha) arbeitet, der ebenso wie andere Familienmitglieder in derselben Straße wohnt und dem ein Großteil («de mais do metade»24) der anliegenden Häuser gehört. Betrachtet man O som ao redor genauer, zeigt sich recht schnell, dass sich hinter der thematisch wie ästhetisch originellen Erscheinung des Films das
Ebda., 00:46:47.
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gleiche Grundmuster verbirgt, das auch anderen filmischen Inszenierungen von Gated Communities zugrunde liegt. Tatsächlich gibt der Film detailliert Einblick in die Lebensweise und das vermeintliche ‹Inselglück› der oberen Mittelklasse: In den Wohnungen herrscht viel Platz, um den Haushalt kümmern sich eine oder mehrere Hausangestellte (Mariá, Francisca, Cleide, Luciene),25 man fährt Audi. Bias Kinder werden von ihrer Mutter mit dem Auto zu privaten Englischstunden gebracht, für den Chinesischunterricht kommt dagegen eine Lehrerin ins Haus. Alle nötigen Konsumgüter sind vorhanden: Waschmaschine, Fernseher, Stereoanlage, Kühlschrank usw.26 Auf komische Weise wird diese – marxistisch gesprochen – ‹Entäußerung an die Welt der Objekte› in einer Szene sichtbar gemacht, in der Bia und ihre Schwester Bethânia (Mariangela Valença) in einen Streit darüber geraten, wer von ihnen den neuen 40-Zoll-Flachbildschirm bekommen soll und wer sich mit dem 32-Zoll-Gerät begnügen muss.27 Bia ist es auch, an der – ein bekanntes Klischee aufgreifend – die Leere dieser Existenz exemplarisch vor Augen geführt wird. Sie streift untätig durchs Haus, hört Musik, leidet an Rückenschmerzen und Schlafstörungen, betäubt ihren Ennui mit Joints und nutzt routiniert die Vibrationen ihrer Waschmaschine, um sich selbst zu befriedigen.28 Dass sie in einem ‹goldenen Käfig› lebt, wird dadurch geradezu überdeutlich gemacht, dass man sie immer wieder durch Gitter und Zäune blicken sieht. Die nationale und kulturelle Besonderheit der Darstellung der sozialen Ungleichheit in O som ao redor besteht nun aber in erster Linie nicht darin, ein genaues Abbild der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit Brasiliens bieten zu wollen, sondern vielmehr in der historischen Tiefendimension, die ihr Mendonça Filho verleiht. Sowohl die materiellen Grenzen, in denen sich die aktuellen Besitzverhältnisse äußern, als auch die immateriellen, die im Fortbestand der sozialen Hierarchien zwischen Herren und Bediensteten zum Ausdruck kommen, werden in O som ao redor explizit auf die für Brasilien charakteristische Geschichte der Plantagenwirtschaft und die damit verbundene Sklavenhaltertradition zurückgeführt. Der Film beginnt mit einer Reihe von Schwarzweißfotografien, die in keinem rechten Zusammenhang mit der späteren Filmhandlung zu stehen scheinen. Sie zeigen Plantagengebäude und Menschen bei der Feldarbeit. Erst nach und nach wird deutlich, dass der Familienpatriarch Francisco seinen Reichtum offenbar selbst durch den Anbau von Zuckerrohr erworben hat und über einen ausgedehn-
Zum besonderen Interesse Mendonça Filhos für die Problematik der Hausangestellten vgl. Stephanie Dennison: Intimacy and Cordiality in Kleber Mendonça Filho’s Aquarius. In: Journal of Iberian and Latin American Studies, 24/3 (2018), S. 329–340. Vgl. dazu auch Mendonça Filhos Kurzfilm Eletrodoméstica (2005). Mendonça Filho: O som ao redor, 00:21:50–00:24:03. Ebda., 00:43:25.
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ten Grundbesitz auf dem Land, aber auch in der Stadt verfügt. Im dritten Teil des Films besuchen João und seine Freundin Sofia (Irma Brown) ihn auf dem halb verfallenen Gelände seiner Plantage außerhalb der Großstadt, auf die sich Francisco immer noch gerne zurückzieht. Auch im Umgang mit den Hausangestellten manifestiert sich die Kontinuität sozialer Praktiken, die sich aus den dynamistischen Prinzipien der Sklavenhaltergesellschaft herleiten. So erfahren wir, dass Joãos schwarze Haushälterin Mariá (Mauricéia Conceição) bereits dessen Eltern zu Diensten war. Nachdem Mariá in den Ruhestand gegangen ist, tritt ihre Tochter, die bezeichnenderweise ebenfalls Mariá heißt, ihre Nachfolge an. Zum Teil wohnen die Bediensteten auch bei ihren Arbeitgebern, wie z. B. Luciene (Clébia Sousa), die ein dunkles Zimmer im Obergeschoss der luxuriösen Wohnung von Francisco hat. Bei einem Besichtigungstermin in einem exklusiven Hochhausneubau erwähnt João gegenüber einer Kundin ausdrücklich, dass die Wohnung auch ein «Bedienstetenzimmer mit Fenster» («quarto de empregada com janela»29) besitze.30 So wird durch zahlreiche verstreute Hinweise die Existenz von geschützten Wohnformen im heutigen Brasilien in einen von Gewalt, Ausbeutung und Rassismus geprägten Traditionszusammenhang gestellt, der auf die kolonialen Strukturen der Sklavenhaltergesellschaft zurückgeht. Dem Grundmuster der fiktionalen Inszenierung von Gated Communities entsprechend, kommt es nun auch in O som ao redor in vielfacher realer und imaginärer Gestalt zur Heimsuchung der Gemeinschaft der Privilegierten durch das von ihr Ausgeschlossene und Verdrängte. Deshalb wundert es auch nicht, dass der Film, obwohl er sich als Ganzes der Zuordnung zu einem Genre verweigert, immer wieder klare Anleihen am Genrekino, insbesondere am Thriller und am Horrorfilm nimmt.31 Ironischerweise werden die einzigen kriminellen Taten, von denen die Nachbarschaftsgemeinschaft betroffen ist, von deren eigenen Mitgliedern begangen oder zumindest geduldet. So geht der Diebstahl des CD-Players aus dem Fiat Uno, den Joãos Freundin Sofia vor dem Haus geparkt hat, auf das
Ebda., 00:17:34. In Bezug auf die räumliche Nähe zwischen den Dienstboten und ihren Arbeitgeber:innen erinnert Dennison (Intimacy, S. 330 f.) an die von dem aus Recife stammenden brasilianischen Soziologen und Anthropologen Gilberto Freyre (1900–1987) in seinem berühmten Buch CasaGrande & Senzala (1933, Herrenhaus und Sklavenhütte) vertretene These, dass die Sklaverei in Brasilien eine besondere Intimität zwischen weißen Herren und schwarzen Sklaven hervorgebracht habe. Jack A. Draper III spricht diesbezüglich von einem «subtle, measured use of certain generic elements of horror or suspense in order to evoke an atmosphere steeped in fear and violence, be it imminent or historical»; Jack A. Draper III.: ‹Materialist› horror and the portrayal of middleclass fear in recent Brazilian film drama: Adrift (2009) and Neighbouring Sounds (2012). In: Studies in Spanish & Latin American Cinemas, 13/2 (2016), S. 119–135, S. 120.
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Konto von dessen verhaltensauffälligem Cousin Dinho (Yuri Holanda), der aber unter dem besonderen Schutz der Familie steht. Und Romualdo (Arthur Canavarro), der mit den Trinkwasserbehältern auch die Drogen in die Häuser liefert, hat in Bia eine treue Kundin. Gleichzeitig neigt das Dienstpersonal zu mehr oder weniger subtilen Grenzüberschreitungen. Mariá bringt ihre Enkelinnen zur Arbeit mit, die sich in der Wohnung ihres Arbeitgebers benehmen, als ob es ihre eigene wäre. Einmal ruht sich Mariás Neffe Sidiclei (Alex Brito) nach der Rückkehr von seiner nächtlichen Arbeit in einem Supermarkt auf dem Sofa in Joãos Wohnzimmer aus, ohne dass sich dieser jedoch daran stören würde.32 Clodoaldo, der Sicherheitsmann, verschafft sich mit den ihm anvertrauten Schlüsseln Zugang zur Wohnung eines reichen Klienten und hat in dessen Schlafzimmer Sex mit Luciene, dem jungen Hausmädchen Franciscos. Allmählich verdichten sich zahlreiche kleine, zusammenhanglose Vorfälle zu einer Atmosphäre latenter Unsicherheit und Bedrohung: Einer der Männer, die sich um die Pflege der Autos kümmern, zerkratzt aus Ärger über ein vorenthaltenes Trinkgeld heimlich den Lack eines der von ihm beaufsichtigten Wagen. In einem der Hochhausapartments, die João zur Vermietung anbietet, hat sich die Vormieterin aus dem Fenster gestürzt. Ein Kranz im Hof darunter erinnert an das Ereignis. Bias Tochter Fernanda (Clara Pinheiro de Oliveira) träumt nachts von einer Gruppe dunkelhäutiger junger Männer, die Mauern überwinden und sich im Innenhof des Hauses versammeln. Der Wasserfall, unter dem sich Francisco, João und Sofia bei ihrem Besuch auf der Fazenda des Großvaters erfrischen, färbt sich plötzlich blutrot – als befänden wir uns in Stanley Kubricks Horrorklassiker The Shining. Was sonst soll dieser Einbruch des Surrealen bedeuten als ein Memento der verdrängten historischen Schuld und Verantwortung, in der die gesellschaftliche Elite steht, der die Protagonist:innen angehören?33 Den größten Coup behält sich Mendonça Filho aber für den Schluss des Films vor: Als Francisco Clodoaldo und dessen Bruder Cláudio (Sebastião Formiga) zu sich zitiert, um sie als seine persönlichen Leibwächter zu engagieren, weil er sich nach der plötzlichen Ermordung seines früheren Farmverwalters Reginaldo nun auch selbst bedroht
Auch dieser Vorfall hat autobiographische Wurzeln, wie Mendonça Filho berichtet: «We had a maid who worked for many years in my house. One day I returned from work and found her son hanging out on the couch and watching TV, and her grandson in the kitchen. It felt like an invasion, and I always found this very curious. It’s my house, they’re in it, but there’s a social line they aren’t supposed to cross between the kitchen and the living room. I didn’t draw that line; it was drawn by history and by society. They ‹should be› in the kitchen, or in the maid’s room ... and I hate this»; Cutler: Recife. Vgl. Rayns: Neighboring, S. 81: «But the feeling Mendonça is really out to nail is guilt.»
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fühlt, offenbart sich, dass Clodoaldo und Cláudio die Söhne bzw. Neffen zweier Männer sind, die vor langer Zeit – als Datum wird der 27.4.1984 genannt – von ebendiesem Reginaldo getötet wurden, und zwar bezeichnenderweise wegen einer Angelegenheit, in der es um einen Zaun, also um eine räumliche Abgrenzung ging («por causa de uma cerca»34). Mehr als diese Andeutungen erhalten wir nicht, aber es stellt sich doch im Rückblick schlagartig die beunruhigende Vermutung ein, dass unter dem Schutz der Einführung von Sicherheitsmaßnahmen gleichzeitig ein Rachefeldzug angebahnt wurde. Damit läuft Kleber Mendonça Filhos ganz eigene Darstellung einer Gated Community aber exakt auf dieselbe Pointe hinaus, die auch alle anderen filmischen Darstellungen von Gated Communities in Lateinamerika bereithalten. Indem sie vor Augen führen, dass der Wunsch nach Ab- und Ausgrenzung gerade das heraufbeschwört, was er verhindern soll – die Zerstörung der Gemeinschaft –, stellen sie das Konzept der Gated Community an sich in Frage. Sich mit dieser Erkenntnis zufriedenzugeben, würde allerdings der Komplexität von Kleber Mendonça Filhos Film nicht gerecht werden. Der Grund dafür ist, dass O som ao redor – bei aller Originalität in der Umsetzung – das Grundmuster des Gated-Community-Films mit seinen typischen Delegitimationsstrategien (‹Geld macht nicht glücklich› und ‹Das Verdrängte kehrt wieder›) zwar weitgehend affirmiert, es aber letztlich doch auf subtile Weise dekonstruiert und auf reflexive Distanz bringt. Mendonça Filho bricht nämlich auf allen Ebenen immer wieder planvoll mit Erwartungen und Klischees und unterläuft so die für das reibungslose Funktionieren des Grundmusters nötige oppositionelle Grundstruktur. So entspricht etwa João keineswegs dem Stereotyp des reichen Erben und ignoranten Ausbeuters. Als die Eigentümerversammlung des Hochhauses, in dem er lebt, beschließt, den Nachtportier Agenor (Normando Roberto Dos Santos) zu entlassen, der mit Hilfe heimlicher Videoaufzeichnungen anderer Hausbewohner:innen der Nachlässigkeit überführt wurde, spricht João sich als einziger für dessen Verbleib im Dienst aus. Dass Franciscos Dienstmädchen Luciene auch ein Privatleben hat, wird angedeutet, als sie sich in ihrem Zimmer zum Ausgehen umzieht. Die Sicherheitsfirma, deren Auftreten die schlimmsten Befürchtungen weckt, bleibt weitgehend passiv und überrascht durch eine philanthropische Aktion, indem sie einen leicht betrunkenen argentinischen Touristen höflich an seinen Bestimmungsort bringt. Clodoaldos bedrohlich wirkender schwarzer Mitarbeiter Fernando (Nivaldo Nascimento) hat sein Auge keineswegs bei einem Straßenkampf verloren, wie man zunächst vermutet, sondern bei einem häuslichen Unfall mit einem Regal. Und selbst als im Gespräch zwischen Francisco und den Sicherheitsmännern plötzlich ein gegenseitiger Mordvorwurf im Raum
Mendonça Filho: O som ao redor, 01:59:20.
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steht, sieht man gerade noch, wie die Figuren erregt aufspringen, dann bricht die Szene ab, und der Film endet mit dem fröhlichen Abbrennen von Feuerwerkskörpern, das Bias Familie auf der Dachterrasse ihres Hauses veranstaltet. Das wichtigste dekonstruktive Moment des Films wird aber schon im Titel O som ao redor angekündigt. Es besteht in den Geräuschen und der Tonkulisse. Im Einklang mit dem Titel ist in O som ao redor der sogenannte atmosphärische Ton außerordentlich präsent, weitaus stärker als meistens sonst im Kino.35 Konstant sind Hundegebell, Baugeräusche, Sambaklänge, Babyweinen, Autolärm, Vogelgezwitscher, Meeresbrandung und viele andere Töne und Geräusche zu hören, die gegenüber den Bildern eine ungewöhnliche Autonomie erlangen. Während die visuelle Ebene des Films von Abgrenzung und Ausschließung erzählt, überwinden die akustischen Wellen die sichtbaren Grenzen und schaffen so ein Bewusstsein für die ständige und unvermeidliche Gegenwart des hors-champ und dessen notwendige Zugehörigkeit zum champ – mit allen sozialen, ethnischen und sonstigen Konsequenzen, die das impliziert. Fast ist es so, als ob sich die Stadt hier in all ihrer Offenheit und Vielfalt selbst zu Gehör brächte: Recife – Die Sinfonie der Großstadt.36 Das hat am Ende auch Folgen für die funktionale Dimension des Films, seine potenzielle Wirkung. Für die meisten medialen Inszenierungen von Gated Communities in Lateinamerika gilt, dass sie bei aller Kritik am Wohlstandssezessionismus ihrer Bewohner:innen letztlich doch die beruhigende Gewissheit vermitteln, dass die Privilegierten, die Gewinner:innen, Sieger:innen und Erfolgreichen, im Grunde nicht um ihr Leben zu beneiden sind. O som ao redor gehört nicht dazu. Durch seinen subversiven, entdramatisierenden Umgang mit der Matrix der filmischen Darstellung von Gated Communities verweigert Kleber Mendonça Filhos Film den Zuschauer:innen die Möglichkeit, außerhalb der Dinge oder über ihnen zu stehen.
Darauf gehen unter anderem Frances Morgan (Symphony of a City. In: Sight and Sound, 23/3 (2013), S. 66), Leslie L. Marsh (Reordering (social) sensibilities: Balancing realisms in Neighbouring Sounds. In: Studies in Spanish & Latin American Cinemas, 12/2 (2015), S. 139–157) sowie Claudia Dornbusch (O Som ao Redor: Ein Vergleich mit der Berliner Schule. In: Díaz Pérez, Olivia C. u. a. (Hg.): Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film: Tendenzen nach 1989 in exemplarischen Analysen. Tübingen: Stauffenburg 2017, S. 93–108) ausführlicher ein. Vgl. dazu ähnlich Marsh: Reordering, S. 151: «The English translated title Neighbouring Sounds adds the sense of greater awareness of those with whom one coexists» sowie Mendonça Filho selbst: «The main idea was that sound does not respect social barriers»; Carmen Gray: High society: Kleber Mendonça Filho on the architecture of loathing. In: Sight and Sound (06.02.2014).
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Christian von Tschilschke
Filmographie Las viudas de los jueves. Regie: Marcelo Piñeyro. Argentinien 2009. O som ao redor. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2012. Aquarius. Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien 2016.
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