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German Pages 222 Year 2021
Jens Kersten, Stephan Rixen, Berthold Vogel (Hg.) Ambivalenzen der Gleichheit
Gesellschaft der Unterschiede | Band 63
Jens Kersten, geb. 1967, ist Jurist und unterrichtet Verfassungs- und Verwaltungsrecht in München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und soziale Medien sowie Natur und Gesellschaft. Er hat u.a. zur Schwarmdemokratie und zum Anthropozän publiziert. Stephan Rixen, geb. 1967, ist Jurist und lehrt in Bayreuth Verfassungs- und Verwaltungsrecht mit einem Schwerpunkt im Sozial- und Gesundheitsrecht. Er hat u.a. zum Verhältnis von Verfassung und Sozialpolitik publiziert. Berthold Vogel, geb. 1963, ist geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität. Er hat u.a. zu öffentlichen Gütern und zur Zukunft der Mittelschicht publiziert.
Jens Kersten, Stephan Rixen, Berthold Vogel (Hg.)
Ambivalenzen der Gleichheit Zwischen Diversität, sozialer Ungleichheit und Repräsentation
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Inhalt
Vorwort ........................................................................... 7 Ambivalenzen der Gleichheit Zwischen Diversität, sozialer Ungleichheit und Repräsentation Stephan Rixen ...................................................................... 9
Soziale Ungleichheit Soziologische Überlegungen zur kollektiven Erfahrung und Wirklichkeit gesellschaftlicher Ungleichheit Berthold Vogel ..................................................................... 35
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit – Ungleichbehandlung oder Antidiskriminierung Sigrid Boysen ...................................................................... 53
Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte Anna Katharina Mangold............................................................ 73
Diversität und Ungleichheit Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung Zur Konjunktur eines Konzepts aus politiktheoretischer Perspektive Astrid Séville....................................................................... 97
Die Gleichheit der Ungleichen Diversität – Identitätspolitiken – Diskriminierung Ulrike Lembke...................................................................... 115
Sinnlose Grabenkämpfe Nils Heisterhagen ................................................................. 137
Identitätspolitik & Emanzipation Lea Susemichel ................................................................... 143
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft Frank Schorkopf .................................................................. 163
Repräsentation Gleichheit und politische Repräsentation Markus Linden ..................................................................... 181
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip Jens Kersten...................................................................... 199
Autorinnen und Autoren...................................................... 217
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die auf ein Werkstattgespräch zurückgehen, das am 19./20. September 2019 an der Universität Bayreuth stattgefunden hat. Vorbereitet von den Herausgebern, widmete es sich dem Thema »Soziale Gleichheit oder Antidiskriminierung?«. Das Thema greift die in der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Verfassungsrechtswissenschaft verbreiteten Unsicherheiten auf, soziale Gleichheit und Antidiskriminierung plausibel aufeinander zu beziehen. Soziale Gleichheit und Antidiskriminierung werden in der jüngeren Debatte oft gegeneinander ausgespielt – meist getrieben von einer Hermeneutik des Verdachts, die zulasten der Antidiskriminierung geht, weil der antidiskriminierende Gehalt des Ringens um soziale Gleichheit ausgeblendet wird. Demgegenüber ist festzuhalten: Soziale Gleichheit und Antidiskriminierung lassen sich als zwei Seiten einer Medaille begreifen. Die Beiträge belegen, dass die Ambivalenzen der Gleichheit zwischen Diversität, Antidiskriminierung, sozialer Ungleichheit und der Schwierigkeit, die Repräsentation von Menschen mit Ungleichheitserfahrungen effektiv zu gewährleisten, auffallend groß sind. Dennoch lohnt der Versuch, die bislang meist getrennt voneinander laufenden wissenschaftlichen Diskurse in einen bewusst irritierenden und daher erkenntnisträchtigen Kontakt miteinander zu bringen. Wir sind den Autorinnen und Autoren sehr dankbar, dass sie sich auf das tentative Format eines Werkstattgesprächs eingelassen haben. Einblick in die eigene Reflexionswerkstatt zu gewähren und sich zugleich in Denkwelten hineinzuwagen, die prima facie befremdlich wirken mögen und doch unerwartet den eigenen Blick verändern, dies war nur möglich, weil die Teilnehmenden sich wechselseitig einen großen Vertrauensvorschuss eingeräumt haben. Die Bereitschaft, einander in der Annahme zuzuhören, dass die anderen vielleicht nicht völlig unrecht haben, war groß. Dieses wechselseitige Wohlwollen wurde durch die konzilianzförderliche Wirkung der
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oberfränkischen Küche verstärkt, die dem Werkstattgespräch den Charakter eines Symposions im Wortsinn verliehen hat. Wir hoffen, dass es den Beiträgen gelingt, die interdisziplinäre Struktur des Themas zu verdeutlichen. Ganz nebenbei wollen die Beiträge daran erinnern, dass auch verfassungsrechtswissenschaftliche Diskurse eine Form sind, die soziologische und die politikwissenschaftliche Zeit in Gedanken zu erfassen. Herzlich danken dürfen wir Jessica Menzel, Gabriele Speckner und Julia Wagner für die organisatorische Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung des Werkstattgesprächs. Ebenso herzlich danken wir Sandra FritschDrlje, Sarah Herbst und Gabriele Speckner für die Unterstützung bei der Publikation dieses Bandes. München/Bayreuth/Göttingen, im Oktober 2020 Jens Kersten Stephan Rixen Berthold Vogel
Ambivalenzen der Gleichheit Zwischen Diversität, sozialer Ungleichheit und Repräsentation Stephan Rixen
1.
Um welche Gleichheit geht es?
Gleichheit gehört zu den unersetzbaren und deshalb strittigen »Grundbegriffen, ohne die keine politische und keine Sprachgemeinschaft auskommt« (Koselleck 2006: 99). Zugleich sind in jedem Grundbegriff »[g]eschichtliche Veränderungspotentiale […] schon enthalten« (Koselleck 2006: 100). Es verwundert also nicht, dass sich der Gegenstand des Gleichheitsthemas im Laufe der Zeit, erst recht etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein, deutlich verändert hat. Unterschiedliche Egalisierungsanliegen mit unterschiedlichen theoretischen Begründungen, die nicht spannungsfrei aufeinander reagieren, hinterlassen den Eindruck einer umfänglichen Ambivalenz, die uns über den Kopf wächst. Wie kommt es zu dieser Ambivalenz, d.h., welche ungleichzeitig wirkenden, sich überlappenden Vorstellungen von Ungleichheit spielen in diesem Prozess grundbegrifflicher Differenzierung eine Rolle? Wie lassen sich diese Ambivalenzen von sozialer Gleichheit, Diversität, Anti-Diskriminierung einschließlich der Schwierigkeit, die Repräsentation von Menschen mit Ungleichheitserfahrungen effektiv zu gewährleisten, verfassungsrechtlich begreifen?
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2.
Ungleichheitserfahrungen als ungleich verteilte Anerkennungsdefizite
2.1
Soziale Ungleichheit als Ausschnitt aus der Welt der Ungleichheiten
Der Kampf gegen soziale Ungleichheit bzw. das Streben nach sozialer Gleichheit ist in westeuropäisch-nordatlantischen Staatsgesellschaften das dominierende Thema spätestens seit Beginn der Industrialisierung weit über die Mitte des 20. Jahrhundert hinaus. Erst in der Umbruchzeit der späten 1960er Jahre werden blinde Flecke eines um sozioökomische Ungleichheiten zentrierten Gleichheitsdiskurses dauerhaft sichtbar. In einer Mischung aus theoretischen Impulsen, aktivistischem Self-Empowerment und praktisch-politischen Reformforderungen wird der Blick geweitet, und die unausgesprochenen oder ausgeblendeten Prämissen der Rede von sozialer Ungleichheit werden eingeblendet. Wer sich warum als ungleich erlebt und wer Gleichheit jenseits der »sozialen Frage« warum einfordert, wird zur komplexen Angelegenheit. Die »soziale Frage« des sehr langen 19. Jahrhunderts, auf die bis in die 1970er Jahre durch einen massiven Ausbau des Wohlfahrtsstaates Antworten gefunden wurden, war im Kern eine »Arbeiterfrage« und keine Arbeiterinnenfrage. Daran ändern retrospektive Änderungen der Schreibweise (Arbeiter*innen, ArbeiterInnen) wenig. Sie können im Rückblick Leerstellen in Mentalität und politischer Praxis einer anderen Zeit markieren, auch wenn das inklusive Ex-post-Wording unfreiwillig von der Härte der damaligen Exklusionserfahrungen ablenkt. In geschichtspolitischer Absicht signalisiert es – und darauf kommt es an –, dass in Gegenwart und Zukunft Menschen, die von Ungleichheit betroffen sind, nicht in jene namenlose Unsichtbarkeit abgedrängt werden dürfen, in der Unsichtbare angeblich immer mitgemeint sind, wenn von den Sichtbaren die Rede ist. Die »soziale Frage« hatte gerechten Lohn, sichere Arbeitsbedingungen und würdige Lebensumstände im Blick. Der Arbeiter und seine Familie sollten vor den Zumutungen des Kapitalismus geschützt werden, sei es in mehr reformistischer, wohlfahrtsstaatlicher Weise, sei es in einer von der revolutionären Vision des Kommunismus getragenen, letztlich staatssozialistischen Perspektive. Beide Varianten, die »soziale Frage« als »Arbeiterfrage« zu beantworten, hatten primär gesellschaftlich nicht-privilegierte Männer im Blick, die mäßig bezahlte Erwerbsarbeit verrichteten und mehr schlecht als recht
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ihre Familien ernährten. Die Ehefrauen übernahmen in den Familien scheinbar alternativlos jene Aufgaben, die heute als Care- bzw. Sorgearbeit bekannt sind, häufig (auch in staatssozialistisch organisierten Volkswirtschaften des 20. Jahrhunderts) zusätzlich zu selbst verrichteter Erwerbsarbeit. Die um die soziale Frage angelegte Emanzipationsbewegung baute letztlich auf traditionalen Vorstellungen einer heterosexuellen Paarbeziehung mit herkömmlicher Aufgabenteilung auf. Sie bildete den Rahmen legitimer biologischer Reproduktion und daran anknüpfender Kindererziehung, der integral als »Ehe und Familie« gedacht wurde – so die Formulierung des 1949 in Kraft getretenen Art. 6 Abs. 1 GG, der diese Denkweise aufgreift. Die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter, die – wie es bis weit ins 20. Jahrhundert hieß – »Haushaltsvorstände« ihrer Familien waren, verbesserte deren Lebenslage indirekt, nämlich vermittelt über die Verbesserung der Lage des erwerbstätigen Ehemanns und Vaters. Die übrigen Familienmitglieder waren in dem Projekt, mehr soziale Gleichheit zu erringen, bloßer Annex des erwerbstätigen Mannes, dessen sozioökonomischer Status und in der Folge auch dessen politischer Status als Wahlbürger verbessert wurde. Die erstrebte Beseitigung oder doch Minimierung seiner sozialen Ungleichheit führte – was regelmäßig ein stillschweigend mitlaufender Effekt des Ausbaus sozialstaatlicher Leistungen ist – über das Materielle hinaus zu der Erfahrung, relevant, also eine (Rechts-) Person zu sein, von der weder ökonomisch noch politisch abgesehen werden kann, die, mit anderen Worten, Anerkennung erfährt, was sich als Selbstwertgefühl in der Beziehung zu sich und zu anderen zeigt (Rixen 2015).
2.2
Ungleichheit = Diskriminierung = Desavouierung der Identität einer Person
Ansätze, Anerkennung als ein das Materielle deutlich transzendierendes Geschehen weiter zu fassen, gehörten nach feministischen Anfängen bereits zur Jahrhundertwende zur emanzipativen Signatur der Weimarer Zeit. Exemplarisch belegt dies die Einführung des Frauenwahlrechts Ende 1918, die über ihre politischen Effekte hinaus Frauen als Gleiche sichtbar machte. Der ab 1933 einsetzende Zivilisationsbruch der NS-Zeit stoppte diese emanzipatorischen Aufbrüche. Der Nationalsozialismus war, was zu lange zu wenig wahrgenommen wurde (Aly 2005; Sachße/Tennstedt 1992), auch ein materialistisch getriebenes Projekt zur Verbesserung der sozialen Gleichheit derer, die zur »Volksgemeinschaft« gehörten, und zwar auf Kosten aller, die nach den Verfolgungs- und Vernichtungsplänen jener Zeit außerhalb der »Volksge-
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meinschaft« standen und zunächst auch durch die gewaltsame Sozialisierung ihrer ökonomischen Lebensgrundlage zu Ungleichen wurden. Der Ausschluss aller Personen, die nach den rassistischen NS-Gesetzen als Juden galten, aus dem Wirtschaftsleben mittels wirtschaftsrechtlicher Normen, die die Überlebensbasis zerstörten (von Münch 1994: 119ff., 132ff.), bevor ihnen das durch die vielfältigen Diskriminierungen immer mehr beschädigte Leben in den Vernichtungslagern genommen wurde; die Verwertung des Hab und Gut der Deportierten und Ermordeten einschließlich etwa des (ohne jede Fassade des Rechts getätigten) Raubs von Rentenversicherungsansprüchen, in denen die ökonomische Lebensleistung der Erwerbsarbeit sich spiegelte (Klimo 2017); die Negierung des Personstatusʼ schließlich auch dadurch, dass gegen jede humanitäre Tradition Leichen in einer Weise beseitigt wurden, die das Entstehen eines Bestattungsorts als »Focus der Gefühle« (Elias 1982: 48) für die Erinnerung an namentlich bekannte Menschen bewusst verhindert – in diesen und einer Unzahl weiterer Unrechtsakte wird das rassistische Für-ungleichhalten in den Köpfen durch eine tödliche Ungleichbehandlung der unbedingten Tat exekutiert. In existenziell zugespitzter, kaum auszuhaltender Form wird in dieser von singulärer Unmenschlichkeit geprägten Zeit deutlich, was Ungleichheit bedeutet: Nicht als personales Gegenüber geachtet zu werden, was äußerstenfalls heißt – wie die im Nazi-Jargon so genannte »Endlösung« belegt –, bis ins fast spurenlose Nichts finaler Unsichtbarkeit aufgelöst zu werden, als hätten diese Menschen, bevor sie ermordet wurden, nie gelebt. In den Massenmorden der NS-Zeit zeigt sich die verweigerte Anerkennung als brutaler, jahrelang sich zuspitzender Gewaltexzess, der anderen Ungleichheitserfahrungen unvergleichbar ist. Und doch schärft der Blick auf diese totale Herrschaft des Unrechts das Bewusstsein dafür, was Gleichheit im Kern ist – ein Anerkennungsversprechen, das besagt: Menschen sind trotz aller tatsächlichen (oder unterstellten) Unterschiede gleichwürdig und gleichschutzwürdig, also unter allen Umständen zu achten, was die Achtung der Integrität von Leib und Leben impliziert. Insofern hat, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert, die NS-Zeit »für die Identität der Bundesrepublik Deutschland« eine »gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung« (BVerfG 2009: 328). Was Art. 1 Abs. 1 GG (»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«) annonciert, wird deshalb wesentlich durch Art. 3 Abs. 1 GG (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«) und die besonderen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 und Abs. 2 GG konkretisiert. Dass die Person bzw. ihr Selbstverständnis, also ihre Identität, von Ungleichheitserfahrungen berührt sind, verdeutlicht exemplarisch der Blick auf die verpönten Merkmale, gegen
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die insbesondere Art. 3 Abs. 3 GG wirken soll. Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 GG sind normtextliche Ankerpunkte für eine plurale, anti-exklusive Identitätspolitik in dem Sinne, dass die Selbstverständnisse von Menschen, also ihre um bestimmte »Marker« des Selbstverständnisses sichtbar werdenden Identitäten, rechtlich relevant sind, auch wenn andere das nicht verstehen. Diese plurale, anti-exklusive Identitätspolitik hat alle Identitäten im Blick, nicht nur einige. Sie kreist um ein »offenes Menschenbild«, das sich mit Wesensdefinitionen über das, was »der« Mensch denn sei, sehr zurückhält (Rixen 2003, 219ff.; 2007: 127ff.). Die Würde des Menschen ist ein singularisches Synonym für die Würde der Menschen in all ihrer Verschiedenheit, also Diversität. Die historisch approbierte normative Fallhöhe dieses Ansatzes ist enorm. Angesichts der monströsen Unrechtserfahrungen in der NS-Zeit, in der die Diskriminierung von Menschen in ihrer Ermordung gipfelt, scheint eine Verbindung zu den Gleichheitsaspekten, die sich hinter dem Etikett »soziale Gleichheit« verbergen, kaum möglich. Hier deutet sich ein tiefes Unbehagen an, das – vor dem historischen Abgrund des NS-Unrechts verständlich –, lange Zeit mit dazu beigetragen haben dürfte, Gleichheit nicht übergreifend über sehr unterschiedliche Unrechtserfahrungen hinweg zu denken. Nur für bestimmte Ungleichheitserfahrungen, nämlich solche, die die Person als Ganze betreffen, weil sie ihr Existenzrecht bestreiten, schien der Begriff »Diskriminierung« angemessen (BVerfG 2004: 312). Zu den Erfahrungen, die mit sozialer Ungleichheit verbunden sind, passte er zunächst nicht.
2.3
Diskriminierung des Diversen
Der in den späten 1960er Jahren sich ausbreitende Mentalitätswandel (»68erBewegung«) brachte vielfältige Bewegung in den Gleichheitsdiskurs. Er eröffnete die Chance zu erkennen, dass das Streben nach mehr Gleichheit sich nicht nur in der Verbesserung von Arbeitsbedingungen für erwerbstätige Männer erschöpft, also mehr ist als herkömmlich verstandene soziale Gleichheit arbeitender Männer. Zu dieser Blickerweiterung trugen neben den antirassistischen Bewegungen etwa in den USA und Großbritannien auch die antikolonialen Bewegungen etwa in den früheren französischen Kolonien ebenso wesentlich bei wie die feministische Bewegung, die nach Anfängen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den 1970er und 1980er Jahren theoretisch und politisch immer präsenter wird (Kerner 2017; Becker-Schmidt/Knapp 2020). Mit unterschiedlichen Akzenten in den USA und Westeuropa thematisiert sie antisexistische und antirassistische Anliegen, die als verbundene
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Aspekte sich verstärkender Ungleichheit im Konzept der Intersektionalität sichtbar werden (Meyer 2017). Zugleich geraten damit bislang unterbelichtete Entstehungsbedingungen sozialer Ungleichheit in den Blick, etwa strukturelle Benachteiligungen von Frauen im Erwerbsleben, ohne die die heutigen Gleichstellungspolitiken nicht verständlich sind. Sie führten gewissermaßen zu einer Veralltäglichung des Diskriminierungsbegriffs, der – auch angestoßen durch eine vom EU-Recht favorisierte Terminologie (Grünberger/Husemann 2019) – zum Synonym für nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung wird, aber zugleich den Effekt verweigerter Anerkennung damit auch markanter signalisiert. Diskriminierung wird nunmehr multidimensional reformuliert. Das verdeutlichen vor allem Studien, die weiße Frauen (und Männer) auf blinde Flecken eines Feminismus hinweisen, der Ungleichheitserfahrungen afrikanisch-amerikanischer Frauen nicht erkennen kann und deshalb für die toxische Mischung aus sexistischer, rassistischer und sozioökonomischer Benachteiligung afrikanisch-amerikanischer Frauen keine Sprache hat (Meyer 2017). Die Rede vom »blaming the victim«, ist, was häufig vergessen wird, nicht mit kritischem Blick auf die Abwertung der Opfer sexueller Gewalt entstanden, sondern adressierte zunächst in kritischer Absicht die Abwertung einkommens- und bildungsarmer Menschen in afrikanisch-amerikanischen communities in den USA, die an ihrem Schicksal angeblich selbst schuld seien (Ryan 1971: 3ff.). Die in diesen intersektionalen Kontext eingestellte Einsicht, dass »race matters«, hat Sonia Sotomayor, Richterin am US Supreme Court, in einer berühmten dissenting opinion erläutert (Sotomayor 2014: 1676), die sich so zusammenfassen lassen: Der stereotypisierende Blick der anderen trübt bereits meine Wahrnehmung durch sie und macht mich zur Geisel ihrer essentialisierenden Vorurteile. Sie beschreibt damit das Grundproblem jedes Stereotyps: Bildern ausgesetzt sein, die meinem Selbstverständnis, meiner Identität – mir – von vornherein keine Chance geben, weil ohnehin schon klar scheint, was von mir zu halten ist, weshalb sich bei mir die tiefe Überzeugung einstellt: »I do not belong here« (Sotomayor 2014:1676). Wer sich das bewusst macht, erkennt, dass auch hinter dem Bestreben nach besserer Subsistenzsicherung und besseren Lebensumständen letztlich ein identitätspolitisches Anliegen lag und liegt (Susemichel/Kastner 2018: 39ff.): Nicht nur, ökonomisch betrachtet, besser leben zu können, sondern als Erwerbstätige/r mit eigenen Wertvorstellungen, milieuspezifischem Habitus und Geselligkeitsformen als Gegenüber anerkannt zu sein, dem/der nicht verbal oder habituell signalisiert werden darf, dass er oder sie nicht
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dazu gehört, also nicht relevant ist, sondern die als Person von anderen ein Verhalten erwarten darf, das sie als Achtung erleben kann. Es wird deutlich: Neue Aspekte des Gleichheitsdiskurses machen das Anliegen der sozialen Gleichheit nicht obsolet, aber ordnen es doch in einen breiteren Kontext ein. Der kritische Blick auf herkömmliche Unterscheidungen des Gleichheitsdiskurses nimmt unter dem Label »Diversität« seit den 1990er Jahre zu und führt zu queerfeministischen bzw. am Leitfaden der gender studies sich entwickelnden Überlegungen, die die nach Männern und Frauen geordnete Welt des herkömmlichen Differenzfeminismus fundamental in Frage stellen (Kuster 2019). Es geht um eine Kritik mit außerordentlicher erkenntnistheoretischer Wucht, denn sie greift basale Wirklichkeitskonstruktionen und ihre häufig stillschweigend unreflektiert bleibenden normativen Voraussetzungen radikal an (Rixen 2018: 318). Das wiederum erklärt, wieso jene, die diese Fundamentalkritik irritiert, ebenso fundamental zur Gegenkritik ausholen, was wiederum auf der Gegenseite als unterkomplexe Polemik polemisch zurückgewiesen wird und zu Repliken und Dupliken führt, die markante Freund-Feind- bzw. FreundinFeindin-Antagonismen pflegen. Was hier noch nachvollziehbare Kritik oder von einer entsicherten Hermeneutik des Verdachts gespeister Vorwurf ist, lässt sich immer schwerer unterscheiden. Das hängt auch damit zusammen, dass in den derzeitigen, meist nicht-empirisch ausgerichteten sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen »Wissenschaft« vielfach als parteiliche Funktion eines moralisch-politischen Anliegens (miss)verstanden wird (Jörke/Selk 2017: 155). Das bleibt auch für eine Rechtswissenschaft nicht folgenlos, die ihre akademische Satisfaktionsfähigkeit von der Kopie kultur- und sozialwissenschaftlicher Denkstile und -moden abhängig macht. Wie das Recht wird hier die Wissenschaft zum bloßen Vehikel politischer Weltveränderung. Sie büßt damit ihre aufklärerische Kraft ein, sich liebgewordenen Vorverständnissen und Vorurteilen in den Weg zu stellen und damit der »quasipubertären Neigung entgegenzuwirken, die Wirklichkeit lediglich unter Prinzipien und Totalentwürfen zu begreifen« (Kocka 1990: 440). Vor allem aber werden auf diese Weise »grundsätzliche politische Fragen« einschließlich ihrer theoretischen Fundierung »verstärkt in ein moralisches Register übersetzt und damit aus dem Bereich des öffentlichen Diskutierbaren herausgehalten« (Jörke/Selk 2017: 144f.). Eine abweichende Ansicht – Kritik – ist dann schnell nicht nur eine andere Ansicht, sondern wird zur moralischen Abwertung im (vorgeblich) wissenschaftlichen Gewand, letztlich zur diskriminierenden Praxis (vgl. Jörke/Selk 2017: 168).
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Zwischen kuratiertem Leben und frakturierter Gesellschaft: die Wiederkehr der »Klasse«
So misslich diese Debattenlage ist, in der meist nur noch die miteinander sprechen, die (vorgeblich) dasselbe meinen, so ist doch eines entscheidend: Seit gut 50 Jahren nehmen sich Menschen jenseits der Funktion, Arbeitskraft in Produktionsprozesse einzubringen, zunehmend (selbst)bewusst mit dem in den Blick, was abgesehen von der materiellen Absicherung ihr Selbstverständnis bzw. ihre Identität ausmacht. Der Sinn dafür, dass die immateriellen Anteile der Antwort auf die Frage »Wer bin ich und wer kann und will ich sein?« wichtig sind, nimmt in westeuropäisch-nordatlantischen Staatsgesellschaften umso mehr zu, je kommoder die ökonomische Lage insgesamt wird. Dass erst die Befreiung von wirtschaftlicher Not, den Kopf und das Herz frei macht für Reflexionen über den Sinn der eigenen Existenz, bringt die bekannte Sentenz aus Brechts Dreigroschenoper »Erst kommt das Fressen, dann die Moral« treffend auf den Punkt (wobei Moral hier als Platzhalter für solche das Ich betreffenden Denkbewegungen steht). Materielles wird nicht unwichtig, aber es wird jedenfalls für große Teile der Bevölkerung tendenziell unwichtiger. Was Charles Taylor – mit Blick auf den vom ihm so genannten »romantischen Expressivismus« (Taylor 2009: 791) – »Zeitalter der Authentizität« (Taylor 2009: 788) nannte, erlebt eine Reprise mit Turboeffekt: ein »expressive[r] Individualismus« (Taylor 2009: 806), der dem »Ideal der authentischen Persönlichkeitsverwirklichung« (Taylor 2009: 809) folgt und hierbei Materielles relativiert. Dies ist kein Prozess, der alle gesellschaftlichen Milieus gleichermaßen erfasst. Da sich die ökonomische Lage nicht für alle Menschen, auch nicht in Deutschland, seit Jahrzehnten gleichmäßig verbessert hat, ist das Interesse an einer handfest materiellen Verbesserung der eigenen Lebenslage bei vielen Menschen ungebrochen. Wer sich demgegenüber in einer materiell relativ guten Lage befindet, wird offener sein für postmaterialistische Perspektiven auf sich selbst. Solche Perspektiven können auch wichtig werden, wenn die materielle Lage zwar eher bescheiden ist, aber die Suche nach biographischem Sinn den Stellenwert von Geld und Gütern relativiert. Das Erstarken der ökologischen Bewegung mit all ihren Folgen für die eigene Lebensführung (Ernährung, Bekleidung, Vegetarismus, Veganismus) – genaugenommen eine Wiederaufnahme von Lebensreform- und Jugendbewegungsdiskursen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – ist ohne die Relativierung der im Konzept der sozialen Gleichheit angelegten materialistischen, also auf mate-
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rielle, d.h. monetarisierbare Güter ausgerichteten Perspektive auf das eigene Leben kaum vorstellbar. Das soziale Trägermilieu dieser Veränderungen ist, worauf Andreas Reckwitz hinweist, eine »neue […] akademische Mittelklasse« (Reckwitz 2018: 274) bzw. eine neue »Akademikerklasse« (Reckwitz 2018: 274) insbesondere in der Bildungs-, Kunst- und Kulturbranche. Je hegemonialer in politisch-medialer Vervielfältigung diese Lebensweise wird, umso mehr führt sie zu einem »kulturellen Konflikt« (Mau 2019: 231) bzw. zu einer »kulturelle[n] Klassenspaltung« (Reckwitz 2018: 277), weil sie für Haltungen (Kosmopolitismus, Diversität, Selbstentfaltung) und daraus resultierende Lebensstile stehen, die Menschen außerhalb dieser Klasse nicht teilen und die ihre Lebensstile und damit sich selbst durch die Hegemonie des Neuen in ihrem »Ringen um Respektabilität« (Mau 2019: 244) als abgewertet erleben (zum Problem siehe schon Rorty 1999: 73ff.). Im Anschluss an Reckwitz hat Steffen Mau (am Beispiel Ostdeutschlands, das insofern aber nur als Laboratorium übergreifender Prozesse fungiere) betont (Mau 2019: 230): »Der entsprechende kulturelle Wandel entwertet die Lebensweisen, Weltbilder und Alltagspraktiken jener Menschen, die stärker national und lokal verwurzelt sind, die eher auf Überschaubarkeit und Ordnung setzen oder sich der gesellschaftlichen Liberalisierung (z.B. im Hinblick auf Rollenbilder, Gleichstellung oder Minderheitenrechte) verweigern.« Steffen Mau weist darauf hin, dass hier eine »frakturierte Gesellschaft« entstehe. Der Begriff der sozialen (Mau 2019: 245) bzw. gesellschaftlichen (Mau 2019: 13) Fraktur zeige an, dass wir es nicht mit einem reinen, bloß ökonomisch oder symbolisch-emotional adressierbaren Anerkennungsdefizit zu tun haben, das Problem greift tiefer: »Entscheidend ist vielmehr das Zusammenspiel von Sozialstruktur und mentaler Verfasstheit, also die Art und Weise, wie man in der Gesellschaft seinen Platz findet und welche Weltsicht man hegt, was den eigenen Status bestimmt und welche Erfahrungen einen prägen« (Mau 2019: 245). »Eine frakturierte Gesellschaft ist anfälliger für Stimmungen, die aus dem Gefühl des Zu-kurz-Kommens entspringen, aus der Entwertung des eigenen Lebensmodells, aus kulturellen Irritationen, ökonomischer Prekarisierung und den Zumutungen zunehmender Flexibilisierung« (Mau 2019: 17). Der Begriff der frakturierten Gesellschaft wird der Sache nach, ohne dass Mau dies explizit erwähnt, zum Gegenbegriff des »kuratierte[n] Leben[s]« (Reckwitz 2018: 295), mit dem Reckwitz den vom Ringen nach Besonderheit getragenen ethisch-ästhetischen Selbstentfaltungs- und Selbstinszenierungs-
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bedarf (Reckwitz 2018: 283) der Angehörigen der neuen akademischen Mittelklasse etikettiert. Das Leben wird hier – was die longue durée des von Charles Taylor beschriebenen Expressivismus belegt – zur bewusst gestalteten Ausstellung der eigenen Besonderheit. Sie grenzt sich gegen andere ab, die jedoch ihr Leben ebenfalls kuratieren wie eine Kuratorin eine Ausstellung und insofern in ihrem jeweiligen Drang nach Besonderheit auffallend konformistisch agieren. Der Drang besonders zu sein, ist so besonders nicht. Entscheidend ist die Überlegung, dass die Selbstbilder einer im politisch-medialen Verstärkerkreislauf hegemonial werdenden neuen akademischen Mittelklasse die Entfremdung vielleicht nicht auslösen, aber doch mitbedingen und verstärken, die jene empfinden, die dieser neuen tonangebenden oder als tonangebend empfundenen Klasse nicht angehören bzw. sich ihr nicht zugehörig fühlen.
2.5
Sozial-kulturelle Ungleichheit: ein identitätspolitisches Problem unter den Bedingungen ungleich verteilter Aufmerksamkeit
Die frakturierte Gesellschaft kennt Anerkennungsdefizite, die mit ökonomischen Statusverlustängsten zu tun haben, aber eben auch mit den Werthaltungen, die mit dem Status etwa als nicht-akademisch geprägte/r Facharbeiter/in zusammenhängen, der/die in der Sprache gönnerhafter Fürsorglichkeit, die in einschlägigen politischen Milieus gepflegt wird, schnell zum »abgehängten« potentiellen Hartz IV-Bezieher/in wird – auch das ist ein Stereotyp. Das Entfremdungsgefühl derer, die sich nicht zur neuen akademischen Mittelklasse zählen, dürfte dadurch eher noch verstärkt werden. Es geht eben nicht nur oder zwingend um ökonomische Marginalisierung, die ohne Zweifel das Gefühl, nicht mehr wichtig zu sein, befördern kann. Mit der abnehmenden Relevanz der eigenen Nützlichkeit im Produktionsprozess gehen die wesentlich von dieser Rolle getragenen sinnstiftenden Selbstbilder und damit das Selbstwertgefühl verloren. Einmal mehr erinnert der Blick auf das Erklärungsmodell der frakturierten Gesellschaft daran, dass das Ringen um soziale Gleichheit nie nur ein Ringen um besseren Lebensstandard im rein ökonomischen Sinne war (und ist), sondern immer auch ein Ringen darum, als Malocher, Bergmann, Verkäuferin, Facharbeiter/in, Nicht-Studierte/r ein relevantes Gegenüber zu sein, das nicht übersehen werden darf, obgleich die Tätigkeit – und die Person, die sie ausübt – auf der Reputations- und Distinktionshierarchie der neuen akademischen Mittelklasse wenig Respekt erfährt.
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Aber es geht um mehr: Bestimmte Themen (kein Fleisch oder viel essen, rauchen oder nicht rauchen, weniger Autos bauen oder gerne Auto fahren, zum Urlaub nach Mallorca fliegen oder überhaupt nicht mehr fliegen) sind nur vordergründig bloß äußerliche Lebensstilfragen. Sie gehören zu den kleinen Dingen, die privates Lebensglück konstituieren können, selbst wenn manche, insbesondere jene, die sich im avantgardistischen Modus eines lehrbuchartig durchbuchstabierbaren Generationenkonflikts gegen solche Lebensstile wenden (»Fridays for Future«), dies nicht tolerieren wollen. Hinter sinnvollen, die gesamte Lebensführung adressierenden ökologischen Reformideen verbirgt sich deshalb die Gefahr einer neuen sozialen Ungleichheit, deren Treiber eine kulturell-lebensstilbezogene Ungleichheit ist: Wo die Ideen eines ökologisch sensiblen Weltzugriffs zu industriepolitischen Reformen führen, drohen massiver Arbeitsplatzverlust und (ungeachtet aller sozialstaatlichen Auffangnetze) ökonomische Verunsicherung und damit verbundene Angst um sich selbst, weil der nachhaltige Eindruck sich einstellt, nicht mehr gebraucht zu werden, nichts mehr wert zu sein und gewissermaßen zum Opfer eines Wertewandels zu werden, der gegenläufig nicht beeinflusst werden kann. Dieses gleichzeitige Ohnmachts- und Entwertungsgefühl, kombiniert mit dem Eindruck, nicht gehört zu werden – unsichtbar, also nicht wirklich repräsentiert zu sein mit den eigenen Werthaltungen und den Lebensstilen, in denen sich Lebenssinn materialisiert –, schafft Entfremdung und damit das Gefühl, weniger wichtig zu sein, weniger anerkannt, ungleich. Das eigene Selbstverständnis bzw. die eigene Identität geraten in Gefahr. Da bekanntlich real ist, was in den Folgen real ist, lohnt eine Debatte darüber, ob diese Entwertungserfahrungen berechtigt sind, wenig, denn sie würde nichts daran ändern, dass es diese Entwertungsgefühle gibt. Wer Zahnschmerzen hat, wird auch nichts von dem Hinweis halten, Zähne würden überbewertet. Soziale Gleichheit ist immer mehr als die ökonomische Lage, sie geht in unterschiedlicher Dosierung mit kultureller (lebensstilbedingter) Ungleichheitserfahrung einher, was in der Summe das Gefühl verstärkt, nicht gesehen zu werden, also nicht relevant zu sein, und zwar auch und gerade im Hinblick auf das Ausmaß der Aufmerksamkeit, die politische Verantwortungsträger der eigenen Person und Lebenslage zuteilwerden lassen. Ungleichheit ist auch eine Ungleichheit der politischen – und meist auch: medialen – Aufmerksamkeit. Die politische und mediale Aufmerksamkeitsökonomie spiegelt Ungleichheit wider, vertieft sie schlimmstenfalls oder belässt sie unverändert. Dieses empfundene und daher reale Repräsentationsdefizit
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wird zum handfesten politischen Problem, wo – Stichwort »(Rechts-)Populismus« – in erster Linie tief angebräunte politische Parteien Entwertungserfahrungen aufgreifen und zu politisieren suchen (Jörke/Selk 2017: 158ff.). Mit anderen Worten: Wer für die entwertenden Nebeneffekte avantgardistischer, etwa ökologisch motivierter Radikalreformen unsensibel ist und Entwertungsängste zum »Nebenwiderspruch« degradiert, der um des großen Ganzen willen hinzunehmen sei, darf sich nicht wundern, wenn betroffene Menschen, von der Aussicht, bloßes Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Großreform zu sein, wenig begeistert sind und (partei)politische Sensibilität vermissen lassen. Dass spricht nicht gegen avantgardistisches Bewusstsein und dadurch angestoßene Reformen, wohl aber dafür, bei der Realisierung solcher Reformen Schutzmechanismen gegen Entwertung einzubauen, die – wie etwa die Abwicklung der Steinkohleförderung zeigt – sehr teuer sein können (Kommission 2019), sich aber am Ende, gemessen am Ausmaß der zumindest halbwegs minimierten Entwertungserfahrungen, gesamtgesellschaftlich auszahlen – auch mit Blick auf die politische Stabilität.
3.
Welche Ungleichheit ist wichtiger? Konkurrenz und Koordination der Ungleichheiten
Vor dem Hintergrund der hier skizzierten unterschiedlichen Aspekte von Ungleichheit ergeben sich Fragen: In welchem Verhältnis stehen die unterschiedlichen Ungleichheiten zueinander? Lässt sich eine auf prominente Topoi der Diskriminierung referierende Gleichheitsdebatte (insbesondere »Geschlecht« und »sexuelle Orientierung«) mit einer um die soziale Ungleichheit (einschließlich ihrer kulturellen Ungleichheitsverstärker) kreisenden Debatte in eine konzeptionelle Verbindung bringen? Wie gelingt das insbesondere in rechtlicher, namentlich verfassungsrechtlicher Hinsicht, bilden verfassungsrechtliche Diskurse doch einen prominenten Ort der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung? Und was bedeutet das für die Frage, welche (Un-)Gleichheitserfahrungen in welcher Weise im Institutionensetting des demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsstaates Aufmerksamkeit und politisch folgenreiche Anerkennungspraktiken auslösen?
Ambivalenzen der Gleichheit
3.1
Zwischen Individuum und Gruppe
Zwei gegenüber dem Vorwurf verkappter theoretischer Konterrevolution völlig unverdächtige Kenner/innen der Debatte weisen auf den sich ausbreitenden Trend immer singulärer konzipierter individueller Diskriminierungserfahrungen hin, der zudem persönliche Betroffenheiten zum alleinigen Kriterium für legitimes Sprechen mache (Susemichel/Kastner 2018: 129, 132). Die Folge ist offensichtlich: Der Raum des einander Sagbaren wird verengt, weil die individuelle Diskriminierungserfahrung absolut gesetzt und kaum noch diskursiv eingeholt werden kann, letztlich auch nicht von jenen, die eine ähnliche – aber trotzdem immer andere – Erfahrung gemacht haben. Die anti-generalisierbare bzw. anti-universalierbare Stoßrichtung kommt nicht von ungefähr, stehen universalistische Positionen doch unter dem Verdacht, durch ihre (wie meist unterstellt wird) mindestens stillschweigende Ausrichtung an bestimmten Personen(gruppen) – erinnert sei an die stereotypisierende Metapher »weißer, alter Mann« – gar nicht so universalistisch zu sein, wie sie vorgeben zu sein. Ein Ausweg aus einer derart zugespitzten individualistischen Konzeption von Diskriminierung ist die Konstruktion von kollektiven Identitäten mit allen naheliegenden Folgen, die das hat. Gruppenidentität neigt zur typisierenden Vereinfachung, die das Besondere der eigenen (Diskriminierungs-)Erfahrung an den Rand drängt bzw. in die fiktionale Größe einer von früheren Generationen geborgten Unrechtserfahrung umwandelt, der nicht zwingend eigene Unrechtserfahrungen im Hier und Jetzt entsprechen müssen. Wenn darauf hingewiesen wird, eine anständige Gesellschaft (decent society) müsse in Fragen der Diskriminierung »der Interpretation der verletzbaren Minderheiten« (Margalit 2018: 180) folgen – insofern gelte bis zum Beweis des Gegenteils eine Vermutung zugunsten der Minderheit (Margalit 2018: 180) und dahinter stehe die »moralische Notwendigkeit, sich im Zweifelsfall stets auf die Seite des Schwächeren zu stellen« (Margalit 2018: 180) –, dann scheint dies auf den ersten Blick unproblematisch, selbst wenn man außer Acht lässt, dass es gar nicht so leicht ist festzustellen, wer »die« Minderheit ist und was sie meint. Nur: Wer in dieser Minderheit selbst eine Minderheit bildet oder sich in der Gruppe mit spezifischen Diskriminierungserfahrungen nicht hinreichend wahrgenommen sieht, ist zwar Teil der Minderheit, kann aber seine/ihre Sicht der Dinge nicht folgenreich artikulieren. Mit anderen Worten: »Die« Minderheit als stabile, sich eindeutig äußernde Größe gibt es nicht. Hinter der Gruppenorientierung muss also das Individuum mit seiner be-
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sonderen Situation folgenreich sichtbar bleiben, ohne dass aber die Inkommunikabilität einer höchstpersönlichen Viktimisierungserfahrung das letzte Wort behalten darf, soll überhaupt noch eine geteilte – und politisierbare – Erfahrungswelt, eine gemeinsame Welt, möglich sein.
3.2
Neuer Universalismus ohne Hierarchisierung der Ungleichheiten?
Aber kann das Denken in Gruppen mit seinen quasi-ständestaatlichen Versuchungen (Rixen 2019: 78f.), die nicht besser sind, weil sie diesmal von »links« kommen, wirklich der Ausweg aus einer Welt sein, die aus Differenzen komponiert erscheint, die sich vielleicht theoretisch als perfekte Diversität schönreden lassen, aber leider effektive Koordinierungsprobleme in der wirklichen Wirklichkeit nicht einfach ungeschehen machen? Die Suche nach einem neuen Universalismus bleibt aktuell, neu, weil er um ein inklusives Kriterium kreist, das alle Fallstricke und Missverständnisse hinter sich lässt, die ansonsten im Dschungel der Gleichheitsdimensionen lauern. Das Ringen um ein neues »Wir« ist ubiquitär (Garcia 2018), »eine gemeinsame, inklusive Kultur« (Malik 2017: 78), die dem (wie es etwas martialisch heißt) »Vormarsch der Sezessionen und Separatismen« (Rosanvallon 2017: 351) die alt-neue Idee einer »Gleichheit in der Differenz« (Rosanvallon 2017: 341), einer »Differenz ohne Herrschaft« einer bestimmten Differenz (Allen 2020: 44, 84) bzw. einer »plurale[n] Gleichheit« (Rosanvallon 2017: 346) gegenüberstellt. Sie solle die »destruktive Ungleichheit« (Rosanvallon 2017: 342), die nicht mehr nach dem »Prinzip des Gemeinsamen« (Rosanvallon 2017: 351) frage, sondern permanent partikulare (Rosanvallon 2017: 310), »dissoziative Gleichheit« (Rosanvallon 2017: 310) produziere, durch ein Prinzip des Gemeinsamen überdachen und damit relativieren – was manchen freilich als universalistisch getarnte Hegemonie einer partikularen Perspektiven erscheint. Dass Francis Fukuyamas Vorschlag einer »creedal identity« (Fukuyama 2018:171) bzw. einer »nationale[n] Bekenntnisidentität« (Fukuyama 2019: 200) die Lösung sein könnte – eine etwas emotionaler getönte Haltung zwischen Habermas’schem Verfassungspatriotismus und Bassam Tibis Leitkultur (Tibi 1996, 2001; Fukuyama 2018: 169: »leading culture«) –, ist zweifelhaft. Im Kern referiert auch dieser Ansatz auf jene universalistischen, zivilreligiös-republikanischen Konzepte, deren Tragfähigkeit gerade in Frage steht. »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven,« betont Hannah Arendt (Arendt 2010: 73). Das Interessante an diesem Satz
Ambivalenzen der Gleichheit
ist die Verbindung von Gemeinsamkeit und Perspektivenvielfalt. Nur ändert das »Faktum menschlicher Pluralität« (Arendt 2010: 213), also der eher formale Umstand, dass unsere Verschiedenheit das Gemeinsame ist, weil jede/r von uns verschieden ist, wenig an dem Problem, wie sich meine Verschiedenheit mit der Verschiedenheit des anderen vereinbaren lässt, wenn die jeweiligen Anerkennungsansprüche kollidieren. Gerade jüngere Entscheidungen des US Supreme Court zum Vorrang von diskriminierender Religionsfreiheit vor den schützenden Formen der Antidiskriminierung jedenfalls außerhalb des staatlichen Bereichs veranschaulichen die Problematik (Supreme Court 2019a, 2019b). Wer dem folgt, anerkennt vorstaatlich-private Räume grundrechtlich geschützter Diskriminierung, und je nachdem, was als nicht-staatlich gilt, dürften dies sehr große Räume sehr umfassender Diskriminierung sein. Das passt nicht zum deutschen Verständnis von Grundrechten als objektiv-rechtlichen Normen, die – vermittelt über das einfachgesetzliche, zugleich auch stark vom EU-Recht geprägte Recht (etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz [AGG]) – Schutz auch in privaten Rechtsverhältnissen gewähren. Bei der Abwehr von Diskriminierung geht es, wie erläutert, vielfach um menschenwürdenahe Schutzansprüche, deren effektive Geltung nicht davon abhängen kann, ob eine Person, bildhaft gesprochen, ein Rathaus oder eine Kirche betritt. Genau die Austarierung der Positionen ist das aktuell bleibende Problem: Geht es ohne Vor- und Nachrangrelationen, ohne fein dosierte Anerkennungshierarchien, die das eine Gleichheitsbedürfnis dem anderen Bedürfnis, als Gleiche/r anerkannt zu sein, vor- oder nachordnen? Auch der »Glaube« wird in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, auch die »Religion« wird in Art. 21 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta genannt. Müssen oder dürfen Diskriminierungsabwehransprüche unweigerlich hierarchisiert werden? Bekanntlich ist das eine Frage, die sich in einer Gemengelage aus deutschem Verfassungsrecht und EU-Recht im kirchlichen Arbeitsrecht stellt (BAG 2018; EuGH 2018). Braucht es dann aber nicht ein Kriterium, anhand dessen solche Vor- und Nachrangrelationen bestimmbar werden? Müssen bzw. dürfen sie abstrakt oder können sie nur konkret-einzelfallabhängig definiert werden? Und geht das alles ohne den Durchgriff auf Vorverständnisse, die sich jeweils als (angeblich) verfassungsrechtlich geboten inszenieren, obwohl sie jeweils nur bestimmte moralische (als vorgeblich verfassungsrechtlich zwingend verkleidete) Positionen reproduzieren? Bleibt am Ende nur der Dezisionismus diskursiver Machtspiele (in der Rechtswissenschaft oder in Höchstgerichten), denen es gelingt, sich in juristischen Debatten und gerichtlichen Entscheidungen als vorgeb-
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lich alternativlos zu präsentieren? Gibt es einen Ausweg, der all diese Aporien vermeidet?
3.3
Vulnerabilität als Suchbegriff in der Gleichheitsdebatte
Ulrich Beck hat, weithin unbeachtet, in seiner kleinen Schrift »Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen« den Begriff der »sozialen Verwundbarkeit« ins Spiel gebracht (Beck 2008: 26). Er hat dabei in erster Linie das Ausgeliefertsein an kaum bestimmbare Risiken etwa im Zusammenhang mit Finanz- oder Klimakrisen im Blick gehabt. Der Begriff erinnert an den Terminus der Vulnerabilität, der danach fragt, welches Individuum von Entscheidungen individueller oder kollektiver Akteure besonders intensiv betroffen ist. Das Adjektiv »sozial« verweist darauf, dass die Frage, wer vulnerabel (verletzlich) ist, eingebettet ist in Sozialstrukturen und soziale Beziehungen. Könnte nicht der Begriff der Vulnerabilität ein universalistischer Dach- und Suchbegriff sein, unter dem sich die in sich sehr unterschiedlichen Ungleichheitserfahrungen versammeln und anhand dessen sie sich gewichten lassen? Aber kann das gelingen, ohne Ungleichheitserfahrungen (etwa nach Menschenwürdenähe) zu hierarchisieren in dem Sinne, dass es Ungleichheitserfahrungen gibt, die »wirklich« schlimm sind, also »wirklich« verletzen und andere, die zwar abzulehnen sind (etwa Diskriminierungen wegen der Religion), die aber letztlich nicht so wichtig sind? Es ist jedenfalls erstaunlich zu sehen, dass die Bereitschaft groß ist, um das »Geschlecht« (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) kreisende Diskriminierungserfahrungen mit einem starken Fokus auf der Selbstempfindung, benachteiligt zu sein (Rixen 2018: 320), anzuerkennen (und rechtlich zu sanktionieren), während die Wahrnehmung, sozial benachteiligt zu sein, in den Bereich sozialpolitischer Reformforderungen abgedrängt wird, obgleich sich auch dieses Anliegen juridifizieren ließe, etwa über eine Schärfung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 (»Herkunft«) oder die Entwicklung eines Schutzes vor sozialer Benachteiligung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG). Andere Verfassungsordnungen juridifizieren die Abwehr sozialer Benachteiligung durchaus (siehe etwa Art. 21 der spanischen Verfassung), und in einfachrechtlicher Hinsicht gibt es Ansätze in Deutschland, wie § 2 des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes mit seinem Verbot der Diskriminierung wegen des »sozialen Status« belegt. Warum wird die eine Ungleichheitserfahrung Gegenstand überaus scharfer rechtlicher Regulierung, während die andere (bloß »soziale«) Ungleichheitserfahrung jedenfalls weithin nur als Ge-
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genstand sozialpolitischer Gestaltung betrachtet wird? Schon hierin liegt eine Ungleichbehandlung, weil die Chance, einer Ungleichheitserfahrung effektive Aufmerksamkeit zu verleihen, ungleich verteilt wird. Sind die jeweils denkbaren Ungleichheitserfahrungen qualitativ so anders, und wer entscheidet das? Wie soll die unterschiedliche Ungleichheitserfahrung verhandelt werden: mit den spezifischen Aufmerksamkeitsressourcen des Rechts oder den in aller Regel eher unspezifischen Aufmerksamkeitstechniken politischer Deliberation und Mehrheitsfindung? Wie kann verhindert werden, dass ein stark auf die Selbstempfindung abstellendes Verständnis von Diskriminierung gleichsam inflationäre Folgen hat, in der am Ende alle Katzen grau sind und jede selbst als solche bekundete Diskriminierung von Rechts wegen eine solche ist? Droht etwa eine inflationäre Entgrenzung bestimmter Merkmale (oder ist das nur Panikmache), wenn etwa an den Begriff der »Behinderung« gedacht wird? Oder wäre der Eindruck der Entgrenzung nicht ein Hinweis darauf, dass über eine neue Normalität nachzudenken ist, in der Behinderung (oder ein anderes Merkmal) nicht die anormale Abweichung, sondern der gleichheitsverbürgende Maßstab ist? Diesen Weg hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf das Merkmal »Geschlecht« angedeutet, wenn es auf die Option hinweist, eine Rechtsordnung jenseits der Mann-Frau-Binarität geschlechtsindifferent zu organisieren (BVerfG 2017: 25). Ute Frevert hat für das späte 20. Jahrhundert – nichts anderes dürfte für das nicht mehr ganz so junge 21. Jahrhundert gelten – darauf hingewiesen, dass sich »ich-bezogene, tendenziell narzisstische Fühl- und Denkmuster ausbreiten. Wer sein Selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und dafür soziale Anerkennung beansprucht, wird extrem empfänglich für deren Verweigerung.« (Frevert 2017: 232) Das könnte missverständlich klingen, wäre damit – wovon Ute Frevert weit entfernt ist – insinuiert, Ungleichheitserfahrungen wären Folge übersteigerter Empfindlichkeit. Solch eine Sichtweise würde all den bitteren und oft kaum erträglichen Ungleichheitserfahrungen nicht gerecht, die, um nur einige zu nennen, Frauen, Schwule, Migrant*innen, Trans-Personen oder auch religiöse Menschen machen. Aber das Problem bleibt, tragfähig zu beschreiben, was eine Ungleichheitserfahrung in rechtlich valider Weise erkennbar macht – das Recht muss »ein erweisbares« sein (Hegel 1989: 375 [§ 222]) – und welche Ungleichheitserfahrung sich, in den außerrechtlichen Bereich gedrängt, mit sehr unsicherer politischer Aufmerksamkeit begnügen muss. Mit anderen Worten: Ist uns wirklich klar, was warum eine rechtlich relevante Ungleichheitserfahrung ist? Können wir gut begründen, warum offenbar
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Probleme sozialer Ungleichheit nicht hierin gehören? Sind wir begrifflich und institutionell in der Lage, individuelle Gleichheitsachtungsbedürfnisse in wechselseitig zumutbarer Weise zu koordinieren?
4.
Kaleidoskop der Ambivalenz: die Beiträge dieses Bandes – und ein Resümee
Diesem Fragenfeld widmen sich aus sehr unterschiedlichem Blickwinkel die soziologischen, politikwissenschaftlichen und verfassungsrechtswissenschaftlichen Beiträge dieses Bandes. Unter der Rubrik »Soziale Gleichheit« versammeln sich drei Beiträge: Berthold Vogel thematisiert in seinen »Soziologischen Überlegungen zur kollektiven Erfahrung und Wirklichkeit gesellschaftlicher Ungleichheit« das Zusammenspiel von struktureller und subjektiver Ungleichheit und akzentuiert den Gedanken, dass Ungleichheit nicht auf sozioökonomische Effekte reduziert werden dürfe, sondern in Erfahrungen der Diskriminierung und Nichtanerkennung real erfahrbar werde, die wiederum durch umfänglichen sozialen Wandel und wirtschaftlichen Transformationen ermöglicht bzw. verstärkt würden. Vor dieser soziologischen Folie skizziert Sigrid Boysen aus der Doppelperspektive der Verfassungs- und Völkerrechtlerin ihr Tableau »Verfassungsrechtlicher Konzeptionen sozialer Gleichheit – Ungleichbehandlung oder Antidiskriminierung«. Sie identifiziert, was in der bisherigen verfassungsrechtswissenschaftlichen Debatte noch kaum wahrgenommen wurde, die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates als dynamischen Treiber eines Gleichheitsverständnisses, das mit der Komplexität des Wohlfahrtsstaates eine komplexere Maßstabskraft gewinnt. Nicht zuletzt unter dem Einfluss des EU-rechtlichen Diskriminierungsdenkens entwickle sich das Gleichheitsverständnis von einer liberalen über eine traditionell-sozialstaatliche Ausrichtung zu einer am Leitfaden der Antidiskriminierung erfolgenden »Entstaatlichung des Sozialen« weiter, die die Probleme der sozialen Gleichheit zwar dem Grunde nach erfassen könne, sich indes mit einer Operationalisierung noch schwer tue. Anna Katharina Mangold fokussiert aus verfassungsrechtlicher Perspektive die »Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte«, indem sie die materialen Grundrechtsgehalte von Freiheitsrechten als Wirkungsmodus entdeckt, über den sich Gleichheitsanliegen effektuieren lassen. Im Lichte fe-
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ministischer Rechtstheorie gelingt dies anhand eines relationalen Verständnisses von Grundrechten, das die gesellschaftlich vermittelte Angewiesenheit von Individuen auf andere nicht konzeptionell marginalisiert, sondern ins Zentrum des Freiheitsverständnisses rückt. Folgende Beiträge widmen sich dem Verhältnis von »Diversität und Ungleichheit«: Astrid Séville widmet sich aus politikwissenschaftlichem Blickwinkel dem Thema »Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung. Zur Konjunktur eines Konzepts aus politiktheoretischer Perspektive«. Sie definiert, was mit Identitätspolitik gemeint ist und diskutiert die politischen und demokratietheoretischen Chancen, Risiken und Probleme einer identitätspolitischen Mobilisierung. Sie erscheinen letztlich nur dann bewältigbar, wenn sie in einen Rahmen des »Miteinanders« eingestellt bleiben, der erst vermittels politischer Bildung von der allgemeinen Mahnung zum wechselseitig Respekt erheischenden Habitus werden könne. Ulrike Lembke nimmt in ihrem Beitrag »Die Gleichheit der Ungleichen: Diversität – Identitätspolitiken – Diskriminierung« in kritischer Absicht die Versuche in den Blick, das Projekt der Antidiskriminierung mit dem Vorwurf zu desavouieren, es schwäche das Anliegen, soziale Ungleichheit zu beseitigen. Dem stellt sie ein Verständnis gegenüber, das Diskriminierung als wesentliche soziale Ungleichheit wahrnimmt und Antidiskriminierungsrecht als eine Vorkehrung profiliert, die dafür sorgt, dass soziale Ungleichheit nicht aus dem Ruder laufe. Nils Heisterhagen erinnert mit seinem gegen »sinnlose Grabenkämpfe« gerichteten Appell an die aus seiner Sicht nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch-politisch vernachlässigten Valenzen eines neu bei Kant und Habermas sich vergewissernden Universalismus. Er werde zur Quelle eines gegen partikulare Identitätspolitiken gerichteten Konzepts republikanischer Identität, das nicht an der Andersheit der Anderen interessiert sei, sondern das Verbindende suche, was auch bedeute, die materialistische Seite guten Lebens nicht auszublenden. Lea Susemichel nimmt in ihrem Beitrag »Identitätspolitik & Emanzipation« die verbreitete Kritik an linker Identitätspolitik unter die Lupe, die, wie sie darlegt, mitnichten neu, sondern schon lange auch Gegenstand feministischer Kritik sei. Im Kern gehe es um eine Distanzierung von Dominanzkulturen, die durch im Einzelnen facettenreiche Solidaritätsvorstellungen davor bewahrt werden, einzelne Erfahrungen der Diskriminierung gegen andere Erfahrungen der Diskriminierung auszuspielen. In dieser Weise kontextuali-
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sierte und entdramatisierte Identitätspolitik sei nicht das Problem, sondern die theoretisch und praktisch-politische Lösung. Frank Schorkopf wendet sich dem Thema »Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft« zu. Er benennt die Irritationen, aber auch die Chancen beider Begriffe für das Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaftssignatur. Er diagnostiziert Veränderungen im Verständnis gleicher Freiheit, die den Blick vom Individuum auf die Gruppe umlenken. Beide Begriffe könnten, freiheitsgerichtet interpretiert, Leerstellen demokratischer Repräsentation benennen helfen. Zugleich müssten überschießende Gehalte so eingehegt werden, dass sie die Chancen einer reformoffenen parlamentarischer Demokratie nicht vorschnell in Frage stellten. Zwei Beiträge widmen sich abschließend der »Repräsentation«: Markus Linden befasst sich mit dem Thema »Gleichheit und politische Repräsentation«. Zentral ist für ihn das Konzept der Beziehungsgleichheit von Pierre Rossanvallon, das antipluralistischen Verkürzungen des Egalitarismus entgegenwirken solle. Empirische Befunde profilieren dieses Konzept für die Zwecke eines differenzierteren Modells politischer Repräsentation. Sie belegten, dass es möglich sei, schwache Interessen in parlamentarisch-parteipolitischen Repräsentationssettings besser zu artikulieren, als dies vermittels anderer Partizipations- bzw. Repräsentationsformen möglich sei. Jens Kersten traktiert das Thema »Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip«. Er prüft, ob sich identitätspolitische Anliegen im konkreten parlamentarischen Repräsentationsmodell des Grundgesetzes abbilden lassen. Er sieht im gegebenen verfassungspositiven Rahmen mit seinen auch föderalen Besonderheiten in erster Linie die diversitätsorientierte Personalpolitik der politischen Parteien gefordert. Eine identitätspolitische Quotierung des Deutschen Bundestages widerspreche dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip. Von Hannah Arendt stammt das treffende Wort von der »Realität, die sich im Gehört- und Gesehenwerden konstituiert« (Arendt 2010: 62). Gleichheitsdiskurse arbeiten genau auf diese Realität hin, die Menschen real erfahren lässt, dass sie – als relevante Gegenüber – gehört und gesehen werden. Wer die Ambivalenzen der Gleichheit diskutiert, kann sich selbst als Person, die denkt und fühlt, nicht außen vorlassen. Vieles an biographischer Prägung und eigener, zwischen Geltungsbedürfnis und Missachtung angesiedelter Erfahrung wird stillschweigend mitverhandelt, gerade bei denen, die das nicht wahrhaben wollen. Das Gespräch über die Grenzen der Vorverständnisse und Theorien, der intellektuellen und weltanschaulichen Glaubenssätze hinweg ist
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daher nicht leicht. Wenn die Grenzen nicht zu akademisch gepflegten Gräben werden sollen, die andernorts goutierte Spaltungen bloß reproduzieren, dann gibt es zum alteuropäisch-humanistischen Gespräch keine sinnvolle Alternative.
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Soziale Ungleichheit
Soziologische Überlegungen zur kollektiven Erfahrung und Wirklichkeit gesellschaftlicher Ungleichheit Berthold Vogel
Die Corona-Krise ernüchtert die Gesellschaft in ihrem Blick auf sich selbst. Im grellen Licht der Pandemie kehren im Frühjahr 2020 Grundfragen der Soziologie auf die Tagesordnung der Gesellschaft zurück – mit an erster Stelle steht die Dynamik, Struktur und Erfahrung sozialer Ungleichheit. Das Virus ist kein Gleichmacher, sondern es akzentuiert Trenn- und Bruchlinien des Sozialen. Das Virus ist auch kein Resonanzraum solidarischer Selbsterfahrung, sondern ein Provokateur harter Wohlstandskonflikte. Rasch wurde nach Ausbruch der Pandemie deutlich, dass es sehr wohl darauf ankommt, wie man wohnt, wo man arbeitet, ob der Fluchtweg ins Home-Office offensteht oder ob einem die eigene Systemrelevanz nach draußen und damit ins Risiko zwingt. Das Virus singularisiert nicht, sondern kollektiviert je nach sozialer Position gesundheitliche und soziale Gefährdungen. Alles das geschieht im globalen Maßstab. Der Nationalstaat gewinnt und verliert in diesem Prozess gleichermaßen an Bedeutung. Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft wächst. Sicherheit, Versorgung und Gestaltung werden als staatliche Aufgaben wahrgenommen und eingefordert. Zugleich hält sich die Epidemie an keine nationalen Grenzen – weder in ihren virologischen noch ökonomischen Folgen. Noch sind die Konsequenzen der Pandemie und ihrer sozialen Brüche und wirtschaftlichen Verwerfungen gar nicht absehbar, schon gar nicht auf internationaler Ebene. Doch eines steht fest: Das Virus ist bereits heute der große Trennungsbeschleuniger. Und so drängt diese veränderte global-gesellschaftliche Lage die Soziologie, sich ihres eigenen Blicks auf Gesellschaft zu vergewissern. Mit welchen Herausforderungen sehen sich heute Sozialstrukturanalyse und Sozialforschung konfrontiert? Nach Jahren der Kulturalisierung sozialer Fragen
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und der Suche nach subjektiven Identitäten und Befindlichkeiten »jenseits von Stand und Klasse« (Beck 1983) provoziert die Corona-Krise das soziologische Selbstverständnis und die Leistungsfähigkeit der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin. Was ist heute die Lage der Soziologie, die als wissenschaftliche Disziplin historisch aus den sozialen Fragen und Klassenbildungen des späten 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, und die theoretisch immer mit der Frage nach Gleichheit und Ungleichheit verknüpft war? Die Fragen nach Gleichheit und Ungleichheit zu stellen, war stets mit einer Sozialtheorie moderner, marktgeprägter, pluraler Gesellschaften verknüpft. Von wem und unter Zuhilfenahme welcher Methoden erfahren wir heute, was im sozialen Gefüge der Gesellschaft vor sich geht? Was kann die Botschaft sein, die die Soziologie im bisweilen kakophonischen Konzert der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen bereithält? In dieser Weise zu fragen, steht in guter Göttinger Tradition und folgt der Linie der Soziologie Hans Paul Bahrdts, der lange vor einer Debatte um »öffentliche Soziologie« an einer grundlagenorientierten Sozialforschung arbeitete, die darauf zielte, in den Austausch mit einer kritischen und interessierten Öffentlichkeit zu treten (vgl. hierzu Vogel 2019). Diese Öffentlichkeit blieb bei Bahrdt nicht abstrakt, sondern mit seiner Soziologie waren unmittelbar und handlungspraktisch Stadtplanerinnen und Betriebsräte, Berufsschullehrerinnen und Ingenieure sowie all diejenigen, die an den öffentlichen Angelegenheiten und an den Universalien des gesellschaftlichen Alltags interessiert sind, angesprochen. Dieses Verständnis folgte keiner Einbahnstraße im Sinne wissenschaftlicher Welterklärung, sondern provozierte den Austausch. Die Soziologie, die sich in die Gesellschaft begibt, will sich damit selbst verändern (aktuell und exemplarisch Simmank/Vogel 2020). Soziologie interessiert sich für das soziale Ganze und für kollektive Institutionen. Sie fragt nach dem Gemeinsamen, das plurale, vielgestaltige und differenzierte Gesellschaften zusammen bindet. Das ist eine Frage von Strukturen, aber auch von geteilten Normen und Werten. Dieses Grundverständnis unterscheidet sich markant von einem partikularen Zugang zu Gesellschaft, der von Identitäten her denkt – seien sie regionaler, geschlechtlicher, ethnischer oder anderer Art. Das »identitäre« Verständnis von Gesellschaft als Ansammlung selbstbezüglicher und sich (horribile dictu) selbst ermächtigender Subjekte negiert Kollektivität und eine Vorstellung vom Ganzen. So zählt nicht mehr der sozioökonomisch begründete Klassenunterschied, der ein politisch veränderbarer ist. In den Vordergrund rücken vielmehr Merkmale des
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Subjekts, die sich politischer Veränderung weitgehend entziehen und alleine als Diskriminierung skandalisiert werden können. Eine Soziologie der Gefühle und der Empörungen tritt in einer identitären Vorstellung der Gesellschaft an die Stelle einer Soziologie des Kollektiven, der sozioökonomischen Lebensbedingungen, der Klassen, die sich beispielsweise an Fragen materieller Arbeitsbedingungen, betrieblicher Realitäten, kollektivem arbeitsrechtlichen Schutz oder an der Verfügbarkeit öffentlicher Güter bemisst. Die Soziologie der Klassen, des Wohlfahrtsstaates und der Gleichwertigkeit folgt einer anderen Logik. Die Logik ist die der Kollektivität und nicht der Singularität. Eine Gesellschaft, die als Kombination diverser Identitäten konzipiert wird, provoziert notwendigerweise eine Theorie und Politik der Singularitäten (vgl. Rosanvallon 2013), die kein soziales Ganzes mehr zu erkennen vermag. Es ist dann gar nicht mehr entscheidend, wie es um die Empirie des ungleichen Alltags bestellt ist.
1.
Zusammenhalt und die Vermessung der Verluste
Die krisenhaften Verwerfungen, die sozialen Polarisierungen, die Konflikte um Verteilungsfragen, die Zukunft digitalen Arbeitens und Lebens – die Soziologie ist gefordert und gefragt. Soziologische Forschung liefert Material und Expertise. Der sozialtheoretische Zugriff auf die gesellschaftlichen Angelegenheiten wird dabei zunehmend von akribischer Datenanalyse abgelöst. Wissenschaftlicher Ernst bemisst sich am Eifer, die Welt in Daten und Indikatoren zu fassen. Evidenzbasierte Forschung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort, so als sei die Gesellschaft ein Patient, dessen Daten umfassend gesichert sein müssen, um im Anschluss ein Rezept ausstellen zu können. Gut gemessen ist dann schon halb analysiert. So entwickeln sich in den soziologischen Werkstätten Beschäftigtenpanels, Arbeitsmarktszenarien, Kennzahlen zu Bildungsabschlüssen und zu Einkommens- und Vermögensverteilungen. Soziologinnen und Soziologen vermessen die Aufund Abwärtsmobilitäten, sie beschreiben Diskriminierungen in Arbeit und Leben und heben stets hervor, dass man all das noch international vergleichen müsse – auch wenn sich manche Birne neben einem Apfel findet. Aus all diesen Forschungen werden Schlüsse gezogen, die auf die Verfestigung von Armutslagen hinweisen, die Bildungsbenachteiligung von Arbeiterkindern hervorheben und die Statusangst der unteren Mittelschicht betonen. Diese Prozesse kristallisieren sich seit geraumer Zeit im Begriff des gesell-
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schaftlichen Zusammenhalts und seiner Gefährdungen. Dass das Thema des Zusammenhalts eine solche Konjunktur erlebt, hat sehr viel damit zu tun, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht nur hierzulande, sondern auch im europäischen und transatlantischen Maßstab als Verlustgeschichte wahrgenommen und erzählt werden. Das beginnt mit dem Verlust staatlicher Sicherungszusagen, der als Krise des Wohlfahrtsstaates thematisiert wird; es setzt sich fort über die Thematisierung des Verlusts stabiler betrieblicher Arbeitswelten, die mit der Dynamik der Deindustrialisierung in Zusammenhang stehen sowie mit dem Verlust von Kompetenz und Erfahrungswissen durch Digitalisierungsprozesse der Arbeit; und reicht bis zum Verlust verbindlicher regionaler Lebenswirklichkeiten in einer Welt wachsender Mobilität, alternder ländlicher Räume und exklusiver Urbanität. Diese Vermessungen der Verluste führen zur Frage nach der Stabilität und Tragfähigkeit des sozialen Zusammenhalts. Doch worauf beziehen sich diese Vermessungen? Sie sind mehr als nur strukturelle Beschreibungen, denn in ihnen artikuliert sich die Sorge, dass liberale Demokratien, dass rechts- und sozialstaatliche Institutionen offensichtlich auf dünnem Eis stehen, dass sie spezifische Voraussetzungen haben, die sich durchaus historisch ändern können. Die Pandemie beschleunigt diese Verlusterzählungen auf neue Weise. Die enorme Staatsschuldenkrise sowie die unklare wirtschaftliche Zukunft breiter Bevölkerungsschichten in allen Ländern dieser Welt markieren aktuell starke Eckpunkte dieses Verlustnarrativ. Der Soziologie kommt in dieser Situation eine besondere Verantwortung zu. Gerade die Corona-Krise zeigt, dass die Öffentlichkeit nicht nur auf virologische, sondern auch auf soziologische Expertise angewiesen ist. Soziologie und Sozialforschung sollten die Chance nutzen, Öffentlichkeit herzustellen, zu ermöglichen, zu sichern – als empirische, kommunikative Wissenschaft. Soziologie muss dabei in einem guten Sinne anti-autoritär sein. Sie muss Distanz wahren, um Empathie zeigen zu können. Und sie muss Skepsis gegenüber Weltanschauungen und Gemeinschaftsgefühlen demonstrieren. Soziologie und Sozialforschung haben die Aufgabe, die institutionellen Anspannungen, unter denen aktuell Demokratie, Rechts- und Sozialstaat stehen, hierzulande, in Europa und darüber hinaus zu verstehen. Es geht dabei um die gesellschaftlichen Zwischenräume, in denen sich nicht die Frage stellt, ob hier Gewinner oder Verlierer leben, sondern in denen es primär darum geht, sich zu behaupten – »to make a living«. Soziologie muss eine Deutung von der tiefen Verunsicherung liefern, die die europäischen Gesellschaften erfasst hat, nachdem sie nach Jahren ökonomischer Prosperität nun mit ei-
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nem tiefen, krisenhaften Absturz konfrontiert sind, dessen staatspolitische, ökonomische und sozialkulturelle Folgen noch nicht abzusehen sind. Auf welche Befunde jenseits der Datenlage kann Soziologie und Sozialforschung dabei zurückgreifen? Ein Weg sind soziographische Verfahren, die Ungleichheit und Verunsicherung an konkreten Orten verstehbar machen.
2.
Globale Ungleichheitserfahrung und lokale Repräsentation
Die Soziographie hilft, als empirische Methode, ein tieferes Verständnis von Gesellschaft und ihren Transformationen zu gewinnen. Hierzu zählen dichte Beschreibungen wie der Band »Tief im Süden« über die Südstaaten der USA von Paul Theroux, der als Fremder im eigenen Land ein ebenso präzises wie vielschichtiges Panorama der amerikanischen Klassengesellschaft entlang des Mississippi zeichnet (Theroux 2015). Als teilnehmender Beobachter beschreibt Francisco Cantú in »No Man´s Land« das Leben an der USamerikanisch-mexikanischen Grenze (Cantú 2018). Kapka Kassabova schreibt in »Die letzte Grenze. Am Rande Europas, in der Mitte der Welt« (Kassabova 2017) über Thrakien – dort, wo Bulgarien, die Türkei und Griechenland aufeinandertreffen. Dort treffen aber nicht nur Ländergrenzen aufeinander, sondern auch soziale Hoffnungen und ökonomische Verzweiflung, politische Demagogie und kulturelles Ressentiment. Globale Ungleichheitserfahrungen finden in diesen Soziographien lokale Repräsentation. Auf der Suche nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit hilft die Konzentration auf konkrete soziale Orte. Dort stellen sich sehr praktisch die Fragen der Gerechtigkeit und der sozialen Balancen, der Verlustpanik und der Aufstiegsenergie. Sie sind lokalisierbar – an politischen Grenzen, in verlassenen Dörfern, in drogenverwüsteten Kleinstädten oder in Flüchtlingscamps, die nach eigenen Gesetzen funktionieren. Zudem liegen (schon weit vor der Corona-Krise) Befunde zur Wahrnehmung sozialer Ungleichheit vor, die nicht darin aufgehen, Singularität, Befindlichkeit und Identität zu beschreiben. So zeigt sich schon in Prosperitätszeiten, dass wirtschaftlicher Wohlstand und Teilhabe am Arbeitsleben keinesfalls positive Zukunftserwartungen garantieren (vgl. Hilmer et al. 2017). In denselben Kontexten zeigen Befunde, dass oft gerade diejenigen Menschen Ungleichheiten mit besonderer Schärfe empfinden und Abstiegssorgen artikulieren (Verluste vermessen), die beruflich und sozial etabliert sind, die ordentlich verdienen, in sicheren Nachbarschaften leben; Verlust als soziales Thema lässt sich daher nicht auf die Randbezirke der Gesellschaft be-
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grenzen, es ist vielmehr ein Thema der sozialen Mitte und ihrer Gefährdungen. Schließlich zeigen Prekaritätsstudien, dass die, die auf vielfältige Weise von öffentlicher Unterstützung profitieren, zum Ausdruck bringen, dass »der Staat« sich immer nur um die Sorgen der Anderen bemühe. Den Verteilungsmechanismen und institutionellen Arrangements des demokratischen Wohlfahrtsstaates wird mehr und mehr misstraut. Sie werden weniger als Ausgleichsfaktoren, sondern viel eher als Ungleichheitsverstärker erlebt. Der Sozialstaat, der Balancen im Ungleichheitsgefüge der Gesellschaft herstellen soll, wird in dieser Sichtweise selbst zu einem starken Produzenten von Verlusten. Wie ist diese Krise öffentlicher Institutionen zu erklären? Was sind die Quellen des anti-institutionellen Ressentiments aus den Wohlstandszonen der Gesellschaft? Warum ist die Vermessung der Verluste auch ein Gesellschaftsspiel der Privilegierten? Diese Fragen, die auf die innere Verfassung der Gesellschaft zielen, werden durch die Pandemie nicht obsolet. Im Gegenteil: Die globale Ausbreitung des Virus bekräftigt diese Fragen und gibt ihnen neue Aktualität. Über die innere Verfassung unserer Gesellschaften informiert auf beeindruckende Weise die Studie der amerikanischen Soziologin Arlie Russell Hochschild »Fremd in ihrem Land« (Hochschild 2017). Dort begibt sich die Autorin laut Untertitel auf eine Reise in das »Herz der amerikanischen Rechten«. Sie überwindet »Empathiemauern«, indem sie sowohl am Küchentisch, auf der Gartenbank, aber auch am Arbeitsplatz oder nach einem Gottesdienst mit ihren Befragten Gespräche führt; und – dieser wichtige Punkt kommt hinzu – indem sie sich vertraut macht mit den sozialen Orten, an denen die Menschen leben. Das ist eben nicht nur der Betrieb, sondern es sind die Nachbarschaften, die Kirchen, die Vereine, die mehr oder weniger tragfähigen familiären Beziehungen, die das gesellschaftliche Umfeld repräsentieren. Aber nicht nur das, es ist auch die Welt öffentlicher Einrichtungen und Infrastrukturen – die Schulen der Kinder, die Pflegeheime der Eltern, die Krankenhäuser oder Polizeistationen. Thema all dieser soziographischen Ansätze der Beschreibung und Analyse sozialer Ungleichheit ist dabei der öffentliche Raum. In welchem Zustand ist er? Wer nutzt ihn in welcher Weise? Wie sicher ist er? Auf diese Weise eruiert Hochschild die »Tiefengeschichten« gesellschaftlicher Einstellungen und Mentalitäten. Das ist der methodische und konzeptionelle Schlüsselbegriff ihrer Forschung. Sie entwickelt dabei eine Art Mentalitäten-Monitor des Arbeits- und Gesellschaftsbewusstseins in den Südstaaten der USA. Aber wir sehen, dass diese Tiefengeschichten einen größeren Radius haben und kei-
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neswegs nur regional begrenzt sind. In ihnen tauchen globale Themen und Herausforderungen auf, die die Menschen an vielen Orten der Welt beschäftigen. Es sind soziale Erfahrungen eines globalen gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Es sind Befindlichkeiten, die sich nicht in den Partikularitäten singulärer Identitäten erschöpfen. »Fremd im eigenen Land« zu sein, ist – so Hochschild – eine kollektiv geteilte Erfahrung.
3.
Fremdheit und Unverbindlichkeit
Angesprochen ist das Thema der Fremdheit, wenn sich Menschen aus der Arbeiterschaft oder der unteren Mittelklasse in den öffentlichen Themenkreisen kultureller Identitätsfindung in ihren eigenen Sorgen und Anliegen nicht mehr wiederfinden. Die Frage lokaler Lebensbedingungen, die Sorge um die Arbeit der Kinder, die Unsicherheit der eigenen Gesundheitsversorgung finden keinen Widerhall, wenn sich öffentliche Debatten und wissenschaftliche Expertise auf spezifische Identitätsproblematiken konzentrieren. Damit ist das Thema der Unverbindlichkeit eng verknüpft. Unverbindlichkeit ist eine Erfahrung, wenn die Arbeitswelt und der Betrieb, aber eben auch die Familie und die kleinstädtischen Strukturen, in denen man aufgewachsen ist, keine biografischen Fixpunkte mehr bieten. Aus alledem ergibt sich so etwas wie eine strukturelle Einsamkeit sozialer Klassen, die es in ihrer unmittelbaren sozialen Wirklichkeit zu spüren bekommen, wenn öffentliche Infrastrukturen und Dienste im Lebensalltag porös werden. Wenn Ungleichheiten keine öffentlichen Angelegenheiten mehr sind, sondern Merkmale einzelner Gruppen, dann geraten diejenigen ins Hintertreffen, die den Bezug auf sozialstaatliche Einrichtungen benötigen, um eine sichere und weniger verwundbare Existenz zu führen. Die Zugehörigkeit zur (unteren) Mittelschicht verhindert dann offensichtlich nicht die Erfahrung und auch nicht die Sorge, die Kontrolle über eigene Handlungsspielräume und Kompetenzen zu verlieren. Exemplarisch kann das am Beispiel der Dynamik der Digitalisierung gezeigt werden, die den eigenen biographischen Weg und Erfahrungsschatz gerade in Berufen mittlerer Qualifikation infrage stellt. Die Debatte, dass Digitalisierung gestaltbar ist, hilft hier nicht weiter. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck einer digitalen Polarisierung – in deren Folge das eigene kulturelle, berufliche, soziale Kapital einer Neubewertung unterzogen wird. Die Lebenslagen-Studie der Hans-Böckler-Stiftung kann sehr gut zeigen, dass gerade diejenigen, die zu
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autoritären politischen Positionen neigen, die Digitaldebatten mit besonderem Unbehagen verfolgen. Die Angst vor beruflicher und sozialer Entwertung scheint hier besonders groß zu sein (Hilmer et al. 2017). In diesem Kontext wird deutlich, dass die Tatsache, beschäftigt zu sein und einen Beruf auszuüben, nicht zwangsläufig bedeutet, sich sozial beteiligt oder etabliert zu fühlen. Die Debatte um Exklusion und Ungleichheit suggerierte freilich lange diesen Mechanismus. Heute spiegeln sich in den Begriffen der Unverbindlichkeit und der Bindungslosigkeit Erfahrungen einer transnational verknüpften Arbeitswelt. Unverbindlichkeit ist nicht nur ein Merkmal prekärer Arbeit oder Teil der Armutsökonomie. In einer Ökonomie der Kennziffern und der Selbstrechtfertigung, der Leistungskontrolle und der Entgrenzung erodieren stabile berufliche Milieus, die in der Vergangenheit immer auch Schutzräume der Verlässlichkeit und des Vertrauens waren. Paradigmatisch zeigt sich das am Beschäftigungsfeld des öffentlichen Dienstes. Eine gute Qualifikation und ein hoher beruflicher Status sind keine Schutzschilder vor Unverbindlichkeitsstress und Überforderungsgefühlen (vgl. Flecker et al. 2014; Schultheis et al. 2010; Schultheis et al. 2014). Fremdheits- und unverbindlichkeitsverstärkend kommt noch hinzu, dass mehr und mehr Menschen damit konfrontiert sind, dass aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld öffentliche Infrastrukturen sukzessive verschwinden. Das gilt in starkem Maße für ländliche Räume in den Wohlstandsgesellschaften und Wohlfahrtsstaaten Europas und Nordamerikas; aber mehr und mehr auch für städtische Quartiere. Aspekte sozialräumlicher Disparität gewinnen an Gewicht. Wie wird das eigene Wohnquartier oder Dorf, die eigene Nachbarschaft und lokalen Verhältnisse erlebt und bewertet? Finden sich hier unterstützende Strukturen oder ist Raum nur noch Ballast? Prozesse der »Deinfrastrukturalisierung« (Kersten/Neu/Vogel 2012) und des Entzugs öffentlicher Güter verändern nachhaltig die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit.
4.
Gefährdeter Wohlstand und prekärer Zusammenhalt
In der Zusammenschau der bisher skizzierten Verlustvermessungen lassen sich mit Blick auf die Wahrnehmung und die Strukturen von Ungleichheit aktuell zwei exemplarische Transformationskonstellationen hervorheben, die zudem noch eine spezifische Einfärbung durch die Corona-Krise erhalten. Diese Konstellationen deuten zum einen auf gefährdeten Wohlstand und brüchigen Zusammenhalt hin, sie können aber auch Laboratorien einer Neu-
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definition gesellschaftlicher Verhältnisse sein. »Gefährdung« bedeutet daher nicht pauschal Abstieg oder Niedergang, sondern es sind stets auch produktive Momente des Wandels mitzudenken. Erstes Transformationsfeld sozialer Ungleichheit: Arbeiten und Leben unter den durch Corona noch einmal verschärften Bedingungen eines verunsicherten industriellen Wohlstandsmodells. In diesem Transformationsfeld verdichten sich »Wohlstandskonflikte« (Vogel 2009). Die anhaltend intensive und durch die Pandemie beschleunigte gesellschaftliche Debatte um die »sozial-ökologische« und »digitale« Transformation von Wirtschaft und Arbeit tangiert vor allem die industriellen Kernsektoren der deutschen Wirtschaft, in besonderer Weise die Automobil- und Automobilzulieferindustrie. Diese Kernsektoren stecken in einem gravierenden Umbruch, da bestehende Produkte, Prozesse und Wertschöpfungsketten künftig nicht mehr gebraucht und grundlegend modifiziert werden dürften, wenn sich beispielsweise alternative Mobilitätstechnologien durchsetzen. Hunderttausende der fast 900.000 Arbeitsplätze alleine in der Branche Automobil im engeren Sinne könnten gefährdet sein. Bestehenden Qualifikationen, Berufsbildern und Lebensläufen drohen eine systematische und nachhaltige Entwertung. Die Automobilindustrie steht insofern für eine Arbeitswelt, deren etablierte, vorherrschende Produktions- und Distributionsweise unter einem erheblichen »objektiven« Veränderungsdruck – verschärfte Wettbewerbsbedingungen, neuartige technologische Potentiale –, aber auch unter hohen normativen, tendenziell de-legitimierenden Ansprüchen stehen. Regionen in BadenWürttemberg oder Bayern, die für eine Jahrzehnte lang prosperierende Arbeitswelt und für stetig wachsenden Wohlstand stehen, sehen sich in ihrer betrieblichen und sozialen Ordnung wenn nicht gefährdet, dann zumindest infrage gestellt. Auch wenn gegenwärtig nicht abzusehen ist, welchen Ausgang die Veränderungen nehmen, dürfte diese Transformation erhebliche Unsicherheiten und Sorgen in Betrieben und Belegschaften, unter Erwerbstätigen verschiedener Berufs- und Sozialmilieus hervorrufen: nicht nur unter den in dieser Branche beschäftigten (hoch) qualifizierten Facharbeitern, Technikerinnen und Ingenieuren, sondern auch in anderen Erwerbsklassen und Milieus sowie in lokalen Gemeinschaften insgesamt. Ein zweites Transformationsfeld sozialer Ungleichheit ist das Arbeiten und Leben in alternden Sozialräumen unter Bedingungen gefährdeten Zusammenhalts. Dieses Transformationsfeld repräsentiert Laboratorien sozialer und kultureller Auf- und Abwertung. Hier ist viel verloren gegangen, aber möglicherweise gibt es in Zukunft auch wieder etwas zu gewinnen. Paradig-
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matisch sind hier auf der einen Seite Orte und Regionen jahrzehntelanger Deindustrialisierung zu nennen, zum Beispiel in Ostdeutschland oder im Ruhrgebiet; auf der anderen Seite kommen in diesen Transformationskonstellationen insbesondere ländliche Regionen in den Blick, die in der Vergangenheit als abgehängt klassifiziert wurden, die sich aber gerade in der CoronaKrise als sozial stabiler als erwartet erwiesen haben (vgl. z.B. Herbst et al. 2020). Eine besondere Herausforderung dieser Konstellationen ist es, dass mit dem Niedergang handwerklicher und industrieller Traditionen auch sukzessive regionale Institutionen und Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge verloren gegangen sind. Auf diese Weise sind lokale Gesellschaften entstanden, die von Abwanderung und »Lichtung« ihrer baulichen und sozialen Strukturen geprägt sind. Doch bei genauerem Hinsehen werden auch gegenläufige Tendenzen sichtbar. Es etablieren sich neue soziale Orte, die im Zusammenwirken von öffentlicher Hand, bürgerschaftlichem Engagement und wirtschaftlicher Aktivität eine hybride Tragfähigkeit entwickeln. In den skizzierten Transformationsfeldern lassen sich neue sozialräumliche Ungleichheiten erkennen, die die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur hierzulande in den kommenden Jahren prägen werden. Das Wohlstandsmodell des industriellen Zeitalters steht ebenso zur Disposition wie die Kohäsionsfähigkeit von Regionen, in denen die Mehrheit sich ihrer sozialen Zukunft beraubt sieht.
5.
Gesellschaftsbilder als Spiegel einer fragmentierten Gesellschaft
Welche Gesellschaftsbilder entstehen vor dem Hintergrund solcher Transformations- und Ungleichheitserfahrungen? Zunächst ist festzuhalten, dass der Begriff des Gesellschaftsbildes von einer Pionierstudie der Arbeits- und Industriesoziologie geprägt ist: »Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie«, veröffentlicht in den späten 1950er Jahren von Popitz, Bahrdt, Jüres und Kesting (Popitz et al. 1957). Die Forschungsfrage lautete: Welches demokratische Potential repräsentiert die Arbeiterschaft? Diese Frage, die vor dem Hintergrund einer jungen, sich etablierenden post-totalitären Gesellschaftsordnung gestellt wurde, hat heute in einer in ihrem Institutionengefüge verunsicherten Demokratie, die durch einen neuen Autoritarismus von innen und außen (exemplarisch Russland) attackiert wird, wieder neue Aktualität. Der Begriff der »Gesellschaftsbilder« rekurriert auf umfassende und wiederkehrende Figuren, Gestalten und Me-
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taphoriken, mit denen Menschen sich und ihre Gesellschaft, mehr noch: sich in ihrer Gesellschaft wahrnehmen und beschreiben. In den Worten Hans Paul Bahrdts repräsentieren Gesellschaftsbilder ein »umfassendes Gedankengebilde, das eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit vorstellig macht« (Bahrdt 1985: 153). Dieses Gedankengebilde hat jedoch niemals nur eine Quelle, aus der die Erfahrung unmittelbar fließt, etwa den Arbeitsplatz oder Betrieb. Wichtig war für Popitz und Mitstreiter vielmehr die Erkenntnis, dass aus der unmittelbaren Arbeitserfahrung kein direkter Bezug zu Ausprägungen des Gesellschaftsbewusstseins und des demokratischen Potentials der Arbeiterschaft gezogen werden konnte. Offensichtlich spielen in der Art und Weise, wie Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Gesellschaft blicken, noch andere Erfahrungsbereiche eine wichtige Rolle. Gesellschaftsbilder setzen sich aus komplexen Erfahrungen zusammen, in die beispielsweise auch familiär geprägte Wahrnehmungen oder Eindrücke aus dem lokalen Umfeld mit eingehen. Zudem repräsentieren sie wertbezogene Orientierungen, die gesellschaftliche Prozesse einzuordnen helfen, die über den subjektiven Horizont der Erfahrung hinausgehen. Bahrdt definiert diesen analytischen Zugriff auf Gesellschaftsbilder: »Gesellschaftsbild« umfasste für uns eben auch das, wovon man sich nur ein Bild machen kann, weil es an Erfahrung fehlt, und ein Bild machen muss, falls man ein Bedürfnis dazu hat« (Bahrdt 1985: 153). Seit einer Reihe von Jahren erfährt die arbeitssoziologische Bewusstseinsforschung einen erneuten Aufschwung. Doch das Forschungsinteresse richtet sich nicht mehr wie in den 1970er Jahren auf spezifische Klasseninteressen, vielmehr fragt es nach den Mobilisierungschancen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für grundlegende sozioökonomische Veränderungen. Der Fokus der Bewusstseinsforschung ist zugleich universaler und unspezifischer geworden. Es geht um ein allgemeines Krisenbewusstsein oder um die Frage, ob Prekarität eine transversale Erfahrung ist, die sich an den Rändern der Gesellschaft ebenso findet wie in deren Mitte. Auch der Rechtsruck, der Wahl für Wahl zum Ausdruck kommt, provoziert die Frage nach Mentalitätsund Bewusstseinsverschiebungen, gerade innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Die Erkenntnisse aus der Gesellschaftsbildforschung von Popitz u.a. weisen mit Nachdruck darauf hin, dass sich die politische Vorstellungswelt nicht allein im Betrieb entwickelt, sondern auch (und möglicherweise stärker als vermutet) in vor- und außerbetrieblichen Erfahrungsräumen, zum Beispiel in der Familie, in der Schule, in Freundeskreisen und in Medien unterschiedlicher Art. Und zum anderen stehen betriebliches und außerbetriebliches politisches Denken und Handeln (Engagement) in Wechselwirkung; beispiels-
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weise in Bezug darauf, inwieweit betriebs- und gewerkschaftspolitisches Engagement im familiären oder freundschaftlichen Umfeld gestützt und anerkannt, als selbstverständlich wahrgenommen und gefordert oder aber eher misstrauisch beäugt wird. Die Forschung zu Gesellschaftsbildern weist daher eine starke Nähe zu den oben skizzierten soziographischen Ansätzen auf, die Ungleichheiten in räumliche Kontexte stellen und nicht alleine beispielsweise aus Einkommensgruppen oder Bildungsabschlüssen ableiten. Ein solcher soziographischer und auf qualitative Tiefenanalyse bezugnehmender Ansatz soziologischer Ungleichheitsforschung macht die Relevanz von privaten und öffentlichen Lebensumfeldern deutlich, die durch Prozesse des demografischen und digitalen Wandels herausgefordert werden. Generationenbeziehungen und Geschlechterverhältnisse verändern sich. Das Leben in Kleinstädten und Dörfern erhält neue Konturen. Wohnen und Pendeln werden ebenso zu einem übergeordneten Thema wie Pflege und Gesundheit. Fragen der Migration bestimmen das gesellschaftliche Klima. Die Unsicherheit über die Folgen der Digitalisierung von Arbeit und Leben ist groß – es ist unklar, auf welche Weise sich technischer und sozialer Fortschritt zusammenbringen lassen. Hinzu kommt die ökologische Krise, der Ausstieg aus fossilen Energieträgern und die neuen Konflikte um Internationalisierung oder Re-Nationalisierung industrieller Produktion. Die Auswirkungen der Pandemie verstärken und beschleunigen die skizzierten Prozesse – mit noch kaum abschätzbaren Folgen. Die lokalen und nationalen Ausprägungen dieser globalen Krisenerfahrung werden jedenfalls unterschiedlich ausfallen. Doch welche Gesellschaftsbilder lassen sich in empirischen Forschungen finden, die auf der Grundlage intensiver qualitativer Expertisen in besonderer Weise das Thema der sozialen Ungleichheit beleuchten? Wenn wir erste Projektergebnisse zusammenfassen, die wir zurzeit am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) in unterschiedlichen Projekt- und Förderkontexten bearbeiten, dann lassen sich vier zentrale Gesellschaftsbilder identifizieren (vgl. Vogel 2020): (1) Ein dichotomes Gesellschaftsbild. Hier zerfällt die Gesellschaft in ein Oben und Unten, in Benachteiligte und Privilegierte, in Verlierer und Gewinner. In diesem Bild von Gesellschaft finden sich weder Grauzonen noch Zwischentöne. Es gibt klare Unterscheidungslinien, die einander trennen. Die »Arbeiter« und die »einfachen Leute« sind in diesem Bild die grundsätzlich Benachteiligten. Diskriminierung ist eine Kollektiv- und Klassenerfahrung. Vieles spricht dafür, dass sich dieses dichotome Gesellschaftsbild nicht nur auf die Erfahrungen in der Arbeitswelt bezieht, sondern gerade auch auf das Le-
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bensumfeld. Die öffentliche Ordnung oder staatliche Institutionen werden daher auch nicht mit dem Begriff Gemeinwohl oder Gemeinsinn verknüpft. Der Staat ist oben, ein Konglomerat der Herrschenden. Die Corona-Pandemie verstärkt dieses Bild offensichtlich. Dieses dichotome Gesellschaftsbild geht von der Mobilisierbarkeit kollektiver Interessen aus und rechnet mit einem Grundkonflikt, den man vormals wohl als Klassenkampf bezeichnet hätte. (2) Ein equilibrisches Gesellschaftsbild. Die Gesellschaft ist um Balancen und Ausgleichsmomente herum gruppiert. Der Betrieb, in dem man arbeitet, lebt vom Ausgleich unterschiedlicher Interessen; das soziale Umfeld lebt davon, dass die Dinge im Lot bleiben. Damit ist die Klage verbunden, dass in betrieblicher Hinsicht von der »anderen Seite« diese Ausgleichsprinzipien zum Schaden aller nicht beachtet werden. Im Bereich des sozialen Umfeldes spielt das Argument eine Rolle, dass diejenigen mehr werden, die sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln halten. Das können »die Reichen« sein, die sich nicht mehr dafür interessieren, was bei den normalen Leuten der Fall ist. Das können aber auch Migrantinnen und Migranten sein, die sich an die herrschenden Sitten und Gebräuche nicht halten mögen. Hier handelt es sich um eine stark wertbezogene Orientierung, deren Realität außerhalb des Betriebs von großem Interesse ist. Denn in diesem Gesellschaftsbild wird eine anspruchsvolle Aufgabe formuliert. Es gilt die soziale Welt in eine (prekäre) Balance zu bringen. Dieses Gesellschaftsbild geht von starken Ungleichheiten aus und es ist eine politische Aufgabe, für Balancen zu sorgen. (3) Ein subsidiäres Gesellschaftsbild. Die Gesellschaft bedarf der Unterstützung jeder einzelnen Person an »ihrem Ort«. Das subsidiäre Gesellschaftsbild lebt gewissermaßen von seinem außerbetrieblichen Bezug, spiegelt sich aber auch in der »kleinen Welt« des Betriebs. Wir treffen hier auf Gesellschaftsmitglieder, deren Selbstbild sehr stark mit zivilgesellschaftlichem Engagement verknüpft ist – im Sinne von: ich bin Betriebsrätin, aber eben auch Jugendtrainer, helfe im Nachbarschaftsladen oder in der Geflüchteteninitative mit. Ungleichheiten werden in diesem Gesellschaftsbild zur persönlichen Herausforderung. Die Ungleichheit ist nur so groß, wie sie von aktiven Bürgerinnen und Bürgern unterstützt wird. Es liegt an der Person, sich mit Ungleichheiten auseinanderzusetzen und sie durch eigene Aktivitäten zu moderieren. (4) Ein fragmentales Gesellschaftsbild. In diesem Bild besteht die Gesellschaft nur noch aus unverbundenen Inseln. Das gilt für Arbeit und Betrieb, aber auch für Familie und Nachbarschaft. Dort sieht jeder, wo er bleibt. Das Thema der Unverbundenheit bzw. das Bild des sozialen Nebeneinanders statt Miteinanders bezieht sich auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen insgesamt.
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Generell herrscht das Bild vor, dass die Gesellschaft eine Ansammlung von Einzelinteressen ist, die nicht notwendigerweise aufeinander bezogen sein müssen. Wir sind uns alle selbst genug?! Diese Unterscheidungen zeigen, dass die Forschung zu Gesellschaftsbildern weit mehr ist als das Abbilden von Meinungen oder Ansichten. Es geht um eine verortete und verzeitlichte Sicht auf Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Gesellschaftsbilder haben eine lokale bzw. sozialräumliche Komponente, sie sind geprägt von den Orten und Milieus, in und zwischen denen sich Menschen bewegen. Weiterhin geht es um Zeitpunkte, an denen Erfahrungen gemacht werden. Gesellschaftsbilder haben daher eine temporale Komponente, denn sie sind von Generationenerfahrungen geprägt. Zugleich gehen in Gesellschaftsbilder Erwartungen ein, die Menschen von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben. Darauf beziehen sich beispielsweise Abstiegsängste, aber eben auch Hoffnungen auf Gestaltung und Verbesserung. Auch die biographische Begründung von Gesellschaftsbildern ist hier von Relevanz. Sie sind familiengeschichtlich und herkunftsbezogen geprägt. Das Herkunftsmilieu, aber auch die derzeitige familiäre Lebenssituation prägen die Bilder, die man sich von seiner sozialen Umwelt macht. In Gesellschaftsbildern spiegeln sich Ungleichheitserfahrungen und -strukturen.
6.
Zusammenfassung – Ungleichheit als strukturelle und subjektive Erfahrung
Die Debatte, die in den vergangenen Jahren in den Gesellschaftswissenschaften zu Ungleichheiten geführt wurde, legt nahe, dass sich Ungleichheit weniger in sozioökonomischen Wirklichkeiten manifestiert, sondern vor allen Dingen in Erfahrungen der Diskriminierung und Nicht-Anerkennung personaler Eigenschaften und Merkmale. Dabei geraten allerdings wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung aus dem Blick. Drei Punkte sind hier abschließend zu nennen. Erstens der Strukturwandel der Öffentlichkeit, genauer: der öffentlichen Institutionen. Die öffentliche Organisation von Wohlfahrt und Daseinsvorsorge wird immer weniger als egalisierender Prozess und immer mehr als selektive Dynamik erlebt und bewertet. So manifestiert sich im Wählervotum für autoritäre politische Kräfte immer auch die Wahrnehmung, dass die öffentliche Ordnung und die sie tragenden Vertreterinnen und Vertreter für einen »Staat der Anderen« stehen. Das Öffentliche, die Strukturen des Rechts- und Sozialstaats sind fremd und werden als Widrig-
Überlegungen zur Erfahrung und Wirklichkeit gesellschaftlicher Ungleichheit
keiten der eigenen Lebenswirklichkeit empfunden. Ein polarisiertes Bild von Gesellschaft ist die Folge. Hinzu kommen zweitens kollektive Abwertungsprozesse in der Arbeitswelt. Die Rede ist von der Neubewertung von Arbeit und beruflicher Kompetenz in Zeiten der Digitalisierung. Wie auch immer man im Einzelnen Konflikte um Digitalisierung (Effizienz, Kontrolle, Enteignung von Wissen und Erfahrung) bewerten mag. Vieles spricht dafür, dass die Digitalisierung einen unspezifischen, aber wirkungsvollen Veränderungszwang mit sich führt, der aus Sicht der Subjekte, der Arbeitskräfte, der Berufstätigen nur schwer zu bewerten und zu beurteilen ist. Digitalisierung ist ein in seinen sozialen Folgen opaker Prozess, obgleich er als Transparenzgewinnung und Informationsverbreiterung daher kommt. Die unklaren, aber zugleich als unausweichlich etikettierten Folgen der Digitalisierung der Arbeit führen zu Verunsicherungen auch dort, wo nicht unmittelbar Arbeitsplätze gefährdet sind. Schließlich haben wir es mit einem dritten Prozess zu tun, der kollektive Ungleichheiten markiert. Vieles spricht dafür, von einer Radikalisierung der lokalen Frage zu sprechen. Sozialer Wandel und wirtschaftliche Transformationen mögen globale Prozesse sein, sie haben jedoch sehr ungleiche soziale Folgen vor Ort. Die soziale Frage heute ist mehr und mehr eine lokale Frage. Die Infragestellung des Prinzips der Gleichwertigkeit, die De-Infrastrukturalisierung ganzer Regionen, die Privatisierung öffentlicher Güter schreiben sozialräumliche Ungleichheiten fest. An den Lebensbedingungen vor Ort, an der Frage des Wohnens und der öffentlichen Güter, an der lokalen Einbindung, an den sozialen Beziehungen und an der Gestalt der Arbeitswirklichkeiten wird sich die Trag- und Belastungsfähigkeit des Zusammenhaltes in der Gesellschaft beantworten müssen. In diesen Spannungsfeldern negativer Gesellschaftserfahrungen spiegeln sich kollektive Ungleichheiten, die sozialökonomisch und institutionell begründet sind und die durch die pandemischen Erfahrungen seit dem Frühjahr 2020 in klarem, kaltem Licht sichtbar werden.
Literatur Bahrdt, Hans Paul (1985): »Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Ein Vortrag zur Entstehung dieser Studie«, in: Zeitschrift für Soziologie 14, S. 152-155. Beck, Ulrich (1983): »Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer
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Berthold Vogel
sozialer Formationen und Identitäten«, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen: Schwartz & Co., S. 35-74. Cantú, Francisco (2018): No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze, München: Carl Hanser Verlag. Flecker, Jörg/Schultheis, Franz/Vogel, Berthold (Hg.) (2014): Im Dienste öffentlicher Güter. Metamorphosen der Arbeit aus der Sicht der Beschäftigten, Berlin: edition sigma. Herbst, Sarah/Mautz, Rüdiger/Reingen-Eifler, Helena/Simmank, Maike/Vogel, Berthold (2020): Lernen für die ›Normalität‹? Corona auf dem Land II: Perspektiven aus Saalfeld-Rudolstadt, Diskussionsbeitrag, Göttingen: Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Hilmer, Richard/Kohlrausch, Bettina/Müller-Hilmer, Rita/Gagné, Jérémie (2017): Einstellung und soziale Lebenslage. Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern, Working Paper der Forschungsförderung, Nr. 44, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Hochschild, Arlie Russell (2017): Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Kassabova, Kapka (2017): Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt, Wien: Paul Zsolnay Verlag. Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2012): »Die demografische Provokation der Infrastrukturen«, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaften 40, S. 563-590. Popitz, Heinrich/Bahrdt, Hans Paul/Jüres, Ernst A./Kesting, Hanno (Hg.) (1957): Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen der Hüttenindustrie, Tübingen: Mohr Siebeck. Rosanvallon, Pierre (2013): Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg: Hamburger Edition. Schultheis, Franz/Vogel, Berthold/Gemperle, Michael (Hg.) (2010): Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz. Schultheis, Franz/Vogel, Berthold/Mau, Kristina (Hg.) (2014): Im öffentlichen Dienst. Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel, Bielefeld: transcript Verlag. Simmank, Maike/Vogel, Berthold (2020): Das SOFI geht aufs Land. Impulse zum gleichwertigen Leben in ländlichen Räumen, Göttingen: Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).
Überlegungen zur Erfahrung und Wirklichkeit gesellschaftlicher Ungleichheit
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Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit – Ungleichbehandlung oder Antidiskriminierung Sigrid Boysen
1.
Einführung
Wie reden wir aus der Perspektive grundrechtlicher Gleichheitsgarantien über soziale Gleichheit, vor allem soziale Ungleichheit? Es ist jetzt ziemlich genau 75 Jahre her, dass Karl Polanyi mit seiner Beschreibung der »Great Transformation«, also Industrialisierung, Urbanisierung, Bevölkerungswachstum, Säkularisierung und Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die Entstehungsbedingungen weltweit ganz unterschiedlicher Formen von Sozialstaatlichkeit beschrieben hat (Polanyi 2015 [1944]: 182ff., 224ff., 270ff.). Der Wohlfahrtsstaat hat seinen Zenit nun schon länger überschritten. Die Phänomene der ökonomischen Globalisierung haben die Handlungsspielräume staatlicher Sozialpolitik deutlich verengt (hierzu Nicol 2010). Die Frage nach der sozialen Gleichheit stellt sich vor diesem Hintergrund mit neuer Dringlichkeit. Dies insbesondere auch im Hinblick auf die Zukunft demokratischer Staatlichkeit: Studien wie etwa die von Thomas Piketty und Wolfgang Streeck zur Immunisierung der Märkte gegen demokratische Strukturen und zur Abkoppelung insbesondere des auf den globalen Märkten mobilen und deshalb chronisch flüchtigen Kapitals vom Zugriff staatlicher Umverteilung1 haben die Zusammenhänge zwischen sozialer Gleichheit und den Funktionsbedingungen der Demokratie aufgezeigt. Extreme Formen von Ungleichheit – so der Befund – unterminieren diese Bedingungen und gefährden den sozialen
1
Piketty 2014: 311ff.; Streeck 2013: 54ff, 113ff.; vgl. zur internationalen Dimension siehe auch Pogge 2010: 93ff.; Preuß 2010: 14ff., 18ff.
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Sigrid Boysen
Frieden. Es gibt natürlich auch andere Stimmen. Zuletzt haben z.B. Torben Iversen und David Soskice in ihrem Buch »Democracy and Prosperity« die These aufgestellt, dass die sog. ACDs, also die advanced capitalist democracies, die hochentwickelten kapitalistischen Demokratien, letztlich stabil sind, weil sie in ihren geclusterten Hochwissensökonomien hochqualifiziertes Personal anziehen, das im elektoralen Wettbewerb ein hohes Niveau wohlfahrtsstaatlicher Absicherung prämiert (Iversen/Soskice 2019: 40ff.). Auch ein solcher allgemeiner Befund von »Stabilität« erübrigt indes nicht die Frage nach sozialer Gleichheit innerhalb dieser kapitalistischen Demokratien. Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen sozialer Ungleichheit stellt sich insoweit auch in den ACDs mit wechselnder Dringlichkeit, heute jedenfalls mehr als in den 1970er Jahren. Und auch wenn die Einkommensunterschiede in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich etwa mit den USA immer noch relativ gering ausfallen, ist festzustellen, dass sich Deutschland im Vergleich mit den anderen EU-Staaten nur im Mittelfeld bewegt und dass der politische Prozess auch hier Grund zu großer Sorge um den inneren sozialen Zusammenhalt gibt.2 Im Folgenden soll der Frage nach der sozialen Ungleichheit in drei Schritten nachgegangen werden. Zunächst und erstens ist herauszustellen, dass und warum die Frage nach der verfassungsrechtlichen Problematisierung oder Nichtproblematisierung der Güterverteilung nicht einfach rein dogmatischbegrifflich, sondern nur kontextuell gestellt werden kann, also vor dem Hintergrund eines konkreten Sozialmodells (2.). Das Verständnis grundrechtlicher Gleichheit unter dem Grundgesetz ist insoweit eben entscheidend geprägt durch die Spezifika des bundesrepublikanischen Sozialmodells. Rechtsprechung und Literatur haben es als Gleichheitskonzept des zunächst konservativ-korporatistischen, dann zunehmend liberaler ausgerichteten Wohlfahrtsstaates entwickelt und diese Prägung ist auch der Gleichheitsdogmatik unter dem Grundgesetz eingeschrieben. Im Anschluss daran ist zweitens zu fragen, welche Antwortmöglichkeiten es vor diesem Hintergrund aus der Perspektive des Gleichheits- und Antidiskriminierungsrechts auf die Frage sozialer Ungleichheit gibt (3.). Dazu gehören die Möglichkeiten, soziale Ungleichheit als Problem des Gleichheitssatzes, oder aber des Antidiskriminierungsrechts zu fassen. Schließlich und drittens sind die Konsequenzen dieser
2
Vgl. die Daten unter UNU-WIDER: World Income Inequality Database (WIID), abrufbar unter https://www4.wider.unu.edu/(6/2020); vgl. hierzu auch Pogge 2010: 75ff.
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der sozialen Gleichheit zu erörtern (4.).
2.
Vorüberlegungen: Gleichheit und Sozialordnung
Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist zunächst die These, dass es keine kontextuell unabhängige, richtige grundrechtliche Konzeption sozialer Gleichheit gibt. Jeder Begriff von Gleichheit impliziert einen Begriff von Ungleichheit, der durch die Institutionen einer bestimmten sozialen Ordnung, vor allem ihre jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements geprägt wird. Unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten haben deshalb unterschiedliche Begriffe von Gleichheit entwickelt, das klassische Beispiel hierfür sind die USA, deren Konzeption der civil rights nur verständlich ist vor dem Hintergrund der Eigenarten des amerikanischen Wohlfahrtsstaates, wo der Zugang zu meist privaten sozialen Leistungen an formalisierte und qualifizierte Beschäftigung anknüpft. Umgekehrt hat in Staaten wie Deutschland gerade die weitgehende Verstaatlichung des Rechts der Sozialleistungen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den verteilenden Gesetzgeber zu der zentralen Frage des Sozialverfassungsrechts gemacht.
2.1
Die Abhängigkeit des Gleichheitsverständnisses von der politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaats
Was nun unterschiedliche Modelle von Sozialstaatlichkeit angeht, so existieren sehr viele Typologien westlicher Wohlfahrtsstaaten. An dieser Stelle kann und soll es nicht darum gehen, die frühe, die in die Jahre kommende und schließlich die wiedervereinigte Bundesrepublik insoweit abschließend einzuordnen. Hilfreich im Kontext der Entwicklung der gleichheitsrechtlichen Dogmatik unter dem Grundgesetz ist die Unterscheidung von liberalem, konservativ-korporatistischem und »sozialdemokratisch« geprägtem Wohlfahrtsstaat, wie sie Gøsta Esping-Andersen vorgeschlagen hat. Der liberale Wohlfahrtsstaat wird dabei verbunden mit einem auf Individualismus und Eigenverantwortung abzielenden Leitbild, einer geringen Dekommodifizierung (d.h. Abkoppelung der sozialen Sicherung vom Arbeitsmarkt)
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und dem Markt als vorherrschendem Wohlfahrts-»Produzenten«.3 Beschrieben werden so vor allem die Wohlfahrtsmodelle der USA, Kanadas, Australiens und Neuseelands. Am anderen Ende der Skala steht der sozialdemokratisch geprägte Wohlfahrtsstaat – vor allem der skandinavischen Länder –, der unter dem Leitbild universalistisch ausgerichteter Solidarität und Gleichheit gerade durch einen hohen Grad an Dekommodifizierung geprägt ist. Entscheidender Wohlfahrts-»Produzent« ist hier der Staat. Schaut man vor diesem Hintergrund auf den deutschen Wohlfahrtsstaat, so lässt sich vor allem die frühe Bundesrepublik am ehesten in der Mitte dieser beide Modelle einordnen und als konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaat beschreiben. Hervortretendes Kennzeichen des deutschen Arrangements der Wohlfahrtsproduktion ist der vernetzte Stil der Sozialpolitik: »Die meisten sozialpolitischen Einrichtungen sind körperschaftlich selbständig und daher auch selbst bis zu einem gewissen Grade zur Artikulation und Wahrung ihrer Interessen gegenüber der Politik befähigt. Der hohe Grad der Verbandlichung und die Tradition korporatistischer Verhandlungssysteme beschränkt und entlastet die politischen Entscheidungsprozesse von manchen Steuerungsaufgaben« (Kaufmann 2003: 306). Das ist der Wohlfahrtsstaat, den Jürgen Habermas (1992: 490) als latent paternalistisch beschrieben hat. Seine Transferleistungen knüpfen stark an Beschäftigungsverhältnisse und andere Zugehörigkeiten, nicht zuletzt die Ehe, an und beruhen so letztlich auf festen sozialen Gruppen: Arbeiter und Angestellte, Beamte und Angestellte, Studierende und Auszubildende und so weiter. Der vorherrschende Wohlfahrts-»Produzent« ist in diesem Modell weder der Markt, noch der Staat, sondern die Familie.
2.2
Vom Willkür- zum Diskriminierungsverbot: Entwicklung der Gleichheitskonzeption unter dem Grundgesetz
Die Entwicklung der Gleichheitskonzeption unter dem Grundgesetz lässt sich vor diesem Hintergrund nur verstehen als Ausprägung einer spezifischen Form von Wohlfahrtsstaatlichkeit, in der Bundesrepublik gekennzeichnet durch (1) umfassende Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auf dem Gebiet des Steuer- und Sozialrechts (Boysen 2005: 62ff.), (2) das lange Schattendasein der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG, (3) das 3
Esping-Andersen 1990: 9ff.; vgl. ferner Leibfried 2011: 20f., sowie die Beiträge in Ebbinghaus/Manow 2001.
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
bundesdeutsche Sozialmodell der Tarifautonomie, die – jedenfalls bis zur Einführung des Mindestlohns – den Rückzug des Staates aus einer der zentralen verteilungspolitischen Entscheidungen bedeutete, und schließlich (4) eine auffällig unpolitische Eigentumsordnung, die in drei Verfassungen bzw. constitutional moments stets unangetastet blieb (Meinel 2017: 36). Die Entwicklung der Gleichheitsdogmatik unter dem Grundgesetz bildet diese Charakteristika des bundesdeutschen Systems ab und übersetzt sie in ein im Grundsatz liberales Gleichheitsverständnis, in dem individuelle Rechtsgleichheit zum Maßstab wird und spannungsfrei neben materieller Ungleichheit gedacht werden kann. Eingriffe in die Vermögensverteilung durch sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen werden zum Gegenstand verfassungsrechtlicher Kontrolle. Den Ausgangspunkt der grundgesetzlichen Gleichheitsdogmatik bildet folgerichtig das Willkürverbot: Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden, und Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, »wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt.«4 Die Konzeption des allgemeinen Gleichheitssatzes als Willkürverbot liefert die passgenaue Formel für den korporatistisch strukturierten Wohlfahrtsstaat. Dieser beruht schließlich auf einer Vielzahl von oben beispielhaft genannten Statusunterscheidungen, die ihrerseits ideale Anknüpfungspunkte für die Willkürformel bieten. In seiner Konkretisierung durch die Willkürformel liefert der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG einen – wenngleich weit gefassten– Kontrollmaßstab für politische Verteilungsentscheidungen. »Willkürliche« Differenzierungen zwischen sozialen Gruppen sind dem Gesetzgeber untersagt. Die Konzeption des Gleichheitssatzes als Willkürverbot setzt ein relativ fest gefügtes Bild sozialer Ordnung voraus. In dem Moment, in dem diese feste Ordnung brüchig wird, muss sich auch die grundrechtliche Gleichheitsdogmatik anpassen. Das Bundesverfassungsgericht hat das auch getan und mit der Unterscheidung von personen- und sachbezogenen Ungleichbehandlungen schärfere Maßstäbe – nämlich einen strengen Verhältnismäßigkeitstest – für Konstellationen eingeführt, in denen die Ungleichbehandlung unverfügbare Merkmale von Personen betrifft. Und zwar immer dann, wenn eine soziale Unterscheidung fragwürdig wurde. Dies gilt etwa für die Auflösung
4
BVerfG 1951: 52 – Südweststaat.
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und Kritik der traditionellen Geschlechterordnung,5 für die Politisierung der Eigentumsordnung6 oder für das Verhältnis von Sozialversicherungssystem und Sozialhilfe.7 Mit der Spezifizierung verschärfter Rechtfertigungsanforderungen für »unverfügbare« und deshalb Art. 3 Abs. 3 GG-analoge Merkmale entfaltet sich hier eine Fallgruppenbildung menschenrechtlich unerwünschter Differenzierungen. Diese in Richtung der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG fortentwickelte Rechtsprechung hindert den Gesetzgeber daran, im Rahmen sozial- und wirtschaftspolitischer Umverteilungsmaßnahmen personenbezogene Ungleichheiten zu schaffen oder zu verfestigen. Gleichzeitig eröffnet sie ihm außerhalb der so gesteckten Grenzen weite Entscheidungsspielräume (Meinel 2017: 39).
3.
Drei Modelle
Die Transformation gleichheitsrechtlicher Kategorien ist somit keine abstrakte Entwicklung der Dogmatik, sondern immer zugleich Indikator von Veränderungen des Verhältnisses von wohlfahrtsstaatlicher Rechtsordnung und Sozialverfassung. Vor diesem Hintergrund ist zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Wie kann man aus der Perspektive der Konzeption des Gleichheitsund Antidiskriminierungsrechts unter dem Grundgesetz die Frage der sozialen Gleichheit, also die Frage der Güterverteilung thematisieren und welche Konsequenzen hat das im Hinblick auf das vorausgesetzte Sozialmodell? Die Bandbreite der möglichen Antworten soll im Folgenden anhand von drei Modellen dargestellt werden. Jedes dieser Modelle beruht auf einer spezifischen Vorstellung von der Rolle oder Nicht-Rolle öffentlicher und privater Institutionen im Prozess der Güterallokation. Diese Rolle, das heißt die politische Ökonomie unserer Wohlfahrtsstaaten, ist – wie nicht zuletzt die jüngste Sozialgeschichte zeigt – durchaus variabel.
5
6 7
BVerfG 2017 – Dritte Option; vgl. auch die Entscheidungen zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften: BVerfG 2009b: 224ff. – Hinterbliebenenversorgung; BVerfG 2010b – Erbschaftssteuer; BVerfG 2012 – Beamte; BVerfG 2013a – Sukzessivadoption; BVerfG 2013b – Ehegattensplitting (7.5.2013). BVerfG 2014 – Erbschaftssteuer. BVerfG 2010a; BVerfG, 2019 – Hartz IV Sanktionen.
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
3.1
Rechte vs. Interessen: das liberale Modell
Im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung steht das Grundgesetz für die Rückkehr zu einer grundsätzlichen Nichtkonstitutionalisierung des Sozialen.8 Spärliche materielle Direktiven und umfassende Gesetzgebungskompetenzen des Bundes wurden hier schnell in der Formel der »wirtschaftspolitischen Neutralität« des Grundgesetzes zusammengefasst.9 Dieser Verzicht auf die materielle Konstitutionalisierung von Verteilungsfragen ließe sich – die erste Möglichkeit – als Verweis auf die institutionelle Politisierung der Frage nach sozialer Gleichheit und entsprechenden Verteilungsmaßnahmen lesen. Die Antwort wäre hiernach kurz und knapp, dass die Fragen sozialer Gleichheit und Umverteilung unter dem Grundgesetz wie in vielen anderen demokratischen Verfassungsordnungen dem politischen Prozess anvertraut und dem rechtlichen und vor allem grundrechtlichen Zugriff weitgehend entzogen sind. Das ist die klassische Antwort der liberalen politischen Theorie von Hobbes über Locke, Kant bis Hegel: Die Gleichheit der Rechte hat nichts zu tun mit der Ungleichheit dessen, was aufgrund der Rechte besessen wird. Der Bereich der Interessen ist streng geschieden von jenem der Rechte. Begreift man die Frage der Verteilungsgerechtigkeit oder Umverteilung als Frage, die grundrechtlich völlig neutral ist, die also dem demokratischen politischen Prozess anvertraut ist, folgen hieraus zunächst keine Konsequenzen. Nicht gelöst ist damit allerdings das oben aufgezeigte Problem, das sich aus der Verbindung von sozialer Gleichheit und den Grundbedingungen des demokratischen Prozesses ergibt. Insofern erscheint es als Zirkelschluss, Fragen sozialer Ungleichheit an den durch sie kompromittierten demokratischen Prozess zu verweisen. Im Gegenteil spricht vieles dafür, dass gerade dieser demokratische politische Prozess durch die globalisierte Marktwirtschaft und das immerfort flüchtige Kapital in seiner Gestaltungsfreiheit grundlegend eingeschränkt ist. Die altliberale Lösung ist also bereits aus diesem Grunde fragwürdig. Vor allem aber ist sie nach dem Ende bürgerlicher Marktgesellschaften keine sinnvolle Theorie eines entwickelten Wohlfahrtsstaates mehr. Der pauschale Verweis auf den politischen Prozess unterschätzt insoweit die Anfälligkeit
8 9
Zu den Gründen Meinel 2015: 28f., zum Gegenentwurf der Weimarer Reichsverfassung als Gesellschaftsverfassung Meinel 2015: 25f. BVerfG 1954: 17f. – Investitionshilfe.
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sozialstaatlicher Gesetzgebung für Gruppeninteressen und wird der ökonomischen Funktion öffentlicher Institutionen nicht gerecht. Sollte man gleichwohl der Meinung sein, dass insoweit noch Hoffnung besteht, ist hinzuzufügen, dass das Bundesverfassungsgericht – wenn es die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wohlstandsverteilung forciert10 – damit natürlich im Subtext auch die Möglichkeit der politischen Lösung dieser Frage bestreitet und diese damit unterminiert.
3.2
Das sozialstaatliche Modell: Interventionismus und Gleichheit der Normsetzung
Die zweite Möglichkeit wäre, soziale Gleichheit oder Ungleichheit als Frage der Normsetzung zu fassen, d.h. der gesetzgeberischen Attribution von Gütern und Chancen. Verfassungsrechtlich übersetzen lässt sich dieser Ansatz als Problem des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG). Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Entwicklung bundesdeutscher Wohlfahrtsstaatlichkeit und Gleichheitsdogmatik war dies lange Zeit die vorherrschende, weil etatistische Form. Als Frage der Normsetzung wird das Soziale stark verstaatlicht gedacht: Die Gesellschaft kommt in diesem Modell sozusagen nur vor als Ensemble von Gruppen von Normadressat*innen. Ein solches Verständnis sozialer Ungleichheit als Problem des Gleichheitssatzes überantwortet die Frage der Verteilungsgerechtigkeit primär Gesetzgebung und Verwaltung sowie sekundär der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das dann in einer rein systemischen Perspektive mit Vergleichsgruppenbildung und Maßstäben der »Systemgerechtigkeit«11 eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen muss, auf die es – in Anlehnung an Luhmann (1981: 374ff.) – auf dieser Ebene keine vernünftigen Antworten gibt. (Gerechtigkeit als »Leerformel«). Die Probleme dieses Ansatzes habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich erörtert (Boysen 2017: 54ff.) und möchte sie hier nicht wiederholen. Nicht nur ergibt sich – jedenfalls aus dem Gleichheitssatz – kein Erfordernis »folgerichtiger« Gesetze. Eine solche Erwartung unterläuft
10 11
Vgl. etwa BVerfG 2014 – Erbschaftssteuer. BVerfG 1957: 152 – lex Schörner; BVerfG 1965: 334ff. – Marktordnung; BVerfG 1972: 110ff.; BVerfG 1974: 326f.; BVerfG 1977: 375; BVerfG 1992: 246f.; BVerfG 2001: 87 – Kalte Enteignung; BVerfG 2006: 197ff. – Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte; BVerfG 2008a: 357ff. – Rauchverbot; BVerfG 2008b: 36; BVerfG 2008c: 233; BVerfG 2009a: 113ff.; BVerfG 2009b: 222f. – Hinterbliebenenversorgung; vgl. auch Dieterich 2014.
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
zudem nahezu alle wesentlichen Grundunterscheidungen des Verfassungsrechts, insbesondere Fragen der Normenhierarchie, Gewaltentrennung und Kompetenzordnung (Heun 2013: Rn. 37). Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit ist überdies im Kern affirmativ, hinterfragt die großen etablierten Gruppendiskriminierungen der Rechtsordnung gerade nicht. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tendiert gleichwohl dahin, diesen Weg zu gehen. Sie bietet allerdings auch einige Anhaltspunkte dafür, dass die Luhmannsche Beobachtung wahrscheinlich richtig ist. In diesem Zusammenhang zu vernachlässigen ist zunächst das klassische Problem der countermajoritarian difficulty, dass nämlich die Formulierung der sozialen Frage als Gegenstand des allgemeinen Gleichheitssatzes vor allem aus der Perspektive des Demokratieprinzips problematisch ist. Dies ist ein allgemeines Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Legitimation. Entscheidender für die hier angestellten Überlegungen erscheint demgegenüber der Umstand, dass die Lösung über die Normsetzung immer eine etatistische Verfassung des Wohlfahrtsstaates voraussetzt. Das Problem ist dabei, dass der durch den Gleichheitssatz gebundene Gesetzgeber selbst der Urheber der meisten rechtlichen Ungleichheiten ist. Die zentralen Unterscheidungen der Rechtsordnung werden erst durch den Gesetzgeber geschaffen und haben überhaupt keinen spezifisch verfassungsrechtlichen Gehalt. Der moderne Sozialstaat ist insoweit eben gleichzeitig Interventionsund Gesetzgebungsstaat. Der Gleichheitssatz ist also sozusagen rekursiv, weil er immer wieder auf den Prozess der staatlichen Normsetzung zurückverweist. Ihre besondere Bedeutung erlangt die gleichheitsrechtliche Bindung des Gesetzgebers insoweit aus der sozialstaatlichen Transformation im 20. Jahrhundert. Rechtliche Standesunterscheidungen vormodernen Typs existieren im modernen Sozialstaat nicht mehr. Der Gesetzgeber wählt Zwecke (Ziele) und Mittel (Differenzierungen) selbst aus. Das Gefüge dieser Differenzierungen ist dabei ständig in Bewegung. Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz setzt den rechtlichen Rahmen. Sie ist so nicht nur das Vehikel der Verrechtlichung des Sozialen, sondern erhält vor allem das politische Pathos der Gleichheitsforderung unter den neuen Bedingungen des interventionistischen Sozialstaats (Meinel 2013: 193). Der besondere Vorzug der Willkürformel war dabei lange Zeit ihre fast beliebige inhaltliche Offenheit (Meinel 2013: 193). Vorgegeben sind nicht die Vergleichsgruppen, sind weder die Differenzierungszwecke noch die Gründe ihrer Rechtfertigung. Die Willkürformel verdankt ihre Entstehung somit der spezifisch deutschen verfassungshistorischen Entwicklung, sieht sich aber
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unter veränderten Bedingungen, insbesondere unter dem Einfluss des Rechts der Europäischen Union, erheblichem Druck ausgesetzt. Die Verfassungsrechtsordnung löst diesen Druck sowie die Paradoxie des stetig differenzierenden Gesetzgebers im Wege der Ausdifferenzierung durch eine Aufspaltung der Gleichheitsprüfung in verschiedene Teilmaßstäbe: In den abwehrrechtlich schwach determinierten Rechtsgebieten (Steuerund Sozialrecht) behauptet sich das Willkürverbot auf der Basis demokratietheoretisch höchst anfechtbarer Zusatzannahmen (Systemgerechtigkeit). Dagegen wird das Problem der Gleichbehandlung in personal geprägten Fallkonstellationen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zugeführt. Auch hier bleibt es bei staatlich-normativer Steuerung. Das gilt schließlich auch im avanciertesten dogmatischen Modell von Stefan Huster (1993: 225ff.). Seine Unterscheidung zwischen Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen, zwischen internen Rechten und externen Zielen reproduziert die Vorstellung, dass beides – Rechte und Ziele – seinen Ursprung in staatlichem Handeln im Hinblick auf die Gesellschaft hat. Hiernach wären Normen, die für einen Rechtsbereich spezifische Verteilungsentscheidungen enthalten, als Konkretisierung des Schutzbereichs des Gleichheitsrechts und in diesem Sinne als »Systementscheidungen« zu verstehen. Anderes gilt für Differenzierungen, die auf Praktikabilitäts- und Lenkungserwägungen zurückgehen. Hier entfaltet die Entscheidung über einen bestimmten Verteilungsmaßstab ein gewisses »Schwellengewicht«, das dogmatisch im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu verarbeiten wäre. Auch in dieser Konzeption sind somit öffentliche Institutionen der Legislative und Exekutive quasi die allein maßgeblichen in der Gleichheitsverfassung der Gesellschaft. Allem zugrunde liegt die etatistische Verfassung des Wohlfahrtsstaates. So findet das Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zur Erbschaftssteuer die Lösung der aufgeworfenen Gerechtigkeitsfrage nicht in der Funktionalisierung des Eigentums selbst, also etwa der Pflicht, im Erbfall die Arbeitsplätze zu erhalten, sondern in der gleichheitsrechtlichen Pflicht zur staatlichen Besteuerung.12 Das offensichtliche Problem dieses Ansatzes ist, dass seine Lösungen mit der Privatisierung von Wohlfahrtsleistungen weitgehend versagen. Auflösungserscheinungen einer rein etatistischen Gleichheitsidee zeigen
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BVerfG 2014 – Erbschaftssteuer.
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
sich dabei schon in Fällen wie dem Beschluss zum Stadionverbot,13 die die Schwierigkeiten der privatrechtsgerichteten Konstruktion eines allgemeinen Unterscheidungsverbotes deutlich aufzeigen.
3.3
Das Modell der Entstaatlichung des Sozialen: Antidiskriminierung
Die Frage ist also, ob eine Gesellschaft, deren Wohlfahrstaatlichkeit sich unter den Bedingungen von Privatisierung, ökonomischer Globalisierung und europäischem Binnenmarkt behaupten muss, soziale Gleichheit besser als horizontale Antidiskriminierung fassen sollte. Hiermit ist die dritte Möglichkeit benannt: Die Frage der sozialen Gleichheit lässt sich auch als auf der Ebene der Vergesellschaftung angesiedeltes Problem auffassen, also als ein Problem, das im Rahmen des Güteraustausches zwischen unterschiedlichen Rechtssubjekten auftritt. Diese Variante lässt sich übersetzen als Frage des Antidiskriminierungsrechts. Die Tauschbeziehung – so könnte man mit Marx formulieren – ist eben nur vermeintlich abstrakt, weil die eine Seite den Mehrwert einstreicht und dadurch Personen verdinglicht werden: Eine Kritik der Rechtsverfassung der bürgerlichen Gesellschaft muss – so das Argument – darum schon auf dieser Ebene der Austauschprozesse relevant werden. Was heißt es aber, wenn man soziale Ungleichheit als Problem des Diskriminierungsschutzes fasst? Was sind die Konsequenzen der dritten Option, der Verbindung von sozialer Frage und Antidiskriminierungsrecht? Die erste Frage ist, ob und inwieweit sich ein konzeptionelles Problem aus den teilweise wirtschaftsrechtlichen, im deutschen privatrechtlichen Diskriminierungsschutz europarechtlichen Wurzeln des Antidiskriminierungsrechts ergibt. Zielt – zugespitzt gefragt – das Antidiskriminierungsrecht in seiner unionsrechtlichen Prägung nicht auf eine rein marktförmige Ordnung hyperdiverser Gesellschaften bei gleichzeitiger Abwesenheit sozialstaatlicher Institutionen? Das sagt insbesondere Alexander Somek. Er kritisiert die fehlende Umverteilungsfunktion des EU-Antidiskriminierungsrechts und macht es – vereinfacht gesagt – als rechtlichen Stützpfeiler der marktliberalen (er sagt: neoliberalen) Agenda der Europäischen Union aus (Somek 2011: 43ff.). Wie pointiert auch immer vorgetragen, lässt sich diese Kritik nicht einfach von der Hand weisen. Richtig ist zunächst, dass Diskriminierungsschutz zum einen eine Kritik nicht unmittelbar marktrelevanter Faktoren des Güteraustausches, zum an13
BVerfG 2018 – Stadionverbot.
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deren eine Kritik der Vermachtung von Tauschbeziehungen beinhaltet, nicht dagegen aber eine Kritik dieser Tauschbeziehungen an sich: Es gibt kein Verbot der Diskriminierung wegen ungleichen Vermögens. Richtig ist auch, dass starke Wechselbezüge zwischen gruppenbezogenen Diskriminierungen und sozio-ökonomischer Deprivation bestehen. Armut kann Auslöser, aber auch Ergebnis diskriminierender Strukturen sein und verstärkt sicherlich die Auswirkungen von diskriminierender Behandlung (Mangold 2020: § 7 A II). Gleichzeitig hat der Diskriminierungsbegriff jedoch auch Gehalte, die sich nicht in sozio-ökonomische Benachteiligung übersetzen lassen. Es geht insoweit um die Verweigerung der Anerkennung als gleichrangige und gleichwertige Person. Verteilungsfragen sind deshalb ein, aber eben nicht der einzig relevante Faktor von Diskriminierung. Im Anschluss an die einleitenden Feststellungen zur Kontextabhängigkeit konkreter Gleichheitskonzeptionen ist insoweit jedoch zu betonen, dass dies im US-amerikanischen Kontext, der über diese Begründung die Abwesenheit einer Wohlfahrtsinfrastruktur thematisieren muss, sicherlich etwas anderes bedeutet als im deutschen Kontext. Auch in der EU sehen wir manifeste Elemente der Privatisierung des Sozialen, die sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Folgerichtig wäre dann unter dem dritten Modell reziprok über die weitere Privatisierung des Wohlfahrtsstaates auch auf der Ebene von Sanktionen nachzudenken.
4.
Schlussfolgerungen: Antidiskriminierung und das Ende des kognitiven Zentralismus der Gleichheit
Diese Verschiebung im Verständnis von politischer Ordnung, Gleichheit und Gesetz ist nichts anderes als eine Transformation Polanyischen Ausmaßes. Sie wird angetrieben durch die ökonomische Globalisierung, den europäischen Binnenmarkt, Privatisierung, Migration auch als Problem der Solidarität, die Auflösung des Korporatismus – und schließlich – um zu Piketty zurückzukommen – generell sinkende Steuerquoten. Die skizzierten Antwortmodelle auf diese Transformation des Sozialen werden verfassungsrechtlich natürlich nicht direkt verhandelt. Sie sind aber – so die zentrale Schlussfolgerung dieses Beitrags – im Verfassungsrecht ablesbar an der Art der gleichheitsrechtlichen Kontrolle des Gesetzgebers. Hier werden die genannten Entwicklungen in der Verschiebung der Gleichheitskonzeption von einem normativen Sozialmodell, über bloße Kohärenzanforderungen an den verteilenden, aber immer wohlfahrtsstaatlich gedachten Gesetzgeber hin zu einer kogniti-
Verfassungsrechtliche Konzeptionen sozialer Gleichheit
ven Dezentralisierung der Gleichheit im Antidiskriminierungsrecht sichtbar. Die unterschiedlichen Modelle lassen sich hiernach als Teilaspekte einer Entwicklungslogik des Gleichheitsrechts vom Willkürverbot hin zum Gedanken der Nichtdiskriminierung rekonstruieren. Nach der Verrechtlichung des Sozialen, nach der interventionsstaatlichen Transformation im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, die Infrastrukturen und Daseinsvorsorge verstaatlichte (hierzu Stolleis 1989: 129), sind die Ungleichheiten in vielfältige soziale Gruppenbeziehungen aufgegliedert (Boysen 2017: 39). Zur entscheidenden Gleichheitsfrage wird das Verhältnis dieser sozialen Gruppen. Der moderne Sozialstaat besteht seinem Wesen nach aus einer unendliche Vielzahl großer und kleiner Ungleichbehandlungen verschiedener Gruppen (Meinel 2013: 192). Die inhaltliche Offenheit der Willkürformel, die weder Ziel noch Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung vorgibt, wird deshalb heute den Ansprüchen an eine Gleichheitsprüfung in den meisten Fällen nicht mehr gerecht. Demgegenüber ist eine Gleichheitskonzeption im Vordringen, die Verteilungsentscheidungen durch die Schaffung bereichsspezifischer Diskriminierungsverbote rekonstitutionalisiert. Die Renaissance der Diskriminierungsverbote vollzieht parallele Entwicklungen des einschlägigen Europa- und Völkerrechts nach. Ausgehend von den Diskriminierungsverboten des Europa- und des Wirtschaftsvölkerrechts hat sich im internationalen Recht ein omnipräsenter Diskriminierungsbegriff etabliert, der längst auch den internationalen Menschenrechtsschutz erreicht hat (Peters 2007: 552f.) und vom Bundesverfassungsgericht rezipiert wird.14 Hier – wie im Vergleich mit anderen Rechtsordnungen – zeigt sich, dass das nach deutscher Tradition bestehende Verhältnis zwischen allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Diskriminierungsverboten sich keineswegs von selbst versteht. Tatsächlich gründen die meisten Rechtsordnungen ihren Gleichheitsschutz entweder allein auf besondere Diskriminierungsverbote oder ziehen vorhandenen allgemeinen Gleichheitsrechten durch weite gesetzgeberische Gestaltungsspielräume erhebliche Grenzen. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die oben beschriebenen Probleme der Konzeption sozialer Gleichheit als Problem der Normsetzung. Es hindert insbesondere die Verlagerung politischer Entscheidungen vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber auf die unter einem allgemeinen Gleichheitssatz nahezu grenzenlose Erkenntniskompetenz der Gerichtsbarkeit (hierzu J. Pietzcker 2005: 301ff.). 14
BVerfG 2009b: 220 – Hinterbliebenenversorgung.
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Die Entwicklung hin zu einer Ablösung des Gleichheitsschutzes vom Gesetz, man könnte auch sagen: einer institutionellen Dezentralisierung der Gleichheit durch das Antidiskriminierungsrecht, bleibt gleichwohl ambivalent, gerade unter dem Aspekt der sozialen Gleichheit. Da ist einmal die ökonomische Textur des Antidiskriminierungsrechts: Insbesondere der unionsrechtliche Diskriminierungsschutz konnte seine Verbindung mit dem Binnenmarkt bislang nicht abstreifen und dient zuvörderst der Marktintegration. Der allgemeine Grundsatz des Art. 18 Abs. 1 AEUV und die speziellen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote der Grundfreiheiten (Art. 34, Art. 45, 49, 56 AEUV) reagieren dabei als an die Mitgliedstaaten gerichtete transnationale Integrationsnormen auf die typische föderale Gefährdungslage der Bevorzugung der eigenen Staatsbürger*innen mit einem Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit (Kingreen 2015: Rn. 3). Die bisherige Erweiterung der marktintegrativen Diskriminierungsverbote dient in der Rechtsprechung des EuGH bislang nicht so sehr dem Grundrechtsschutz der Unionsbürger*innen als vielmehr der Festigung der Grundsätze der europäischen Rule of Law und ihres Vorrangs vor dem Recht der Mitgliedstaaten. So zeigen sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn auch gewiss unbewusst die Umrisse eines Gleichheitsregimes, das sich wie magisch um die Durchsetzung des Marktes als Imperativ gruppiert. Hieraus ein Argument gegen den gleichheitsrechtlichen Diskriminierungsschutz zu machen, hieße aber, Nichtdiskriminierung und soziale Gerechtigkeit in einer aus der Debatte um den identity liberalism bekannten Art und Weise gegeneinander auszuspielen.15 Ansätze zu einer rechtlichen Kategorisierung sozialer Gleichheit fehlen auf der supranationalen Ebene nämlich vor allem deswegen, weil die Mitgliedstaaten der Union diejenigen politischen Befugnisse einer stärker umverteilenden Sozialpolitik vorenthalten, als deren Maßstab sie nur vonnöten sein könnten. Zwar mag das Willkürverbot als verfassungsrechtliche Domestizierung des umverteilenden Gesetzgebers deutsches Sondergut des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts geblieben sein (Boysen 2017: 49ff.). Eine Union, die ihren Grundwiderspruch zwischen Rechts- und Sozialverfassung gelöst hätte, wäre aber auch in der Lage, eine eigene verfassungsrechtliche Sprache der sozialen Gleichheit zu entwickeln.
15
Vgl. in diesem Sinne Lilla 2016.; Heisterhagen 2018: 158ff.
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Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte Anna Katharina Mangold
Was ist soziale Ungleichheit? Geht es nur um Geld und geldwertes Vermögen, um Kapital? Was ist mit sozialem Kapital? Ist dieses nur relevant, wenn es die Chance birgt, in Geldwert übersetzt zu werden? Und welche Anforderungen stellen Grundrechte an soziale Gleichheit? Wie lassen sich Grundrechte nutzen, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen? In diesem Beitrag wird soziale (Un)Gleichheit eng verstanden. Ausgangspunkt soll der sozio-ökonomische Status einer Person sein, der sodann in Relation gesetzt wird zur gesellschaftlichen Wohlstandsstruktur. Soziale Ungleichheit ist nämlich immer ein vom Vergleich geprägter Befund: Ungleich im Vergleich zu wem? Dies entspricht in etwa den Überlegungen, die bei der Berechnung des sogenannten sozialrechtlichen Existenzminimums angestellt werden. In der Konzeption der Hartz IV-Gesetzgebung soll das unterste Einkommens-Quintil, die untersten 20 % der Bevölkerung, finanziell gefördert werden (BVerfG 2010: 193). Dieser Beitrag untersucht die Verfassungslage in der Bundesrepublik Deutschland. Der Schwerpunkt des Textes liegt auf der Beschreibung des aktuellen Standes und nimmt seinen Ausgang bei zwei Analyseergebnissen über den Ist-Zustand der deutschen Grundrechtsdogmatik, die an den Anfang gestellt seien. Es ist erstens nicht gänzlich unmöglich, soziale Ungleichheit grundrechtlich zu verhandeln. Solch grundrechtliche Verhandlung von sozialer Ungleichheit ist jedoch auf Basis des nach wie vor herrschenden klassisch freiheitsrechtlichen Grundrechtsverständnisses ein schwieriges und voraussetzungsvolles dogmatisches Unterfangen. Der allgegenwärtige verfassungsgerichtliche Verweis auf legislative Einschätzungsspielräume verhindert zweitens faktisch eine verfassungsgerichtliche Effektuierung der wenigen dogmatischen Ansätze, so dass Einzelne kaum je erfolgreich Ansprüche einklagen können. Die Formulierung der
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Anna Katharina Mangold
Grundrechte im Grundgesetz und ihre Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht privilegiert vielmehr sogar argumentative Positionen, die gegen politische Umverteilungsentscheidungen vorgehen wollen. Der Beitrag soll jedoch nicht bei dieser Analyse stehenbleiben, sondern möchte wenigstens einen konstruktiven Vorschlag andeuten für eine andere Grundrechtsdogmatik, nämlich ein relationales Konzept der Grundrechtssubjekte, also der Bürger*innen. Um soziale Gleichheit auch grundrechtlich adressieren zu können, ist eine veränderte Konzeption von Grundrechtssubjekten notwendig, die nicht mehr das von allen Bedürfnissen freie, ungebundene liberale autonome Subjekt als theoretisches Normalmodell denkt. Bürger*innen müssen vielmehr stets in ihrer relationalen Eingebundenheit in die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen als abhängige Rechtssubjekte verstanden werden. Auf dieser Basis soll eine Grundrechtstheorie möglich werden, die soziale Gleichheit im Konzept auch von Freiheitsrechten mitdenkt. Der Beitrag entfaltet die zwei Analysen und den Vorschlag zur Rekonzeptionierung der Reihe nach. Im ersten Abschnitt geht es um jene dogmatischen Ansätze, soziale Ungleichheit grundrechtlich zu adressieren, die bereits existieren. Der Normbefund im Grundgesetz wird daraufhin untersucht, wie soziale Ungleichheit im aktuellen dogmatischen Verständnis grundrechtlich verhandelt werden kann. Die Dimensionen der Grundrechte werden daraufhin befragt, ob sie es erlauben, sozioökonomische Ungleichheit zu adressieren. Im zweiten Abschnitt steht die Theorie der Gewaltenteilung im Zentrum, die in dem regelmäßigen Verweis auf legislative Einschätzungsspielräume verborgen ist. Dieser Verweis erstickt regelmäßig die zarten Ansätze einer grundrechtlichen Adressierung sozialer Ungleichheit bereits im Keim. Im Gegensatz dazu erlaubt die in der Weimarer Staatsrechtsrechtslehre entwickelte Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, gegen soziale Umverteilungsentscheidungen etwa im Steuer- und Sozialrecht vorzugehen. Im dritten Abschnitt werden schließlich einige tentative Erwägungen vorgestellt, wie die Grundrechtsdogmatik weiterentwickelt werden kann, indem sie von einem in die sozialen Verhältnisse eingebundenen Grundrechtssubjekt ausgeht. Grundrechtssubjektivät soll hier mit feministischer Rechtstheorie relational weitergedacht werden. Auf dieser Basis kann eine egalitäre Grundrechtstheorie entwickelt werden. Dass dies dringend geboten ist, zeigt insbesondere die Situation der Corona-Pandemie, in der die hier
Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte
verhandelten Fragen praktisch relevant geworden sind wie wohl nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
1.
Ansätze grundrechtlicher Adressierung von sozialer Ungleichheit unter dem Grundgesetz
Zunächst also gilt es, eine Bestandsaufnahme zu erstellen. Welche Normen des Grundgesetzes erlauben ihrem Wortlaut nach die Adressierung sozialer Ungleichheit? Und welche Ansätze gibt es in Grundrechtsdogmatik und -theorie – erlaubt oder hindert sie die grundrechtliche Verarbeitung sozialer Ungleichheit? Zunächst soll freilich der Entstehungskontext des Grundgesetzes erläutert werden.
1.1
Entstehungskontext des Grundgesetzes: Absage an soziale Grundrechte
Dieser übersichtliche Befund erklärt sich damit, dass der Parlamentarische Rat bei der Formulierung des Grundgesetzes bewusst nicht den Weg der Weimarer Reichsverfassung gewählt hat, explizit soziale Rechte in die Verfassung aufzunehmen. Die Weimarer Reichsverfassung hatte im Entscheidungsjahr 1919 einen Mittelweg zwischen westlichen bourgeois-kapitalistischen und dem russischen kommunistischen Wirtschaftsmodell gewählt und deswegen nicht nur wirtschaftliche Freiheiten, sondern auch soziale Bindungen und Rechte in die Grundrechte aufgenommen (Mangold 2020). Begründet hat die Entscheidung gegen soziale Rechte das Mitglied des Parlamenarischen Rates Hermann von Mangoldt im ersten Kommentar zum Grundgesetz mit der »Ungewißheit über alle künftige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung« und dem Wunsch, »das Grundgesetz mit großer Mehrheit angenommen zu sehen« (Mangoldt 1953: 35). In den Jahren 1948/49 war der Systemgegensatz zwischen kapitalistischem Westen und kommunistisch-sozialistischem Osten im Vergleich zum Jahr 1919 noch gewachsen (Stolleis 2012: 125f.). Dass soziale Grundrechte fehlten und das Grundgesetz insoweit hinter der Weimarer Verfassung zurückbliebt, bemerkten zeitgenössische Beobachter ebenso wie die Tatsache, dass sich das Grundgesetz einer Entscheidung über das Wirtschaftssystem enthielt (Ipsen 1988b: 8ff. und 15). Neben die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, die ganz den überkommenen Linien des Rechtsstaatsverständnisses des 19. Jahrhundert folgt, trat zwar in Art. 15
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GG die grundsätzliche verfassungsrechtliche Möglichkeit der Sozialisierung, doch blieb Art. 15 GG eine »schlafende Verfassungsnorm«, die nun erstmals im Streit um den Berliner Mietendeckel von 2019 wiederentdeckt worden ist (Farahat 2020). In der Gründungsphase der Bundesrepublik bildete der hessische Sozialisierungsstreit der 1950er Jahre den ersten Kulminationspunkt des Ringens um soziale Elemente der deutschen Verfassungen. Konkret entzündete sich dieser Streit an Art. 41 der Hessischen Verfassung.1 Dieser recht erbittert ausgefochtene verfassungsrechtliche Streit gipfelte in der dichotomen Gegenüberstellung von Rechtsstaatlichkeit einerseits, Sozialstaatlichkeit andererseits (Sammlung einschlägiger Beiträge bei Forsthoff 1968). Zugleich verdeutlicht dieser Streit eine Offenheit der Eigentumsordnung in der Gründungsphase der Bundesrepublik, die aus heutiger Perspektive verblüfft. Selbst konservative Stimmen vertraten Positionen, die im heutigen politischen Diskurs als links gelten dürften (Farahat 2020: 608 m.w.N.). Die Auseinandersetzungen um den Sozialstaat begleiteten die bundesrepublikanische Verfassungsgeschichte (für die Diskussionen der VDStRL bis 1990 siehe Thurn 2013), erreichten aber nicht mehr die Dramatik der 1950er Jahre. Noch im Jahr 1954 betonte das Bundesverfassungsgericht zwar in der Entscheidung zum Investitionshilfegesetz die Offenheit des Grundgesetzes gegenüber verschiedenen Vorstellungen der Wirtschaftsordnung und schrieb von »wirtschaftspolitischer Neutralität« des Grundgesetzes (BVerfG 1954: 17f.). Trotz textlicher Zurückhaltung des Grundgesetzes ist die Entscheidung für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik faktisch freilich dennoch seit vielen Jahrzehnten gefallen und etabliert. Die zeitbedingte Enthaltung des Parlamentarischen Rates ist vom Provisorium spätestens mit der Wiedervereinigung zur dauerhaften Verfassungsentscheidung der Bundesrepublik Deutschland geworden. Die 1
Art. 41 HessVerf: »Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen, 2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet, die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen in Ziffer 1 genannten Betriebe, deren Sitz nicht in Hessen liegt. Das Nähere bestimmt das Gesetz. Wer Eigentümer eines danach in Gemeineigentum überführten Betriebes oder mit seiner Leitung betraut ist, hat ihn als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von Ausführungsgesetzen weiterzuführen.«
Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte
frühen Weichenstellungen haben dennoch die Art bestimmt, wie in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft und -praxis über soziale Gehalte der Grundrechte gedacht wird.
1.2
Normbefund
Werfen wir einen Blick in die Grundrechte des Grundgesetzes, so werden wir aus den erläuterten Gründen nur an vergleichsweise wenigen Stellen fündig, um explizite Ansatzpunkte für die grundrechtliche Adressierung sozialer Ungleichheit zu gewinnen. Gleichwohl sind die Grundrechte keineswegs stumm in der Frage sozialer Ungleichheit.
1.2.1
Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG
Bei unbefangener Lektüre vermittelt zunächst Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG mit seinem Verbot, wegen der Herkunft zu bevorzugen oder zu benachteiligen, den Eindruck, von dieser Formulierung könne soziale Ungleichheit erfasst sein. Das war etwa auch der Eindruck von Hans Peter Ipsen 1954 nach Lektüre des noch jungen und verfassungsgerichtlich wenig geformten Grundgesetzes: Das Merkmal Herkunft könne durch das Sozialstaatsprinzip »ein Gebot zu ökonomischer Egalisierung empfangen« und ein Rechtsinstitut der Daseinsvorsorge begründen, das dann wiederum »an seiner egalisierenden Kraft gegenüber sozialen Unterschieden nicht vorübergehen« könne (Ipsen 1988a: 212 und 213). Nun stand der Hamburger Professor Ipsen ganz gewiss nicht im Verdacht sozialistischer Umtriebe, gehörte er doch klar dem konservativen Lager der deutschen Staatsrechtslehre an (Mangold 2017). Tatsächlich war die Formulierung auf Vorschlag von Richard Thoma in das Grundgesetz gelangt, der in kritischer Auseinandersetzung mit den bis dato im Parlamentarischen Rat erörterten Formulierungen vorgeschlagen hatte, die Bevorrechtigung oder Benachteiligung eines Menschen »wegen seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse« zu verbieten (Leibholz/Mangoldt 1951: 68). Das zeigt erneut sehr klar, wie offen die Entwicklung in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren noch war. Zurück zum Merkmal Herkunft in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG: In einer aktuellen progressiven Grundgesetzkommentierung wird diese Kategorie so gedeutet, dass damit die soziale Herkunft als hergebrachte familiäre Klassenzugehörigkeit gemeint sei, und sie folglich soziale Durchlässigkeit schützen solle (Baer/Markard 2018: 502f.). Das Bundesverfassungsgericht hatte 1956 tatsächlich geurteilt, »Herkunft« meine die »die ständisch-soziale Abstammung und Ver-
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wurzelung« (BVerfG 1956: 22), was ein solches Verständnis jedenfalls zuließ. Bereits 1959 freilich stellte das Gericht dann aber klar, Herkunft meine »die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung, nicht die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht« (BVerfG 1959: 129). Folglich ist die Norm nach der bislang noch gültigen Rechtsprechung nicht gedacht, um gegen konkrete und aktuelle soziale Ungleichheit verfassungsrechtlich vorzugehen. Unbefangene Lektüre des Grundgesetzes kann also täuschen.
1.2.2
Art. 6 Abs. 4 GG
In Art. 6 Abs. 4 GG heißt es: »Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.« Im Sinne der oben vorgenommenen Definition des Begriffs sozialer Ungleichheit sind nicht alle Mütter sozio-ökonomisch benachteiligt. Gleichwohl bedeuten Kinder in Deutschland ein besonderes Armutsrisiko (Garbuszus/Ott/Pehle/Werding/Bertelsmann Stiftung 2018). Vielfach tragen in der sozialen Wirklichkeit Frauen und insbesondere Mütter die Hauptlast der Sorgearbeit (Überblick über die aktuellen Debatten bei Binder/Bischoff/Endter/Hess/Kienitz/Bergmann 2019). Sie sind deswegen von beruflichen Karrieren ausgeschlossen, die eine bessere sozio-ökonomische Ausgangslage versprächen (rechtsvergleichende Studie Scheiwe 1999). In der Realität ist die Frage der Vereinbarkeit von Kindern und monetärem Erfolg im Beruf regelmäßig eine geschlechtlich segregierte Frage (allgemein zu Frauenarmut und den komplexen Zusammenhängen die Beiträge in Dackweiler/Rau/Schäfer 2020). Bei Alleinerziehenden ist dieses Verhältnis besonders krass, denn 89 % der Alleinerziehnenden sind Frauen (Studie von Lenze/Funcke 2016). Die Entwicklungen in der Corona-Pandemie haben diese altbekannten Fakten und Zusammenhänge noch einmal deutlicher ins Bewusstsein gerückt (Kohlrausch/Zucco 2020). Auch wenn es bei Mutterschaft also nicht immer und ausnahmslos um sozio-ökonomische Ungleichheit geht, ist dies doch vielfach der Fall. Von einer verfassungsgerichtlich intensiven Befassung mit einer sozialen Leistungsdimension dieser Norm ist freilich nichts bekannt. Vielmehr wandte sich das Verfassungsgericht in seinen Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch en passant dem Grundrecht zu (BVerfG 1993a: 259f.), mit dem bekannten Ergebnis, dass eine schwangere Person unter Strafandrohung gestellt wird. Umgekehrt urteilte das Gericht, die Gesetzgebung sei
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nicht gehalten, »jede mit der Mutterschaft zusammenhängende Belastung auszugleichen« (BVerfG 2006: 271). Die Judikatur zu Art. 6 Abs. 4 GG muss sich direkt oder indirekt immer auch mit dem nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zwingend gebotenen Schutz des Embryos befassen. Bei Lektüre der Entscheidungen vertieft sich der Eindruck, der Schutz der Mutter erfolge nicht immer primär um der Mutter selbst willen. Deutlich wird dies in einer Formulierung des Verfassungsgerichts: »[Art. 6 Abs. 4 GG] verpflichtet die staatliche Gewalt, Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, die der Mutter während und nach der Schwangerschaft erwachsen können. Art. 6 Abs. 4 GG enthält einen für den gesamten Bereich des privaten und öffentlichen Rechts verbindlichen Schutzauftrag, der sich auch auf die schwangere Frau erstreckt. Diesem Auftrag entspricht es, Mutterschaft und Kinderbetreuung als eine Leistung zu betrachten, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt.« Diese Formulierung legt nahe, das soziale Recht aus Art. 6 Abs. 4 GG sei nicht in erster Linie als Individualgrundrecht gewährt, sondern wegen seiner dienenden Funktion für das Interesse der Allgemeinheit an Nachwuchs. Hier zeigt sich die Ambivalenz sozialer Grundrechte, die ihre Bedeutung gerade aus dem Potential beziehen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Gerade weil dies so ist, handelt es sich bei den notwendigen Verteilungsentscheidungen regelmäßig aber auch um solche von nicht geringer politischer Bedeutung. Dies mag erklären, warum das Bundesverfassungsgericht hier der Legislative eine weite Einschätzungsprärogative zuspricht. In der Erfüllung des grundrechtlichen Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 4 GG ist der Legislative grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt (BVerfG 2003: 87). Das hängt mit der dogmatischen Konstruktion grundrechtlicher Schutzpflichten zusammen, die nur dann aktualisiert werden, wenn Gesetzgebung oder Exekutive das Untermaß des unabdingbar Gebotenen unterschritten haben (grundlegend Hermes 1987).
1.2.3
Art. 6 Abs. 5 GG
Art. 6 Abs. 5 GG normiert: »Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.«
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Bereits Art. 121 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte angeordnet: »Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern.« Allerdings wurde der Vorschrift keine derogierende Wirkung gegenüber einfachem Gesetzesrecht beigemessen (Anschütz 1933 [1987]: 143), so dass eine ganze Vielzahl diskriminierender Regelungen bestehen blieb. Der familienrechtliche Status der Unehelichkeit zog lange nicht nur einen schlechteren rechtlichen Status nach sich (zur rechthistorischen Entwicklung bis 1949 ausführlich Schmitz 2000). Das unehelich geborene Kind galt als mit dem Vater nicht verwandt (geändert erst durch Reform des Personenstandsgesetzes vom 8. August 1957, BGBl. I S. 1125) und war deswegen auch nicht unterhalts- oder erbberechtigt –, der Status der Unehelichkeit hatte veritable ökonomische Konsequenzen. Aufgrund der sozialen Stigmatisierung unehelicher Geburten bis weit in die bundesrepublikanische Zeit hinein fanden sich viele Mütter mit ihren Kindern in einer sozio-ökonomisch deprivierten Situation. In der Bundesrepublik setzte sich gleichwohl die Weimarer Auffassung zunächst fort. Da im Grundgesetz keine konkrete Frist zur Umsetzung der Gleichstellung vorgesehen war, sprach das Bundesverfassungsgericht Art. 6 Abs. 5 GG keine sofortige derogierende Wirkung zu (BVerfG 1958: 216). Erst nach fünf Legislaturperioden befand das Verfassungsgericht die Zeit für gekommen, nun ernst zu machen mit der Verfassungsnorm (BVerfG 1969). Mit dem Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1243) wurde dieser Schritt getan. Das Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl. I S. 1061) ersetzte den rechtlichen Begriff »unehelich« durch »nichtehelich«. Als grundrechtlicher Anspruch und soziales Grundrecht ermöglichte Art. 6 Abs. 5 GG in erster Linie die Beseitigung von Schlechterbehandlung nichtehelicher Kinder im Familien- und Erbrecht. Originäre Leistungsansprüche auf Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht anerkannt worden. Änderungen in rechtlichen Regelungen konnten also eingeklagt werden, nicht jedoch Umverteilungsentscheidungen. Überraschenderweise hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 noch einmal über diese für verfassungsrechtlich inzwischen unerheblich gehaltene Norm zu befinden (BVerfG 2020).
Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte
1.2.4
Art. 7 Abs. 4 S. 3, 2. Hs. GG
Die Bundesrepublik weist nach den Erhebungen der OECD unter den europäischen Industrienationen eine besonders hohe soziale Segregation im Bildungssektor auf, was durch die Corona-Pandemie noch verstärkt worden ist (zahlreiche Aspekte und Datenanalysen in Reinhardt/Stache 2020). Im Grundgesetz findet sich in Art. 7 Abs. 4 die Gewährleistung der Möglichkeit, Privatschulen zu errichten. Satz 3 macht zur Bedingung, dass erstens die Privatschulen die gleichen Standards erfüllen wie staatliche Schulen und zweitens »eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird«. Dieses »Sonderungsverbot« ist in seiner Stoßrichtung dem Wortlaut nach ziemlich eindeutig. Gleichwohl wird es in der rechtswissenschaftlichen Literatur als »missachtetes Verfassungsgebot« bezeichnet (Wrase/Helbig 2016). Überraschenderweise kulminierte nämlich die Interpretation der Norm durch das Bundesverfassungsgericht in einem Leistungsanspruch der Privatschulen gegen den Staat. Es existiere eine Schutzpflicht des Staates, den Betrieb von Privatschulen zu ermöglichen (BVerfG 1987). Der Staat müsse sicherstellen, dass die Privatschulen überhaupt mit staatlichen Schulen mithalten können, diese müssten daher quersubventioniert werden durch den Staat (BVerfG 1994). Das Argument lautet, dass eine unzureichende Finanzierung der Sonderung erst recht Vorschub leisten werde, weil dann Private die Finanzierung gewährleisten müssten. Die empirische Bildungsforschung zeigt, dass Privatschulen in Deutschland in hohem Maße sozial selektiv sind (Wrase/Helbig 2016: 1596 m.w.N.). Nimmt man als Erkenntnis hinzu, dass auch staatliche Schulen in Deutschland segregiert sind (Kersten 2007), so wird das Ausmaß der sozioökonomischen Ungleichheiten im Bildungssystem deutlich. Corona hat diese Ungleichheiten dramatisch zugespitzt: Wer verfügt über die Endgeräte, um digitalen Unterricht nutzen zu können? Wer erfährt Förderung? Welche Kinder haben welche Chancen, auch zu Hause gefördert zu werden?
1.2.5
Art. 14 und 15 GG
Die Formulierung in Art. 14 Abs. 2 GG lautet: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Art. 15 GG2 dient der Umsetzung dieser Prämisse und lässt Enteignungen »zum Zwecke 2
Art. 15 GG: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung
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der Vergesellschaftung« zu. Aktuell freilich zeigt, wie erwähnt, die Diskussion über den geplanten Mietendeckel in Berlin, dass diese wirklich glasklaren Formulierungen des Grundgesetzes keineswegs unbestritten hingenommen werden. Erstaunlich ist an der ganzen Debatte vor allem, dass die Berliner Initiative die erste in der bundesrepublikanischen Geschichte ist – erstmals gelangten Art. 14 Abs. 2 und Art. 15 GG aus dem Halbschatten bislang rein akademischen Interesses und konnten in ein konkretes Gesetzgebungsprojekt überführt werden. Aus der dogmatischen Konstruktion der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist nämlich in der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit seit dem hessischen Sozialisierungsstreit – der in den 1950er Jahren stattfand – nicht mehr viel abgeleitet worden.
1.2.6
Zwischenbefund
Der grundrechtliche Textbefund ist zur sozialen Frage wenig ergiebig, allerdings auch keine gänzliche Leerstelle.
1.3
Dogmatische Konstruktionen
Gleichwohl ist das nicht das Ende der Analyse. Denn es gibt in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung grundrechtsdogmatische Ansätze, die funktional eine mindestens partielle Adressierung von sozialer Ungleichheit erlauben, wie unlängst Cara Röhner in ihrer fulminanten Dissertation »Ungleichheit und Verfassung« konzise herausgearbeitet hat (Röhner 2019). Ein solcher »Verfassungsgerichtspositivismus« (Schlink 1989) ist vorherrschend in verfassungsrechtlichen Abhandlungen. Eine alternative Herangehensweise wäre, Debatten in der Staatsrechtslehre nachzuzeichen (für die VDStRL Thurn 2013) und womöglich auf innovative Konzepte zu stoßen. Rechtswirksam sind aber am Ende nur jene Konzepte, die Anerkennung durch die Karlsruher Rechtsprechung gewinnen. •
Röhner benennt drei Elemente, die ich hier nur knapp skizzieren möchte: (1) die materiale Deutung der Grundrechte, um gesellschaftlichen Machtasymmetrien zu begegnen (Röhner 2019: 98-105), regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.«
Soziale (Un)Gleichheit als Thema der Grundrechte
(2) den Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche als Eigentum (Röhner 2019: 105-114) und schließlich (3) die Ableitung des sozialen Existenzminimums aus der Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Röhner 2019: 120-125).
1.3.1
Materiale Grundrechtsgehalte von Freiheitsrechten
In einer Kette von Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht gesellschaftliche Machtasymmetrien zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung gemacht. Die dogmatische Konstruktion läuft über die objektive Dimension der Grundrechte, weil auch Zivilgerichte bei der Bewertung privatautonom geschlossener Verträge die Wertungen der Grundrechte beachten müssen. Die neuere Linie von Entscheidungen beruht also auf der Grundlegung im Lüth-Urteil (Henne/Riedlinger 2005), dass die Grundrechte auch im Privatrecht Geltung haben sollen. Diese neueren Entscheidungen betrafen die Knebelverträge von Handelsvertretern (BVerfG 1990), erdrückende Bürgschaften unter nahen Familienangehörigen (BVerfG 1993b) und schließlich einen aufgrund Schwangerschaft aufgezwungenen sehr einseitig den Ehemann bevorzugenden Ehevertrag (BVerfG 2001). Diese Entscheidungen wurden erwartbar scharf kritisiert von Seiten einer Zivilrechtswissenschaft, die in weiten Teilen der Vorstellung einer naturrechtlichen Vertragsfreiheit anzuhängen scheint (grundsätzlich zu diesem Problem am Beispiel des Antidiskriminierungsrechts Mangold 2021). Das Bundesverfassungsgericht hat hier in Situationen individueller Machtasymmetrien Schutz vor Ausbeutung gewährt und damit immerhin Teilaspekte des Problems sozialer Ungleichheit adressiert.
1.3.2
Eigentumsrechtlicher Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche
Von struktureller Bedeutung ist die Einbeziehung auf eigener Leistung beruhender sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche, insbesondere von Rentenansprüchen, in den Eigentumsschutz. Allerdings ist zu dieser Rechtsprechungslinie zweierlei anzumerken: Zum einen ist die Hierarchisierung auffällig, dass eben nur durch eigene Leistung, vor allem Erwerbsarbeit, erworbene Ansprüche derart eigentumsrechtlich geschützt werden (Röhner 2019: 110-112). Die Abhängigkeit von sozialen Transferleistungen als fundamentaler Erfahrung moderner sozialer
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Ungleichheit ist nicht in gleicher Weise grundrechtlich imprägniert wie die durch Lohnarbeit erlangten Ansprüche. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen in der Sache meist die Rechtfertigung von Abstrichen bei Leistungen anerkannt, entweder – sehr häufig – mit Verweis auf legislative Einschätzungsspielräume oder mit Verweis auf die Finanzierbarkeit der Sozialversicherungssysteme (zum zweiten Aspekt Röhner 2019: 112-114). Damit stehen die statuierten Schutzansprüche in der Sache zur Disposition der Gesetzgebung. Eine Effektuierung ist beim gegenwärtigen Stand der Eigentumsdogmatik nicht wahrscheinlich, könnte allerdings ein interessantes dogmatisches Projekt sein.
1.3.3
Menschenwürde als Grund eines sozialen Existenzminimums
In zwei aufsehenerregenden Entscheidungen von 2010 und 2012 hat das Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus der Menschenwürdegarantie den Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen sozialen Existenzminimums abgeleitet, was in der Literatur schon länger so vertreten worden war. Das Gericht sprach jedem Hilfebedürftigen »diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind« (BVerfG 2010: Ls. 1). In der Hartz IV-Entscheidung zog sich das Bundesverfassungsgericht in der Sache auf eine prozedurale Kontrolle zurück und bemängelte die allzu pauschale Pauschalisierung der Regelsätze und die statistische Orientierung am untersten Quintil der Bevölkerung, also den untersten 20 %, als nicht folgerichtig. In der Folge der Entscheidung wurden legislativ einige Korrekturen vorgenommen und interessanterweise der Vergleichsmaßstab nun anhand der unteren 15 % Einkommen gebildet. Im Ergebnis ist es damit sogar noch zu einer Verschlechterung gekommen. Obwohl die Entscheidung für viel Aufregung gesorgt hat, dürfte sie den betroffenen Personen wenig geholfen haben. Schon gar nicht hat sie geholfen, die soziale Ungleichheit in Deutschland zu verringern. In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht eine Evidenzkontrolle vorgenommen. Weil die Regelsätze für Asylbewerber*innen seit 1993 nicht mehr angepasst worden waren und mehr als 35 % unter den Regelsätzen für Deutsche lagen, ging das Gericht davon aus, der Anspruch auf das soziale Existenzminimum sei evident verletzt (BVerfG 2012). Das ist nun keine dogmatische Konturierung, sondern eine
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Argumentation vom Schlage »I know it when I see it.« So begrüßenswert die Entscheidung in der Sache sein mag, insbesondere mit der wichtigen Klarstellung, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch zu relativieren sei (ebd.: 173), ist die Evidenzkontrolle doch ein ziemlich grobes rechtliches Instrument, um soziale Ungleichheit zu adressieren. Als ich 2019 den diesem Beitrag zugrundeliegenden Vortrag hielt, sagte ich voraus, die Sanktionen und Leistungskürzungen in der Grundsicherung würden auf dieser Basis kaum verfassungsrechtlich zu begrenzen sein für das Gericht. Ich erwartete auf Basis der bisherigen Rechtsprechung keinen Paukenschlag aus Karlsruhe. Enttäuschenderweise behielt ich recht (BVerfG 2019). Beschönigend benennt das Gericht die Entscheidung im Kurztitel mit »Sanktionen im Sozialrecht«, wenn es doch in Wahrheit um Grundsicherung geht, also solche Leistungen, die als absolutes Minimum das Überleben der Einzelnen sicherstellen sollen. Das schwierige Prinzip »Fördern und Fordern« hat das Bundesverfassungsgericht damit im Ergebnis abgesegnet (zu diesem mit Recht extrem kritisch Butterwegge 2008: 189).
2.
Beschränkungen sozialer Grundrechtsdimensionen: Legislative Einschätzungsprärogative und allgemeiner Gleichheitssatz
Nach aktuellem Stand der Grundrechtsdogmatik sieht es also so aus, dass Fragen sozialer Ungleichheit, insbesondere wenn sie struktureller Natur sind und nicht nur individuelle Situationen betreffen, vom Bundesverfassungsgericht allenfalls äußerst zurückhaltend behandelt werden. Das ist zu verstehen vor dem Hintergrund eines Gewaltenteilungsverständnisses, das Umverteilungsentscheidungen als genuine politische Aufgabe der Legislative begreift. Es führt aber im Ergebnis dazu, dass soziale Ungleichheit kaum als Thema der Grundrechte begriffen, sondern eben dem politischen Diskurs überantwortet wird. Das Untermaßverbot wird nie aktualisiert, weil es kaum je vorkommt, dass überhaupt nichts geschehen ist. Hier erweist sich das grundrechtliche Schutzpflichtenmodell als extrem unscharfes Instrument. Doch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite kann nämlich der allgemeine Gleichheitssatz, entweder als bloße Willkürkontrolle oder mit verschärften Prüfungsmaßstäben, gegen demokratische Umverteilungsentscheidungen durchaus in Stellung gebracht werden. So geschieht es im Steuerrecht und im Sozialrecht. Dem Verfassungsgericht ist damit der
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Zugriff auf Umverteilungsentscheidungen eröffnet, ohne dass es klare dogmatische Leitlinien gäbe, nach welchen Kriterien das Gericht jeweils urteilt. Diese Wendung des allgemeinen Gleichheitssatzes gegen mögliche demokratische Mehrheiten ist verfassungshistorisch eine einigermaßen überraschende Entwicklung (zum Folgenden ausführlicher Mangold 2020 m.w.N.). Sie wurde keineswegs zufällig in der Weimarer Republik erstmals ersonnen, als im Zuge der Inflationsgesetzgebung die Depossedierung weiter Teile der besitzenden Schichten drohte. Überraschend war eine gegen die Gesetzgebung gerichtete Deutung des Art. 109 WRV vor allem deswegen, weil dessen Formulierung übereinstimmte mit den Vorläuferregelungen des 19. Jahrhundert, die nur Rechtsanwendungsgleichheit vorschrieben. Dieser historische Ursprung war im Gleichheitssatz der WRV noch zu erkennen, wo auf die Formulierung der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz die Abschaffung von Adel und Standesprivilegien folgte. Die alte antifeudale Stoßrichtung des allgemeinen Gleichheitssatzes war deutlich sichtbar. Die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf Akte der Gesetzgebung war eine Entwicklung der Weimarer Republik, weil erstmals die ernste Gefahr bestand, demokratische Mehrheiten könnten tatsächlich Umverteilungsentscheidungen beschließen. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass der sogenannte Methodenstreit der Staatsrechtslehre sich 1926 just an den Referaten von Nawiasky und Kaufmann über die Bindung der Legislative an den allgemeinen Gleichheitssatz entzündete (Kaufmann/Nawiasky 1927) und ziemlich genau die Demarkationslinien zwischen demokratischem und demokratiefernem oder gar antidemokratischem Denken in der damaligen Staatsrechtslehre nachvollzog (zum Kontext Stolleis 2001). Sollte nun diese doch einigermaßen dubiose Genese einer heute herrschenden Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes dazu führen, die gerichtliche Überprüfungskompetenz von sozial- und steuerrechtlichen Umverteilungsentscheidungen einmal grundsätzlich zu hinterfragen? Zu erwägen und empirisch zu konsolidieren wären mindestens folgende Teilfragen: Sind Umverteilungsfragen originäre Fragen für den politischen Prozess oder eignen sich auch verfassungsgerichtliche Verfahren? Wenn die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft sich dramatisch vertiefen, sollte das Verfassungsgericht dann stärker kontrollieren (kaum Auseinandersetzung mit Thomas Pikettys ökonomischer Langzeitstudie in der Rechtswissenschaft konstatiert Croon-Gestefeld 2019)? Was ist mit verfassungsgerichtlichen Kontrollbefugnissen eigentlich gewonnen, solange die Ergebnisse dieser Kontrolle so mager ausfallen wie bisher? Und ist ein achtköpfiger Senat institutionell wie
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fachtlich gewappnet, möglicherweise weitreichende Umverteilungsentscheidungen zu treffen? Nach gegenwärtiger Lage scheint mir mit einer Juridifizierung der sozialen Frage über grundrechtliche Ansprüche nicht allzu viel gewonnen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die Delegation der Beurteilung an die Gerichtsbarkeit entpolitisiert die politischen Konflikte, weil der Eindruck einer rechtstechnischen Verarbeitung der relevanten Gerechtigkeitsfragen entsteht, ein Eindruck, der nüchterner Betrachtung nicht stand hält. Wo wir sonst von symbolischer Gesetzgebung sprechen, scheint es sich hier um eine lediglich simulierte gerichtliche Kontrolle von Umverteilungsentscheidungen zu handeln. Karlsruhe generiert, mit anderen Worten, regelmäßig zahnlose Tiger, behält sich aber ein Zugriffsrecht auf Gesetzgebungsakte vor, um doch einmal zuzupacken, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – opportun erscheint. Vorläufig lautet mein Argument zur Gewaltenteilung deswegen: Umverteilungsfragen sollten doch besser offensiv als politische Fragen öffentlich verhandelt werden, wenn von der verfassungsrechtlichen Verarbeitung ohnedies keine rationale, nämlich dogmatisch überzeugende Adressierung von sozialen Ungleichheiten zu erwarten ist.
3.
Relationales Verständnis der Grundrechte
Zum Abschluss sei angedeutet, wie eine andere Grundrechtsdogmatik aussehen könnte, die soziale Ungleichheit zu adressieren vermag. Ausgangspunkt der Überlegung sind zentrale Einsichten feministischer Rechtstheorie (Röhner 2019 m.w.N.). Basal wäre ein relationales Verständnis von Grundrechtssubjektivität. Grundrechtssubjekte, die Bürger*innen, sind in vielfältige Verhältnisse eingebunden. Sie sind nicht bedürfnisfreie Monaden, sondern leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen, die bestimmen, welche Freiheiten sie sich nehmen können. Soziale Ungleichheit führt dazu, dass nicht alle die gleichen Freiheiten haben, auch wenn sie ihnen formal gleichermaßen zustehen. Umgekehrt treffen Gesetze deswegen nicht auf eine gleichförmige gesellschaftliche Ebene, sondern auf ein zerklüftetes Gebirge. Von ein und derselben Regelung sind Menschen verschieden betroffen, weil sie sich gesellschaftlich in verschiedenen Lagen befinden.
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Herkömmlich ist in der Grundrechtsdogmatik und -theorie, dass wir diesen Unterschieden keine besondere Bedeutung beimessen. Das sollten wir freilich tun. Denn der tatsächliche Befund, dass die herrschende Grundrechtsinterpretation jenen Individuen zugutekommt, die dem implizit vorgestellten Normalbürger am nächsten kommen, was von sozialer Ungleichheit besonders stark betroffene Personen grundrechtsdogmatisch marginalisiert, sollte meines Erachtens dazu führen, dass wir uns fragen, ob vielleicht mit der zugrundeliegenden Grundrechtstheorie etwas nicht stimmt. Die Frage, wer in welcher Weise Gebrauch von den formal allen eingeräumten grundrechtlichen Freiheiten machen kann, ist essentiell für die Adressierung sozialer Ungleichheit mittels Grundrechten. Es lässt sich einwenden, dass wir unsere Hoffnung nicht auf ein von vornherein vergebliches Unterfangen richten sollten und die Grundrechte liberale Abwehrrechte sein lassen können. Als überzeugte Verfassungsrechtlerin fände ich das freilich ein bedauerliches Ergebnis. Denn ich glaube an die Macht der Grundrechte, dass sie nicht nur den status quo aufrechterhalten helfen, sondern existierendes Recht im Sinne emanzipatorischer Gleichheitsverwirklichung umformen können. Eine materiale Interpretation der Grundrechte bietet hier aus meiner Sicht aktuell den vielversprechendsten Ansatz. Die in einer solchen Theorie und Dogmatik zu beantwortenden Fragen hat dieser Beitrag aufzuwerfen versucht auf Basis der historischen Entwicklung. Am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten. Es sind die meines Erachtens wichtigsten Fragen der aktuellen Grundrechtsdogmatik, weil die Corona-Pandemie sie zu den drängendsten Problemen unserer Gesellschaft und damit auch der Verfassungsrechtswissenschaft gemacht hat.
Literatur Anschütz, Gerhard (1933 [Nachdruck 1987): »Art. 121«, in: Die Verfassung des Deutschen Reichs. Vom 11. August 1919; e. Kommentar für Wiss.u. Praxis in 4. Bearb, Aalen: Scientia Verlag, S. 563-564. Baer, Susanne/Markard, Nora (2018): »Art. 3 II und III«, in: Peter M. Huber/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München: C.H. Beck, S. 408-474.
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Diversität und Ungleichheit
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung Zur Konjunktur eines Konzepts aus politiktheoretischer Perspektive Astrid Séville
Im Juli 2019 twitterte die Journalistin und Autorin Jana Hensel: »Kennst du einen Anti-Identitätspolitik-Essay, kennst du alle.«1 Hensel kommentierte in ihrem Tweet entnervt eine Debatte im Feuilleton deutscher Zeitungen, in der einmal mehr die Frage diskutiert wurde, ob heute ein neues »Stammesdenken« (Lau 2019) und eine rigide Sprach- und Verhaltenskontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmten. »Politische Korrektheit« werde durch eine sich als links verstehende, antirassistische und queere Identitätspolitik forciert; der stete Ruf nach korrekter Benennung bestimmter Gruppen, nach der Berücksichtigung von Minderheiten und nach Ausweitung von Teilhaberechten sei unproduktiv und fördere gesellschaftliche Konflikte (vgl. nur beispielhaft Kostner 2019). Identitätspolitik ist heute zu einem Reizwort im politischen Diskurs geworden. Tatsächlich wirft das Verhältnis von Identitätspolitik und sozialer sowie politischer Ungleichheit aus demokratietheoretischer Sicht Fragen auf. Wenngleich der Begriff der Identitätspolitik heute in aller Munde ist, stellen sich fundamentale Rückfragen: Erstens lässt sich fragen, ob politische Akteure2 , die um Gleichheit und Gerechtigkeit streiten, überhaupt Forderungen artikulieren können, die ganz ohne »identitätspolitische« Bezüge und Rückversicherungen zu verstehen sind. Anders gefragt: Wie lässt sich eine Politik denken, die ohne – strategischen, pragmatischen, impliziten – Bezug auf
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Jana Hensel (@jana_hensel), Tweet vom 25. Juli 2019. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Beitrag, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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die »identitäre« Einbettung und Verwurzelung von partikularen Interessen, etwa auf Klassen, Gruppen, Schichten, Milieus oder allgemein: auf Zugehörigkeit auskommt? Historisch erscheint bereits die politisch-gesellschaftliche Ordnung der Demokratie lange Zeit als exklusive Ordnung, in der, so die wahlweise marxistische, postkoloniale oder feministische Kritik, vor allem partikulare Interessen Kapital eignender, (westlicher) weißer Männer verfolgt wurden. Die realexistierende Demokratie der Vergangenheit, mitsamt der in ihrer zementierten Ungleichheit, erhob zwar einen universalistischen Anspruch, doch wenden Kritiker zu Recht ein, dass hinter dem universalistischen Schleier liberaler Demokratie ein ebenso identitätspolitisches Projekt steht. Die postkoloniale und feministische Theorie bestreitet überdies in Teilen auch die Möglichkeit politischer Universalien.3 Angesichts der hitzigen Diskussionen um Identitätspolitik drängt sich eine zweite Rückfrage auf: Gibt es heute eine spezifische Form politischer Artikulation und Mobilisierung, die als genuin zeitgenössisches Phänomen, ja sodann als eine für die Gesamtgesellschaft problematische Identitätspolitik zu begreifen ist? Wäre es hilfreich, der Kritik entgegenzutreten, indem Akteure die Stigma-Vokabel der Identitätspolitik fallenließen und stattdessen von einem notwendigen emanzipatorischen Kampf um die Ausweitung der universellen Versprechen von Gleichheit, Freiheit und Teilhabe für alle Mitbürger sprächen? Dies könnte signalisieren, dass die Anliegen, die als Identitätspolitik markiert werden, um einen Kampf um Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit kreisen. Es wird sowohl Minderheitenschutz eingefordert als auch um die Bedingungen und Voraussetzungen von Zugehörigkeit und Teilhabe gerungen. Doch eine solche Lesart würde bedeuten, dass Identitätspolitik letztlich nichts signifikant anderes als das Geschäft eines (demokratischen) Liberalismus betreibt. Diese Gleichsetzung ist indessen fragwürdig, denn sie übergeht schlichtweg die Frage, ob es einer identitätspolitischen Mobilisierung, die ja durchaus auch rechte bzw. rechtspopulistischen Akteuren nutzen, nicht auch um eine Politik strategischer Entindividualisierung gehen kann.
3
Vgl. hierzu unter anderem die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit, die Miranda Fricker mit ihrem Werk Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford (2007) angestoßen hat. Fricker verweist darauf, dass die Aussagekraft und das Wissen von Menschen immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse und verbreiteter Vorannahmen, Klischees und stereotypisierten Erwartungen beurteilt werden. Folglich sei keine soziale Interaktion, kein Diskurs frei von struktureller Benachteiligung.
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
Tatsächlich bezeichnet der Begriff Identitätspolitik heute vornehmlich den Konflikt um den Status von Gleichheit, Freiheit und Teilhabe. Identitätspolitik meint ein Erstreiten der Ausweitung jener Versprechen für marginalisierte, ausgeschlossene oder diskriminierte Gruppen. Damit hängt oftmals die Forderung zusammen, dass die Mehrheitsgesellschaft Solidarität, Empathie und oder zumindest Toleranz gegenüber identitätspolitisch mobilisierten Minderheiten bzw. Gruppen zeigen müsse.4 Auch in identitätspolitischen Konflikten verbinden Akteure Dimensionen von Diskriminierung und sozialer (ökonomischer) Ungleichheit; Identitätspolitik ist somit keineswegs nur ein Kulturkampf um Deutungshoheit, sondern greift immer wieder das Thema realer Chancenungleichheit auf. Schon historisch richteten sich entsprechende Bewegungen und Aktivisten gegen soziale, politische und ökonomische Benachteiligung. Daher macht sich der vorliegende Beitrag dafür stark, das Phänomen der Identitätspolitik als eine politische Strategie der Entprivilegierung angesichts der Erfahrung diskriminierender Ungleichheit zu begreifen. Diese emphatische Umetikettierung soll freilich nicht die demokratietheoretischen Risiken verdecken, die mit identitätspolitischen Strategien verbunden sind. So bleibt die Frage zu beantworten, vor welchen Herausforderungen identitätspolitische Auseinandersetzungen in der liberalen Demokratie stehen.
1.
Identitätspolitik in der Kritik
Man kann sich den Herausforderungen von Identitätspolitik über einen Umweg nähern: nämlich über die allerorten vernehmbare Kritik an ihr. Gegen Identitätspolitik werden seither unterschiedliche Einwände vorgebracht, die sich schematisch sortieren lassen in eine politisch-sozialdemokratische (1.1), eine liberal-demokratietheoretische (1.2) und in eine epistemologisch-demokratietheoretische Kritik (1.3).
4
Dennoch existieren mit neueren Interessengruppen auch identitätspolitische Akteure, die eine solche Integration ablehnen und stattdessen auf In-Group Solidarität setzen, historisch als Vorläufer etwa Black Panther, zeitgenössisch etwa linke Antikapitalisten und Black sowie Latinx Gruppen in den USA und UK. Dieser Hinweis verdankt sich Sebastian Pieper.
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1.1
Identität und Differenz statt Umverteilung
Die politisch motivierte Kritik konzentriert sich vor allem auf den oftmals sozialdemokratisch intonierten Vorwurf, dass sich linke, progressive Politiker auf die Berücksichtigung und Ausweitung von partikularen Interessen und Rechten von Minderheiten konzentriert hätten, statt sich um Umverteilung, sozialpolitische Reformen oder um eine gerechte Solidargemeinschaft zu bemühen. Prominent machen etwa Mark Lilla (2017) und Francis Fukuyama (2019) Identitätspolitik für das Scheitern linksliberaler, progressiver Politik – und damit auch für die Niederlagen der US-Demokraten – verantwortlich. Diese habe sich auf den Kampf gegen Diskriminierung, auf eine Politik der Anerkennung fokussiert5 und eine Affirmation von Differenz statt einer politischen Konstruktion von Gemeinsamkeit betrieben. Letztlich verkenne eine solche Politik ihre Aufgabe, die negativen Effekte von Wirtschaftsliberalisierung und Globalisierung auf soziale Ungleichheit sozialpolitisch aufzufangen, indem sie etwa wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ergreift oder soziale Investitionsprogramme auflegt. Dieses Versäumnis habe einer reaktionären Gegenbewegung in die Hände gespielt. Als Gegenspieler einer linken Identitätspolitik erfolgt heute – für manche Kommentatoren gleichsam spiegelbildlich – eine Identitätspolitik von Rechts.6 Rechtspopulisten und Rechtsnationalisten behaupten eine Kollektividentität eines »wahren Volks« und artikulieren so einen exklusiven, nativistischen, wenn nicht rassistischen, da ethnisch gewendeten Volksbegriff.7 Dieser Diagnose zufolge herrscht heute eine Gleichzeitigkeit einer emanzipatorischen und regressiven Identitätspolitik vor. So attestieren heute manche Publizisten und Journalisten dem politischen Diskurs, er habe sich zu ei-
5 6
7
Vgl. dazu schon früh Fraser/Honneth (2003). Kritisch zu diesem Argument steht Müller (2019: 23). Müller nimmt die These einer rechten Identitätspolitik als »Pendant« einer linken empirisch und demokratietheoretisch auseinander. Zudem lässt sich an der These eines rechten, autoritären Backlashs als Reaktion auf linke Identitätspolitik kritisieren, dass eine solche chronologische Einordnung angesichts alter rechter identitätspolitischer Maßnahmen nicht richtig ist. Abgesehen von traditionalistischen Weltbildern im Allgemeinen ließe sich etwa an die religiöse Rechte oder an Vertriebenenverbände in Deutschland denken. Ob es hilfreich ist, den heutigen Rechtspopulismus als identitätspolitisches Phänomen zu deuten, sei an dieser Stelle dahingestellt. Vgl. zu der Debatte die einschlägigen Argumente in Manow (2018), Rodrik (2018), Inglehart/Norris (2019).
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
nem unproduktiven, moralisierenden »Opferkult« (Thiel 2019) verschoben,8 bei dem politische Gruppen und Bewegungen vor allem durch eine Inszenierung von »Opferkonkurrenz« ihren Anliegen Gehör zu verschaffen versuchten (Pfaller 2018). Politische Bewegungen jedweder Richtung erhofften sich durch die Strategie der »Selbstviktimisierung« (Séville 2018) erhöhte Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Inwiefern solche Phänomene paradoxerweise für eine gesteigerte gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Diskriminierung sprechen könnten, wird in der Diskussion zumeist vernachlässigt.
1.2
Überbetonung von Kollektividentitäten
Weniger laut und prominent ist die Kritik an Identitätspolitik aus einer liberalen bzw. liberal-demokratietheoretisch motivierten Perspektive. Auch aus dieser lässt sich nämlich ein Einwand gegen Identitätspolitik formulieren: Identitätspolitische Kollektivitätserzählungen stehen potenziell in einem Spannungsverhältnis zum Liberalismus. Denn Liberalismus kennt keinen kulturellen »Artenschutz« (Habermas 1996: 259); statt kollektiver Gruppenrechte formuliere er nur eine Gewähr liberaler Individualrechte. Die Akteure im Namen von »Identität« könnten in einem streng liberalen Sinne nicht in Kollektivsingularen sprechen, um im Recht zu wirken. Demzufolge wäre es heikel, Kollektividentitäten von Minderheiten anzurufen oder rechtlich in Stellung zu bringen. Rechte betreffen individuelle Rechtsträger, die schon aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft über gleiche Rechte verfügen müssen. Dieser Einwand komplementiert insofern den oben skizzierten, ersten politischen Einspruch, als dass sich ein gemeinsames Motiv beider Kritiken an Identitätspolitik festhalten lässt: Statt einer gesellschaftlichen Totalität und statt individueller Rechtssubjekte stehen identitätsgebundene und auf Anerkennung beharrende »Gruppen« im Fokus.9 Dies sei nachgerade das Kennzeichen von Identitätspolitik. Pointiert gesagt verstellt den Kritikern zufolge die Mobilisierung von Gruppenidentitäten nicht nur den Blick auf 8
9
Thiel kommentierte mit dieser Formulierung eine umstrittene akademische Konferenz der Ethnologin Susanne Schröter an der Universität Frankfurt a.M., die sich der Frage des islamischen Kopftuchs widmete. Allerdings ignoriert diese Lesart linker Identitätspolitik die Herausforderung der Intersektionalität und die daraus erwachsene komplexe Situation. Man kann zudem dem Liberalismus an dieser Stelle vorwerfen, dass Gruppenbildung als politische Notwendigkeit gegebenenfalls konsequent und symmetrisch kritisiert werden müsste. Dann wären sämtliche politischen Verbände zu hinterfragen.
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dringlichere politische Probleme sozialer Ungleichheit, sondern riskiert sowohl die Kohärenz der Gesellschaft als auch einen liberalen, das heißt einen politischen sowie methodologischen Individualismus.
1.3
Festlegungen von Subjektidentität
Über diese Einwände geht eine epistemologische und zugleich demokratietheoretische Kritik hinaus; diese setzt auf einer anderen, politiktheoretisch weitaus interessanteren Ebene an und beobachtet in identitätspolitischen Strategien eine »grundlegende[] Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität« (Kastner/Susemichel 2019: 11). Gerade durch emanzipatorische Kämpfe und durch Rechte werden Identitätszuschreibungen sowohl von Subjekten als auch von Gruppen politisch virulent. Kritiker monieren dementsprechend, dass man mit der Zuschreibung von Gruppenidentitäten einer sozialen und politischen Fragmentierung das Wort rede und erst die Gruppen jener Subjekte schaffe, die durch Geschlecht, Herkunft, sexuelle Orientierung oder Klasse als ein desintegriertes »Anderes«, ein »Außen«, als ein marginalisierter, unterdrückter oder unterprivilegierte Teil der Mehrheitsgesellschaft inszeniert werden. Die Mobilisierung einer diskriminierten Gruppe brauche (letztlich wie im Marxismus) die politische Verwandlung einer »Gruppe an sich« zu einer »Gruppe für sich«. Konsequenterweise erfordere Identitätspolitik immer ein problematisches »Bekenntnis zur diskriminierten Gruppe« (Strauß 2019: 5). Die hiermit aufgeworfene Frage nach einer Zuschreibung von Identitäten und von politischen Rollen durch Rechtsprechung lässt sich am Beispiel des Feminismus veranschaulichen. Der politische Kampf um die Gleichberechtigung der Frau erfolgte bekanntlich vor allem im Medium des Rechts, man denke nur an das Abtreibungsrecht oder an die Abschaffung männlicher Vorrechte in der bürgerlichen Ehe etc. Im feministischen Kampf um Gleichberechtigung mussten sich Frauen als Aktivistinnen auf die politische Formulierung ihrer selbst als ein einheitliches, weibliches Subjekt einigen; sie mussten eine Differenz zum männlichen Subjekt und dessen Herrschaftsstrukturen markieren. Dies bedeutet nichts weniger als die bestehende, rechtlich gesetzte und kulturell gebotene Grenze aufzunehmen und analog zu diesen Strukturen Identität zu schaffen. Nun kann aber gerade der politisch in Stellung gebrachte »Geschlechtsunterschied nach wie vor zum Nachteil von Frauen konstruiert und ausgebeutet« (Holzleithner 2008: 250) werden. Folgerichtig lässt sich einwenden, dass femi-
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
nistische Kritik so lange hinter den emanzipatorischen Möglichkeiten einer sich pluralisierenden und diversifizierenden Gesellschaft zurückblieb, wie sie sich innerhalb des gesellschaftlich vorgefassten heteronormativen Rahmens bewegte. Demgemäß schreibt Wendy Brown (2000: 231) in erhellender Weise, »dass Rechte, die eine Bestimmung unserer Leiden, Verletzungen oder Ungleichheit enthalten, uns in eine Identität einschließen, die durch Unterordnung definiert ist; wohingegen Rechte, die solche Bestimmtheit vermeiden, nicht nur die Unsichtbarkeit unseres Unterworfenseins aufrechterhalten, sondern sie sogar noch verstärken können.«10 Hierhin liege nicht nur ein Dilemma, sondern eine gewisse Paradoxie, so Brown: Es wird ein Wesen ebenso wie ein Status der unterdrückten, marginalisierten, unterworfenen Frau formuliert und damit fixiert, paradoxerweise just in dem Moment, in dem eine Frau auf ihre Diskriminierung verweist und diese hinter sich lassen will. Das diskriminierte Subjekt muss sich, um sich aus den Fallstricken der Ungleichheit zu lösen, auf die Fremdzuschreibung seiner Andersartigkeit, seiner differenten Identität einlassen, ja diese Differenz politisch einsetzen. Dies droht nun wiederum Differenzmarkierungen und Ableitungen von Status-, Rollen-, Verhaltens-, Erfahrungsunterschieden zu verfestigen.11 Geschlechteridentität wird definiert. Ein Merkmal eines Menschen und Bürgers, also eine seiner vielfältigen sozialen Rollen und eine Facette seiner sozialen Identität wird somit hypostasiert und als ausschlaggebendes Merkmal, das einer spezifischen sozialen Ungleichheitserfahrung zugrunde liegt, politisiert. Menschen werden qua Identitätszuschreibungen in einer politischen Rolle festgelegt, womöglich als politische Akteure auf diese reduziert. Und »Fremdzuschreibungen« können – durchaus aus guten, strategischen Gründen – zu »identitären Eigenentwürfen« werden (Kastner/Susemichel 2019: 11). Jene identitären Zuschreibungen drohen sodann die politische Sicht bzw. Aktivität eines Akteurs zu dominieren. Pointiert gesagt, riskieren auch emanzipatorische politische Kämpfe ei-
10 11
Diese Übersetzung von Wendy Brown wurde übernommen aus Geyer (2019). Andererseits können Differenzen auch positiv gewendet werden. Die Schwulenbewegung hat etwa negative Begriffe disloziert und erfolgreich als positive Zuschreibungen vermarktet. Mittlerweile sind homosexuelle Männer wirtschaftlich erfolgreicher und gesünder als Heterosexuelle. Es bleibt aber fraglich, ob man so nur eine Übertragung von Privilegien erkämpft, statt ein emanzipatorisches Projekt der Freiheit zu verfolgen. Um diese Frage streiten etwa Schwulen- und Queerbewegung.
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ne Festschreibung, ja womöglich eine Naturalisierung von Identitäten, wenn auch nur aus strategischen Gründen.
2.
Antiessentialismus als Herausforderung der Identitätspolitik
Nun ist es nicht so, als ob die bisher skizzierten Einwände gegenüber einer politisch motivierten, strategischen Festlegung bzw. Essentialisierung von Identität nicht auch in den Forschungsdebatten zu sozialen Bewegungen ebenso wie zu emanzipatorischer Identitätspolitik reflektiert würden (vgl. Hark 2019). Man kann (linken) Vordenkern von Identitätspolitik keine Naivität und Blindheit gegenüber dieser Problematik und Ambivalenz attestieren. In der Politischen Theorie und Philosophie erörtern schließlich seit Jahrzehnten Theoretikerinnen und Theoretiker wie unter anderem Stuart Hall (2018), Gayatri Spivak (1988, 1996), Judith Butler (1991, 1993), Wendy Brown (2000), Richard Rorty (1992) oder Ernesto Laclau/Chantal Mouffe (2000) eben jene Frage nach den Chancen und Risiken der politischen Essentialisierung von Identität.12 Differenztheoretische, postmoderne und poststrukturalistische Autoren verfolgen dabei zumeist das konstruktivistische Gegenprogramm eines Antiessentialismus. Nochmals zur Begriffsklärung: Essentialismus bedeutet, zusammenhängende Aussagen über das Wesen der Welt bzw. des betrachteten Objekts zu treffen. Jedem Objekt wird eine Identität zugeschrieben, die durch eine Abstraktion der zufälligen, supplementären Attribute erkennbar werde (Auer 2004: 14f.). Antiessentialismus negiert eine solche zeitlose und erkennbare Identität; die Vorstellung eines Wesens oder einer Substanz, die den Dingen eigen sei, wird verabschiedet. Damit werden Begriffe wie Demokratie, aber auch Identitäten von Individuen als pragmatische, kontingente Artikulationen begriffen. Die aristotelische Trennung zwischen substanziell und akzidentiell wird obsolet (Auer 2004: 33f.). Welche Konsequenzen hat nun ein programmatischer Antiessentialismus für das Verständnis von Identitätspolitik? Die politische Artikulation eines Subjekts, so etwa der Diskurstheoretiker Ernesto Laclau (2000; 1996), folgt variablen Diskursen, sie folgt spezifischen, aber veränderbaren Antagonismen. In diesen nimmt jeder Akteur diskursspezifische »Subjektpositionen«
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Vgl. zu der Debatte beispielhaft die Erörterungen in Kempf (2016) oder Stone (2004).
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angesichts eines Gegenübers ein. So könne sich etwa eine lesbische, schwarze, wohlhabende Frau eben in bestimmten Konstellationen unterschiedlich subjektivieren; mal positioniere sie sich als Frau, mal als wohlhabende Upper Class-Zugehörige, mal als Teil der black community. Für ihre jeweilige Positionierung und damit für ihre Identität sei der jeweilige Diskurs entscheidend, in dem sich die lesbische, schwarze, wohlhabende Frau bewege. In diesen Diskursen, in diesen Zusammenhängen macht ein- und dasselbe Subjekt unterschiedliche Erfahrungen. Doch das willkürlich gewählte Beispiel einer lesbischen, schwarzen, wohlhabenden Frau macht bereits deutlich, dass Erfahrungen und somit Subjektivierung keineswegs in herrschaftsfreien, unstrukturierten Räumen stattfinden. Bestimmte Festlegungen von Identität und Zugehörigkeit werden dominant gesetzt – in diesem Fall legt etwa die Rassismusforschung nahe, dass beispielsweise Hautfarbe als starker Marker mit konkreten Zuschreibungen von sozialem Status einhergehen kann, die andere Attribute und Positionen kaum wettmachen können. Die Spannung zwischen der epistemologisch und theoretisch betonten Konstruktivität und Kontingenz von Identität und den realen Erfahrungen von Zugehörigen einer Statusgruppe, eines Geschlechts, einer ethnischen, religiösen Gruppe etc. lässt sich nicht einfach wegdenken. Festzuhalten bleibt, dass Identität nicht nur vielfältig ist, sondern auch durch (vermachtete) Diskurse und Praktiken im Alltag erzeugt wird. Es gibt daher weder eine vordiskursive Essenz oder Kern des Weiblichen, noch eine transhistorische, universelle Klasse wie im Marxismus. Folgerichtig spielen vermachtete, politische Anrufungen von Identität durch wiederholte Gegenüberstellungen und diskursive Muster eine gewichtige Rolle. Es gilt also, die Politisierung, das heißt die gesellschaftlich vorstrukturierte Konstruktion bzw. Erzählung von Identitäten ins Blickfeld zu rücken. Sabine Hark (2019) formuliert es wie folgt: »Wir müssen uns erzählen, um wirklich zu werden und wir werden erzählt, ob wir wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, ob wir die Erzählung mögen oder nicht. Identitäten werden nicht ausgedrückt, sondern formuliert […].« Zudem gilt es einen Blick auf die Verbindung und Verflechtung unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen zu schulen. Umso relevanter ist daher ein antiessentialistischer, konstruktivistischer Ansatz der Intersektionalität für eine akademische und politische Diskussion, die nicht mit epistemologischen Kurzschlüssen operieren will.13 13
Dabei wird aber ein Problem der Querverbindung emanzipatorischer Anliegen erkennbar: Feministinnen verbinden sich heute mit Antirassisten, doch dürfen dabei
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Wenn nun Kritiker Minderheiten bescheinigen, Identitätspolitik als Strategie der Sichtbarmachung der eigenen Diskriminierungserfahrungen zu verfolgen, und genau dies als Problem liberaldemokratischer, progressiver Politik brandmarken, wirft der Vorwurf im Umkehrschluss eine Frage auf: Wie und auf welche Weise, das heißt mit welchen Herrschaftsinstrumenten, mit welchen Exklusionsabsichten und Kohärenzvorstellungen wurde und wird diesen Identitäten und Minderheiten denn begegnet? Wie wurden und werden Personengruppen als Minderheiten erzählt, welche Vorstellungen von Mehrheit und damit Normalität waren und sind dabei hegemonial? Diese Frage zu stellen, heißt auch, gesellschaftliche Privilegien zu reflektieren. Unter dem Schlagwort und Hashtag »check your privilege« sind Akteure aufgefordert, ihre eigene, vorteilhafte Position in sozialen und ökonomischen Machtstrukturen zu kennzeichnen und zu bedenken, dass diese mit unausgesprochenen Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsattributen einhergeht. Sie sollen sich sozio-ökonomischer und epistemischer Ungerechtigkeit (Fricker 2007) bewusst werden und dabei überlegen, inwiefern sie selbst von dieser profitieren.
3.
Die Zuschreibung legitimer Sprecherrollen und das Problem der Repräsentation
Der obige Hinweis auf die unauflösbare Spannung zwischen der Konstruktionsleistung sozialer Identitäten und gemachten Erfahrungen leitet zu einem letzten Kritikpunkt über: In identitätspolitisch motivierten Projekten erfolgen Zuschreibungen von Akteursrollen und Diskurspositionen. Die Betonung der Konstruktivität, Kontingenz, ja der Relativität von Identität und ihrer strategischen Zuschreibung und Festlegung im Dienste politischer Mobilisierung führt dabei zu der Frage, wer eigentlich im Namen einer diskriminierten Gruppe sprechen und agieren darf. Kann ein wohlhabender weißer Cis-Mann im Namen von prekären, migrantischen Sexarbeiterinnen demonstrieren, ohne sich dem Vorwurf autoritärer Aneignung ausgesetzt zu sehen? Identitätspolitik wirft das demokratietheoretische Problem legitimer
nicht wichtige Anliegen aus den Augen verloren werden. So sollte der Kampf gegen Rassismus nicht verunmöglichen, patriarchalische Strukturen etwa in islamisch geprägten Gesellschaften zu kritisieren oder überhaupt eine misogyne Agenda zu thematisieren.
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
Sprecherrollen und authentischer, politischer Repräsentation von Erfahrungen und Interessen auf. Mit der sogenannten »Standpunkttheorie«, die unter anderem Nancy Hartsock (1983) in Anlehnung an Georg Lukács (1923/1968) entwickelte,14 steht die Annahme im Raum, dass nur von Diskriminierung Betroffene authentisch und damit glaubwürdig über Diskriminierung und Ungleichheitserfahrungen sprechen könnten. Durch die normativ geadelte Kongruenz von politischer Artikulation und sozialer Identität, das heißt hier Zugehörigkeitserzählung zu einer (diskriminierten, unterdrückten) Gruppe, verschärft sich jedoch das Problem der Legitimität der Handelnden und Sprechenden in politischen Auseinandersetzungen. Es wird schließlich postuliert, dass es einen privilegierten Zugang zu Erkenntnis dank der jeweiligen Position in Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnissen gebe (Hartsock 1983). Letztlich erfolgt die Zuschreibung von Legitimität einer Sprecherrolle durch eine Konstruktion von Authentizität durch Diskriminierung. Um es provokant zu pointieren: Betroffenheit dient als diskursiver Trumpf. Dieser Ansatz ist nun problematisch, da er demokratietheoretisch einen Rückschritt hinter die Logik politischer Repräsentation und hinter diskursethische Überlegungen bedeuten kann. Repräsentative Demokratie fußt auf dem Gedanken, dass es möglich sein muss, sich für jemanden politisch stark zu machen. Ideengeschichtlich wurde Repräsentation lange Zeit als ein notwendiges Übel, als ein notwendiges Strukturelement einer Demokratie im Flächenstaat und in der Massengesellschaft verstanden. Repräsentation unterlaufe nolens volens die Selbstbestimmung des souveränen Volks, indem dieses einer herrschenden Klasse als Repräsentanten Folge leisten müsse.15 Doch die moderne Politische Theorie hat auf die Unterstellung einer strukturellen Heteronomie durch Repräsentation reagiert und denkt mit dem demokratietheoretischen Konzept der »Responsivität« das Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten als ein wechselseitiges Verhältnis von Zurechenbarkeit (vgl. Thaa 2008). 14
15
Lukács entwickelte die These eines revolutionären Klassenbewusstseins, mit dem das Proletariat durch seine Ausbeutung und Unterdrückung über die Möglichkeit der Selbsterkenntnis sowie der Erkenntnis gesellschaftlicher Totalität verfügt. Siehe hierzu nur beispielhaft die in der politischen Ideengeschichte klassische Auseinandersetzung der Autoren der Federalist Papers mit Rousseau. Während Rousseau Repräsentation verworfen und als Gegenprogramm eine für alle erkennbare volonté générale behauptet hatte, hob vor allem James Madison Repräsentation als Kernmerkmal der Republik zur Beherrschung von Affekten und Faktionen hervor.
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Moderne politikwissenschaftliche Repräsentationstheorien, wie sie etwa von Hannah Pitkin (1967) – und auch wieder Ernesto Laclau (1996) – vorgelegt wurden, argumentieren überdies, dass Repräsentation weder als ein identitäres Konzept, als spiegelbildliche Abbildung, als bloße Delegation eines präexistenten, politischen Willens noch als ein bilaterales Unterfangen zwischen zwei unveränderbaren Polen zu verstehen sei. Jene »partizipatorischen« Repräsentationstheorien (Thaa 2008) begreifen Repräsentation stattdessen als ein aktives Schaffen einer Repräsentationsbeziehung in einem »pluralen öffentlichen Raum[…]« (Thaa 2008: 620). Erst durch den Akt der Repräsentation werde ein heterogener, pluralistischer, diverser sozialer Raum organisierbar. Repräsentation stellt eine politische Beziehung her, durch die eine abwesende Fülle, eine eigentlich nicht erfassbare Vielfalt präsent werde. In anderen Worten: Repräsentation macht die pluralistische, heterogene Gesellschaft als Gesellschaft überhaupt erst darstellbar. Für Ernesto Laclau bedeutet Repräsentation folglich: »the fictio iuris that somebody is present in a place from which he or she is materially absent« (Laclau 1996: 97). Repräsentation bedeutet eine Inszenierung und Formgebung (Lefort 1990) des kontingenten und komplexen Sozialen und unterbreitet politische Angebote der politischen Subjektivierung jenseits der eigenen sozialen Position und damit auch jenseits eigener Betroffenheit. Allerdings steht auch eine solche emphatische, aktivische Deutung von Repräsentation vor der Frage, wer und welche Interessen, wessen Perspektiven sowie Positionen tatsächlich repräsentiert werden. Die oftmals tradierten, unsichtbaren, unreflektierten hegemonialen Ausschlussmechanismen einer Gesellschaft schlagen sich, so auch die wiederholte Erkenntnis empirischer Forschung, in politischer Repräsentation nieder (Schäfer 2015; Thaa 2008). Doch auch mit Blick auf eine sowohl soziologisch als auch diskursethisch grundierte Demokratietheorie wäre eine identitätspolitisch verkürzte Rückbindung von politischen Sprecher- und Akteursrollen an Betroffenheit und Erfahrung heikel. In politischen und sozialen Begegnungen, in öffentlichen Diskursen sollte es möglich sein, eine kognitive, ja intellektuelle Distanz zur eigenen Herkunft und zur eigenen Rolle einzunehmen. Idealiter sprechen Subjekte in einem öffentlichen politischen Diskurs als Bürgerinnen und Bürger, die an einem Austausch von Argumenten, zumindest aber an einem Austausch von Perspektiven interessiert sind. In sozialen Beziehungen begegnen sie sich in einem Kontext der Intersubjektivität (vgl. Habermas 1981a; 1981b; 1988). Das heißt nichts weniger, als dass Subjekte theoretisch in der Lage dazu sind, sich in einem Zwischenraum zu verständigen, der jenseits ihrer indivi-
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
duellen Sicht, ihrer Subjektivität ebenso wie jenseits von Objektivitätsunterstellungen funktioniert. Normativ ließe sich daher postulieren, dass sich politische Subjekte in einer Debatte – und auch in Streitsituationen – um eine Verständigung und Vermittlung von Sichtweisen, Erfahrungen, Differenzen bemühen und eine Vergleichbarkeit und Anschlussfähigkeit ihrer Argumente, Sichtweisen oder Positionen herstellen (vgl. Habermas 1981a, 1981b).16 Im Sinne von John Rawlsʼ Idee eines »reasonable pluralism« (1993), können Subjekte dann immer noch zu unterschiedlichen Meinungen kommen: »Since justification is addressed to others, it proceeds from what is, or can be, held in common; and so we begin from shared fundamental ideas implicit in the public political culture in the hope of developing from them a political conception that can gain free and reasoned agreement in judgment« (Rawls 1993: 100f.). Rawlsʼ Konzept des »reasonable pluralism« böte durchaus den oben genannten epistemischen Bedenken Raum. Am Ende ist es eine politisch, normativ und demokratietheoretisch nachvollziehbare Position, dass Akteure politische Rechte, Sichtbarkeit und Zugehörigkeit durch die Formulierung von allgemein anschlussfähigen Positionen und Interessen einzufordern hätten. Dies würde bedeuten, dass es in der liberalen Demokratie auch um argumentativ gestützte Empathie, nicht nur um Identifikation gehen kann und muss. Eine Fixierung auf ein authentisches Sprechen wäre somit eher hinderlich als hilfreich.
4.
Schlussbemerkung
Dank der Kämpfe, die mit dem Etikett Identitätspolitik versehen werden, haben moderne Gesellschaften Fortschritte im Abbau von Diskriminierung und sozialer Ungleichheit gemacht. Minderheiten profitieren von neuen Teilhabechancen. Weiterhin sind freilich Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten vor16
In einem (herrschaftsfreien) Diskurs, so Habermas, sind Subjekte grundsätzlich an Verständigung orientiert, denn ein jeder erhebt mit seinem Sprechen implizit gewisse Geltungsansprüche: Wahrheit, Richtigkeit, Aufrichtigkeit und Verständlichkeit. Lässt sich die Diskursethik und das Modell deliberativer Demokratie von Habermas als normatives Ideal verstehen, so ließe sich fordern, dass sich eine Gesellschaft an einer Annäherung an ein kontrafaktisches Ideal versucht.
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handen und auf strukturelle Gründe zurückzuführen – eine zeitgenössische Identitätspolitik, die mit dem Konzept der Intersektionalität ihren Blick für Querverbindungen geöffnet hat, spielt sozio-ökonomische Faktoren nicht gegen Identitätsfragen aus. Die gegenwärtige Debatte um Identitätspolitik bleibt hingegen misslich. Zum einen suggeriert sie, es ginge lediglich um Differenz und die alte Linke wäre daran zerbrochen, während in Wahrheit identitätspolitische Projekte eine generelle Kritik an sozioökonomischen Hierarchien differenzieren, die ihrerseits gruppenbezogen gestaltet wurden. Zum anderen haben alle Subjekte vielfältige und vielschichtige Identitäten, deren strategische Essentialisierung politisch vor- und nachteilig sein kann. Aus diesem Grund ließe sich dafür plädieren, auch in der politischen, öffentlichen Arena Ambivalenzen, Differenzen auszuhalten und Konflikte ebenso wie Kooperation zuzulassen. Ein solches Plädoyer beinhaltet ferner, Subjekte zu einer gesellschaftlichen Perspektive auf ihre eigene Position aufzufordern, um Öffentlichkeit als Raum argumentativen Ringens um kollektive Entscheidungen zu erhalten. Subjekte müssen, sofern sie Teil einer demokratischen Gesellschaft sein wollen, in der Lage sein, sich auch jenseits ihrer Milieus, Gruppen und Zugehörigkeiten zu bewegen. Für eine solche politische Subjektivierung, die sich von partikularen Erfahrungen und Positionen zu lösen versucht, könnte heute wieder der seinerseits mit einem politischen Erbe behaftete, aber ursprünglich emanzipatorische Begriff eines politischen citoyen bzw. einer citoyenne Anknüpfungspunkte bieten. Schlussendlich können und sollten auch »Privilegierte« ein Verständnis gegenüber Ausgrenzungsmechanismen einüben (vgl. Kastner/Susemichel 2019) und sich von diskriminierenden Strukturen und Mustern lösen.17 Dieses Verständnis gilt es in Begegnungen, Debatten und Räumen zu trainieren. Im Zeitalter des Rechtspopulismus gilt es mehr denn je zu zeigen, dass nicht nur der Verweis auf eigene Erfahrung und auf Betroffenheit der Schlüssel zu einem politisch respektvollen Miteinander und zu einem erfolgreichen Kampf gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit sein kann, sondern auch durchaus die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Theoretisierung politischer Gesellschaften und zu wissenschaftlicher Reflexion. Politische Bildung tut not.
17
Vgl. auch den Verweis auf hooks (1994) in Kastner/Susemichel (2019).
Identitätspolitik als Strategie der Entprivilegierung
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Die Gleichheit der Ungleichen Diversität – Identitätspolitiken – Diskriminierung Ulrike Lembke
1.
Gleiches gleich, Ungleiches ungleich: soziale Ungleichheit forever
Wenn wir als Jurist*innen in die Verlegenheit kommen, den Gleichheitsgrundsatz erklären zu sollen, ziehen wir uns gern auf die Formel zurück, dass Gleiches gleich, Ungleiches aber seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln sei. Dies ist zwar intellektuell ausbaufähig, aber jedenfalls nicht ganz falsch, solange es um generelle Gleichbehandlungen, die allgemeine Gleichheit des Gesetzes oder eine allgemeine Willkürkontrolle geht. Zu Fragen von sozialer Ungleichheit oder zur konzeptionellen Durchdringung der Diskriminierungsverbote ist die Formel dagegen nutzlos, wenn nicht gar kontraproduktiv. In der Binärlogik der Moderne gibt es für die prägenden Ungleichheiten kein tertium comparationis, so dass nur eine Ungleichheiten zementierende Gleichheit durch Angleichung möglich wäre (grundlegend Gerhard 1990). Dies kann schon dem allgemeinen Gleichheitssatz kaum genügen, versagt aber in Bezug auf Nicht-Diskriminierung vollständig. In vielfältiger Hinsicht sind Menschen eben nicht gleich, weshalb das Recht – in bestimmter Hinsicht – ein normatives Verständnis von Gleichheit entfaltet, die mit schematischer Un/Gleichbehandlung nicht zu erreichen ist. Die Diskriminierungsverbote stehen gesellschaftlichen Ungleichheiten in normativer Dissidenz gegenüber, während die »Gleiches gleich, Ungleiches ungleich«-Formel vorgefundene gesellschaftliche Hierarchien nur bestätigt oder gar perpetuiert. Der vorliegende Text beschäftigt sich mit zwei derzeit prominenten Strategien, soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Hierarchien und strukturelle Exklusionen aufrechtzuerhalten und Recht gegen Diskriminierung ins Leere laufen zu lassen. Die eine Strategie gibt sich positiv: Diskriminierung wird
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Ulrike Lembke
umgedeutet in Fragen von (hierarchiefreier) Pluralität oder (ausbeutbarer) personeller Diversität und den Betroffenen wird angeboten oder aufgedrängt, eine interessante Identität in einer nicht näher konturierten Vielfalt einzunehmen, statt die strukturellen Ursachen ihrer sozialen Ungleichheit anzugehen. Identitätspolitiken haben sich dagegen längst als Kampfbegriff privilegierter weißer Männer etabliert, die hiermit kollektive politische Kämpfe um Anerkennung, Teilhabe, Umverteilung und Inklusion delegitimieren und individualisieren wollen. Betroffene werden ihrer Stimme beraubt, ihre Diskriminierungssituation wird in frei gewählte Identitäten umgedeutet und privilegierte Gruppen definieren sich selbst als Opfer eines neuen Moralterrors, statt Diskriminierung als wesentliche soziale Ungleichheit wahrzunehmen und die Bekämpfung struktureller Benachteiligung und Exklusion als vorrangige politische und rechtliche Aufgabe anzugehen. Solche Konzepte von Diversität wie von Identitätspolitiken leugnen ihr Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit, verschieben Politisches in den Bereich des Privaten und erklären zwingende rechtliche Vorgaben zu verhandelbarer Politik.
2.
Diversität: Alles so schön bunt hier?
Als auch in Deutschland die Proteste gegen staatlichen und alltäglichen Rassismus immer lauter wurden, beschlossen einige deutsche Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen, nach amerikanischem Vorbild ein Bekenntnis zu »Diversität« als Leitbild abzulegen. Wie so häufig bei der Verwendung dieses schillernden Begriffes blieb sein konkreter Bedeutungsgehalt eher unklar, was fraglos einen Teil seiner Attraktivität ausmacht (Lembke 2012). Fungiert Diversität als Beschreibung vorfindlicher Vielfalt im Sinne der Unterschiedlichkeit von Menschen? (Und welchen Zweck hätte diese Feststellung als Antwort auf Kritik an strukturellem Rassismus?) Oder soll Diversität einen bestimmten, vorzugswürdigen Umgang mit der vorfindlichen Vielfalt einer pluralen Gesellschaft anregen (vgl. Greif/Ulrich 2019: 34ff.)? Geht es um eine normative Setzung von Vielfalt als Ziel für eine Institution, Gruppe oder Gesellschaft, womit die Frage weiterhin offenbleibt, was genau mit diesem Ziel gemeint ist?1 Oder ist Diversität eine Chiffre für Intersektionalität, Interdependenz sozialer Ungleichheiten und für Antidiskriminierungspolitiken, aber 1
In einem Interview hat Maisha M. Auma (2020) zutreffend festgestellt, dass durchaus etliche rassistisch marginalisierte Menschen, postmigrantische Menschen und Men-
Die Gleichheit der Ungleichen
weniger bedrohlich, scheinbar lösungsorientiert oder gar mit Optimierungsversprechen verbunden (kritisch Auma 2011: 56ff.)?
2.1
»Ohne Angst verschieden sein«
Wenn Diversität oder Diversitätspolitiken als eine Antwort auf strukturelle Diskriminierung fungieren sollen, kann es nur um das von Andrea Maihofer (2013: 28) mit Verweis auf Adorno beschriebene Ziel gehen, »ohne Angst verschieden zu sein«. Gleichheit ist der Leitbegriff der Moderne (Gerhard 1997: 13); trotz und in der Verschiedenheit als gleichberechtigte Subjekte und Staatsbürger*innen anerkannt zu werden und handlungsfähig zu sein, der Inbegriff moderner Staatlichkeit seit der Aufklärung. Eine rein formale Gleichbehandlung, vielleicht gar noch auf die Konstruktion eines geschlechtlich strukturierten Raums des Öffentlichen beschränkt, ist hierfür nicht ausreichend (vgl. Wilde 2009). Formale Rechtsgleichheit ist nur eine von mehreren Mindestvoraussetzungen, damit das Verschiedensein »ohne Angst«, ohne strukturelle Benachteiligung, Ausgrenzung und Verletzung möglich ist. Nicht zufällig sind dem Gleichheitsgebot in Art. 3 GG die Diskriminierungsverbote gleichberechtigt zur Seite gestellt. Zwar können Diversitätspolitiken und selbst Diversity Management für soziale Ungleichheiten und vielleicht sogar für Diskriminierung im eigenen sozialen Umfeld sensibilisieren. Da die Mobilisierung von Diversität als interventionsrelevantes analytisches Konzept sehr voraussetzungsvoll ist (hierzu Auma 2011: 64ff.), besteht die weitaus größere Gefahr, dass strukturelle Diskriminierung nicht mehr benannt und vor allem nicht mehr bekämpft wird, sondern angenommen wird, diese lasse sich durch minimalistischen Kulturwandel beseitigen. Christina Thürmer-Rohr (2017: 64) hat zu Recht hervorgehoben, dass die schiere Akzeptanz oder voluntaristische Inszenierung von Gleichwertigkeit, insbesondere in Konzepten von Diversity Management, Diskriminierung nicht in Vielfalt umdeuten kann. Diskriminierung beruht auf gewaltsamen Normierungen; es geht um historisch gewachsene, in der Gegenwart fest verwurzelte strukturelle, ökonomische und politische Ungleichheiten.
schen afrikanischer Herkunft in den Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin anzutreffen sind, allerdings primär als dort tätige Reinigungskräfte.
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2.2
Der »Samthandschuh auf der eisernen Faust der Herrschaft«
Die Voraussetzungen von rechtlicher Gleichheit sind gerade in pluralen Gesellschaften eine politische und rechtliche Aufgabe, und eine der zentralen Voraussetzungen ist die wirksame Unterbindung von Diskriminierung. Diskriminierung entsteht, wenn Differenzen keine Unterschiede sind, sondern Hierarchien widerspiegeln oder aufrechterhalten, wenn also die Anderen nicht nur anders sind, sondern schlechter und weniger wert als die Angehörigen der Eigengruppe,2 und wenn individuelle Lebenschancen, die Möglichkeit der Teilhabe und die Verteilung wesentlicher gesellschaftlicher Ressourcen dieser Abwertung folgen. Strukturelle Diskriminierung ist ferner dadurch gekennzeichnet, dass soziale Hierarchien naturalisiert werden und damit als gesellschaftliche Normalität erscheinen, als läge es in der Natur, in den Körpern, Eigenschaften, typischen Verhaltensweisen von People of Colour, Frauen* oder Menschen mit Behinderungen, dass sie nicht gleichermaßen teilhaben, entscheiden, verdienen oder frei sein können. Diversitätskonzepte, die solche gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse ignorieren oder ihre Effekte als vorfindliche Vielfalt verharmlosen, ohne wenigstens ein normatives Korrektiv anzubieten, tragen im Zweifel selbst zu Diskriminierung bei und sind jedenfalls nicht Teil der Lösung. Für die unreflektierte oder affirmative Verwendung des Begriffs »Diversität« gilt daher, was Catharine A. MacKinnon (1989: 218f.) grundlegend zur Verwendung des Begriffs »Differenzen« gesagt hat: »Differences are inequality’s post hoc excuse, its conclusory artifact, its outcome presented as its origin, its sentimentalization, its damage that is pointed to as the justification for doing the damage after the damage has been done, the distinctions that perception is socially organized to notice because inequality gives them consequences for social power. Gender might not even code as difference, might not mean distinction epistemologically, were it not for its consequences for social power. Distinctions of body or mind or behavior are pointed to as cause rather than effect, with no realization that they are so deeply effect rather than cause that pointing to them at all is an effect. Inequality comes first; difference
2
Das Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer 2002) beschreibt, wie soziale Ungleichheit durch Ideologien der Ungleichwertigkeit zementiert wird, indem Menschen auf Grund ihrer zugewiesenen Zugehörigkeit zu einer (konstruierten) sozialen Gruppe abgewertet und ausgegrenzt werden, was in Diskriminierung und Gewalt münden kann.
Die Gleichheit der Ungleichen
comes after. Inequality is material and substantive and identifies a disparity; difference is ideational and abstract and falsely symmetrical. […] Difference is the velvet glove on the iron fist of domination.« Die gedankenlose (oder auch sehr strategische) Verwendung des Begriffs »Diversität«, mit der suggeriert werden soll, es sei alles so schön bunt hier oder könne mit wenig Aufwand schön bunt gemacht werden, weil die Unterschiede zwischen Menschen doch einen wunderbaren Mehrwert der Human Resources darstellten, ist als illegitime Herrschaftspraxis entschieden abzulehnen (vgl. Eggers 2011: 258ff.). Zwar kann »fehlende Diversität« ein wesentliches Anzeichen für strukturelle Diskriminierung sein, vor allem, wenn die homogene Gruppe sich in einer privilegierten Position befindet. Dann sollte aber auch über strukturelle Diskriminierung gesprochen und diese explizit angegangen werden (Lembke 2012: 72ff.). Anderenfalls bleiben Diversität, Diversity Management oder Vielfaltsfeste nur der Samthandschuh auf der eisernen Faust der Herrschaft.
3.
Identitätspolitiken: ein politischer Kampfbegriff gegen Antidiskriminierung(srecht)
Während Bezüge auf »Diversität« in sehr verschiedener Weise stattfinden und häufig (anders Schorkopf 2017) mit einer offenen Haltung bezüglich der Möglichkeit (marginaler) sozialer Veränderungen einhergehen, hat sich der Begriff der »Identitätspolitiken« inzwischen als politischer Kampfbegriff etabliert, mit dem strukturelle Ungleichheiten nicht verschleiert, sondern Privilegierung aggressiv als Normalität behauptet und Antidiskriminierung(srecht) delegitimiert wird.
3.1
Große Erzählungen von Spaltung und Opferinszenierung
Was an Behauptungen zu diesem Zweck versammelt wird, kann und soll hier nicht rekonstruiert werden, und lässt sich andernorts als große Erzählung nachlesen (bspw. Fukuyama 2018; Kostner 2019; Lilla 2017; Schorkopf 2017). Die wesentlichen Vorwürfe scheinen zu sein, dass irgendwie vorfindliche Unterschiede zu Identitäten erklärt und damit erst politisch gemacht werden, womit aber das Politische an sich durch Moralpolitiken eliminiert oder die falschen Gruppen adressiert werden, jedenfalls aber eine Spaltung der Gesellschaft erfolgt, in der kleine Minderheiten die geduldige Mehrheit durch Op-
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ferinszenierungen terrorisieren. Angesichts des möglichen politischen Profits ist eine Anti-Identitätspolitiken-Koalition von liberalen, linksliberalen und klassenpolitischen Positionen (van Dyck 2019) entstanden, sowie inzwischen, als Zweitverwertung, auch von konservativer Seite, allerdings mit der Spezifizierung als »linke« Identitätspolitiken. Die Vorwürfe dieser Koalition überzeugen wenig. Da strukturelle Diskriminierung untrennbar mit (zugeschriebenen) Gruppenzugehörigkeiten verbunden ist, an welche angeknüpft wird, während sie zugleich durch die fortdauernde Diskriminierung bestätigt werden, ist wenig überraschend, dass Gruppen(zugehörigkeiten) auch thematisiert werden. Ebenso ist schwer zu skandalisieren, dass Abwertung und Ausgrenzung die Forderung nach Anerkennung als (freies und gleiches) Subjekt und Staatsbürger*in entgegengehalten wird, schließlich ist Anerkennung eine wichtige Dimension von Gleichheit. Und natürlich mag es identitätspolitische Gruppen geben, die sich nur für immer feinere Differenzen interessieren, denen es nur um Anerkennung geht, die sozioökonomische Fragen ausblenden und sich nicht in der Gemeinschaft verorten. Davon abgesehen, dass dies nur sehr kleine Teile der als »Identitätspolitiken« pauschal delegitimierten sozialen Bewegungen sind, die auch intern kritisiert werden, geht es der Anti-Identitätspolitiken-Koalition weder um einen Austausch über sinnvolle politische Strategien noch um die Sorge angesichts rasanter neoliberaler Individualisierung, Selbstoptimierung und Entsolidarisierung.3 Der politische Schlachtruf ist vielmehr eine Identitätspolitik weißer Män4 ner aus unterschiedlichen politischen Lagern (Purtschert 2017: 20), die ihre Privilegien verteidigen und Schuldige für das Scheitern der von ihnen präferierten Politiken – das Warten auf das Ende der Geschichte (vgl. Fukuyama 2018), die Suche nach dem wahren Amerikaner (vgl. Lilla 2017), eine liberale Demokratie, in der die Ordnung der Dinge unangetastet bleibt (vgl. Schorkopf 3
4
Die Angelegenheit wird auch nicht besser, wenn unbefangen von einer »Mehrheitsidentität« ausgegangen wird, deren Anerkennung und Förderung aber nur unter der Bedingung der Anerkennung und Förderung von Minderheitenidentitäten zulässig sei (so Baade 2017); vielmehr zeigt der Beitrag trotz interessanter Ansätze vor allem, warum (Religionsverfassungs- und Antidiskriminierungs-)Rechtsfragen nicht als Identitäten verhandelt werden sollten. Im Übrigen: Antidiskriminierungsrecht ist asymmetrisch (Baer/Markard 2018: 432f.). Es sind auch einige Personen mit dabei, die nicht dieser Beschreibung entsprechen. Wer verstehen möchte, warum das so ist, kann sich beispielsweise mit dem Konzept hegemonialer Männlichkeit von Connell (1995) auseinandersetzen.
Die Gleichheit der Ungleichen
2017), Integration und Gerechtigkeit durch Leistung (Kostner 2019) – identifizieren wollen. Dieser Diskurs ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen, indem der Vorwurf der Identitätspolitiken nun nahezu beliebig gegen jede Form als irgendwie links-grün-feministisch definierbarer Politiken in Stellung gebracht wird, mehr aber noch, indem eine beispiellose Opferbeschuldigung entfaltet wird. Um sich nicht mit eigener Privilegierung und der strukturellen Diskriminierung der Anderen auseinandersetzen zu müssen, werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Wer gegen Sexismus, Rassismus, Homophobie oder neoliberale Behindertenfeindlichkeit eintritt, soll selbst die Ursachen für eben diese Phänomene setzen, wer als hiervon betroffene Person auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam macht, Teil einer Opfer-Verschwörung sein, welche die heimliche Herrschaft innehat. Dies ist mehr als eine Politik to add insult to injury. Als deutlich wurde, dass Gleichheit als Versprechen der Aufklärung und Leitbild einer neuen Zeit nur für wenige gelten sollte, wurde der Widerstand der Ausgeschlossenen und Entrechteten öffentlich, in den Aufständen von Saint Domingue/Haiti, auf den Barrikaden von Paris, in den sozialen Bewegungen in Deutschland. Schon dieses Öffentlich-Werden (ohne jede Durchsetzungschance) war ein wesentlicher Akt des Widerstandes. So wurde der Ausschluss der (Ehe-)Frauen von politischer Teilhabe, Staatsbürgerschaft und Rechtssubjektivität weder in den Menschenrechtserklärungen noch Gesellschaftsvertragstheorien explizit verhandelt, sondern durch Verweis ins Private und Familienrechtliche vollzogen und als »natürliches Verhältnis« politisch dethematisiert (Wapler 2016; Wilde 2009). Widerstand dagegen war als Widerstand gegen die Natur ausgeschlossen, weil dort weiter das Recht des Stärkeren galt; heute wird behauptet, solcher Widerstand vernichte »das Politische« (vgl. Schorkopf 2017), in dem sich nun das Recht des Stärkeren (der Mehrheit) entfaltet. Auch andere Pfadabhängigkeiten fallen ins Auge: So wie einige Philosophen der Aufklärung die Ehefrauen nach Ausschluss und Entrechtung zynisch zu heimlichen Herrscherinnen im Hause umdefinierten, die durch ihren Ehemann alle politischen Ziele erreichen könnten, werden Betroffene von struktureller Diskriminierung und Gewalt heute als (all)mächtige Akteur*innen von Moral- und Läuterungspolitiken (vgl. Kostner 2019) inszeniert. Für den vorliegenden Kontext mag der Hinweis auf die intellektuelle Unredlichkeit solchen Vorgehens genügen.
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3.2
Identitätspolitiken versus Arbeiterklasse?
Ein anderer Strang der Debatte hebt sich von einer Fortsetzung exklusiver Aufklärungsrhetoriken ab, indem nicht die Legitimierung bestehender Herrschaftsverhältnisse, sondern die vorgebliche Behinderung des Kampfes gegen soziale Ungleichheit im Zentrum steht: »Some people believe that at times like this, the correct approach is to abandon ›identity politics‹ and speak, instead, about class and only class. Even on the notional left, the usual suspects are at pains to point out that geopolitical disaster could have been avoided if we had all been less precious about gay rights and women’s rights and Black Lives and concentrated on the issues that matter to real people. Real people meaning, of course, people who aren’t female, or queer, or brown, or from another country. You know, the people who really matter« (Penny 2017: 2). Wer die Arbeiterklasse bemüht, um antirassistische, queere, feministische oder sonstige Politiken gegen Diskriminierung als »Identitätspolitiken« zu delegitimieren (bspw. Heisterhagen 2018: 15ff., 158ff.), kann Teil der übergreifenden »Anti-Identitätspolitiken-Diskursgemeinschaft« bleiben, weil es um »the people that really matter« geht, ob sie nun als »Arbeiterklasse« oder zutreffender in anderer Weise beschrieben werden. Weder diesseits noch jenseits des Atlantiks erringen Rechtspopulisten ihre Erfolge allein durch die abgehängten Arbeiter (wer immer das sein mag – vgl. Ippolito 2019), sondern als weiße, rassistische, antifeministische Identitätspolitiken – die weder Ungleichheit noch Entpolitisierung wirksam adressieren (Dormal/Mauer 2018). Soziale Ungleichheit und strukturelle Diskriminierung weisen wesentliche Überschneidungen auf (vgl. Degener et al. 2008), weshalb wenig einleuchtet, das Eine gegen das Andere auszuspielen. Wer auf der hierarchisch unterlegenen Seite der gesellschaftlichen Strukturen steht, die mit Diskriminierungskategorien beschrieben bzw. identifiziert werden können, ist meist auch sozial nicht gerade privilegiert, so dass wirksame Antidiskriminierungspolitiken weit überwiegend sozio-ökonomisch benachteiligten Personen zugutekommen. Aktuell zeigt die Corona-Krise, wie eng soziale Ungleichheit und Diskriminierung zusammenhängen. Der gern erhobene Vorwurf neoliberaler Vereinnahmung und Komplizenschaft trifft auf viele Momente emanzipatorischer Bewegungen zu, ist aber kein universales Merkmal irgendeiner hegemonialen Identitätspolitik. Vielmehr gehen Politiken, welche sich neoliberaler Vereinnahmung widersetzen, rasch unter und werden unsichtbar. Linken Bewegungen ist es unbenommen, in solidarischem Ressourceneinsatz die Sichtbarkeit, eigene Stimme und po-
Die Gleichheit der Ungleichen
litischen Durchsetzungschancen von Pflegerinnen, Kassiererinnen, Erzieherinnen etc. zu unterstützen (hierzu Bolz et al. 2019), und es wäre höchst erfreulich, wenn sie es endlich täten, statt sich über Frauen in Aufsichtsräten zu erregen. Immerhin sind geschlechtsblinde linke Bewegungen seit Jahrzehnten mit mindestens drei feministischen Grundsatzfragen konfrontiert, die noch vor der Weltrevolution zu beantworten wären: die nach un(ter)bezahlter Sorgearbeit, die nach geschlechtsspezifischer Gewalt und die nach der Möglichkeit des weiblichen politischen Subjekts. Angesprochen sind damit revolutionäre Veränderungen in den Bereichen Ökonomie, Körper, Freiheit, Politik, was sich auch mit all der Mühe, die derzeit darauf verwandt wird, nicht in »kulturelle Identitätspolitiken für Frauen« umdeuten lässt.
3.3
Feministische Bündnispolitiken, strategischer Essentialismus und post-kategoriales Antidiskriminierungsrecht
In feministischen Diskursen selbst gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheit zum Sinn von Bündnispolitiken und Identitätspolitiken, zu Gleichheit und Differenz und zu strategischem Essentialismus und seinen unerwünschten Nebenwirkungen.5 Nicht selten werden auch hier politische Misserfolge auf subversive Identitätspolitiken projiziert, was die durchaus berechtigte Kritik an Fragen des dafür notwendigen kulturellen und sozio-ökonomischen Kapitals – »doing gender« als »doing inequality« (Villa 2011: 134ff.) – überdecken kann. Für feministische Rechtswissenschaft und Antidiskriminierungsrechtsdogmatik bleibt das »feministische Dilemma« bzw. »Kategoriendilemma« eine wesentliche Herausforderung. Diese Figur beschreibt die Problematik, dass rechtliche Regelungen an bestimmte Kategorien anknüpfen, um Diskriminierung anhand dieser Kategorien wirksam zu unterbinden, damit aber zugleich an der Konstruktion von Kategorien und damit verbundenen Gruppen(zugehörigkeiten) mitwirken (Schmidt 2012: 84f.; Mangold 2016: 165f.). Um das Kategoriendilemma zu entschärfen, wird im Antidiskriminierungsrecht über post-kategoriale Ansätze nachgedacht (Lembke/Liebscher 2014; Liebscher et al. 2012). Postkategoriale Ansätze wollen nicht Diskriminierungskategorien abschaffen, die wesentliche gesellschaftliche Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse benennen. Vielmehr geht es um einen dogmatischen Turn, der vermeidet, betroffene Personen den jeweiligen Kategorien 5
Zur Aneignung abgewerteter kollektiver Identitäten als emanzipatorisches Projekt und dessen Herausforderungen siehe Kastner/Susemichel 2019; Purtschert 2017.
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oder Gruppen zuzuordnen – wobei im schlechtesten Fall vor allem Stereotype über diese Gruppen wiederholt werden –, und stattdessen auf die gesellschaftlichen Zuschreibungen und Dynamiken von Diskriminierung fokussiert.6 Identitätspolitiken stellen sich als eher kontraproduktiv für dieses Anliegen dar. Der damit notwendig verbundene dogmatische Perspektivenwechsel von der Zugehörigkeit zu benachteiligten Gruppen hin zu benachteiligenden Kategorisierungen und hierarchisierenden Zuordnungen sollte auch durch gesetzgeberische Aktivitäten unterstützt werden. Diskriminierung sollte deutlicher definiert werden als Stigmatisierung, Benachteiligung, Ausgrenzung von Teilhabe, Anerkennung und Ressourcen auf Grund historisch gewachsener, struktureller gesellschaftlicher Ungleichheiten (Lembke/Liebscher 2014: 284). Zwar sind im Antidiskriminierungsrecht aufgeführte Kategorien recht zuverlässige Indikatoren für Diskriminierung, doch sollte das dynamische Element der Diskriminierungsprozesse auch in Rechtstexten abgebildet werden, so insbesondere durch die Ersetzung des »Rasse«-Begriffes durch ein Verbot rassistischer Diskriminierung (Cremer 2010; ders. 2020). Wegweisende Entscheidungen zur Geschlechtsdiskriminierung wie auch die Definition von Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention können wichtige Vorbilder für eine adäquate Konzeption dynamischer rechtlicher Diskriminierungsverbote sein.
3.4
Liberale Identitätspolitiken zur Verteidigung von Privilegien
Die Delegitimation unter dem Label »Identitätspolitik« stellt die Errungenschaften emanzipatorischer Bewegungen grundsätzlich in Frage, die Definitionen von Politik herauszufordern (»das Private ist politisch«, hierzu Wapler 2016), inzwischen, indem behauptet wird, es handele sich um Moral und deshalb das Andere der Politik. Identitätspolitiken zur Verteidigung von Privilegien beziehen sich gern auf das allgemeine Wohl, werfen den Anderen Partikularismus und Tribalismus vor und nehmen das universalistische Versprechen
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Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht fokussiert nicht auf Vorsatz oder Charakter und schließt vor allem mittelbare Diskriminierung nicht aus, wie Mangold (2016: 165) offensichtlich befürchtet, im Gegenteil dürfte es bspw. einfacher sein festzustellen, dass der Effekt einer rassistischen Diskriminierung eingetreten ist, als zu ergründen, ob eine Diskriminierung »auf Grund der [nicht existenten] Rasse« vorliegt.
Die Gleichheit der Ungleichen
der Moderne als vorfindliche Empirie statt als normatives Leitbild. So können auch die seit der Aufklärung mit erheblicher Schlagseite konzipierten Vergesellschaftungsmittel wie das allgemeine Gesetz, Verfahren der Entscheidungsfindung oder sozialstaatliche Modelle erfolgreich der Kritik entzogen werden. Aus marginalisierter Perspektive wird dagegen das scheinbar Universale und Allgemeine, die Normalität, als Privileg enttarnt und kritisiert (van Dyk 2019). Für die Allgemeinheit sprechen zu können, ist eine klar privilegierte Position (Purtschert 2017), und Gleiches gilt für die freie Entscheidung, ob eine »eigene Identität« im politischen Diskurs markiert wird oder nicht. Als Beispiel: Mehrheitsethnisierte Identitäten sind in der Regel unmarkiert (Haritaworn 2005: 24), der durchschnittliche Staatsrechtslehrer muss sich selbst nicht als weiß wahrnehmen. Aus der Position der privilegierten nicht markierten Identität können »neotribale Diversität« und »totalitäre Identitätspolitiken« als Gefahren für eine liberale Demokratie ausgemalt werden, in welcher es nicht mehr braucht als eine (nationale) Gemeinschaft, welche nach gewissen Regeln durch politische Mehrheiten verbindliche Entscheidungen trifft und die Existenz der politischen Minderheit toleriert, sowie Gesetzesbindung und individuelle Freiheiten durch die Grundrechte (exemplarisch Schorkopf 2017). Wie jedes Modell, das sich weder seinen Voraussetzungen noch Wirkungen widmen muss, besticht es durch seine Einfachheit, indem es wesentliche Fragen ausspart. Als ich mich vor einigen Jahren bei der Befassung mit Diversität und Diskriminierung für Kelsens Demokratiemodell ausgesprochen habe, war dies eine Antwort auf die empirische Heterogenität der Bevölkerung in Abgrenzung zu Schmittschen Homogenitäts- und Vernichtungsfantasien (Lembke 2012: 66f.), nicht aber eine Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen der Funktionsfähigkeit repräsentativer Demokratie in pluralen Gesellschaften (grundlegend Mangold 2020; ferner Röhner 2019), für welche ich vielmehr auf die Notwendigkeit eines umfassenden und wirksamen Antidiskriminierungsrechts verwiesen habe. Das Modell einer liberalen Demokratie, welche ihre Bedingungen nicht reflektiert, erweckt dagegen den Eindruck, dass nur der sog. freie Wettbewerb um politische Einflussnahme, ökonomische Ressourcen und kulturelle Bedeutsamkeit erlaubt sein soll, bei dem man(n) bereits durch Geburt, Geschlecht oder sozio-ökonomischen Status wesentliche Vorteile hat. Eine solche Position ist verständlich, aber politisch inakzeptabel, und taugt als Grundlage rechtswissenschaftlicher Diskurse schon gar nicht. Vielmehr braucht jedes demokratische Modell Antworten auf die Fragen struktu-
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reller Diskriminierung, welche politische Teilhabe faktisch verhindert und das Konzept gleicher Staatsbürger*innenschaft ad absurdum führt. Genau darum geht es auch den als Identitätspolitik kritisierten Positionen. Ihr »emanzipatorisches Kernanliegen« ist »eine Politik der Antidiskriminierung und Herrschaftskritik, die Partei ergreift für alle, denen eine Existenz als Subjekt unter Gleichen verwehrt wird« (van Dyk 2019: 25) und damit eine conditio sine qua non demokratischer Gemeinwesen.
4.
Diskriminierung: rechtlich relevante Ungleichheiten
Wenn soziale Hierarchien als »Diversität« verharmlost oder »Identitätspolitik« als politischer Kampfbegriff genutzt wird, um Diskriminierung in kulturelle Anerkennungsspiele umzudeuten oder vollständig unsichtbar zu machen, stellt sich aus rechtswissenschaftlicher Sicht die entscheidende Frage, welche direkt oder indirekt thematisierten Ungleichheiten und »Unterschiede« denn nun rechtlich relevant sind.
4.1
Unterschiede, die einen Unterschied machen
Die Problematik von »Diversität« wie von »Identitätspolitiken« ist, dass mit diesen Begriffen die Unterscheidung zwischen rechtlich relevanten und rechtlich nicht relevanten Unterschieden massiv verunklart wird. Es ist nicht Aufgabe des Antidiskriminierungsrechts, jede soziale Ungleichheit zwischen Menschen durch wahlweise formale Gleichbehandlung oder gleichheitsorientierte Ungleichbehandlung, gezielte Förderung oder sonstige geeignete Maßnahmen auszugleichen. Ohnehin gibt es viele Unterschiede zwischen Menschen, die Staat und Recht überhaupt nichts angehen. Im Sinne des Antidiskriminierungsrechts sind Unterschiede dann relevant, wenn sie ein strukturelles gesellschaftliches Hierarchieverhältnis anzeigen (Baer 1995), unabhängig davon, ob diese »Unterschiede« Menschen anhaften, von ihnen angenommen oder ihnen zugeschrieben werden (Baer/Markard 2018: 429). Diskriminierungskategorien markieren historisch gewachsene und weiter fortwirkende, strukturelle (überindividuelle) Hierarchieverhältnisse und damit rechtlich relevante soziale Ungleichheiten. Nicht zufällig sind in den Katalogen von Kategorien des Antidiskriminierungsrechts auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene Benachteiligungen auf Grund von Geschlecht, rassistischer Zuschreibungen,
Die Gleichheit der Ungleichen
Behinderung oder der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit verboten. Diese Kategorien strukturieren viele Gesellschaften grundlegend und entscheiden ohne weiteres Zutun der Betroffenen über ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe, die ihnen tatsächlich zukommenden Rechte, ihr materielles Wohlergehen oder auch ihre physische und seelische Integrität. Anhand dieser Kategorien werden Gruppen gebildet, denen pauschal bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, die dann auch jedes Mitglied der Gruppe aufweisen soll, unabhängig von der individuellen Verfasstheit. An diese zugeschriebenen Eigenschaften und Verhaltensweisen knüpfen sich Nachteile, die zunächst generell alle Gruppenmitglieder betreffen. Die verbotenen Benachteiligungen wirken sich zwar individuell aus, die Diskriminierung ist aber nicht individuell begründet, sondern beruht auf sozialen Hierarchisierungen und der Schaffung von Gruppen, deren (zugeschriebene) Mitglieder abgewertet, ausgegrenzt, benachteiligt und entrechtet werden (vgl. Baer 1995; Degener et al. 2008; Sacksofsky 1991). Diskriminierungskategorien beschreiben rechtlich relevante Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, nicht unterschiedliche Identitäten, und sind einschlägig, wenn tatsächliche oder behauptete Unterschiede strukturell hierarchisiert und anhand des dadurch entstandenen Gefälles gesellschaftliche Ressourcen wie Anerkennung, Chancen, Integritätsschutz, materielle Güter oder Teilhabemöglichkeiten verteilt werden.
4.2
Dimensionen von Diskriminierung jenseits symbolischer Abwertung und das Recht
Diskriminierung erfolgt in verschiedenen Dimensionen, zu denen symbolische Abwertung und Ausgrenzung, Ausschluss von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe, erhebliche Benachteiligung bei der Verteilung von Ressourcen, Ausschluss von Wohlstand und/oder Wohlfahrt, Bedrohung und Gewalt gehören (vgl. Baer 2009). Diskriminierung ist niemals »nur« kulturell oder symbolisch, sondern immer auch materiell, physisch, körperlich, ökonomisch. Zur Anschauung: Personen, die nicht der gesellschaftlichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit entsprechen, sind nicht nur davon betroffen, dass das Recht sie nicht als Gleiche anerkennt, indem beispielsweise nicht adäquat geregelt ist, wie sie eine Partnerschaft rechtlich absichern oder wie sie Eltern werden können. Traumatisierende geschlechtsanpassende Genitalopera-
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tionen an intersexuellen Kleinkindern werde weiterhin nicht strafrechtlich verfolgt. Trans*Personen sind nicht nur einer weitaus höheren Gewaltbelastung ausgesetzt als geschlechtlich konforme Personen, sie werden auch deutlich unterwertig zu ihren Qualifikationen beschäftigt, sind häufiger arbeitslos, leiden unter Altersarmut und werden gesundheitlich deutlich schlechter versorgt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die personenstandsrechtliche Anerkennung von Trans*- und Inter*-Personen ist eine wichtige Grundlage für die Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt, die auf geschlechtlichen Normierungen beruhen, sie löst aber die angesprochenen Probleme nicht. Dazu braucht es u.a. wirksames Antidiskriminierungsrecht im Arbeitsleben und Gesundheitsbereich und wirksames Gewaltschutzrecht. Der Eindruck, dass bspw. Trans*Personen nur an der gerichtlichen Durchsetzung von Identitäts- und Anerkennungsfragen gelegen sei, kann nur erweckt werden, weil ihnen die Rechtspraxis mehr eben nicht zugesteht.7 In seinen – durchaus revolutionären – TSG-Entscheidungen hat das BVerfG zwar begonnen, Trans*Personen eine Rechtsposition gegen Abwertung und Ausgrenzung zu gewähren (hierzu Adamietz 2006). Diese blieb aber eine individuelle, zur Pathologisierung hin offene und auf die Anerkennung einer spezifisch beschriebenen Identität beschränkte Rechtsposition (vgl. Lembke 2018: 215). Theoretisch hätten Trans*Personen natürlich versuchen können, auch gegen ökonomische Nachteile, gesundheitliche Unterversorgung und mangelnden Schutz vor Gewalt als Ausdruck mittelbarer struktureller Diskriminierung vorzugehen. Da aber jenseits von Teilzeitarbeit in Deutschland faktisch kein rechtlicher Schutz gegen mittelbare (Geschlechts)Diskriminierung besteht (vgl. Sacksofsky 2010; Lembke 2019: 20ff.), war der Verzicht auf Versuche der Rechtsmobilisierung nachvollziehbar. Umso bemerkenswerter ist, dass die Rezeption der sog. Dritte Options-Entscheidung des BVerfG (2018) im rechtswissenschaftlichen Diskurs die Dimension der Geschlechtsdiskriminierung weitgehend ignoriert und auf den Schutz der Geschlechtsidentität fokussiert, der aber – siehe TSG-Entscheidungen – gar nicht neu ist (Lembke 2018: 214ff.).
7
Auch medial funktioniert eine Schlagzeile zu Unisex-Toiletten oder Trans*-Identität allemal besser als Berichterstattung über mangelhafte Gesundheitsversorgung, ökonomische Ausgrenzung oder alltägliche transphobe Gewalt.
Die Gleichheit der Ungleichen
4.3
Formale und materiale Gleichheit: Anerkennung, Schutz, Ressourcen und Teilhabe
Den als »Identitätspolitik« gelabelten kritischen Bewegungen wird eine Essentialisierung von Differenz unterstellt und dagegen formale Gleichheit stark gemacht. In der deutschen Grundrechtsdogmatik dreht sich meist alles um Un/Gleichbehandlung und ihre Rechtfertigung, was zur Frage des Abbaus struktureller gesellschaftlicher Hierarchien äußerst wenig beiträgt, und jeder innovative Ansatz (bspw. Adamietz 2011; Baer 1995; Baer/Markard 2018; Sacksofsky 1991) wird seit Jahrzehnten durch absurde Quotendiskussionen erstickt. Formale Gleichheit ist ein wichtiger Aspekt von Antidiskriminierungsrecht, als alleiniges Mittel zur Bekämpfung struktureller Diskriminierung aber völlig nutzlos bzw. kontraproduktiv. Formale und substantielle Gleichheit sind das Ziel, also eben nicht nur Anerkennung, sondern tatsächliche Teilhabe und Zugang zu Ressourcen, sowie die Abwesenheit von stereotypen Zuschreibungen, Diskriminierung und Gewalt. Der zuständige Ausschuss (CERD 2009: 3) hat dies für die UN-Anti-Rassismus-Konvention zusammengefasst: The Convention »is based on the principles of the dignity and equality of all human beings. The principle of equality underpinned by the Convention combines formal equality before the law with equal protection of the law, with substantive or de facto equality in the enjoyment and exercise of human rights as the aim to be achieved by the faithful implementation of its principles.« Auch die Entscheidung des BVerfG (2018) zur sog. Dritten Option8 war deshalb revolutionär, weil sie der rechtlichen Verarbeitung als individuelle Identitätsfrage die rechtliche Verarbeitung als strukturelle Diskriminierung gleichwertig zur Seite stellte. In juristischen Zeitschriften besprochen wird sie jedoch als eine Entscheidung über Entobjektivierung und Individualisierung des Rechts und der allgemeinen Gesetze, deren grundlegende Systematik und gleichheitssichernde Funktion nun durch individuelle subjektive Identitäten zerstört werde (kritisch Lembke 2018: 216ff.). Die Dimension der 8
Personenstandsrechtlich handelt es sich um die vierte Option, da zuvor bereits die Optionen »männlich«, »weiblich« und »kein Eintrag« gegeben waren, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügten, wie das BVerfG feststellte. Dass von »dritter Option« die Rede ist, kommt auch denjenigen entgegen, die grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um extrem seltene Ausnahmen zur angeblich ubiquitären Zweigeschlechtlichkeit handele, anstatt mit dem aktuellen Stand medizinischer und biologischer Forschung Geschlecht als Kontinuum zu sehen.
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strukturellen Geschlechtsdiskriminierung zu ignorieren, dürfte leider Stand und Sichtbarkeit von antidiskriminierungsrechtlicher Dogmatik in Deutschland entsprechen. Politisch hat dies zur Folge, dass vielerorts die ohnehin obstruktiv angegangenen Maßnahmen der Frauenförderung gegen das umfassende Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts ausgespielt werden, obwohl das BVerfG (2018: 60) dieser vorhersehbaren Strategie eine eindeutige Absage erteilt hat. Zugleich wurde das Verbot der Diskriminierung von geschlechtlich nicht konformen Personen durch Minimaländerungen im Personenstandsrecht adressiert, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen weiterhin nicht entsprechen.
5.
Antidiskriminierungsrecht und soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit und Recht gegen Diskriminierung stehen nicht in einem Spannungsverhältnis, da Diskriminierung sich auf jene sozialen Ungleichheiten bezieht, die traditionell, historisch gewachsen und kontingent, aber strukturell tief verankert und auch aktuell die Gesellschaft prägend der Aufmerksamkeit staatlichen Rechts bedürfen. Seit Jahrzehnten verpflichten Verfassungs- und Völkerrecht zu effektiven staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und damit für die tatsächliche Garantie von Freiheit, Gleichheit, Würde (Baer 2009) und Teilhabe. Selbst wer weiterhin an die unsichtbare Hand des Marktes als Mittel zu sozialer Gerechtigkeit glaubt, kann nicht übersehen, dass ein funktionierender Markt auf der Voraussetzung von Freien und Gleichen als Marktteilnehmenden beruht und dass diese Voraussetzung eine Fiktion ist, die ohne politische Steuerung und ohne rechtliche Maßnahmen wie u.a. Verbraucherschutzrecht, Wettbewerbsrecht oder auch Antidiskriminierungsrecht (Baer/Markard 2018: 431f.) nicht auskommt. Zugleich ist effektives Antidiskriminierungsrecht eine Voraussetzung von gleicher politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und damit Funktionsvoraussetzung von Demokratie (Mangold 2020; Röhner 2019). Trotz seit Jahrzehnten bestehender verfassungs- und völkerrechtlicher Vorgaben ist die deutsche Antidiskriminierungsrechtsdogmatik unterentwickelt, wenige innovative Ansätze werden diskursiv und materiell ausgegrenzt. Die Staatsrechtslehre wie Rechtsprechung hat Art. 3 Abs. 3 GG jahrzehntelang ignoriert und liefert teils jetzt noch dogmatische »Leistungen«, die als völlig unbrauchbar bewertet werden müssen. Dabei steht die deutsche Antidiskriminierungsrechtsdogmatik vor großen Herausforderungen: die
Die Gleichheit der Ungleichen
Implementation menschenrechtlicher Vorgaben und Konzepte, die Entwicklung einer differenzierten, wirklichkeitstauglichen und zukunftsgerichteten Dogmatik, die konzeptionelle Erfassung von Diskriminierungskategorien auch durch notwendigen Wissenstransfer, der Abschied von Vorsatz und symmetrischen Modellen, Änderungen der Fachkultur u.v.m. Die oft aggressive Unsicherheit im Umgang mit Antidiskriminierungsrecht und sozialer Ungleichheit zeigt erheblichen Professionalisierungsbedarf (zur juristischen Ausbildung Lembke/Valentiner 2020). Wer Antidiskriminierungsrecht für soziale Spaltung und gesellschaftliche Verwerfungen verantwortlich erklären will, sollte nicht nur wenigstens wissen, wovon er spricht, sondern auch selbst innovative Ansätze zum Umgang mit sozialer Ungleichheit parat haben. Das jüngst beschlossene Landesantidiskriminierungsgesetz Berlin, welches »sozialen Status« als eigene Kategorie vorsieht, wird nicht nur angesichts von vererbter Armut, signifikanter sozialer Selektion im Bildungssystem und Gewalt gegen sozio-ökonomisch unterprivilegierte Gruppen Anlass für dogmatische Innovationen geben. Interessant für eine Schärfung der Begriffe und Konzepte sind auch die Diskussionen um Benachteiligungen auf Grund »ostdeutscher Herkunft« (Liebscher 2019) – zwar handelt es sich um erhebliche soziale Ungleichheiten, allerdings sind diese jüngeren Datums und auf bestimmte Bereiche wie politische Teilhabe, Vermögen, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und kulturelles Kapital beschränkt, Passing ist fast immer möglich, physische Gewalt droht grundsätzlich nicht, so dass fraglich ist, ob Antidiskriminierungsrecht mobilisiert werden muss oder andere Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf verfestigte soziale Ungleichheit. Bemerkenswert ist allerdings, wie sehr der Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit auch hier auf Kränkungen und kulturelle Abwertung gerichtet, materielle Exklusionen und Ressourcenumverteilungen aber ignoriert werden, als wäre das Stigma nur ein interessantes kulturelles Phänomen und nicht auch die Rechtfertigung und diskursive Einbettung profunder ökonomischer Benachteiligung und Deprivation. Die soziale Spaltung in Deutschland schreitet fort und wird sich im Zuge der Bewältigung der Corona-Pandemie beschleunigen, darüber kann keine Diversitätsrhetorik hinwegtäuschen. Zu große soziale Spaltungen führen zu erheblichen sozialen Verwerfungen. Antidiskriminierungsrecht leistet einen Beitrag, damit soziale Ungleichheit nicht aus dem Ruder läuft, und damit zum sozialen Frieden. Wer nichts von der Erfüllung der Versprechen der Aufklärung, von Rechtsstaat oder notwendigen Voraussetzungen funktionierender Demokratie hören möchte, weil es sich um moralische Identitätspoli-
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tiken handele (da die falschen Leute sie vorbringen, sonst wäre es vermutlich abendländisches Erbe), kann vielleicht anhand dieser pragmatischen Dimension ein positiveres Verhältnis zu Antidiskriminierung finden. Für die übrigen muss der Verweis auf das geltende Verfassungs- und Völkerrecht genügen, wenn man nicht so weit gehen möchte, für den Erhalt der eigenen Privilegien das Recht gänzlich zu missachten und sich in der Identität eines privilegierten Verfassungsfeindes dauerhaft einzurichten.
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Die Gleichheit der Ungleichen
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Sinnlose Grabenkämpfe Nils Heisterhagen
Auf Twitter war von einem User nach der Niederlage von Labour und Jeremy Corbyn spöttisch zu lesen, dass Twitter die nächste Wahl verloren habe. Der Unterton war: Twitter ist weltfremd und genauso die meist junge, hippe Twitterlinke, die meint, dass sie eine Avantgarde des Wandels sei. Ist da vielleicht was dran? Radikalisiert und entfremdet sich die politisch aktive Linke vielleicht in ihren eigenen digitalen Filterblasen und Echokammern? Hat sie den Kontakt und die Sprache der breiten Masse verloren? Der Vorwurf ist nicht sonderlich neu. In der Debatte um »Identitätspolitik«, die spätestens seit der Wahlniederlage Hillary Clintons medial geführt wird, wird die thematische und habituelle »Entfremdung« der politisch aktiven Linke zu ihrer ehemaligen Stammklientel und der breiten Masse der Bevölkerung immer wieder diskutiert. Zuletzt schaltete sich jemand in diese Debatte ein, von dem man es zunächst nicht erwartete: Barack Obama. Er warnte seine eigenen Demokraten vor »certain left-leaning Twitter feeds or the activist wing of our party« (zit.n. Newburger 2019). Außerdem plädierte er für einen realistischen Blick auf das, was ist und strich die Anstrengungen für politischen Wandel heraus: »Even as we push the envelope and we are bold in our vision we also have to be rooted in reality« (zit.n. Newburger 2019). Obama beschrieb linke, onlineaffine Aktivisten auf einer Veranstaltung seiner Stiftung zudem so: »If I tweet or hashtag about how you didn’t do something right or used the wrong verb, then I can sit back and feel pretty good about myself because ›Man did you see how woke I was? I called you out!‹« (zit.n. BBC News 2019). Aber er ironisierte dieses Verhalten nicht nur, sondern kritisierte es deutlich: »If all you’re doing is casting stones, you are probably not going to get that far« (zit.n. BBC News 2019). Vielmehr machte er deutlich: »This idea of purity and you’re never compromised and you’re politically woke, and all that stuff – you should get over that
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quickly. The world is messy. There are ambiguities. People who do really good stuff have flaws« (zit.n. BBC News 2019). Diese – neue – Haltung brachte ihm auch schnell einen ermahnenden Kommentar bei der New York Times ein, der Obama für seinen »BoomerView« kritisierte. Tenor des Kommentars des Journalisten Ernest Owens war, dass Obama einfach ein alter unwissender Mann sei, der weder die Jugend noch die neue Wirklichkeit verstehe (vgl. Owens 2019). Social Media wird von Owens als Instrument des Wandels und auch als Instrument des Widerstands gegen die Boomer verstanden, also die Generation ihrer Eltern. Für Owens und junge Aktivisten geht es um eine sogenannte »Woke«-Kultur und »Call Out-Kultur« oder »Cancel-Kultur«. Es geht dabei darum, besondere Aufmerksamkeit für Diskriminierungen und »Fehlverhalten« zu haben und diese öffentliche anzuprangern, was heißt, Menschen auch direkt persönlich medial an den Pranger zu stellen (vgl. Owens 2019). Das heißt im Klartext, dass Menschen mit bestimmten Haltungen und Meinungen von Aktivisten aus dem Diskurs versucht werden heraus zu »canceln« – und zwar durch Kritik, Häme, Verunglimpfung und der Absprache legitimer Meinungen. Das ist der falsche Weg. Diese Form angeblich gut gemeinter demokratischer Hygiene macht etwas mit der politischen Kultur, die nicht die Effekte hat, die die Aktivisten intendieren. Meine These in diesem Beitrag wird nun sein, dass »Weltbildpolitik« der politischen Linke schadet und zu sinnlosen Grabenkämpfen in politischen Debatten beiträgt, die bei genauerem Hinsehen als überflüssig, kleinkariert und Raum und Bewusstsein nehmend sind. Weltbildpolitik, die keine Kompromisse und keine Schattierungen duldet, in der es nur um Like oder Dislike geht, die sorgt auch für eine zunehmende Separation in »Wir-und-Die«-Logiken, die politischen Streit unversöhnlicher machen. Wer nicht anerkennen kann – und das sowohl auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums –, dass es nicht nur schwarz und weiß, sondern auch viel Grau in der Realität gibt, der wird als Brandbeschleuniger einer politischen Dynamik wirken, die uns zurückführt in Zeiten, wo Carl Schmitts Freund/Feind-Philosophie nicht etwas aus Proseminaren politischer Theorie ist, sondern manifeste Realität politischen Umgangs. Diese Form der »Identitätspolitik« und »Weltbildpolitik« – egal aus welcher politischen Richtung sie kommt – ist aber nicht nur ein Verstärker von Schwarz-Weiß-Denkmustern, sondern gerade wenn »Wir-und-Die«-Logiken entstehen, entsteht eine politische Kultur, die mehr nach den Differenzen fragt und sie im Bewusstsein hält, als nach den Gemeinsamkeiten zu suchen.
Sinnlose Grabenkämpfe
Das führt zu sinnlosen Grabenkämpfen, die nicht sein müssten, wenn man sich zurücknehmen in der Lage ist, und die Fragen stellen kann: Wo sind Gemeinsamkeiten? Warum soll eine Identität der anderen widersprechen? Warum soll es gut sein, Differenzen zu markieren und auf der Anerkennung dieser Differenzen und Unterschiede zu pochen? Diese Weltbildpolitik und Identitätspolitik schaffen also erstens eine Atmosphäre, die politischen Streit dadurch eskaliert, dass Fronten gezogen werden, die als nicht überwindbar dargestellt werden. Zweitens führt sie zu mehr Partikularismus, weil durch sie überhaupt nicht mehr nach Gemeinsamkeiten gesucht wird. Nun führen diese sinnlosen Grabenkämpfe aber drittens auch dazu, dass wenn sie politisches und persönliches Bewusstsein (vor allem der politisch und medial Aktiven) zu sehr prägen, dass materialistische Fragen, egal ob sie sozialpolitische, wirtschaftspolitische oder geopolitische Ausprägung haben, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. Mit anderen Worten: Die Frage der Veränderung der materialistischen Realität wird unbedeutender und die Fragen danach, was »richtiges« Denken und was »falsches« Denken ist, welche »Identität« jemand hat und warum und wieso diese – angeblich – einer anderen Identität widerspricht, prägen stärker Debatten. Warum sind diese Grabenkämpfe aber eigentlich sinnlos? Ein Zitat des US-amerikanischen Ideenhistorikers Mark Lilla mag hier auf die richtige Spur führen: »Ich bin kein dunkelhäutiger Autofahrer, und ich werde nie wissen, wie er sich am Steuer fühlt. Umso wichtiger wäre es, dass ich mich auf irgendeine Weise mit diesen Menschen identifizieren kann; und die Tatsache, dass wir beide amerikanische Bürger sind, ist das Einzige, was wir mit Sicherheit gemeinsam haben. Je mehr die Differenzen zwischen uns herausgestrichen werden, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ich mich empöre, wenn er misshandelt wird« (Lilla 2017). Plakativ gesagt: Bei einem weißen konservativen Amerikaner kann man vielleicht mehr Sensibilität für Schikanierung von Afroamerikanern durch die Polizei erreichen, wenn man 100-mal den Satz aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (auf die dieser konservative Amerikaner in der Regel stolz ist) zitiert: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« Ich behaupte, dass das bei dem weißen konservativen Amerikaner, selbst einem erzkonservativen Republikaner, mehr Wirkung erzielen wird, als der Hinweis auf die fehlende Sensibilität seitens des Konservativen für die Pro-
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bleme und Anliegen von Afroamerikanern. Martin Luther King erinnerte gerade in seiner berühmten »I have a dream«-Rede an die Gründungsväter und genau diesen Satz aus der Unabhängigkeitserklärung. Tun das heute BlackLives-Matter-Aktivisten auch? Oder klagen sie das »weiße Amerika« dafür an, nicht sensibel genug und nicht genug Anerkennung für sie zu haben? Nun könnte eine feministische Aktivistin kommen und sagen: In dem Satz steht nur »men«. Frauen seien nicht gemeint – was für eine Ungerechtigkeit und ein Anerkennungsdefizit. Rein sprachlich mag das stimmen. Aber ist eine Frau nicht auch ein Mensch? Sagen wir alle »men« stehen hier für alle »Menschen«. Dann steht in der Unabhängigkeitserklärung eben, dass alle Menschen und damit auch alle Frauen gleich geschaffen sind und unveräußerliche Rechte haben. Wer also Gemeinsamkeiten sucht, findet sie auch. Die praktische Frage danach, welche »Strategie« oder – neutraler formuliert – welcher »Weg« zu mehr Humanismus, mehr Solidarität, mehr Aufklärung, mehr sozialer Gleichheit führt, geht aber nun notwendigerweise mit der Frage nach der normativ »richtigen« Philosophie einher – dieser »normative« Streit lässt sich nicht vermeiden, vielmehr muss er offen geführt werden. Die Frage also, ob sich beispielsweise linke Aktivisten auf »Anerkennungskämpfe« oder eben auf die Suche nach einen neuen Universalismus konzentrieren sollen, um das »Bessere« zu bewirken, geht notwendigerweise mit der politik-philosophischen Frage einher, welche politische Philosophie für das eigene realpolitische Agieren leitend sein soll. Und hier haben wir auf der linken Seite momentan im Grunde vor allem zwei konkurrierende Philosophien. Ich möchte behaupten, dass die politische Linke sich mit einer dieser Philosophien selbst schadet und die andere zu ihrem Leitfaden – wieder – erheben muss. Die erste Philosophie, nennen wir sie hier vereinfachend die »postmoderne« Philosophie, stellt Subjekte oder Gruppen in den Mittelpunkt. Es geht dann darum, Sichtbarkeit und Verständnis für diese Subjekte oder Gruppen zu bewirken. Es geht um ein gewisses Feingefühl. Es soll darum gehen zu verstehen, was Menschen bestimmter Ethnie, Religion, Hautfarbe, Herkunft im Inneren fühlen. Diese Form der Gefühlspolitik meint und fordert ein Anregen des öffentlichen Bewusstseins für die Lebensverhältnisse, Denkweisen und Identitäten, die diese Subjekte und Gruppen prägten. Um im postmodernen Verständnis zu bleiben, geht es um das Verständnis der Andersheit des Anderen. Der zentrale Punkt dabei ist, dass das »Andere« und damit das Differente und Verschiedene zum Dreh- und Angelpunkt dieser Philosophie gemacht wird. Es geht immer darum Feingefühl für Differenzen zu schaffen. Mit
Sinnlose Grabenkämpfe
anderen Worten: Es soll weder »eine Identität« geben, noch geht es hier um Gemeinsamkeiten. Das Besondere soll hervorgehoben werden und als dieses Besondere im öffentlichen Bewusstsein zur Schau gestellt werden, um ein »Verstehen« dieses Besonderen zu erreichen. Der andere Weg nun, nennen wir ihn hier vereinfachend die »universalistische« Philosophie, hat weniger Interesse am Besonderen, sondern vielmehr am Allgemeinen. So kann es dieser Philosophie nach nicht nur eine gemeinsame menschliche Identität geben, die zum Beispiel sich in den Worten »Mensch«, »Menschheit« oder »Bürger« äußert, sondern diese Philosophie strebt nach Verallgemeinerung. Man sucht nicht nach der Andersheit des Anderen, sondern nach dem Gemeinsamen. Anders gesagt: Sie geht von der Gleichheit aus und strebt zu ihr hin. Gleichheit meint hier keineswegs, dass Menschen nicht verschieden sind, sondern im Kern, dass sie bei allem Verschiedenem auch Gemeinsames haben – in erster Linie natürlich ihre Existenz als Mensch. Dieser universalistischen Philosophie kann man Nivellierungstendenzen vorwerfen, ihr kann man Paternalismus und einen Konformitätsdruck des Allgemeinen ankreiden – was die postmoderne Philosophie tut. Aber das Bewusstsein dieser Philosophie ist von Einheit geprägt. Diese Philosophie hinterfragt »Identitätskämpfe« nicht nur, sondern versucht herauszustreichen: Was sollen die sinnlosen Grabenkämpfe eigentlich? Diese Philosophie nimmt die »Aufklärung« insoweit ernst, dass es nicht darum geht, Feingefühl anzuspitzen, sondern darum zu begreifen, dass Aufklärung eine Praxis der Verallgemeinerung meint. War das Mittelalter noch Fürstentumdenken und partikularistischen Philosophien wie der des »cuius regio eius religio« bestimmt, und das Zeitalter des Merkantilismus danach dann von Nationalismus, brach die Aufklärung diese Partikularismen auf. Zwar schaffte es auch sie nicht, nationale Bänder zu überwinden – wie etwa Immanuel Kant es sich in seinem Traktat »Zum ewigen Frieden« erhoffte –, aber sie schuf zumindest ein Bewusstsein, dass alle Menschen als Bürger doch erst einmal sehr viel gemeinsam haben. Nun hat es diese »republikanische Identität« bislang in der Tat kaum über Nationen hinausgebracht – ganz zum Verdruss von modernen Kantianern wie Jürgen Habermas. Aber zumindest ist seit der Aufklärung dieses Bewusstsein da, dass es auch so etwas wie eine »menschliche« und »bürgerliche« Identität gibt. Die »menschliche« Identität bezeichnen wir etwa mit dem Wort »Humanismus« und die »bürgerliche« Identität oft mit dem Wort »Republikanismus«. Wir wissen also, dass über alle Unterschiede und Differenzen hin-
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weg, es immer etwas gibt, was verbindet und vereint. Etwas wovon man als gleiche Basis ausgehen und man sie auch als Gleichheit im öffentlichen Bewusstsein halten kann. Aber genau um diese Gleichheit muss es doch eben auch gehen. Es geht nicht um die Andersheit des Anderen. Es geht um das Verbindende. Und wer das anerkennt, der kann die neuen »Identitätskämpfe« in der Grundtendenz im Kern nur als sinnlos beschreiben.
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Identitätspolitik & Emanzipation Lea Susemichel
Die Kritik an linker Identitätspolitik ist derzeit laut und allgegenwärtig. Von allen Seiten wird eine »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2019a) beklagt, die nicht alleine durch die Erosion von Solidargemeinschaften und neoliberale Entsolidarisierungsprozesse geprägt sei, sondern auch durch eine Fragmentierung sozialer Bewegungen in unzählige Kleinstgruppen, die sich jeweils nur noch mit ihrer individuellen Diskriminierungserfahrung beschäftigen würden. »Identitätspolitik« ist dabei das vielstrapazierte Schlagwort, das Atomisierung und fehlende Allianzen innerhalb emanzipatorischer Bewegungen erklären soll. Der Begriff scheint als neues Buzzword den seit Jahrzehnten so beliebten reaktionären Kampfbegriff der »Political Correctness« abgelöst oder zumindest effektiv ergänzt zu habe. Doch hier wie dort handelt es sich um den Versuch – und das ist die zentrale These dieses Textes – demokratiepolitisch unverabschiedbare emanzipatorische Politiken zu diskreditieren und zu delegitimieren. Von »Snowflakes« oder »Kampfmimosen« ist die Rede, die sich in einem beständigen »Opfercontest« über »Microaggressions« und »Cultural Appropriation« empörten und die sich am liebsten nur noch in ihre »Safe Spaces« zurückziehen würden. Andreas Reckwitz spricht dementsprechend nicht nur von neuen Singularitäten, sondern auch von einer neuen Überempfindlichkeit des Subjekts, einer »Sensibilisierung des Selbst« (Reckwitz 2019b: 56), das jede Negativität und Ambivalenz vermeiden wolle und keinerlei »Ambiguitätstoleranz« mehr habe. Als Beispiele werden Triggerwarnungen in Lektüreseminaren oder vorverurteilende Social-Media-Shitstorms genannt, bei denen öffentlich Existenzen zerstört würden. Phänomene, die zwar sicherlich diskussionswürdig, aber ebenso sicher weiterhin eher die Ausnahme sind. Doch mediale Aufmerksamkeitsökonomien garantieren solch sensationalistischer Skandalberichterstattung bekanntlich mehr Beachtung als der unaufgeregten, unermüdlichen und meist unbedankten Arbeit zahlloser »identitäts-
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Lea Susemichel
politischer« Organisationen (feministische Vereine, Homosexuellenverbände, Antidiskriminierungsinitiativen etc.), die sich für Minderheitenrechte und eine gerechtere Gesellschaft einsetzen – womit sie den gesellschafts- und geschlechterpolitischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte entscheidend befördert haben. Angesichts des scharfen reaktionären Gegenwinds, der diese »Identitätspolitik« immer schon begleitet hat, können sich diese AktivistInnen übergroße Empfindlichkeiten eher nicht leisten, und ihr Engagement fällt zumeist durch langen Atem und viel Idealismus und nicht durch überspannte Grabenkämpfe auf. Bezeichnenderweise kommt es im Zuge der kollektiven Klagen über die neue Opferkonkurrenz häufig dazu, dass die Klagenden kurzerhand selbst einen Opferstatus für sich reklamieren. Es ist die Selbstviktimiserung des »alten, weißen Mannes«, der als bislang unmarkierter Standard mit Universalismusanspruch diese ungewohnte Identifizierung als tiefe Kränkung erlebt. (Quasi als Posterboy für diese Täter-Opfer-Verkehrung kann Harvey Weinstein gelten, über den es in einem New York Times-Artikel, der vor wenigen Tagen erschienen ist, heißt: »He thinks he’s the victim. He doesn’t blame himself for anything« (Feuer 2020).
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Kultur- statt Klassenkampf?
Doch neben dem Vorwurf von Opferolympiade und Überempfindlichkeit ist noch eine zweite Anklage gegen Identitätspolitik weit verbreitet: Beim Kampf gegen kulturelle Diskriminierung sei der Klassenkampf vergessen worden, heißt es1 . Die Identitätspolitiken, die ab den 1960er Jahren entstanden, also etwa die Frauen-, die Bürgerrechts- oder die LGBT-Bewegung, schienen bereits damals den »alten« Identifizierungen über Arbeit und ArbeiterInnenbewegung entgegenzustehen. Als die Forderung nach Anerkennung kultureller Differenzen vehementer wurde, sahen viele Linke darin eine Absage an die Forderung nach sozialer Gleichheit. Insbesondere seit der Niederlage Hillary Clintons bei der US-Präsidentschaftswahl ist nun die Argumentation weit verbreitet, dass sich die Linke zuletzt nur auf die Anliegen von Minderheiten konzentriert habe. Soziale Ungleichheit und deren Bekämpfung sei derweil aus dem Blick geraten. Diese 1
Die im Folgenden ausgeführte Argumentation findet sich ausführlich in Susemichel/Kastner 2018
Identitätspolitik & Emanzipation
Entwicklung habe schließlich auch den globalen Siegeszug rechtspopulistischer und ultrarechter Aufstieg befördert, wenn nicht gar verschuldet. Diese Kritik kommt aus unterschiedlichen politischen Lagern: Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der mit seiner These vom »Ende der Geschichte« in den 1990er Jahren berühmt wurde, vertritt sie in seinem neuen Buch (vgl. Fukuyama 2019). Aber auch so unterschiedliche Impulsgeber wie der Polittalker Bill Maher, die Philosophin Nancy Fraser (2017), der Soziologe Zygmunt Bauman (2009) oder die aufstehen-Bewegung um Sarah Wagenknecht haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder dieser Argumentationsfigur bedient. Linke Politik solle sich, fordert etwa auch der Politologe Mark Lilla, wieder Anliegen widmen, die »einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen« (Lilla 2016). Denn diese Themen würden nun von den Rechten besetzt, was sich bitter gerächt hätte. Auch im deutschsprachigen Raum mehren sich die Stimmen, die behaupten, die Auseinandersetzung um Identitätspolitiken — also etwa das Eintreten für eine humane Asylpolitik, Feminismus oder »Black Lives Matter« usw. — hätte die Beschäftigung mit Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ersetzt. Insbesondere die »liberalen Eliten« und der von ihnen verfochtene »progressive Neoliberalismus« (Fraser 2017: 71) hätten für eine nun von rechts besetzte »Repräsentationslücke« (Koppetsch 2019: 90) gesorgt, argumentieren auch AutorInnen wie Cornelia Koppetsch (2019) und Robert Misik (2019). In einer Vielzahl ähnlich argumentierenden Positionen wird dabei die Entgegensetzung von kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit bewusst geschürt (vgl. aktuell auch Lind 2020). Und mit diesem falschen Gegensatz wird implizit ausgeschlossen, dass soziale Ungleichheit auch durch identitäre Politiken bekämpft wurde und wird. Völlig zu Unrecht. Denn bei dieser ausschließenden Gegenüberstellung vom Kampf um soziale Anerkennung auf der einen und dem Kampf gegen soziale Ungleichheit auf der anderen Seite, werden die vielen – praktischen wie theoretischen – Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenzen mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen. Diese Kämpfe waren und sind nicht voneinander zu trennen. Denn linke Identitätspolitik ist ein Kampf um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, der an den Differenzen ansetzt, die sie verhindern. Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, dass Identitätspolitiken sowohl in der Theorie als auch in der politischen Praxis keineswegs einer Klassenpolitik entgegengesetzt wurden.
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So richteten sich etwa die feministischen Bewegungen zu allen Zeiten auch gegen weibliche Armut und formulierten eine elaborierte Ökonomiekritik, mit der sie u.a. die Anerkennung von Reproduktionsarbeit sowie eine radikale Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit forderten. Ein weiteres Beispiel ist das 10-Punkte-Programm der Black Panther Partei, das 1966 »Land, Brot, Unterkunft, Erziehung, Kleidung, Gerechtigkeit und Frieden« (Black Panther Partei 1970: 112) verlangte. Auch die Aktivisten und politischen Theoretiker Sandro Mezzadra und Mario Neumann wehren sich gegen die vereinfachte Gegenüberstellung von Identitäts- und Klassenpolitik. »Die Neue Linke, die Frauenbewegung und die Kämpfe der Migrant*innen«, schreiben sie in Jenseits von Interesse & Identität, »sind keineswegs das Gegenteil von Klassenkämpfen, sondern stehen historisch in deren Zentrum und somit auch für eine Herausforderung der objektiven Grenzen des traditionellen Marxismus und seines Klassenbegriffs« (Mezzadra/Neumann 2017: 12). Der Klassenbegriff selbst dürfe sich eben nicht darauf beschränken, das Industrieproletariat zu bezeichnen. Auch die feministische Marxistin Silvia Federici merkte dazu unlängst in einem Interview an, wie altbacken die Vorstellung dieses Gegensatzes (Identitätspolitk vs. Klassenkampf) ist: »Die Idee, dass es auf der einen Seite Kultur gibt und auf der anderen die reale Sache, ist Teil einer sehr paläomarxistischen, steinzeitlichen Konzeption von Ausbeutung und Akkumulation. Im Grunde sieht diese Konzeption Akkumulation immer noch vor allem in der Fabrik und alles andere ist ›kulturell‹« (Federici 2017: 31) Doch auch wenn die gegenwärtigen Debatten es vermuten lassen: Die Kritik an der Identitätspolitik ist nicht neu, sondern letztlich so alt wie die linke Identitätspolitik selbst. Am berühmten »Hauptwiderspruch«, also der kapitalistischen Ausbeutung, mit dessen Beseitigung sich auch alle anderen Unterdrückungsformen ganz von selbst in Wohlgefallen auflösen würden, arbeitet sich schließlich die feministische Kritik seit bald 150 Jahren ab. Denn bereits die Sozialisten der ersten Stunde hatten verlangt, dass die Genossinnen doch bitte mit ihrem feministischen Gejammer aufhören und die Reihen schließen sollten. Wenn der Sozialismus erst mal da wäre, hieß es, würde sich auch die Unterdrückung der Frauen von selbst erledigen – sie sei eben nur ein Nebenwiderspruch. Eine Prognose, die sich bekanntlich nicht bewahrheitet hat. Es wurde also damals – und das ist heute dasselbe – Schulterschluss und Solidarität genau von jenen eingefordert, die sie selbst am dringendsten gebraucht hätten und denen sie genau mit dieser Forderung verweigert wird!
Identitätspolitik & Emanzipation
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Klassenpolitiken sind Identitätspolitiken
Doch die Gegenüberstellung von identitätspolitischem Kulturkampf auf der einen und dem Kampf für soziale Gleichheit auf der anderen Seite, ist noch aus einem anderen gewichtigen Grund falsch. Denn Identitätspolitiken sind mitnichten allein Angelegenheit ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Minderheiten. Stattdessen muss die Geschichte der emanzipatorischen Identitätspolitiken mit der ArbeiterInnenbewegung ansetzen. Denn auch Klassenpolitiken sind immer Identitätspolitiken (vgl. ausführlich Susemichel/Kastner 2018). Als nämlich während der Industrialisierung ehemalige Bauern und Bäuerinnen und vormalige HandwerkerInnen in die Fabriken strömten, resultierte das in einer massenhaften Angleichung von Arbeitsverhältnissen. Diese (mehr oder weniger) identischen Produktionsbedingungen führten aber nicht automatisch dazu, dass die Menschen sich selbst kollektiv über sie definierten. Sie sahen sich als Schlosser oder Waschfrau, nicht unbedingt als ProletarierInnen. Die wahrgenommene und gefühlte Einheit der ArbeiterInnen gab es nicht – diese Identifizierung musste mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden. Das wussten auch schon die sozialistischen TheoretikerInnen. »Um die besitzenden Klassen vom Ruder zu verdrängen,« schreibt Friedrich Engels 1891 an Max Oppenheim, »brauchen wir zuerst eine Umwälzung in den Köpfen der Arbeitermassen« (Engels (1891 [1979]: 64). Bei dieser Umwälzung in den »Köpfen der Arbeitermassen« geht es um eine Identifizierung der Klasse, um das vielbeschworene Klassenbewusstsein. Dieses Bewusstsein darüber, sich in einer ähnlichen ökonomischen Lage zu befinden und kollektive Erfahrungen zu teilen, das Bewusstsein, eine Klasse für sich zu werden, wird als entscheidendes Werkzeug im Klassenkampf verstanden: Den ArbeiterInnen soll bewusst werden, dass sie wesentlich etwas gemeinsam haben. Doch die vielstimmige Anklage gegen linke Identitätspolitiken blendet diese identitätspolitische Geschichte der ArbeiterInnenbewegung völlig aus. Was sich bei der Analyse des gegenwärtigen globalen Rechtsrucks als besonders fatal erweist: Denn ob nun in der SPD oder bei Labour oder der brasilianischen Arbeiterpartei – wenn innerhalb der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund neoliberaler Paradigmenwechsel. Und keineswegs deshalb, weil sie durch die identitätspolitischen Scharmützel von Splittergruppen ersetzt worden wäre. Weder für Schwarz-
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Blau in Österreich noch für Bolsonaro in Brasilien war also das vielgescholtenen Transgenderklo auch nur irgendwie verantwortlich. Und die Kritik an Identitätspolitiken blendet noch etwas aus: Dass nämlich auch in Trumps Wahlkampf eine Art von Identitätspolitik von und für ArbeiterInnen betrieben wurde – allerdings rechte Identitätspolitik. Das konstatiert etwa die Schwarze Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche in ihrer Analyse der US-Präsidentschaftswahl (vgl. Piesche 2017). Sie widmet sich darin der vielstrapazierten rhetorischen Figur einer vermeintlichen »Rache des weißen Mannes«. Gerächt hätten sich die weißen Arbeiter eben unter anderem für die Identitätspolitik der Linken, so die These, gegen die sich Piesche vehement wendet. Denn der Begriff »Rache« impliziert, so die Kulturwissenschaftlerin, dass der Wahlsieg von Trump ein Aufbegehren gegen den vermeintlichen Gesinnungsterror der Political Correctness gewesen sei. So habe die Political Correctness den Backlash der weißen ArbeiterInnen letztlich selbst provoziert. In letzter Konsequenz wird also behauptet, dass der Widerstand gegen Rassismus die Ursache für diesen ist. Überspitzt gesagt: Weiße Arbeiter sind bloß so rassistisch, weil ihnen der Aktivismus von Black Lives Matter auf die Nerven geht. Rassismus sei demnach eine bloße Reaktion und kein gewaltiges, strukturelles Problem, das so alt ist wie die USA selbst. Doch zum Proletariat, das hier angeblich Rache übt, gehört in Wirklichkeit nicht nur der weiße Rust-Belt-Arbeiter, sondern auch die afroamerikanische Uber-Fahrerin, genau wie die Sexarbeiterin, die lateinamerikanische Nanny oder die asiatische Pflegerin. Angesichts des immer noch gewaltigen Gender und Racial Pay Gap müssten all diese Arbeiterinnen eigentlich sogar die allerersten Adressatinnen für Arbeitskampf-Rhetorik sein. Doch die von Trump hat bei ihnen nicht verfangen, 94 Prozent der Schwarzen Frauen wählten Clinton. »Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte – nämlich die schwarze und die hispanische Arbeiterschaft –, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten«, schreibt Ta-Nehisi Coates folgerichtig (Coates 2018: 8). Die Journalistin Emma Green kommt in The Atlantic nach Analyse der Wahlstatistiken der letzten US-Präsidentschaftswahl zu dem Ergebnis, dass nicht ökonomische Abstiegsangst, sondern in erster Linie Furcht vor kulturellem Wandel das entscheidende Motiv für weiße TrumpwählerInnen der Arbeiterklasse war: »Evidence suggests financially troubled voters in the white working class were more likely to prefer Clinton over Trump. Besides partisan affiliation, it was cultural anxiety — feeling like a stranger in America, supporting the de-
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portation of immigrants and hesitating about educational investment — that best predicted support for Trump« (Green 2017). Die Kritik an Identitätspolitik krankt also nicht nur an der antiquierten Vorstellung eines homogenen, weißen Industrieproletariats. Sondern auch daran, dass sie Wahlmotive auf ökonomische Prekarisierung verkürzt bzw. auf eine kosmopolitische Elitenpolitik zurückführt, die von bildungsfernen Schichten als moralisch bevormundend erlebt würde. Und sie vernachlässigt dabei völlig, dass auch Rassismus und Sexismus als uralte und kulturgeschichtlich tief verwurzelte Probleme zentrale Wahlmotive sein können. Rassistische und sexistische Denk- und Diskursmuster sind also keine bloßen Sekundärphänomene, die bei bestimmten Bevölkerungsgruppen erst durch Deklassierung, soziale Not und eigene klassistische Diskriminierungserfahrungen auftauchen. Entsprechend müssen sie auch als eigenständige Probleme (und nicht nur als die vielgenannten »Ängste und Sorgen« der »einfachen Leute«) ernstgenommen und entschlossen adressiert werden. Die identitätspolitische Geschichte der ArbeiterInnenbewegung auszublenden, erweist sich bei der Analyse des gegenwärtigen globalen Rechtsrucks als besonders fatal: Denn ob nun in der SPD oder bei Labour oder der brasilianischen Arbeiterpartei – wenn innerhalb der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund neoliberaler Paradigmenwechsel. Und keineswegs deshalb, weil sie durch die identitätspolitischen Scharmützel von Splittergruppen ersetzt worden wäre. Weder für SchwarzBlau in Österreich noch für Bolsonaro in Brasilien war also das vielgescholtenen Transgenderklo auch nur irgendwie verantwortlich. Außerdem muss zur Kenntnis genommen werden, dass es auch eine in die Jahre gekommene weiße Männlichkeit ist, die hier einen verzweifelten Abwehrkampf führt, indem sie gegen Political Correctness und Identitätspolitik wütet. Eine auch links-liberal positionierte weiße Männlichkeit, die dem globalen rechtspopulistischen »Rise of the Strongman« ganz offensichtlich nicht nur besorgt, sondern wohl auch etwas neidisch zuschaut. Und die sich auch im eigenen Lager endlich wieder jemanden »mit Eiern« (Bill Maher in seiner Talk Show Real Time) wünscht, der das Ruder männlich-tatkräftig herumreißt.
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3.
Kollektiv gegen Kollektivzuschreibungen
Doch nach dieser Beschäftigung mit der Kritik an linker Identitätspolitik scheint es angebracht, sich genauer anzusehen, was genau Identitätspolitik eigentlich ist. Linke Identitätspolitik – und nur um die geht es im Folgenden – ist (in der Regel) eine Reaktion auf Diskriminierung. Sie reagiert darauf, dass einem vermeintlichen Kollektiv bestimmte (nicht unweigerlich ausschließlich negative) Eigenschaften zugeschrieben werden. Das bedeutet also zum Beispiel, dass Frauen als irrational gelten, ihnen gleichzeitig aber auch mehr Emotionalität und Empathiefähigkeit zugeschrieben wird. Solche Kollektivzuschreibungen sind historisch kontingent, sie können wechseln und sich mitunter sogar direkt widersprechen. Dabei werden Menschen zu einer Gruppe zusammengefasst, die eine eigene ›Einheit‹ bilden soll: Identität kommt vom lateinischen idem: das bedeutet »derselbe, dasselbe«. Diese Einheit ist eine soziale Setzung. Die Menschen, die sich in ihr wiederfinden, sind nicht wirklich »dieselben«. So hat der Rassismus erst das Konstrukt »Race« hervorgebracht – nicht umgekehrt, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates es auf den Punkt bringt (vgl. Coates 2018: 10). Menschen werden also als Kollektive adressiert, ohne über diese Zugehörigkeit selbst entschieden zu haben. Diese kollektive Zuschreibung hat enorme Konsequenzen, die zwar der einzelne Mensch zu tragen hat, die aber nur aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit entstehen: Die ›gläserne Decke‹ erfährt zwar eine einzelne Frau, aber nicht deshalb, weil sie bei ihrer individuellen Karriereplanung etwas falsch gemacht hat, sondern weil sie als Teil des Kollektivs ›Frauen‹ struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist; von Faschisten verprügelt werden zwar einzelne konkrete Menschen, aber sie erfahren diese Gewalt deshalb, weil sie zuvor rassistisch kollektiviert wurden. Wenn nun also Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, liegt es nahe, sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen. Und deshalb gibt es Identitätspolitik. Den Begriff »Identitätspolitik« hat das Combahee River Collective 1977 geprägt. In einem programmatischen Statement hat dieses Kollektiv schwarzer, lesbischer Frauen verkündet: »Wir glauben, dass eine tiefgreifendste und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht« (Combahee River Collective 2019: 53). Damit war gemeint, dass die spezifische Unterdrückungserfahrung, die sie als schwarze Lesben konkret erfuhren, sich auch aus ihrer konkreten Situation als schwar-
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ze Lesben heraus am besten bekämpfen lässt – und zwar gemeinsam bekämpfen lässt. In einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezieht, erkannten sich diese Frauen nämlich nicht wieder. Denn dessen Lebensrealität entsprach nicht ihrer Lebenssituation und nicht ihren Ausbeutungserfahrungen. So erging es vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die nun ihre ganz spezifischen Diskriminierungserfahrungen zum Thema machten und sich zusammenschlossen. Für diese Identitätspolitiken war ein Wort, das auch das Combahee River Collective schon im Namen trägt, besonders zentral: kollektiv. Doch als Kollektiv auf die gemeinsam erlebte Unterdrückung zu reagieren, setzt zunächst die Akzeptanz dieser fremdbestimmten Zuordnung und Zugehörigkeit voraus. Dieses notgedrungene Akzeptieren wird von einer Eigen- und Neudefinition der zugewiesenen kollektiven Identität begleitet. Die erfahrene Unterordnung samt der abwertenden Attribute sollen zu einer nun selbstgewählten und selbstermächtigenden, positiv konnotierten Kollektividentität werden: Frauen sind nun nicht mehr das ›schwache Geschlecht‹, sondern stark und selbstbestimmt, Schwarz ist nicht mehr schlechter als weiß, sondern »Black is beautiful«, »Gay Pride« ersetzt schwul als Schimpfwort usw.
4.
Ambivalenz von Ablehnung und Affirmation
Allerdings bleibt das zentrale Dilemma jeder linken Identitätspolitik, sich dabei auch positiv auf Kategorien beziehen zu müssen, die eigentlich Anlass für die Diskriminierung sind. Identitätspolitik ist also von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet. Mit der Affirmation einher geht eine große Gefahr von Identitätspolitik: die der Essenzialisierung. Denn auch die bspw. sexistischen und rassistischen Zuschreibungen sind oft ambivalent und nicht ausnahmslos pejorativ, Frauen gelten etwa als empathisch und fürsorglich, Schwarze Männer als stark und potent. Deshalb ist die Versuchung groß, solche kontingenten Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. Der selbstbewusst getragene Afro gehört dann ebenso unauflöslich zu Blackness wie die gefeierte Gebärmutter zum Frausein. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht
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über die nötige Haarstruktur oder wie trans Frauen nicht über das geforderte Organ verfügt, bleibt ausgeschlossen. Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr. Sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind. Am Beispiel der Frauenbewegungen, die ganz zentrale identitätspolitische Bewegungen waren und sind, zeigt sich die Schwierigkeit der Suche nach einer identitären Essenz besonders anschaulich. »Bin ich etwa keine Frau?!« (Truth 1851 [2019]), fragte die ehemalige Sklavin Sojourner Truth im Jahr 1851. Mit ihrer berühmten Rede »And ain’t I a woman?!« klagte sie auf einer Frauenrechtskonvention in Ohio an, dass die soeben zum Leben erwachte US-Frauenbewegung mit ihrer Emanzipationsforderung Schwarze und versklavte Frauen nicht einschloss – und dies obwohl die US-Frauenbewegung nicht zuletzt vom Kampf der AbolitionistInnen für die Abschaffung der Sklaverei inspiriert war. Sojourner Truths Kritik markierte damit den Anfangspunkt einer Auseinandersetzung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Feminismus zieht: Für wen kämpft der Feminismus eigentlich? Wer genau waren »die Frauen«, für deren Rechte er eintrat? Oder andersherum gefragt: Wer war jeweils ausgeschlossen? 1791 etwa, als Olympe de Gouge mit ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin die Errungenschaften der Französischen Revolution auch für Frauen reklamierte? Oder als mehr als hundert Jahre später die Suffragetten das Frauenstimmrecht forderten? Von Anfang an stand die Frauenbewegung vor der fundamentalen Herausforderung, ein politisches Subjekt Frau zu bestimmen und Gemeinsamkeiten zu proklamieren, über die sich dieses Kollektiv definieren konnte. Diese Identifizierung schlug (und schlägt weiterhin) wie bei Sojourner Truth nicht nur aufgrund der Hautfarbe fehl, sondern dieses Scheitern wird im Verlauf der Geschichte des Feminismus die unterschiedlichsten Gründe haben. Arbeiterinnen fühlten sich vom bürgerlichen und Feministinnen des globalen Südens vom westlichen Feminismus ausgeschlossen, lesbische Frauen lehnen den Feminismus der Heteras als exkludierend ab etc. Ein zentraler Grundkonflikt der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Ersten Frauenbewegung war zunächst jedoch der Antagonismus zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Feministinnen. Seit damals gibt es also das Bemühen, die soziale Frage mit der »Frauenfrage«, sprich Klassenpolitik mit Identitätspolitik zu verbinden.
Identitätspolitik & Emanzipation
1888 entstand aus der Suffragetten-Bewegung in den USA der Internationale Frauenrat (International Council of Women, ICW), der die Gründung möglichst vieler nationaler Frauenverbände und ihre Vernetzung zum Ziel hatte, um möglichst breite Allianzen bilden zu können. Im Vordergrund standen dort jedoch eher gemäßigte Forderungen, neben dem Frauenwahlrecht wurden vor allem mehr Bildungs- und Berufsfreiheiten für Frauen aus dem Bürgertum verlangt, denen die Ausübung eines Berufs bis auf wenige Ausnahmen verwehrt war. Das alles hatte mit der Lebensrealität vieler Arbeiterinnen und völlig rechtloser Tagelöhnerinnen jedoch wenig zu tun, entsprechend schlecht konnten sie sich mit diesem neuen feministischen Frauensubjekt identifizieren.
5.
Nebenwiderspruch
Folgerichtig fragte die Anarchistin Emma Goldman (1869-1940) in ihrer Streitschrift »Das Trauerspiel der Frauenemanzipation« (Goldman 2013) provokant, was durch neue (in manchen Staaten erstrittene) Freiheiten wie das Wahlrecht und das Recht auf Berufstätigkeit denn schon erreicht worden sei. Insbesondere das Leben von Arbeiterinnen habe sich keineswegs verbessert, resümiert sie. Was hätten diese davon, wenn die Unfreiheit im eigenen Heim durch die der Fabrik ersetzt würde? Nach der Lohnarbeit müssten diese nun weiterhin auch noch den Haushalt führen. »Welch glorreiche Unabhängigkeit«, ätzt Goldman (2013: 183). Die Sozialistinnen setzten also auf andere identitätspolitische Strategien und Forderungen als die bürgerlichen Feministinnen. Für Clara Zetkin (18571933) »scheint es erwiesen, daß die soziale Unterdrückung der Frau mit der Entstehung des Privateigentums zusammenfällt« (Zetkin 1896 [2008]: 189), wie sie 1896 in ihrer programmatischen Rede »Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen« auf dem Sozialdemokratischen Parteitag in Gotha prophezeite. Zetkin, die gemeinsam mit Rosa Luxemburg eine wichtige Leitfigur der sozialistischen Frauenbewegung war (ihr haben wir auch den Internationalem Frauentag am 8. März zu verdanken), knüpfte an August Bebels für die proletarische Frauenbewegung höchst einflussreiches Werk Die Frau und der Sozialismus an, in dem dieser sich die »Bekämpfung der Vorurteile, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen« (zit.n. Zetkin 1896 [2008]: 189) zur Aufgabe machte.
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Zuvor hatte der Sozialismus wenig feministische Impulse gesetzt, im Gegenteil. Sogar über ein sozialistisches Verbot von Frauenarbeit wurde diskutiert, weil Frauen aufgrund der niedrigeren Entlohnung als unlautere Konkurrenz (»Schmutzkonkurrenz«) betrachtet wurden, die die Löhne der Arbeiter drücken könnten. Obgleich also Bebel in vielerlei Hinsicht mit dieser patriarchalen Parteitradition bricht, unterscheidet sich seine These zur Frauenbefreiung im Kern nicht von jener, die bereits Karl Marx vertreten hatte. Denn die Emanzipation der Frau lässt sich auch ihm zufolge nur durch den Klassenkampf erreichen, sie ist bloßer »Nebenwiderspruch«, der sich in Wohlgefallen auflösen würde, sobald nur der kapitalistische Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital aufgehoben sei. Diese berühmt-berüchtigte Nebenwiderspruchsthese geht davon aus, dass damit nicht nur die Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie überwunden wäre, sondern auch die der Frauen durch die Männer. Gemeinsam mit der sozialistischen Gesellschaft würde also automatisch auch Geschlechtergerechtigkeit Wirklichkeit werden. Nicht erst Feministinnen in Ländern des real existierenden Sozialismus, die sich trotz der »gleichberechtigten« Ausübung ihrer Vollzeitbeschäftigungen weiterhin alleine um Haushalt und Kinder kümmerten, entlarvten diese These als androzentrisches Hinhaltemanöver. (Gegenwärtige Geschlechterregimes und übelster Sexismus in vielen postsowjetischen Ländern untermauern diese Kritik übrigens weiterhin.) Bereits Zeitgenossinnen Bebels wie etwa die feministische Schriftstellerin Johanna Elberskirchen (1864-1943), die nicht nur für die Rechte von Proletarierinnen, sondern bereits damals auch für jene von lesbischen Frauen kämpfte, kritisierten diese These von der Klassenherrschaft als Urform aller Unterdrückungsverhältnisse und konterten mit der Behauptung, das Patriarchat sei die viel weiter zurückreichende Herrschaftsform. Doch für den proletarischen Feminismus liegt im Kapitalismus die Wurzel allen Übels. Denn die Unterjochung des weiblichen Geschlechts begreift auch Clara Zetkin in Anlehnung an Friedrich Engels, der sich in Der Ursprung der Familie eingehender mit dem Geschlechterverhältnis beschäftigt hat, als eine der ältesten Formen der sogenannten Klassenherrschaft. Dementsprechend wird Sexismus von Engels auch in absoluter Analogie dazu gedacht: Der Mann »ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat« (Engels 1884 [1962]: 75). Die Konsequenz aus dieser Parallelsetzung ist für die Identitätspolitik der proletarischen Frauenbewegung von großer Bedeutung. Denn ihr Subjekt ist nicht die Frau, sondern im Anschluss an das revolutionäre Subjekt der Ar-
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beiterInnenbewegung vielmehr die Arbeiterin. Und das wiederum ist entscheidend für die Bündnispolitik. Denn Allianzen sollen – zumindest wenn es nach Zetkin geht, deren Vorstellungen maßgeblich für die Parteilinie waren – nicht zwischen Frauen unterschiedlicher Klassen, sondern mit den Männern der sozialistischen Bewegung geschlossen werden. Zetkin schreibt: »Deshalb kann der Befreiungskampf der proletarischen Frau nicht ein Kampf sein wie der der bürgerlichen Frau gegen den Mann ihrer Klasse; umgekehrt, es ist der Kampf mit dem Mann ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse« (Zetkin 1896 [2008]: 194). Zetkin pochte auf diese »reinliche Scheidung« zwischen proletarischen und bürgerlichen Feministinnen und bekämpfte alle Versuche breiter feministischer Bündnisse als »bürgerliche Harmonieduselei« (Zetkin 1896 [2008]: 187). Sehr ähnliche Argumentationsmuster wird es später auch in der Schwarzen Frauenbewegung geben, in der die Solidarität mit dem ›Brother‹ oft über jene mit weißen Frauen gestellt wurde. Die Entstehung des Black Feminism weist überhaupt einige Parallelen zu den Anfängen des sozialistischen Feminismus auf, denn auch ihre Identitätspolitik war weit komplizierter als die anderer Frauen. Wie die Sozialistinnen fühlten sich auch politisch engagierte Schwarze Frauen oft vom Chauvinismus der von Männern dominierten politischen Organisationen abgestoßen. So klagte etwa Angela Davis den Sexismus bei den Black Panther an, denen sie sich als Studentin zunächst angeschlossen hatte. Doch im Zweifelsfall verbündeten sich Schwarze Frauen doch lieber mit diesen als mit weißen Frauen, teilten sie doch mit den Männern ebenfalls eine Unterdrückungserfahrung – die entscheidendere, wie viele fanden. Viele Frauen erlebten entsprechend einen veritablen Interessenskonflikt zwischen Women’s und Black Liberation – der eben nicht selten zugunsten der Black Community ausging, trotz aller feministischen Kritik an dieser. So berichtet etwa Audre Lorde von einem vergeblichen Versuch, Schwarze Frauen feministisch organisieren zu wollen, bei dem sie zur Antwort bekam: »Du bist ja total wahnsinnig, unsere Männer brauchen uns doch!«, »Nein, wir können nicht als Frauen zusammenkommen. Wir sind Schwarze« (Lorde 1993: 43). Auch im Statement des Combahee River Collective heißt es, dass sich das Kollektiv zwar lesbisch und feministisch definiere, aber dennoch solidarisch mit fortschrittlichen Schwarzen Männern fühlen würden. »Unsere Lebensrealität als Schwarze Menschen erfodert, dass wir Solisarität rund um Race aufbauen, eine Notwendigkeit, die zwischen weißen Frauen* und weißen Männern, selbstverständlich nicht erforderlich ist, außer es handelt sich um eine nega-
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tive Solidarität als rassistische Unterdrücker*innen« (Combahee River Collective 2019: 54). Doch im Zentrum feministischer Kritik von Schwarzen Frauen und Women of Color stand unabhängig davon, welche Identitätspolitik sie an die erste Stelle setzten, stets die multiple Unterdrückungserfahrung, die sie im Unterschied zu den »white sisters« erleben. Angela Davis hatte mit ihrem paradigmatischen Werk Women, Race & Class (David 1983) diese »Triple Oppression« zum Thema gemacht und die US-Soziologin Patricia Hill Collins hat mit dem Konzept der »Multiple Jeopardy« und dem »interlocking system of oppression« den von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff Intersektionalität vorbereitet (vgl. zusammenfassend Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010). Bei dieser Mehrfachdiskriminierung ist entscheidend, dass sich die verschiedenen Repressionsformen nicht einfach addieren, sondern dass sie miteinander verschränkt sind und einander wechselseitig verstärken und stützen. Auch hier gerät die Mitschuld privilegierter Frauen, die zur Stabilisierung dieses Systems beitragen, verstärkt in den Fokus. Explizit an weiße Feministinnen richtet sich entsprechend auch bell hooks Kritik, dass der weiße Mittelschichtsfeminismus Class and Race bislang weitgehend unberücksichtigt lassen würde. Hier wiederholt sich also erneut ein Konflikt, der bereits beim sozialistischen und beim Schwarzen Feminismus zentral war: Wenn Frauen von intersektionaler Diskriminierung betroffen sind, wem gilt dann im Zweifelsfall die identitätspolitische Solidarität? Und welche Konsequenzen hat es erst, wenn die Identitätsanteile sich weiter vervielfältigen? Audre Lorde hat mit ihrer berühmten Selbstbezeichnung als »black lesbian feminist mother poet warrior« schon früh unmissverständlich klar gemacht, dass es auch mit zwei Identitätskategorien nicht getan ist. Eine Erkenntnis, die vor allem für postkoloniale und queere Identitätskonzepte zentral ist. Denn das Kaleidoskop an Differenzkategorien, die es innerhalb einzelner identitätspolitischer Strömungen inzwischen gibt, ist unüberschaubar. So existieren inzwischen z.B. eine Vielzahl an Unterkategorien sogenannter non-binärer Geschlechtsidentitäten, die sich zwar allesamt weder klar und konstant männlich oder weiblich definieren, aber dennoch großen Wert auf ihre jeweils spezifische nichtbinäre Identitätskonfiguration legen, um sich voneinander etwa als genderfluid, agender, neutrois, bigender, trigender, pangender, polygender etc. abzugrenzen. Das hat zu der höchst widersprüchlichen Entwicklung geführt, dass ausgerechnet die queere Identitätskritik zu einer explosionsartigen und euphorischen Vervielfältigung
Identitätspolitik & Emanzipation
von Identitätskategorien geführt hat. Der Queerfeminismus bildet damit erstaunlicherweise den Kulminationspunkt des Widerspruchs zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität, der die gesamte Geschichte der Identitätspolitik durchzieht. Entsprechend scharf ist inzwischen die Kritik an dieser Inkongruenz. Koschka Linkerhand (2018) definiert den Queerfeminismus gar als neuen Differenzfeminismus, der mit seinem »Identitätsfetisch« solidarische feministische Politik gänzlich unmöglich machen würde. Diese Multiplikation von Identitäten verdankt sich freilich der Tatsache, dass die wenigen bestehenden Identitätsangebote viele Lebens- und Liebensformen einfach nicht vorsehen. Und selbstverständlich ist es legitim, dass Menschen auch nach einer sprachlichen Selbstrepräsentation suchen, die ihnen – buchstäblich – gerecht wird. Doch die daraus resultierende, verzweifelte Suche nach der ›richtigen‹ Geschlechtsidentität ist sehr heikel. Denn Identität gerät damit als Zwangsverhältnis wieder aus dem Blick, lautet die Kritik, und würde stattdessen plötzlich wieder als »innere Wahrheit« und als »Ausdruck der eigenen vielschichtigen Persönlichkeit liebevoll gefeiert« (Sanola 2018: 192). Selbst eine Anschlussfähigkeit an neoliberale Individualisierung wird dem Queerfeminismus deshalb vorgeworfen, was an Nancy Frasers Kritik des ›progressiven Neoliberalismus‹ erinnert, der ja auch für Fraser mit dem Aufkommen von Identitätspolitik zusammenfällt. Die queeren, vermeintlich flexibel gestaltbaren Identitäten würden perfekt zu den neoliberalen Forderungen nach Flexibilität passen, wird nun auch im Hinblick auf queere Theorie und Praxis behauptet. Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass die feministische Ökonomiekritik in jüngster Vergangenheit zu kurz kam. Allerdings lässt sich diesem Argument – wie auch schon Nancy Fraser – entgegenhalten, dass es durchaus auch eine elaborierte queerfeministische Kritik am Neoliberalismus gibt, also das Bemühen, queertheoretische Instrumentarien zur Analyse sozialer Ungleichheit fruchtbar zu machen (vgl. etwa Groß/Winker 2007).
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Radikale Solidarität
Auch der Wunsch nach Bündnissen angesichts einer zerstrittenen und zersplitterten Linken ist verständlich – und weit verbreitet. Das Unbehagen an der unterschiedslosen Vervielfältigung von Diskriminierungskategorien treibt viele linke KritikerInnen von Identitätspolitik um. In dieser Kritik ist
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ihnen zweifellos zuzustimmen, genau wie in ihrer Befürchtung einer immer unübersichtlicheren Zersplitterung und tieferen Spaltung linker Bewegungen. Doch mit ihrem Aufruf nach Geschlossenheit und Einheit fallen sie leider oft hinter vieles zurück, was die identitätspolitischen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts problematisiert haben. Denn Feministinnen (und andere Linke) machen es sich zu einfach, wenn sie heute an die frauenpolitische Reihenschließung appellieren, indem sie insistieren, dass Frauen zwar kein geteiltes Wesen, aber zumindest ein geteiltes Problem hätten. Denn es ist eben nicht nur die Annahme eines gemeinsamen Wesens falsch, sondern leider auch die eines gemeinsamen Problems. Die Facebook-Chefin Sheryl Sandberg, die mit ihrer Karrierebibel neue Maßstäbe für den neoliberalen Lean-In-Feminismus gesetzt hat und sich neuerdings als arme Alleinerziehende inszeniert, teilt mit anderen alleinerziehenden Müttern konkret wohl sehr wenige Probleme – Geldsorgen zum Beispiel, die für viele von ihnen an allererster Stelle stehen. Die Aufrufe zur Einheit und zum strategischen Zurückstellen von Differenzen sind also verfehlt, denn sie gehen ins Leere. Es gibt diese Differenzen und sie sind gewaltig. Die Lösung für eine linke Identitätspolitik muss deshalb darin bestehen, diese Unterschiede weder zu negieren noch sie notwendigerweise als trennend und sprengend zu bewerten. Wie jede Identitätspolitik muss auch sie anerkennen, dass die eigene Homogenität lediglich eine Hilfsfiktion ist und sie muss Differenz als konstituierendes und sogar konstruktives Merkmal bejahen. Dieses Eingeständnis birgt eine große Chance: Denn unterm Strich bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Ganz grundsätzlich lässt sich sagen, dass linke Identitätspolitik Marginalisierungen überwinden will, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit für immer mehr Menschen einzutreten. Und angesichts des aktuellen Bashings ist es ungeheuer wichtig, sich dieses historische Verdienst vor Augen zu führen. Nicht Spaltung ist also das Ziel linker Identitätspolitik, sondern vielmehr das, was vermeintlich verhindert wird: Solidarität. Denn bei genauer Betrachtung zeigt sich: Auch wenn Interessensgegensätze in der Geschichte der Linken gewaltige Konflikte und heftige Kämpfe zur Folge hatten: Auf lange Sicht hat der traditionsreiche ›Streit um Differenz‹ linke Bewegungen gewaltig vorangebracht und gestärkt. Denn Kritik – im besten Fall ist es freilich eine solidarische Kritik – ist ein unverabschiedbares Korrektiv, das vor Dogmatismus schützt und Egalität einklagt, wo diese
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noch nicht realisiert ist. In der Betonung von Differenzen liegt also auch eine Chance: Sie ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit für Solidarität. Radikale Solidarität basiert geradezu auf Differenzen. Sie setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann. Sie besteht nicht in erster Linie in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt. Die historisch häufig gehegte Vorstellung, die eigene Unterdrückung mache sensibler und aufmerksamer für die Unterdrückung anderer und bereite damit den Weg für breite Allianzen, ist tausendfach konterkariert worden. Bekanntlich haben marginalisierte Männlichkeiten nicht zwangsläufig eine größere Sensibilität für Sexismus und bekanntlich können auch Lesben Rassistinnen oder Schwarze Frauen homofeindlich sein. Schon in den 1980er Jahren stellte die niederländische Feministin Anja Meulenbelt (1985 [1993]: 271) ernüchtert fest: »Unterdrückung macht niemanden verständnisvoller.« Dennoch hält auch Meulenbelt am Ziel der emanzipatorischen Veränderung und an den dafür notwendigen Bündnispolitiken fest. Solidarität, meint auch die Schwarze Kulturwissenschaftlerin bell hooks, muss sich überhaupt nicht auf gemeinsame Erfahrung beziehen, sie »kann sich auf das politische und ethische Verständnis von Rassismus und die Absage an Dominanz gründen. Daraus läßt sich ersehen, wie wesentlich die Erziehung zu einem kritischen Bewußtsein ist, einem Bewußtsein, das Mächtige und Privilegierte in die Lage versetzen kann, sich der Herrschaftsstrukturen zu entledigen, in denen sie verwurzelt sind […]« (hooks 1994: 23). An diesem Glauben daran, dass auch mächtige und privilegierte Menschen sich von Dominanzkulturen distanzieren können, sollte unbedingt festgehalten werden. Er ist ein nicht bloß normatives, sondern auch ein praktisch-politisches Ideal – auf das der Glaube daran, dass eine bessere Welt möglich ist, elementar angewiesen ist. Genau deshalb müssen wir die Hoffnung verteidigen und verbreiten, dass radikale Solidarität möglich ist. Dafür ist »Identitätspolitik nur der Anfang« (Meulenbelt 1985 [1993]: 276).
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Identitätspolitik & Emanzipation
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Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft Frank Schorkopf
1.
Komplementarität von Diversität und Identität
Diversität ist über die vergangenen fünf Jahrzehnte aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der Organisationssoziologie, getragen von den Neuen Sozialen Bewegungen, zu einem vielbeachteten Gegenwartsbegriff geworden. Es handelt sich um einen Begriff, der seit den 1990er Jahren Karriere gemacht und sich in Politik, Wissenschaft, Kultur und auch im Recht verbreitet hat (vgl. Leisner-Egensperger 2004; Lembke 2012). Sogar das politische Projekt der europäischen Integration stellt Diversität in den Mittelpunkt seines Leitmotivs unity in diversity/unité dans la diversité (Ennuschat 2006). Der Begriff hat längst auch eine normative Dimension: Eine diverse Gesellschaft ist Zweck an sich − sie sei messbar produktiver, sozialer und kreativer, erklären uns wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studien, sie stehe für Wertschätzung, Toleranz und Offenheit, ist der Grundtenor liberaler politischer Kommunikation. Diversität ist eine moderne Ergänzung für einen modernen Verfassungsstaat, der sich als Mitglied der globalen Staatengesellschaft dem Leitbild einer offenen Staatlichkeit normativ verpflichtet fühlt (Schorkopf 2007: 220). Mit dem Gedanken gesellschaftlicher Teilhabe aller oder zumindest einer deutlich größeren Zahl von Menschen eines politischen Gemeinwesens, ist der Bogen zum Identitätsbegriff geschlagen: Dessen Begriffsgeschichte, die über Epochengrenzen weit zurückreicht, führt uns für den hier interessierenden Zusammenhang in die Inkubationszeit des Diversitätskonzeptes. Anfang der 1950er Jahre wird »Identität« aus der Psychologie, in der er die Selbstwerdungsprozesse von Kindern und Jugendlichen beschreibt, von den
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Sozialwissenschaften in Amerika übernommen. Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Rassendiskriminierung und den erwähnten Neuen Sozialen Bewegungen werden persönliche Merkmale wie Ethnie und Geschlecht zu Identitätsmarkern (Gleason 1983). Mit dem Identitätsbegriff wird die Suche nach dem »einzigartigen Selbst« in einer Phase der Verunsicherung beschrieben (Strauss 2019: 5; vgl. Schorkopf, 2017: 19).1 Wenngleich Identität heute auch zu einer Kategorie für soziale Gruppen − mit dem Konzept der Verfassungsidentität selbst für Staaten − geworden ist, liegen die ideengeschichtlichen Wurzeln des Konzepts damit eher im individuellen Streben nach Authentizität, einer selbstorientierten Expressivität (Taylor 1991: 25; Taylor 2012: 788). Identitätsdenken kann durchaus als gegenwärtige Emanation politischer Romantik verstanden werden. Die lebensweltlichen Rahmenbedingungen für Identitätsdenken sind die Ausdifferenzierung und Funktionalisierung der Gesellschaft, die ergänzt werden durch die seit den 1970er Jahren wirkende Internationalisierung und die zweite Entdeckung der Menschenrechte als praktisch anwendbares Argument und rechtlich verwertbare Institution (Grillo 1998: 223; Moyn 2012: 120). Die Aufmerksamkeit für Identitätsfragen übertrifft mittlerweile diejenige für Diversität. Gleichwohl stehen beide in einem komplementären Zusammenhang. Als normatives Konzept fordert Diversität die Anerkennung von Individuen und Gruppen mit gemeinsamen persönlichkeitskonstituierenden Merkmalen − ebenjenen Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Religion oder Weltanschauung, die auch Bezugspunkt für identitäres Denken sind. Diversität markiert den herrschafts- und gegenwartskritischen Anspruch, Unterschiedlichkeit in einer Gesellschaft nicht nur hinzunehmen, sondern anzuerkennen und zu fördern. Hinterfragt werden dadurch bestehende Differenzierungen in der Gesellschaft, weil die »Ordnung der Dinge« nicht das Ergebnis gesellschaftlicher Evolution, sondern intentionaler Handlungen und damit von Herrschaft ist. Diversität kann so als gesellschaftliche Reaktion gesehen werden, als Strategie der verweigerten Anpassung an die Mehrheit und die »herrschenden Verhältnisse«. Denn solange die Angehörigen von gesellschaftlichen Minderheitsstandpunkten nicht dieselben Chancen wie die Angehörigen der Mehrheitsmeinung haben, solange diese Chancen nicht für alle so gestaltet sind, dass sie nicht mehr die Präferenzen der Mehrheit reproduzieren (Eisenberg 2006: 65), hat ein »Nachteilsausgleich« stattzufinden. Mit
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Teilweise folge ich, auch wörtlich, meinen Überlegungen in Schorkopf 2017.
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft
größerer Emphase ließe sich auch von einer Selbstermächtigung des Einzelnen zu größerer Autonomie (empowerment) sprechen (Al-Haj/Mielke 2007; Andersen/Siim 2004), die strukturelle Benachteiligungen zu überwinden und die umfassendere Teilhabe aller Menschen am politischen und sozialen Gemeinwesen zum Ziel hat. In einer Zeit, in der die Scheidelinie zwischen ökonomischem und kulturellem Kapitel umgebildet wird, hin zu »kosmopolitisch und sozial verwurzelten Wissens- und Sinnorientierungen«, steht Diversität für eine neue Differenzbildung in der Gesellschaft. Das Diversitätsdenken wird befördert durch den kosmopolitischen Habitus, der repräsentative Kultur ablehnt (Albrecht 2015) und offen ist gegenüber jedweden kulturellen Praktiken und Wissensbeständen. Hierin liegt auch eine Kritik an mehrheitlich definierten Maßstäben gesellschaftlicher Normalität, überhaupt an einer Kategorie des Normalen. Diversität kann also durchaus positiv gesehen werden, als zeitgemäßer Begriff für die semantische Sichtbarmachung von Heterogenität und damit als ein Statement für Pluralismus (vgl. Fraenkel 1964 [2007]: 268). Der klassische Pluralismus und die innovative Diversität treffen sich in der gemeinsamen Ablehnung essentialistischer und statischer Einheitsvorstellungen von Gesellschaft. Niemand kann den Anspruch erheben, die Totalität der Gesellschaft zu repräsentieren. Bei Identitätspolitik geht es um die Einheitsbildung sozialer Gruppen im Wege der Selbstbeschreibung. Das die Gruppe und ihre Mitglieder zusammenführende, persönlichkeitskonstituierende Merkmal kann »objektiv unveränderbar oder subjektiv als unverändert erlebt werden« (Rixen 2013: 136). Bei letzterem besteht die Möglichkeit eines Identitätswandels. Eine Person kann − was sogar die Regel sein wird − auch mehrere Identitäten gleichzeitig haben und diese über die Zeit ändern, wie die fortgesetzten Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung zeigen (Rosa 2005: 352). Bereits aus dieser idealtypischen Gegenüberstellung wird deutlich, dass Identität nicht nur einen Prozess der Selbstbeschreibung und -wahrnehmung darstellt, sondern zugleich auf Anerkennung von außen verwiesen ist (Honneth 1992; Correll 2016). Denn der Selbstwert der Person sammelt sich gerade in dem Bild, dass das Gegenüber von ihr hat. Identitätspolitik, d.h. der öffentliche Gestaltungsanspruch, die Anerkennung der spezifischen persönlichkeitskonstituierenden Merkmale zu erreichen, ist allerdings mit einem Paradox konfrontiert. Die identitäre Gruppe definiert sich nämlich über ein oder mehrere einheitsstiftende Merkmale, während im Verhältnis zur politischen Gemeinschaft notwendig eine harte
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Differenz gesetzt wird. Diese Differenz stellt das Einheitsparadigma für die höhere Ordnungsebene gezielt in Frage. Mit anderen Worten, es wird Einheit in einem kleineren Bezugsrahmen innerhalb einer bewusst heterogenen Gesamtordnung gesucht. Identitätsdenken sei demnach, das sehen sogar Identitätsbefürworter kritisch, einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet, wobei mit letzterer die große Gefahr einer Essenzialisierung einher gehe (Susemichel/Kastner 2018: 8). Identität und Diversität stehen also für die semantische Sichtbarmachung von Heterogenität. Sie symbolisieren das konzeptionelle Modell gegen jede Vorstellung einer homogenen Gesellschaft oder einer »Abstammungsgemeinschaft« (Nickel 1999: 17) – Diversität und Identität erscheinen aus diesem Blickwinkel als intellektuelles Statement für den Universalismus und gegen institutionalisierte Partikularität, wie den Nationalstaat, – was die polarisierte gesellschaftspolitische Rezeption dieser Konzepte, deren Affirmation wie auch deren Ablehnung gerade auch in Deutschland erklärt (vgl. Hobsbawm 1996: 40).2 Allerdings lassen sich Ursache und Wirkung dabei nicht trennscharf erfassen. Denn ebenso gut ist es möglich, dass die Konzepte nicht nur auf die abnehmende Integrationskraft des Nationalstaats antworten, sondern auch eine exklusive Identitätsbehauptung fördern, indem sie Differenz- und Gemeinschaftsbildung nach der Kategorie »Ethnie« das Wort reden. Aus dieser Blickrichtung ist Diversität eine – im Theoriedenken – postmoderne Integrationsstrategie im Sinne von Einheit in Verschiedenheit als gesamtgesellschaftlichem Prozess (Grillo 1998: 227). Allerdings umfasst Diversität damit auch den Anspruch, dass sich Mitglieder einer Gesellschaft weder integrieren oder sogar assimilieren müssen, dass sie ihre Gruppenidentität beibehalten oder eine solche bilden können. Diversität antwortet damit zugleich auf die Globalisierung und bietet Kompensation für die empfundene Erosion des Nationalstaates. Identitätsdenken zielt auf die Herausbildung eines Gruppenbewusstseins, das wiederum für die Entstehung sozialen Protestes entscheidend
2
Nationale Identität, die in der europäischen Integration eine tragende Rolle spielt (siehe Art. 4 Abs. 2 EUV) kann allerdings auch als Versuch gesehen werden, das Eigentliche, das konstitutionelle Selbst eines Mitgliedstaates zu definieren, d.h. bezogen auf die Bundesrepublik, überhaupt zu akzeptieren, dass es so etwas wie Deutschsein gibt, dieser Gedanke bei Toprak 2018.
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft
ist. Da jede Identitätsforderung relational ist, sie sich zu einem anderen verhält, fordert Identität die Bestätigung einer Differenz. Identitätspolitik fordert also prinzipiell und führt zu Diversität. Diversität benennt von einem exogenen Standpunkt aus, beim Blick auf Personen und Gesellschaften, die Unterschiede, während Identität die endogene Perspektive des Subjekts markiert. Eine diverse Gesellschaft geht mit Identitätspolitik einher.
2.
Perspektiven gleicher Freiheit
Aus der rechtswissenschaftlichen Perspektive des modernen Verfassungsstaats einer liberalen Demokratie steht Diversitäts- und Identitätsdenken zunächst in der Aufklärungstradition. Es kann für sich beanspruchen, den emanzipatorischen Entwicklungspfad fortzusetzen, mehr und mehr Menschen in den demokratischen Prozess auf der Grundlage gleicher Freiheit einzubeziehen. In seiner normativen Dimension ist Diversität ein Gebot allgemeiner Gleichheit eingeschrieben.3 Diversitätsdenken ist allerdings nicht auf das »Wir« der Bürgergemeinschaft bezogen, sondern ist eine differente Gleichheit (Mouffe 2015: 52). Gleichheit wird nicht als Gebot der Statusgleichheit vor dem Recht, sondern als materielle Gleichheit gedacht. Was ist damit gemeint? Diversitäts- und Identitätdenken bedeutet einen tiefen Eingriff in die Idee von Gleichheit vor dem Recht. Denn die Gleichheit vor dem Recht bedeutet in der Demokratie westlicher Observanz stets die Akzeptanz tatsächlicher Ungleichheit als Ergebnis gesellschaftlicher Aktivität. Diese Ungleichheit ist erst im zweiten Schritt Gegenstand politischer Entscheidungen, die das Tatsächliche adressieren, die Hindernisse beseitigen und Chancen im Sinne einer Ermöglichung gleicher Freiheitschancen der Bürger verbessern sollen. Zwar knüpft Diversität mit der geforderten Anerkennung von Verschiedenheit an die ungleichen natürlichen und sozialen Lebensbedingungen an − es macht diese sogar explizit sichtbar und leistet damit einen wichtigen Beitrag, die gleiche Freiheit aller Bürger zu verwirklichen. Diversität macht diese jedoch zum Ausgangspunkt für die materielle Gleichstellung der Bürger. Das Konzept verlangt nach einer egalisierenden Ergebniskorrektur, mit anderen Worten 3
Die neuere Entscheidung des BVerfG (2019) zum verfassungswidrigen Wahlrechtsausschluss für Betreute in allen Angelegenheiten und wegen Schuldunfähigkeit untergebrachte Straftäter etwa kann in diesem Fortschrittsparadigma zugeordnet werden.
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nach Gleichheit durch das Recht oder zumindest, was aber kategorial etwas anderes ist, der »Ermöglichung einer gleich effektiven Freiheitschance« (Rixen 2013: 135). Entscheidend ist für das Denken differenter Gleichheit also die Gleichstellung der Bürger unter Beibehaltung ihrer objektiv gegebenen oder subjektiv gewählten Identität. Dies erfordert eine partikulare Behandlung in dem Sinne einer gerechtfertigten Ungleichbehandlung, um die gleichen Bedingungen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe herzustellen (vgl. Britz 2000: 134). Auch bei der Identität als Ausdruck des »einzigartigen Selbst« zeigt sich, dass die Normsetzungsstrategie der Typisierung und Verallgemeinerung, die ohnehin strengen Voraussetzungen unterliegt, in ihrem Rechtfertigungsmaßstab noch einmal verschärft wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu in der bereits zitierten Entscheidung zum Wahlrechtsausschluss für umfassend betreute Menschen im Jahr 2019 geäußert. Das Gericht stellt neben den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, in dem es um Typisierung geht, das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als zweiten, parallel anwendbaren Prüfungsmaßstab. Damit rücken Beschränkungen der Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt in den Mittelpunkt, die nach überwiegender Ansicht auch dann verfassungsrechtlich von Bedeutung sind, wenn mittelbare Benachteiligungen in Rede stehen, »bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als typische Nebenfolge einer Maßnahme der öffentlichen Gewalt darstellt.«4 Das Diversitäts- und Identitätsdenken fordert die Allgemeinheit des Gesetzes besonders heraus. Es bestätigt insoweit die These, dass die »spätmoderne Gesellschaft« aufgefordert ist, ein gesellschaftlich Allgemeines zu konstituieren (Reckwitz 2019: 290). Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen: Mit diesem Zugang differenter Gleichheit müsste der moderne Verfassungsstaat über basale Gemeinsamkeiten abstrakter Werte hinaus normative, bürgerlich-republikanische Vorstellungen von den konkreteren Voraussetzungen »guten Lebens« aufgeben (Nettesheim 2020: 155). Nicht das Allgemeine ist prägend, sondern das Besondere. Das Besondere wiederum findet sich zusammen, um durch (einstweilen) symbolische Vertretung das gemeinsame Los zu verbessern, ohne sich aber auf eine »Konstitution eines gesellschaftlich Allgemeinen« verständigen zu können. 4
BVerfG, 2019: 1205, näher zum Konzept der materiellen Benachteiligung Baer/Markard 2018.
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft
Die verbundenen Karrieren von Diversität und Identität symbolisieren in der Gegenwartsdebatte die Krise der Gleichheit und den − besonders bei progressiven Stimmen − diagnostizierten Mangel an »Gerechtigkeit«. Ist das gesellschaftstheoretische Vorverständnis des klassischen Gleichheitssatzes der Status des Bürgers mit gleichen Rechten, die gleiche Freiheit, so ist das strukturgebende Prinzip des Diversitäts- und Identitätsdenkens auf die Anerkennung von Unterschieden, auf Entpflichtung und die Gewährung von Sonderrechten gegründet.5 Die Synthese zu einer Gleichheit, die sowohl Umverteilung als auch Anerkennung herstellt, wird darüber hinaus als Desiderat gesehen (Benhabib 2014: 33; Fraser/Honneth 2003). Es ist ein beliebtes Bonmot, dass Recht und Gerechtigkeit wenig miteinander zu tun hätten. Die deutsche Rechtsordnung kann diese stets als zumeist wohlwollenden Vorwurf gemeinte Äußerung selbstbewusst mit dem Hinweis auf Art. 1 Abs. 2 GG beantworten, der immerhin ein Bekenntnis des deutschen Volkes zu »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« als Grundlage u.a. der »Gerechtigkeit in der Welt« an den Verfassungsanfang stellt. Die Menschenrechte, die konkretisiert als Grundrechte in der deutschen Rechtsordnung − und als Unionsgrundrechte in der Europäischen Union − gelten, stehen institutionell betrachtet im Dienst der Gerechtigkeit. Im folgenden Abschnitt will ich deshalb dem Gedanken, dass die Konzepte von Diversität und Identität strukturelle Nachteile bei der Verwirklichung gleicher Freiheit in der repräsentativen Demokratie ausgleichen, näher in den Blick nehmen.
3.
Vom Individuum zur Gruppe
Diversitäts- und Identitätsdenken wird in der Debatte über die angemessene Einbindung der Bürger in die Institutionen der repräsentativen Demokratie besonders virulent. Diese Debatte wird verstärkt durch die These von einer Repräsentationsschwäche im gegenwärtigen Parlamentarismus (Gabriel 2013; Decker 2006). Die Institutionen der repräsentativen Demokratie stehen vor der Aufgabe, eine Form des Umgangs mit der divers-identitären Gesellschaft
5
In der gesellschaftstheoretischen Debatte wird diese Phasenverschiebung durch die Gegensätze von Ausbeutung/Umverteilung und Herrschaft/Anerkennung codiert, siehe etwa Rosanvallon 2013: 305; Fraser 2001: 24; aus rechtlicher Perspektive Preuß 1998: 73.
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und ihren Konflikten aufzuzeigen. Die repräsentative Demokratie führt zwar zu Kompromissen, jedoch wegen der anti-essentialistischen Statusgleichheit der Bürger grundsätzlich nicht zu interessenproportionalen Ergebnissen. Die faire Chance des Bürgers und organisierter Verbände auf Teilhabe an der demokratischen Willensbildung ist nach verfassungsrechtlichen Maßstäben ausreichend. Ein Anspruch auf institutionalisierte Gestaltungsmacht besteht nur für die parlamentarische Mehrheit, während die Minderheit, vom völkerrechtlichen Sonderfall der nationalen Minderheit abgesehen, das Recht auf Mitwirkung als parlamentarische Opposition hat (Huber 2005). Nun sind Bürger, die sich in der durch die parlamentarische Mehrheit geformten und legitimierten Regelsetzung nicht wiederfinden, darauf verwiesen, fortlaufend um größere Unterstützung für ihren Standpunkt zu werben, um zukünftig parlamentarische Mehrheit zu werden. Zwischenzeitlich sind sie für ihre individuelle Freiheit auf ihre Grundrechte und deren justizielle Gewährleistung verwiesen. Wir können – und müssen – in diesem derzeit geltenden Rahmen allenfalls noch die Frage des fairen Wettbewerbs der individuellen und organisierten Interessen, d.h. der Chancengleichheit im politischen Prozess stellen und beantworten. Das Diversitäts- und Identitätsdenken lässt die Statusgleichheit des Bürgers zunächst unangetastet. Es stellt stattdessen den Begriff der Identität in den Mittelpunkt. Damit wird der Anspruch von Gruppen und deren Mitgliedern auf rechtliche und soziale Anerkennung markiert. Es geht dabei um Identifikation und somit nicht mehr um die Rolle, sondern um die Persönlichkeit des Bürgers (Henkel 2016: 430). Setzt sich eine Gruppe in der repräsentativen Demokratie nicht durch, weil sie keine ausreichende Unterstützung gefunden hat, kann dies als Zurückweisung der Gruppenmitglieder im Sinne einer Nichtanerkennung empfunden werden. So könnte eine identitäre Gruppe beispielsweise geltend machen, dass die Rechtsordnung einer liberalen Demokratie ihr Recht auf kulturelle Verschiedenheit nicht achtet, weil das von der kulturell different geprägten Mehrheit beschlossene Gesetz sie zur Aufgabe einer bestimmten Praxis zwinge.6 Die liberale Demokratie reagiert auf diese Kritik mit dem Verweis auf die Grundrechte, die nach dem subjektiven Recht des betroffenen Bürgers fragen und in den Zusammenhang paralleler
6
Die rechtlichen Auseinandersetzungen werden in der Praxis zumeist auf Grundlage der Religionsfreiheit geführt, tragen aber eine kulturelle Signatur, siehe BVerwG 2013a (Burkini) und BVerwG 2013b (Krabat); die Verfassungsbeschwerde gegen die BurkiniEntscheidung ist vom BVerfG (2016) nicht zur Entscheidung angenommen worden.
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft
und konkurrierender Grundrechte, d.h. in multipolares Grundrechtsverhältnis gestellt werden. Das Argument wiederum wird von der Gegenkritik mit dem Hinweis gekontert, dass die Grundrechtsauslegung im Wege der verhältnismäßigen Abwägung ihrerseits Ausdruck der Mehrheitsgesellschaft sei und damit den Anspruch auf kulturelle Autonomie gefährde. Und auch der Hinweis auf die pluralistische Imprägnierung der Verfassungsordnung überzeugt in diesem Zusammenhang häufig nicht, weil der klassische Pluralismus, auch in seiner bundesrepublikanischen Form des Neo-Pluralismus, noch zu stark fokussiere auf korporative Interessen, die sich in Verbänden und Parteien organisierten. Die Antwort der Diversitätsbefürworter darauf ist ein partizipatorischer Pluralismus, wonach von Gruppenstandpunkten zu denken sei. Diese Gruppenstandpunkte müssten sich auch im Ergebnis der politischen Willensbildung wiederfinden – wir bewegten uns dadurch auf eine Form der Konsensdemokratie zu, die aber zunächst die Essentialisierung der Identitätsstandpunkte erforderte. Um das Beispiel kultureller Vielfalt nochmals aufzugreifen, will das Diversitätsargument den kulturellen Assimilationsdruck auf identitäre Gruppen abwehren, indem eine »Kultur der korporativen Gerechtigkeit« (Behabib 2014: 35) etabliert wird. Mit einer solchen divers-identitären Argumentation wird das Misstrauen ausgedrückt, dass Grundrechte das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum am Maßstab von gleicher Freiheit nicht hinreichend abbilden und das Selbstbild nicht ausreichend schützen können. Der Bürger bedürfe der Verstärkung durch die identitäre Gruppe, eine personale Formation, die eine partikulare Gemeinschaft ist. Doch was sollte ein Gruppenrecht leisten, was ein Grundrecht nicht gewährleisten kann? Grundrechte werden bereits heute auch in ihrer kollektiven Dimension gewährleistet, nicht nur, soweit sie auf juristische Personen wesensmäßig anwendbar sind (Art. 19 Abs. 3 GG), sondern als Koalitions- und Berufsfreiheit, als Religions- und Pressefreiheit auch als korporative Rechte. Minderheiten werden von den Grundrechten geschützt, indem sie die hoheitliche Gewalt verpflichten und dadurch Freiheit gewährleisten. Trotz der punktuellen Anwendungserweiterung der Grundrechte auf Private, gerade in identitätssensiblen Sachverhalten, gilt der Grundrechtsschutz allerdings ohne gesellschaftliche Bestandsgarantie. Eine Gruppe kann nur »überleben«, wenn sie sich vital in der gesellschaftlichen Dynamik bewährt und hält (Isensee 2010). Bei einem diversitätsaffinen partizipatorischen Pluralismus steht deshalb die Ergänzung von Grundrechten um minderheitsbezogene Rechte im Sinne von Gruppenrechten im Raum (Young 2011: 184; Offe 1996). Dabei geht es
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konkret um gruppenbezogene Repräsentationskonzepte (Thürer 2005: 661), die die sozio-politische Existenz der Gruppe sichern, um Vetorechte in der parlamentarischen Willensbildung, um Quoten bei der Wahl sowie Gremienund Ämterbesetzung (Wapler 2019), um Sprachenregelungen und Kulturförderung (Bundesregierung 2014) und um Rechtspluralismus, d.h. die parallele Geltung von Rechtsordnungen auf einem Territorium und ihre partikulare Anwendung auf identitäre Regelungskollektive (Seinecke 2016; Günther 2001). Es geht aber auch um Verfahrensregeln, wie die Abschaffung etwa von Sperrklauseln im Wahlrecht und der minderheitensensible Zuschnitt von Wahlkreisen (Folianty 2012: 298; Cox/Holden 2011), die Beteiligung von MinderheitenPlattformen,7 d.h. auf den »Identitätsimpact« bezogene Prüfpflichten bei der Gesetzesfolgenabschätzung, und die verhältnismäßige Einzelfallprüfung mit Härteklausel als Regelfall des Verwaltungshandelns. Diversität und Identität stehen deshalb für eine Kategorienverschiebung: vom Individuum, hin zu Gruppen. Auch wenn das Gleichstellungsgebot (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) den Einzelnen ausnahmsweise nicht in seiner Individualität, sondern als Angehörigen einer identitären Gruppe, als Geschlechtsgenossen sieht, ist in der Kategorienverschiebung eine Änderung des kognitiven Verständigungsrahmens zu sehen. Nicht mehr das Individuum, sondern die Gruppe steht im Mittelpunkt des Denkens.
4.
Freiheitsgerichtete Interpretation
Diversität ist trotz des visionären Überschusses heute auch Lebenswirklichkeit, getragen von einer heterogenen Gesellschaft, die durch Wertewandel, Individualisierung und Wanderungsbewegungen sich weiter ausdifferenziert. Macht die Karriere von Diversitäts- und Identitätsdenken deshalb mittelbar auf Akzeptanz- und Sinnverluste der geltenden Verfassungsordnung aufmerksam, denen die Staatsrechtswissenschaft größere Aufmerksamkeit schenken sollten? Der Normativitätsanspruch von Diversität und Identität lässt in der Tat nach der richtigen Verfassungstheorie für die repräsentative Demokratie fra-
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Dies ist eine von insgesamt elf Forderungen der Europäischen Bürgerinitiative »Minority Safepack«, ECI (2017) 4, die die Europäische Kommission im März 2017 registrierte, nachdem die Ablehnung eines ersten Registrierungsantrages vom Gericht für nichtig erklärt worden war, vgl. EuG 2017.
Diversität und Identität als Aufmerksamkeitsmarker für die Staatsrechtswissenschaft
gen. Denn aus Sicht von Diversitätsbefürwortern geht es um die nächsten emanzipatorischen Akte, um die »Vervollständigung der Demokratie«. Die Vervollständigung soll darin liegen, dass strukturelle Benachteiligungen abgebaut und die politische Teilhabe identitärer Minderheiten institutionell abgesichert wird. Die normative Dimension von Diversität und Identität richtet sich also − wenn auch nicht stets intentional, sondern mittelbar im Ergebnis − gegen Integrations- und Assimilationsansprüche der Mehrheitsgesellschaft und die entsprechenden Rechtsregeln, die in der parlamentarischen Demokratie im allgemeinen Gesetz formuliert, angewendet und durchgesetzt werden (vgl. Roß 2011: 226). Die Begriffe könnten bei einer freiheitsgerichteten Interpretation als ein Aufmerksamkeitsmarker verstanden werden, der auf Unwuchten in der soziologischen Zusammensetzung von Parlamenten und anderen repräsentativen Gremien sowie Verwaltungsinstanzen hinwiese, die entsprechende Anpassungsleistungen anmahnte. Eine freiheitsgerechte Interpretation dieser Begriffe sieht sie demnach als Ausdruck des legitimen Anspruchs auf Chancengleichheit in der liberalen Gesellschaft. Mit Diversität und Identität wird Aufmerksamkeit gelenkt, auf den Zusammenhang von kategorischem Geltungsanspruch der Verfassung und »ihre unausweichliche Verwiesenheit auf den realen Konsens in der Gesellschaft« (Isensee 1977). Über diese Verfassungsvoraussetzung des gesellschaftlichen Konsenses, diese »Konstitution eines gesellschaftlich Allgemeinen«, das bonum commune wird eine intensive Debatte geführt, in der die Ratlosigkeit ob der gesellschaftlichen Polarität bei erkannter nur sehr begrenzter Einwirkungsmächtigkeit staatlicher Institutionen gegenwärtig ist. Das Problem des Denkansatzes ist der Affekt gegen das Allgemeine, häufig übersetzt in die Abwehr jedweder Normalitätserwartungen. Das Allgemeine in der parlamentarischen Demokratie ist jedoch nicht als institutionalisierte Form der Dominanz einzuordnen, sondern als demokratische Mehrheit, die die Gliederung eines Vertretungsorgans in Kurien oder Kollegien prinzipiell nicht zulässt. Es wäre ein Fehler, die bestehenden oder auch nur empfundenen Unwuchten in der parlamentarischen Demokratie im Sinne einer umfassenden Parität und Repräsentativität von Gesellschaft mit hoheitlicher Autorität rasch zu korrigieren. Denn mit der amtlichen Begrenzung von Wahl- und Differenzierungsfreiheit werden nicht nur Rechte von Bürgern gewährleistet, es werden vor allem auch Rechte anderer Bürger, etwa auf Allgemeinheit der Wahl eingeschränkt.
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Frank Schorkopf
Noch weitergehend könnten »Diversität« und »Identität« als Forderung zu verstehen sein, für eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, als Plädoyer für gesellschaftliche Kraft und Dynamik und gegen jedwede Ansprüche, gesellschaftliche Totalität abbilden und verkörpern zu wollen. Diversität und Identität wären so die notwendige Vorbedingung für produktiven Konflikt in der Gesellschaft, für einen agonalen Pluralismus (Schorkopf 2017). Die Begriffe könnten also helfen – nicht mehr und nicht weniger – die normative Struktur der Gesellschaft einer liberalen Demokratie zu verteidigen.
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Frank Schorkopf
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Repräsentation
Gleichheit und politische Repräsentation Markus Linden
1.
Einleitung
Die moderne Demokratie ist das Produkt von Prozessen der individuellen und kollektiven Emanzipation von illegitimen Herrschaftsverhältnissen. Zivilisatorisch sind derartige Regime eigentlich längst überkommen, aber tatsächlich relevanter denn je, auch wenn sie sich gerne als »wahre Demokratie« verkaufen. Die praktischen Profiteure und die theoretischen Begründer dieser illegitimen Ordnungen verweisen klassischerweise auf das Vorliegen von naturgegebenen bzw. »ewigen« (dazu Snyder 2018) Ungleichheiten, seien sie nationaler, kultureller, biologischer oder intellektueller Natur. Deshalb ist im Umkehrschluss der Gleichheitsanspruch ein immanenter Bestandteil der Demokratie. Die Ungleichheit besitzt im demokratischen Kontext eine negative Konnotation. Schon Alexis de Tocqueville (1835/1840 [1976]) erkannte diesen Nexus. Jüngst hat mit Pierre Rosanvallon ein anderer französischer Theoretiker gezeigt, wie notwendig die Revitalisierung einer normativ angemessenen Gleichheitsidee ist. Dies nicht zuletzt, um den leider hochaktuellen antidemokratischen Pervertierungen der Gleichheit – Rosanvallon (2017/2013: 17) spricht von den allseits beobachtbaren »Dämonen der Identität und Homogenität« – entgegenzuwirken. In der öffentlichen Debatte ist es oft die politische Partizipation, die als Gleichheitsmotor ausgemacht wird. In Anlehnung an klassische Ansätze der partizipatorischen Demokratietheorie (z.B. Barber 1984) fungieren unterschiedliche Formen der Bürgerbeteiligung als naheliegende Reformoption, um die angeblich aus einer grundsätzlichen Spaltung zwischen Gesellschaft und RepräsentantInnen – hier hat sich der Begriff des »Vertrauensverlusts« eingebürgert – resultierenden Ungleichheiten zu überwinden. Man spricht von »demokratischen Innovationen« (Smith 2009; Geißel/Joas 2013), worunter die Einführung direktdemokratischer Elemente ebenso fällt wie andere
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informelle oder institutionalisierte Beteiligungsverfahren. Zivilgesellschaftliche Organisationen, etwa der in Deutschland einflussreiche Verein Mehr Demokratie e.V., vertreten mit Verve die These von der Gleichheit durch Partizipation. Die Politik greift sie seit längerem auf, um einem drohenden Anerkennungsverlust entgegenzuwirken – so etwa, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, wenn der saarländische Landtagspräsident ankündigt, fallbezogen Bürgerräte einzusetzen und mit Kompetenzen auszustatten (vgl. Kirch 2020). Dabei stellt sich zunächst die Frage, inwieweit partizipatorische Innovationen von repräsentativen Institutionen nur als instrumentelle Legitimitätsbeschaffungsmaßnahme eingesetzt werden. Das gilt insbesondere für Exekutiven, deren Organisationsinteresse auf ein Verwischen der Grenze zwischen Bürgerbeteiligung und Eigenwerbung hinausläuft. In empirischer Hinsicht hat sich die politikwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre zudem verstärkt mit den möglichen antiegalitären Wirkungen von partizipativen Verfahren auseinandergesetzt. Hier zeigt sich, dass demokratische Innovationen durchaus als Einfallstor für neue und alte politische Ungleichheiten in der Demokratie angesehen werden können (vgl. z.B. Merkel 2015; Linden 2016). Das gilt zum Beispiel für die direkte Demokratie. Zwar lässt sich bislang keine per se antiegalitäre Wirkung von Volksentscheiden belegen. Geißel, Krämling und Paulus (2019: 507) konstatieren eher eine moderat egalitäre Tendenz, die sich vor allem in sozioökonomischer Hinsicht zeigt. Das hängt aber stark vom jeweils angelegten Gleichheitsmaßstab ab und gilt, betrachtet man die Ergebnisse der genannten Studie, für die politische und rechtliche Gleichheit nicht mehr. Spätestens seit dem Hamburger Schulstreit, dem Schweizer Minarettverbot und der Schweizer Ausschaffungsinitiative in den Jahren 2009 und 2010 bestehen erhebliche Bedenken hinsichtlich der Exklusivität der direkten Demokratie gegenüber Minderheiteninteressen. Auch aufgrund solcher Zweifel an der Wirkung partizipatorischer Innovationen ist das Repräsentationsprinzip wieder in den Fokus der Forschung geraten. In empirischer Hinsicht macht es darüber hinaus natürlich Sinn, ebenso in jenen Fällen nach der spezifischen Repräsentation von Interessen zu fragen, in denen die Repräsentationsleistung nicht von Parlamenten, sondern von partizipationsorientierten demokratischen Verfahren bzw. Institutionen erbracht wird. Denn Partizipation hat Repräsentation zur Folge, auch durch die »plebiszitäre[n] Komponente[n] im demokratischen Verfassungsstaat« (Fraenkel 1958 [1991]) werden spezifische Interessen artikuliert und umgesetzt. Außerdem kann die vielfach konstatierte Krise der Demokratie mit
Gleichheit und politische Repräsentation
guten Argumenten als eine Krise der Repräsentation aufgefasst werden (vgl. Linden 2006: 280-285, 289; Linden/Thaa 2011), somit also auch als Krise der (wahrgenommenen) Gleichheit durch Repräsentation (vgl. Linden/Thaa 2014). Schließlich spricht auch aus normativer Perspektive vieles dafür, das Differenzprinzip der Trennung von RepräsentantInnen und Repräsentierten als Grundvoraussetzung für eine pluralistische Demokratie, die sich als integratives Wechselspiel von gesellschaftlichen und politischen Konflikten begreift, anzuerkennen (so Fraenkel 1991; Linden 2006: 266-269; Urbinati 2006; Thaa 2008). Deshalb fragt der vorliegende Beitrag nach dem Verhältnis von Gleichheit und politischer Repräsentation. Gibt es auch ohne Homogenitätsfiktion eine annähernd gleiche Repräsentation verschiedener Gruppen, oder resultiert aus der Spaltung in RepräsentantInnen und Repräsentierte sowie aus dem Pluralitätsprinzip zwangsläufig Ungleichheit? Wie misst man gleiche Repräsentation? Die Fragen werden hier so grundsätzlich gestellt, weil eine theoretisch begründete eigene Herangehensweise zur Analyse des Gleichheits- bzw. Ungleichheitsproblems vorgestellt werden soll. Insofern rekurriert der Beitrag auf verschiedene eigene Arbeiten der letzten Jahre. Zum Aufbau: Zunächst werden drei Ansätze dargestellt, die sich zwar in der öffentlichen und/oder wissenschaftlichen Debatte einiger Beliebtheit erfreuen, sich jedoch bei näherer Betrachtung als unterkomplex bzw. normativ verfehlt erweisen (2.). Anschließend wird mit Pierre Rosanvallons Konzept der Beziehungsgleichheit ein Vorschlag für ein angemessenes politisches Gleichheitsverständnis unterbreitet (3.). Der letzte Abschnitt widmet sich der hier kursorisch gehaltenen Darstellung der empirischen Anwendungsmöglichkeiten dieses Konzepts (4.). Es zeigt sich, dass der Gleichheitsanspruch von Demokratie in Deutschland durch parlamentarisch-parteipolitische Repräsentationsformen noch vergleichsweise eher verwirklicht wirkt als durch alternative Institutionen. Deshalb sollten inklusive demokratische Reformen hieran angekoppelt werden.
2.
Unterkomplexe Ansätze zur Analyse von Ungleichheit und demokratischer Repräsentation
Als ungeeignete Herangehensweisen zur Analyse ungleicher Repräsentation erweisen sich (a) populistische Thesen, (b) die Postdemokratie-Theorie von Colin Crouch und (c) der Ansatz der Forschergruppe um Armin Schäfer (c).
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(a) Derzeit rekurrieren populistische Parteien und Bewegungen in besonderer Weise wirkmächtig auf den Gleichheitsanspruch. Die »dünne Ideologie« des Populismus, an die andere Ideologien angekoppelt werden können, besteht in der Feststellung, dass in heutigen Demokratien ein vermeintlich »betrogenes« Volk einer gesellschaftlichen und politischen Elite gegenübersteht (Mudde 2004: 543f.). Dieser Grundgedanke könnte prinzipiell auch mit politikwissenschaftlichen Elitentheorien in Verbindung gebracht werden, wie sie etwa in analytischer Absicht im Anschluss an Gaetano Mosca (1895 [1994]) vertreten werden. Die populistische Agitation benutzt die Gegenüberstellung von vermeintlich Herrschenden und vermeintlich Beherrschten jedoch nicht analytisch, sondern stets instrumentell in Form einer substantiellen EliteVolk-Dichotomie. In impliziter (im Falle der Neuen Rechten expliziter) Anlehnung an Carl Schmitts Freund-Feind-Theorem wird ein geschlossener Volkswille propagiert, was im Umkehrschluss (obwohl von Populisten gerne auf die Meinungsfreiheit verwiesen wird) zu einem antipluralistischen Gleichheitsverständnis führt, wie es auch Schmitt vertrat. Diese »Gleichheit der Gleichen« (Schmitt 1926 [1985]: 22) tendiert in der Konsequenz zur »Ausscheidung und Vernichtung des Heterogenen« (Schmitt 1926 [1985]: 14), selbst wenn in der populistischen und neurechten Programmatik oft nur abgeschwächte Kategorien wie »Leitkultur«, »Bewahrung der Heimat« oder »Volk« Verwendung finden. Bedenklich ist, dass auch die Linke nicht frei von Schmittschen Versuchungen ist und sich dabei auf das Linkspopulismus-Konzept der politischen Theoretikerin Chantal Mouffe stützen kann. Auf der Basis von Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung entwirft Mouffe ein prinzipiell konfliktives Politikverständnis, welches den Pluralismus vordergründig zum obersten Kennzeichen des Politischen macht (vgl. Mouffe 2007). Dass es ihr aber mit diesem Pluralismus nicht ganz ernst ist, zeigt spätestens eine jüngere Publikation, in der sie »Für einen linken Populismus« (Mouffe 2018) plädiert. Demnach ist entscheidend, »welche Art von Populismus aus dem Kampf gegen die Postpolitik siegreich hervorgehen wird« (Mouffe 2018: 18). Mouffe lässt keinen Zweifel daran, dass dies der Linkspopulismus sein soll. Dieser zeichne sich aus durch »die Konstruktion eines ›Volkes‹, eines kollektiven Willens, der der Mobilisierung gemeinsamer Affekte zur Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entspringt« (Mouffe 2018: 17). Damit möchte Mouffe den fremdenfeindlichen Rechtspopulismus besiegen, wirft aber gleichzeitig den politischen Pluralismus über Bord, da alle vom Linkspopulismus abweichenden Konzepte letztlich als zu überwindende
Gleichheit und politische Repräsentation
Ideologien dargestellt werden, die nur als Mittel (Politisierung) zum Zweck (Verteidigung der Gleichheit im Sinne eines kollektiven Willens) fungieren. Von diesem imaginierten Willen abweichende Konzepte sind demnach kein Bestandteil des pluralistischen Ideenwettbewerbs, sondern lediglich Kontrastfolien für eine a priori festgelegte zukünftige gute Ordnung der substantiellen Gleichheit. Kurzum: Links- und Rechtspopulismus tendieren gleichermaßen zu einem substantiellen Volksbegriff und zur Negation des Pluralismus. Auch wenn der Linkspopulismus Mouffscher Prägung eine grundsätzlich höhere Demokratiekompatibilität aufweist, eignet sich das Konzept nicht als Leitbild gleicher Repräsentation. (b) Ähnlich verhält es sich mit dem Konzept der »Postdemokratie« nach Colin Crouch (2003). Als Krisendiagnose hat der Begriff eine erstaunliche Karriere gemacht, was auch auf seinen offensichtlich ansprechenden Klang zurückgeführt werden kann. Betrachtet man jedoch genau, welche Kriterien Crouch anwendet, sind erhebliche Zweifel an der dahinterstehenden Gleichheitskonzeption angebracht. Für ihn gab es in der Vergangenheit ein »wahrhaft demokratische[s] Interregnum« (Crouch 2003: 156f.). Gemeint ist damit die Hochzeit des Neokorporatismus in den 1970er Jahren. Zum zentralen Kriterium der Ungleichheitsanalyse wird somit bei Crouch die enge Bindung zwischen sozialdemokratischen Parteien und ihren Milieus. Die Kernthese des Buches – dass zwar die demokratischen Verfahren funktionierten, man aber nicht mehr von einer echten Demokratie sprechen könne (vgl. Crouch 2003: 13) – macht der Autor an der Abkehr von keynesianischen Politiken fest. Crouchs Analyse ist outputzentriert, wobei er eine einseitige Konzentration auf ökonomische Aspekte vornimmt. Letztlich lehnt er neoliberale Politikmodelle ab und sieht in deren Umsetzung einen vom Lobbyismus und Prozessen der Medialisierung gestützten Demokratieabbau. Die Analyse unterschlägt somit sowohl prozedurale Aspekte (war das Zeitalter des Korporatismus wirklich transparenter?) als auch nicht-ökonomisierbare Gleichheitsansprüche, die durch die Neuen Sozialen Bewegungen und den Aufstieg neuer parteipolitischer Akteure, insbesondere der grünen Parteien, erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Crouchs Egalitarismus ist rückwärtsgewandt. Er nennt zwar zahlreiche bedenkenswerte Aspekte, dass er am Ende seines kleinen Buches Sympathie für eskalierende Anti-Globalisierungsproteste hegt (vgl. Crouch 2008: 157) und sonst wenig zur Reform des politischen Systems zu sagen hat, macht jedoch deutlich, wie sehr seiner Analyse letztlich ein instrumentelles Verhältnis zur Demokratie zugrundeliegt. Die egalitaristisch-outputzentrierte Pointe der Postdemokratiethese Crouchs besteht in einer Rück-
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kehr zum Keynesianismus. Wirtschaftsliberale Politikvorstellungen werden a priori negiert und nicht-monetäre Anerkennungsansprüche neuer Gruppen kaum beachtet, weshalb die Auffassung sich als wenig pluralismuskompatibel erweist. (c) Einen neueren, empirisch-analytischen Versuch zur Konzeptualisierung der Frage nach der gleichen Repräsentation hat in Deutschland eine Forschergruppe um Armin Schäfer vorgenommen (vgl. Elsässer/Hense/Schäfer 2016, 2017, 2018, 2019; vgl. zum Folgenden Linden 2019: 99-102). Deren Ergebnisse zur Repräsentationsleistung des Deutschen Bundestags, die zu einigem öffentlichen Aufsehen führten, sind eindeutig: »Die Auswertung [der] Daten zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen den getroffenen politischen Entscheidungen und den Einstellungen der Bessergestellten, aber keinen oder sogar einen negativen Zusammenhang für die Einkommensschwachen« (Elsässer/Hense/Schäfer 2016: 3). Demnach kommt es also zu einer systematisch besseren Berücksichtigung der Interessen von einkommensstarken Bevölkerungsgruppen. Dieses Endergebnis beruht aber auf einer empirisch zweifelhaften Basis. Es resultiert aus einer Gegenüberstellung von 252 politischen Einstellungsfragen, die seit 1998 erhoben wurden, mit politischen Entscheidungen des Deutschen Bundestags. Die Publikationen geben dabei nur unzureichende Auskunft darüber, welche Entscheidungen welchen Einstellungsfragen genau zugeordnet wurden. Genannt werden neben sozialpolitischen Aspekten (»Konjunkturhilfen oder Sparprogramme?«) beispielsweise auch Einstellungsfragen zu den Themen »NPD-Verbot« oder »Duty Free Shops in Flughäfen«. Angesichts der Komplexität von Gesetzespaketen in einer Konsensdemokratie, die immer Kompromisscharakter haben und aus vielen Einzelbestandteilen zusammengesetzt sind, dürfte die binäre Kodierung von Gesetzen in den allermeisten Fällen kaum möglich sein. Deshalb lassen sich Gesetzespakete auch nur schwerlich den verschiedenen binär abgefragten Präferenzen von Bevölkerungsgruppen zuordnen. Nimmt man dies in Angriff, so muss wenigstens die Datengrundlage und Operationalisierung für jedes einzelne Gesetz offengelegt werden. Schäfers Forschergruppe nennt jedoch nur Einzelbeispiele, weshalb die Studien keine generellen Rückschlüsse auf die ungleiche Repräsentation von Interessen erlauben. An zwei Beispielen wird dies deutlich: Die lange diskutierte Frage eines NPD-Verbots mündete nicht in einem Gesetz und auch nicht in einem Verbot, denn dieses Ansinnen hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Der zweite Verbotsantrag kam, anders als im ersten Verbotsverfahren, ausschließ-
Gleichheit und politische Repräsentation
lich von den Bundesländern und bewusst nicht vom Bundestag. Wie wurde diese politische Entscheidung also codiert? Welchen Interessen folgte die Politik? Das kann statistisch gar nicht erfasst werden – gerade in Bezug auf den Bundestag, der sich ja raushielt. Ebenso verhält es sich mit der Frage nach Konjunkturhilfen oder Sparprogrammen. Beides tritt in der Gesetzgebung gemeinsam auf, parallel. Die Abwrackprämie steht neben der Schuldenbremse. Wie wurde so etwas von Schäfers Team codiert? Wir wissen es nicht. Die Herangehensweise bietet umfassende Möglichkeiten zur intransparenten Beeinflussung des Ergebnisses und wird dem prozedural-konsensualen Charakter des deutschen Parlamentarismus nur in wenigen eindeutigen Fällen (etwa bei der Hartz-IV-Entscheidung oder der Erhöhung des Renteneintrittsalters) gerecht. Die tendenziell (trotz jüngerer Gegentendenzen) tatsächlich prekärer gewordene politische Repräsentation sozial Schwacher (dazu Linden 2017) kann so jedenfalls nicht belegt werden.
3.
Der Maßstab der Beziehungsgleichheit
Eine angemessene Analyse ungleicher politischer Repräsentation basiert auf der Beantwortung der Frage, worin der Gleichheitsanspruch in der Demokratie überhaupt bestehen kann. Die identitäre Kollektivgleichheit des Populismus ist eine antipluralistische Fiktion. Schäfers Responsivitätsmodell suggeriert wiederum, dass eine statistisch passgenaue gleiche Umsetzung der Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen möglich bzw. erstrebenswert ist. Bei Crouch geht es um die garantierte Umsetzung der Interessen einer imaginierten Arbeiterklasse. Vor allem der letztgenannte Ansatz entspricht somit einer outputzentriert-egalitaristischen Sicht auf das Gleichheitsproblem. In »Postdemokratie« identifiziert Crouch die Demokratie mit einem spezifischen wirtschafts- und sozialpolitischen Programm. Diesem egalitaristischen Konzept steht diametral eine (a) anrechtebezogen-liberale Gleichheitsvorstellung gegenüber, die jedoch ebenfalls Defizite aufweist. Deshalb wird im Folgenden (b) das Konzept der Beziehungsgleichheit nach Pierre Rosanvallon als normativer Maßstab vorgestellt (der folgende Abschnitt greift auf Linden 2016 zurück). (a) Eine explizit liberale Gleichheitsvorstellung findet sich insbesondere bei Ralf Dahrendorf (vgl. zusammenfassend Dahrendorf 1992). Ihm geht es um die Ausweitung des Bürgerstatus durch Maximierung von Anrechten und Wahlmöglichkeiten: »Gesellschaft heißt Herrschaft, und Herrschaft heißt
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Ungleichheit. […] [D]ie Frage ist nicht, wie wir uns von aller Herrschaft befreien und zu einem arkadischen Schäferleben einschläfern, sondern wie wir Herrschaft so zähmen können, daß ein Optimum an Lebenschancen möglich wird« (Dahrendorf 1992: 47f.). Dieser Anrechte-Liberalismus vermeidet den Antipluralismus des Populismus und den rein ergebnisorientiert-sozialistischen Egalitarismus Crouchs. Allerdings kann Dahrendorf ein entscheidendes Problem nicht lösen, auch wenn er dies mittels des Vorschlags eines garantierten Grundeinkommens und des Verweises auf die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Bindekräften (»Ligaturen«) versucht (vgl. Dahrendorf 1992: 266f., 295): Die liberale Gleichheitsvorstellung mündet allzu leicht in einer »Selber-Schuld«-Zuschreibung. Da Menschen und politische Gruppen ihre bereitgestellten Lebenschancen unterschiedlich zu nutzen wissen, kommt es je nach Ressourcenausstattung zwangsläufig zur Entstehung von Gewinnern und Verlierern. Für den Bereich der politischen Repräsentation kann insbesondere die Nichtinanspruchnahme von Partizipationsmöglichkeiten, etwa bei Abstimmungen oder Anhörungen (z.B. aufgrund mangelnden Wissens über deren Relevanz) zu politischen Ungleichheiten führen, die dem Anrechte-Liberalismus nicht nur nicht entgegenstehen, sondern gerade aus dieser Konzeption resultieren. Maßnahmen wie ein Grundeinkommen könnten ungleichen politischen Einfluss sogar zementieren, da sie Passivität und den Rückzug ins Private ermöglichen. Die Einräumung von gleichen Anrechten und Lebenschancen ist also nur eine Grundvoraussetzung demokratischer Gleichheit, aber kein hinreichender Gleichheitsmaßstab in der Demokratie. (b) Mit dem Begriff der »Beziehungsgleichheit« hat der französische Historiker Pierre Rosanvallon ein Konzept skizziert, dass geeignet ist, eine liberale und eine republikanische Gleichheitskonzeption miteinander zu verbinden, die antipluralischen Verkürzungen des Egalitarismus zu vermeiden und einen Bezug zur institutionellen Ebene politischer Repräsentation herzustellen. Entscheidend an der Idee der Beziehungsgleichheit ist, dass sie über den rein ökonomischen Aspekt der Verteilungsgleichheit ebenso hinausgeht wie über den liberalen Ansatz der Chancengleichheit, aber nicht in einem antiliberalen Homogenitätsparadigma mündet. Laut Rosanvallon ist es eine Kernaufgabe der Demokratie, für eine gegenseitige Anerkennung der Bürger als gleichberechtigte Angehörige des politischen Gemeinwesens zu sorgen. Er spricht von der »Gleichheit … als Stellung der Individuen zueinander, Regel ihres Umgangs miteinander und Konstitutionsprinzip ihres Gemeinwesens« (Rosanvallon 2017/2013: 19). »Beziehungsgleichheit« ist also ein relationaler
Gleichheit und politische Repräsentation
Begriff. Sie wird, wenn man Rosanvallons Grundkonzept weiterdenkt, insbesondere hergestellt durch demokratische Verfahren, die Auseinandersetzung um Sachfragen und durch die öffentliche Manifestation und Diskussion unterschiedlicher Werte – mithin also durch die Praxis politischer Repräsentation im Rahmen politischer Prozeduren und Institutionen. Rosanvallon stellt diesen Zusammenhang mit dem Repräsentationsprinzip in Ansätzen selber her, etwa wenn es um die Bedeutung des gleichen Wahlrechts geht (Rosanvallon 2013/2017: 49), führt ihn aber nicht konsequent zu Ende. Seine demokratietheoretischen Werke laufen in der Gesamtbetrachtung auf das Leitbild einer »Verkomplizierung« der Demokratie durch möglichst zahlreiche und möglichst unterschiedliche Verfahren hinaus (vgl. Rosanvallon 2016a). Insbesondere ist er skeptisch in Bezug auf das Potential parlamentarischer Repräsentation und Kontrolle. Rosanvallon präferiert direkte Einfluss- und Kontrollformen der Bürgerschaft sowie »öffentliche Kommissionen« (vgl. Rosanvallon 2016b: 342-347). »Verkomplizierung« ist auch ein Leitmotiv seiner normativen Gleichheitsidee. In »Die Gesellschaft der Gleichen« bestimmt Rosanvallon »Singularität, Reziprozität und Kommunalität« als »die Schlüsselbegriffe, auf deren Grundlage die Gesellschaft der Gleichen fortan zu denken ist« (Rosanvallon 2013/2017: 306). Gemeint sind damit etwa Antidiskriminierung und die Möglichkeit der individuellen Verwirklichung, die ausgewogene gesellschaftliche Beteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen im Sinne Tocquevilles und die »Staatsbürgerschaft als soziale Form« (Rosanvallon 2013/2017: 327). Einen direkten Bezug zur Sphäre der Repräsentation kann Rosanvallon mit diesen gleichsam begrüßenswerten wie extensiv interpretierbaren Kategorien aber nicht herstellen. Außerdem ist mit dem ausufernden Begriffsapparat einiges möglich. Das zeigt Rosanvallons missverständliches Plädoyer für eine »Renationalisierung der Demokratie (verstanden als Stärkung des Zusammenhalts ihrer Angehörigen in Verbindung mit ihrer Wiederaneignung des Politischen)« (Rosanvallon 2013/2017: 353). Das theoretische und empirische Potential der normativen Kategorie »Beziehungsgleichheit« entfaltet sich deshalb m.E. nicht im Versuch, sie möglichst exakt begrifflich auszufächern. Es geht hier vielmehr um eine abstrakte Gleichheitsnorm, deren Wert sich vor allem dann offenbart, wenn sie im Zusammenhang mit anderen theoretischen Konzepten, insbesondere aus dem Bereich der Repräsentationstheorie, gedacht wird. So verhält sich der Anspruch der Beziehungsgleichheit komplementär zu einer Idee, die sich im Anschluss an Claude Lefort (Rosanvallons akademischer Lehrer) und Mar-
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cel Gauchet formulieren lässt (vgl. deren Beiträge in Rödel 1990 sowie Linden 2006: 199-209, 266-269): Politische Gleichheit bedeutet immer, dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auf einer gedachten Ebene in »Äquidistanz« (Linden 2006: 208, 267) zur Sphäre politischer Macht befinden – und das auch annäherungsweise so empfinden. Bürger und Bürgerinnen nehmen sich im Idealfall gegenseitig als Teilnehmer und Betroffene politischer Öffentlichkeit wahr. Dabei vermitteln die gleiche symbolische Distanz zum jeweiligen Entscheidungszentrum und die gleichen partizipativen Möglichkeiten der Einflussnahme auf Entscheidungen eine genuin demokratische Egalität. Es wird deutlich, welch fundamentale Bedeutung Wahlen zukommt. Hier manifestiert sich demokratische Gleichheit in ursprünglicher Form. Beziehungsgleichheit kann sich aber nur einstellen, wenn Konflikte um Werte, Interessen und Perspektiven angemessen repräsentiert werden. Bedenkt man nämlich, dass Repräsentation eine »konfigurierende« Funktion (Linden 2014: 160-168) besitzt, also gesellschaftliche Gruppen nicht nur abbildet, sondern als politische Gruppen auch schafft bzw. mobilisiert (Disch 2011), und es bei politischer Repräsentation um die umfassende Darstellung relevanter gesellschaftlicher Konflikte geht, so steht die Beziehungsgleichheit im Bedingungszusammenhang mit der pluralistischen Repräsentation. Es geht um die Sichtbarmachung und Anerkennung anderer Gruppen im politischen Prozess. Sie müssen sich in der Demokratie gegenseitig als legitime und gleichberechtigte Teilnehmer von Debatten sowie als Betroffene von Entscheidungen begreifen. Politische Institutionen und politische Partizipationsverfahren sollten die Beziehungsgleichheit gesellschaftlicher Gruppen sowie deren Äquidistanz zur Sphäre der Repräsentation nicht unterlaufen, sondern begründen. Ansonsten ist die demokratische Gleichheit gefährdet, werden andere Perspektiven unzureichend berücksichtigt, wird Macht asymmetrisch ausgeübt und das Politische ist nicht mehr geeignet, der ökonomischen Ungleichheit etwas entgegenzusetzen. Daraus folgt: Der Maßstab der Beziehungsgleichheit bezeichnet ein angemessenes Kriterium demokratischer Gleichheit. Beziehungsgleichheit steht für eine pluralistische Form des durch politische Prozesse und politische (Konflikt-)Repräsentation bewirkten republikanischen Zusammenhalts. Politische Verfahren und politische Institutionen, die Beziehungsgleichheit stützen, lassen schwache Interessen stärker werden und fördern die politische Integration. Sind die Kanäle und Orte in der Demokratie aber dahingehend disparitär, dass soziale oder andere Ungleichheiten das Parti-
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zipationsverhalten und die Repräsentationsleistung a priori bestimmen, tritt das Gegenteil auf.
4.
Welche Repräsentation?
Operationalisiert man den Maßstab der Beziehungsgleichheit, so rücken prozedurale Aspekte, die als mögliche Ungleichheitsdeterminanten fungieren, in den Fokus. Dazu zählen der soziale Teilnahmebias bei verschiedenen Partizipationsformen (je anspruchsvoller, desto selektiver), die Frage, welche Qualität einzelne Partizipations- und Repräsentationsformen in Bezug auf die umfassende Konfiguration und Ansprache politischer Gruppen besitzen, sowie das mit beiden Aspekten zusammenhängende Problem der Disparität der Interessenrepräsentation in verschiedenen Partizipations- und Repräsentationsformen. Für den Bereich der politischen Partizipation zeigt sich bei Anwendung dieser Kriterien, dass sogenannte »demokratische Innovationen« oft einen ungleichheitsfördernden Effekt haben. Die damit einhergehende Komplexitätssteigerung begünstigt zumindest tendenziell Akteure mit einer guten Fähigkeit zum zielgerichteten Ressourceneinsatz (vgl. Linden 2016). Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um den Bereich der politischen Repräsentation. In der theoretischen Betrachtung ist bereits deutlich geworden, welchen Wert die politische Repräsentation für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungsgleichheit besitzt. Das gilt auf symbolischer wie auf inhaltlicher Ebene. Die Existenz einer politischen Bühne der Interessenrepräsentation ist eine Grundvoraussetzung politischer Öffentlichkeit. Erst das Aufeinandertreffen von Repräsentantinnen und Repräsentanten strukturiert ein ansonsten individualisiertes Feld der Wahrnehmung von Politik, diese Strukturierung schafft wiederum erst die Möglichkeit zur geordneten Deliberation und Kompromissbildung. Hier gehen Konfliktrepräsentation und Mäßigung Hand in Hand, denn erst der öffentliche Streit ermöglicht die Multiperspektivität einer inklusiven Urteilsfindung auf Seiten des Publikums, die dann – im Idealfall – in Form eines Ping-Pong-Spiels wieder auf die repräsentative Sphäre zurückgespiegelt wird und eine Reaktion von Repräsentantinnen und Repräsentanten zur Folge hat. Responsivität ist keine statische Umsetzung festgefügter Präferenzen, sondern, will man dem Begriff eine angemessene Bedeutung geben, ein dauerhafter Austauschprozess zwischen repräsentativer und gesellschaftlicher Sphäre – mit abwechselnden und sich überlappenden Phasen der Alternativensetzung, Kompromiss-
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findung und Repolitisierung. Für die Beziehungsgleichheit ist entscheidend, dass möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen, sofern sie Träger demokratiekompatibler Interessen, Einstellungen und Werte sind, davon erfasst werden. Zur vergleichenden empirischen Überprüfung dieser Repräsentationsleistung hat sich eine eigene Studie mit der deutschen Migrations- und Integrationspolitik zwischen 1998 und 2013 beschäftigt. Speziell wurde dabei nach der Repräsentation von MigrantInneninteressen, die aus guten Gründen als schwache Interessen gelten, gefragt (vgl. zum Folgenden Linden 2014). Folgt man dem Ansatz Crouchs, so würden vor allem zwei Dinge für eine gelungene Repräsentation von Migrantinnen und Migranten sprechen: die Ansprache von MigrantInnen als Teil einer zu repräsentierenden Klasse sowie die korporatistische Einbindung ihrer InteressenvertreterInnen. Folgt man wiederum Schäfers Ansatz, so müsste die Gesetzgebung mit den Präferenzen »der« MigrantInnen verglichen werden. Beide Herangehensweisen würden somit unzureichend berücksichtigen, dass es »die« Migrantinnen und Migranten gar nicht gibt. Die Großgruppe ist sozial, politisch sowie statusrechtlich höchst heterogen und lässt sich deshalb nicht auf einen Nenner bringen. Der eigene Ansatz beachtet demgegenüber erstens, dass die Großgruppe »MigrantInnen« sich in zahlreiche Subgruppen unterteilt. Je nach behandeltem Gesetzespaket können die Interessen ein und derselben Person sogar unter verschiedene Subgruppen fallen. Als in Anbetracht der Ressourcenausstattung (oft mehrfache Benachteiligung, z.B. durch fehlende Staatsbürgerschaft und unsicheren Aufenthaltsstatus) am meisten benachteiligte Gruppe erweisen sich dabei Flüchtlinge. Zweitens macht es Sinn, nicht nur isoliert nach einer »absoluten« Repräsentationsleistung, etwa des Bundestags oder »der Politik«, zu fragen. Aus der Perspektive der Vergleichenden Regierungslehre bietet sich vielmehr ein Vergleich zwischen verschiedenen Repräsentationsformen an. Insofern fragte die Studie nicht nach Gleichheit, sondern nach der möglichst weitgehenden Abwesenheit struktureller Ungleichheiten bzw. Benachteiligungen im Prozess der Repräsentation. Im Vergleich zwischen einzelnen Repräsentationsformen kann analysiert werden, welche Interessen in welchen Institutionen (nicht) berücksichtigt werden. Bei entsprechend langem Untersuchungszeitraum ist die Identifikation möglicher Ungleichheitsmuster, falls es sie gibt, zu erwarten. Im vorliegenden Fall konnten solche Muster trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen (z.B. Regierungskonstellationen) identifiziert werden.
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Speziell in den Blick genommen wurde dazu die Repräsentation von MigrantInneninteressen in drei verschiedenen Repräsentationsformen: deliberativ-rationalen Expertenkommissionen, Gremien, in denen MigrantInnengruppen für MigrantInnen sprachen (deskriptive bzw. SelbstRepräsentation), sowie Formen parlamentarisch-parteipolitischer Repräsentation (Ausschusswesen, Plenarsitzungen, koalitionäre Gremien, Parteiwesen). Gleichheit politischer Repräsentation wurde dabei negativ definiert, nämlich als möglichst weitgehende Abwesenheit strukturell bedingter Asymmetrien. Die Migrations- und Integrationspolitik zwischen 1998 und 2013 bot für eine derart angelegte Analyse ein hervorragendes Forschungsfeld, da zahlreiche Gesetzespakete verabschiedet wurden und Gremien bzw. Akteure, die den drei Repräsentationsformen zugeordnet werden können, an allen Novellen gleichzeitig beteiligt waren. Es kann also mittels Prozessanalysen zu Gesetzgebungsprozessen gezeigt werden, in welchen Repräsentationsformen welche Interessen mehr oder weniger eingebracht und durchgesetzt wurden. Mithin bieten die Ergebnisse eine empirische Basis für die Beantwortung der Frage, in welcher Repräsentationsform der Einschluss schwacher Interessen besser gelingt, also auch von einer positiven Wirkung auf die Beziehungsgleichheit auszugehen ist. Im Ergebnis konnte die Studie zeigen, welchen Wert die parlamentarischparteipolitische Repräsentation für die Einbindung schwacher Interessen besitzt. In deliberativ-rationalen Kommissionen fungiert die notwendigerweise reduktive ethische Zielsetzung als Disparitätsfaktor. Im Falle der sogenannten »Süssmuth-Kommissionen« wurden Flüchtlinge beispielsweise kaum repräsentiert, da die Arbeit des Gremiums sich am Ziel des ökonomischen Gesamtnutzens ausrichtete. Derartige rationalisierte Konsensgremien können Diversität ob ihrer Ausrichtung am apolitischen Wahrheitsmaßstab gar nicht widerspiegeln. Im Rahmen deskriptiver Repräsentationsformen, die am Beispiel der Gremien Islamkonferenz und Integrationsgipfel analysiert wurden, zeigt sich ein anderer Disparitätsmechanismus: der organisatorische Essentialismus. Die entsandten Vertreterinnen und Vertreter vertreten vor allem die Interessen ihrer Herkunftsorganisationen, da die fehlende Öffentlichkeit der Debatte (im Gegensatz etwa zum Handeln bei öffentlichen Ausschussanhörungen) einer Rückkopplung an das Publikum und die Betroffenen entgegensteht. Somit werden diejenigen, für die diese Herkunftsorganisationen eigentlich sprechen sollen, tendenziell schlechter repräsentiert. Das gilt auch für advokatorische RepräsentantInnen. Wohlfahrtorganisationen treten in öffentlichen Ausschusssitzungen als Repräsentanten schwacher Interessen
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auf, in nicht-öffentlichen Gremien aber als Repräsentanten ihrer eigenen Ansprüche, um etwa die Beteiligung an ausgeschriebenen Programmen zu sichern. Im Vergleich zur deskriptiven und deliberativ-rationalen Repräsentation erweist sich die parlamentarisch-parteipolitische Repräsentation als bestes Instrument zur Umsetzung schwacher Interessen, die in öffentlichen Debatten und Tauschprozessen adressiert und eingebracht werden. ParlamentarierInnen können es sich vergleichsweise weniger erlauben, ganze Gruppen außer Acht zu lassen. Gerade die Öffentlichkeit der Verhandlungen auf parlamentarischer und parteipolitischer Ebene hatte eine Ansprache und partielle Umsetzung marginalisierter Interessen zur Folge. Das gilt im Untersuchungszeitraum ganz besonders für Flüchtlinge – und dabei insbesondere für wenig sichtbare Untergruppen wie Geduldete oder nichtstaatlich bzw. geschlechtsspezifisch Verfolgte. Inwiefern der Populismus diese Grundstruktur ändert, indem er den Konflikt zwischen Populisten und Antipopulisten stärkt und somit möglicherweise die Konfliktlinien innerhalb des herkömmlichen Parteiwesens schwächt, ist eine offene Frage. Die vorgestellte eigene Studie liefert aber starke Argumente für eine Beibehaltung und Stärkung der Grundsätze parlamentarisch-parteipolitischer Repräsentation. Alternativenrepräsentation, verantwortliche Zurechenbarkeit und öffentliche Diskussion sind Prinzipien, die die Einbindung schwacher Interessen eher befördern als behindern. Insofern ist es eine Herausforderung demokratischer Repräsentation, die Publizität und Wertigkeit des Parlamentarismus zu stärken, (neue) Partizipationsformen wirksam an parlamentarische Verfahren anzukoppeln und bürgerschaftliche Kontrollund Eingriffsrechte vor allem in diesen Bereichen auszubauen. Eine Exekutivdominanz, die durch die Einrichtung von Expertenkommissionen, digitale Publikumsbeschäftigungstools und divers besetzte Schaufenstergremien flankiert wird, ließe hingegen wenig positive Auswirkungen auf die Beziehungsgleichheit in der Demokratie erwarten. Den großen Wurf kann die politikwissenschaftliche Analyse von Gleichheit und politischer Repräsentation folglich nicht liefern. Es kommt, um auf das eingangs zitierte Beispiel der Bürgerräte einzugehen, ganz auf die Ausgestaltung politischer Partizipations- und Repräsentationsformen an. Dafür können jedoch auch im Falle von Bürgerräten immerhin Kriterien benannt werden, etwa die Publizität, die Anbindung an den Parlamentarismus, die Unabhängigkeit von der Exekutive, die staatsbürgerschaftsunabhängige und zufällige Auswahl der Mitglieder aus der Gesamtbevölkerung oder die klare Kompetenzbeschreibung im Bereich der Agendasetzung (aber ohne Entschei-
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dungsbefugnis). Letztlich sollte jedes »Gleichheitstool« dahingehend befragt werden, ob damit die durch Diskussion und Öffentlichkeit im Rahmen politischer Repräsentation mitinduzierte Beziehungsgleichheit gestärkt wird.
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Fazit
Die Wichtigkeit des Gleichheitsanspruchs in der Demokratie wird dadurch unterstrichen, dass die aktuellen Apologeten autoritärer und diktatorischer Ordnungen sich vehement davon distanzieren, oder aber Gleichheit nur für eine bestimmte Gruppe einfordern. Da werden etwa nationalistische Homogenitätspostulate aufgestellt (Hazony 2018) und die Erkämpfung individueller Autonomie und Gleichberechtigung wird von einem wichtigen Vertreter der polnischen PIS-Partei als liberaler Totalitarismus diffamiert (Legutko 2016). Ein Fürsprecher des ungarischen Modells der »Illiberalen Demokratie«, man könnte auch von autoritärer Diktatur sprechen, wendet sich explizit gegen den liberalen, auf Zuerkennung gleicher individueller Rechte für alle gesellschaftlichen Gruppen beruhenden »Exzess an Demokratie und Gleichheit« (Lánci 2019: 60). In Anbetracht dieser Herausforderung ist es von besonderer Bedeutung, sich an einem demokratischen Gleichheitsmaßstab auszurichten, der über die Zuerkennung gleicher Rechte hinausgeht, aber gleichzeitig kompatibel bleibt mit den Grundwerten der Freiheit und Pluralität. Pierre Rosanvallons Konzept der Beziehungsgleichheit bietet hierfür einen geeigneten Ausgangspunkt. Diese relationale Wahrnehmung und Stellung von Individuen und Gruppen als gleichberechtigte Angehörige politischer Gemeinwesen ist auf politische Repräsentation angewiesen. Ohne die Manifestation gesellschaftlicher Ansprüche und Konflikte sind Multiperspektivität, Inklusion und Kompromissbildung, die aus dem ständigen Wechselspiel zwischen repräsentativer und gesellschaftlicher Sphäre hervorgehen, nicht denkbar. Bricht man diesen Grundgedanken herunter auf die politische Praxis, so zeigt die empirische Betrachtung von Partizipations- und Repräsentationsformen, dass die parlamentarisch-parteipolitische Repräsentation Vorteile gegenüber anderen Institutionen und Gremien besitzt. Insbesondere erweist sie sich, in Bezug auf die Repräsentation schwacher Interessen, als weniger disparitär. Das deckt sich mit theoretischen Annahmen über die Funktion von Parteien und Parlamenten, sofern ihr Handeln durch Öffentlichkeit, programmatische Alternativensetzung, Gewaltenteilung und Kompromissbereitschaft geprägt ist.
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Mithin wird die Gleichheit in der Demokratie tendenziell gestärkt, wenn die Grundlagen der parlamentarisch-parteipolitischen Repräsentation nicht unterlaufen, sondern mittels partizipatorischer Verfahren, der Ausweitung von Beteiligungsrechten und der Maximierung von Öffentlichkeit ergänzt und befördert werden. Beziehungsgleichheit ist insbesondere ein Resultat gleicher Rechte, konfliktiv-politischer Repräsentation, öffentlicher Diskussion und Mäßigung. Sie lediglich mittels exekutiver Autorität gewährleisten zu wollen, erscheint wenig erfolgversprechend.
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Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip Jens Kersten
Soziale Gleichheit und pluralistische Vielfalt sind ein Dauerthema der demokratischen Repräsentation. 1 Ist die politische Repräsentation auch wirklich repräsentativ? Wie sind die sozialen Klassen, Geschlechter, Altersgruppen und Berufe im Parlament vertreten? Über welche politischen Stimmen verfügen Minderheiten und marginalisierte Gruppen? Oft werden diese Fragen als Fundamentalkritik an das repräsentative Regierungssystem gerichtet: Das Parlament bilde das Volk nicht ab und sei deshalb undemokratisch. Man kann das Verhältnis von Gleichheit, Vielfalt und Repräsentation aber auch kritisch diskutieren, ohne sogleich in antiparlamentarischen Kulturpessimismus zu verfallen. Denn Demokratien verändern sich mit ihren sozialen Konflikten. Dies schlägt sich auch in einem Wandel der demokratischen Repräsentation nieder. Die Ausweitung des Wahlrechts über soziale Grenzen im 19. Jahrhundert und über Geschlechtergrenzen im 20. Jahrhundert sind Beispiele dafür. Heute erleben wir aufgrund sozial- und identitätspolitischer Konflikte eine Krise der politischen Repräsentation. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wie können wir diese sozial- und identitätspolitischen Herausforderungen positiv und konstruktiv annehmen? Wie lässt sich das demokratische Repräsentationsprinzip des Grundgesetzes weiterentwickeln? Die klassische Antwort, die das repräsentative Regierungssystem auf die soziale Frage gegeben hat, lag im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Gründung neuer politischer Parteien, die die Interessen der Arbeiter/innen im Parlament vertraten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich sozialdemokratische und konservative Volksparteien der sozialen Fragen in den parlamentarischen Demokratien angenommen. Doch mit der 1
Der Beitrag greift Überlegungen auf, die ich an anderer Stelle (Die Notwendigkeit der Zuspitzung. Anmerkungen zur Verfassungstheorie, 2020, S. 212ff.) entwickelt habe.
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Individualisierung und Pluralisierung westlicher Gesellschaften setzte seit den 1980er Jahren eine Fragmentierung und Polarisierung der Parteienlandschaft ein, deren Folgen wir heute beobachten können: Die sozialpolitische Integrationskraft der Volksparteien lässt in der »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2018) ohne Solidaritäten nach; und zugleich nimmt die identitätspolitische Kritik der Repräsentativität demokratischer Repräsentation zu. Teilweise wird insbesondere den linken Volksparteien vorgeworfen, sie hätten über neue Formen der Identitätspolitik die sozialen Fragen der Mehrheitsgesellschaft vergessen (Lilla 2016; 2018). Doch diese Kritik fällt zu einseitig aus: Sozial- und identitätspolitische Fragen greifen ineinander (Susemichel/Kastner 2018: 7ff., 39ff.). Deshalb müssen politische Parteien, die heute den Anspruch erheben, breitere Kreise der Bevölkerung zu vertreten, sowohl sozial- als auch identitätspolitisch gesprächsfähig sein; und in der demokratischen Repräsentation müssen nicht nur soziale Fragen diskutiert, sondern es muss auch der identitätspolitische Pluralismus sichtbar(er) werden. Über die Frage, ob und wie das geschehen soll und kann, wird heute in liberalen Gesellschaften vor dem Hintergrund eines erstarkenden Rechtspopulismus gestritten, der mit seinen autoritären und faschistischen Träumen von einem homogenen Volk längst den politischen Rückwärtsgang eingelegt hat. Um die Möglichkeiten und Grenzen der Reform unserer demokratischen Repräsentation auszuloten, soll zunächst die verfassungsrechtliche Bedeutung des Diversitätsprinzips im identitätspolitischen Diskurs bestimmt (1.) und sodann der Begriff und das Konzept demokratischer Repräsentation des Grundgesetzes konturiert werden (2.). Auf der Grundlage einer Verbindung von demokratischer Repräsentation und Diversitätsprinzip gilt es sodann die Frage zu beantworten, wie sich die parlamentarische Repräsentation in Parteien und Bundestag (3.) sowie die föderale Repräsentation im Bundesrat (4.) weiterentwickeln lässt.
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Identitätspolitik und Diversitätsprinzip
Identitätspolitiken zielen auf individuelle und kollektive Anerkennung von Personen und Gruppen. Allerdings sind Identitätspolitiken programmatisch und praktisch sehr vielgestaltig. Im Kontext des Rechtspopulismus haben sich autoritäre und faschistische Identitätspolitiken entwickelt, die auf ein homogenes Volk setzen, Minderheiten terrorisieren und gegen gesellschaftlichen Pluralismus, den liberalen Verfassungsstaat und die Europäische Union
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
hetzen (Kersten 2018: 929f.). Im Gegensatz dazu reagieren emanzipatorische Identitätspolitiken auf individuelle und kollektive Diskriminierung, Gewalterfahrungen und Kolonialisierung (Taylor 2017, Fukuyama 2018, Susemichel/Kastner 2018, Thiele 2018: kritisch zur kollektiven Dimension Schorkopf 2017): Sie versuchen, stigmatisierende und diskriminierende Praxen durch die Entwicklung von Konzepten individueller und kollektiver Anerkennung zu verhindern. Deshalb wenden sich emanzipatorische Identitätspolitiken gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Behinderung, Alter, Herkunft, Sprache, Religion und Weltanschauung, sozialem Status und sexueller Orientierung. Dabei stehen emanzipatorische Identitätspolitiken jedoch vor dem identitätspolitischen Paradox: Sie knüpfen an Merkmale und Unterscheidungen an, die gesellschaftlich gerade überwunden werden sollen (Mangold 2019: 121; Susemichel/Kastner 2018: 8). Wie kann und sollte das Verfassungsrecht mit diesem Paradox umgehen? In der Regel stehen sich zwei Positionen gegenüber, wenn über Identitätspolitiken gestritten wird: Auf der einen Seite möchte der identitätspolitische Essentialismus individuelle und kollektive Merkmale und Unterscheidungen explizit machen. Auf der anderen Seite will der identitätspolitische Antiessentialismus gerade dies vermeiden: Identitätspolitische Merkmale und Unterscheidungen sollen unerheblich sein bzw. werden. In verfassungsrechtlicher Perspektive haben aber sowohl der Essentialismus als auch der Antiessentialismus eine Funktion: Der Essentialismus verweist auf die Ursachen emanzipatorischer Identitätspolitik, die in historischen und aktuellen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Menschen und Gruppen liegen (Susemichel/Kastner 2018). Deshalb haben Menschen und Gruppen auch im liberalen Verfassungsstaat gute Gründe, essentialistisch zu argumentieren. Sie können sich dafür individuell und kollektiv auf Grundrechte berufen, beispielsweise auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), die Gleichheitssätze und Diskriminierungsverbote (Art. 3, Art. 33 Abs. 1-3 GG), aber auch auf die Glaubens-, Meinungs-, Kunst-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG). Zugleich muss der liberale Verfassungsstaat aber auch gewährleisten, dass niemand auf Identitätsmerkmale oder identitätspolitische Unterscheidungen festgelegt und reduziert wird. Aus diesem Grund muss das Grundgesetz einzelnen Personen und Gruppen immer auch die verfassungsrechtliche Möglichkeit eröffnen, sich vor essentialistischer Festlegung und Reduzierung zu schützen und folglich antiessentialistisch zu argumentieren. Dies wird ebenfalls durch
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das Persönlichkeitsrecht, die Gleichheitssätze und Diskriminierungsverbote, die genannten Freiheitsrechte und darüber hinaus auch durch das staatliche Neutralitätsgebot garantiert. Für den liberalen Verfassungsstaat bedeutet dies, dass er angesichts der Pluralität der bundesrepublikanischen Gesellschaft (Schuppert 2017: 23ff.) sowohl mit dem identitätspolitischen Essentialismus als auch mit dem identitätspolitischen Antiessentialismus konstruktiv umgehen muss. Diese verfassungsrechtliche Aufgabe übernimmt das Diversitätsprinzip, das in den Grundrechten (Art. 1ff. GG) sowie im Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1-3 GG) verankert ist (zur Bedeutungsvielfalt von Diversity Lembke 2012). Dem Diversitätsprinzip kommt die Funktion zu, zwischen identitätspolitischem Essentialismus und Antiessentialismus so zu vermitteln, dass es zu keiner Verletzung von individuellen und kollektiven Rechten und Verfassungsprinzipen kommt. Diese Vermittlungsfunktion lässt sich auch dahingehend beschreiben, dass das Diversitätsprinzip Identitäten im liberalen Verfassungsstaat gleichsam in der »Schwebe« zwischen Essentialismus und Antiessentialismus hält. Es muss Identitäten einerseits sichtbar machen, ohne dass dies andererseits in diskriminierenden und stigmatisierenden Festlegungen und Zuschreibungen resultiert. Damit deutet sich bereits an, dass der liberale Verfassungsstaat insbesondere auf die symbolische Sichtbarkeit individueller und kollektiver Diversität setzen kann, um die pluralistische Vielfalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft gerade auch in der demokratischen Repräsentation begreifbar und erlebbar zu machen.
2.
Demokratische Repräsentation
Die Frage, wie sich das Diversitätsprinzip im repräsentativen Regierungssystem der Bundesrepublik zur Geltung bringen kann, hängt maßgeblich von dem Konzept der demokratischen Repräsentation des Grundgesetzes ab (Kersten 2020: 124ff.). Um das demokratische Prinzip der Repräsentation des Grundgesetzes zu konkretisieren, werden in der deutschen Verfassungsrechtslehre insbesondere zwei Auffassungen vertreten. Oliver Lepsius (2006: 2037ff.) unterscheidet begriffsprägend zwischen dem Substanz- und dem Relationsmodell. Das Substanzmodell ist darauf ausgerichtet, das Volk im Parlament (ideell) abzubilden. Insbesondere Carl Schmitt hat dies in seiner »Verfassungslehre« wie
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
folgt formuliert: »Repräsentation ist kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existenzielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen. Die Dialektik des Begriffs liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. […] Die Idee der Repräsentation beruht darauf, daß ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat« (Schmitt 1989: 209f. [Herv.i.O.]). Auch Gerhard Leibholz war ein Vertreter des Substanzmodells: Schon »rein sprachlich gesehen bedeutet Repräsentieren, daß etwas nicht real Präsentes wieder präsent, d.h. existenziell wird, etwas, was nicht gegenwärtig ist, wieder anwesend gemacht wird« (Leibholz 1929: 26). Während also das Substanzmodell eine »rein ideelle Urbild-Abbild-Dialektik« (Hofmann 1974: 24) verfolgt, versteht das Relationsmodell die demokratische Repräsentation als eine prozesshaft organisierte Vertretung der Bürger/innen, die auf die Begründung und Ausübung, Zurechnung und Legitimation demokratischer Herrschaft ausgerichtet ist (Lepsius 2006: 2036f., 2039). Dieses relationale Verständnis von Repräsentation hat Christoph Möllers zu einer expressiven Demokratietheorie weiterentwickelt: »Demokratische Willensäußerung bildet nicht ab, was bereits bestand, sie bringt zum Ausdruck, was im Verfahren erst entsteht. Demokratie ist nicht repräsentativ, sie ist expressiv« (Möllers 2008a: 28; 2008b). Deshalb schlägt Möllers auch vor, von »expressiver Demokratie« (Möllers 2008a: 29) und nicht mehr von repräsentativer Demokratie zu sprechen. Diese expressive Demokratietheorie bringt den Grundgedanken des Relationsmodells sehr gut auf den Punkt. Doch deshalb muss man nicht sogleich den Repräsentationsbegriff verabschieden. Parlamente sind keine Foren der »reinen« Deliberation. Sie sind insbesondere auch die Orte demokratischer Entscheidungen. Deshalb müssen die Bürger/innen durch demokratische Verfahren und Institutionen so miteinander verbunden sein, dass sie sich kollektiv getroffene Entscheidungen politisch zurechnen können und auch zurechnen lassen müssen. Diese verfahrensförmige und institutionelle Vermittlungsfunktion zwischen der politischen Vielheit und der politischen Einheit der Bürger/innen kann auch ein Relationsmodell, das sich einem expressiven Demokratieverständnis verpflichtet sieht, mit dem Repräsentationsbegriff beschreiben und begreifen. In diesem Zusammenhang hat vor allem Dieter Grimm gezeigt, dass die Vermittlung zwischen der pluralistischen Vielheit und demokratischen Einheit der Bürger/innen dialektisch zu verstehen ist: Die »parteipo-
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litisch strukturierten Parlamente repräsentieren die Gesellschaft weniger in ihrer Übereinstimmung als in ihren Widersprüchen« (Grimm 1995: 881). Dieser Grundgedanke lässt sich für das Verständnis demokratischer Repräsentation des Grundgesetzes verallgemeinern: Die Institutionen des liberalen Verfassungsstaats repräsentieren die demokratische Einheit der Gesellschaft in ihrer politischen Pluralität und sozialen Diversität. Das Grundgesetz folgt nicht dem Substanz-, sondern dem Relationsmodell, um das demokratische Repräsentationsprinzip zu konkretisieren (Lepsius 2006: 2039). Dafür lässt sich an die jüngere Rechtsprechung des BVerfG anknüpfen, die aus der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) ein Recht der Bürger/innen auf Demokratie entfaltet (BVerfG 2011: 169f.; 2016: 190f., 193, 200, 209, 219; kritisch Sauer 2019). Die Bürger/innen bilden das Volk; und sie nutzen ihr individuelles Recht auf Demokratie, um unter Mitwirkung der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl die Abgeordneten des Deutschen Bundestags zu wählen (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), die das Volk repräsentieren: Die Abgeordneten sind Vertreter/innen des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Im Unterschied zum Substanzmodell findet also das Relationsmodell keine politische Einheit des Volkes vor. Vielmehr entfalten die Bürger/innen ihren demokratischen Willen in demokratischen Verfahren. Rudolf Smend hat dies in »Verfassung und Verfassungsrecht« sehr anschaulich formuliert: »Im parlamentarischen Staat ist das Volk nicht schon an sich politisch vorhanden und wird dann noch einmal besonders, von Wahl zu Wahl und Kabinettsbildung zu Kabinettsbildung politisch besonders qualifiziert – sondern es hat sein Dasein als politisches Volk, als souveräner Willensverband in erster Linie vermöge der jeweiligen politischen Synthese, in der er immer wieder von neuem überhaupt als staatliche Wirklichkeit existent wird« (Smend 1994: 155). Auf diese Weise findet das Relationsmodell Anschluss an Juliane Rebentischs ästhetische Dialektik demokratischer Existenz: »Sofern richtig ist, dass das Selbst der kollektiven Selbstregierung nicht einfach als Einheit vorausgesetzt werden kann, sondern allererst in der politischen Repräsentation hervorgebracht werden muss, bedeutet dies nichts anderes, als dass es den demos der Demokratie niemals jenseits der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Produzierenden und Rezipierenden, Regierenden und Regierten gibt. Es gibt ihn folglich niemals jenseits von Macht und Herrschaftsverhältnissen; es gibt ihn nie als solchen. Eben dadurch aber
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
erhält das kollektive Selbst der Demokratie, erhält die Demokratie selbst ihre Zukunftsoffenheit. Denn die demokratische Antwort auf das Problem souveräner Macht besteht nicht darin, es zu verdecken, sondern auszustellen und so auf die Frage der Legitimität zu öffnen. Darin besteht die Pointe einer demokratisch verstandenen ›Ästhetisierung des Politischen‹. Auf der demokratischen Bühne der Politik müssen sich die jeweiligen Repräsentanten des demos immer wieder vor denjenigen rechtfertigen, deren Willen sie repräsentieren wollen, vor einem heterogenen Publikum also, von dem nie auszuschließen ist, dass seine Mitglieder alternative Vorstellungen vom demokratischen Gemeinwillen haben oder entwickeln und diese womöglich am Ende gegen die jeweils herrschende zu öffentlicher Geltung und (Gegen-)Macht bringen werden« (Rebentisch 2019: 22f. [Herv.i.O.]). Diese programmatischen Ausführungen Rebentischs veranschaulichen nicht nur, dass die demokratische Repräsentation des Grundgesetzes auf die verfassungsrechtliche und institutionelle Vermittlung des demos angewiesen ist. Vielmehr ermöglicht dieses Verständnis auch, das Diversitätsprinzip in dem verfahrensrechtlichen und institutionellen Arrangement des demokratischen Repräsentationsprinzips des Grundgesetzes sichtbar zu machen.
3.
Parlamentarische Repräsentation
Die Statistik gibt über die Diversität der Zusammensetzung des Deutschen Bundestags Auskunft (bpb 2018): Der 19. Deutsche Bundestag, der 2017 gewählt wurde, verfügt über 709 Abgeordnete. Von diesen 709 Abgeordneten sind 218 Frauen, womit der Frauenanteil im Bundestag auf 30,7 % der Abgeordnetenmandate gefallen ist. Der Anteil von Frauen liegt im Fall der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei 58 %, in der Faktion Die Linke bei 54 %, in der SPD-Fraktion bei 42 %, in der FDP-Fraktion bei 23 %, in der CDU-Fraktion bei 21 %, in der CSU-Fraktion 17 % und in der AfD-Fraktion bei 12 %. Die Altersstruktur des Bundestags konzentriert sich auf die Jahrgänge 1960-1969 (256 Abgeordnete) und 1970-1979 (197 Abgeordnete). Als berufliche Tätigkeit geben 461 Abgeordnete (65 %) eine unselbständige und 209 Abgeordnete (29 %) eine selbstständige Tätigkeit an. Im öffentlichen Dienst sind 205 Abgeordnete (28,9 %), in einer politischen oder gesellschaftlichen Organisation 110 Abgeordnete (15,5 %), in der Wirtschaft oder bei einem Wirtschaftsverband 223 Abgeordnete (31,5 %) und in einem freien Beruf 121 Abgeordnete (17,1 %) beschäftigt, wobei 99 Abgeordnete (13,9 %) in einem rechts-, wirtschafts- oder steu-
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erberatenden Beruf tätig sind. Damit spiegelt sich auch in der personellen Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestags der längerfristige Trend, dass insbesondere der Öffentliche Dienst überrepräsentiert, während der Anteil der Selbstständigen leicht rückläufig ist (v.Beyme 2014: 203f.). Mit Blick auf die Ausbildung dominieren traditionell Juristinnen und Juristen, denen erst mit einigem Abstand Politologinnen und Politologen, Volkswirtinnen und Volkswirte, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Verwaltungsfachleute folgen (statista 2018). Angesichts dieser Zusammensetzung des Deutschen Bundestags wird gegenwärtig die Frage nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer geschlechtergerechten Repräsentation äußerst kontrovers diskutiert (v.Ungern-Sternberg 2019; Röhner, 2019a: 258ff.; 2019b; Morlok/Hobusch 2019). Doch eine am Diversitätsprinzip orientierte Zusammensetzung des Bundestags geht weit über die Frage der geschlechtergerechten Repräsentation hinaus. Sie zielt auch auf eine Berücksichtigung der Herkunft, der Religion und Weltanschauung, der gesundheitlichen Disposition und Behinderung, des Alters und der sexuellen Orientierung. Die Entfaltung des Diversitätsprinzips in der Zusammensetzung des Bundestags könnte entweder über eine diversitätsorientierte Personalpolitik der politischen Parteien (3.1.) oder eine identitätspolitisch quotierte Zusammensetzung des Parlaments selbst erfolgen (3.2.).
3.1
Diversitätsorientierte Personalpolitik der politischen Parteien
Politische Parteien sind Tendenzvereine: Sie wollen und sollen parteiisch sein, wenn sie an der demokratischen Meinungsbildung der Bürger/innen mitwirken (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG, § 1 Abs. 1 Satz 2 PartG). Die Parteien nutzen die ihnen zustehende Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht nur für die programmatische Zuspitzung, sondern auch für ihre personelle Profilierung (§ 1 Abs. 2 PartG). Diese parteipolitische Profilierung bezieht sich sowohl auf die Besetzung von Parteiämtern als auch auf die personellen Vorschläge, die Parteien für politische Wahlen unterbreiten. Bei ihrer personellen Profilierung müssen die politischen Parteien vor allem das verfassungsrechtliche Gebot der innerparteilichen Demokratie berücksichtigen (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG). Die politische Willensbildung hat sich in den Parteien demokratisch »von unten nach oben« (BVerfG 1952: 40) zu vollziehen. Deshalb muss auch grundsätzlich jedem Parteimitglied jedes Parteiamt und jede Kandidatur für
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
staatliche Wahlen offenstehen. Soweit die politischen Parteien diese Grundsätze beachten, können sie jedoch ihre Personalpolitik frei gestalten. Im Rahmen dieses weiten Gestaltungspielraums ist es den Parteien möglich, das Diversitätsprinzip bei der Ausgestaltung ihrer Personalpolitik zu berücksichtigen (Rixen 2019: 80ff.; Kersten 2020: 129f.). Auf diese Weise können die Parteien in ihren Satzungen diversitätsorientierte Zielvorgaben verankern, aber auch strikte Diversitätsquoten festlegen, wenn es um Parteiämter oder Wahlvorschläge geht. Eine solche diversitätsorientierte Personalpolitik verstößt auch bei der satzungsrechtlichen Festsetzung von Quoten nicht gegen den verfassungsrechtlichen Diversitätsgrundsatz, Grundrechte oder andere Verfassungsprinzipien. Dies gilt zunächst mit Blick auf die politische Binnenstruktur der Parteien, weil diese auf dem Grundsatz freiwilliger Mitgliedschaft beruhen. Aufgrund der Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG) ist niemand gezwungen, einer politischen Partei beizutreten. Darüber hinaus ist jedes Parteimitglied zum sofortigen Austritt aus seiner Partei berechtigt (§ 10 Abs. 2 Satz 3 PartG). Deshalb erfolgt selbst im Fall von strikten Quotenregelungen keine identitätspolitische Fremdfestlegung oder Fremdbestimmung der Parteimitglieder, die darüber hinaus auf der Grundlage innerparteilicher Demokratie mit über die diversitätsorientierten Satzungsregelungen entscheiden (§ 6 Abs. 1 und 2, § 9 Abs. 3, § 10 Abs. 2 Satz 1 PartG). Auch mit Blick auf die demokratische Mitwirkung an der politischen Willensbildung der Bürger/innen findet durch eine diversitätsorientierte Personalpolitik der Parteien keine identitätspolitische Festlegung oder Fremddefinition statt. Denn die Wähler/innen entscheiden über die programmatischen und personalpolitischen Angebote der Parteien in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). So können die Parteien bereits heute die parlamentarische Repräsentation divers gestalten, ohne dass es zu einer Verletzung des Diversitätsprinzips und insbesondere zu keinerlei Einschränkung der strikt egalitären demokratischen Freiheit und Gleichheit der Bürger/innen bei Bundestagswahlen kommt.
3.2
Identitätspolitische Quotierung des Deutschen Bundestags
Ein alternativer Weg, um die diverse Repräsentativität der demokratischen Repräsentation zu fördern, könnte in einer identitätspolitischen Quotierung der Zusammensetzung des Deutschen Bundestags bestehen (Kersten 2020: 130ff.). Doch meiner Auffassung nach würde dies gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes verstoßen (Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3
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GG): Das aktive und passive Wahlrecht ist ein Recht ohne Eigenschaften (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG), das dem Prinzip repräsentativer und diverser Offenheit verpflichtet ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Vier Argumente sprechen gegen eine identitätspolitische Quotierung der Zusammensetzung des Deutschen Bundestags. Erstens, das Lobbyismus-Argument: Es besteht das Risiko, dass sich die Abgeordneten in einem identitätspolitisch quotierten Parlament nicht mehr als Vertreter/innen des ganzen Volks, sondern von identitätspolitischen Interessen verstehen und von den Bürgerinnen und Bürgern auch als solche wahrgenommen werden. Dieses Argument muss jedoch zurückhaltend formuliert werden. Denn die verfassungsrechtliche Einschätzung dieses sehr stark changierenden Punkts der Gruppeninteressenvertretung fällt keineswegs leicht. Anna Katharina Mangold (2019: 122f.) hat gezeigt, dass identitätspolitische Merkmale gerade keine homogenen, sondern bestenfalls heterogene Gruppen formieren, die nicht notwendigerweise die gleichen Interessen repräsentieren. Doch diese vollkommen zutreffende Einschätzung widerlegt nicht das Risiko, dass Abgeordnete sich aufgrund eines »strategischen Essentialismus« nicht doch als Vertreter/innen von Gruppeninteressen verstehen oder den Bürgerinnen und Bürgern als solche erscheinen. Zweitens, das Selektivitätsargument: Es ist verfassungsrechtlich nicht möglich, eine identitätspolitische Quotierung des Bundestags für einzelne Identitätsmerkmale selektiv festschreiben (Rixen 2019: 77f.). Eine selektive identitätspolitische Quotierung des Parlaments wäre keine diverse Repräsentation der Bürger/innen. Eine solche hätte einen umfassenden Ansatz zu wählen, der auch noch über Geschlecht, Behinderung, Alter und Generation, Herkunft und Sprache, Religion und Weltanschauung, sozialen Status und sexuelle Orientierung hinausgehen müsste. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer selektiven Quotierung lässt sich auch nicht auf einzelne Gleichstellungs- und Förderaufträge des Grundgesetzes verweisen, wie z.B. die Gleichstellung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) oder Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Denn auch alle übrigen identitätspolitischen Merkmale und Unterscheidungen finden in den Grundrechten verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte. Deshalb würde eine selektive identitätspolitische Quotierung eine willkürliche Privilegierung darstellen, die den streng formalen demokratischen Gleichheitssatz verletzen würde. Drittens, das Quantitätsargument: Eine identitätspolitische Quotierung eines Parlaments dürfte nicht willkürlich erfolgen. Der Logik identitätspoli-
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
tischer Abbildungstheorien folgend müsste sie mit Blick auf die Bürger/innen auch quantitativ repräsentativ sein. Damit würden identitätspolitische Quoten die demokratische Legitimation und parlamentarische Repräsentation in die menschenunwürdigen Abgründe der biopolitischen Bevölkerungsstatistik überführen. Gerade hiergegen wendet sich aber eine emanzipierende Identitätspolitik, die jede Form der essentialistischen Stigmatisierung überwinden will. Viertens, das Pauschalisierungsargument: Eine Spiegelung der Diversität einer pluralistischen Gesellschaft in der politischen und parlamentarischen Repräsentation ist also weder faktisch noch rechtlich möglich. Deshalb wären in der Ausgestaltung einer identitätspolitischen Quotierung der Zusammensetzung des Bundestags identitätspolitische Pauschalisierungen unumgänglich. Dadurch würde jedoch eine biopolitische Repräsentationsordnung entstehen, in der sich essentialistischer Repräsentationsanspruch und essentialistische Repräsentationswirklichkeit schlicht nicht decken (können), was deshalb in eine ständige essentialistische Repräsentationskrise münden würde. Zusammengefasst: Es geht im parlamentarischen Regierungssystem darum, demokratisch zu wählen und nicht demographisch zu zählen. Identitätspolitische Quotierungen des Deutschen Bundestags sind letztlich Ausdruck eines essentialistischen Neo-Substanzialismus. Dieser ist weder mit dem demokratischen Repräsentationsgrundsatz noch mit dem Diversitätsprinzip verfassungsrechtlich zu vereinbaren. Eine Entfaltung des Diversitätsprinzips in der Zusammensetzung des Deutschen Bundestags ist verfassungspolitisch möglich. Doch sie kann mit Blick auf das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 79 Abs. 3 GG) nicht unmittelbar über eine identitätspolitische Quotierung des Parlaments, wohl aber mittelbar durch eine diversitätsorientierte Personalpolitik der politischen Parteien erfolgen (3.1.).
4.
Föderale Repräsentation
Es ist verwunderlich, dass sich die Diskussion um die diversen Repräsentationen, die das Grundgesetz erlaubt, in erster Linie auf das Parlament bezieht. Hasso Hofmann (1974: 29) hat dafür plädiert, die demokratische Repräsentation nicht aus dem verfassungsrechtlichen Blick zu verlieren, die sich in allen Verfassungsorganen entfaltet. Auch Cara Röhner (2019a: 258ff., 334) weist in
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ihrem inequality audit des Grundgesetzes vollkommen zu Recht auf diese verfassungstheoretische wie verfassungsrechtliche Unterbilanz des demokratischen Repräsentationsverständnisses hin. Nimmt man diese Anregungen auf, so stellt sich die Frage, ob und wie sich das Diversitätsprinzip in der föderalen Repräsentation des Bundesrats zur Geltung bringen lässt (Kersten 2020: 132f.). Denn an sich ist der Bundesrat ein auf die Repräsentation föderaler Vielfalt ausgerichtetes Verfassungsorgan. Dabei zeigt sich gerade in der verfassungshistorischen Perspektive, wie stark die föderale Kammer in deutschen Regierungssystemen auf die Repräsentation »föderaler Identitäten« ausgerichtet war. So beruft sich die Präambel der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 für ihr Verständnis der verfassungsgebenden Gewalt auf das »Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen«. Der Parlamentarische Rat knüpfte 1949 an diese Formulierung an, schwächte diese jedoch ab, wenn er sich in Satz 1 der Präambel des Grundgesetzes auf das »deutsche Volk in den Ländern« berief. In der geltenden Fassung des Satzes 1 der Grundgesetz-Präambel ist schließlich »von den Deutschen in den Ländern« die Rede. Selbst wenn in diesen Formulierungen eine Abschwächung der föderalen Diversität nicht zu übersehen ist, bleiben diese in der Beschreibung der verfassungsgebenden Gewalt präsent. Darüber hinaus finden sie beispielsweise ihren Ausdruck in Art. 36 GG: Nach Art. 36 Abs. 1 Satz 1 GG sind in den obersten Bundesbehörden Beamtinnen und Beamte aus den Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden; und Art. 36 Abs. 2 GG hält fest, dass die Wehrgesetze die Gliederung des Bundes in Länder und ihre besonderen landsmannschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen haben. Auch bei der Neugliederung des Bundesgebiets soll gegebenenfalls die landsmannschaftliche Verbundenheit neben anderen Gesichtspunkten berücksichtigt werden (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG). Doch diese Regelungen föderaler Vielfalt spielen in der Verfassungspraxis der Bundesrepublik keine zentrale Rolle. Das Verständnis föderaler Vielfalt und Diversität ist bei den Bürgerinnen und Bürgern heute nicht in vergleichbarer Weise lebendig, wie es die verfassungshistorische Rückschau nahelegen mag. Die Bürger/innen leben heute längst den »unitarischen Bundesstaat« (Hesse 1962). Aus diesem Grund ist auch die Idee, dass der Bundesrat die föderale Diversität der Bundesrepublik repräsentieren soll, vollkommen in den politischen Hintergrund getreten. Darüber hinaus steht der Bundesrat in der Tradition des deutschen Exekutivföderalismus, in dem sich die Interessen der politischen Parteien mit bürokratischer Expertise verbinden. Mit der Idee, die föderale Vielfalt der bundesrepublika-
Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
nischen Gesellschaft zu repräsentieren, hat dieses parteipolitisch-bürokratische Verfassungsprofil des Bundesrats allerdings nichts (mehr) zu tun. Wenn aber das Diversitätsprinzip des Grundgesetzes eine Repräsentation der gesellschaftlichen Vielfalt der Bundesrepublik nahelegt, lohnt es sich, über eine entsprechende Reform des Bundesrats nachzudenken. Auch bei einer solchen Reform des Bundesrats kommt es darauf an, jede Form der essentialistischen Festlegung zu vermeiden, wie sie sich beispielsweise in § 21 Abs. 1 Satz 1 lit. q ZDF-Staatsvertrag findet. Demgegenüber kann eine Reform des Bundesrats, die die föderale Diversität der Bundesrepublik zum Ausdruck bringt, an die Wahl der Bundesversammlung anknüpfen: Soweit die Mitglieder der Bundesversammlung aus den Ländern kommen, werden sie von den Landtagen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (Art. 54 Abs. 3 GG). Dieser Grundgedanke ließe sich wie folgt zu einem diversitätsorientierten Reformkonzept für den Bundesrat variieren: Jeder Landtag wählt auf der Grundlage eines spiegelbildlichen Vorschlagsrechts seiner Fraktionen beispielsweise zehn Bürger/innen, die das Land im Bundesrat repräsentieren. Um die Repräsentativität des Bundesrats zu gewährleisten, kann das Grundgesetz zwar keine essentialistischen Quoten festlegen, wohl aber eine Diversitätszielbestimmung formulieren. Diese regt die Landesparlamente für die repräsentative Wahl ihrer Mitlieder des Bundesrats dazu an, beispielsweise Alter, Geschlecht, Herkunft, Behinderung, Generation, Wohnort (Stadt/Land), Religion und Weltanschauung, soziales, ökonomisches und ökologisches Engagement und sexuelle Orientierung zu berücksichtigen. Auf diese Weise wird die Repräsentativität des Bundesrats nicht essentialistisch fixiert, sondern in Form diverser Repräsentationen in der »Schwebe« gehalten, da die genannten und weitere Identitätsmerkmale intersektional, personell und zeitlich variieren. Um eine parteipolitische Überformung der diversen Repräsentationen des Bundesrats zu vermeiden, ist eine Inkompatibilitätsregelung erforderlich: Bürger/innen dürfen vor ihrer Wahl in den Bundesrat keiner gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes und auch keiner Bundesregierung oder Landesregierung angehört haben. Die Wahl erfolgt auf fünf Jahre. Die Wiederwahl sollte ausgeschlossen werden, um die Unabhängigkeit der Mitglieder des Bundesrats gegenüber parteipolitischen Rücksichtnahmen bei ihrer Amtsführung weiter zu stärken. Dieses Reformkonzept für den Bundesrat lässt sich selbstverständlich variieren. Zugleich würde es eine verfassungsrechtliche Neukonzeptualisierung der Kompetenzen des Bundesrats erforderlich machen: Aufgrund seiner veränderten demokratischen Legitimation könnte der Bundesrat beispielsweise mit Aus-
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nahme der Verfassungsänderung nur noch ein Einspruchs- und kein Zustimmungsrecht mit Blick auf Bundesgesetze zustehen. Eine solche Reform des Bundesrats wäre mit der »Ewigkeitsgarantie« vereinbar. Nach Art. 79 Abs. 3 GG ist eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig, welche »die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung« berührt. Denn auch nach dem skizzierten Reformkonzept wirken die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit. Zugleich können die Landesexekutiven über eine Erweiterung des § 47 GGO vollkommen problemlos von der Bundesregierung im Rahmen der Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen angehört werden, um ihre Verwaltungsexpertise in die Bundesgesetzgebung einzubringen. Insofern würde eine solche Entwicklung des Bundesrats zu einem föderalen Verfassungsorgan gesellschaftlicher Diversität den Parlamentarismus in Deutschland aus der historischen Zwangsjacke des Exekutivföderalismus befreien.
5.
Fazit
Die Bundesrepublik kann und sollte auch das Diversitätsprinzip in ihrer demokratischen Repräsentation stärken. Die Aufgabe des verfassungsrechtlichen Diversitätsprinzips ist es, die pluralistische Vielfalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft sichtbar(er) zu machen, indem Essentialismus und Antiessentialismus gleichsam in der verfassungsrechtlichen »Schwebe« gehalten werden. Der Weg zu einer repräsentativeren Repräsentation des Bundestags führt über eine diversitätsorientierte Personalpolitik der politischen Parteien, über die die Bürger/innen in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl entscheiden. Eine identitätspolitische Quotierung des Bundestags verstößt demgegenüber gegen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes. Der Bundesrat sollte zu einer Repräsentation der föderalen Diversität der bundesrepublikanischen Gesellschaft weiterentwickelt werden.
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Demokratische Repräsentation und Diversitätsprinzip
Schuppert, Gunnar Folke (2017): Governance of Diversity. Zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität in säkularen Gesellschaften, Frankfurt/New York: Campus. Smend, Rudolf (1994): »Verfassung und Verfassungsrecht«, in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, S. 119-276. statista (2018): Berufe (Top 25) der Bundestagsabgeordneten in der 18. Wahlperiode (2013 bis 2017), https://de.statista.com/statistik/daten/studie/366 15/umfrage/berufe-der-bundestagsabgeordneten-16-wahlperiode/ Susemichel, Lea/Kastner, Jens (2018): Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Münster: Unrast. Taylor, Charles (2017): »Die Politik der Anerkennung«, in: ders., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 3. Auflage, Frankfurt: Suhrkamp, S. 11-66. Thiele, Alexander (2018): »Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen und juristischen Diskurses«, in: Deutsches Verwaltungsblatt 133, S. 1112-1119. Ungern-Sternberg, Antje von (2019): »Parité-Gesetzgebung auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts«, in: JuristenZeitung 74, S. 525-534.
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Autorinnen und Autoren
Boysen, Sigrid, Professur für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Deutsches und internationales Verfassungsrecht, internationales Umwelt- und Wirtschaftsrecht. Aktuelle Veröffentlichungen: Die postkoloniale Konstellation – Natürliche Ressourcen und das Völkerrecht der Moderne, 2020; »Remnants of a Constitutional Moment: The Right to Democracy in International Law«, in: Andreas von Arnauld/Kerstin von der Decken/Mart Susi (Hg.), The Cambridge Handbook on New Human Rights, 2019, S. 465-480. Heisterhagen, Nils, Publizist. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie und Wirtschaftspolitik. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen, 2018; Das Streben nach Freiheit. Essays gegen die Orientierungslosigkeit, 2019; Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels, 2020. Kersten, Jens, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Verwaltungs-, Verfassungs- und Europarecht, Biomedizin und Recht, digitale Governance und Demokratie, demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt. Aktuelle Veröffentlichungen: Schwarmdemokratie. Der digitale Wandel des liberalen Verfassungsstaats, 2017; Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020 (zusammen mit Stephan Rixen); Die Notwendigkeit der Zuspitzung. Anmerkungen zur Verfassungstheorie, 2020. Lembke, Ulrike, Professur für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Verfassungs-
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Ambivalenzen der Gleichheit
recht, Menschenrechte, Antidiskriminierungsrecht, rechtliche Geschlechterstudien, Wissenschaftskommunikation. Aktuelle Publikationen: »Der Gleichstellungsauftrag aus Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz als verbindliches Verfassungsrecht im Kontext der Wahlen zu den Bundesgerichten«, in: Marion Eckertz-Höfer/Margarete Schuler-Harms (Hg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie. (Rechts-)Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, S. 197-246; »Early Start, Slow Progress, Racist Takeover, But Destined Not to Yield – The #MeToo Movement in Germany«, in: Ann M. Noel/David B. Oppenheimer (Hg.), The Global #MeToo Movement, 2020, S. 193-209; »Diskriminierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung«, in: Sebastian Bretthauer/Christina Henrich/Berit Völzmann/Leonard Wolckenhaar/Sören Zimmermann (Hg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht. Festschrift zu 60 Jahren Assistententagung, 2020 (zusammen mit Dana-Sophia Valentiner). Linden, Markus, Prof. (apl.) für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie der Demokratie. Aktuelle Publikationen: »Das Scharnier – Neuer Konservatismus und Neue Rechte«, in: Merkur, 74. Jg., Heft 8/2020, S. 86-94; »Zwischen alternativer Sicht und Verschwörungstheorie – Entwicklungstendenzen und Argumentationsmuster digitaler ›Alternativmedien‹ in Deutschland«, in: Sören Stumpf/David Römer (Hg.), Verschwörungstheorien im Diskurs, 4. Beiheft der Zeitschrift für Diskursforschung, 2020, S. 303-331; »Masse oder Qualität? Über das Neben- und Gegeneinander von parlamentarischen und privaten Petitionsplattformen«, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 51 (2020), S. 660-680. Mangold, Anna Katharina, Professur für Europarecht an der EuropaUniversität Flensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Öffentliches Recht einschließlich Europarecht, Antidiskriminierungsrecht, öffentliche Rechtsgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen: Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der Begegnung von Freien und Gleichen, 2020; »Gleichheitsrechte und soziale Grundrechte. Internationale und vergleichende Dimension«, in: Thomas Kleinlein/Christoph Ohler (Hg.), Weimar international, 2020; »Sozial- und arbeitsrechtliche Relevanz der Unionsbürgerschaft«, in: Monika Schlachter/Hans Michael Heinig (Hg.), Enzyklopädie des Europarechts, 7. Bd., Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 2015, S. 119-170 (2. Aufl. 2020).
Autorinnen und Autoren
Stephan, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Rixen, Gesundheitsrecht an der Universität Bayreuth. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Verfassungs-, Sozial-, Gesundheitsrecht. Aktuelle Veröffentlichungen: »Demokratieprinzip und Gleichberechtigungsgebot: Verfassungsrechtliche Relationen«, in: Marion Eckertz-Höfer/Margarete Schuler-Harms (Hg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie. (Rechts-)Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, S. 59-84; »Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte«, in: F. Sebastian M. Heselhaus/Carsten Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, S. 337-357; Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020 (zusammen mit Jens Kersten). Schorkopf, Frank, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Göttingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Staatsrecht der internationalen Beziehungen, institutionelles EU-Recht, Rechtfertigung politischer Herrschaft. Aktuelle Veröffentlichungen: Der Europäische Weg, 3. Aufl. 2020; »Der Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union«, in: JuristenZeitung 75 (2020), S. 477-485; Staat und Diversität, 2017. Séville, Astrid, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Demokratietheorie, Politische Kommunikation. Aktuelle Veröffentlichungen: Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft, 2018; »Vom Sagbaren zum Machbaren? Rechtspopulistische Sprache und Gewalt«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49-50/2019, S. 33-38; »Das Märchen vom Widerstand. Der Vulgärheroismus der Rechtspopulisten«, in: Kursbuch 200: Revolte 2020, 2019, S. 154-169. Susemichel, Lea, Leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge. Studium der Philosophie und Gender Studies in Wien mit Schwerpunkt feministische Sprachphilosophie. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie & Bewegung, Medienpolitik. Aktuelle Veröffentlichung: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, 2018 (zusammen mit Jens Kastner). Vogel, Berthold, Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen an der Georg-August-Universität. Arbeits- und
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Ambivalenzen der Gleichheit
Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Arbeitswelt, des Rechts- und Sozialstaats und der öffentlichen Güter. Aktuelle Veröffentlichungen: »Gemeinwohl und öffentliche Güter. Eine Skizze in soziologischer Hinsicht«, in: Marianne Heimbach-Steins/Matthias Möhring-Hesse/Sebastian Kistler/Walter Lesch (Hg.), Globales Gemeinwohl. Sozialwissenschaftliche und sozialethische Analysen, 2020, S. 177-183; »Angleichungserwartung und Differenzerfahrung – die Herausforderungen des gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland«, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Begleitband zur EU-Ratspräsidentschaft »Soziales Europa – Starker Zusammenhalt«, 2020, S. 129-133 (zusammen mit Claudia Neu); »Die soziale Mitte und ihr Staat«, in: Nadine M. Schöneck/Sabine Ritter (Hg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten, 2018, S. 39-49.
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3
Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock
Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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