Die Kunst der Gabe: Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis 9783839440216

Theater between aesthetic autonomy and social obligations: This volume makes theories of giving and the exchange of gift

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German Pages 310 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
DANKSAGUNG
Die Kunst der Gabe – Zur Einführung
THEATER, KUNST UND GABE: THEORETISCHE KONSTELLATIONEN
Raum der Fiktion – Raum der Anerkennung: Theater, Gabe und Wahrheit
“The Place of the Thing”. The Predicament of the Gift in Art and Anthropology
Theater – Gabe und Gemeinsinn
Tausch und/oder Gabe: Gabentheoretische Positionen
Die Gabe zwischen Reziprozität und Einseitigkeit, Norm und ästhetischer Kraft
The Who, What, and How of the Gift in Theatre
Illusionäre Gaben: Zur Logik des ,als ob‘
The Gift as “Deep Play”. A ‘Note’ on Performance and Paradox in the Theatrics of Public Giving
RESONANZ UND PERFORMANZ: THEATERTHEORETISCHE POSITIONEN
„Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Gabentausch im Theater und die Phänomenologie der Aufführung
Begabtes Publikum: Eine theatrale Entdeckung! Von der Gabentheorie zu Theater und Tabu
Weitergeben. Theater mit Kindern für Erwachsene als Generationsverhältnis: Milo Raus Five Easy Pieces
Nietzsche and Artaud: Theatre and the Gift of the Mask
Überschreitungen: Politiken der Gabe
Tahrir – Versuch zu Souveränität und Verausgabung
Gabe und Grenze
Nichttun als Gabe?
Gabe und Opfer – Über Mother! von Darren Aronofsky und das Theater als Körper der Hervorbringung
Geben und Vergeben. Der Avatar als Palimpsest des Selbst Begegnungen mit der Installation The Art is Present
Autorinnen und Autoren
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Die Kunst der Gabe: Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis
 9783839440216

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Ingrid Hentschel (Hg.) Die Kunst der Gabe

Theater  | Band 104

Ingrid Hentschel (Hg.)

Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tage Larsen performing »Inside the Skeleton of the Whale« by Odin Teatret, Foto © Tony D’Urso, PHPERSKE30-017, ODIN TEATRET ARCHIVES Satz & Lektorat: Liska Sehnert, Marlene Stücke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4021-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4021-6 https://doi.org/10.14361/9783839440216 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Die Kunst der Gabe – Zur Einführung

Ingrid Hentschel | 9

THEATER, KUNST UND G ABE : THEORETISCHE KONSTELLATIONEN Raum der Fiktion – Raum der Anerkennung. Theater, Gabe und Wahrheit

Marcel Hénaff | 29 “The Place of the Thing”. The Predicament of the Gift in Art and Anthropology

Roger Sansi | 51 Theater – Gabe und Gemeinsinn

Gerhard Stamer | 67

TAUSCH UND/ ODER G ABE: G ABENTHEORETISCHE P OSITIONEN Die Gabe zwischen Reziprozität und Einseitigkeit, Norm und ästhetischer Kraft

Frank Adloff | 79 The Who, What, and How of the Gift in Theatre

Olli Pyyhtinen | 97 Illusionäre Gaben: Zur Logik des ,als ob‘

Elfie Miklautz | 111 The Gift as “Deep Play”. A ‘Note’ on Performance and Paradox in the Theatrics of Public Giving

Ilana F. Silber | 125

RESONANZ UND PERFORMANZ: THEATERTHEORETISCHE P OSITIONEN „Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Gabentausch im Theater und die Phänomenologie der Aufführung

Jens Roselt | 149 Begabtes Publikum: Eine theatrale Entdeckung! Von der Gabentheorie zu Theater und Tabu

Ortrud Gutjahr | 163 Weitergeben. Theater mit Kindern für Erwachsene als Generationsverhältnis: Milo Raus Five Easy Pieces

Kristin Westphal | 189 Nietzsche and Artaud: Theatre and the Gift of the Mask

Gert Hofmann | 209

ÜBERSCHREITUNGEN: P OLITIKEN DER G ABE Tahrir – Versuch zu Souveränität und Verausgabung

Asma Diakité | 225 Gabe und Grenze

Evelyn Annuß | 245 Nichttun als Gabe?

Hanne Seitz | 259 Gabe und Opfer – Über Mother! von Darren Aronofsky und das Theater als Körper der Hervorbringung

Reinhold Görling | 275 Geben und Vergeben. Der Avatar als Palimpsest des Selbst. Begegnungen mit der Installation The Art is Present.

Anton Rey | 293

Autorinnen und Autoren | 303

Vorwort I NGRID H ENTSCHEL

Das Titelbild dieses Buches zeigt eine theatrale Gabe: Ein menschlicher Körper, ein Mann, ein Schauspieler, leger bekleidet, leicht tänzelnd geht er auf uns zu, hält in den Händen ein Brett, auf das ein Buch genagelt ist, dessen Seiten von einer Axt gespalten werden. Er sieht uns nicht an... Hat er etwas zu geben? Weiß er es...? Es scheint, die Gabe, wenn es denn eine ist, ist zwiespältig. Was ist es was das Theater zu geben hat? Was gibt es, was können wir als Publikum davon annehmen, wahrnehmen, aufnehmen? Ist alles materiell, was von der Seite der Bühne kommt? Körper, Holz, Axt, Papier? Was übermittelt sich an immateriellen Gehalten, was Schriftzeichen und Linien nur unvollkommen wiederzugeben versuchen? Und ist es nicht so, dass wir als Zuschauer auch etwas geben? Schauspieler wissen und spüren genau, was von Seiten des Publikums auf sie zukommt. Sie können die Impulse aufnehmen, abwehren oder ignorieren, je nach Inszenierungskonzept und Situation. Wie sind die wechselseitigen ‚Gaben‘ aufeinander bezogen? Handelt es sich um Korrespondenzen, die sich zwischen Performern/Schauspielern und Zuschauern abspielen oder sogar um einen Austausch? Und wenn ja, was wird denn ausgetauscht? Blicke und Energien in eher konventionellen Aufführungen; Worte, Gesten, Handlungen in performativen Formaten – und: Woher nehmen wir überhaupt was wir geben, weiter- und übergeben? Ist das Auf- und Annehmen von Zeichen, Impulsen, Worten und Klängen, von Bildern und Atmosphären nicht ein neuerliches Geben? Gabeforscher fragen in vielfältiger Weise: Gehört der Austausch notwendig zur Gabe oder eliminiert er sie? Und wie sieht es mit der Freiwilligkeit aus? Nimmt das Publikum alles an was ihm von Seiten der Künstler angeboten wird? Keineswegs! Und sind die Gaben immer gute Gaben?

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Die Axt auf dem Foto mag vielleicht die Zwiespältigkeit anzeigen, mit der wir es zu tun haben, wenn wir die Kunst und vor allem das Theater im Zusammenhang mit der Gabe verstehen. Wie frei sind wir in den unterschiedlichen Settings des Gegenwartstheaters? Wie bindend sind die theatral präsentierten Ordnungen, wie verhalten sich Autonomie und soziale Verpflichtung zur künstlerischen Gabe? Handelt es sich um ein unkalkulierbares Spiel, um ein immer neues Risiko, das mit dem Publikum und zwischen den Performern und Schauspielern eingegangen wird? Diesen Fragen ist der vorliegende Band gewidmet.

D ANKSAGUNG Ich danke allen, die sich von der Gabe haben inspirieren lassen, besonders aber den in diesem Buch vertretenen Forscherinnen und Forschern, die mit Neugier und Enthusiasmus die Herausforderung angenommen haben, die Gabe zusammen mit dem Theater zu denken. Vor allem aber gilt der Dank und das Andenken Marcel Hénaff, der kurz nach Fertigstellung seines Beitrags unerwartet verstorben ist. Zu danken ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF) für die engagierte Unterstützung der internationalen Tagung „Theater als Tausch und Gabe: gabentheoretische Perspektiven“, die der Publikation vorausgegangen ist, sowie der DFG und der FH Bielefeld für ihre Zuwendungen. Mein großer Dank gebührt der Künstlerin Una H. Moehrke, mit der zusammen die Forschungen zu Theater, Kunst und Gabe ihren Anfang genommen haben, für ihre kontinuierliche Weiterführung und Begleitung der Expeditionen ins Feld der Gabe.

Die Kunst der Gabe – Zur Einführung I NGRID H ENTSCHEL

Die Kunst als eine Gabe aufzufassen und in gabentheoretischem Kontext zu behandeln, ist seit Lewis Hydes Buch The Gift (1979) und der großen Ausstellung in Mailand Il dono. The Gift (Maraniello et al. 2001) nicht mehr ganz überraschend. Vor allem nicht angesichts der Herausforderung durch die zunehmende Ökonomisierung von Kultur- und Bildungspolitik. Neu aber ist der Versuch gabentheoretische Ansätze im Hinblick auf ihre Affinität zu theatertheoretischen Überlegungen zu untersuchen. Aber auch vice versa: zu schauen, inwieweit Theatertheorie und Praxis durch den Bezug auf die vielfältigen Dimensionen der Gabetheoretischen Diskussion eine Bereicherung erfahren können. Den Ausgangspunkt bilden die zunehmend auf Partizipation, Austausch und Wechselseitigkeit ausgerichteten Entwicklungen im Gegenwartstheater. Die Öffnung der Künste zum Sozialen hin, zu direkten Formen von gesellschaftspolitischer Intervention, lässt es zunehmend fraglich erscheinen, sie ausschließlich in Theater- beziehungsweise Kunstwissenschaftlichen Kontexten zu verstehen. Aber auch sogenannte traditionelle Formate, wie wir sie im Autoren- und Textbasierten Schauspielertheater vorfinden, sind nicht frei von Elementen der Sozialität. Mit Christoph Menke (2013) lässt sich Kunst in ihrer paradoxalen Verfasstheit zwischen Teilnahme an einer sozialen Praxis einerseits und der Freiheit vom Sozialen andererseits verstehen1. Künstlerische Praxis findet nicht nur im Kunstwerk, sondern auch im Leben statt! Deswegen kann sie sich sozialer Elemente gar nicht enthalten. Sie geht aber darin nicht auf, weshalb Autonomie nach wie vor eine nicht zu vernachlässigende Größe in der Kunsttheorie darstellt (vgl. Rebentisch 2006). Momente der Freiheit treten in den ludischen Elementen des Theaters, in Illusion, Phantasie, Fiktion und Täuschung zutage, soziale Pra-

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„Die Kunst ist vielmehr das Feld einer Freiheit nicht im Sozialen, sondern vom Sozialen; genauer: der Freiheit vom Sozialen im Sozialen.“ (Menke 2013: 14)

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xis in der lebendigen Kopräsenz von Darstellern/Performern und Publikum, aber auch im kooperativen Zusammenwirken der Schauspieler (sowie aller anderen künstlerisch und institutionell Beteiligten) während der Proben und Aufführungen. Prozesse des Zusammenwirkens, der Kooperation, von Austausch und Wechselseitigkeit sind im Zusammenhang mit dem Theorem der Gabe vor allem von soziologischer und philosophischer Seite ausführlich erörtert worden (vgl. Adloff 2016). Hier hat sich im letzten Jahrzehnt ein international äußerst differenzierter Diskurs über die sozialen, ethischen und ästhetischen Dimensionen des Zusammenwirkens entwickelt. Als Bezug und Ausgangspunkt der Diskussion dient immer wieder Marcel Mauss’ folgenreicher Essay Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1994 [1924]). Von seiner Untersuchung nicht-utilitaristischer Formen des Austauschs und Schenkens inspiriert, geraten all jene sozialen Praxen in den Blick, in denen Menschen nicht im Rahmen von Zweck-Mittel-Relationen handeln, in denen Sozialität nicht über Eigennutz, sondern über wechselseitige Hilfe hergestellt wird und Kooperation nicht in erster Linie Interesse geleitet erfolgt. Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang an die Kunst zu denken. Nicht nur, weil die Geschenkobjekte, die Mauss beschrieben hat, häufig besonders aufwändig gestaltet sind und Kunstwerke als Objekte in Geschenkkulturen eine Rolle spielen (vgl. Miklautz 2010), sondern es ist besonders der Fokus auf Intersubjektivität und Kooperation, der dazu motiviert Kunst und Gabe zu verbinden.2 Nachdem in einem internationalen Symposium die Akzeptanz des GabeDiskurses für die (Selbst-)Beschreibung künstlerischer Praxis interdisziplinär und unter Mitwirkung von Künstlerinnen und Künstlern eruiert worden ist (vgl. Hentschel et al. 2011), versammelt der vorliegende Band – der auf Beitragen des Symposiums „Theatre as Exchange and Gift“3 aufbaut – Ansätze aus Kultur- und Medienwissenschaften, Sozialphilosophie, Soziologie und Anthropologie sowie aus Theaterwissenschaft- und Performance Studies mit dem Schwerpunkt Theater. Dabei wird ein erweiterter Theaterbegriff zugrunde gelegt, wie er inzwischen in der theaterwissenschaftlichen Diskussion zum Tragen kommt. ,Theater‘ umfasst die künstlerische Praxis des Crossover zwischen den Formaten Schauspiel,

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Vgl. Buch und Ausstellungskatalog: Maraniello, Gianfranco/Risaliti, Sergio et al. (Hg.) (2001) mit Beiträgen u. a. von Baudrillard, Caillé, Marion, Nancy und zahlreichen zeitgenössischen Künstlern. Busch, Kathrin (2005), Hentschel, Ingrid et al. (Hg.) (2011). Zuletzt der aus dem DFG-Schwerpunktprojekt „Ästhetische Eigenzeiten“ hervorgegangene Band zu Gabe und Tausch von Bies/Giacovelli/Langenohl (2018). „Theater als Tausch und Gabe: Gabentheoretische Perspektiven“, Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF), 26.–28.10.2017. https:/www.uni-bielefeld.de/ZIF/AG/2017/10-26-Hentschel.html (15. Juni 2018).

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Performance, Nicht-Theater und Anti-Theater. Theater ist diesem Verständnis gemäß nicht nur das flüchtige Ereignis eines Abends, sondern auch Prozess, Interaktion, Handlung – eine Praxis zwischen Kunst und Leben.4

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Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben sich der Herausforderung gestellt, zu überlegen welche Konzepte der Gabeforschung geeignet sind, die spezielle Gemengelage von ästhetischer Freiheit und sozialer Kooperation und Verpflichtung zu beschreiben, wie sie in aktuellen Theater- und Performanceformaten anzutreffen ist. Der Verschiedenartigkeit der je fachwissenschaftlichen Provenienz geschuldet, bewegen sich die Antworten in den Spannungsfeldern des breit gefächerten Gabewissenschaftlichen Diskurses. Die Vielschichtigkeit der Gabentheoreme und -phänomene zwischen einer reinen, auf nichts zielenden, unbedingten Gabe und der sozialen Verpflichtung, die in und durch Gabenereignisse stattfindet, mag auf den ersten Blick unübersichtlich erscheinen. Aber gerade die Vielfalt, die in Paradoxien kulminiert, ist es, die den weitgefächerten Phänomenen von Kunst, vor allem an den Schnittstellen zwischen Kunst und Leben und ihren Entgrenzungen gerecht zu werden vermag. Dabei bildet Theater mit seinen leibhaftigen Produktions- und Rezeptionsprozessen, in der Präsenz von Spielern/Darstellern, Performern/Schauspielern und Zuschauerinnen und Besucherinnen eine besondere Herausforderung. Theatrale Veranstaltungen sind nicht still zu stellen, sie produzieren unablässig Bilder im Fluss und soziale Situationen, die den Betrachter einschließen. Hier trifft Theodor W. Adornos Formel vom Kunstwerk als einem Werk im Werden (1974: 263) zu, die Juliane Rebentisch für ihre Theorie der ästhetischen Erfahrung als eines oszillierenden Prozesses zwischen Subjekt und Werken inspiriert (Rebentisch 2003). Die Formel „Geben, was man nicht besitzt“5 verweist auf den kreativen Schaffensprozess in den Künsten, besonders aber im Theater. Es ist die zweideutige Verfasstheit der Gabe, die sowohl den schöpferischen Aspekt der ‚Gegebenheit‘ (the given) und der ‚Begabung‘ (Thema der Phänomenologie) beinhaltet,

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Die Bezugnahme auf den Diskurs über die Gabe entspricht dem Perspektivwechsel des performative turn in der Theaterwissenschaft, in dem die Kulturanthropologie zur Leitwissenschaft wurde. Der alle gesellschaftlichen Felder berührende Begriff der Theatralität, der in den letzten 20 Jahren gründlich erforscht und thematisiert worden ist, soll hier indes nicht im Zentrum stehen. Es handelt sich bei diesem Zitat um eine Fußnote, die Jacques Derrida in Heideggers Anaximander Fragment gefunden hat und auf die er in „Donner le temps“ (dt. 1993) Bezug nimmt.

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wie auch die Dimension sozialer ‚Austauschakte‘ (Thema der Soziologie), die es nahelegt Gabekonzepte auf beides, auf Produktions- und Rezeptionsprozesse im Theater zu beziehen. Das Projekt einer Theatertheorie der Gabe, das mit dem vorliegenden Band in einem ersten Schritt avisiert wird, geht davon aus, dass es gerade die Zwischenposition der Gabe ist (Därmann 2010: 162ff), die mit ihrer Immaterialität, Sozialität und Unberechenbarkeit die Fruchtbarkeit für eine Theorie des Theaters ausmacht. Theater steht mit dem freien regellosen Spiel auf der einen Seite und seinem steten Wirklichkeits- und Wirkungsbezug auf der anderen Seite, der durch die Adressiertheit des Geschehens an ein Publikum gegeben ist, in dem Paradox zwischen Freiheit und Verpflichtung, unbedingtem Kunstwollen und sozialen Austauschprozessen. Die Theaterkunst – so die These des vorliegenden Bandes – teilt mit ihrer lebendigen Kopräsenz von spielenden Darstellern und zuschauendem oder mitwirkendem Publikum das Paradox der Gabe, die – im Anschluss und angeregt durch Marcel Mauss – in der Spannung zwischen freiwilligem Geben und sozialer Verpflichtung beschrieben wird. Gabenereignissen wird sowohl soziale Bindekraft wie Spontaneität und Autonomie zugesprochen. Beides ist in hohem Maße in den vielfältigen künstlerischen und institutionellen Prozessen des Zusammenwirkens im Theater, die Marcel Hénaff als den „Bereich der komplexen Theatertätigkeiten“ bezeichnet, wirksam. Nicht zu vergessen: Über die Inszenierungen hinaus werden im Theater Modelle eines gemeinsamen Lebens und sozialen Zusammenhalts erprobt, an denen es in der Welt mangelt – wenn auch die Lebensräume der Kunst nicht frei sind von gesellschaftlich-ökonomischen Einflüssen. Die großen Theaterreformer des vergangenen Jahrhunderts formulierten neben neuen Inszenierungsweisen und Techniken der Schauspielkunst auch jeweils eine implizite Ethik der theatralen Kommunikation. Sie haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die berühmten Theaterlaboratorien mit ihren verschiedenen kollektiven Modellen inspiriert: von Jerzy Grotowskis Theaterlabor in Wroclaw und Pontedera, über das Theatre du Soleil und Peter Brooks Bouffes du Nord in Paris und das weltweit tourende Odin Theater aus Dänemark, um nur wenige zu nennen. Eine Ethik der Ästhetik im Sinne theatraler Zusammenarbeit kann sich auf Paul Ricœurs (2006) Version einer Theorie der Anerkennung im Zeichen der Gabe beziehen. Das Interesse an Formen der Zusammenarbeit und anti-utilitaristischen Perspektiven motivieren aktuelle Bezugnahmen auf die Forschungen zur Gabe (vgl. Adloff 2016) und bilden ein kritisches Potential angesichts der zunehmenden Ökonomisierung, die auch den Bereich der Kunst- und Kulturförderung nicht verschont. Inzwischen hat der sozialpolitische Kontext, in dem sich

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die Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des Gabe-Diskurses seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vollzieht, an Brisanz gewonnen. Zunehmende soziale Ungleichheit und Entsolidarisierung motivieren ein gesellschaftspolitisches Interesse, das die Intensivierung von Gabediskursen in verschiedenen Wissenschaften und gesellschaftlichen Feldern anregt. An die Gabendiskussion werden eine Reihe von Forderungen gestellt, die komplexer nicht ausfallen können: Es geht um nicht weniger als darum, das Verhältnis zur Gegebenheit des Seins, beziehungsweise der Natur zu formulieren, eine Ethik der Unentgeltlichkeit und Formen der Solidarität zu begründen, dem Gebot der Anerkennung des Anderen zu entsprechen, die Besonderheit des sozialen Zusammenhangs neu zu definieren, die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit zu denken und schließlich um die Überwindung einer utilitaristischen Sichtweise der Produktion und des Tauschs (vgl. Hénaff 2014: 26). Entsprechend differenziert sich die Diskussion um soziologische Fragen, die Reziprozität und Gerechtigkeit betreffend, sowie philosophische, die Existenz und Sozialität unter ethischen Gesichtspunkten der Anerkennung untersuchende und schließlich ökonomische, die Unterstruktur der Wirtschaft in ihren nichtmonetären Austauschprozessen und Leistungen behandelnd. Phänomenologische Überlegungen, die sich existentiellen Fragen wie der Gegebenheit, dem Sein und der Alterität widmen und die Unverfügbarkeit von Gabenereignissen betonen, spielen in den diversen Konzeptionen immer wieder eine Rolle (vgl. Bauer 2012). Während man sich vom Gabe-Theorem einen gesellschaftlichen Orientierungsdiskurs erhofft – man denke nur an den ,Konvivialismus‘ (Adloff/Heins 2015) – sind es die Momente von Autonomie, von Anti-Utilitarismus und Brüchen mit den Normen alltäglicher Praxis, die eine Verbindung von Ästhetik und Gabentheorie motivieren. Gesellschaftspolitisches Interesse ist denn auch ein Grund für die Zunahme partizipativer Formate in der Gegenwartskunst (vgl. Bourriaud 2002) und nicht zuletzt im Theater, die direkte Aktionen von Austausch und Zusammenarbeit, von Begegnung und politischer Intervention ins Werk setzen, wie sie in verschiedenen Beiträgen dieses Bandes zur Sprache kommen.

D IE B EITRÄGE Ein Merkmal der Gabeforschung besteht darin, dass sie sich in hohem Maße inter- und transdisziplinär gestaltet – und immer wieder auch zur Überschreitung der disziplinären Grenzen einlädt. Das vorliegende Buch konfrontiert den Leser mit der doppelten Perspektivität von fachwissenschaftlichen Gabe- und Theater-

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diskursen, die sich in jeweils unterschiedlichem Verhältnis überschneiden. Es gliedert sich in vier Abteilungen, von denen die erste einen eher philosophischen Blick auf die Kunst der Gabe und das Theater wirft, während die zweite spezieller auf die sozialwissenschaftliche Perspektive eingeht, und im dritten Teil theaterwissenschaftliche Beiträge zu finden sind. Der vierte Teil versammelt Aufsätze, die sich unter dem Gesichtspunkt der ,Überschreitung‘ sowohl in politischer wie ästhetischer Richtung fassen lassen. Theater, Kunst und Gabe – Theoretische Konstellationen Zunächst geht es im ersten Teil des Buches um grundsätzliche philosophische Überlegungen, das Terrain von Gabediskursen und der ‚Theatertätigkeit‘, zu eruieren. Unter dem Titel „Raum der Fiktion – Raum der Anerkennung. Theater, Gabe und Wahrheit“ fragt: MARCEL HÉNAFF weit ausholend: Was kann uns das Theater geben, wobei er sowohl produktionsästhetische, wie rezeptionsästhetische aber auch institutionelle Dimensionen ins Spiel bringt. Er schlägt vor, drei Hauptformen der Gabe zu unterscheiden: die zeremonielle Gabe, die wechselseitig sein muss, weil es sich um einen Pakt der öffentlichen Anerkennung zwischen den Partnern handelt; die bedingungslose Gabe, die einseitig ist; und die Gabe aus Solidarität, die auf großzügige Hilfe abzielt. Die erste Form scheint am relevantesten zu sein für die Frage der gegenseitigen Anerkennung zwischen der Bühne und dem Publikum, zwischen Schauspielern und Zuschauern. Der Schauspieler agiert weder allein als Individuum vor einer Gruppe von Fremden, noch nur als Rollencharakter in der fiktionalen Sphäre der ,Bühne‘. Da sie niemals mit dem Leben selbst identisch sein kann, ohne sich selbst zu negieren, gehört sie der Welt der Spiele an. Dieses ,Spiel‘ aber beabsichtigt reale Wirkungen hervorzubringen und auf die Teilnehmer einzuwirken. Paradoxerweise zielt das Theater darauf ab, das, was wir Realität nennen, zu modifizieren, die heterogenen Ordnungen zu transzendieren. Insofern ist das Theaterspiel keine Illusion, keine leere Fiktion, handelt es sich doch darum, eine Kommunikation zu verwirklichen, die – so Hénaff – der Gabenbeziehung mit ihrer Überschreitung definierter Grenzen entspricht.6 Das Moment des Überschusses ist wesentlich für Gabe und Theater. Wie der Kunst so ist auch der Gabe ein Moment des Unverfüg- und Unkalkulierbaren eigen.

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Auf die Zwischenposition der Gabe in Bezug auf die Realitätsbereiche nimmt auch Olli Pyythinen an späterer Stelle Bezug, wenn er in Anlehnung an Georg Simmel die kreative Kunst des Schauspielers als ein drittes, einen mittleres, nicht aus der Realität oder aus dem Spiel abzuleitendes Phänomen beschreibt.

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Dabei ist die Gabe etwas durchaus Ambivalentes: Wie die Axt das Buch auf dem Titelfoto, so durchschlägt die Gabe gute Absichten, bricht mit normierten Praktiken und wird nicht immer angenommen und erkannt, wie ROGER SANSI am Beispiel eines partizipativ ausgerichteten Kunstprojekts während der 14. Documenta 2017 in Athen (als zusätzlichem Ausstellungsort neben dem Traditionsort Kassel) zeigt. Er diskutiert die paradoxe Situation einer entwendeten Gabe zwischen sozialer Vereinnahmung und autonomer Beraubung durch eine Gruppe von Aktivisten am Beispiel von Roger Bernats The Place of the Thing. Als Anthropologe dämpft er den Überschwang, der bisweilen in der Bezugnahme von Kunst und Gabe auftaucht. Bereits in seiner Studie über die Beziehung von Kunst und Anthropologie (2015) vermerkt er kritisch die häufige Idealisierung der Gabe durch Künstler und Kunsttheoretiker. Zwischen den utopischen Ideen, die oft in der Kunstpraxis zu finden sind, wenn sie sich auf die Gabe bezieht, und den anthropologischen Beschreibungen der Gabe als einer sozialen Tatsache besteht ein starker Gegensatz. Während die Gabe in der Kunst häufig als freiwillig und egalitär erscheint, beschreibt die ethnographische Literatur sie eher als verbindlich, ritualisiert und hierarchisch. Die Frage, ob es so etwas wie eine ,reine‘, eine ‚wahre‘ Gabe geben kann, stellt sich aber auch für die Anthropologie. Hier könnte die Einbeziehung der Kunst helfen, indem der Fokus der Ontologie der Gabe verschoben wird: Die Gabe wäre als ein Ereignis zu fassen, anstatt als soziale Tatsache. Einen Brückenschlag zwischen Transzendenz und sozialer Affirmation schlägt GERHARD STAMER in seinem philosophischen Beitrag über „Theater – Gabe und Gemeinsinn“ vor. Er geht dem Geschehen zwischen Bühne und Publikum in gelingenden Aufführungen nach. In der unvergleichlichen Präsenz des Theaters wird ihm zufolge das „zutiefst Gemeinsame der schicksalhaften menschlichen Existenz spürbar“. Vermittels einer Reflexion auf die Affinität zwischen dem Gemeinsinn, wie ihn Immanuel Kant für ästhetische Urteile allgemein voraussetzt, und den kultischen Ursprüngen des Theaters wird erwogen, wie weit Theateraufführungen als eine Gabe aufgefasst werden können, die sich das Gemeinwesen im Sinne einer grundlegenden Besinnung, Affirmation und Transzendierung des Alltags selbst gibt. Die Gabe des Theaters – Gert Hofmann wird sie an späterer Stelle mit der Gabe der Maske als Emblem der Theaterkunst weiter differenzieren – berührt sowohl die Unausweichlichkeit menschlichen Lebens als auch die Freiheit es aufs Spiel zu setzen und neu zu entwerfen.

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Tausch und/oder Gabe: Gabentheoretische Positionen FRANK ADLOFF skizziert Elemente einer Sozialtheorie der Gabe, in der Formen von ästhetischer Freiheit eine zentrale Rolle spielen. Sowohl alltäglichen wie extraordinären Gaben haften Momente des Risikos, der Asymmetrie, Größe, Spontanität und Freiheit an, die sich nicht der Logik des symmetrischen Tauschs beugen, wie häufig in der soziologischen Literatur angenommen. Er konstatiert ein Kontinuum von Kunst und sozialem Leben, in dem die Gabe auch normierten sozialen Praktiken zugrunde liegt. Kunst, Ästhetik und Freiheit sind keine vom Leben abgetrennten Bereiche, sondern notwendige Voraussetzungen für unsere alltäglichen Handlungsvollzüge. Es sind die ästhetischen Eigenschaften von Gabepraktiken, denen eine experimentelle Seite innewohnt, die als Ausdruck einer ästhetischen Freiheit von der Welt der Normativität begriffen werden kann. Auch da wo es um Tausch und Reziprozität geht (die häufig strikt von der Gabe geschieden werden) erkennt Frank Adloff Momente der Bedingungslosigkeit. Kunstpraxis wird von ihm als exemplarische Ausübung der Gabe verstanden. Auf der Grundlage eines zwanglosen Zwangs, einer (ver-)bindenden Freiheit werden in Kunstproduktionen Allianzen geschaffen, die – wie dann auch am Beispiel der Aufführung Zeppelin im Beitrag von Jens Roselt deutlich wird – immer wieder auch aufs Spiel gesetzt werden. Auch OLLI PYYTHINEN widerspricht in seinem Beitrag „The Who, What and How of the Gift“ der verbreiteten soziologischen und anthropologischen Sicht der Gabe allein als Modus von Reziprozität und argumentiert, dass die Gabe nicht auf Gegenseitigkeit oder Austausch reduziert werden kann. Auch da wo es darum geht, dass – wie auch in der Kunst – etwas von jemandem an jemanden gegeben wird, geht der Vorgang nicht auf in der sozialen Beziehung. Zwar wird das Geben als Bedingung der Möglichkeit der Gabe betont, er sieht aber in Anlehnung an Jacques Derridas radikale Position einer unbedingten und damit letztlich unmöglichen Gabe eine Referenz: Was schließlich von der Bühne dem Publikum gegeben wird und vice versa beinhaltet einen Überschuss, einen Exzess, der sozial nicht integrierbar ist. Die Beziehung zwischen den Darstellern und dem Publikum scheint auf den ersten Blick asymmetrisch zu sein und von Hierarchie, nicht von Horizontalität geprägt. Aber die Darsteller haben keine absolute Souveränität über das Publikum, sondern auch das Publikum kann weggehen, den Applaus und die Aufmerksamkeit verweigern oder in partizipativen Formaten nicht wie erwartet kooperieren. Hinter den Vorhang vermeintlich gelingenden Gebens schaut ELFIE MIKLAUTZ, indem sie das weihnachtliche Schenken sowie das Theater in den Blick nimmt und auch die agonalen Aspekte der Gabe thematisiert, das Streben

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nach sozialer Distinktion und Anerkennung. Das So-tun-als-ob es um Uneigennützigkeit und a-ökonomische Werte ginge wird als wichtige Dimension zeremonieller Gabepraxis beschrieben und diese damit als Täuschungs- und Illusionsmanöver. Mit der Unterscheidung verschiedener Tauschformen und der Berücksichtigung der Temporalität schließt sie kritisch an Pierre Bourdieus Position an, der eine Uneigennützigkeit und damit Unilateralität der Gabe als pure Illusion in Abrede stellt, und formuliert damit eine Kritik romantisierender Konzepte des Gabentausches. Inwieweit die Gabe verbunden ist mit spielerischen, aber auch illusionierenden Aspekten zeigt sie anhand des weihnachtlichen Schenkens und Beschenktwerdens. Wechselseitiges Übermitteln von Gaben kann als raffiniertes Spiel des Glaubens und einander Glaubenmachens an ein uneigennütziges Geben beschrieben werden. Ein Spiel, das souverän mit der Möglichkeit des Unmöglichen zu spielen weiß. So betrachtet sie das Weihnachtsfest als ein inszeniertes, als ästhetisches Gesamtkunstwerk, das in jedem Jahr von Neuem zur Aufführung gelangt, um uns an eine Welt jenseits von Tauschwert und Profit glauben zu lassen, ein allerdings sehr wirkmächtiger Vorgang, der dabei ins Werk gesetzt wird. Die Gabe spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle im Bereich öffentlichen Gebens, der Philanthropie und der Großspenden. ILANA SILBER geht im Sinne von cultural performances der theatralen Dimension von Gabenbeziehungen im Allgemeinen und der elitären Philanthropie nach. In ihrer intensiven Aufarbeitung der Forschung zur Gabe kann sie zeigen wie theatralische Konzepte und Metaphern in verschiedenen Strömungen der soziologischen und anthropologischen Theorie eingesetzt werden, dass dabei aber die dramatische und performative Dimension von Gabeprozessen außer Acht gelassen wird. Ausgehend von Clifford Geertz’ berühmten Essay über den Balinesischen Hahnenkampf (1973), in dem er das Konzept des ‚Deep Play‘ entwickelt, kann sie einen bisher in der Diskussion des Textes übersehenen Aspekt auf Philanthropie im öffentlichen Raum beziehen, wie wir sie von Bill Gates, Mark Zuckerberg und anderen Großgebern kennen. Öffentliches Geben ist von einer ausgeprägten Flut innerer Widersprüche und Paradoxa durchzogen, die in vielem an die Paradoxa öffentlicher Aufführungen des Theaters gemahnen: Dynamiken von Darstellung, Macht und Anerkennung formen öffentliche Gabeprozesse in Politik und Kunst im Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Verpflichtung, Autonomie und nutzbringendem Kalkül.

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Resonanz und Performanz: Theatertheoretische Positionen Ausgehend von problematischen, paradoxen Kommunikationserfahrungen zwischen Bühne und Publikum erörtert JENS ROSELT am Beispiel einer Aufführung von Zeppelin in der Regie von Herbert Fritsch die spezifischen Formen von Resonanz und Austausch in Theateraufführungen. Mit Bezug auf die ablehnende Bemerkung eines verärgerten Theaterbesuchers „Das brauchen wir nun wirklich nicht“ schlägt er vor, das Verhältnis von Bühne und Publikum als einen ,Tauschhandel‘ zu verstehen, der sich in Aufführungen als dialogisches Zwischengeschehen vollzieht. Er geht von der mittlerweile etablierten Unterscheidung zwischen der Inszenierung als einem intendierten Geschehen und der kontingenten Situation einer Aufführung mit ihren Unkalkulierbarkeiten aus. Die Gabe erscheint dabei als eine besondere Form der Antwort, welche den meistens durch Konventionen geregelten ‚Tauschhandel‘ zwischen Bühne und Publikum aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag. Gegenüber dem dichten Gewebe der Inszenierung erscheint deren Aufführung wie ein wildes Geschehen. Denn die Aufführung (einer Inszenierung) bezieht stets ein konkretes Publikum mit ein, das mitgeht, sich verweigert, entsetzt oder fasziniert auf die Bühne starrt und „Bravo!“ ruft, mit den Türen knallt oder einfach verschwindet. Eine Aufführung ist ein emergentes Geschehen, das prinzipiell unfertig ist, weil die Zuschauerinnen und Zuschauer es durch ihre Anwesenheit sowie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen mit hervorbringen. Während eine Inszenierung wiederholt werden soll, wird jede ihrer Aufführungen einmalig. In diesem Sinne sind Theateraufführungen generell zu den cultural performances oder eben kulturellen Aufführungen zu zählen, welche sich durch ihre besondere zeitliche und örtliche Verfasstheit, durch die Teilnehmer sowie ihren Ablauf und Anlass bestimmen und differenzieren lassen. So wird auch bei Roselt das ‚Zwischen‘ zu einem zentralen analytischen Begriff für die Untersuchung der Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern in Aufführungen, wobei er methodisch mit den phänomenologischen Begriffen der Intentionalität und Responsivität operiert. Dies sind Konzepte, an die KRISTIN WESTPHALS Überlegungen zur Weitergabe, zur Transmission und Kommunikation zwischen den Generationen anschließen. Milo Raus Stück Five Easy Pieces über den Kindermörder und Sexualverbrecher Dutroux lässt Kinder in die Rollen von Erwachsenen schlüpfen und konfrontiert das Publikum mit der befremdenden Erfahrung von Resonanz und Distanz. Weitergabe, so die zentrale These, bedeutet eine Transformation im Sinne von Responsivität, wie sie in Anlehnung an Waldenfels (1994) als ein Antwortgeschehen beschrieben wird. Geben und Nehmen zeigen sich als verschränkte Beziehung, in der es für die Zuschauer darum geht, sich selbst anzu-

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nehmen und – angesichts des Generationenkontexts, vor dem Theater hier reflektiert wird – das Risiko einer (Verantwortungs-) Übernahme in die Zukunft auf sich zu nehmen. Dass die Gabe eines Schauspiels von Seiten der Schauspieler auch verweigert wird und gängige Zuschauererwartungen unerfüllt bleiben, zeigt ORTRUD GUTJAHRS Beitrag „Begabtes Publikum: eine theatrale Entdeckung. Von der Gabentheorie zu Theater und Tabu“. Am Beispiel von Peter Handkes Publikumsbeschimpfung wird deutlich wie ein Gabentausch, den Marcel Mauss als die bekannte dreischrittige Abfolge von Geben, Nehmen und Erwidern konzipiert hatte, infrage gestellt ist. Ortrud Gutjahr verfolgt die Spur des Tabus (der Mauss selbst nicht nachgeht, während er durchaus die Sanktionen erwähnt, die mit einer verweigerten Erwiderung der Gabe verbunden sind). Die Gabe ist auch ein Transmitter von Normen, die mit Tabus einhergehen, im Theater werden sie anders als Verbote durch implizite Imperative gesteuert. Der theatergeschichtliche Überblick macht erkennbar, wie die Zuschauer in den jeweiligen Epochen als Mitakteure des theatralen Gabentausches auch im Hinblick auf Tabus konfiguriert sind. Dabei zeigt sich, dass der ,Gabentausch‘ im Kontext des Theaters den zirkulären Dreischritt von Geben, Nehmen und Erwidern zugunsten einer Dialogizität überwindet. Dem entspricht das aktuell große Bedürfnis des Publikums nach diskursivem Austausch und Gespräch über das Erlebnis einer Aufführung und die vielfältigen Formate, die die Theater inzwischen bereithalten, um dem Wunsch nach Teilhabe an einer dialogischen Kultur zu entsprechen. GERT HOFMANNS theaterphilosophischer Beitrag „Nietzsche and Artaud. Theatre and the Gift of the Mask“ behandelt das Theater unter dem Gesichtspunkt von Spontaneität und Schöpfung, die sich nicht darum bekümmert, ob und wie sie verstanden oder kommuniziert wird. Mit Bezug auf Jacques Derridas Diktum, dass die Gabe nur als Unmögliche möglich sei, als ein Fall von suspendierter Kausalität im Ereignis, letztlich von Leben und Tod, thematisiert er die Doppelseitigkeit der Maske als Emblem des Theaters. Die Maske entspricht der Ambiguität der physischen Bühnenpräsenz und der gleichzeitigen Absenz, die durch die Erzählung gegeben ist. Wort und Körper, An- und Abwesenheit finden in der Maske mit ihrer Doppelheit von Zeigen und Verbergen, Außen- und Innenseite eine Entsprechung. Mit dem Bezug auf die Polarität von Entstehen und Vergehen, Leben und Tod wird das Theater als eine Gabe der Überschreitung charakterisiert.

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Überschreitungen – Politiken der Gabe In kaum einem Prozess politischen Aufbegehrens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der künstlerische Ausdruck des Widerstands so deutlich gezeigt wie in der ägyptischen Revolte im Jahre 2011, für die der Tahrir-Platz in Kairo zum Symbol geworden ist. ASMA DIAKITÉ verfolgt an Beispielen künstlerischer Praxis in dieser Umbruchsituation, in der Machtstrukturen aufgehoben werden, die Frage nach der Autonomie künstlerischer Praxis in politischen Kontexten. Mit Bezug auf Georges Batailles Theorie der Verausgabung, auf Thierry de Duves Kunsttheorie sowie eine Performance des Tänzers und Schauspielers Ezzat Ismail wird die These vertreten, dass Revolte nicht nur als politische Bewegung begriffen werden sollte, sondern auch als autonome ästhetische Strömung, die das Vernünftige und Rationale in Frage stellt. Wenn Verausgabung als eine Kategorie von Ästhetik verstanden wird, verändert sich das Politische im Theater. Da die Kunst jenseits des Nutzens zu begreifen ist, gibt es keine rationale Verknüpfung von Kunst und Politischem. Umso mehr bleibt zu zeigen, wie es nicht explizit politisch motivierte Kunst vermag, ein kritisches Potential freizusetzen, ohne sich von politischen Strategien, Marktmechanismen oder Disziplinierungsmaßnahmen vereinnahmen zu lassen. Nach den konstitutiven Bedingungen gegenwärtiger Projekte an den Schnittstellen von Performance und Protest, Kunst und Leben fragt EVELYN ANNUSS in ihrem Beitrag „Gabe und Grenze“. Sie untersucht das Verhältnis zwischen aktuellen Forderungen nach einer neuen Kunst des Zusammenlebens – wie sie auch im Konvivialistischen Manifest Formulierung findet (Adloff/Heins 2015) – und dem Theater als Raum der Co-Präsenz von Akteuren und Publikum in einer Zeit neoliberaler Ausgrenzungen. Das Verlassen etablierter Kunsträume und die dabei entwickelten Formen sozialer Vergemeinschaftung sind nicht frei von marktkonformen Affinitäten. Deswegen wären die jeweiligen Bedingungen und die gesellschaftlichen Ein- beziehungsweise Ausschlüsse offen zu verhandeln, wie an zwei Beispielen diskutiert wird. Claudia Bosses urbane Inszenierung ideal paradise lässt Theater gleichermaßen als Kunstraum und als sozialen Raum deutlich werden. Auch das politisch brisante Beispiel der Besetzung der Berliner Volksbühne als Protest gegen die Intendanz Chris Dercons im Jahre 2017 veranlasst dazu, die theoretischen Überlegungen zu Praktiken der Gabe, neuer performativer Formate und der Verflechtung von Ästhetik und sozialem Feld kritisch zu überdenken: will sie nicht marktkonformen Rhetoriken verfallen, so kann eine künstlerische Praxis des Zusammenkommens und Austauschs die konstitutiven Bedingungen von Kunsträumen und Institutionen nicht ausblenden.

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Zeitdiagnostische Erwägungen leiten auch HANNE SEITZ’ Beschäftigung mit aktuellen Formaten, die Überlegungen zum „Nichttun als Gabe?“ (so der Titel ihres Beitrags) anregen. Am Beispiel von Inszenierungen und Performances von Xavier le Roy, Tino Sehgal und Marina Abramovi wird die ,Gabe des Nichttuns‘ als Korrektiv einer ausschließlich auf das aktive Handeln konzentrierten Sichtweise beschrieben. Die unterschiedlichen Inszenierungen einer Verschränkung von Lassen und Tun heben das Moment der Passivität hervor, wobei Nichttun keinesfalls heißt, nichts zu tun, sondern es geht darum von sich abzusehen und damit der Unverfügbarkeit der Gabe Rechnung zu tragen. Es ist der Faktor Zeit, der dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät: Die Gabe der Zeit kann als Absage an eine vom Geschwindigkeitszwang beherrschte Gesellschaft verstanden werden (vgl. auch den Beitrag Anton Reys). Eine Ästhetik des Unterlassens, die sich auf die phänomenologisch explizierte Unverfügbarkeit der Gabe berufen kann, fragt darüber hinaus auch nach den Grenzen des Menschlichen. Diese werden in dem Film Mother! irritierend berührt, den REINHOLD GÖRLING in seiner medientheoretischen Reflexion „Gabe und Opfer. Über Mother! von Darren Aronofsky und das Theater als Körper der Hervorbringung“ untersucht. Gabe und Opfer sind zwei verschiedene Figurationen, die den Bereich der Äquivalenz und ökonomischen Zirkulation überschreiten. Weder Gabe noch Opfer sind an die Vorstellung einer Erwiderung gebunden, hier folgt auch Görling Derridas Position einer Unbedingtheit der Gabe. Das Opfer aber schließt anders als die Gabe einen irreversiblen Verlust ein. An der filmischen Analyse von Mother! wird die verhängnisvolle Verwandlung der Gabe in ein Opfer gezeigt, während Theater und Film selbst als ,Emergenzpraktiken‘ verstanden werden, die der Gewalt des Opfers widerstehen können. Am Ende des Bandes stellt ANTON REY seine interaktive Videoinstallation The Art is Present als „das kleinste Theater“ vor: Ein Beichtstuhl, in dem ein Besucher nur dem eigenen Avatar, aber keinem Priester begegnet, wird zum Test für eine Gabeerfahrung ohne Gegenseitigkeit – in der aber stets ein Außen existiert, von dem wir uns nur schwer lösen können. Was ist es was verhindert, dass wir uns selbst als einem anderen zuschauen können? Was wird überhaupt gegeben in dieser elektronisch und medial aufgeladenen Installation? The Art is present fordert auf zu Kontemplation und Selbst-Begegnung, und nicht zuletzt verweist dieses künstlerische Experiment, installiert im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung, auf die Bedeutung der Zeit – Zeit, die gegeben, aber zumeist nicht genommen wird.

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P ARADOXE K ONSTELLATIONEN – T HEATER

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Die Vielfalt der interdisziplinären Annäherungen an das Verhältnis von Gabenund Theatertheorie kann an dieser Stelle kaum abschließend gewürdigt werden. Es sollen aber wenigstens einige Verbindungslinien im Hinblick auf das Desiderat einer Theatertheorie der Gabe skizziert werden. Die hier vertretenen Ansätze aus Philosophie, Soziologie, Anthropologie, Medien- sowie Theaterwissenschaft und Performance Studies verbinden sich in der je unterschiedlichen Konzeptualisierung dessen was als Gabe verstanden und wie dieses Theorem auf das Phänomen Theater bezogen wird: Theater in einem weiten Sinne, als gesellschaftliche Institution, als Aufführungsgeschehen, als performatives Event und im Verhältnis zur politischen Aktion. Die Breite der rezipierten Gabetheorien, die allesamt inspiriert sind von Marcel Mauss’ Essay über die Gabe, differenziert sich enorm, und dennoch kommen immer wieder Übereinstimmungen zum Ausdruck. Die Gabe wird als etwas betrachtet, das einen Zusammenhang bewirkt, ohne dabei auf eine einzelne Praxis beschränkt zu sein. Das eben erlaubt eine Vielfalt von Bezügen auf die Theatertätigkeit in all ihren Aspekten. Der wichtigste, für eine Theatertheorie der Gabe bedeutsamste Befund ist die These, dass die Gabe auf paradoxe Weise Momente der Unkalkulierbarkeit, der Unverfügbarkeit beinhaltet, auch dann wenn sie soziale Verbindungen schafft und bisweilen auch festigt. Wir sind es wenig gewohnt in Paradoxa zu denken und Widersprüchliches zu verbinden, wie es das Theorem der Gabe fordert. Im Japanischen gibt es zwischen zwei Worten ein Trennungszeichen, das zugleich ein Verbindungszeichen darstellt, ,Kerenji‘ genannt (Guzzoni 2014: 132 ff). Das würde man gerne für die Gabe und ihre paradoxen Verbindungen von Freiheit und Verbindlichkeit, von Uneigennützigkeit und Zweckgerichtetheit, von Reziprozität und Unilateralität adaptieren, wie sie Olli Pythinnen beschreibt. Um nur wenige zu nennen: Gaben sind verkäuflich und unverkäuflich; etwas zu geben beinhaltet zugleich Selbstverlust und Erweiterung des Selbst; Gaben implizieren Verpflichtungen die frei sind von entsprechenden Rechten. Um Gabe zu sein, muss die Gabe vom anderen akzeptiert werden und sobald die Akzeptanz gegeben ist, ist sie in der Ordnung der Reziprozität. Jedes Objekt kann Gabe sein, und wird diese nur sofern ihm etwas Immaterielles anhaftet. Gabe ist beides, gut und schlecht, die besten Gaben verkehren sich leicht in unwillkommene oder gefährliche (vgl. Pythinnen 2014: 153). Hier ist nicht der Platz um die Komplexität der paradoxen Polarität der Gabe im Einzelnen auf die jeweiligen Elemente des Theaters zu beziehen, deutlich aber wird in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes, in welchem Maße wir es mit einem Spannungsfeld von sozialer Praxis

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und Autonomie zu tun haben. Wenn auch die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes die Frage ob es eine uneigennützige Gabe überhaupt geben kann bejaht, so relativieren sie aber zugleich die Position Derridas, indem die Komplexität des Gabe-Phänomens zwischen Autonomie und Sozialität hervorgehoben und das Theater in der Spannung von gesellschaftlicher Bindung und normbrechender Überschreitung verortet wird. Die Eigenerfahrung der Kunst ist mit ihren besonderen Formen der Arbeit und des Spiels in den unterschiedlichen kooperativen Prozessen des Theaters wirksam, sei es in der Probenarbeit, im Zusammenwirken während der Aufführungen oder mit und in Bezug auf die Aktivität des Publikums. Beide, Gabe wie Theaterkunst räumen den Dingen und Vorgängen ein Eigenrecht ein. Dass dabei sowohl Verbindlichkeit wie Freiwilligkeit und Freiheit im Spiel sind, liegt auf der Hand. Ohne sie wären weder erfolgreiche Aufführungen noch kreative Inszenierungsformen denkbar. Die Phänomenologie des Theaters kann im Rahmen einer Aufführungstheorie Prozesse von Geben und Nehmen, Austausch und Wechselseitigkeit mit Bezug auf gabentheoretische Ansätze beschreiben. Konzepte von Dialogizität und Responsivität zeigen ihre Relevanz, auch wenn wir an den von Marcel Mauss beschriebenen Dreischritt der Gabe denken: gebennehmen-erwidern. Hier kommt dem ,Nehmen‘, der Rezeptivität besondere Bedeutung zu, ein Gesichtspunkt auf den an dieser Stelle im Sinne eines Ausblicks verwiesen werden soll. Aufnahmebereitschaft, Offenheit und Rezeptivität sind nicht nur auf der Seite des Publikums und der Rezipienten (wie von der Aufführungstheorie und Rezeptionsästhetik beschrieben), sondern auch auf Seiten der Kunstproduktion besonders zu betonen. Gerade im Theater geht es ohne die Rezeptivität von Schauspielern und Performern nicht. Es gilt wahrzunehmen, dass es im Theater der Zuschauer ist, der Bedeutungen produziert, der unablässig dabei ist die Zeichen – visuelle, akustische, kinetische, atmosphärische, energetische – die er empfängt, zu deuten, auch da wo sie von der Bühne vielleicht gar nicht intendiert sind. Übungen und Improvisationen während der Ausbildung und Proben sensibilisieren die Akteure dafür zu spüren, welche Stimmung, Atmosphäre, Konzentration von einem Publikum ausgeht. Diese Wahrnehmungskompetenz bezieht sich auch auf die Mitspieler auf der Bühne oder in einer Szene, mehr noch, sie muss in dezidiert partizipativen Formaten zur Fähigkeit werden in angemessene interaktive Prozesse des Austauschs und der Wechselseitigkeit einzutreten und diese zu gestalten. Die spielerische Spontaneität, die Christoph Menke in seiner Kunsttheorie als kreatives Potential beschreibt, muss mit der technischen Beherrschung der Spiel- bzw. Gestaltungsregeln sowie des jeweiligen Materials zusammentreffen.

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„Die Kunst besteht in einem paradoxen Können: zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein.“ (Menke 2013: 11) Beides bildet die paradoxe Struktur der Kunst: „Kunst gibt es nur, wo Rausch und Bewusstsein, Spiel der Kräfte und Bilden von Formen zusammen und gegeneinander wirken.“ (37) An eine Position, die die Eigenheiten ästhetisch-künstlerischer Praxis und die ihnen inhärente Funktionalitätsverweigerung betont, lässt sich Paul Ricœurs Theorie der Gabe als Modus der Anerkennung (2006) anschließen. Er formuliert die in sozialen Interaktionen wirksame Wechselseitigkeit der Anerkennung, ohne den intersubjektivistischen Überschwang, der in der Gabe-Diskussion sowie in partizipativen Kunst- und Theaterprojekten zuweilen auftaucht. Zwischen mir und dem anderen bleibt auch im Austausch eine untilgbare Asymmetrie bestehen. Gerade angesichts einer Fülle von Formaten, die mit dem Ziel von Austausch und Wechselseitigkeit oder der expliziten Beteiligung des Publikums konzipiert sind, oder Partizipation von Amateuren und Betroffenen vorsehen, wäre die Position einer paradoxen Spannung zwischen Kunst als sozialer Praxis und ihrer ästhetischen Autonomie zu vertreten und in Bezug auf eine Ethik der Gabe kritisch zu fragen: Was wird wie von wem an wen gegeben? Was wird wie angenommen von den performativen Gaben des Theaters – und ist das Nehmen nicht ein neuerliches Geben? Ist wechselseitige Anerkennung im Spiel oder handelt es sich um den puren Schein einer partizipativen Gabe? Das Verhältnis des Theaters zur Gesellschaft in Zeiten neoliberaler Herausforderungen kann sich im Zeichen der Gabe auf eine Tradition berufen, in der das Zusammenwirken von Menschen nicht auf utilitaristische Motive begrenzt wird. Die Hoffnung besteht, dass einer sozialtechnologischen Funktionalisierung partizipativer und relationaler Kunst durch eine Theatertheorie der Gabe begegnet werden kann, die sich auf paradoxe Konstellationen bezieht und die Kraft der Kunst und Gabe nicht idealisiert, aber auch nicht negiert.

L ITERATUR Adloff, Frank (2016): Gifts of Cooperation. Mauss and Pragmatism, London: Routledge. Adloff, Frank/Heins, Volker M. (2015): Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld: transcript. Adorno, Theodor Wiesengrund (1974): Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Theater, Kunst und Gabe: Theoretische Konstellationen

[...] a work of art can survive without the market, but where there is no gift there is no art. Lewis Hyde, The Gift, 1979, xi.

Raum der Fiktion – Raum der Anerkennung: Theater, Gabe und Wahrheit M ARCEL H ÉNAFF

Abstract Space of Fiction – Space of Recognition: Theatre, Gift, and Truth. What can the theatre give us? Should we even expect it to give us anything? If the question surprises us, this is because it is too general. We need to determine what kind of giving we are talking about. I propose to distinguish among three major forms: 1. ceremonial giving, which must be reciprocal because it is a pact of public recognition between the parties involved; 2. gracious giving, which is unilateral and unconditional; 3. giving out of solidarity, which aims at generous assistance. The first form seems the most relevant with respect to the question of mutual recognition between stage and audience, i.e. between actors and spectators. But who recognizes whom? What this involves is neither the actor as an individual facing a group of strangers nor the actor as character acting within a fictional sphere. The fiction involved belongs to the world of games. But, just like a ritual, this game – or play – is meant to act on the participants. How can a fictional order aim at modifying what we call reality? Something transcends and moves across those heterogeneous orders: the gestures of ‘going out of oneself, attesting to oneself, and offering something of oneself’, which are at the core of the very gesture of giving. In this the issue of truth is also at stake.

Es mag auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen, die Gabe mit dem Theater in Verbindung zu bringen: Denn von welcher Gabe ist hier die Rede und von welcher Dimension der Theatertätigkeit? Angesichts der Unbestimmtheit der Begriffe ist eine besondere Herangehensweise geboten. Verwirft man von vornherein die offenkundigsten thematischen Annäherungen – nämlich die Darstellungen von Handlungen oder Verhaltensweisen der Gabe im Korpus der für die Bühne bestimmten Texte, dann muss man sich Fragen auf einer weit anspruchsvolleren

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formalen Ebene stellen. Diese Fragen können wie folgt formuliert werden: Inwiefern lässt sich das Theater als spezifische Tätigkeit der Inszenierung von Texten an einem ausgewählten Ort oder, allgemeiner, als Tätigkeit fiktionaler Darstellung von Handlungssequenzen auf relevante Weise gemäß der Kategorie der Gabe verstehen? Auch wenn diese Frage gezielter ist, bringt uns das kaum weiter, sofern nicht präzisiert wird, was man unter Gabe versteht. Man wäre also geneigt, sich auf eine Standarddefinition zu beziehen: Geben heißt, ein Gut abzutreten oder einen Akt der Großzügigkeit zu begehen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Dies ist die oblative Bedeutung, die der Geste der Gabe im Allgemeinen beigelegt wird. Man kann sich daher fragen, welches Element der Theatertätigkeit einem derartigen Verhalten entspricht. Vor allem kann man fragen, warum eine solche Frage im Hinblick auf das Theater formuliert werden sollte, denn ebenso gut kann man sie bei jeder handwerklichen, intellektuellen oder künstlerischen Tätigkeit stellen. Mehr noch, man kann sie im Hinblick auf die Arbeit im Allgemeinen aufgreifen und sich fragen: Enthält die Arbeit einen unvermeidlich gegebenen, geschenkten Teil, anders gesagt einen Teil, der nicht in dem beruflichen Vertrag enthalten ist, mit dem eine Menge investierter Zeit gegen einen bestimmten Lohn eingetauscht werden soll? Dieser nicht entlohnte Teil wäre Marx zufolge die „lebendige Arbeit“, das heißt das, was für den Mehrwert sorgt. Lässt sich eine solche Problematik auf die Theatertätigkeit anwenden? Warum nicht? könnte man darauf antworten, wenn man sich auf all das bezieht, was über die Arbeit der Produktion, der Verwaltung und der Intendanz hinausgeht. Doch mit Recht darf bezweifelt werden, dass sich das auf die eigentliche Vorbereitung der Inszenierung eines Stücks oder auf die Arbeit der Schauspieler anwenden lässt. Mehr noch: Was hat es mit der Rolle des Publikums auf sich? Denn das Publikum ist Teil des Problems. Hat es etwas zu geben? Wir sehen, dass wir es hier mit einer anderen Art von Aktivität zu tun haben, die nicht die Erarbeitung eines Produkts betrifft, sondern ein System von Beziehungen zwischen den Partnern (Bühne/Saal) einer kreativen Erfahrung. Was geschieht zwischen den beiden? Ist es sinnvoll, hier von Gabe zu sprechen? Wird etwas dargebracht? Wenn ja, dann ist man versucht, die Großzügigkeit auf den verschiedenen Ebenen der Produktion, der Inszenierungsarbeit, der Arbeit der Schauspieler und der Reaktion des Publikums zu suchen. Doch wer sieht nicht, dass dies schnell zu einer Art moralisierender Interpretation der Theatertätigkeit sowie jeder künstlerischen Aktivität führen kann. Man wäre versucht, diese edle Haltung des Gebens der eigennützigen Handelsbeziehung entgegenzusetzen (ob in der Produktion, in der Beziehung zum Publikum oder in jeder anderen möglichen Dimension). Kurz, diese Herangehensweise spielt mit der Polarität zwi-

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schen einer achtbaren Oblativität und einer dubiosen Käuflichkeit. Sie bleibt damit einem erbaulichen Schema verhaftet, das das Verständnis dessen erschwert, worum es beim Theater geht, was bei der Arbeit mit seinen Formen und den Beziehungen zwischen Werk und Publikum auf dem Spiel steht. Wie diesem Dilemma entrinnen? Um darauf zu antworten, müssen wir zunächst ganz allgemein auf das Problem der Gabe zurückkommen und verstehen, dass dieses Problem selbst sich nicht auf einen einzigen Aspekt beschränkt. Es ist zu berücksichtigen, dass die Standarddefinition – geben, ohne eine Erwiderung zu erwarten – in keiner Weise normativ ist und also nicht als Bezugsgröße dienen kann. Wenn sie sich nicht auf den Austausch zeremonieller Gaben in den traditionellen Gesellschaften anwenden lässt, wo ja die Gabe zwingend gefordert wird, wenn es sich um einen Pakt handelt, dann ist die Gabe eine Geste öffentlicher gegenseitiger Anerkennung. Man kann sich also fragen, ob dieser Austausch nicht ein mögliches Modell sein könnte, die Theatersituation zu verstehen, die einen Pakt zwischen Bühne und Saal, Schauspielern und Zuschauern impliziert. Es handelt sich um einen Vorgang sowohl empathischer als auch distanzierter Beziehungen zwischen Schauspielern und Publikum. Gleich dem Ritual des Gabentauschs ist das Theater eine Performance, in deren Verlauf sich etwas ereignet, und zwar in einem besonderen Raum, der ein Spielraum ist, kurz ein Raum der Fiktion, der dennoch mit dem Leben zu tun hat. Dann lautet die Frage: Wer erkennt wen an? Das spielende Individuum? Die gespielte Person? Und wer im Publikum wird anerkannt und antwortet auf die dargebotene Anerkennung? Wenn dies stattfindet, dann geschieht es auf einer anderen, noch zutiefst rätselhaften Ebene. Wir müssen versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.

I. D IE K ATEGORIEN

DER

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UND DIE

ANERKENNUNG

Es ist unerlässlich, auf die Vielfalt der Arten der Gabe zurückzukommen, um die hier vorgeschlagene Argumentation zu erfassen und jede Form von Paralogismus zu vermeiden. Damit meine ich den logischen Fehler, der darin besteht, über eine Art von Phänomen zu diskutieren und als Bezugspunkt ein Argument zu verwenden, das lediglich in einer anderen Kategorie beobachteter Tatsachen gültig ist. Im Fall der Gabe werden uns das einige Beispiele verständlich machen. Man kann sich fragen, welche Gemeinsamkeit wohl bestehen mag zwischen: 1. den Geschenken, die in einer traditionellen Gesellschaft der Häuptling einer Lineage einem anderen Häuptling als Gegenleistung für erhaltene Geschenke überreicht; 2. den Geschenken, die Eltern ihren Kindern machen oder die jemand einem ge-

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liebten Wesen gibt, und 3. den Spenden (an nützlichen Gütern oder Geld), die Leute anlässlich einer Katastrophe oder einer Notlage Unbekannten zukommen lassen. Kann man diese verschiedenen Formen von dargebotenen Gütern allein unter die Kategorie der durch eine einzige Absicht definierten Gabe subsumieren? Wenn die Standarddefinition der Gabe (schenken, ohne eine Erwiderung zu erwarten) dies als normativ setzt, dann ist eine solche Voraussetzung nicht nur nicht relevant, sondern schlichtweg irreführend. Im ersten Fall ist nämlich die Gegengabe entscheidend und sogar obligatorisch (was Marcel Mauss zwar richtig feststellte, aber nicht erklären konnte). Es handelt sich nicht um eine geheimnisvolle Kraft, die mit der gegebenen Sache verbunden ist, sondern dieser Austausch von Geschenken ist ein impliziter Pakt gegenseitiger Akzeptanz, ein symbolisches Bündnis, das neue Beziehungen knüpft oder die alten bekräftigt. Ein Pakt ist nur zu zweit möglich und nur wenn jeder Partner dem anderen antwortet. Dies ist der Grund für die Pflicht zur Erwiderung. Die Güter sind kostbar, weil es Symbole des Bündnisses sind (sym-bola: zusammengefügte Dinge). Es ist ein Verfahren öffentlicher Anerkennung zwischen Gruppen in traditionellen Gesellschaften. Dieses Verfahren wird in unseren Gesellschaften nicht mehr praktiziert, weil die öffentliche Anerkennung durch das Gesetz garantiert ist (in erster Linie durch den Status des Staatsbürgers). Dennoch bleibt die Haltung der Gegenseitigkeit auf der Ebene der Anerkennung zwischen Privatpersonen oder konstituierten Gruppen weiterhin aktiv. Ganz anders ist die Struktur der unentgeltlichen [gracieux] Gabe: sie erwartet keine Erwiderung, sie ist bedingungslos; sie beabsichtigt in keiner Weise, eine Schuld zu schaffen, sondern will den Nutznießer erfreuen. Auf Griechisch heißt das charis, deren erste Bedeutung Freude ist; der Terminus grâce, Gnade, Anmut – die lateinische gratia – bezieht sich wiederum auf die Schönheit; ihre Erfüllung lässt sich in der Haltung der agap sehen. Diese Form der unilateralen Gabe ist gewiss bewundernswert; dennoch darf sie nicht den Bezugspunkt bilden, um die zeremonielle Gabe zu bewerten, die gegenseitig sein muss. Noch anders ist die Gabe der Solidarität, die gegenseitig sein kann oder auch nicht und die, im Gegensatz zu den beiden anderen, keine symbolischen Güter betrifft (kostbare Gegenstände oder als solche geltende), sondern lebensnotwendige Güter (Nahrung, Kleidung) oder verschiedene Hilfeleistungen. Darüber hinaus kann diese Solidarität sich auf institutioneller Ebene organisieren und eine ökonomische Praxis der Solidarität ins Leben rufen. Doch solche Praktiken sind in keiner Weise als Erweiterung der zeremoniellen Gabe zu betrachten; sie haben ihre eigene Logik, die auf kein symbolisches Bündnis abzielt, sondern eine antiutilitaristische Ökonomie unterstützen will.

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Diese Klarstellung sollte es uns erlauben, auf ein Gabenmodell zu sprechen zu kommen, das in der vorliegenden Debatte interessiert: die zeremonielle Gabe. Ihr wesentliches Element bildet die Geste der gegenseitigen öffentlichen Anerkennung. Sie äußert sich auf mehreren Ebenen der Kommunikation zwischen Menschen und zielt darauf ab: 1. einander als Mitglieder derselben Art zu identifizieren; 2. einander in der Differenz zu akzeptieren und 3. sich gegenseitig zu ehren (durch Worte, Gesten, Symbole), als würdig, zusammenzuleben. Diese Geste ist insofern verallgemeinerbar, als sie auch in anderen Ausdrucksformen in Erscheinung tritt: dieser Punkt wird im Fall des Theaters zu berücksichtigen sein. Auch wenn die Differenzierung der verschiedenen Kategorien der Gabe auf der Ebene der Praktiken entscheidend ist, so fordert doch die Tatsache, dass ihnen derselbe Name gegeben wird, zu der Frage auf, warum dem so ist. Man wird zum Beispiel sagen, das gemeinsame Element der drei Arten sei die Großzügigkeit. Das ist zwar richtig, doch entdecken wir sogleich, dass sie in jedem einzelnen Fall nicht dieselbe ist: Im ersten Fall ist sie gegenseitig und kann sogar zum Wettstreit werden (so beim Potlatsch); bei der unentgeltlichen Gabe ist sie diskret und erwartet keine Erwiderung; und bei der Solidarität ist sie in erster Linie effizient. Wenn es eine gemeinsame Basis gibt, muss sie auf einer tieferen Ebene gesucht werden. Ihre Bestandteile lassen sich wie folgt beschreiben: Zunächst impliziert jede Form der Gabe ein aus-sich-Herausgehen, eine entscheidende Bewegung, auf den anderen zuzugehen, den eigenen Umkreis zu verlassen. Hier haben wir etwas Analoges zur Husserlschen Transzendenz: Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas außerhalb seiner; dieses auf den anderen Zugehen betrifft die Welt, die das allgemeine Objekt der Intentionalität ist, doch im Besonderen betrifft es den Anderen als ein anderes Bewusstsein, ohne das mein eigenes Bewusstsein sich nicht konstituieren kann (das ist Hegels große Lektion). Doch auf einer zweiten Ebene wird dieses aus-sich-Herausgehen zu der Geste, einem anderen etwas von sich zu präsentieren. Die Geste des Gebens aktiviert diese Bewegung der Selbstenteignung, der Darbringung in der Anerkennung der Existenz des Anderen (hier begegnen wir Levinas). In dieser Gestalt erhält die Oblativität all ihren Sinn. Mehr noch, die Geste der Gabe wird zu einem Beweis des Engagements, zur Selbstbestätigung; damit erhärtet sich eine ethische Dimension (wie das gegebene Wort), die auf institutioneller Ebene zur juristischen Geste werden kann (Wahrhaftigkeitszeugnis). Im Mittelpunkt der Gabenbeziehung steht also eine Bewegung, die wiederum im Mittelpunkt der Beziehung zum Anderen steht, sei’s auf intersubjektive, sei’s auf soziale und institutionelle Weise; und das bringt nach der wunderbaren Formulierung Hegels diese Beziehung zum Ausdruck: „Sie erkennen sich als gegenseitig sich aner-

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kennend“ (Hegel 1970: 147). Dies ist die eigentlich menschliche Anerkennung, die von der Gabenbeziehung in ihrer Tiefenstruktur ausgedrückt, verwirklicht und gewährleistet wird.

II. S PIEL UND R AUM

DER

F IKTION

Hier drängt sich eine Frage auf: Inwiefern bringt uns diese kategoriale Klärung dem Problem der Beziehung zwischen Gabe und Theater näher? Falls wir nicht eine Form des Verhaltens (z.B. eine Ethik der Großzügigkeit) beleuchten oder die empirischen Bedingungen einer Funktionsweise erörtern wollen (wie beispielsweise die Produktion von Schauspielen und die Verwaltung des Theaters), muss uns hier allein die Form der zeremoniellen Gabe interessieren. Und zwar aus mehreren Gründen: Sie ist eine öffentliche Form des Austauschs kostbarer Güter, außerdem eine ritualisierte Form des Tauschs, und schließlich eine festliche Gabenform analog zu einem Spiel. Es gibt im Spiel ein Element der Verwandtschaft mit der rituellen Gabe, das Marcel Mauss in seinem Essay Die Gabe in Zusammenhang mit den Populationen der Nordwestküste Amerikas genau erfasst hatte. Er schrieb: „Das Spiel ist eine Form des Potlatsch und des Gabensystems.“ (Mauss 1968: 85/Anm. 130) Mauss stützt sich auf die Untersuchungen von Franz Boas und betont die Faszination für das Risiko und die Zerstörung, die bestimmte Spiele enthalten, da sie den Verlust von allem einschließen (auch den von Frau und Kindern sowie der eigenen Freiheit). Bleibt die Frage, welche Elemente des Spiels Gemeinsamkeiten mit der Theaterdarbietung aufweisen, und ob diese für die Klärung der Beziehung zwischen Gabe und Theater relevant sind. Denn es gibt Elemente, die sich von einem Gebiet zum andern stark unterscheiden. Diese Verwandtschaft und zugleich diese Heterogenität zu verstehen wäre zweifellos das sicherste Mittel des Zugangs zu dem, was sie jeweils konstituiert. Ich schlage vor, eine Analyse des Begriffs Spiel zu versuchen, die zu verifizieren erlaubt, ob man es mit spezifischen Praktiken zu tun hat, die in der Lage sind, einen Raum der Fiktion wie den des Theaters zu etablieren. Denn nicht ohne Grund wird ein Theaterstück als etwas bezeichnet, das gespielt1 wird, und nennt man die Handlungen der Schauspieler

1

Dies trifft jedenfalls auf die indogermanischen Sprachen zu: Es wäre interessant, es in anderen linguistischen Arealen zu überprüfen. Das Englische weist die interessante Besonderheit auf, zwei Termini zu haben, während die meisten anderen Sprachen nur einen besitzen. ‚Play‘ ist der allgemeinere Terminus: er gilt für das Theater oder jede Situation des spontanen spielerischen Ausdrucks; ‚game‘ dagegen ist den sportlichen oder den Glücksspielen vorbehalten.

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und Schauspielerinnen Spiel. Doch auch wenn eine Theateraufführung als Spiel betrachtet wird, fühlt man, dass es sich um etwas ganz anderes handelt als um ein Ballspiel, ein Wassersportturnier, einen Tanzabend oder eine Partie Karten; und man fragt sich, ob dieses Spiel mit einer Gabenform in Beziehung steht. Was ist ein Spiel? Die Antwort fällt nicht leicht, denn es gibt eine große Vielfalt von Spielen. Kann man sie besser verstehen indem man sie klassifiziert? Wie findet das Theater dann Eingang in eine solche Liste? Der Versuch, Kategorien des Spiels aufzustellen, hieße, sinnvolle Hypothesen über die Natur des Theaters erarbeiten zu können. Dazu beziehe ich mich auf zwei zu Klassikern gewordene ältere Werke: Homo ludens (1970 [1938]) des niederländischen Historikers Johan Huizinga und Die Spiele und die Menschen (2017 [1947]) des französischen Soziologen und Essayisten Roger Caillois. Huizinga schlägt folgende Definition vor: Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ,Andersseins‘ als das ,gewöhnliche Leben‘. (Huizinga 1970 [1938]: 37)

Diese Definition umreißt die wesentlichen formalen Elemente jedes Spiels. Caillois erkennt deren Relevanz an und präzisiert bestimmte Dimensionen, die er in sechs Punkten zusammenfasst. Jedes Spiel, erklärt er: 1. setzt eine freie und freudige Zustimmung der Teilnehmenden voraus (ein erzwungenes und freudloses Spiel ist undenkbar); 2. findet in einem gesonderten Raum und in einer bestimmten Zeitspanne statt; 3. muss das Ergebnis offen lassen, das allein durch die Interaktion der Spieler erzielt wird; 4. darf auf keine unmittelbaren Nutzen abzielen und muss auf jede produktive Absicht verzichten; 5. kann nur nach von den Partnern akzeptierten strengen Regeln stattfinden; 6. setzt eine Welt voraus, die sich von der gewöhnlichen Wirklichkeit unterscheidet, eine Welt, die als fiktiv oder als zweite Wirklichkeit bezeichnet werden kann. Diese Merkmale sind relevant und unbestreitbar, dennoch müssen bestimmte Implikationen präzisiert werden. Zunächst ist anzumerken, dass das Spiel gewissermaßen für sich selbst steht. Es definiert sich allein durch die Regeln, die es konstituieren, und verläuft als autonomer Prozess, der von den Ereignissen der Welt nicht unmittelbar berührt wird (eine Partie Karten oder ein Tennisturnier kann inmitten tragischer Ereignisse stattfinden, ohne dass der Ablauf des Spiels als solcher davon in Mitleidenschaft gezogen wird). Außerdem verleiht das Spiel seinen Teilnehmern einen Status, der mit ihrer Rolle im Spiel zusammenhängt

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und ihrem Status im sozialen Leben völlig fremd sein kann. Das Spiel prägt das Sein des Spielers für die Zeit des Spiels und nicht umgekehrt (zwar kann das Spiel starke subjektive Auswirkungen auf den Spieler und die Zuschauer haben, doch das ändert nichts an den Regeln und bestimmt nicht das Resultat). Kurz, jedes Spiel hat seine Daseinsberechtigung nur in seinem eigenen Verlauf. Es besteht aus einer Reihe von Handlungen, die nichts anderes hervorbringen als ihre eigene geregelte Entwicklung; insofern ist das Spiel selbstbezüglich. Es ist performativ innerhalb der Ordnung der Regeln, die es definieren. Es handelt sich um eine Performativität im Raum einer Konvention; eine der Fiktion inhärente Performativität, die das Spiel unterstreicht. Dennoch ist sie nicht absurd, da sie kohärent ist und die Handlungen ihrer Natur gemäß ablaufen; doch bezieht sich der Sinn hier nicht auf die gewöhnliche Welt. Er ist nichts anderes als die Verwirklichung der Form selbst. Jeder Regelverstoß bedeutet, dass das Spiel entgleist oder einfach abgebrochen wird und in die gewöhnliche Welt hinüber kippt. Ein Unterschied, dessen sich die Spieler bewusst sind, indem sie beispielsweise erklären: Jetzt spiele ich nicht mehr! Diese entscheidende Bedeutung der Regeln bringt uns dazu, noch weiter über ihren grundlegenden Status nachzudenken, nämlich zu fragen, ob dieser Typus des Spiels nur beim Menschen auftritt. Zu Recht wird man einwenden, dass die Tiere spielen und zwar ausgiebig (wie Huizinga und Caillois betonen). In Wirklichkeit spielen die Tiere vor allem in den ersten Lebensmonaten oder in jungen Jahren. Bei den Säugetieren ist das offenkundig; es sind zunächst Spiele der Körperbewegung und der Energieabfuhr; es sind Ausdrucksformen der Ausgelassenheit. Wenn sie zu zweit betrieben werden, handelt es sich um fröhliche Simulationen des Kampfs im Bemühen, nicht zu verletzen. Unstreitig impliziert das Verhaltenscodes, wie sie jeder Gattung eigentümlich sind (mit spezifischen Ausdrucksformen und Hemmungen). Diese Codes werden von Generation zu Generation identisch reproduziert; sie gehören zum genetischen Erbe der betreffenden Gattung. Es sind von der Evolution ererbte Programme, aber keine Sammlung ausgewählter Regeln, die sich wie beim Menschen durch Vereinbarung verändern oder annullieren lassen. Sucht man also nach einem Unterscheidungsmerkmal, das die Besonderheit des menschlichen Tiers umreißt, dann könnte man sagen, dass es genau hierin besteht. Der Mensch ist ein institutionelles Tier, imstande, sich Regeln zu geben. Die einfachste und beständigste Art und Weise, dies zu tun, besteht darin, zu spielen oder vielmehr Spiele zu erfinden oder sie zu praktizieren. Der Mensch kann es, weil er ein sprechendes Tier ist (aber das ist ein weites Feld, das hier nur gestreift werden kann). Es besteht also ein grundlegendes Band zwischen der Erschaffung eines Universums der Fiktion – wie es jedes geregelte Spiel ist – und der Fähigkeit, ein

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Regelwerk aufzustellen. Und hier taucht ein Paradox auf: Nichts ist rationaler und realistischer als Institutionen, die eine soziale Gruppe stabilisieren; und nichts ist willkürlicher und unrealistischer als eine Spielvereinbarung. Aufgrund derselben geistigen Fähigkeit also geben sich die Menschen Regeln, um zu spielen, und organisieren sich auf rationale Weise, um in Gesellschaft leben zu können. Welcher Art ist diese Fähigkeit? Darauf wäre zu antworten: Es ist diejenige, durch die Vorstellungen, die vom gewöhnlichen Leben losgelöst sind, sich als fähig erweisen, dieses gewöhnliche Leben zu verstehen und ihm eine Richtung zu geben. Kurz, eine fiktionale Ordnung ist in der Lage, die reale Welt zu simulieren und zu gestalten. Das besagt, dass der angenommene Gegensatz zwischen den beiden Ordnungen sowohl ihre Verbindung als auch ihre Wechselbeziehung voraussetzt. Wenn man sie einander entgegensetzt, erklärt man nicht nur nichts, dann kann man auch weder die eine noch die andere verstehen. Das ist ein wesentlicher Punkt, an den wir uns erinnern müssen, wenn wir auf das Theater und das Leben zurückkommen werden, denn es handelt sich hier um das Verhältnis von Fiktion und Wahrheit oder, genauer, um den Zugang zur Wahrheit mittels der Fiktion. Nach dieser ersten Annäherung an das Problem des Spiels anhand der formalen Aspekte seiner allgemeinsten Definition müssen wir nun genauere Unterscheidungen treffen. In der Tat kann man sich fragen, welche Gemeinsamkeit zwischen einer Partie Karten, einem Tennisturnier, einem Tanzabend und einem Theaterstück bestehen mag. In all diesen Fällen sprechen wir von Spielen. Es liegt auf der Hand, dass wir für sie eine Klassifizierung benötigen. Caillois schlägt eine solche vor, die ich für sehr relevant halte. Er unterscheidet vier Haupttypen, wobei jeder von ihnen eine besondere Beziehung zu jedem der anderen aufweisen kann. Diese vier Haupttypen sind: die auf dem Wettkampf beruhenden, kompetitiven Spiele, die Glücksspiele, die Simulationsspiele und die auf dem Taumel beruhenden Spiele. Greifen wir sie einzeln auf: 1. Die kompetitiven Spiele lassen sich unter der allgemeinen Kategorie des Agon subsumieren. Vor allem sind es die sportlichen Spiele, die zwei Individuen (Schach, Tennis), zwei Gruppen (Fußball, Volleyball und alle Ballspiele) oder mehrere Individuen einander gegenüberstellen, um ein quantifizierbares Ziel zu erreichen (Golf, Ski, Stabhochsprung). Es handelt sich um Spiele, die körperliche und geistige Fähigkeiten und folglich ein intensives Training und strenge Methoden voraussetzen. Kurz, es sind Spiele, die auf dem Verdienst der Spieler gründen. Jeder Spieler oder jede Mannschaft rivalisiert um den Sieg oder zumindest um einen prestigeträchtigen Tabellenplatz. Das Vergnügen am Spiel liegt hier im Wettstreit selbst und in der Hochachtung des Publikums, die sich durch

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gestische und stimmliche Reaktionen äußert. Diese Spiele sind dazu bestimmt, von allen gesehen zu werden. Die Beziehung Spieler/Zuschauer ist es, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken müssen. Trotz aller entfachten Leidenschaften bleibt einem jeden bewusst, dass es sich nur um ein Spiel handelt. Nach der Partie oder dem Wettkampf schließt sich die Parenthese. Die gewöhnliche Wirklichkeit macht wieder ihre Rechte geltend (auch wenn diese oder jene Handlung des Spiels oder ein bestimmtes Match lange in Erinnerung bleibt und sich über seinen Bereich hinaus auswirkt). 2. Diesen kompetitiven Spielen entgegengesetzt sind die Glücksspiele (daher Caillois’ Kategorie der Alea) wie das Würfelspiel, das Roulette oder zum Teil die Kartenspiele und die Lotterien. Diese Spiele setzen voraus, dass man sich in gewisser Weise den Launen des Schicksals überlässt. Das Vergnügen, das sie bereiten, liegt gerade in dieser Passivität. Insofern sind sie das Gegenteil der kompetitiven Spiele, die Arbeit und Sachkenntnis erfordern. Die Glücksspiele setzen einen Glauben an die Chance voraus, ja an die Gunst der Götter. Einen Glauben, der zur Gewissheit wird, wenn die Chance sich wiederholt. Hier wäre die Gestalt des Dandys das Gegenstück zu der des Sportlers. Der vom Glück begünstige Spieler ist ein vom Schicksal verwöhntes Kind. 3. Neben diesen Spielen öffnet sich die große Kategorie der Simulationsspiele (die Caillois unter der Kategorie der Mimikry zusammenfasst). Es sind offenere Spiele, die sich dadurch äußern, dass man sich verkleidet, sich maskiert, Personen nachahmt. In diesem Fall geht es weder um Wettstreit (auch wenn man um die Verkleidung wetteifern kann) noch um den Zufall. Ebenso wenig handelt es sich um Verdienst. Wir haben es hier mit einer offeneren, existentielleren Erfahrung des Spiels zu tun: Die Spieler vergnügen sich damit, ihren Status, ihre Identität zu verändern und manchmal die sozialen Rollen zu vertauschen (so beim Karneval). In diesem Fall handelt es sich weniger um detaillierte Regeln (wie bei den kompetitiven oder den Glücksspielen) als um implizite Konventionen, die sich auf Verhaltensweisen beziehen. Es sind Spiele, die bevorzugt mit dem Leben verbunden sind, das mit Distanz, Humor oder Ironie betrachtet wird. Sie schließen Mimik und Pantomime ein, Zauberkunststücke, aber auch die Verwendung der Sprache durch Scherze, Kalauer und komische Lieder. 4. Schließlich gibt es Spiele, die auf dem Rausch und dem Taumel durch das Risiko beruhen, und bei denen man die Angst genießt: die Achterbahn, das Bungeespringen, die Drehungen des Körpers um eine Achse (z.B. bei den mexikanischen Voladores). Caillois verwendet hier die etwas rätselhafte Kategorie des Ilinx (ein griechisches Wort, das Wirbel bedeutet); einfacher wäre es, das Wort Vertigo zu wählen.

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Ohne näher auf Einzelheiten einzugehen (die Beispiele sind zahllos), können wir einige Bemerkungen zu dieser Klassifizierung wagen. Zunächst überrascht es, dass Caillois die Kategorie der Wortspiele nicht in seine Typologie aufgenommen hat. Dabei ist dies wohl die gebräuchlichste Form des Spiels, insofern sie sich nicht von der Praxis der gewöhnlichen Sprache unterscheiden lässt, d.h. von den Gesprächen, bei denen wir fast ständig mit der Zweideutigkeit der Wörter oder zumindest mit ihren Konnotationen spielen. Von sich aus schafft die Sprache eine Distanz zur wahrgenommenen oder erlebten Wirklichkeit (und dies wäre eine weitere große Debatte). Deshalb eignet sie sich so gut für Spiele wie die der Humoristen, die sich sei’s als Komödianten sei’s als Schriftsteller oder Journalisten äußern. Diese Wortspiele oder Spiele mit Worten machen sich phonetische Ähnlichkeiten oder Gegensätze zunutze wie die Umstellungen beim Kalauer oder die paradoxen Vertauschungen (so kann ein edles Wort phonetisch plötzlich zu einem derben Wort werden). Lässt sich dann bei diesen Spielen von Regeln sprechen gemäß der Definition von Huizinga? Nicht unmittelbar (außer z.B. bei Kreuzworträtseln oder beim Scrabble), aber tatsächlich gibt es ein Spiel mit spontanen Grammatik- und Phonetikregeln, und daraus entsteht eine immense, aber präzise Vielfalt an Sprachspielen wie die Scharade, der Schüttelreim, das Palimpsest, das Palindrom, die Paronymie, das Anagramm, der Rebus, das Akrostichon ... die Liste ist lang. Jede Sprache hat ihre eigenen grammatikalischen und phonetischen Mittel, und vor allem besitzt jede Kultur ihre diesbezüglichen Traditionen (bestimmte Spiele gelten als annehmbar oder nicht, als komisch oder nicht ...). Man ahnt, dass diese Sprachspiele ein wesentlicher Teil des Theaterspiels sind. Allerdings ist letzteres ausgedehnter: es umfasst den ganzen Körper und seine Gestik, den ganzen Raum und seine Formen. Mehr oder weniger intensiv mobilisiert es die Sprache, und es mobilisiert sie immer im Rahmen einer Erzählung, einer Handlung, einer Situation und letztlich einer Herausforderung für den Zuschauer. Und diese Sprache, die es mobilisiert, verwandelt es in ein komplexes Medium aus Sätzen und Rhythmen, das man Literatur nennt. Nun müssen wir auf die Kategorie zurückkommen, die uns bei dieser Untersuchung über die Formen des Spiels am meisten interessiert: die der Simulation (oder Imitation). Sie betrifft die Pantomimenspiele, die informellen Tänze, die Clownereien, das Tragen von Masken; kurz, wir haben es bereits mit volkstümlichen Theaterformen zu tun. Es handelt sich durchaus um Spiele, denn man findet hier eine Reihe stillschweigender oder ausdrücklicher Konventionen im Hinblick auf den Status der Personen, die Verkleidungen, die Täuschungseffekte. Wie bei jedem Spiel setzt das Theater einen Raum der Fiktion ein, das heißt einen imaginierten, virtuellen Raum, der von der gewöhnlichen Wirklichkeit abgetrennt ist und mit seinen Regeln und seinen Grenzen durch sich selbst existiert. Doch so-

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bald das Spiel beendet ist, schiebt man alles beiseite, was es hat existieren lassen, und folgt wieder dem Gang des normalen Lebens. Weit spektakulärer ist das bei den kompetitiven Spielen: Mannschaften und Zuschauer stehen häufig höchst erbittert den jeweiligen Gegnern des Wettkampfs gegenüber. Doch nach dem Match und trotz der Niedergeschlagenheit der Verlierer sagt man sich: „Schließlich war es nur ein Spiel!“, und vergisst es. Ebenso bei den Simulationsspielen: Man vergisst die beim Karneval getragene Maske; man lässt das auf dem Ball getragene Kostüm in der Garderobe; man unterwirft sich ohne weiteres wieder den Regeln der gewöhnlichen Welt. Die Wirklichkeit kehrt zurück. Doch geschieht das auch im Fall des Theaters? Öffnet es Parenthesen, die sich sogleich wieder schließen? Bietet es zuallererst Entertainment an, folgenlose fiktive Augenblicke? Und falls es etwas anderes gewährleistet, auf welche Weise?

III. T HEATER , F IKTION

UND

R ITUAL

Wir sind nun an einem Wendepunkt dieser Reflexion angelangt. Jetzt mag uns das Theaterspiel als eine Tätigkeit erscheinen, die sich in eine Reihe allgemeinerer Tätigkeiten einfügt, die unserer Gattung eigentümlich sind, nämlich in die der Spiele, insofern sie ein Mittel sind, die gewöhnliche Welt durch eine erfundene und gesonderte Welt zu verdoppeln. Aber besitzt diese Doppelwelt, diese fiktionale Welt, wenn sie nicht nur die Funktion hat, uns zu zerstreuen, den Druck der Wirklichkeit für uns zu verringern und uns gleichzeitig zu erlauben, schnell zu ihr zurückzukehren, einfach dadurch, dass das Spiel aufhört, besitzt diese fiktionale Welt auch und vor allem die Fähigkeit, uns zum Verständnis der gelebten Welt zu verhelfen und ihr sogar einen Sinn zu geben, der ihr sonst fehlen würde? Was ist der Raum der Fiktion, den die Bühne und die Theatertätigkeit entwerfen? Welches sind die Unterschiede zwischen einem Theaterstück und einem Karnevalabend? Zwischen einer Zirkusvorstellung und einer Oper? Es geht hier nicht darum, eine Hierarchie der Genres hinsichtlich ihrer Würde festzulegen. Zum Beispiel liegt Noblesse in der Zirkuskunst mit ihren ethischen Traditionen und ihrer professionellen Strenge (Akrobaten, Dompteure, Clowns, Musiker). Jedes Genre hat seine technischen Mittel, seine Regeln, seine Werte, seine Ehrencodes. Gleichwohl ist die Welt der Simulationsspiele im Vergleich zu dem im Allgemeinen sehr institutionalisierten Theater relativ unbestimmt und wenig codiert. Man geht auf einen Maskenball, ohne sich einen Dialog einprägen zu müssen, im Wissen, dass das gewählte Kostüm uns allenfalls eher dieses als jenes Verhalten vorschreibt; man geht zum Karneval, ohne zu wissen, wie die Interaktionen mit den anderen aussehen werden. Nicht so beim Theater, zumindest seit

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schriftliche Traditionen existieren: Nicht nur gibt es einen festen Ort für diese Tätigkeit (was auch schon für den Zirkus gilt), es gibt auch einen zu spielenden Text; dessen Inszenierung mobilisiert alle Arten von Sachkenntnissen: Bühnenbildner, Beleuchter, Kostümbildner, Inspizienten. Mehr noch, es ist eine lange Berufsausbildung erforderlich: die der Schauspieler, des Regisseurs, der Techniker; manchmal sind hohe Produktionsinvestitionen notwendig: Saalmiete, Gage der Schauspieler und der Techniker, ganz zu schweigen von den Tantiemen des Autors. Man muss Vorbereitungen treffen, proben, verändern. Kurz, man ist weit entfernt vom sorglosen Standardspiel, das ja im Prinzip in jedem Augenblick beginnen kann, wobei lediglich die Regeln dieses Spiels zu beachten sind. Unabhängig von seiner Beziehung zu einem fiktiven Universum bleibt das Theater in all seinen Aspekten eine Welt der Arbeit und des Berufslebens, kurz eine Welt des gewöhnlichen Lebens. Auch wenn es ein Spiel ist, ist es ein ernstes Spiel (sogar im Fall einer leichten Komödie). Das Theater hat also unstreitig etwas Paradoxes an sich. Man nennt es ein Spiel, aber es ist etwas anderes. Welcher Art ist dieses Andere? Wenn das Theater zur Kategorie der Simulation oder der Imitation gehört, was simuliert es dann? Und was ist in diesem Fall der Zweck der Simulation? Bei einem Fest, für das man sich verkleidet, ist das Ziel der Simulation das Vergnügen, mit seiner eigenen Identität zu spielen, sich für einen anderen auszugeben (sei dieser Andere nun zwielichtiger oder tugendhafter, edler oder gefährlicher). Man leistet sich virtuelle Identitäten zu minimalen Kosten (die Videospiele haben diese fiktionale Ader grenzenlos ausgebeutet). Aber das Theater tut das nicht. Es ist Spiel, spielt jedoch nicht, um alle möglichen Situationen als bloße Alternativen zur gewöhnlichen Welt zu erforschen. Außerdem gewährleistet es auch nicht deshalb seine Beziehung zu dieser gewöhnlichen Welt, weil es viel Arbeit erfordert; denn auch die sportlichen Spiele, die verschiedenen Turniere (Poker, Schach), bieten diverse Investitionen auf (finanzielle, technische, Dienstleistungen). Was innerhalb dieser Reihe von Spielen das Theater kennzeichnet, besteht darin, dass es über die erforderliche Arbeit hinaus noch etwas ganz anderes ist: Es ist Werk. Das heißt, dass es nicht nur einem Realitätsprinzip gehorcht (wie der Produktionsprozess der Theateraufführung selbst), sondern auch einem Prinzip der Schöpfung und der Verwandlung der Wirklichkeit (gemäß präzisen ästhetischen Kriterien). Und diese Dimension des Werks bewirkt, dass das Theater eine grundlegende Beziehung zur Wahrheit hat. Zur Wahrheit wovon? Nach welchem Verfahren? Ich werde zeigen, dass die Gabenbeziehung in dieser Hinsicht zum Prüfstein dieser Wahrheit wird; nicht weil es darum ginge, etwas darzubringen (was nicht ausgeschlossen ist), sondern weil die Gabenbeziehung zur grundlegenden Struktur der Anerkennung unter Mitgliedern einer Gesellschaft

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gehört. Doch bevor wir zu diesem entscheidenden Punkt kommen, eben jenem, zu dem diese Reflexion führen sollte, müssen wir die Theaterhandlung nach dem Maßstab anderer Handlungsweisen, die nach Regeln erfolgen, beurteilen. Es geht um Handlungen, bei denen eine Bühne und Regeln existieren, ohne dass sie sich deshalb durch die Bühne und durch Regeln definieren. Wenn man gelten lässt, dass das Theater Spiel ist, welches sind dann die eigenen Regeln und Grenzen? Und wenn es darüber hinaus noch etwas anderes ist, inwiefern ist es das? Welche Beziehung besteht hier zwischen den Regeln der Fiktion und der Konfrontation mit der gewöhnlichen Wirklichkeit? Zur Beantwortung dieser Fragen scheint nichts erhellender zu sein, als Vergleichstermini heranzuziehen, das heißt, eine Besonderheit zum Vorschein zu bringen, indem man Dinge betrachtet, die Ähnlichkeiten sowie, als Gegengewicht, starke Unterschiede aufweisen. Ich werde nur einen Fall anführen, der jedoch paradigmatisch ist: den des religiösen Ritus (das Adjektiv ist angeraten, da es zahllose weltliche Riten gibt).2 Der Vergleich drängt sich aus mehreren Gründen auf. Der erste ist, dass der Ritus in der abendländischen Tradition das Schauspiel entstehen ließ, dessen erster Ausdruck die Tragödie war. Sie entwickelte sich im archaischen Griechenland aus dem Dionysos-Kult. Auf einer kreisrunden Fläche in Form einer Grube stand ein Altar des Gottes, um den herum sich als Satyrn verkleidete Tänzer bewegten und im Chor sangen. Ihr Gesang, der Dithyrambos, zelebrierte das Lob des Gottes, seinen Tod und seine Auferstehung. Im Laufe des 6. Jahrhunderts v. Chr. verändert sich der Dithyrambos; aus der Gruppe der Sänger oder Choreuten löst sich die Koryphäe heraus, sodann erscheint ein Schauspieler, es werden Repliken ausgetauscht; der Dithyrambos wird zum dramatischen Gedicht, dessen Held nicht mehr zwangsläufig Dionysos ist. Unter der Leitung von Thespis zieht eine erste Schauspielertruppe mit ihrem Karren durch Attika. Sie wird in Athen von Peisistratos empfangen, der weiß, dass sich Dionysos beim Volk besonderer Gunst erfreut, und deshalb einen jährlichen Wettbewerb zwischen den diesem Gott gewidmeten Werken einführt. Die Grube wird zum Theater aus Stein, und in seinem Zentrum – der Orchestra – bewegen sich die maskierten Schauspieler. Auf diese Weise entsteht die Tragödie, und das Schauspiel wird bei den Großen Dionysien zelebriert. Bald sollte auch die Komödie die neuen volkstümlichen Ausdrucksformen für sich erobern. Die Idee des 2

Es wäre möglich und höchst aufschlussreich, weitere Vergleichstermini heranzuziehen; so den Gerichtsprozess, bei dem es trotz seiner theatralischen und rituellen Struktur von Anfang bis Ende um die strenge Feststellung der Fakten geht, um jedwedes fiktionale Abgleiten zu verhindern; ebenso konstituiert sich das demokratische System der politischen Repräsentation als Bühne des öffentlichen Raums, erscheint jedoch schlichtweg lügenhaft, wenn es mittels theatralischer Täuschungseffekte zu arbeiten vorgibt (Hénaff 1996).

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Kults verschwindet völlig, aber die Logik einer Handlung – drama – mittels Gesten und Worten, die dem Ritual eigentümlich ist, bleibt in der Theateraufführung erhalten. Wir verstehen also, was das zeitgenössische Theater dazu drängt, die Verbindung zwischen Ritus und Theater wiederzuentdecken; tatsächlich ist seine Erneuerung weitgehend aus Antonin Artauds (1969 [1936]) Reflexion in Das Theater und sein Double hervorgegangen. Als Artaud das Projekt formuliert, das Theater zu überdenken, es den Stereotypen der bürgerlichen Konflikte und der plattrealistischen Inszenierungen zu entreißen, erklärt er, das Theater müsse den Geist seiner Geburt wiederfinden, die mit seiner alten Wirklichkeit verbunden ist: ein Ritual zu sein. Artaud hatte 1931 das Tanzschauspiel aus Bali, das in Paris gezeigt wurde, als Schock erlebt. Gerade dessen rituelle Dimension schien ihm geeignet zu sein, dem Theater die erneuernde Kraft zu geben, deren es bedurfte: kodifizierte und streng ausgeführte Gesten, Ausschluss jeglicher Psychologie, Gefühl kosmischer Größe. Artaud unterbreitet eine Herausforderung, die zunächst ein Paradox ist: von sogenannten archaischen Formen – den Ritualen – zu verlangen, dass sie die Erneuerung eines Genres inspirieren, das sich erschöpft zu haben scheint, und dem Theater einen Weg zu einer radikalen Moderne zu bahnen: zur Neuheit. Diesen Hieratismus, diese Strenge der Gesten, diese Schrift der Körper – Hieroglyphen oder Marionetten – bezeichnet Artaud als „Theater der Grausamkeit“. Es handelt sich in keiner Weise um ein Theater, das Gewalt darstellen oder sie verherrlichen würde. Das Wort Grausamkeit hielt Artaud für das geeignetste, den neuen Anspruch zu definieren, den er durchzusetzen beabsichtigte: Ich kultiviere nicht etwa systematisch das Grauen. Das Wort Grausamkeit muß in einem weiten Sinn verstanden werden [...]. Vom Standpunkt des Geistes aus bedeutet Grausamkeit Unerbittlichkeit, Durchführung und erbarmungslose Entschlossenheit, nicht umkehrbare, absolute Determination. (Artaud 1969 [1936]: 109f)

Die geistige Revolution, die Artaud vollzog, um das Theater ausgehend vom Ritual zu überdenken, hat die gesamte Reflexion über das moderne Theater und seine Praktiken zutiefst geprägt. Diejenigen, die von Artaud inspiriert wurden, haben es verstanden, dem Theater seine ganze körperliche und visuelle Dimension zurückzugeben, und haben es ihm vor allem ermöglicht, sich die Erinnerung an seine Traditionen der Pantomime und sein Verhältnis zu den Gesten und zum Raum wieder anzueignen. Dies ist entscheidend für benachbarte Ausdrucksformen wie Ballett und Oper (siehe Tadeusz Kantor, Pina Bausch, Teresa De Keersmaeker, Bob Wilson). Dennoch ist das Theater kein Ritual, jedenfalls kein

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religiöses Ritual (das wissen wir seit Brecht), auch wenn es einst aus ihm hervorgegangen ist und wesentliche Dimensionen davon beibehält. Nicht nur ist es nicht – wie die griechischen Dionysien – an einen Kalender der Kirchenfeste gebunden und enthält keinerlei Praktiken der Verehrung von Gottheiten, es beabsichtigt auch nicht, unmittelbar in das Leben der Zuschauer einzugreifen. Und trotzdem kann und tut es das: denn auch wenn es in die Kategorie des Spiels fällt, wirkt es mittels seiner performativen Dimension, das heißt der des Rituals. Auf welche Weise gelingt ihm das? Um diese Frage zu beantworten, berufe ich mich auf einen sowohl kurzen wie dichten Aufsatz des großen Linguisten Émile Benveniste (2015 [1947]), Le jeu comme structure [Das Spiel als Struktur] von 1947. In diesem Text3 behandelt Benveniste zwar nicht das Thema des Theaters, sondern den Unterschied zwischen Spiel und Ritual. Doch da das Theater aufgrund einer seiner grundlegenden Dimensionen zur Kategorie des Spiels gehört, ist es möglich und sogar wünschenswert, Benvenistes Argument weiterzuführen. Es lautet wie folgt: Jedes religiöse Ritual, insofern es zur Ordnung des Sakralen gehört4, will eine Wirkung auf die reale Welt ausüben. In den traditionellen Gesellschaften mobilisieren die Menschen Gottheiten und ehren sie, damit sie die Ordnung der Dinge aufrechterhalten oder verändern. Benveniste schreibt: „Im Sakralen liegt die höchste Wirksamkeit, die wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit des Menschen.“ (2015 [1947]: 181) Wie ist das möglich? Dadurch, sagt er, dass die beiden wesentlichen Dimensionen des Sakralen miteinander verbunden werden, die des Mythos, der erzählt und erklärt, mit der des Ritus, der wirkt und verändert. Der Mythos als Erzählung weist auf den Sinn und den Zweck des Sakralen hin: Er zeigt eine Gesamtheit von Figuren und Ereignissen, die die Ordnung der Dinge beschreiben; das ist das Feld des Worts. Der Ritus dagegen wirkt, damit sich Dinge in der Welt ereignen; es ist der Raum der (für die betreffende Gemeinschaft) wirksamen Gesten. Die Sphäre des Mythos lässt sich als die Sphäre der Fiktion bezeichnen; die des Ritus als die Sphäre der Aktion. Doch wenn die beiden Sphären sich trennen, dann haben wir eine unwirksame postsakrale Welt

3

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Dieser Text wurde wiederveröffentlicht in der Textsammlung: É. Benveniste, Langues, cultures, religions, Limoges 2015. Ich erinnere daran, dass É. Benveniste [1902-1976] zusammen mit Roman Jacobson einer der bedeutendsten Linguisten des 20. Jahrhunderts war (vgl. Benveniste 1974 und 1993). Es liegt auf der Hand, dass sich Benveniste auf die Definition des Sakralen stützt, wie sie von É. Durkheim vorgeschlagen und von M. Mauss aufgegriffen wurde; diese Definition beruht im Wesentlichen auf dem Gegensatz zum Profanen. Mauss zufolge richtet sich ein sakrales Ritual an göttliche Gesprächspartner, die auf die Welt einwirken können; während ein magisches Ritual auf der Fähigkeit des Magiers selbst beruht, die Kausalitäten der Welt zu verändern.

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vor uns (die jedoch die Wirksamkeit anderswo suchen wird, zum Beispiel in der Technik). Die Mythen ohne Riten werden zu bloßen Geschichten, zu Geschichten – seien sie angenehm oder beunruhigend –, die als solche kultiviert werden. Die Riten ohne Mythen werden zum formalen Zeremoniell, zur Anwendung von Regeln, deren Zweck denjenigen, die sie praktizieren, nicht bewusst ist. Sie ähneln dann Spielen, d.h. Regelwerken, die ihren Zweck in sich selbst haben, ohne einen Nutzen für das gewöhnliche Leben zu beabsichtigen (eben diese Trennung macht das Spiel interessant, den Ritus dagegen langweilig). Mit anderen Worten, Mythen und Riten haben sich säkularisiert und sind autonom geworden: auf der einen Seite entstehen literarische Formen, auf der andern Spiele, die Überbleibsel der einstigen Zeremonien sind. Dieser Vorgang erinnert uns an die oben erwähnte Geburt des Theaters in Griechenland: ein dionysisches Ritual, das Raum lässt für dargestellte Erzählungen, die von Schauspielern „gespielt“ werden und sich auf Ereignisse der menschlichen Welt beziehen. Für die Vertiefung unserer Fragen ist dieser Vorgang höchst interessant: „In allem ist das Spiel dem Sakralen entgegengesetzt; und dennoch ist es ihm in allem verwandt“, versichert Benveniste (ebd.). Denn das Theater gehört zur Kategorie des Spiels und befindet sich eindeutig auf Seiten der Sphäre der Fiktion: Es setzt eine gesonderte, erfundene Welt voraus, vielerlei Situationen sind hier möglich, es ist auch literarisch geprägt, und insofern ist es weit vom Ritus und dessen Absichten einer symbolischen Veränderung der Welt entfernt. Und dennoch ist das Theater nicht bloß ein Spiel, wie ein Ballturnier oder ein Jahrmarktsfest es sein kann. Mit ihm verbunden ist kein Innehalten der Zeit, sondern eine Ausklammerung der gewöhnlichen Welt. Es hat diese Welt immer im Blick; das Theater betrifft das Leben der Menschen. Es hat die Fähigkeit, gerade aufgrund dessen zu wirken, was in Szene gesetzt ist. Das griechische Theater entstand, als man versuchte, sich folgender Herausforderung zu stellen: dafür zu sorgen, dass das Spiel die Wirksamkeit des Ritus bewahrt, jedoch mit neuen Mitteln. Eben diese Wirksamkeit faszinierte Artaud und brachte ihn dazu, das Theater in der Nachfolge des Rituals zu verstehen. Das Theater ist eine Fiktion, die das Leben der Zuschauer betrifft und die beabsichtigt, auf es einzuwirken. Es gilt also festzuhalten, dass das Theater ein Spiel ist, jedoch ein paradoxes Spiel: ein Spiel, das Konsequenzen hat, ein Spiel, das das Reale erreicht, auch wenn diese Absicht nicht explizit ist. Wie kommt das Theater mittels der Fiktion zum Realen? Durch welchen Vorgang? Hier begegnen wir dem allgemeineren Problem der Beziehung zwischen der Literatur und dem Leben, zwischen der Fiktion und der Wirklichkeit. Eine Erzählung betrifft stets das Leben der Menschen; eine Theateraufführung berührt sie auf die eine oder andere Weise. Die Literatur erreicht dies, indem sie die möglichen Welten erkundet und in einem

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virtuellen Raum Zusammenhänge herstellt. Das liegt zunächst an der allgemeinen Fähigkeit der menschlichen Sprache, abwesende Dinge darzustellen (und nicht nur auf etwas hinzuweisen oder auf nützliche Weise mitzuteilen). Die Literatur geht noch weiter, indem sie es sich erlaubt, inexistente Dinge oder Situationen darzustellen (sei es auf realistische oder phantastische oder absurde Weise). Die Fiktion antizipiert, imaginiert, verwandelt, und eben dadurch stellt sie Fragen und macht Vorschläge. Dies ist ihre paradoxe und mächtige Beziehung zur Wirklichkeit. Doch im Fall des Theaters kommt noch etwas hinzu; es gibt hier nicht nur einfach Erzählung und Fiktion. Es gibt die reale Präsenz der von Schauspielern auf einer Bühne im Hier und Jetzt der Aufführung verkörperten Personen. In dieser körperlichen Präsenz besteht der ganze Einsatz des Theaters. Während der Zeit des Theaterspiels stellt sie eine unmittelbare sinnliche Beziehung zu den Adressaten her. In dieser Hinsicht weist das Theater eine große Verwandtschaft mit dem Ritual auf, das während der Zeit der Zeremonie auf die Teilnehmenden einwirkt. Doch im religiösen Ritual setzt das eine Ordnung voraus, in der für diejenigen, die daran glauben, andere Mächte eingreifen: das Ritual wirkt, indem es diese Mächte mobilisiert. Diesen Anspruch hat das Theater nicht. Es ist eine immanente horizontale Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern. Wenn also das gespielte Stück auf die Zuschauer einwirkt, so aufgrund des Spiels selbst und der Gesamtheit der Bedingungen, die es herstellen. Doch wie geht das vor sich? Wie zirkulieren die Affekte zwischen der Bühne und dem Saal? Welches Verständnis der Situation wird von allen geteilt?

IV. T HEATER , ANERKENNUNG , W AHRHEIT Nun sind wir beim Kern des Problems angelangt. Die Wirksamkeit des Theaterspiels ist alles in allem die Operation, durch welche die Fiktion das Reale verwandelt oder zumindest diese Fähigkeit besitzt. Dann wird man sagen, dass zwischen den Zuschauern und den Bühnenfiguren ein Identifikationsprozess stattgefunden hat, wobei man sich auf Aristoteles’ Theorie über die Gefühle des Schreckens und des Mitleids beziehen kann, die von der Tragödie hervorgerufen werden. Doch wie steht es mit anderen Arten von Schauspielen, – angefangen bei der Komödie – die ganz andere Gefühle mobilisieren? Das könnte uns zu einer psychologischen Theorie der Identifikationsformen führen. Derartige Theorien erlauben es indes nicht, die Haltung der Theaterzuschauer von derjenigen zu unterscheiden, die mit einer sportlichen Darbietung oder einem beliebigen kollektiven Spiel zusammenhängen. Hier verharrt man im alleinigen Paradigma des Spiels; was in keiner Weise negativ ist, doch das Theater macht etwas anderes, gerade

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weil es Werk ist. Es ist auch das, was Aristoteles unter poesis verstand: ein Stoff, (ein sprachliches, visuelles, körperliches Material) wird erarbeitet, gestaltet und von einem Publikum geteilt, an das es sich richtet. Was heißt das? Das heißt, dass der Theaterraum ein logischer Raum des Gesprächs ist. Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst, dass die Schauspieler/Zuschauer-Beziehung diejenige der Gegenwart einer Aussage ist. Nur ein ‚ich‘ kann in einer solchen Gegenwart sprechen, auch wenn dieses ,ich‘ einen vergangenen oder künftigen Zustand evoziert. Nur ein im Moment gegenwärtiges Subjekt kann ,ich‘ sagen. Wie Benveniste (1974) schreibt, weist das ,ich‘ auf die Person hin, die in dem Augenblick spricht, in dem sie spricht. Derselbe Autor zeigt, dass dies auch für die Pluralform gilt: ,wir/ihr‘. ‚Ich‘ sagen heißt, sich notwendig an ein ,du‘ wenden. Es besteht totale Co-Implikation und Umkehrbarkeit. Nur diese beiden Termini sind Personalpronomen. Das ,er‘ ist keine grammatikalische Person, er oder sie ist nicht als Subjekt des Gesprächs gegenwärtig. Doch sei’s als menschliches Wesen (er/sie), sei’s als Ding, ,es‘ ist der vermittelnde Dritte in der gegenwärtigen, lebendigen Beziehung des ,ich/du‘ oder ,wir/ihr‘. Eine solche Beziehung ist insofern einmalig, als sie nicht substituierbar ist. Der Raum des Gesprächs in der lebendigen Gegenwart der Aussage ist in dem Sinne ein logischer Raum, in dem die Termini durch ihre wechselseitige Position definiert sind. Man könnte hier von einem transzendentalen Plan sprechen, der von vornherein aus der gleichzeitigen Präsenz der Sprechenden und der Angesprochenen besteht. Eine solche dialogische Ordnung ermöglicht das Hören und die Antwort zwischen den einen und den anderen; in ihr spielt sich die Theaterhandlung ab. Und dennoch ist dieser logische Raum des Gesprächs nicht „die Sache selbst“. Diese lässt sich definieren als Akt der Anerkennung zwischen den Partnern des Schauspiels. Doch was heißt das? Anerkennung wovon? Wie bereits gesagt, liegt ganz allgemein zwischen zwei Personen oder zwei Gruppen Anerkennung vor, wenn: a) sie sich als Mitmenschen identifizieren; b) sie sich als unterschieden und autonom respektieren (als Partner oder Rivalen); c) sie sich Unterpfänder der Akzeptanz in Form von Worten oder Symbolen geben. Ist das Theater der Ort, wo dies beginnt? Nein, denn die grundlegende Situation der Anerkennung liegt vorher und ist bereits gesichert. Aber im Theater wiederholt sich die gegenseitige Anerkennung und spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Und diese Ebene ist die einer Simulation mittels der Fiktion, die zu einer Erfahrung der Selbsttransformation hin zu der Wahrheit wird, die von der Fiktion getragen wird. Sobald jeder diesen Raum betritt, findet ein Pakt statt: nämlich „das Spiel zu spielen“ und die vorgebrachte Fiktion zu akzeptieren, um wirken zu lassen, wovon in dem von ihr Dargestellten die Rede ist. Dies geschieht durch das Verständnis der Inszenierung, durch das professionelle Spiel der Schauspieler,

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durch die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Es ist eine aktive dialogische Situation, eine Interaktion: es geschieht etwas mittels der Darbietung selbst. Und hier erhebt sich unweigerlich eine Frage: Wer erkennt wen an? Auf Seiten der Bühne ist es nicht der Schauspieler als Individuum gegenüber einer Vielzahl von Individuen, die zuschauen, auch nicht der Schauspieler als Rollenfigur, die der Fiktion angehört; auch auf Seiten des Saals ist es nicht der individuelle Zuschauer oder der Zuschauer als Träger dieses Status gegenüber der fiktiven Bühnenfigur. Die gegenseitige Anerkennung findet also auf einer anderen Ebene statt, die weder die Ebene der empirischen Realität der Individuen noch die virtuelle Ebene der Fiktion ist, sondern eine begriffliche Ebene, die beide in etwas anderem einschließt, nämlich in dem komplexen Ganzen der empirischen und fiktionalen Komponenten. Dies lässt sich mit dem Begriff Verkettung5 bezeichnen. Die Verkettung macht aus der Bühne/Saal-Beziehung ein Dispositiv, das alle gewöhnlichen Gewissheiten verwirft. Das Publikum bildet keine stabile Gemeinschaft: die meisten kennen sich nicht und zerstreuen sich nach der Aufführung. Ebenso befinden sich die Schauspieler vor einer unbekannten Gruppe, die dennoch da ist, um sie spielen zu sehen und sie zu beurteilen. Die Beziehung scheint anonym zu sein, und trotzdem geschieht zwischen ihnen etwas Intensives. Es passiert etwas, das alle Grenzen transzendiert und sich aus dem Schauspiel selbst ergibt. Ein einzigartiges Band entsteht in einer anderen als der empirischen und der fiktionalen Dimension, ein in der Intersubjektivität völlig objektives Band. Es besteht eine gegenseitige Anerkennung, die aus der Verkettung selbst hervorgeht. Und dieses Moment ist transformativ und verwandelt die Darbietung in ein Ereignis. Denn auf dieser Ebene entstehen die Beziehungen, die jenseits des Spiels und des gewöhnlichen Lebens liegen. Es vollzieht sich eine konstante Bewegung, durch die sich die Bühne in den Saal projiziert und die Zuschauer sich virtuell auf der Bühne befinden. Die einen wie die anderen ringen miteinander gemäß unsichtbaren Linien und affektiven Intensitäten, die zugleich Gedanken sind und unter allen zirkulieren. Dies ist der Agon des Theaters. Wir befinden uns in einer Realitätsordnung, die dieser Verkettung eigentümlich ist und von der Kleist in seinem Text Über das Marionettentheater (1810) eine prägnante Vorstellung gegeben hat. Die Marionetten veranschaulichen in extremer Form die Potenzialitäten der Körper und des Raums, weil sie Linien, Gesten, Rhythmen, Proportionen und Ausdrucksformen exponentiell extrapolieren und befreien, die im Theater oder im Ballett Gefangene des Körperausdrucks bleiben. Sie enthüllen die Macht der spezifischen Verkettung im Theater, da sie

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Für diesen Begriff beziehe ich mich hauptsächlich auf Deleuze/Guattari (1976), Kapitel 9, Was ist eine Verkettung?

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uns verständlich machen, dass sich die gegenseitige Anerkennung jenseits der menschlichen Subjektivitäten abspielt. Der logische Raum des Dialogs verwandelt sich in einen interaktiven Raum der gegenseitigen Anerkennung – sogar mit den Marionetten, denn sie bringen mehr als menschliche Potentialitäten zum Ausdruck. Und eben dies erwartete Artaud vom Theater als Ritual. Genau auf dieser Erfahrungs- und Komplexitätsebene können wir von Wahrheit sprechen. Vom subjektiven Standpunkt aus lässt sich Wahrheit als Selbstoffenbarung verstehen, und vom objektiven Standpunkt aus als erneuerte Kohärenz der Welt. Die beiden Bewegungen begegnen sich in der Verkettung der Theatervorstellung. Dann bietet sich eine besondere Erfahrung. Es geht nicht darum, sich als den Erwählten der Theateraufführung zu entdecken und davon ein Heilsversprechen zu erwarten. Auch nicht darum, endlich das zu werden, was man ist. Vielmehr geht es darum, zu werden, was man nicht ist; ein anderer zu werden; einer Exteriorität gegenüberzutreten, der Exteriorität dessen, was überrascht, dessen was dazu zwingt, sich zu ändern; sich der Prüfung einer Situation der Fiktion ausgesetzt zu wissen, die uns in der Verfremdung des Spiels (der Brecht’schen Distanz) zu etwas führt, was wir sonst nicht wüssten und nicht spürten. Diese Distanz des Spiels wird gleichzeitig kritische Distanz und Aufforderung, aus sich herauszutreten. Hin zu dem, was sich als möglich und provozierend behauptet, zu einer anderen Welt, in der der Andere mich betrachtet und mich ruft: das ,wir/ihr‘ des Gesprächs entsteht in der Darbietung selbst. Es läuft über die Inszenierung, den Text, den Raum, das Spiel der Schauspieler, die Stimmen, die Beleuchtung, die Aufmerksamkeit der Zuschauer, sogar die Atmosphäre. Kurz, über das, was man die Verkettung nennen kann und was die Ebene bildet, auf der sich die objektive Wahrheit der im Schauspiel gegebenen Welt bestätigt. Insofern ist das Theaterspiel keine Illusion, keine leere Fiktion: uns erkennend erkennen wir hier einander an. Einander anerkennen heißt nicht einfach, eine Kommunikation zu verwirklichen. Es ist ein totales Sicheinlassen auf die Beziehung; insofern gehört sie zur tiefen Logik der Gabenbeziehung gemäß ihren drei Instanzen: aus sich heraustreten, sich persönlich riskieren, von sich zeugen. Es sind genau die Instanzen der Aussage. ,Ich‘ spricht nicht, ohne diese dreifache Fähigkeit einzuschließen, die auch eine dreifache Forderung ist. ,Ich‘ ist nicht substituierbar, und dennoch kann ein jeder ,ich‘ sagen. Man kann diese Position transzendental nennen. Im ,wir‘ der Theatersituation kann man von Verkettung sprechen, wenn man versteht, dass das Spiel, das durch die Interaktion aller Beteiligten den Raum der Fiktion öffnet, das Werk zum Vorschein bringt, das davon zeugt, dass jedes Mal ein irreversibles Ereignis stattgefunden hat und von neuem möglich bleibt.

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L ITERATUR Artaud, Antonin (1969 [1936]): Das Theater und sein Double, übers. v. Gerd Henniger, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Benveniste, Émile (1974): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. v. Wilhelm Bolle, München: List. Benveniste, Émile (1993): Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, übers. v. Wolfram Bayer, Frankfurt a.M./New York: Campus. Benveniste, Émile (2015 [1947]): „Le jeu comme structure“, in: ders., Langues, cultures, religions, Limoges: Lambert-Lucas. Brecht, Bertolt (1993): Schriften zum Theater, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Caillois, Roger (2017 [1947]): Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, übers. v. Peter Geble, Berlin: Matthes&Seitz. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976): Kafka. Für eine kleine Literatur, übers. V. Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970 [1807]): Phänomenologie des Geistes (=Theoriewerkausgabe, Bd. 3) Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hénaff, Marcel (Hg.) (1996): „Politics on Stage“, Substance Bd. XXV, Nr. 86. Hénaff, Marcel (2009): Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik Sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Huizinga, Johan (1987 [1938]): Homo ludens, übers. v. H. Nachod, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kleist, Heinrich von (1810): „Über das Marionettentheater“, in: Berliner Abendblätter vom 12.–15. 12. 1810, Berlin. Mauss, Marcel (1968): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.

“The Place of the Thing” The Predicament of the Gift in Art and Anthropology R OGER S ANSI

Abstract The gift has been a central research topic in Anthropology since its origins. On the other hand, the theme of the gift is also central to art theory and practice, in particular in the last few decades, with the proliferation of participative and relational practices. An anthropological critique of the uses of the gift in these practices could be based on the sharp contrast between the utopian ideas one often finds in art practice, as opposed to the anthropological descriptions of the gift as a social fact. Gifts in art often appear as voluntary, free, and egalitarian, while the ethnographic literature regularly describes them as compulsory, ritualized and hierarchical. However anthropologists often wonder about the ontology of the gift: since the gifts they describe, precisely by their formalism, are not ‘true’ gifts, but rather contracts. Is there such a thing as a ‘pure’ or ‘true’ gift? My argument is that art can help anthropology reframe, if not answer, this question, by shifting the focus of the ontology of the gift: addressing the gift as an event, rather than a social fact. I will look at this question through a specific example, an art project by Roger Bernat at Documenta 14, “The Place of the Thing”.

Documenta, perhaps the most prestigious of contemporary art biennials, was partially de-localised in its 14th edition, in 2017, from its permanent site, the German city of Kassel, to Athens in Greece. The relation between Kassel and Athens was presented as an exchange of gifts, a host and guest relation in which Documenta was Learning from Athens (Documenta n.d.). In exchange, a selection of the collection of the Greek National Museum of Contemporary Art was shown at the Fridericianum, in Kassel, with the title Antidoron, counter-gift in

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Greek (Koskina n.d.). As it often happens, the exchange of gifts was ambiguous: Who is giving to whom? Who is the patron and who is the client in this exchange? Is this an egalitarian or a hierarchical relation? The displacement of Documenta to Athens could be seen as a critical, radical gesture, by questioning the very site of the exhibition, and giving protagonism to a place in the periphery of contemporary art institutions, and also in the periphery of European political and economic institutions and power dynamics. But precisely, identifying Athens as the ‘periphery’, as the other, as the subaltern in need of gifts, could be seen as a confirmation of this subaltern status, rather than a critique. As it is often said, charity only keeps the poor poor. The fact that Documenta comes from Germany, from the perspective of Greece, only made the uneven status of this exchange more explicit: since the financial crisis and the very controversial bailout of Greece by the EU, the image of Germany as the draconian creditor and of Greece as the powerless debtor looms large over German-Greek relations, at least from the Greek side. And an art ‘gift’ from a formally German institution was probably destined to be seen as an insufficient gesture of cultural diplomacy, or “artwashing” that could backfire (Batycka 2017). Regardless of the fact that Documenta is not a public German institution, but is actually a non-profit institution, and its artistic directors are often not German (like this time, the artistic director was the Polish curator Adam Szymczyk). But indeed this Documenta was polemical not only in Greece but also in Germany; since it was argued that the delocalization made Documenta incur in a large debt, and German local and state (regional) governments had to step in to guarantee the loans (Sutton 2017). I have started this chapter talking about this case because I think it is a very evident example of the predicament of the gift. A question that has been a central research topic in Anthropology since its origins, but is also, I think, central in contemporary art, in particular in the last few decades, with the proliferation of participative, performative and relational practices and art events. An anthropological critique of the uses of the gift in these practices could be based on the sharp contrast between the utopian ideas one often finds in art practice, as opposed to the anthropological descriptions of the gift as a social fact. Gifts in art often appear as voluntary, free, and egalitarian, while the ethnographic literature regularly describes them as compulsory, ritualized and hierarchical. Gifts that ostensibly want to build egalitarian relations in fact build hierarchical relations. This could be a very quick conclusion one could apply for example, to the case of Documenta 14: A well-meaning art event that was designed as an egalitarian, voluntary exchange, in fact re-creates by other means the hierarchical relation it attempts to overcome.

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That is one possible critique that anthropological theories of the gift could make of (at least some) art practices of the gift. But I think it is precisely too quick and poor to stop here. Anthropologists often wonder about the ontology of the gift: since the gifts we describe, precisely by their formalism, their hierarchical character, are not ‘true’ gifts, but rather contracts. But is there such a thing as a ‘pure’ or ‘true’ gift? This is a recurrent question in Anthropology. My argument is that art can help anthropologists reframe, if not answer, this question, by shifting the focus of the ontology of the gift: addressing the gift as an event, rather than a social fact. To explain this point I will come back to the case of Documenta 14. In the last year I have been involved with an Athens-based project of anthropologists and artists that has been working on Documenta 14. As an answer to Learning from Athens, the name of the project is Learning from Documenta (Learning from Documenta n.d.). I do not pretend to address the whole event of Documenta 14 here, with its myriads of art works, interventions and events within events, it is still too recent and the team of the research project is still processing the information. I would like to focus just on one particular case, one art project in Documenta 14, which I think is a particularly good case study. The name of the art project was The Place of the Thing.

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One of the artists invited to Athens and Kassel by Documenta was Roger Bernat, who works in the intersection between theatre and participative art. His previous work included the project Domini Public (public sphere or public domain, s. Bernat n.d.). Bernat invited the public in the street to perform the instructions they received through a set of headphones. The result is a street choreography in which the border between performance and everyday life is questioned. The play NUMAX –FAGOR PLUS re-enacts a film on the closure of a factory (Bernat 2 n.d.). In 1979, the workers at Numax, the Spanish manufacturer of household appliances, learn that an experiment of collective self-management to save their business has failed. Aware of the defeat, they decide to capture their last days on film. In 2013, the cooperative Fagor, one of the largest manufacturers of household electronics in Europe, was forced to close their books. Roger Bernat invited the workers from Fagor to restage the last deliberations at Numax in the style of re-enactments of historical battles. The objective of the play is to reenact a real moment of collective crisis through a collectivization of the discourse.

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As you can see following these examples, the work of Bernat implies the ‘participation’ of the public, an exchange of gifts between the director and the public. But this exchange of gifts is uneven; the participation is always a response to the very precise instructions of the director, Bernat himself. However, what Bernat is looking for is not a precise and faithful enactment of his instructions or the script, on the contrary, he is interested in the hesitations, the misgivings, the interpretations, the failures, the rebellions, the tentative approach of the public that improvises, making each enactment a particular event. In the context of Documenta, Bernat presented the project The Place of the Thing (Bernat 3 n.d.). Bernat commissioned the reproduction of the ‘Oath Stone’ of the Athens Agora, an archeological remain of the IVth century BC, the stone on which magistrates swore their oaths. Bernat’s project was to take this reproduction of the stone to Kassel, where it would be shown at the remains of the ancient ‘Thingplatz’ of Landau. According to Bernat, a ‘Thingplatz’ was the place where ancient Germans used to gather, hold councils and celebrations. It was usually a forest clearing marked by a ring of stones. The project plays with the meaning of ‘Thing’ or ‘Ding’, as assembly or gathering, a social exchange, an event of encounter; some ‘thing’ that happens, rather than just a material object. In the more recent past, the ‘Thingplatz’ was the designation of the place where open-air theatre in the Nazi period, the ‘Thingspiel’, was played. The ‘Thingspiel’ is described by Bernat as “a toxic form of participative theatre” (ibid). The stone would not be simply transported from Athens to Kassel. It had to pass from hand to hand, it had to be handed to different collectives that would “theatrify” the object, turn it into an event. In his own words his aim was to form: […] a fictional pact with the collective, which, by self-organising, organises the theatrification of the object it is moving or around which it moves; it accepts, in short, to celebrate around the stone a copy of the Thingspiel that is sufficiently conspiratorial to become a genuine anti-Thingspiel. If the former encouraged the blind participation of citizens in a fiction that was being passed off as true, the latter allows the dialectic creation of a truth that is known to be fictional. Thus creating around the ‘monolith’ a multifaceted truth, a mysticism so dubious that it must inevitably be reconfigured as a shared (and therefore extraordinarily complex) form of political irony. (Bernat 3 n.d.)

The idea then was that the stone would be handed to different collectives, who would ‘theatralize’ the stone, up to its arrival to Kassel. But very early on in the process, one of these collectives, the LGTBQI+Refugees in Greece, decided to steal the stone. In a press release, the collective complained about the exploita-

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tion of refugees by the festival. “Your stone is supposed to give us a voice, to speak our stories. But rocks can’t talk! We can.” (Voon 2017) The reaction of the artist was complicated. He published a response to this action, saying, on the one hand, that this was precisely what he wanted to achieve: Each one of the individuals and collectives that were consulted on the project had to create their own idea or appropriation of the ‘thing’. This group (the LGBTQI+Refugees) had not done anything different. But on the other hand, he said that the group misunderstood their action: “The piece of scenography (actually a fake stone) was never stolen: we delivered it personally. Simply, it was never given back. There are no Robin Hoods here.” (Bernat 4 n.d.) So the piece could not be stolen because it was no commodity, but a gift. As a gift it was not really an object in itself, but a relation, a nexus. He goes on to question their misunderstanding of the ‘fake’ stone with a ‘work of art’: The ‘stone’ in question is nothing of a ‘work of art’. It’s a cheap fake totally devoided of any material and even symbolical value. It takes its value from the importance people give to it […] Do you think that if ever we or Documenta had thought that the stone had any value in itself, it would have been delivered so easily and with no assurances to any collective asking for it? (Bernat 5 n.d.)

Even if Bernat’s arguments may be valid, his tone of defiance and condescendence ultimately undermines his argument. He is putting himself precisely in the position that the refugee collective had designed: the self-important artist complaining to his subalterns because they had betrayed his trust, because they had stolen not just the stone, but the project. In any case, Bernat had made other copies of the stone. And one eventually arrived to Kassel in June. But then he decided not to bury the stone in the Thingplatz. For Bernat, The stone was welcomed by Documenta's audience, who participated in the project with dedication and candour not shown beforehand by any other collective. (Their commitment was so zealous that anonymous graffiti appeared on it denouncing the falsity of a plastic stone!). And it was by taking part unreservedly that the audience at Documenta made the project fail. […] The burial of a piece of plastic in the same grounds once used as Thingplatz was the kind of indigenous exorcism that could only be carried out by a group capable of an ironic – and therefore critical – view of its own identity. We did not find this in Documenta. Without the necessary irony, such an interment would only serve to solemnify the death of

56 | ROGER S ANSI something that was never alive: yet another liturgy aimed at reaffirming a myth of collective identity. The spectators at Documenta deserve a ceremony in line with their convictions. Let us therefore bury the stone on e-bay. Let the sovereign collective of Documenta – its audience – free itself from the idols that sustain it. Let the true price ‘top’ the false value. (Bernat 5 n.d.)

The public of Documenta disappointed Bernat because of their literalmindedness and lack of irony. In these terms, Bernat argues, the project failed, it remained unconcluded. One could speculate why the project failed, or indeed if it did fail. Perhaps it was too ambitious, perhaps it was not very well designed or thought-through, perhaps the ‘artist’ was too wary of his artistic authority in spite of claiming the opposite. Perhaps the general concept of Documenta was the problem. Perhaps none of this matters, since it has become an interesting example precisely because of all the events it has gone through, and people like myself or art critics talk and write about it. In my particular case, I am not interested in judging the project in artistic terms, but as a case in point example of what we are interested in discussing in this book: the predicament of the gift.

R ELATIONAL E STHETICS

AND THE FREE GIFT

Although Bernat may not like it, his work is close to what Nicolas Bourriaud called Relational Esthetics (2002). For Bourriaud, art is a situation of encounter (Bourriaud 2002: 18). “All works of art produce a model of sociability, which transposes reality or might be conveyed by it.” (Ibid) The form of the art work is in the relations it establishes: to produce a form is to create the conditions for an exchange. In other terms, the form of the artwork is in the exchange with the audience. Hence the artist becomes a mediator, a person that fosters and provides situations of exchange, rather than a creator of objects. For Bourriaud, relational art practices establish particular social relations for particular people; the artist tries to keep a personal contact with the public that participates in the exchange, fostering what he calls a “friendship culture” (Bourriaud 2002: 32), in contraposition to the impersonal, mass production of the culture industries. Here is where Bernat may differ from Bourriaud: he may not be necessarily interested in fostering a “friendship culture”, but on exploring different kinds of social relations, less egalitarian and affirmative. Still, the basic mechanism or method to build these relations is still the same: the gift.

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Relational artworks as gifts would be free, spontaneous, personal and disinterested events, in opposition to commodification and mass consumption. We could say that the vision of the gift in relational art is not radically new, but is deeply anchored in classical Kantian aesthetics, based on the notion of the judgment of taste as free of interest and finality. This reading of the gift as free, spontaneous and disinterested, appears in the eighteenth century in radical opposition to commodities, which are bounded to interest. James Carrier, in his historical account of discourses about the gift in the modern West, points out to the emergence of the notion of the ‘true’ gift in the 18th century. The perfect present should be given freely, as an expression of personality. The ‘spontaneous’ gift would be the absolute opposite of interest, and therefore, of the world of commodities. Carrier traces the withdrawal of the ‘gift’ to the realm of personal relations and disinterest and its separation from the ‘commodity’ and the realm of private interest. Paradoxically, it is the very emergence of an impersonal market that allows for a notion of the ‘personal’ and ‘free’ gift to emerge in opposition to it (Carrier 1995: 163). The emergence of the notion of the personal and free gift in the Eighteenth century is not just contemporaneous with modern Aesthetics, but it is intimately connected with it: both express the possibility of thinking a domain of practice, a form of relation of people and things “free of need and finality”, as Kant would say. A form of relation in radical opposition to the emerging, dominant regime of modernity: the impersonal market. In the end, aesthetics is also based on subjectivity, like economics, but the subject of Aesthetics is constituted precisely in opposition to economics: instead of the calculating, maximizing individual that thinks in terms of need and utility, Schiller described the aesthetic education as the promise of a society where free citizens would think beyond their immediate interests, but for the common good. In these terms, the gift emerges as the natural embodiment of aesthetics as a form of relation based on freedom and play, as opposed to the commodity as a form of relation based on need and utility. This esthetic utopia of the free gift is still at the center of many of the participative art practices of today. The presupposition of equality amongst participants is its fundamental tenet, like Jacques Rancière has shown (2004). Moreover, arguments on the free gift are still very present, not just in contemporary art, but in a larger sphere of debates on ‘free culture’ and the cultural commons that have re-emerged in the last decades with new digital media and the free software movement (see Hyde 2009). The paradox of this utopia is that since its origin, it has been constituted in direct opposition to the economic model of bourgeois utilitarianism, and precisely because of that, it shares many things

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with it: it is based upon an egalitarian, liberal and individualist cosmology, which is the key of bourgeois modernity. Bernat’s use of the gift, although deeply soaked in this philosophical and cultural tradition, in Schiller, shifts the emphasis from freedom and equality to domination and inequality. But that does not mean that he is not addressing these issues through the gift as a method. Perhaps the anthropological approach to the gift could shed some light on this apparent contradiction.

ANTHROPOLOGY

AND THE HIERARCHICAL GIFT

The understanding of the gift as free, improvised and egalitarian in modern art and esthetics is very different from what many anthropologists have said since Mauss. In their ethnographies and theories, anthropologists have often described gifts in terms of obligation, ritualisation, and hierarchy. Mauss’ first paragraph in The Gift concludes with the statement: “in theory these [gifts] are voluntary, in reality they are given and reciprocated obligatorily” (Mauss 1990: 3). Many decades later, Strathern described gifts that “convey no special connotations of intimacy. Nor of altruism as a source of benign feeling” (Strathern 1991: 295). Does this distinction between theory and reality also apply to the gift in modern art? Are gifts in art voluntary and egalitarian, in theory, but obligatory and hierarchical, in truth? This ‘false consciousness’ or ‘misrecognition’ would be at the basis of the rules of art, and of all social life as a matter of fact, for Bourdieu (1996). The criticism to many of the different forms of relational and participatory art that have emerged in the last decades also have been built, directly or indirectly, on arguments of false consciousness. Claire Bishop has described how community arts have been embraced as a sort of “soft social engineering” (Bishop 2012: 5) in the UK, promoting ‘participation’ in the arts as a form of preventing social exclusion. For Bishop, ‘social inclusion’ policies in the UK were deeply rooted on a neoliberal agenda, seeking to “enable all members of society to be self-administering, fully functioning consumers who do not rely on the welfare state and who can cope with a deregulated, privatised world” (Bishop 2012: 12). Notions of ‘creativity’ as innate talent of the socially excluded, an energy that could be transformed from a destructive to a constructive impulse, are also quite common in these cultural policies. Participatory and community art could become, in this context, devices of neoliberal governmentality (Miessen 2011).

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D ISTRIBUTED PERSONHOOD And yet, there is something more to the question of the gift than false consciousness. Mauss did not just describe the gift as a misrecognised form of symbolic capital but he also presented it in direct relation to the notion of the person: how a gift is an extension of the person who gives, hence blurring the very distinction between people and things (Mauss 1990). Mauss opened the door to imagine other ontological possibilities to Western individualism, where this division is clearly established from the onset. The relation between gift and personhood was a central question for Melanesian anthropology all along, but in particular in the eighties and nineties in the work of Weiner (1992), Munn (1986), Strathern (1988) and Gell (1998). Gell famously extended the discussion of the “distributed person” to a general theory of art in Art and Agency (1998). In that book Gell proposed to look at works of art as indexes of agency. Indexes of agency are the result of intentions: “Whenever an event is believed to happen because of an ‘intention’ lodged in the person or thing which initiates the causal sequence, that is an instance of ‘agency’.” (Gell 1998: 17) To have intentions means to have a mind. The ‘life’ we attribute to things, and works of art in particular, would be the result of a process of abduction or indirect inference of a ‘mind’ in a thing. In these terms the work of art is an extension of the distributed personhood of the artist. The participative public of his enactments would be extensions of himself. And that would be possible precisely because of the gift – he gives himself to them. The audience becomes a part of the work – ‘portrayed’ by their participation, “extracted from one and absorbed by another”, as Marilyn Strathern would say. But at this point one could ask, whose “distributed person” is this? Bernat included the public in his plays, but they are still his work: he has the power to decide what constitutes art, he is the author, while the public seems to be a part of the process of production. These artworks are not necessarily based on a premise of absolute equality between artist and public, and even less on the cancelation of the distinction of one and the other, art and everyday life, but rather a play between them. Still, this does not necessarily question the utility of notions of the gift and the distributed person to describe these practices; anthropological theories of the gift are not a celebration of egalitarianism and community building, but they also underscore the aspects of hierarchy and the relations of power that these practices may entail. What can be interesting about these forms of art from an anthropological perspective is how they propose a kind of experimental laboratory of the minimal elements of everyday life, the basic forms of social rela-

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tion, like an act of gift-giving, with all its ambiguity, by putting it into play in unexpected ways.

R ELATIONS The notion of the “distributed person” could be brought further. For Gell (1998), agency is always originally human, and often seems to give primacy to the (first) agent, namely the artist, even if other agencies are ‘entrapped’ in the process. Art works have power; but for Gell this power is always bestowed upon them by people with ‘minds’, whose intentions are distributed in art objects. But the distributed or partible person may be much wider. For Strathern, partible persons may not start or generate from a single human person but they may assemble collectives of humans and non-humans in multiple ways. In these terms, tracing back the origin of agency is less important than describing the particular relation, where relations take precedence over entities: “it is at the point of interaction that a singular identity is established” (1988: 128). This shift of the question from agency to relations is important also to understand one central issue in modern and contemporary art, that Grant Kester has called the “disavowal of agency” (2011: 4): allowing chance to guide the process of production, modern and contemporary art have proposed to open up the space of possibilities of the artistic process by explicitly withdrawing the agency of the artist, and describing these processes as an event, an assemblage of heterogeneous elements, human and non-human, without a pre-established order of agency. Shifting the discussion towards an ontology of relations also brings further the contradictions of the concept of the gift as an object of exchange. We owe to Jacques Derrida the explicit formulation of the ontological antinomy of the gift: taken to its logical conclusion, a pure ‘gift’ cannot be reciprocated; because if a return is expected, the gift always implies its opposite: interest, benefit, utility, accountancy, commodification. “The gift, like the event, as event, must remain unforeseeable […] It must let itself be structured by the aleatory; it must appear chancy or in any case lived as such” (Derrida 1992: 122). The gift is not in the thing given, but the event of giving; an event that gives itself, and that has to be forgotten as such. In part, this understanding of the gift as an event goes back to the notion of the spontaneous, free gift that we have described before as key to modern art and aesthetics, but bringing it to a deeper phenomenological level. Derrida’s understanding of event and gift are also explicitly indebted to Heidegger’s discussion of ‘the thing’ as a gift (1971), as the establishment of a relation, of giving itself as an event. The

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gift happens as an event before there is a division between subject and object, before there is being as substance (Derrida 1992: 24). To put it in Strathern’s terms, the gift as a relation takes precedence over the entities it constitutes. The gift is not a given: it is not there before it happens; it cannot easily be naturalized or reduced to a sociological model (like ‘exchange’).

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If we approach the gift as an event rather than as a social fact, we can shift the focus toward its potential to become. This could help us to address for example the key role of the gift in the utopian vision of Situationism, to come back to the field of art. Situationists in the fifties and sixties explicitly engaged with theories of the gift, in particular Bataille’s reading of the “potlatch” in his theory of an economy of expenditure and excess (1993). Bataille envisioned a human condition that was not determined by need and utility, but empowered by pleasure and play. But still Bataille’s notions of free play did not have much to do with the democratic and libertarian utopias of contemporary art, like Bourriaud's relational esthetics: on the opposite, his images of the gift as expense are transgressive and destructive. After Bataille, for the situationists, the gift, the “potlatch” and the economy of excess prefigured a form of exchange radically different to commodity exchange. In The Revolution of Everyday Life (2009 [1967]), Raoul Vaneigem made a sharp distinction between two different kinds of gift, one that would imply hierarchy, another that would be the gateway to revolution. The first he defined as the “feudal gift”; the gift of what Mauss or Bataille would call “archaic societies”, before capitalism. For Vaneigem, the feudal mind seemed to conceive the gift as a sort of haughty refusal to exchange – a will to deny exchangeability; hence it’s competitive, agonistic character, where one has to be the last to give, to keep the reputation, rank and hierarchy (Vaneigem 2009 [1967]: 57). Vaneigem’s vision was not to return to the feudal gift, but the opposite: moving forward to the “pure gift” (id.: 59). The pure gift would be the “don sans contrepartie”, the gift without return, which would characterize the future society, in opposition to both: bourgeois society, based on the market, and the previous aristocratic society based on the agonistic gift that did not play for benefit, but for fame and rank. In this sense, the situationists dismissed the hierarchical aspects of the “potlatch” that were central to Mauss, Bataille, and most of the anthropological and sociological tradition. In the ‘pure gift’, instead, the “young generations” would play for the pleasure of playing itself. The gift for the situationist

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has the subversive potential of questioning commodification and property relations in themselves, of de-commodifying the commodity (Martin 2012). Following Bataille, the transgressive, excessive, character of the gift is put forward, very far away from the measured, liberal humanism of the aesthetic utopia. And yet, this transgression for the situationists does not have the aristocratic tone of cosmic tragedy of Bataille’s sacrifice, but on the opposite, it is an utopian hope. “A new reality can only be based on the principle of the gift” (2009: 31). It is interesting to note how Vaneigem had a very clear understanding of the “ontological aporia” of the gift, as we have formulated it before: the impossibility of thinking the ‘pure gift’ if not in opposition to the commodity. In these very terms, situationism describes this ‘pure gift’ as a revolutionary, utopian project of subversion of the existing social relations, which appears not just in contradiction, but in direct confrontation, to overcome commodity exchange. It is also interesting to note that the main example of Vaneigem’s pure gift is nothing but – theft. In his own terms: The insufficiency of the feudal gift means that new human relationships must be built on the principle of pure giving. We must rediscover the pleasure of giving: giving because you have so much. What beautiful and priceless potlatches the affluent society will see – whether it likes it or not! – when the exuberance of the younger generation discovers the pure gift. The growing passion for stealing books, clothes, food, weapons or jewelry simply for the pleasure of giving them away gives us a glimpse of what the will to live has in store for consumer society. (Vaneigem 2009 [1967]: 59)

Can theft be a gift? Vaneigem clearly elaborated on the connection between the two notions, by emphasizing the idea that the “young generations” steal objects out of desire to give them away, not to hoard them. Perhaps this connection is a bit far fetched, but still, any anthropologist can recognize that giving is always the counterpart of taking; often the anthropological literature has made reference to poaching, freeloading, the aggressive soliciting of gifts by people who feel entitled to have them, or even the simple act of taking the gifts without permission, if they are not given. This poaching may take place in confrontation to commodity exchange, for example in colonial situations or during fieldwork, when the colonists or the anthropologists are asked to share what they define as their “private property” (e.g. Sahlins 1993). In this sense, Vaneigem’s understanding of the ‘pure’ gift as theft, emerged clearly as an aggressive form of questioning commodity exchange.

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C ONCLUSIONS After the situationists, this reading of the gift in art as a radical gesture of transgression seems to have been replaced by more conventional, liberal understandings of the ‘free’ gift as a mechanism of producing and re-producing communities in participatory artistic practices. But this should not necessarily imply a dismissal of these practices. Perhaps they would not bring forth the situationist revolution, but from the perspective of Anthropology, the question is not their revolutionary credentials or their ethical standards, or even their success in achieving their political or social goals. What is interesting are the very processes they engage with, even if their outcomes are not clear. These processes propose particular experiments with the very thread of the social. In this sense they actually do bring forth the situationist understanding of the gift as a performative gesture: an event that will almost inevitably result in contradictions, but that is still worth proposing, as a method, to open a field of possibilities. To take Derrida’s words again, the gift is an event open to chance. This unpredictability is precisely what puts it at the center of modern and contemporary artistic practice, in its “relentless disavowal of agency” (Kester 2011: 4). The central problem of Bernat’s work is precisely the disavowal of agency. Bernat pretends to renounce his agency in his own work, but only to an extent. Because otherwise it would not be his work, it would not be ‘art’, but an open event. He extends his personhood to the public, to the participants in his projects, but always pretending to remain in control of the project. Of course he allows them to build their own ideas, their own theatricalisation, but not to change the narrative – the trajectory of the project. These appropriations of the project can entail forms of resistance or rebellion, but these forms should be contained within the work. Otherwise the event would no longer be a self-contained work of art with a coherent narrative, but it would become diluted in the exchange. Bernat is well aware that this is a possibility, by bestowing his agency upon other people, he runs the risk that the event swipes away his own agency, that he looses control, and that the artwork disappears or fails. When the stone was stolen, it was very clear that this was the case. In the traditional anthropological narrative, in any gift exchange, the giver acquires a power over the receiver of the gift. Thus the artist giving the possibility of sharing his art with the participants, becomes their patron. But a gift is not a given, it is an event with unforeseeable consequences. If the gift becomes theft, the participants no longer recognize the artist as their patron, undermining his authority, making the art work impossible to happen. In spite of his denial, of his disavowal, of his attempt to ‘put things back in place’, Bernat may have been well aware that the game was over from then

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on. The project was doomed to fail. He pretended that this failure happened later on, in Kassel, but his reading of the end of the project in Kassel as a non-event (the public was not ironic, but it related to the stone literally) was the exact opposite to the stolen stone in Athens. It was indeed the stolen stone in Athens that made the project fail. Not because of the stone itself, but because the thieves had become the masters of the narrative. Is this indeed a failure? Perhaps only for the artist. But not necessarily for the stone itself, as an event of encounter, that has generated many more stories than the artist could foresee.

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Theater – Gabe und Gemeinsinn G ERHARD S TAMER

Abstract Theatre – Gift and Common Sense: The ambiguous phenomenon of theatre can be illuminated in terms of the gift. This essay will pursue what happens in successful performances. It will attempt to interpret what happens when the polarity between the actors and the spectators blurs and the deep common experience of human existential destiny becomes palpable in the incomparable presence of the theatre. In a reflection on the affinity between Common Sense, as generally presupposed by Kant for aesthetic judgments, and the cultic origins of the theatre, it will be considered how far theatrical performances can be conceived as a gift which is given by the community to itself – in the sense of a fundamental reflection, affirmation and transcendence of everyday life.

In diesem Beitrag soll nur eine These expliziert werden, die These, dass das Theater eine Gabe ist. Das heißt, ich werde nicht phänomenologisch auffächern, welche verschiedenen Arten von Gaben ansonsten noch vorkommen. Auch das Verhältnis von Gabe und Tausch wird nicht erörtert werden. Anhand eines einzigen Argumentationsstranges möchte ich plausibel machen, inwiefern das Theater eine Gabe ist.

1. Die Gabe ist zu einem Theorem geworden. Es ist nichts Selbstverständliches, dass ein subjektiviertes Alltagswort Anlass zu theoretischen Erörterungen gibt. Einerseits muss man dabei skeptisch sein, denn zwischen dem simplen Gebrauch im Alltag – dem Geben – und der geradezu metaphysischen Überhöhung, die das Wort Gabe in der theoretischen Reflexion bei einigen Autoren erhält, liegt eine beachtliche Diskrepanz. Und wir wollen – zumindest seit Wittgenstein – nicht

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nur keine falschen Sätze bilden, sondern auch keine sinnlosen. Andererseits muss es etwas Fundamentales damit auf sich haben, wenn ein allgemeingebräuchlicher Begriff menschlicher Kommunikation, wie es das Geben ist, solch eine theoretische Beachtung erfährt. Ich erinnere an den Philosophen Parmenides, der 500 v. Chr. das Verb ‚sein‘ substantivierte und damit mindestens drei mächtige Traditionsstränge auslöste: Ontologie, Mystik und Wissenschaft, aber eigentlich weit darüber hinausgehend eine grundlegende theoretische Basis für die gesamte abendländische Kultur schuf. Alles Verständnis von Objektivität hat hier seine Wurzel. Bis heute ist diese Quelle der Inspiration nicht versiegt. Die Veröffentlichungen über Parmenides hören gar nicht auf. Als letzter weltweit renommierter Philosoph hat Karl Popper in einem umfangreichen Werk Parmenides kosmologisch gedeutet. Was ist das Sein? Was ist die Gabe? Das Hineinversetzen solcher für selbstverständlich gehaltener Worte in die Frageform, diese Konfrontation von Worten, die im normalen Umgang kaum Beachtung finden, mit einer solchen Allgemeinheit – und damit Bedeutungssteigerung – erzeugt zunächst eine Irritation, ein Erstaunen, sodass man kaum weiß, was darauf zu antworten ist. Aber wenn hinter der Abstraktion Gabe eine solche Sprengkraft steckt wie hinter der des Seins, dann steht noch viel zu erwarten an – und wir befinden uns mit unseren Überlegungen zu Theater und Gabe erst am Anfang einer Debatte.

2. Auf welchem Niveau diese Debatte schon heute stattfindet, kann man daran erkennen, dass sie sich gar nicht mehr um die fachspezifische Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften dreht, wie der Untertitel von Marcel Mauss’ Schrift über die Gabe aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lautet, sondern längst zu anthropologischen und universellen Überlegungen geführt hat. Marcel Mauss ist daran nicht unschuldig. Er selbst hatte schon Erwägungen darüber angestellt, ob in den Tauschhandlungen der frühen Völker nicht generell ein immer währender „Austausch einer Sachen und Menschen umfassenden geistigen Materie“ zu erkennen sei (Mauss 1990: 39). Diese Betrachtung führte zu der Frage, ob solche Verhältnisse auch in gegenwärtigen Gesellschaftsformen Relevanz besitzen. Könnte die Gabe als Bedeutungszentrum etwas so Fundamentales sein, dass sie in allen Formen menschlichen Wirtschaftens, in aller Ökonomie – vielleicht verdrängt oder rudimentär – eine Rolle spielt? Damit war das erkenntnisleitende Interesse am Thema Gabe – direkt oder indirekt – mit einer kritischen Betrachtung der gegenwärtigen Gesellschaftsformen verbunden.

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3. Angesichts der vielfältigen Facetten der Bezugnahmen von Theater und Gabentheorien bleibt mir aus einer philosophischen Perspektive nur die Möglichkeit, weit auszuholen, um mit meiner These vielleicht noch einen Aspekt hinzuzufügen. Wenn ich sage ‚weit ausholen‘, dann heißt das zugleich auch im historischen Sinne zurückzugehen. Aber ich hoffe, dass, was sich zunächst für manchen Leser antiquiert anhören mag, sich doch als Lichtblick erweisen wird. Ich gehe zu Kant zurück. Nach meiner Auffassung hat er Grundlegendes über die Ästhetik vorgebracht, das auch nach der Entwicklung des Verständnisses für Ästhetik im 20. Jahrhundert Bestand hat. Bei Ästhetik dachte Kant zuerst an das Naturschöne, dann an Literatur, an Malerei, auch an Baukunst, vielleicht auch an Parkanlagen, an das Theater wohl kaum. Das Schöne und Erhabene in der Kunst war der Gegenstand seiner Analyse, worauf sich eine gegenwärtige Betrachtung selbstverständlich nicht eingrenzen ließe. Wenn ich Kant in die Diskussion einbeziehe, so in Kenntnis der technischen Reproduzierbarkeit aller Objekte, wovon Benjamin sprach, der Erklärung von Alltagsgegenständen zu Kunstwerken, wie es Duchamp tat, des erweiterten Kunstbegriffs von Beuys, der sozialen Plastik, der Einheit von Kunst und Leben, wie sie Fluxus propagierte, der Aufhebung des traditionellen Werkbegriffs, bis hin zu den Formen, die spezieller für das Theater relevant sind: Konzeptkunst, Aktionskunst, Performance und den Experten des Alltags von Rimini Protokoll. In der letzten seiner drei Kritiken, der Kritik der Urteilskraft, behandelt Kant die Kunst neben der Teleologie der Natur, aber das ist nicht unser Thema; auch das Erhabene, das er thematisiert, spare ich aus. Dass die Kunst in der letzten Kritik thematisiert wird, bedeutet nicht, dass sie das Letzte ist, worum es Kant geht; ganz im Gegenteil lässt sich sagen, dass für die Kunst, erst nachdem Naturwissenschaft und Moral in den beiden ersten Kritiken begründet sind, die Voraussetzungen bestehen, um darzustellen, was sie sei. Die Kunst bildet mit der Wissenschaft und der Moral einen systematischen Zusammenhang. Sie sind alle drei Erzeugnisse der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Also nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Moral und Ästhetik sind Produkte von Verstand und Vernunft, denn in allen drei Bereichen bilden wir Urteile, indem wir sagen, das ist eine wahre Feststellung, das eine moralisch gute Handlung oder das eine ästhetisch gelungene Komposition. Wissenschaft, Moral und Ästhetik sind für Kant gleich ursprüngliche – auch in historischem Sinne – Fähigkeiten unserer Gattung. Wir finden in dieser Dreiteilung die Platonischen Ideen, das Gute, das Wahre und das Schöne wieder. In der Analyse aller drei Bereiche geht es Kant stets um das Gleiche, nämlich darum, das allgemein Gültige der spezifischen Aussagen herauszuarbeiten: das

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heißt, nicht nur darzustellen, worin ihre jeweilige allgemeine Gültigkeit besteht, sondern ebenfalls, welchen spezifischen Grad von allgemeiner Gültigkeit Aussagen in diesen Bereichen besitzen. Sie besitzen nämlich verschiedene. Den höchsten Grad besitzt die Mathematik, die in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommt, so dass es in diesem Bereich Erkenntnisse mit hoher Geltungskraft gibt, die Naturgesetze. In der Dimension des Moralischen, in der es sich nicht um die Erkenntnis dessen handelt, was ist, sondern darum, was getan werden soll, sind solche Gesetze nicht möglich. Das Moralische entspringt der Freiheit der Menschen. Für sie sind nur Maximen praktischer Vernunft möglich. Aber auch sie haben für uns Menschen nach Kant eine spezifische allgemeine Geltung. Im Kategorischen Imperativ erhält sie ihren Ausdruck. Es ist bekannt, dass nach dem Kategorischen Imperativ das Moralische in der Maxime besteht, die jedes einzelne Individuum sich geben solle, so zu handeln, dass dies zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne. Anders formuliert: Ein Handeln ist als moralisch zu betrachten, wenn es darauf ausgerichtet ist, das Gemeinwesen, in dem wir leben, zu stärken. Kant denkt dabei gar nicht an bestimmte Regeln und Gesetze, nach denen wir handeln müssen. Die können ganz verschieden sein: in kultureller und historischer Hinsicht. Aber ihnen muss die Intention auf die Gemeinschaft innewohnen. Für Kant ist das keine neue Erfindung. In allen menschlichen Zivilisationen gab es das. Aber zu allen Zeiten war es dennoch zumeist eine Herausforderung, so zu handeln. Was aber lässt sich nun über das Ästhetische sagen? Findet Kant dort auch eine Form von allgemeiner Gültigkeit, eine Gültigkeit für alle Menschen? Die griechische Polis noch vor Augen, lässt sich in Erinnerung an Aristoteles davon sprechen, dass der Mensch ein zoon politikon sei, ein politisches Wesen und damit unter politischen und moralischen Aspekten ein Gemeinschaftswesen. Aber das Ästhetische scheint zunächst für das zoon politikon keine Grundlage zu bieten, obwohl auch in allen Kulturen und zu allen Zeiten Zeugnisse ästhetischen Ausdrucks zu finden sind: in Wandzeichnungen von Tieren, auf Friedhöfen, in Bauten wie Tempeln und Pyramiden, auch in musikalischen Tonfolgen und Tänzen der frühen Völker. Dennoch aber scheint das Ästhetische eher durch Heterogenität gekennzeichnet zu sein als durch etwas, das allen Formen in gleicher Weise zukommt. Das Ästhetische wird als eine äußerst individuelle Angelegenheit angesehen. Sofort gibt es heftigen Widerspruch, wenn eine Zustimmung in der Weise einer Forderung vorgebracht wird. Das ist eine Alltagserfahrung. Geschmäcker sind eben verschieden, sagen wir. Kant unternimmt es nun, obwohl auch er weiß, dass Geschmäcker verschieden sind, das Ästhetische als etwas herauszuarbeiten und darzustellen, das nicht

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reine Willkür ist, nicht reine individuelle Meinung. Er erkennt auch im Ästhetischen etwas allgemein Menschliches. Was ist es bei aller Verschiedenheit der künstlerischen Ausdrucksformen, das doch davon sprechen lässt, dass in allen Kulturen und zu allen Zeiten durchgängig Ästhetik in den menschlichen Gemeinschaften eine Rolle spielte – und auch zur Identität der Gemeinschaften gehörte? Worin besteht das Allgemeine, das der Ästhetik zu Grunde liegt, obwohl sie unleugbar subjektiven Charakter besitzt? Mit akribischer logischer Seziertechnik arbeitet Kant das heraus. Das Ästhetische hat nichts mit individuellen Vorlieben zu tun; die sind bloß angenehm und vergnügen. Das Ästhetische hat auch nichts mit Besitz zu tun. Ob ich ein Bild besitze oder nicht, hat nichts mit seiner ästhetischen Qualität zu tun. Die Wertsteigerung eines Bildes bedeutet nichts im Hinblick auf seinen künstlerischen Wert. Nicht nur der Gebrauchswert der Dinge ist von ihrem Tauschwert verschieden, sondern auch der ästhetische Wert. Kant kennzeichnet das Ästhetische mit der berühmten Formel als ein „Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse“. Das Künstlerische hat vergleichsweise den Status der Würde bei Kant, von der er sagt, dass sie keinen Preis habe. Das Künstlerische versetzt in eine bestimmte Stimmung. Als solches ist es subjektiv und hat auch nichts zu tun mit Begriffen, die Gegenstände bezeichnen. Das Ästhetische ist etwas, das sich dem Begrifflichen entzieht. Kunstwerke sind nicht auf den Begriff zu bringen. Sie besitzen ihre Qualität nicht in der Eindeutigkeit von Identitäten. Wir können zwar die Mona Lisa als dieses Bild identifizieren, aber darin liegt nicht ihre ästhetische Qualität. Für Kant ist das Ästhetische weder Ausdruck für etwas objektiv Gegebenes, noch Ausdruck für etwas Voluntatives, das durch ein Handeln im Persönlichen oder in der Gesellschaft erreicht werden kann. Für ihn besitzt das Ästhetische die Form einer Zweckmäßigkeit, einer Stimmigkeit des inneren Zusammenhangs, die in uns Empfindungen auslöst: Eine Stimmigkeit, die in uns eine Stimmung auslöst, die Kant durch ein Spiel der Erkenntniskräfte untereinander erklärt. Und nun erfolgt Kants entscheidender argumentativer Schritt. Diese Stimmung hat eine Besonderheit an sich: Sie dränge zur Mitteilung. Das Ästhetische berühre uns in einer Weise, dass wir spontan eine Zustimmung zu unserem Gefühl erwarteten, ein Gefühl, das wir alle kennen. Es ist die „allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefühls“ (KU § 21, B 66; AA V: 239), die dem Ästhetischen zu Grunde liege. In dieser allgemeinen Mitteilbarkeit erkennt Kant etwas, das uns Menschen wesentlich ist. Und er folgert, dass in dieser allgemeinen Mitteilungsfähigkeit unserer Gattung ein Gemeinsinn zu Tage tritt. Ist das Ästhetische damit nicht in eine absolut unspezifische Dimension versetzt worden? Eine ästhetische Komposition ist doch wegen z.B. ihrer Farbkon-

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stellation oder ihrer Tonarchitektur interessant, nicht wegen der Allgemeinheit, sollte man denken. Das spricht Kant dem einzelnen ästhetischen Objekt nicht ab, aber indem wir ein auf den Gegenstand bezogenes Urteil abgeben, ob es schön sei, stimmig komponiert oder dergleichen, rührt sich in uns das Gefühl, dies müsse ein anderer ebenso empfinden. Er müsse dem zustimmen. Kant drückt dies in seiner bekannt gedrechselten Sprache so aus: Die Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurteil gedacht wird, ist eine subjektive Notwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objektiv vorgestellt wird. (Ebd.)

Wenn wir etwas als ästhetisch empfinden, so weckt das in uns die Empfindung, den Wunsch, es mitzuteilen. In diesem Drang zur Mitteilung spürt Kant einen menschlichen Wesenszug auf, eine Intention, in der sich eine innere Verbundenheit und Gemeinsamkeit unter Menschen anzeigt. Das bedeutet: Wir sind durch das Ästhetische miteinander verbunden. Anders ausgedrückt: Die Ästhetik macht offenkundig, dass uns Menschen ein Gemeinsinn, ein sensus communis a priori zu Grunde liegt, der uns miteinander verbindet. Wir sind als Menschen nicht nur äußerlich durch Kommunikation, Verkehr und Handel miteinander verbunden, sondern a priori in unserm Innern. Wenn nun wieder die Frage nach unserem Thema auftaucht, Was hat das mit der Gabe zu tun? Und was mit dem Theater?, so sind wir jetzt gewissermaßen durch den Tunnel der Begründung hindurchgegangen und erblicken Tageslicht.

4. In keiner anderen Kunstgattung kommt der sensus communis, der uns a priori zu Grunde liegt, so zum Ausdruck, wie im Theater. Malereien, Skulpturen, Gebäude, Städte als Phänomene der Kunst sind nicht lebendig. Das betrifft auch den Film. Er ist eine Konserve. Die Musik ist im Gegensatz zum Theater abstrakt. Im Theater stehen lebendige Menschen im Hier und Jetzt auf der Bühne, und was sie tun, hat etwas mit der Lebenswelt der Menschen konkret zu tun. Das Theater spielt sich in dem spezifisch menschlichen Bereich, in der Humansphäre ab. Kant bestimmt das ästhetische Apriori nur formal als „allgemeine Mitteilbarkeit“. Ich denke, es ist erforderlich, darüber hinaus zu gehen. Das Theater zeigt das Schicksalhafte des Menschen. Das Schicksalhafte besteht in der Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Weder lässt sich die Daseinsweise des Menschen auf pure Notwendigkeit trimmen noch auf absolute Freiheit erhöhen. Weder reicht eine durchgängige animalische Bestimmung aus, noch ist er ein Wesen reiner Vernunft. Der Mensch ist weder Sein noch Bewusstsein, er ist beides in

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einem. Diese Einheit von Widersprüchen macht die besondere Existenzform des Menschen aus. Die Liste der Widersprüche ließe sich beliebig fortsetzen. Etwa im Verhältnis zum Universum, wie es Blaise Pascal, Mathematiker und Philosoph aus dem 17. Jahrhundert tat: Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, aber ein denkendes, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen; ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, dass er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. (Pensées 200/347; Pascal (1997): 140 f.)

Oder in der Weise, wie Kant die Kritik der reinen Vernunft begann: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (KrV A VII; AA IV: 7)

Oder wie Goethe es seinem Mephisto in den Mund legt: „Er [der Mensch] nennt’s Vernunft und braucht’s allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ (Goethe 1996 [1808]: 17) Die unausweichliche Zwiespältigkeit des Menschen zwischen Denken und Handeln, Schein und Sein, Gut und Böse, Liebe und Hass, Leidenschaft und Kälte, gegenwärtigem Leben und Wissen um seinen Tod, einmaliges Individuum zu sein und zugleich durch und durch ein gesellschaftlich geprägtes Wesen, zwischen einem Wissen, über das er verfügt und der Unendlichkeit dessen, was er nicht weiß: aus diesen Widersprüchen kommen Menschen nicht heraus. In ihnen vollzieht sich ihr Leben. Gegenwärtig scheint mir das Widersprüchliche und Schicksalhafte der menschlichen Existenz nicht mehr im Mittelpunkt des allgemeinen Bewusstseins zu stehen. Naturwissenschaft mit ihrer Objektivität, Technik mit ihrer Praktikabilität und Ökonomie mit ihrer Profitabilität haben eine Form von allgemein gültiger Rationalität hervorgebracht, in der sich das spezifisch Menschliche nicht abbilden, nicht ausdrücken lässt. Durch sie ist eine Kultur entstanden, in der die Menschen sich mehr und mehr nach Maßgabe solcher Rationalität zu interpretieren beginnen. Eine Selbstentfremdung besonderer Art hat sich ausgebreitet. Vielleicht ließe sich sogar von der Gefahr einer Selbstverlorenheit sprechen, eher als von einer Seinsvergessenheit, wie es Heidegger getan hat.

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Das Theater ist dagegen das Medium, das sich zu dieser Rationalität in antagonistischem Widerspruch befindet. Die schicksalhafte, widersprüchliche Sphäre, die lebensweltliche Dimension ist es, die im Theater, im Spiel, im Schauspiel unmittelbare Präsenz erlangt, eine Vergegenwärtigung erfährt. Wenn man es erkenntnistheoretisch zusammenfassen wollte und Erkenntnistheorie nicht nur auf Naturwissenschaft, Mathematik und Ethik bezieht, sondern auf das menschliche Beziehungsgeflecht, käme man zu dem Ergebnis, das Theater als die Sphäre zu begreifen, in der die menschliche Lebenswelt in ihren zugespitzten Grunderfahrungen exemplarisch öffentlich thematisiert wird. Wir sehen dies in allen wesentlichen Aspekten. Um es nur an einem, allerdings dem prominentesten Beispiel, zu zeigen. Fast alle Stücke von Shakespeare stellen die Einzelschicksale in den Rahmen historischer und politischer Auseinandersetzungen. Die Menschen sind nicht allein. Die Natur spielt mit, oft als Sturm, wie auch der Titel eines gleichnamigen Stücks. Alle bekannten Personen der Stücke sind widersprüchliche Charaktere: Sei es zwischen Denken und Handeln oder zwischen Missetat und Reue, zwischen Gier und Ohnmacht, Wahn und Wirklichkeit, Leidenschaft und kalter Berechnung. Krieg und Versöhnung, Liebe und Hass, das Heilig-Ernste und das Profane, der Klamauk und weise Philosophie bilden in Shakespeares Szenen die theatrale Lebendigkeit.

5. Wenn wir Kants Einsicht in die Ästhetik, dass sich in ihr eine allgemeine Mitteilbarkeit zeige, inhaltlich ergänzen – wie wir es soeben getan haben – und damit präzisieren, so handelt es sich im Theater um die allgemeine Mitteilbarkeit der Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz. Sie hat – wie wir wissen – ihren Ursprung im Mythos und Kultus. Es ist nicht übertrieben, von einer Affinität des Kantischen Ästhetikverständnisses zum Kultus zu sprechen. Sowohl im Kultus als auch in der Vorstellung von Kant handelt es sich um ein Geschehen, in dem der Gemeinsinn eine entscheidende Rolle spielt. Im Kultus, wie in seiner säkularisierten Form, dem Theater, findet ein Gemeinschaftserlebnis statt. Das Theater ist ein Ort der Versammlung, der Gemeinsamkeit und der Konzentration. Es sind die Menschen selbst, die mit ihrer Gestalt, ihren Gesängen, Tänzen und ihren Worten Gemeinsames – was Menschen betrifft – darstellen. Der Bezirk des Theaters ist getrennt von den Abläufen des Alltags. Bei den Griechen ist der Tempel des Asklepios, des Gottes der Heilung, oft nicht weit vom Theater entfernt. Das Theater gehört wie die Medizin zur Gesundheit der Menschen. Es ist eine Wirklichkeit sui generis. Im Spiel wird realisiert, was im Alltag an Tiefe verloren geht. Im Übergang vom Kultus zum Theater verwandelt sich die Beschwörung und Feier des Göttlichen, zu dem sich die Menschen zusammenfan-

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den, zur Besinnung auf die Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hat. Es sind die Menschen, die die Dimension in sich behalten, die zuvor das Göttliche einnahm. So wird das Theater in Tragödie und Komödie zu einer Art von Gabe, die sich das Gemeinwesen selbst gibt, indem es das kultische Moment bewahrt. Das ist die bedeutsame Möglichkeit, die das Theater bis heute in allen seinen Formen bietet. In gelingenden Aufführungen verbindet sich die Vorstellungskraft des Publikums mit dem, was auf der Bühne passiert. Schauspieler und Publikum werden in den herausragenden Momenten zu einer Einheit. Die Polarität von Geben und Nehmen hebt sich auf. Die Veranstaltung wird zum Ereignis, wird zur Affirmation des Seins der menschlichen Gemeinschaft in ihrem Zusammenhalt, ihrer Gemeinsamkeit. Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, bezieht die Gedanken zur Ästhetik direkt auf die Humanität: Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft; und, wenn man den Trieb zur Gesellschaft als dem Menschen natürlich, die Tauglichkeit aber und den Hang dazu, d.i. Geselligkeit, zur Erfordernis des Menschen als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs“, ansieht, so müsse man es als eine „zur Humanität gehörige Eigenschaft“ ansehen (KU § 41, B 162, AA V: 296f.).

Ich brauche abschließend keine langen Ausführungen darüber zu machen, welche Bedeutung dem Theater in einer Zeit zukommt, in der nationalistische Rückzüge, Separatismus, populistische Fremdenfeindlichkeit und Entsolidarisierungen an der Tagesordnung sind. Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse den common sense strukturell zerstören, dann ist es Sache des Theaters – besonders des Theaters –, ihn immer wieder ins Leben zu rufen.

L ITERATUR Goethe, Johann W. (1996 [1808]): „Faust“, in: ders.: Werke Bd. III, München. Kant, Immanuel (1911): Kritik der reinen Vernunft. (=Akademieausgabe, Bd. IV/Ausgabe A), Berlin: Georg Reimer. [= KrV] Kant, Immanuel (1913): Kritik der Urteilskraft. (=Akademieausgabe, Bd. V), Berlin: Georg Reimer. [= KU] Mauss, Marcel (1990 [i.O. 1923/24]): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in arachaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Pascal, Blaise (1997): Gedanken über die Religion und einige andere Dinge. Hg. von Jean-Robert Armogathe. übers. V. Ulrich Kunzmann, Stuttgart: Reclam. [= Pensées]

Tausch und/oder Gabe: Gabentheoretische Positionen

[...] den flüchtigen Augenblick fassen, da die Gesellschaft und ihre Mitglieder ein gefühlsmäßiges Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Situation gegenüber den anderen erlangen. Marcel Mauss, Die Gabe, 1994, 178.

Die Gabe zwischen Reziprozität und Einseitigkeit, Norm und ästhetischer Kraft F RANK A DLOFF

Abstract The Gift between Reciprocity and Unilaterality, between Norm and Aesthetic Power: The paper sketches out a social theory of gift-giving by distinguishing everyday and ordinary gifts from extraordinary gifts. Both types of gifts cannot be subsumed under the logic of reciprocity and exchange, since they show aspects of risk, asymmetry, greatness, spontaneity and freedom that do not follow the logic of symmetrical exchange. Thus, my interpretation of Marcel Mauss emphasises that the gift is located between the poles of freedom and norm, sympathy and self-interest. A special focus is laid upon the aesthetic components of gift practices. Gifts show an experimental side that is connected with aesthetic ‘freedom from’ the world of normativity. Aesthetic freedom is associated with the freedom of extraordinary gifts, and agonistic gifts also form a basis of our everyday practices of living together. Arts, aesthetics and freedom are not separated from daily life but necessary preconditions of our normed everyday practices.

Als Marcel Mauss im Jahr 1925 seinen Essay Die Gabe herausbrachte, ging es ihm darum, einen Diskurs um die Gabe zu re-etablieren. Gabenbeziehungen waren den europäischen Gesellschaften ja keinesfalls fremd, doch verschwanden sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend aus dem Blick. Kapitalismus und Bürokratie schienen nicht zum Prinzip des Gebens zu passen. Und so kehrte das Gabethema erst Anfang des 20. Jahrhunderts über kulturelle und geographische Umwege zurück:

80 | FRANK A DLOFF Unable to recognize their ongoing gift practices in their own societies [...], European overseas travelers, above all some of the founders of modern anthropology, recovered the idea of gift exchange at the colonial margins. (Liebersohn 2011: 7)

Insbesondere Franz Boas, Bronislaw Malinowski und Richard Thurnwald lieferten die ethnologischen Studien, die Mauss zu seiner Theorie der Gabe synthetisierte. Er las deren ethnologische Studien jedoch nicht als exotische Berichte aus fernen und fremden Kulturen, sondern als lokale Besonderheiten eines universellen Phänomens. Für ihn zeigen die dargestellten Praktiken des Gebens und Erwiderns eine Kunst der Vereinigung, die den Europäern abhandengekommen war. So ist sein Essay auch als Suche nach einem dritten Weg zwischen einem Wirtschaftsliberalismus einerseits und Bolschewismus bzw. Staatssozialismus andererseits zu verstehen (vgl. Adloff 2016). Mauss (2010) stellt im Essai sur le don heraus, dass Handeln wechselseitige Bezüge aufweist.1 Wir geben, nehmen und erwidern materielle wie immaterielle ,Dinge‘– ein Kreislauf der Reziprozität entsteht, der häufig fragil und auf riskantes Vertrauen angewiesen ist. Er betont, dass die beziehungsstiftende wechselseitige Präsentation von Gaben zugleich auf der Freiwilligkeit und der Pflicht des Gebens, Nehmens und Zurückgebens beruht. Zwei Varianten des vormodernen Gabentausches stellt Marcel Mauss in seinen Analysen heraus: den sogenannten kula-Ring auf den melanesischen Trobriand-Inseln und den Potlatsch bei den nordwestamerikanischen Kwakiutl. Er unterscheidet dabei zwischen stärker agonistischen und weniger agonistischen Gaben. Schwach-agonistische Gaben kreieren eine Sphäre gegenseitiger Verschuldungen, in der es nicht primär um die Akkumulation von Reichtum geht. Gaben provozieren Gegengaben und ‚nähren‘ auf diese Weise permanent gegenseitige Verschuldungen und Verpflichtungen, die nicht abgegolten werden können. Beispielhaft ist der kula-Ring, bei dem zwei Arten von Schmuckstücken – Halsketten und Armbänder – in entgegengesetzten Richtungen zwischen den Inseln kursieren. Das Überreichen der Gaben stiftet und sichert die Beziehungen zwischen den beiden Gruppen zunächst einmal solidarisch ab, bevor der eigeninteressierte Warentausch beginnen kann. Die stärker agonistische Gabe, bei der der Kampf um Renommee viel offensichtlicher erfolgt, zeigt sich am ausgeprägtesten im Potlatsch der indianischen Völker der kanadischen Nordwestküste. Dabei geht es um die wechselseitige

1

Auf diesen Text beziehen sich erstaunlicherweise alle zeitgenössischen Ansätze zum Geben und zur Reziprozität, wobei das Spektrum von Rational Choice-Theorien über normativistische Ansätze bis hin zu Versuchen reicht, die Dichotomie zwischen Interessen und Normen zu überwinden (vgl. Adloff/Mau 2005).

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Steigerung von Gaben, bis ein Clan oder Häuptling aus dem Kreislauf des immer mehr Gebens aussteigen muss; denn nur einer kann beim Potlatsch gewinnen – und zwar an Status. Hier gründet alles auf den Prinzipien von Antagonismus und Rivalität.2 Dagegen spricht er in dem Essay nicht über nicht-agonistische Formen der Gabe, die er auch als totale Leistungen bezeichnet (Mauss 2010: 18). Diese solidarischen, nicht-kämpferischen Gaben bleiben fast völlig im Dunkeln; im Manuel d’ethnographie aus dem Jahr 1947 finden sich immerhin einige Erwähnungen. Sie gelten Mauss als ursprünglich und als Vorläufer der agonistischen Gaben – darauf werde ich noch zurückkommen. Im Essay über die Gabe kommt es Mauss hingegen darauf an zu zeigen, dass (schwach und stark) agonistische Gaben eine intermediäre Position zwischen nicht-agonistischen Gaben einerseits und heutigen individualistischen und juristischen Verträgen andererseits einnehmen. Mauss verfolgte mit seinem Essay jedoch nicht nur ethnologische, sondern auch dezidiert gegenwartsbezogene Zwecke. Ziel war eine Kritik des Realsozialismus, Kapitalismus und Utilitarismus. Sein damals aktuelles Potential bezog der Essay aus der doppelten Kritik am utilitaristischen Individualismus einerseits und bolschewistischen Staatszentrismus andererseits (vgl. Chiozzi 1983). Mauss ging es um ein drittes Prinzip der Solidarität und Genossenschaftlichkeit: nämlich um Formen wechselseitiger sozialer Bindungen und Verschuldungen. Der Sozialvertrag, den Mauss in den untersuchten archaischen Gesellschaften, in der Edda und im germanischen Recht erblickt, dient ihm als Modell der Erneuerung des zeitgenössischen Sozialvertrags durch die Anerkennung wechselseitiger Verschuldung. Die Gefahr lag für ihn darin, dass die modernen Sozialbeziehungen zunehmend dem Modell des Tausches, des Marktes und des Vertrags folgen – deshalb lautet Mauss’ Warnung, dass der homo oeconomicus noch vor uns liege. Die Logik der Gabe (und die häufig damit verbundene Reziprozität) unterscheidet sich somit fundamental vom marktförmigen Tausch (vgl. Mauss 2010: 130ff). Im Rahmen der Gabe weiß man nicht, ob etwas erwidert wird, was man erwidert bekommt und wann man etwas zurück erhält. Dies liegt jeweils in der Hand des Empfängers einer Gabe. Beim Tausch einigen sich vor dem Transfer beide Parteien über die Modalitäten, und es fließen Güter in beide Richtungen.

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Spätere Studien haben gezeigt, dass der extreme Potlatsch, wie ihn Boas für die kanadischen Indianer beschrieb, hauptsächlich das Produkt kolonialer Verwerfungen war (vgl. Godelier 1999: Kap. I).

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D ER ZEITGENÖSSISCHE G ABEDISKURS In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird das Konzept der Gabe eng an das der Reziprozität gekoppelt (vgl. Blau 2005; Molm 2010; Fehr/Gintis 2007). Wer gibt, bekommt in der Regel etwas zurück, so die These der Soziologie. In der Philosophie ist hingegen eine fortdauernde Erörterung der Frage zu finden, ob es so etwas wie eine „reine Gabe“ geben kann, die nicht auf Erwiderung beruht oder auf diese abzielt (vgl. Derrida 1993; Ricœur 2006). Im Folgenden werde ich zeigen, dass wir diese philosophische Debatte ernst nehmen und (an)erkennen sollten, dass neben Tausch und Reziprozität ebenso Formen einseitigen Gebens existieren. Es gibt also Gaben, die nicht erwidert werden (müssen). Zur Gabe gehört es ohnehin, dass die Erwiderung nicht zum Bestandteil ihrer Definition gemacht werden sollte, da sie vom Akt der Erwiderung unabhängig ist (Descola 2011: 457f.). Wäre sie vom Akt der Erwiderung abhängig, hätte man es mit einem Tausch zu tun. Die aus einer Gabe unter Umständen erwachsende Verpflichtung ist weder streng obligatorisch noch lässt sie sich einklagen (vgl. Caillé 2008, Adloff 2016). Nur zum Tausch gehört notwendig das Prinzip der Wechselseitigkeit. Dennoch soll hier nicht der Idee der reinen Gabe das Wort geredet werden. Es geht mir darum, dass Reziprozität immer nur eine Möglichkeit darstellt und sie nicht notwendig zur Gabe gehört. Gaben zielen auf soziale Beziehungen ab, und diese bilden sich über die Trias von Geben, Annehmen, Erwidern. Eine solche positive Trias muss sich nicht einstellen, doch das Risiko des Gebens öffnet überhaupt erst den Horizont für eine Beziehung der Wechselseitigkeit. Den Beziehungsmodus der (agonistischen) Gabe gibt es – in unterschiedlicher Ausprägung – in jeder Gesellschaft (neben Tausch, Hierarchie etc.). Wenn wir zudem (an)erkennen, dass es neben Tausch und agonistischer Reziprozität noch ein drittes Modell moralischer Prinzipien gibt, auf dem soziale wie ökonomische Beziehungen gründen können: das nicht-agonistische Geben, dann hat dies für das Verständnis von Sozialität und Gesellschaft gravierende Konsequenzen. In seinem letzten großen Buch hat Paul Ricœur (2006) die Thematik der Gabe aufgegriffen und das Phänomen des nicht-agonistischen Gebens ergründet. Der Idee eines endlosen Kampfes um wechselseitige Anerkennung (im Anschluss an Hegel und Honneth) stellt Ricœur die Vorstellung von Friedenszuständen zur Seite, in denen der konflikthafte Aspekt der Anerkennung wie bei einem Waffenstillstand eingehegt bleibt. Den zwischen zwei Personen hergestellten Friedenszustand nennt Ricœur mutualité statt Reziprozität (réciprocité). Im Zustand der mutualité gibt es keine vollständige Äquivalenz der Bewegungen

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des Gebens und des Erwiderns. Im Grunde handelt es sich um zwei Bewegungen, die jeweils auf ein Empfangen hinauslaufen: das Empfangen der ersten Gabe und das Empfangen der zweiten Gabe (Rückgabe). Die Dankbarkeit des jeweiligen Empfängers nimmt die Trias von geben-empfangen-erwidern auseinander und setzt sie zugleich wieder zusammen. Beide Paare stehen in einem Abstand der Ungenauigkeit (des Werts und der Zeit) zueinander. Auf diese Weise vermag die Gabe im Friedenszustand zwar wechselseitige Anerkennung zu konstituieren, fällt jedoch nicht zurück in die Kreis- und Tauschförmigkeit der Reziprozität. Mit Ricœur lassen sich also auch zwei Ordnungen der Gabe unterscheiden: Gaben, die auf Rivalität beruhen und auf Reziprozität abzielen – und Gaben in einem Friedenszustand, bei denen die Rivalität weitgehend ruht. Sie zielen nicht auf kreisförmige Reziprozität, sondern auf eine nicht-agonistische Asymmetrie der mutualité ab. Niemand hat so konsequent in den letzten Jahren versucht, das Konzept nicht-agonistischer Gaben anthropologisch wie soziologisch herauszuarbeiten wie der amerikanische Anthropologe und anarchistische Aktivist David Graeber. Gegen Adam Smith und den Mainstream der Wirtschaftswissenschaften gerichtet betont er, dass nicht der Tausch von Dingen gegen Dinge das ursprüngliche Modell des Wirtschaftens darstellt. Graeber (2012: 41ff) weist nach, dass der Tausch gar kein besonders altes Phänomen ist, sondern sich erst spät verbreitet hat. Die weitaus häufigste Form des Wirtschaftens gründet auf dem Prinzip des Kommunismus. Innerhalb einer kommunistischen Gemeinschaft wird nach dem Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ gehandelt.3 Nach diesem Prinzip kann niemals eine Gesellschaft als Ganzes organisiert werden; allerdings sind viele vormoderne Gesellschaften in ihrer Wirtschaftsweise stark von diesem Prinzip gekennzeichnet. Doch selbst moderne (kapitalistische) Gesellschaften sind auf der Grundlage kommunistischer Beziehungen gebaut: „Kommunismus ist das Fundament menschlichen Zusammenlebens.“ (Graeber 2012: 102, Hervorh. im Orig.) Familiäre und freundschaftliche Beziehungen, spontane Kooperationen, Kollegialität, freundliche Gesten und Konversationen – all dies sind für Graeber Beispiele einer kommunistischen Alltagsmoral, die von utilitaristischen wie normativistischen Sozialtheorien nicht adäquat erfasst werden kann. Immer dort, wo nicht Buch über den erfolgten Austausch geführt wird, haben wir es mit Formen des Gebens, Vertrauens, Gemeinsinns, der Hingabe und Liebe zu tun, die auf spezifische Weise vom Prinzip der Reziprozität entkoppelt sind. Im Grunde tun die hieran beteiligten Akteure so, als

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Auch Max Weber (1972: 214) betont, dass der hauskommunistische Grundsatz, dass nicht abgerechnet werde, bis heute in Familien fortlebt.

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würden sie ewig leben. Man weiß, der oder die andere würde das Gleiche für mich tun, auch wenn sich faktisch nie die Frage stellt, ob er oder sie Besagtes tatsächlich tun wird. Dies impliziert zwar auch eine Form der Reziprozität, aber eine sehr offene und weite. Beim Tausch gründet alles auf dem Prinzip, dass Beziehung und Austausch jederzeit beendet werden können, was auch impliziert, dass man seine Schulden begleichen kann und dann quitt ist. Schulden resultieren somit aus einem nicht zu Ende gebrachten Tausch zwischen prinzipiell isolierbaren Individuen. Die kommunistische Gabe kennt in diesem Sinne keine Schuld(en).4 Eine instruktive Deutung hingegen der agonistischen Gabe im Kontext des Anerkennungsdiskurses hat Thomas Bedorf (2010) entfaltet. In der riskanten und agonistischen Seite der Gabe liegt eine Herausforderung, der man sich nicht entziehen kann. Denn auch eine Nicht-Erwiderung ist eine Art der Erwiderung, wenn auch eine negative. In der Gabe liegt eine soziale Herausforderung: entweder auf das Beziehungsangebot einzugehen oder es abzulehnen. Das Gaberitual kann als ein Verfahren der agonistischen Anerkennung gelten. Die Gabe stellt eine Art Test dar: Wer gibt, bekommt unausweichlich eine Antwort. Etwas jemandem zu geben ist als erster Schritt des Erkennens des Anderen als eines Menschen und im zweiten als eine Form von Anerkennung zu deuten. Interaktionsmöglichkeiten mit anderen werden ausgelotet und die oder der Andere wird gezwungen zu antworten. Dabei dient die Gabe, also das, was gegeben wird, als Medium der Anerkennung. Über das Gelingen der Anerkennung kann jedoch nicht der Geber entscheiden, sondern nur diejenige, der Anerkennung gegeben wird. Erst wenn die Empfängerin einer Gabe sich dankbar erweist und dadurch wiederum Anerkennung ausdrückt, wird bezeugt, dass es sich um eine Gabe und somit um eine wechselseitige Anerkennung handelte (Caillé 2009). Fassen wir zusammen: Menschen sind einander zugewandt und geben sich eine Vielzahl von Dingen. Auf der alltagsweltlichen, nicht-agonistischen Ebene helfen sie sich gegenseitig, hören einander zu, sie schenken sich Dinge, Zuwendung, Anerkennung und Zuspruch. Diesen alltäglichen Handlungen stehen größere, häufig agonistische Gaben gegenüber: Man verzeiht einander, man gibt etwas Ungewöhnliches und Unerwartetes etwa in Form einer außeralltäglichen Hilfe. Es gibt mithin eine Neigung des Menschen zur Gabe, die sich nicht normativistisch und utilitaristisch erklären lässt. Gaben enthalten Momente des Überschusses und der Unbedingtheit, die konstitutiv sind für das Hervorbringen

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Es lässt sich allerdings dafür argumentieren, dass Kommunismus ein Zustand dauerhafter wechselseitiger Verschuldung ist, der nicht annulliert werden kann und in dem zugleich unklar ist, was genau man wem schuldet (Graeber 2012: 129; Godbout/ Charbonneau 1993).

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von Sozialität. Am Grund des Sozialen liegen damit Nicht-Äquivalenzen und Asymmetrien. Gabe, Risiko und Vertrauen sind fundamentale Voraussetzungen für Kooperationsbeziehungen, und zwar besonders immer dann, wenn man nicht von einer schon geteilten gemeinsamen Kultur mit gemeinsamen Werten und Normen ausgehen kann. Nicht zufällig handelt Die Gabe vom intertribalen oder man könnte auch sagen: ‚internationalen‘ Austausch zwischen Gruppen, die sich nicht schon auf ein geteiltes Set von Werten und Normen verlassen können.

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ZWEI

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Wir können nun eine Differenzierung des Gabekonzeptes einführen. Ich unterscheide zwischen alltäglichen und außeralltäglichen Gaben. Alltägliche Gaben werden häufig gar nicht als Gaben betrachtet. Sie laufen in Interaktionen implizit mit, bleiben im Hintergrund und werden von den beteiligten Akteuren auch nicht als Gaben benannt und gerahmt. Sie beruhen auf praktischem Können und implizitem Wissen (vgl. Adloff/Kaldewey/Gerund 2015). Nur wenn die Routinen nicht greifen, wird das zuvor Implizite expliziert. Zu denken ist hier an die Vielzahl von Praktiken und Routinen, die in einer gemeinsam geteilten Kultur alltäglich vorkommen. Wir grüßen uns, betreiben turn taking in Gesprächen, tun uns gegenseitig kleine Gefallen, helfen bei Störungen des Alltags aus, achten darauf, dass der Andere sein Gesicht wahren kann, übersehen Missgeschicke, helfen einander in vielerlei Weise aus. Diese Welt der Alltagsrituale ist vortrefflich von Erving Goffman (1959) und aus einem etwas anderen Blickwinkel von Randall Collins (2004) beschrieben worden. Die Wertschätzungen, die man einander gibt, die gemeinsame Aufmerksamkeit, die Synchronisierungen von Gesprächen und Köperbewegungen bleiben zwar im Hintergrund der Aufmerksamkeit, sind aber als Gaben aufzufassen. Diese impliziten und alltäglichen Gaben tragen ebenfalls ein Risikomoment in sich und sind von einem Moment der Unbedingtheit gekennzeichnet, was häufig übersehen wird. Höflichkeiten, Grüße und andere Zeichen der Aufmerksamkeit werden eben nicht (im engeren Sinne) ausgetauscht. Diese Praktiken folgen der Logik Gabe. Denn es ist nicht möglich, jemanden zu grüßen unter der Bedingung, dass der oder die andere auch grüßt. Nur ein abgesprochener oder vertraglicher Tausch kann unter der Bedingung stattfinden, dass die andere Person etwas erwidert. Die oben genannten Alltagspraktiken sind allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht ausschließlich konditional erfolgen können. Jemanden anzulächeln unter der Bedingung, dass diese Person auch lächelt, führt nur dazu, dass keiner von

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beiden lächelt. Auch unser Alltag ist von Ungewissheit gekennzeichnet – wir geben nicht unter der Bedingung, dass der andere verspricht, auch etwas zu geben. Alltägliches Geben kennt das Moment der Bedingungslosigkeit und damit Freiheit, auch wenn es normalerweise den Akteuren nicht zu Bewusstsein kommt. Dass bei alltäglichen Gaben der Zeitraum zwischen Gabe und Erwiderung extrem kurz sein kann (etwa beim Grüßen oder beim turn taking in Gesprächen) annulliert nicht den Gabencharakter dieser Praktiken, da das Risiko durch die Kürze des Zeitraums nicht eliminiert wird. Man sollte diese alltäglichen Praktiken tatsächlich als Gaben begreifen und nicht einfach nur relativ unbestimmt von Interaktion, Reziprozität oder Wechselwirkung sprechen. Für Georg Simmel bilden die Blicke zweier Personen bspw. die Wechselwirkung par excellence: Ich blicke jemanden an und bemerke zugleich, wie ich dadurch angeblickt werde. Das Geben und das Empfangen eines Blicks konzentriert sich auf ein- und denselben Zeitpunkt. Diese Wechselwirkung wird zur zeitlich zusammengezurrten Reziprozität auf Basis der Gabe, sofern beide Akteure im selben normativen Register bleiben. Also: Gutes gegen Gutes oder Schlechtes gegen Schlechtes geben. Bei Reziprozität (im Unterschied zur Wechselwirkung) sind affektive Bewertungen innerhalb desselben Registers zentral. Diese affektiven Bewertungen vollziehen wir permanent im Modus der Primärerfahrung (vgl. Adloff/Jörke 2013) – Affektneutralität, wie sie der Begriff der Wechselwirkung impliziert, existiert für Subjekte nicht. Mit dem Geben und Nehmen ist immer eine Wertung verbunden. Gabepraktiken wie sporadische Hilfeleistungen oder das Schenken ziehen dieses punktuelle Geschehen des Blickens zeitlich auseinander, so dass die drei Komponenten von Geben, Annehmen und Erwidern klar sichtbar werden. Auf diese Weise werden Bindungswirkungen über einen längeren Zeitraum entfaltet, die für Simmel (1992) auf dem Prinzip der Dankbarkeit beruhen. Gaben können also implizit gegeben werden, sie beinhalten immer das Geben einer positiven oder negativen Sache (aus Sicht des Gebers und des Empfängers), und es liegt ihnen ein Moment des Risikos und der Unbedingtheit zugrunde, das sie vom Tausch klar abgrenzt. Auf habitualisierte und präreflexive Weise können so Kooperationen und Bindungen zwischen Interaktionspartnern hergestellt werden. Nur im Moment des Stockens des Handlungsflusses, also in einer problematischen Handlungssituation widmet man sich diesen Phänomenen reflexiv. Dann erst wird gefragt: etwas geben oder nichts geben, Gutes oder Schlechtes geben? Die Situation verschärft sich, wenn aus einer problematischen Situation eine Handlungs- und Interaktionskrise erwächst (vgl. Adloff/Antony/Sebald 2016). Wenn bspw. in Situationen von Fremdheit, fehlender Intersubjektivität, Interkul-

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turalität, gravierenden Konflikten, Misstrauen, fehlenden gemeinsamen Normen und Werten oder Missverständnissen eine gemeinsame Handlungsbasis wieder hergestellt werden soll, können Akteure dies durch das Überreichen einer außeralltäglichen Gabe erreichen. Außeralltägliche Gaben fungieren als Eröffnungsgaben, die versuchen wollen, wieder eine gemeinsame Welt herzustellen. Ganz so wie sie Mauss beschrieben hat, liegt ihnen ein Test, eine Herausforderung und eine Rivalität zugrunde. Hier ist der Ort der agonistischen Gabe, die eine Antwort auf die Frage hervorrufen will: Krieg oder Frieden? Außeralltägliche Gaben sind eindeutig für die beteiligten Akteure als Gaben gerahmt, und ihr Risiko ist allen Beteiligten bewusst. Darin liegt denn auch ihre ‚Größe‘ begründet. Man geht bewusst das Risiko ein, eine Gabe zu geben, ohne dass klar wäre, ob sie positiv erwidert werden wird. In dieser Art von Herausforderung zeigt sich der Versuch, das ‚Spiel‘ der Kooperation wieder aufzunehmen. Dabei liegt die Herausforderung objektiv in Form einer gegebenen Sache vor, es wird etwas gegeben, das die Aufmerksamkeit beider Parteien als ein Drittes auf sich zieht – in diesem Sinn schafft die herausfordernde Gabe wenigstens für diesen einen Moment der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf die Gabe eine gemeinsame Welt, auch wenn das alter Ego die Gabe natürlich auch ablehnen kann. Vertrauen, Kooperationsmöglichkeiten und gegenseitige Verstehbarkeit sollen auf diese Weise anvisiert und wieder aufgebaut werden. Außeralltägliche Gaben stehen für den Versuch, das Spiel der Kooperation (wieder) zu etablieren. Eine gemeinsame Praxis soll durch diese normativierend kreiert werden – denn das Spiel kann nicht einfach als schon funktionierend und etabliert vorausgesetzt werden. Eine solche außergewöhnliche Gabe versucht, Bindungen und Verpflichtungen zu schaffen, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden können. Sie simuliert eine kooperative Sozialität, ohne sie schon als garantiert annehmen zu können, mit dem Ziel sie dadurch aufzubauen. In der außeralltäglichen Gabe wird so getan, als ob man sich aufeinander verlassen könnte. Es wird eine auf einer Imagination beruhende Vorleistung geliefert, die auf eine mögliche kooperative und gemeinsame Ordnung abzielt und vom Anderen allerdings noch anerkannt und ratifiziert werden muss. In dieser Gabe transportiert der Geber seine Freiheit – er könnte ja auch misstrauisch auf die Eröffnungsgabe verzichten. Damit transzendiert diese Gabe bestehende Verpflichtungen, transportiert die Freiheit und Größe der Geberin, fordert den Anderen heraus. Der andere kann das Angebot annehmen oder ablehnen – es entsteht eine Beziehung zweier Freiheiten. Solche Gaben transportieren die Person und Fremdheit der Geber/innen und geben Ausblick auf eine gemeinsame Welt der Kooperation, die zustande kommt, wenn die Gaben entgegengenommen und erwidert werden. Die Freiheit

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der außeralltäglichen Gabe bindet den Anderen – damit gleicht diese symbolische Handlung dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments bei Habermas. Die Gabe schafft Vertrauen, indem etwas riskiert wird und das Vertrauen des Anderen herausgefordert und geprüft wird. Dieses anomale Geben überschreitet die existierende Ordnung und zeigt einen Überschuss des Gebens über das bisher Gegebene (vgl. Waldenfels 1997). Die außeralltägliche Gabe kommt damit einem Ereignis gleich. Können solche rivalisierenden Gaben im weiteren Handlungsprozess eine gemeinsame Praxis des alltäglichen Gebens etablieren, gelingt es, sie (mit Ricœur gesprochen) in den Friedenszustand oder (mit Graeber gesprochen) in den des nicht-agonistischen (kommunistischen) Gebens zu überführen. Bei außeralltäglichen Gaben steht die Beziehung auf dem Spiel, es soll eine Vertrauens- und Kooperationsbasis zuallererst kreiert werden, die im Friedenzustand der alltäglichen Gaben schon eine stabile habitualisierte Basis hat. Die Übergänge zwischen beiden Ordnungen der Gabe sind dabei als fließend anzusehen. Alltägliche Gaben erfolgen im Rahmen eines ‚Spiels‘, das zwischen den Akteuren bereits etabliert ist. Dabei kann man sich darauf verlassen, dass die Teilnehmer/innen das Spiel erstens kennen und zweitens auch den Regeln des Spiels (wenigstens meistens) folgen. Bricht jemand die Regeln punktuell, muss diese Person damit rechnen, sanktioniert zu werden. Die anderen erwidern den Regelbruch mit negativen Reaktionen. Damit wird die Geltung des Spiels jedoch nicht in Frage gestellt. Ein Regelbruch stellt einen Bruch mit regulativen Normen dar, ein fundamentaler Bruch mit der Logik eines Spiels liegt jedoch vor, wenn sich die Akteure nicht an den konstitutiven Regeln des Spiels orientieren. Die Unterscheidung zwischen normativen und regulativen Regeln ist in der Philosophie von Autoren wie Ludwig Wittgenstein, John Austin, John Rawls oder John Searle schon häufiger diskutiert worden (vgl. Rawls 2012). Das Schachspiel wird in diesem Zusammenhang gern zur Illustration herangezogen. Wenn eine Person den Springer absichtlich falsch zieht, um sich einen Vorteil zu erschleichen (sofern der Spielpartner den falschen Zug nicht bemerkt), handelt es sich um einen Bruch mit den regulativen Regeln des Spiels. Ist man jedoch nicht in der Lage, überhaupt Schach zu spielen und verrückt willkürlich die Schachfiguren auf dem Schachbrett, kennt man die konstitutiven Regeln des Schachspiels nicht. Anne Rawls fasst die Leistung konstitutiver Regeln so zusammen: „Constitutive rules are those that constitute a practice such that without a detailed orientation to them the actions and objects recognizable as comprising the practice would not exist.” (2012: 481) Orientiert man sich nicht an den konstitutiven Regeln einer spezifischen Interaktion, werden die Handlungen für den Interaktionspartner „unrecognizable and mutual intelligibility is not achieved“ (ebd.). Ko-

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operation kommt dann nicht zustande und die unmittelbare Konsequenz lautet: „both meanings and objects are lost“ (ebd.). Sofern man eine Regel brechen kann, ohne dass die gemeinsamen Bedeutungen und damit die Praktiken insgesamt kollabieren, kann man nicht vom Bruch mit konstitutiven Regel sprechen. Deshalb sind konstitutive Regeln grundlegender als regulative Regeln. Konstitutive Regeln „are tools for persons to use in mutually coordinating the sense they make for one another“ (ebd.: 482). Die Bedeutung konstitutiver Regeln für die Etablierung gemeinsamer Praktiken und für das Funktionieren von Kooperation ist in der Soziologie von Harold Garfinkel aufs Eindringlichste vor Augen geführt worden. Garfinkels (1967) Ethnomethodologie arbeitet heraus, wie Kooperation auf dem koordinierten Bezug aller Interaktionsteilnehmer auf konstitutive Regeln beruht. Deshalb spricht Garfinkel auch häufig von Basisregeln, die unterhalb der Ebene von Normen (regulativen Regeln) liegen. Garfinkel zeigt, dass Normen nur als Oberflächenregeln anzusehen sind, und fordert, stattdessen nach den Basisregeln des Sozialen zu suchen. Diese impliziten Basisregeln ermöglichen Handelnden erst einen freien Umgang mit Normen, sie ermöglichen Spielräume, Freiheitsräume und Reflexionsprozesse. Um die Basisregeln des Sozialen aufzudecken, wandte Garfinkel bekanntlich seine berühmten Krisenexperimente an. Diese decken die formalen Strukturen von Praktiken auf, gehen also hinab auf die Ebene von Strukturen, die noch unterhalb der Ebene von Normen liegt. Das für Interaktionen notwendige Vertrauen wurde schon von Garfinkel als Bedingung von Kooperation erkannt: „trust is a condition for ‚grasping‘ the events of daily life“ (1963: 190). Seine Krisenexperimente zeigen auch, dass wir im Alltag immer Vertrauen in die Normalität des anderen setzen und auch seinen oder ihren Interpretationen vertrauen. Vertrauen kann als Basiskategorie unseres Alltagshandelns gelten, und Versuchspersonen reagieren extrem irritiert oder verärgert, wenn das Vertrauen in die Normalität der Alltagswelt unterlaufen wird. „Can we trust others when we do not sense any intersubjectivity […]?“, fragt bspw. Turner (2002: 135). Wenn Menschen sich hingegen vertrauen, sind sie in der Lage, auch komplexe Situationen und Kommunikationsschwierigkeiten zu managen. Wir können festhalten, dass in gewöhnlichen Situationen, in denen Fremdheit schwach ausgeprägt ist und gemeinsam geteilte Wissensvorräte vorliegen, die Akteure ganz selbstverständlich die konstitutiven Regeln des ‚Spiels der Gabe‘ kennen und anwenden. Darüber gelagert können sich zudem konkrete normative Regeln herausbilden, die bspw. Erwiderungen erwartbar machen und die auch sanktionsbewehrt sind. In diesem Sinne kann Alvin Gouldner (1973) von der Norm der Reziprozität sprechen. Man weiß, dass man sich aufeinander ver-

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lassen kann; wenn die Norm gebrochen wird, ist dadurch nicht das ‚Spiel‘ als Ganzes in Frage gestellt und es folgen schlichtweg Sanktionen. Die außeralltägliche Gabe, die Eröffnungsgabe wird hingegen in einer krisenhaften Situation vollzogen. Diese Gabe hat das Ziel, den gemeinsamen Kooperationsraum (wieder) herzustellen. Dabei lässt man sich auf ein Risiko ein, doch verlässt sich zugleich darauf, dass die Interaktionspartnerin die konstitutiven Regeln des ‚Spiels der Gabe‘ schon kennt. Dadurch kann eine situative gemeinsame Praktik etabliert werden, die darauf beruht, dass beide sich auf die konstitutiven Regeln eingelassen haben. Konstitutive Regeln sind also nicht normativ, sondern normativierend. Das heißt, sie können als Basisregeln in Anschlag gebracht werden, die dazu führen, dass eine Normativierung der Situation und eine gemeinsame Praktik einsetzen. Wechselseitige Erwartungen bilden sich so heraus, die zuvor nicht bestanden oder vorausgesetzt werden konnten: „normatizing is a continual process, one in which individuals are constantly checking and rechecking expectations“ (Turner 2002: 151). So wird das Spiel etabliert, indem man sich auf das Risiko der Gabe einlässt und schon so tut, als ob eine gemeinsame Praktik besteht. Diese herausfordernden Gaben sollen Vertrauen und Intelligibilität (wieder)herstellen. Außeralltägliche Gaben können von Seiten eines Geschädigten durch Vergeben ausgedrückt werden, oder die Schädigerin bietet eine Kompensation an und bittet um Entschuldigung. Diese beiden Möglichkeiten beruhen in einem interkulturellen Kontext darauf, dass man unterstellt, dass alle die konstitutiven Regeln von Reparaturritualen kennen. In diesem Sinne möchte ich die These vertreten, dass Gabepraktiken universell in allen Kulturen bekannt sind und ein Mittel darstellen können, Fremdheit zu überbrücken, Intersubjektivität herzustellen und eine Kooperationsbasis zu erschaffen.5 Außeralltägliche Gaben oder Eröffnungsgaben können so im interkulturellen Kontext die Funktion übernehmen, eine gemeinsame Kooperationsbasis aufzubauen. Aber auch die kleinen Gaben alltäglicher Interaktion unter Fremdheitsbedingungen übernehmen diese Funktion. Ohne Gaben, so lässt sich das Argument in der Umkehrung noch schärfer formulieren, kann es keine gemeinsame Welt und keine Kooperation geben.

5

Mit Descola (2011) ist davon auszugehen, dass die Gabe, die Einladung, die Gastfreundschaft oder die Dankbarkeit überall bekannt sind.

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Eine These dieses Beitrags lautet also, dass es eine menschliche Neigung zur Gabe gibt und dass Gaben Momente des Überschusses und der Unbedingtheit enthalten, die konstitutiv sind für das Hervorbringen von Sozialität. Am Grund des Sozialen liegen damit Nicht-Äquivalenzen und Asymmetrien. Denn Geben ist nicht auf den Tausch von äquivalenten Werten zurückführbar. Außerdem sind die Alternativen Geben vs. Nehmen und Anerkennen vs. Missachten nicht gleichwertig und gleichursprünglich. Menschliche Handlungsweisen zeigen einen Primat gelingender Kooperation. Es besteht eine unmittelbare Neigung zu Kooperation, Anerkennung und Gabe – ohne eine solche, käme keine Sozialität zustande. So ist die Spontanität von Akteuren (etwa im Sinne von George Herbert Meads „I“) komplett vereinbar mit prosozialer Impulsivität. Gaben können also innerhalb von Gemeinschaften und zwischen Gemeinschaften in Form von nicht-agonistischen und agonistischen Gaben für Kooperation sorgen. Die Kooperation verlässt sich dabei in konkreten Praktiken auf sich selbst. Gaben sind also nicht auf kognitive oder normative Erwartungen reduzierbar, und ihnen wohnen irreduzible Momente von Freiheit und Überschreitung inne. Gabepraktiken haben damit eine ästhetische Seite. Damit meine ich ästhetische Aspekte, die aufs Engste mit dem Leben insgesamt verbunden sind und sich nicht auf den Bereich der Kunst begrenzen lassen. Der pragmatistische Philosoph John Dewey (1988) hat gezeigt, dass Leben bedeutet, ästhetische Erfahrungen zu machen. Erfahrungen machen wir im Umgang mit der Welt: Wenn sich Welt und Selbst wechselseitig durchdringen, macht man eine erfüllende und ästhetische Erfahrung. Wenn Erfahrungen einen spezifischen Verlauf zeigen, wenn sie vor allem zufriedenstellend zum Abschluss kommen (ein Spiel wird zum Ende gespielt, eine Situation wird als abgerundet erlebt), ergibt sich daraus ein Ganzes: Es liegt ein Wert darin, eine Erfahrung zum Abschluss zu bringen. Die Erfahrung mag der Welt Schaden zufügen, und ihr Ergebnis ist vielleicht nicht wünschenswert. Aber sie trägt ästhetischen Charakter. (Dewey 1988: 51)

Solche Erfahrungen beruhen immer auf einem Wechsel von aktiven und passiven Elementen, von Handeln und Hinnehmen. Und es geht darum, in der Interaktion mit der Umwelt Spannungen und Widerstände entweder zu überwinden oder sie hinzunehmen:

92 | FRANK A DLOFF Was eine ästhetische Erfahrung ausmacht, ist die Umwandlung von Widerständen und Spannungen, von an sich zur Zerstreuung verleitender Erregung, in eine Bewegung, die auf einen umfassenden, erfüllten Abschluss hinzielt. Wie das Atmen, so ist auch Erfahrung ein Rhythmus von Aufnehmen und Abgeben. (Ebd.: 70, Hervorh. FA)

Kunst und Erfahrung gehören auf diese Weise für Dewey eng zusammen. Erfahrungen zu machen ist keine individuelle und innerliche Angelegenheit. Erfahrungen beruhen auf der Auseinandersetzung mit der belebten und unbelebten Umwelt, und ästhetische Erfahrungen reißen die Hüllen des Alltags herunter, sie laufen für Dewey jeder Routine zuwider. Kunstwerke ermöglichen für Dewey daher eine spezifische Kommunikation von Mensch zu Mensch, sie können „Klüfte und Mauern“ (ebd.: 124) überwinden, die zwischen uns stehen. Ästhetische Erfahrungen schaffen damit eine Unmittelbarkeit: „Es kann nicht genügend betont werden, dass das, was nicht unmittelbar ist, auch nicht ästhetisch ist.“ (Ebd.: 139) In Kunstwerken werden Möglichkeiten des Lebens gestaltet, die anderswo nicht realisiert werden – daher ist Kunst zutiefst mit Imagination verwoben. Ästhetische Erfahrungen fordern heraus und werden durch Imagination hervorgebracht. Ein Kunstwerk ist Ergebnis der Imagination und zugleich liegt seine Wirkung im Bereich der Imagination (Ebd.: 320), also im Bereich des als-ob. Auch die Gabe ist – wie wir oben sahen – ein Phänomen, das im Modus des als-ob operiert und damit eine imaginäre Dimension beinhaltet. Für Christoph Menke liegt das Wesen der Kunst in ihrer Kraft. Kraft zu haben ist dabei nicht identisch mit dem Können oder Vermögen, etwas Eingeübtes gelingen zu lassen. Kraft ergibt sich nicht aus unserer sozialen Abrichtung und Disziplinierung, sondern sie wirkt wie von selbst. Kraft ist formierend, aber selbst formlos, sie bildet Formen und bildet diese stets um: „Das Wirken der Kräfte ist Spiel und darin die Hervorbringung von etwas, über das sie immer schon hinaus sind.“ (Menke 2013: 13) Kräfte sind für Menke vor- und übersubjektiv, aktiv, erfinderisch und ohne Zweck. Kunst changiert zwischen den Polen des sozial konstituierten Vermögens und der Übersubjektivität der Kraft. Kunst ist damit nicht einfach eine normierte soziale Praxis, sondern schafft auf diese Weise ein Feld „einer Freiheit nicht im Sozialen, sondern vom Sozialen“ (ebd.: 14). Das Ästhetische kann so befreiend und verändernd wirken. Diese Kraft der Kunst ist zugleich, so meine These, die Kraft, die aus der Gabe kommt. Auch sie hat eine Kraft, die das Soziale konstituiert und es zugleich überschreitet. Sie kann Wechselseitigkeiten und soziale Kreisläufe kreieren, indem sie sie zugleich immer wieder durchbricht. Für Menke ist jedes Kunstwerk ein Experiment, da jedes Kunstwerk bei null beginnen muss. Ein

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Kunstwerk, das sich für gesichert hält, ist keins – es ist dann nämlich nur konventionell. Im Experiment schafft man Arrangements und Situationen, in denen etwas geschehen kann, was wiederum von der Rezeptivität und Aktivität der daran Beteiligten abhängt. Kein Kunstwerk kann hervorgebracht werden, ohne Aufgabe: Man muss in eine fremde Umgebung eintauchen, Vertrautes und Gewohnheiten aufgeben. Dies erfordert eine Einbildungskraft, die neue Bilder hervorbringt und diese wiederum verändert. „Das ist die Grunddefinition der ästhetischen Freiheit: Sie ist als Freiheit des Spiels (der ein- und umbildenden Kräfte) Freiheit vom Gesetz, von der Normativität.“ (Ebd.: 155) Die ästhetische Freiheit, das heißt die Freiheit der extraordinären, agonistischen Gabe, liegt unseren normierten sozialen Praktiken zugrunde. Kunst, Ästhetik und Freiheit sind somit keine vom Leben abgetrennten Bereiche, sondern notwendige Voraussetzungen für unsere alltäglichen genormten Handlungsvollzüge. Kunst kann es ohne diese Form der ästhetischen Freiheit nicht geben, aber sie kann auch niemals außerhalb der normierten Praktiken für sich allein bestehen. Ästhetische Erfahrungen – so können wir Dewey und Menke zusammenführen – sind der Einbruch des Spiels (und damit des Überschusses, des Risikos und der Kraft) in die Praxis. Und das Spiel wird – wie wir oben sahen – durch Gaben konstituiert. In der Gabe liegt eine ästhetische Kraft der Befreiung von der Normalität und Gewohnheit der sozialen Praxis. In unserer ästhetischen Befähigung, sich von Geburt an (und noch früher) der Welt zu öffnen, Dinge zu nehmen, zu geben, sie zu erwidern, sich zu entziehen, zu verweigern, sich zu verbinden und zu lösen, liegt die Möglichkeitsbedingung für das Einüben von sozialen, normierten Praktiken. Nicht das Soziale und Normierte teilen wir alle gleichermaßen, sondern den Menschen ist für Menke gemeinsam, dass sie vorgegebene soziale Rahmen überschreiten können. Auf diesen ästhetischen Dimensionen der Gabe baut nun m.E. die Kunst auf. Zum Abschluss möchte ich einen knappen Außenblick auf das Theater werfen. Auch hier kann eine Reziprozität zwischen den Schauspieler/innen und dem Publikum nicht einfach unterstellt werden. Die Schauspieler/innen bieten etwas dar, sie geben dem Publikum etwas, ohne zu wissen, ob diese Gabe angenommen und auch mit Dankbarkeit und Begeisterung erwidert wird. Eine Aufführung hat so einen agonistischen Charakter, es liegen eine Herausforderung und eine Überschreitung des Normierten vor, die sich nicht auf ein präetabliertes Spiel verlassen können. Würde man sich auf die Norm der Reziprozität verlassen können, also auf die Existenz eines etablierten Spiels, würde es sich nicht um Kunst handeln – man hätte es mit einer Aufführung zu tun, die gerade wegen der fehlenden Kontingenz und des mangelnden ästhetischen Überschusses als künstlerische Aufführung scheitern würde. Bewegt sich der Überschuss oder die äs-

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thetische Kraft zu sehr weg von den Erwartungsstrukturen des Publikums kann es wiederum sein, dass der Kreislauf von überschreitender Gabe, Annahme und Erwiderung nicht zustande kommt. Eine ästhetische Erfahrung – im Sinne Deweys – kann es nur geben, wenn die agonistische Gabe in ihrer Kraft, soziale Rahmensetzungen zu überschreiten, auf Resonanz trifft und eine Erfahrung zum Abschluss bringt. Zusammenfassend gesagt zeigt sich in der Kunst, die in keiner Weise streng vom Alltag geschieden werden kann, eine ästhetische und experimentelle Freiheit von der Welt der etablierten Normativität. Darin liegt die Kraft der Kunst, welche wiederum auf der agonistischen Gabe beruht. Ästhetische Freiheit ist daher assoziiert mit der Freiheit der extraordinären, agonistischen Gabe. Kunst, Ästhetik, Überschreitung und Freiheit sind dabei keine vom Leben abgetrennten Bereiche, sondern notwendige Voraussetzungen alltäglicher genormter Praktiken. Ästhetische Erfahrungen werden also durch Gaben konstituiert, zugleich können ästhetische Erfahrungen, die auf Freiheit und Überschreitung beruhen, Reziprozität evozieren. Mit anderen Worten: Der Bruch mit der Symmetrie kann Symmetrie hervorbringen. Diese Nicht-Symmetrie ist eine notwendige Bedingung für Sozialität und wird in der Kunst paradigmatisch vor Augen geführt.

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The Who, What, and How of the Gift in Theatre O LLI P YYHTINEN

Abstract The essay considers the gift as giving or gifting. By following Jacques Derrida, it suggests that this is to pose the question of the gift in terms of ‘who’ gives ‘what’ to someone ‘other’. The essay asks the questions of the who, what, and how of the gift in relation to theatre. They are revealing regarding theatre as an artistic practice, the nature of theatrical gifts, and the relation between the performer and the audience. An essential part of the argument consists of a discussion of the creative work of the actor. By drawing on the work of Georg Simmel, the essay suggests that the actor’s art presents a third, a middle term, which is not to be derived from reality or from the play, but transposes both into a new mode of existence. It is thus not its lack of reality but its excess, its being more-than-real that comprises the gift of acting or a performance and affects us.

I. F ROM

EXCHANGISM TO GIVING

Without the gift there is no art. In this essay I commence from the idea that the gift is essential and even indispensable to theatre, as it is basically to any art form (Hyde [1983] 2006). And let me say that when I speak of the gift I am not speaking so much of inner gifts, that is, of the gifts assumedly possessed by the artist, as a “gifted” person, as of outer gifts, that is, gifts given by someone to someone else, say, gifts carried by the work from the artist to the audience.1 As regards my approach to the gift in the text, I counter the widespread and predominant sociological and anthropological view of the gift as reciprocal.

1

I am aware that not perhaps all theatre is “art”, but in the essay I nevertheless examine theatre as an art form.

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Contrary to the majority of sociological and anthropological studies of the gift, I claim that the gift should not and cannot be reduced to reciprocity or exchange, but there is a gap between giving and reciprocity or exchange that needs to be acknowledged and taken seriously when examining the gift. Consequently, in the essay, I consider the gift above all in terms of giving or gifting. The inclination and the will to give lies at the root of reciprocity and exchange, precedes them and may even contradict them, but above all presents their condition of possibility (see Pyyhtinen 2014; Adloff 2016). Importantly, unilateral giving is not dictated by the logic of exchange. It is to give without demand for any reward coming back to self. That the gift is so automatically reduced to reciprocity or exchange thus significantly undermines the giving involved in the gift.2 People may genuinely give out of generosity. The very principle of “giving” is different from that of exchange (see also Graeber 2012; Pyyhtinen 2014; Elder-Vass 2015; Adloff 2016). Whenever what is given is given only “in exchange”, so to speak, nothing is “given”, in the strict sense of the term. As soon as there is a guarantee that what is given will be compensated, we are no longer dealing with giving or gifting, but with a contractual relationship, for example. The exchangist approach overlooks several occasions and forms of giving that are irreducible to exchange. One is parental care. Of course, in many cases caring for one’s offspring is very rewarding. And one might also hope that one’s children will take care of oneself when one is old. However, in parental care, repayment is quite likely not the explicit condition of giving. Most of us care for our children also when being tired, when they are moody, or behaving badly. What is more, children cost you a lot of money, but you do not keep record of all the expenses not to speak of presenting them with a bill some day (Graeber 2012). Another example is blood donation. In his now-classical book The Gift Relationship (1970), Richard Titmuss argues that blood donation is unilateral. According to Titmuss, it is characterised by the absence of reciprocity. Or, at most the reciprocity is indirect and anonymous: one may donate blood by thinking

2

In several languages, there exists a close semantic link between “giving” and “gift”. In French, for example, the noun le don (‘the gift’) is derivative of the verb donner (‘to give’), and the German counterparts die Gabe and geben share the same root geb-. Nevertheless, this is not to say that the two terms would collide in each and every use. When one gives one’s word, when an army officer gives orders, a parent gives one’s children into custody, a buyer gives as much money for something as it is worth, or when someone is given a beating, we usually do not think that what is “given” in these instances is a gift. Gift-giving involves a specific kind of giving. It is only certain practices of giving that pass as giving of gifts.

T HE W HO , W HAT ,

AND

HOW

OF THE

G IFT IN T HEATRE

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that just as one’s own contribution may save the life of someone, it may just happen that some day one is in need of a blood transfusion oneself, and then it would be preferable if others have donated as well. However, while one might act based on the belief that others would do the same for her or him, one does not know that they necessarily will. In addition, what is important is that in most systems of blood donation, there is no obligation imposed upon the recipient to reciprocate. Further, in almost all cases the recipient is also unable to make a corresponding gift in return even if they wanted to. (The donor may receive nominal compensation such as a rose or a badge, but this repayment, which is hardly equivalent to the donated blood anyway, is not made by the recipient but by the organization collecting the blood.) Yet another example is presented by charity. If you give money to a panhandler begging on the streets, it is unlikely that he will give you money the next time you see him, but he might well assume that you give him some more. The situation is no different with charitable organizations. Once one has donated money to a charitable organization, the donation creates an expectation that one will donate also in the future (Graeber 2012: 110). I argue that to think the gift as giving or gifting is to pose the question of the gift in terms of who gives what to someone other. Following Jacques Derrida (1994), I suggest that the compound structure of someone giving something to someone else is indispensable for the gift: in order for there to be gift, four things are required: a giving, a giver, a given, and a recipient. “[S]ome ‘one’ needs to give some ‘thing’ to someone ‘other’” (Derrida 1994: 11); otherwise “giving” is meaningless or remains a mere phantasm. From this compound structure follows a series of questions that need to be addressed – and I make the bold, risky, perhaps naïve, or even arrogant move of asking them in relation to theatre. They are rendered so because I pose them from the position of an outsider. I have no formal (or informal) training in theatre nor have I been working with actors or playwrights. As a scholar, my dealings and encounters with theatre are merely peripheral and more or less accidental. At best, the outsider position surely endows one with some critical distance. While it gives a thinker independence and freedom and perhaps also enables one to see what could not be seen from the inside if one was immersed within it, it also comes at a cost: one does not stand close enough to be able to see, know, experience, and feel the inside in its own terms.3 I am therefore fully aware that I may portray theatre in overly rudimentary and simplistic terms when

3

See Elizabeth Grosz’ (2001) thoughtful reflection of her own position as an outsider in relation to architecture.

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thinking the gift in theatre or, more exactly, theatre as gift. The best I can do is to depict the set, as it were, without getting at the life of the play.

II. W HO

GIVES ?

The first set of questions revolve around the one who gives. Who is it that gives the gift in theatre? And who has the right to give? Not anyone is automatically considered eligible to give. Blood donation serves as one example. Potential donors are screened by those who collect and process the blood, and such groups as drug addicts, gay men, alcoholics, as well as carriers of HIV, hepatitis, malaria and some other diseases are excluded from donors (Titmuss 1970). Analogously, in theatre, too, not anyone can just put up a show or a performance that would be considered or hailed as a theatrical act or “art”, and not everyone is merited the honorific title of “artist”. On the contrary, special mechanisms sort out eligible givers (artists) from others (non-artists). The question of “who gives” can also be used to interrogate the relation of the performers and the audience. The gift relationship between the performers and the audience seems to be asymmetric and marked by hierarchy rather than horizontality – though it is not that the performers would have absolute sovereignty over the audience, but the audience does its share as well, and its members can also walk out, not applaud, or not even show up in the first place. We can also examine the question of “who gives” in terms of how the value or worth of the gift seems to depend – to some extent, at least – on the giver. The fight for recognition is very much present within the art field – just as it is in that of science, for example, though with slightly different stakes. And it is precisely by what they give that artists (actors, actresses, directors, playwrights, and so on) compete for recognition. One becomes an acknowledged member of the community as a donor; one cannot gain before and without having given first.4 The gifts by reputable givers tend to be appreciated and valued higher. In theatre, the question of “who gives” is also revealing regarding theatre as an artistic practice. The production of a theatrical play or performance is a collective undertaking: a play is a product of several people acting together. Instead 4

In scholarship, as we know, scholars receive recognition for instance by having their outputs accepted for publication in academic journals or by book publishers (with regard to this, it is telling that manuscripts submitted to academic journals are often called “contributions” – that is, they are gifts). Later, one receives further recognition, if the text is quoted by other authors, if one’s work is awarded by prizes, and so on. Invitations to give talks and lectures are further means of paying and receiving recognition.

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of there being one individual agent making everything just by him/herself, even a solo performer is dependent on the activities of several people, and the production of the work thus involves some division of labour among several people. As Howard Becker puts it in his book Art Worlds ([1982] 2008), artworks become what they are “through a network of coordinated activities carried on by a lot of different people” (ibid.: xii). In the production of a play, for example, the activities may vary from socalled core activities to activities which stand in a more or less supportive role. And the number of people involved, at least in big theatre companies, may be remarkable, including for example the playwright, the producer, the director, the scenic designer, the costumer designer, the set designer, the sound designer, the property master, the choreographer, the makeup artist, actors, the costume director, the conductor, musicians, the electrician, stage crew, the publicist, the stage manager, the marketing director, ticketing agent and janitors. All in all, instead of an individuated singular giver, the who of the giving is rather multiple, a collective, a horde, or a swarm – a multiplicity consisting of lines and constituted by connections instead of a unity. Any work is produced in lines and connections, in associations, alliances, alloys, mixes, and confederations constituting a multiplicity. What is more, the finished work is also a mix of human cognition and effort and non-human or more-than-human materials, forces, and processes; people need to join forces with for example sound, light, fabrics of the costumes, the set, the stage, and pieces of furniture. In addition, the collective participation in the production of a piece also appears temporally, as if in a historical lineage. No work is made entirely here-andnow, but every work is partly received. No artist works in a historical or societal vacuum, but is part of a tradition, operates with a range of means and materials of expression, techniques, and working methods, for example. Nevertheless, while works of art are collaborative undertakings produced in the associations, arrangements, and assemblages of humans, materials, technical devices, and places, the making of art is not usually considered in terms of collaboration or collectivity. It would seem natural to think that cooperation would give rise to ‘commons’ (Allmende; Allgemeingut), but more often than not the products of joint work are subjected to private ownership, especially under the name of the individual artist (though this seems to be somewhat different in theatre). Especially in visual art, not even artist collectives, serial production, or readymade art have succeeded in providing a serious challenge to the cult of authenticity that has developed around the individual creativity and the autonomy of the artwork.

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Ultimately, by looking at how the products of joint action are appropriated we can see how the self-enclosed authorship as a form of agency is an afterthought, something produced only retroactively or retrospectively, not something that someone or something possesses. As the artist is entangled in a messy set of relations, instead of possessing agency s/he is rather possessed by action and immersed in action that is collective by nature. Accordingly, it is fruitful to look at how a performance is made along the lines of a “meshwork” (Ingold 2011) in the interplay of material flows and movements. Making a performance is not confined within nor even determined by the human mind, but it should be understood in terms of connections of and associations with human and non-human forces.

III. W HAT

IS GIVEN ?

The what of the giving is indispensable for both the that of the giving (that one gives; that there is a gift, an event of the gift) and the who of the giving (that there can be someone who gives). Without the given, there is no giver and no event of the gift, either, for there is no sense to giving (by some ‘one’ to some one ‘other’), nay, no giving, without a given thing, without something being given, without there being some-thing to give (Pyyhtinen 2014). This is the generosity, if you will, of the given. The given not only gives the giving its sense, but it also ‘gives’ or constitutes the donor and the donee: there is no giver or receiver before the occurrence of the giving of the given. The giver and the recipient must therefore be thought as being contemporaneous with the giving of some thing (given).5 As another point, in theatre, the given seems to be symbolically inalienable from the giver. Theatrical gifts are simultaneously given and kept. By giftgiving, as already said, one earns honour and, in theatre, also reputation, and thus the given symbolically remains in the possession of the giver even after he or she has given it. The original owner/giver has ultimate rights over the given, while subsequent owners/givers enjoy merely temporary and alienable rights of possession, enjoyment, and use. So, in theatre the gift should perhaps be considered in terms of keeping-while-giving or keeping-by-giving.

5

This is of course something very different from Derrida’s (1994) Heideggerian perspective and his critique of the philosophy of presence. Derrida’s point of departure in his exploration of the gift is no real object that is present and appropriable, but ‘being’ (Sein) that gives and belongs to no one. In his exploration of the gift, Derrida commences from Heidegger’s formula: Es gibt Sein, es gibt Zeit.

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Further, another question around the given concerns the what of the given. What is the given of the giving? What kind of givens are given and accepted in theatre as theatre? Theatre is a good example that the gift need not be a tangible object, but there are other kinds of gifts as well. A performance may count as a gift, just as Marcel Mauss ([1924] 2008) observed that in archaic societies that he calls systems of “total prestations” everything from food, property, talismans, women and children, to tributes, entertainment, military assistance, rituals, ceremonies, priestly functions, and ranks can count as gifts and are there for passing on and balancing accounts (Mauss [1924] 2008: 18). The German philosopher and sociologist Georg Simmel, for example, suggests that theatre deals with human fate and with what it is to be human. According to him, comedy and tragedy present this in contrasting ways. While “in comedy”, so Simmel suggests, “a thoroughly individual fate is enacted by type characters – in tragedy, a universal fate is enacted by individual characters” (Simmel 2004: 291; 2010: 184). Comedy and tragedy, as we know, tend to provoke diverse sentiments and reactions: while the first provokes laughter, the latter provokes dread and anxiety, even, through symbolic representation of the general human fate. The tragic human fate, for Simmel, consists of the fact that what life needs for its subsistence is also what destroys it – and this is our common human fate. Simmel also has fascinating things to say about acting. He wrote three essays on acting, Über den Schauspieler ([1909] 2001), Der Schauspieler und die Wirklichkeit ([1912] 2001), and Zur Philosophie des Schauspielers ([1921] 2004).6 Even though Simmel writes solely about literature-based theatre, and today there exists a lot of post-dramatic theatre devoid of authors or a written text, the essays are most enlightening and ahead of their time in that they emphasise the creative work of the actor, that is, what the actor or actress has to give. For Simmel, the gift of the actor or actress consists in the sensualisation of the play. The actor or actress brings the spiritual work of the play to life by making a stage character, as it stands in the text, perceptible to our senses: The writer can indicate neither the voice nor the intonation, nor the ritardando and accelerando of speaking, nor the gestures and various atmospheres of the warm-blooded figure,

6

The last of the three essays, Zur Philosophie des Schauspielers, came out posthumously in 1921, in the journal Logos. Simmel had published a shorter essay bearing the same title already in 1908, in the weekly newspaper Der Morgen (to be found in Simmel 1993). In addition to the essays on acting, Simmel also wrote a review of Gerhart Hauptmann’s theatrical play Die Weber, published in Sozialpolitisches Centralblatt (see Simmel [1893] 2005).

104 | OLLI PYYHTINEN nor can he even provide truly unambiguous premises for them. (Simmel [1921] 2004: 192; trans. Lawton 2017: 37)

Only the actor or actress can bring the stage character alive in the latter’s imagined gestures, intonation, bodied presence and mannerism. What the actor or actress does is carry the “one-dimensional flow”, as it were, of the text or the stage character over “into the three-dimensionality of that which can be sensed”. And, insofar as the actor or actress uses one’s self, that is, one’s own body, voice, gesticulation and experiences to accomplish this, by giving s/he simultaneously also gives oneself. This rendering sensual of the play and the character also means that the actor or actress is not some perfectly loyal, passive transmitter of the director’s or writer’s vision. S/he is no sheer puppet, instrument, or means, but acting inevitably modifies and transforms the text and the character. It brings about a “translation”, to draw on a notion by philosopher Michel Serres (1974). Importantly, this suggests that the actor or actress does not merely “realize” or reproduce the literary creation any more than s/he would imitate reality or mimic people. On the contrary, acting creates novelty; it gives a new form to the text and to the character and transposes it into a new mode of existence. Neither what the writer thought nor what the reader imagined is exactly the same as how the actor understands or actualizes and plays the role (Simmel ([1921] 2004). The actor’s art presents for Simmel a “third”7, a middle term, which is not to be derived from reality8 or from the play, but grows from its own root. One cannot play Hamlet simply on the basis of reality, but not on the basis of the text, either. The actor’s art – and this is an important point – is thus in no way deceptive or hypocritical, and a performance is no deceit, or a lie, but it has its own truthfulness (or, alternatively, it may lie beyond true and false altogether). Instead of seeing it on the basis of a lack, that is, how it lacks reality, I think it is more fruitful and more apt to consider it in terms of excess: it is in a sense more-thanreal, a new image and a novel creation that is to be judged by artistic criteria alone. Therefore, it is not its lack of reality on stage but its excess that comprises the gift of theatre or a performance and that affects us (Simmel [1921] 2004: 193; trans. Lawton 2017: 38). A performance is hence not to be confused with reality: it does not mimic or imitate reality, but rather creates a new form that stands at a certain distance

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For more on the significance of the third and thirdness in Simmel’s work, see for example Pyyhtinen 2018. With regard to this, Simmel remarks: “Being has no business on the stage.” ([1921] 2004: 193; trans. Lawton 2017: 38)

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from reality, just as it does not merely transmit or reproduce the script nor is reducible to it. The separation of theatre and reality is, however, challenged in an interesting manner by attempts to transgress or problematize the boundary between art and life. For Antonin Artaud, for example, theatre must count as “real”. And, he thought that in order to accomplish this, it must be dangerous and produce sensory violence, not enchant the senses. For Artaud, theatre should speak to the entire overall being or existence of the spectator, and not only to their mind or senses. For him, theatre has both a moral and cognitive function. It must provide knowledge (for him theatre should always be educative) and also liberate. He sees theatre as a kind of shock therapy for culture – and this is its gift to the latter. This leads me to an example from my home country, Finland. In January 1987, a performance titled Theatre of God by four theatre students from the Theatre Academy in Helsinki took place in the city of Oulu in Northern Finland, at a local theatre festival. After entering the stage the performers stripped themselves naked and one started cutting himself; then the performers, covered in faeces, attacked the audience by throwing for instance excrements and eggs at them while emptying a fire extinguisher, using whips, and setting off firecrackers (later members of the audience told that one could not actually see anything and hardly realize what was happening because there was so much smoke due to the firecrackers). Most of the members of the audience fled almost immediately, and the performance was over in just a couple of minutes. What is interesting in the performance is, among other things, how it transgressed the boundary between art and life (if it was indeed art and not just anarchy), theatre and reality or sociality. Not only did it violate the boundary between the performance and the audience, but it also caused a cultural scandal, ensued a legal case, and some of the teachers in the Theatre Academy in Helsinki were fired. In this case, theatre no longer remained separate from reality, but it became absorbed in it. Another example is provided by the Situationist International (SI) movement, which also blurred the boundary between art and life, though not through a violent theatrical spectacle, but rather through replacing theatre with “situations” (see Knabb 2006: 50).9 Situations are enfolded in everyday life and also meant to revitalize it: a situation may for instance be constructed by wandering aimlessly in a city by just following one’s impulses. In a sense, a situation is a coordinated theatre of everyday life. In it, a clear line between a spectator and actor or actress is absent, since both become viveurs

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My warm thanks go to Suvi Puttonen for this example.

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(Puchner 2004: 8–9). The viveur gives a gift to oneself by experiencing the situation.

IV. T O WHOM

AND HOW ?

The starting point typically taken for granted – indeed, as a “given” – by the theories of the gift is that one has to start from exchange-embedded giving or from the one-who-gives, not from receiving or from the one who receives, if one is to understand the gift. However, if one pays attention solely to the (reciprocal) acts of giving and to the motives of the giver, one inevitably misses the phases, equally crucial to the event of the gift, that follow the giving in the process: the transfer of a possession (i.e. the appropriation of the given by the other) as well as the effects of the gift (for example the feeling of delight, gratitude, embarrassment or discomfort caused by the gift, and the bond created or threatened by it). I suggest that the realization of the gift is not up to the giver alone; it depends not solely on giving but as much on taking or receiving as well. What is abandoned by me needs to be accepted by the other in order for a gift to appear. If the possession that I abandon is not accepted by the other, there is no true giving and hence no gift, but only giving up. What is more importantly, the question of “who receives” helps us to reveal an antinomy between two different notions of the gift: unilateral giving and the gift of gift-exchange. While the first in principle defies exchange and reciprocity or at least precedes it, the latter is not about giving per se, but about mutual recognition and about launching a continuing relation of reciprocity. This suggests that there is no “one general, unequivocal and non-ambiguous sense in which to understand the gift” (Komter 2007: 104). The gift is not one, but multiple – or it is at least two. Unilateral giving means, first, that one gives out of generosity, for free, and, second, that one does not necessarily select to whom one gives. In the most absolute sense, as unconditional giving, it means readiness and willingness to give without recognition, to absolutely whoever, to “the absolute, unknown, anonymous other” (Derrida 2000: 25). The unconditional gift does not distinguish between friend and parasite or enemy, the invited and the uninvited or abusive guest. Rather, it eschews the very distinction. While I have stressed in this essay the primacy of giving over exchange, this does not mean that the dimension of exchange would be irrelevant. It is an important dimension of the gift, but it makes up only one dimension; it is crucial

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not to reduce the gift to it. For example, it seems more or less obvious that the gifts of the performance or a play are not simply unconditional or unilateral, but involve some reciprocity. A performance always contains at least a minimum of communication or reciprocity between the performer(s) and the audience. Certain things – like monetary compensation, appreciation, silence10 during the performance and applaud right after – are expected from the audience in exchange for the show. The calculus of quid pro quo, “this for that” or “a favour for a favour”, and do ut des, “I give you so that you will give”, is thus to some extent present. Further, I would also say that the gifts of the performance are based on selection – at least to some extent. For one thing, they are not available for all, due to lack of economic resources or cultural capital, for example. Not everyone can afford to go to the theatre and not everyone has the cultural or conceptual means to understand the performance. But I would also assume that while the theatrical gift given to the audience is not unconditional in an absolute sense, so that it would be beyond measure, what separates it from the gifts examined by Marcel Mauss, for instance, is that it is not supposed to be repaid in kind. The audience is not expected to give a theatrical performance in return – although Howard Becker (2008: 53) does mention in his book Art Worlds that as much as 15 per cent of all theatre tickets sold in New York, for instance, are sold to theatre professionals. Instead they are expected to return something different, for example by way of applauding, which is a ritualistic way of thanking and expressing honor and gratitude. Nevertheless, while the theatrical gift perhaps entails and assumes some level of reciprocity, this does not mean that it would be governed by the principle of reciprocity, that is, that the performer would be motivated principally or solely by receiving a return gift (in other words, that someone would pay back at some point), by benefiting from it somehow or gaining something oneself. It is primarily about giving a performance; everything else is derivative or secondary. In ad-

10 The norm of sitting silently in the audience is indeed strong. Occasionally, it may also lead to comic situations, as a video recording of a performance of John Cage’s 4’33, the silent piece, shows. During the performance of the piece, consisting of three parts or ‘movements’, the audience sits still, without making a noise, as if everyone was holding their breath, but during the breaks between the suspension parts the tension is immediately loosened: people start to cough, move in their seats, and also burst into laughter when the conductor dramatically wipes his forehead with a handkerchief (https://vimeo.com/3176013). What makes all this comical is the fact that it misses the whole point of the piece, which is to frame accidental sounds – which usually go unnoticed and are not regarded as music – as music, that is, as integral parts of the piece (see Gann 2010). Thereby the piece not only becomes different in each of its singular performances, but also sensitizes the listener to the absence of total silence.

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dition, unlike in the exchange of Christmas cards or dinner invitations, for example, the reciprocity is unlikely to generate an unending relationship, a never ending circle of giving, receiving, and returning. On the contrary, it is quite likely that there will indeed come a point when participants will call it quits. When the curtain falls, the show is over, there is nothing more to see, and the audience leaves. The contrast between the unconditional and the conditional gift, or unilateral giving and the gift of gift-exchange thus seems absolute. They negate one another. For Derrida (1994), the gift can only be unconditional. He insists that whenever and wherever giving is conditional, the gift negates itself as a gift. Nevertheless, in closer examination the relation between the two notions proves to be more complex. They at the same time presuppose and exclude each other. Therefore, while I have insisted on making a conceptual distinction between giving and exchange, it is also important to recognize that in their very antagonism giving and exchange or reciprocity comprise two irreducible dimensions of each gift. They incorporate one another at the moment of excluding one another, and they are dissociated at the moment of enveloping one another (cf. Derrida 2000: 81). On the one hand, the gift is conditional, but it is also conditioned in its dependence on unconditionality. Every gift needs to be “guided and given aspiration” by the ideal of the unconditional, absolute gift. If the giver held strictly to the symmetry and reciprocity of gift and counter-gift, if I gave only to those who give to me and to the same extent, the gift would annul itself, for I would in fact give (up) nothing at all. The giving would be “like a tax that is imposed or a debt that is repaid, like the acquittal of a debt” (ibid.: 106). To be sure, then, the gift would seem to be possible only on the condition that one avoids or suspends overt calculation and selection (as Bourdieu (1977; 1990), too, famously suggests). Taken to its extreme, the conditional gift ends up negating the gift not only conceptually (as it necessarily does) but also empirically, just as the right to choose one’s guests, when brought to a certain threshold, easily turns hospitality into hostility and xenophobia. Hence, for there to be a gift, it seems that one must at least on some level allow the possibility that the gift might be abused and the exchange be interrupted. For it is only by stopping to give, by giving to no one, that one would be able to exclude with absolute certainty the possible abuse of one’s generosity. Yet on the other hand, the gift always seems to require a certain amount of sovereignty, certain rights and duties, just as no hospitality is possible without the possibility of choosing one’s guests, of welcoming whomever one wishes. Otherwise the gift, as Derrida remarks of hospitality, “would risk being abstract,

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utopian, illusory, and so turning over into its opposite” (Derrida 2000: 79). Insofar as the gift to be given is not universally enjoyed, one can surely give some-thing to some-one, only provided that one does not give (it) to someone else. Selection thus injects calculation to the incalculable: to whom do I give? How do I select to whom I give? Are you worthy of my gift?11 Thus the gift by necessity selects: If a theatre piece is for all it is for none. One cannot give to the other without sacrificing other others. In the act of giving, inclusion and exclusion thus seem to be inseparable. It amounts to giving inasmuch as holding back, and is inclusive inasmuch as exclusive, “hospitable inasmuch as inhospitable” (Derrida 2000: 81). Therefore, as the notions of unconditional and conditional gift presuppose and oppose one another in one and the same gesture, unilateral giving and explicit gift-exchange, while not being reducible to each other, are nevertheless not two entirely different things. There is an element of giving in gift-exchange, too, and not even unilateral giving is entirely separate or free from reciprocity.

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11 The gift is selective and limited in nature: one chooses to whom one gives, one gives only to a specified, identified givee (recipient). This is the gift of the gift-exchange and is conditioned by the exclusion of the parasite, that is, of the one who, as Serres (2007) puts it, takes without giving anything in return. In it, the giver and the recipient, a parasite in his/her own right, together form a system and chase out the (other) parasites.

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Illusionäre Gaben: Zur Logik des ,als ob‘ E LFIE M IKLAUTZ

Abstract Illusionary Gifts: About the Logic of the ‘As if’: At the beginning of my paper stands the question of deception in gift exchange. The illusionary dimension of this social practice will be dealt with in two respects: As a component of a logic of the ‘as if’ on the one hand, and – following the etymology of illusion – in line with the philosophy of ‘in ludo’ as ‘being immersed in the play’ on the other hand. Mutual giving of gifts, comprehended as a subtle play of belief and making each other believe in disinterested giving. A play, that knows to play with the possibility of the impossible in a sovereign way. How does the play turn out in the here and now? And: what is at stake? In answering these questions we will enter a world in which wishing still seems to help as it once did in fairytales. A world, in which being disinterested is worthwhile. I am talking about the celebration of Christmas as an aesthetic integrated work of art that is performed year after year by ourselves with the aim to let us believe in a world beyond exchange value and profit. Giftgiving at Christmas, treated as a ‘deep play’ – this will be the encore to my discussion of the ‘doutdeslogic’ and its camouflage.

Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage nach der Täuschung im Tausch von Gaben. Das Illusionäre dieser sozialen Praxis wird in doppelter Weise zur Sprache kommen: Einerseits als einer Logik des als ob unterliegend – und damit in seiner Theatralität strukturell homolog zum als ob des am Theater Aufgeführten; andererseits als der Etymologie von Illusion folgend im Sinne von in ludo, eines Im-Spiel-Seins. Wechselseitiges Übermitteln von Gaben, verstanden als raffiniertes Spiel des Glaubens und einander Glaubenmachens an uneigennütziges Geben – ein Spiel also, das souverän mit der Möglichkeit des Unmöglichen zu

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spielen weiß. Wie geht es aus, dies Spiel, im Hier und Jetzt? Und: Was steht dabei auf dem Spiel? Antworten auf diese Fragen finden sich, wenn wir uns in eine Welt begeben, in der das Wünschen heute noch, so wie im Märchen einst, zu helfen scheint. Eine Welt, in der es gerade die Uneigennützigkeit ist, die sich bezahlt macht. Die Rede ist vom Weihnachtsfest, das, inszeniert als ästhetisches Gesamtkunstwerk, in jedem Jahr von Neuem zur Aufführung gelangt, um uns an eine Welt jenseits von Tauschwert und Profit glauben zu lassen. Dieses Fest mag als Probe aufs Exempel dienen für jenes als ob, dem ich als dem Theater und der Gabe Gemeinsamen nachgehe. Weihnachtliches Schenken als deep play betrachtet – dies ist die Zugabe zur zunächst von mir entfalteten Logik der kalten Welt des do ut des und deren Camouflage.

I. S PIELTRIEB Theaterkunst und Kunst des Gebens – was ist diesen beiden Formen sozialer Praxis gemeinsam? Wo finden sich Berührungspunkte? In beiden Welten geht es um das Erzeugen einer Illusion, um ein als ob, das entscheidend ist für das Gelingen der jeweiligen Praktiken. Es bedarf in beiden Sphären eines Glaubens an die Realität des Tuns bei gleichzeitigem Wissen darum, dass man sich in einer Welt der Illusion befindet. Dieses Changieren zwischen wissen und nicht wissen wollen, zwischen glauben, nicht glauben und trotzdem sich und andere glauben machen, darin liegt der Reiz der Gabe als Form sozialen Handelns wie als Thema wissenschaftlicher Analyse. In beiden Bereichen – dem des Theaters wie dem der Gabe – wird ein Möglichkeitsraum aufgespannt, der in Differenz zur alltäglichen Welt steht und ein Vielleicht aufblitzen lässt, das Vielleicht, dass Nicht-Reales, ja gar Unmögliches doch möglich sein könnte. Der Bezug auf das Unmögliche ist in der Gabenthematik ja das Schibboleth schlechthin. Antworten auf die Frage nach der Möglichkeit uneigennützigen Gebens geraten ständig in Verdacht, einer Illusion aufzusitzen und Gefahr zu laufen, die Rahmung des als ob, die konstitutiv ist, außer Acht zu lassen. Jene Rahmung, die auch für das Theater eine entscheidende Rolle spielt. Die Schnittstelle, an der sich die Welt der Gabe und die des Theaters berühren, bildet die Theatralität alltäglichen Handelns, wie es sich in Ritualen, Zeremonien, Festen oder Spielen manifestiert. Das Übermitteln von Gaben ist eine streng geregelte, rituelle Praxis. Es ist eine symbolisch verdichtete Handlung, die inszeniert und aufgeführt wird. Wir lassen einen Gegenstand als Geschenk fungieren im als ob der Uneigennützigkeit. Die am Austausch Beteiligten verfügen

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über gemeinsames Wissen, orientieren sich an Normen und folgen Spielregeln, deren Nicht-Befolgung sanktioniert wird. Die Kunst besteht nun gerade darin, kreativ und situationsadäquat mit den Regeln umzugehen. Was Roger Caillois für das Spiel sagt, gilt auch für das Schenken: beide unterliegen der „Notwendigkeit, innerhalb der Grenzen und Regeln eine freie Antwort zu finden und zu erfinden“ (Caillois 1982: 14). Gerade das macht den Reiz des Schenkens aus, dass nicht alles bereits vordefiniert und vorhersagbar ist, sondern Überraschendes birgt: die Unvorhersehbarkeit der Reaktion des Gegenübers, das raffinierte Modulieren der Regeln, die Fähigkeit zur Simulation von Ehrerbietung, Zuneigung oder Dankbarkeit, das Verschleiern eigener Absichten, um nur einige Aspekte zu nennen. Ein Spiel, dessen Einsatz hoch ist, weil wir dabei das Risiko eingehen, uns bloßzustellen. Man überreicht gewissermaßen sich selbst mit, inklusive all der uns selbst unbewussten Aspekte, etwa der Motive, die unser Handeln leiten, der Strategien, die wir – eben unbewusst, also uns selbst verborgen bleibend – verfolgen, inklusive auch des Bildes, das wir uns von der Beziehung machen, das, ob wir wollen oder nicht, im Gegenstand entzifferbar wird. Man setzt sich also selbst aufs Spiel dabei, kokettiert mit einem Geben seiner selbst und versucht, dabei doch auch das Gesicht zu wahren. Von einem Spiel zu sprechen, ist in mehrfacher Hinsicht angebracht. Vergegenwärtigen wir uns die Einteilung, die Caillois (ebd.: 46) vorgenommen hat, zeigt sich, dass das Schenken allen Kategorien – agon, alea, mimikry und ilinx – zuordenbar ist. Agon, der Wettstreit, ist insofern zutreffend, als wir mitunter miteinander konkurrieren, wer mehr oder besser zu geben weiß und damit die überlegene Position einnehmen kann (oder auch die dessen, der mehr liebt). Wir werden zu Rivalen, die sich revanchieren – also Rache nehmen mit einem Gegengeschenk für den Angriff, der uns durch die übermittelte Gabe widerfuhr. Wir begegnen der Herausforderung, indem wir zeigen, dass wir noch weiter zu gehen vermögen als der zuerst Gebende. Gabe will Vergeltung. Mehr schenken als der andere ist ein Mittel, den anderen zu beherrschen. Dazu später mehr. Der Bezug zu alea, dem Zufall oder der Chance, erklärt sich einerseits aus dem uns im Geschenk Zufallenden, andererseits aus dem uns zufallenden Glück, das damit verbunden ist, der Überraschung über das Unerwartete. Auch ilinx, den Rausch, können wir mit dem Geben in Verbindung bringen. Rauschhaft ist die völlige Verausgabung, die Grenzüberschreitung ins Unermessliche – George Bataille hat das ja ausführlich erörtert (Bataille 1975). Mit der mimikry, der Verstellung, sind wir auch wieder an der Schnittstelle zwischen Gabe und Theater angelangt, in der Region des als ob, der illusio im Sinne eines Im-Spiel-Seins, des Mitspielens bei einem gesellschaftlichen Spiel.

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II. M ASKEN

IM

N EBEL

Mimikry, Maskieren, Verschleiern, dabei möchte ich ein wenig länger bleiben. Wie ist dieses als ob zu verstehen? Beruht der Gabentausch tatsächlich auf Täuschung, auf gesellschaftlich legitimierter Heuchelei? Marcel Mauss ging ja so weit, von Lüge zu sprechen, einer gesellschaftlich notwendigen Lüge, wenn er behauptete, dass es letztlich immer die Gesellschaft sei, die sich selbst mit dem Falschgeld ihres Traums bezahle (Mauss/Hubert 1989: 158). Der Traum wäre in diesem Fall das uneigennützige Geben, das etwas gegen nichts, etwas erhalten also, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Das heißt, es handelt sich um ein gesellschaftlich Imaginäres, das im Austausch von Gaben inszeniert, als Traum wachgehalten und letztlich auch zumindest virtuell befriedigt wird. Pierre Bourdieu hat diese These von Mauss entfaltet und zugespitzt. Er spricht davon, dass wir es bei der von Mauss der Gabe attestierten Ambiguität mit einer doppelten Wahrheit zu tun haben (Bourdieu 1979: 336; 2001: 242ff). Die Wahrheit der Gabe bestehe in ihrer objektiven Wahrheit, die in einem Tauschverhältnis auf Gegenseitigkeit beruhe, und in ihrer subjektiven Wahrheit, in der sie im Erleben der Handelnden als Akt der Großzügigkeit und Uneigennützigkeit erscheine. Mit der These von der doppelten Wahrheit der Gabe weist Bourdieu sowohl strukturalistische wie phänomenologische Sichtweisen der Gabe zurück, die jeweils nur einer der beiden Wahrheiten gerecht werden können. Der Schnittpunkt, an dem diese beiden Sichtweisen sich voneinander trennen wie vermitteln lassen, liegt seines Erachtens in der Zeit, die zwischen Gabe und Gegengabe verstreicht. Nur in ihrem Nacheinander enthalten die Handlungen des Gebens, Nehmens und Erwiderns die der sozialen Praxis eigentümliche Unvorhersehbarkeit und Spannung.1 Das Intervall zwischen Gabe und Gegengabe sieht Bourdieu insofern als entscheidend an, als es die Differenz zum ökonomischen Tausch garantiert. Es produziert Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft und versetzt die beteiligten Akteure in eine Spannung, die selbst bei ritualisierten Akten des Gebens und Wiedergebens nie völlig fehlt (Bourdieu 1998a: 163). Auf dem Spiel steht also die Beziehung zwischen Gebendem und Empfangendem. Es wird eine Entwicklung geben, deren Horizont offen ist. Die Beteiligten können zumindest potentiell in alle denkbaren Richtungen weitergehen: Der Empfänger kann die Gabe zurückweisen oder annehmen, er kann aber nicht nicht reagieren. Selbst Untätigbleiben

1

Die Darstellung von Bourdieus Gabentheorie folgt jener – dort weit ausführlicheren – in Miklautz 2010: 79-114.

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ist eine Form von Antwort. Er kann dankbar sein – freiwillig oder erzwungen und/oder sich schuldig fühlen. Und er kann die Gabe erwidern, wobei ihm wiederum eine große Bandbreite an Möglichkeiten zur Verfügung steht. Die Gabenantwort kann etwa formeller oder persönlicher ausfallen, als die mit der ersten Gabe übermittelte Aufforderung. All diese Formen des Agierens und Reagierens ereignen sich in einem offenen Zeitrahmen, der durch implizit gegebene Endpunkte begrenzt wird. Einer der Pole wird durch die sofortige Erwiderung der Gabe markiert, der andere durch den Zeitpunkt, an dem die Erwartung einer Reaktion – einer Gegengabe oder eines Ausdrucks von Dankbarkeit – als nicht eingelöst wahrgenommen werden muss. An beiden Endpunkten wird eine Gabenbeziehung verweigert. Dazwischen liegt ein weites Feld, das von Unsicherheit und Risiko gekennzeichnet ist und die Eigentümlichkeit des Schenkens ausmacht. Gabenhandlungen als soziale Praxis zu erfassen erfordert, sich weder auf die subjektive Wahrheit, also die Selbstbeschreibung der Akteure zu beschränken, noch auf die objektive Wahrheit, das von der Wissenschaft entwickelte Modell. Dass subjektive und objektive Wahrheit der Gabe voneinander abweichen, hat seinen Grund nicht zuletzt in der unterschiedlichen Vorstellung von Zeit. Für die Handelnden ist die zwischen Gabe und möglicher Gegengabe ablaufende Zeit keineswegs leere Zeit, die man getrost außer Acht lassen könnte, sondern sie ist spannungsgeladen und als solche Voraussetzung für das Funktionieren des Gabentausches. Die von den nicht in die soziale Praxis verstrickten Wissenschaftlern konstruierte objektive Wahrheit glaubt dagegen, die Zeit im Modell unberücksichtigt lassen zu können, da wir es im Kern mit einem reziproken Tauschverhältnis zu tun haben, in dem all das, was zwischen Gabe und Gegengabe liegt, lediglich als Ornament erscheint. Das zeitliche Intervall sorgt dafür, dass Gabe und Gegengabe wie unverbundene Einzelhandlungen erscheinen. Die Gabe wird so als großzügige Geste ohne Erwiderung erlebbar und gegen die in ihr enthaltene Tauschlogik abgeschirmt. Der Widerspruch zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit der Gabe wird dadurch, so Bourdieu, vernebelt (Bourdieu 2001: 246). Vernebeln, verschleiern, täuschen, abschirmen, euphemisieren, verklären – das sind die Verben, die Bourdieu verwendet, um die subjektive Wahrheit der Gabe, noch bevor sie eigentlich benannt ist, zu beschreiben. Sie fungiert als eine Art Negativfolie. Nebenbei bemerkt: Meines Erachtens entgeht ihm dabei gerade das, was die Erfahrung des Gebens und Empfangens ausmacht. Aber, verfolgen wir zunächst die These weiter: Was wird vernebelt, wie und vor allem warum geschieht das?

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Zunächst zur Frage nach dem Was: Verschleiert wird die objektive Wahrheit der Gabe, wonach sie schlicht eine Sonderform des wechselseitigen Tausches ist. Das Besondere an dieser Tauschform besteht nach Bourdieu darin, dass durch sie symbolische Gewalt ausgeübt wird. Gewalt sei der Gabe schon insofern inhärent, als sie eine Herausforderung darstelle, der man sich nicht entziehen könne. Antwortet man auf eine Gabe mit einer Gegengabe, hat man sich, ohne die Wahl gehabt zu haben, der mit der Gabe verbundenen Verpflichtung gemäß verhalten; man ist eine affektive Bindung eingegangen, die moralische Verpflichtungen nach sich zieht. Unterlässt man die Gegengabe, entsteht oder bekräftigt sich eine Machtasymmetrie und ein Abhängigkeitsverhältnis (Bourdieu 1993: 232). Man ist sozusagen in Schuldhaft geraten, ist an den anderen gebunden, weil man ihm etwas schuldig ist, und erkennt diese Schuld auch an. Die Anerkennung von Schuld beinhaltet laut Bourdieu die Einräumung von Rechten, die der Gebende dem Empfänger gegenüber hat. Damit werde eine besonders wirksame Form von Herrschaft konstituiert, weil sie mit Anerkennung einhergehe und gleichzeitig nicht offen, sondern verschleiert sei. Verschleiert wird die Herrschaft insofern, als sie sich in Zuneigung verwandelt hat und als solche resistent gegen Einspruch ist. Herrschaft wird anerkannt, indem man sich erkenntlich zeigt. Die Beherrschten werden so domestiziert, affektiv gebunden und zu Dankbarkeit verpflichtet (Bourdieu 2001: 255). Selbst Ausbeutungsbeziehungen beruhen mitunter auf dieser Form der Verklärung von Macht in Charisma. Herrschaft kann so zu persönlicher Abhängigkeit, Liebe, Hingabe werden; die Gabe wird aufgefasst als eine Art magisch-alchemistischer Akt der Verwandlung von Macht in Sinn. Gabenbeziehungen begründen und stützen Machtverhältnisse und unterliegen der Tauschlogik, so Bourdieu. Die Wahrheit der Gabe auszusprechen sei verboten. Ein deutliches Beispiel für die Tabuisierung ist etwa das Schweigen über den ökonomischen Wert der Gaben: Das Preisschild wird entfernt, weil der Preis am deutlichsten ökonomische Verhältnisse anzeigt. Obwohl die Benennung des Preises tabuisiert ist, wird in Gabenbeziehungen sorgfältig abgewogen, wie hoch der Wert von Gabe und Gegengabe sein sollte, um der sozialen Beziehung zu korrespondieren. Weder zu viel noch zu wenig darf geschenkt werden, ohne Verdacht hervorzurufen, undankbar oder taktlos zu erscheinen. Gegengaben sollten, so die Beziehung symmetrisch ist, von etwa gleichem Wert sein, oder, bei asymmetrischen Beziehungen, die Machtdifferenz angemessen zum Ausdruck bringen. So gesehen ist Warentausch entschieden ‚ökonomischer‘, weil all diese Überlegungen dabei entfallen können. Schenken erfordert also symbolische Transformationsarbeit. Die nackte Tauschlogik muss symbolisch überformt, verkleidet, verschleiert werden. Alles hat den Anschein, als ob sie keinerlei Rolle spielte.

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Doch wie – um zur nächsten Frage zu kommen – funktioniert diese ‚Vernebelung‘, in der alle gleichermaßen Täuschende wie Getäuschte sind? Folgt man Bourdieu, bedarf es zur Durchsetzung der Tauschlogik in Gabenbeziehungen keiner Absicht der Handelnden, daraus einen Vorteil zu ziehen; die strategische Ausrichtung ist vielmehr jenseits subjektiver Intentionen gegeben und setzt sich unabhängig vom Willen und Glauben der Beteiligten durch. Der Austausch von Gaben ist nämlich nicht eine immer wieder sich neu herstellende Handlung von Individuen, die sich dabei ihrer Motive und Strategien bewusst sind, sondern er ist eine gesellschaftliche Institution, die unabhängig von und gleichzeitig durch entsprechende Handlungen existiert (Bourdieu 2001: 248). Die objektiven Strukturen dieser Tauschform werden im Rahmen der Sozialisation internalisiert, einverleibt, abgeschirmt gegen Fragen nach ihrer Sinnhaftigkeit, gegen den Aufweis von Widersprüchen zwischen Freiheit und Verpflichtung, Großzügigkeit und Gewinnabsicht. Die so sozialisierten Individuen verfügen über Dispositionen, die ihnen ein Agieren wie sich’s gehört ermöglichen. Diese institutionstheoretische Fassung der Gabe liefert auch eine Erklärung für die Frage nach dem Warum des Vernebelns. Bourdieu meint ja nun gerade nicht, dass wir es beim Schenken mit nichts anderem als marktanalogem Tausch zu tun haben. Eine Rückführung der Gabe in die Logik der Ökonomie wäre seiner Ansicht nach keine angemessene Konzeption. Für ihn ist der herkömmliche Begriff von Ökonomie – er nennt sie ökonomistisch verkürzt – unzureichend. Er geht davon aus, dass es neben der ökonomischen Ökonomie zahlreiche andere Ökonomien, unter anderem eben eine Ökonomie der Gabe gibt, die anderen Prämissen folgt und zum Ökonomischen im engeren Sinn in Widerspruch steht. Es handelt sich dabei um eine Zurückweisung von materiellen Interessen, Gewinnabsichten, Profiten, Berechenbarkeit. Wir haben es dabei nicht mit ökonomischer sondern mit symbolischer Ökonomie zu tun. Auch in ihr geht es um Kapitalakkumulation, allerdings um die Akkumulation symbolischen Kapitals – um Anerkennung und Ehre. Um diese Form von Kapital zu akkumulieren, ist eine Disposition vonnöten, die durch Uneigennützigkeit und Großzügigkeit gekennzeichnet ist, ein antiökonomischer Habitus, in dem das Interesse im Sinne des Profitstrebens verdrängt ist. Frei sein von Interessen ist selbst zum Interesse geworden, symbolischen Profit zu maximieren (Bourdieu 1998b: 27). Das Wissen darum unterliegt individuellen wie kollektiven Verdrängungsmechanismen. Es ist kollektive Arbeit vonnöten, um die Tauschlogik zu verschleiern, so Bourdieu. Die individuelle Selbsttäuschung ist nur möglich, weil sie gesellschaftlich gestützt wird. Die antiökonomische Ökonomie beruht auf kollektivem Verkennen (Bourdieu 2001: 247).

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Vergegenwärtigt man sich Bourdieus Sichtweise der Gabe, ist man versucht zu sagen, man habe es mit einer gewissen Gnadenlosigkeit zu tun. Für mich ist diese in einem ersten Schritt sicher notwendige Desillusionierung letztlich keine ausreichende Antwort auf die Frage nach der sozialen Praxis der Gabe. Ich denke, dass Bourdieu trotz aller Differenzierung in den Begrifflichkeiten letztlich doch in die Falle der Ökonomie gegangen ist. Der Grund dafür liegt auch darin, dass Begriffe nicht neutrale Werkzeuge sind, sondern uns ebenso benutzen wie wir sie. Sie präformieren unter der Hand den Gegenstand, lassen manches denkunmöglich erscheinen, sind Denken, das eingreift. Was in dieser Sichtweise fehlt, ist jene Dimension von Erfahrung, die im Geben wie im Empfangen von Gaben als beglückend erlebt wird. Nun kann man sich natürlich fragen, ob man dabei nicht einer Illusion unterliegt. Dennoch – selbst wenn es sich dabei nur um falschen Schein handeln sollte – die Sehnsucht nach dieser Erfahrung existiert, selbst wenn sie nicht einlösbar sein sollte. Bourdieu selbst war sich – in seinem Spätwerk zumindest – dieser Leerstelle durchaus bewusst. Es sei ständige Arbeit nötig, um der Kälte der Berechnung, der Gewalt und des Interesses die verzauberte Insel der Liebe [zu entreißen] diese geschlossene und vollkommen autarke Welt, in der sich Wunder an Wunder reiht: das Wunder der Gewaltlosigkeit, das durch die Herstellung von Beziehungen ermöglicht wird, die auf völliger Reziprozität beruhen und Hingabe und Selbstüberantwortung erlauben; das der gegenseitigen Anerkennung […], das der Uneigennützigkeit, welche von Instrumentalisierung freie Beziehungen ermöglicht, die auf dem Glück basieren, Glück zu schenken. (Bourdieu 2005: 189)

Erfahrungen dieser Art analytisch beizukommen sei schwierig. Man gerate dabei meist, so Bourdieu, in die ausweglose Alternative zwischen Lyrismus und Zynismus. Es ist hier weder Ort noch Zeit, um alternative Konzepte zu entwickeln – es ging mir vor allem darum, die Dimension des als ob zu beleuchten. Ebenso evident wie das Illusionäre am Schenken ist die gesellschaftliche Notwendigkeit dieser Illusion von Uneigennützigkeit. Es scheint jedenfalls durchaus Inseln zu geben, auf denen versucht wird, im wechselseitigen Geben und Nehmen das ökonomische Prinzip des do ut des zu sistieren. Eine dieser Inseln finden wir, so meine ich, im weihnachtlichen Schenken.

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III. D A HABEN WIR DIE B ESCHERUNG Treten wir also ein in eine den meisten unter uns vertraute häusliche Szene – die Versammlung der Feiergemeinschaft vor dem Weihnachtsbaum, um den herum Geschenkpakete arrangiert sind. Was tun wir da? Wir spielen ein Spiel, mit dem – wie Georg Simmel für Spiele generell meinte – Gesellschaft gespielt wird (Simmel 2001: 185). Bühne ist das häusliche Ambiente, ästhetisch üppig arrangiert, alle Sinne ansprechend. Gegeben wird das Spiel vom zweckfreien Geben. Darsteller und Publikum sind identisch, Eingeweihte wie Nicht-Initiierte performen. Die Vorstellung ist privat, nicht öffentlich; inszeniert wird, woran wir glauben wollen: An eine Welt, in der die Warentauschökonomie sistiert ist. Eine Welt, in der die kapitalistische Marktlogik, gekennzeichnet durch Berechnung, Profitinteresse und Eigennutz, keine Wirkmacht hat. Das Fest hat durchaus großes theatralisches Potential – eine eigene Dramaturgie, tradierte Verhaltensmuster, Körperhaltung, Mimik, Gestik sind durchchoreographiert, es wird gesungen und deklamiert, umarmt und geherzt. Am Ausdruck von Emotionen – von strahlender Freude bis zu Tränen der Rührung – wird nicht gespart. Gespielt wird verkehrte Welt. Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass das Geschehen reichlich überdeterminiert ist. Zunächst haben wir es, wie bei allen Festen, mit einer Situation zu tun, in der der Alltag transzendiert wird und das, was im Routinebetrieb außen vor bleiben muss, Raum erhält. In dieser Hinsicht gibt es eine strukturelle Homologie zwischen Fest und Gabe. Feste markieren Orte und Zeiten für NichtAlltägliches. Zeiten, an denen geltende Regeln außer Kraft gesetzt, alltägliche Zwänge durchbrochen werden, man sich der Gemeinsamkeit versichert.2 Sie beinhalten Momente der Grenzüberschreitung und unproduktiven Verausgabung, die sonst verpönt sind. Weihnachtsgaben zeigen das. Nicht Knappheit, Kalkül und Nützlichkeit, sondern überströmende Verausgabung kommt darin zum Ausdruck. Die Sehnsucht nach einer Gegenwelt zur Logik des Markttausches kristallisiert sich im weihnachtlichen Schenken. Gaben sind der Stoff, aus dem die Träume sind. Die Imagination vom Garten Eden, in dem nicht Leistung, sondern einfach Sein genügt, damit Wünsche in Erfüllung münden. Es ist eine Art kollektiver Zerstörung von Reichtümern, die da statthat, verkehrte Welt eben. Umkehrung des Gewohnten, weil Außergewöhnliches in den Alltag einbricht und diesen bricht. Inversion, Umkehrung des Gewohnten findet sich auch an den Wurzeln des Festes. Historisch betrachtet haben wir es mit einem Amalgam verschiedener

2

Vgl. dazu ausführlicher Miklautz 1999.

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Traditionen zu tun, einem veritablen Synkretismus. All den Wurzeln des Festes gemeinsam ist die Inversion, eine Umkehrung des Gewohnten: Verschwendung, Exzess, Verkleidung, Aufhebung bzw. Umkehrung von Statusunterschieden zwischen arm und reich, alt und jung. Erst im 4. Jh. nach Beginn unserer Zeitrechnung wurde die Geburt Jesu in die Tage der Wintersonnenwende gelegt, um bestehende Feste zu überformen und ihnen den Stachel zu nehmen (Faber 1997: 23). An diesen Tagen gab es in Rom die Saturnalien, Festtage zu Ehren des Gottes Saturn, verbunden mit wilden karnevalesken Ausschweifungen. Ein Verkehrte-Welt-Spiel und daher nicht ganz ungefährlich für die Herrschenden waren diese Tage insbesondere deshalb, weil sie mit Ritualen der Statusumkehr einhergingen. Sklaven wurden von ihren Herren bedient und beschenkt, wilde Gelage gefeiert (Miller 1993: 9). Eine besondere Rolle spielten Kinder und Jugendliche, die zum Teil als falsche Könige firmierten, die Macht übernahmen, Erwachsenen Befehle erteilten. Saturn ist ja jener Gott, der seine Kinder verschlang, um nicht von ihnen entmachtet zu werden. Die besonderen, auf die Zeit des Festes begrenzten Rechte von Kindern bleiben über die Jahrhunderte erhalten und sind auch heute noch von Belang. Hinzu kam im antiken Rom der am 25. Dezember gefeierte Geburtstag des Sonnengottes, des Sol Invictus, eines Gottes, dessen Kult stark mit der Person des Kaisers verwoben wurde. Die Kritik an diesen heidnischen Ausschweifungen war vermutlich das Motiv, die Geburt Jesu auf den Geburtstag des Sol Invictus zu legen und damit einerseits einen Wandel in der Ausrichtung der Festlichkeiten einzuleiten, andererseits doch an gewohnte zeitliche Marker im Jahreslauf und vertraute Bräuche anzuschließen. Die Tage rund um die Wintersonnenwende waren auch bis weit über das Mittelalter hinaus jene, an denen nachts Widergänger der Ahnen anzutreffen waren. Man scheute sich daher, nachts das Haus zu verlassen – zahlreiche Sagen aus den Alpentälern zeugen davon. Nächte, in denen die sogenannte „Wilde Jagd“, eine Horde dämonischer Wesen, durch die Wälder und um die Häuser zog. Man besänftigte die toten Seelen mit für sie bereitgestellten Speisen und Milch. Waren es damals die Toten, die mittels Gaben versöhnlich gestimmt wurden, sind es heute die Kinder, die, als Nicht-Initiierte außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehend, als Stellvertreter der Ahnen beschenkt werden. Die These, dass man Kinder als Widergänger von Ahnengeistern ansah und sie stellvertretend beschenkte, hat Claude Lévi-Strauss ausführlich in seinem Essay vom gemarterten Weihnachtsmann entfaltet (Lévi-Strauss 2017). Auch die antiken Rituale der Statusumkehr lebten in den Wintertagen in Bräuchen fort. Im Mittelalter gab es Kinder- bzw. Scherzbischöfe, die, aus den Klosterzöglingen ausgewählt, sich zusammenrotteten zu Banden, die Heischegänge veranstalteten und mit Prügeln Geschenke erzwangen. Heute veranstalten

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Kinder auf dem Land Vergleichbares in der Nachbarschaft. Am sogenannten Tag der unschuldigen Kinder, dem 28. Dezember, gehen sie mit Ruten von Haus zu Haus und verabreichen symbolische Schläge. Geschenke an sie stimmen das Schicksal günstig und versprechen Gesundheit über das Jahr. Es sind also Rituale der Wiedergeburt, des besiegten Todes, die Weihnachten stattfinden, erinnernd nicht nur an die Kindermorde zu Betlehem. So ist es auch nicht verwunderlich, dass im vergleichsweise dämonenfreien häuslichen Kontext heute dem Beschenken von Kindern eine besondere Bedeutung zukommt. Wir inszenieren eine Welt, in der das Wünschen wie im Märchen noch zu helfen und der Traum des etwas gegen nichts sich zu erfüllen scheint. Die Frage ist, ob die Inszenierung des nichtkalkulativen Verausgabens auch gelingt? Dazu bedarf es besonderer dramatis personae. Kinder erhalten ihre Geschenke ja nicht einfach von den Erwachsenen, sondern von himmlischen Gabenbringern, Nachkommen mythischer Gestalten, die von weit her kommen. Das Füllhorn der antiken Mythologie findet sich im Sack des Weihnachtsmanns wieder. Wir inszenieren eine magische Ökonomie, in der Gaben vom Himmel regnen, und zwar gratis. Gratia, die sich verströmende himmlische Gnade, findet sich unter dem Weihnachtsbaum. Himmlische Gaben rufen die Vision einer magischen Ökonomie unbegrenzter Generosität hervor, in der es keine Knappheit gibt. Diesen von uns geträumten Traum vergegenwärtigen wir uns durch die weihnachtliche Inszenierung. Dafür scheuen wir keinen Aufwand. Die Angelegenheit ist ja höchst paradox – das Geschäft des Jahres wird gemacht, von Jahr zu Jahr steigen die Umsätze, und das Ziel der ganzen damit verbundenen Anstrengung ist eigentlich die Vergegenwärtigung einer Gegenwelt zum sinnentleerten immer mehr Anhäufenwollen. Damit dieser Widerspruch uns nicht in seiner ganzen Schärfe vor Augen tritt, wird alles getan, um die Warenberge einer magischen Transsubstantiation zu unterziehen. Schon ihr Kauf wird nicht einfach mit üblichem, sondern mit besonderem Geld – dem Weihnachtsgeld – getätigt. Jeder geschenkte Gegenstand tritt verkleidet auf die Bühne des Geschehens, geheimnisumwoben, außergewöhnlich. Unvergleichbar mit dem immer gleichen, in Plastik eingeschweißten Massenartikel, den wir käuflich erstanden haben. Wir machen die entfremdete, anonyme Ware zum persönlichen Gegenstand, in der – wie im archaischen Gabentausch – ein Teil von uns selbst enthalten ist. Wir wählen aus, entfernen das Preisschild, arrangieren elegant und, vor allem, umhüllen ihn. Maskierte, verkleidete Gabenbringer und verschleierte Gaben lassen uns hoffen, dass die Metamorphose vom Banalen zum Besonderen gelingen möge. Die Anonymität der Ware wird transformiert zur Sozialität der Gabe. Werden Waren zu Geschenken, erfahren sie also eine Verwandlung. Sie verlassen die Sphäre

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des beliebig Austauschbaren, werden verortet und personalisiert, und so erst wahrhaft angeeignet. Sie ähneln dann unveräußerlichen Gütern, die geschützt sind davor, gegen andere getauscht zu werden. Die Verpackung unterstreicht den Geheimnischarakter. Die Warenidentität wird überlagert von Sentiment und Feierlichem. Der Moment der Überraschung wird inszeniert und hinausgezögert, erwartungsvolle Vorlust erzeugt. Kunstvolle Hüllen bieten ein zusätzliches ästhetisches Erlebnis und veranschaulichen die Mühe, die sich der Gebende gemacht hat. Der verborgene Inhalt steigert die Attraktivität des Geschenks, Verhülltes macht neugierig, Enthüllung erhöht die Spannung, das Auspacken bietet dramatische Effekte. Der Reiz des Verschleierten im Vergleich zum Nackten attrahiert wie in der Erotik. Dieses Verschleiern lässt aber auch eine weitere Assoziation aufkommen, von der schon die Rede war – die der Verschleierung des do ut des, des Tauschcharakters, der Reziprozität. Wir müssen uns, wie schon zuvor erläutert, dies notwendig verschleiern, sonst wäre die illusio, dass mit dem Schenken das Tauschprinzip durchbrochen wird, nicht aufrecht zu erhalten. Jeder kennt den ernüchterten Blick am Morgen nach dem Weihnachtsabend, wenn die Dinge aufgehäuft in ihrer Nacktheit zutage treten. Da haben wir dann die Bescherung. Der Verpackungsregel nicht nachzukommen, nimmt viel vom Zauber des Geschehens. Regelbrecher sind Spielverderber genau wie jene, die mit dem Schenken Schluss machen – damit wird eine Illusion zerstört und durch ereignislose Pragmatik ersetzt. Wir spielen uns also selbst etwas vor und sind krampfhaft bemüht, einander nicht die Illusion zu nehmen. Mithilfe der Kinder bewahrt das kollektive Gedächtnis den Glauben an ein Anderes der Ökonomie und bringt dieses Jahr für Jahr als soziales Ritual zur Aufführung. In Erinnerung an die Geburt des Erlösers inszenieren wir selbst göttliche Überfülle und ausströmende Gnade, die trotz Sündenfalls respektive kindlichen Ungehorsams gewährt wird. Dass Kinder mitunter Geschenke brauchen, um es in einer von Leistung, Erfolg und Profitinteresse geprägten kalten Welt überhaupt auszuhalten, hat Walter Benjamin in einer Weise formuliert, die als abschließende Zugabe dienen mag: Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie die Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muß Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder kaputtgehen oder fortfliegen. (Benjamin 1985: 615f)

„Was für ein Theater“ sind jene geneigt zu sagen, die sich derlei weihnachtlicher Inszenierung entziehen und sich weigern, das Spiel mitzuspielen. Sie brechen

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mit der Konvention. Doch auch allen anderen ist das theatrale Spiel und dessen illusionärer Charakter bewusst – sie fügen sich aber mehr oder weniger bereitwillig und spielen ihre Rolle überzeugend bis hin zur Selbstvergessenheit, so dass sie sich damit selbst zu täuschen vermögen. Ronald D. Laing hat die Unausweichlichkeit sozialer Rituale, an denen wider besseres Wissen glaubhaft teilgenommen wird, prägnant auf den Punkt gebracht: „Sie spielen ein Spiel. Sie spielen damit, kein Spiel zu spielen. Zeige ich ihnen, dass ich sie spielen sehe, dann breche ich die Regeln, und sie werden mich bestrafen. Ich muss ihr Spiel, nicht zu sehen, dass ich das Spiel sehe, spielen.“ (Laing 1984: 7) Folgt man Victor Turner, ließe sich die häusliche Theateraufführung am Weihnachtsabend als kulturelle Darstellung auffassen, als eine der vielen performativen Gattungen, die Teil der Kultur sind und deren zentrale Werte zum Ausdruck bringen. Ein Metakommentar zur Alltagswelt, der Utopisches zum Vorschein bringt, Möglichkeitsräume vorstellt, zeigt, dass es auch anders ginge – ganz so wie das Theater dies auch vermag. Dass es der Aufführung an Professionalität mangelt, wird durch Traditionsbezug und emotionales Involviertsein problemlos wettgemacht. Vielleicht, so Turner, […] ist das Theater die stärkste, wenn man will, aktive, kulturelle Darstellungsgattung. Es gibt aber noch viele andere [...] Es gibt keine Gesellschaft ohne irgendeine Form des Metakommentars – Geertz’ treffender Begriff für eine ,Geschichte, die eine Gruppe sich über sich selbst erzählt‘, oder im Falle des Theaters ein Stück, das eine Gesellschaft über sich selbst spielt (Turner 1989: 164).

L ITERATUR Bataille, Georges (1975): „Der Begriff der Verausgabung“, in: ders., Die Aufhebung der Ökonomie. (=Das theoretische Werk Band 1, hg. v. Gerd Bergfleth), München: Rogner& Bernhard, S. 9-31. Benjamin, Walter (1985): „Protokolle zu Drogenversuchen“, in: ders., Gesammelte Schriften Band VI, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 558-618. Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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The Gift as “Deep Play” A ‘Note’ on Performance and Paradox in the Theatrics of Public Giving I LANA F. S ILBER

Abstract Theatre as a metaphor has been richly applied to theorize many aspects of social life and would appear to be eminently applicable to the analysis of gift interactions as well. Yet little attention has been paid to the theatrical dimension of giftrelations in general, and of elite philanthropy as a form of public giving in particular. This paper starts by surveying how theatric concepts and metaphors were richly deployed across various currents of sociological and anthropological theory yet surprisingly stopped short of being applied to the dramatic and performative dimension of gift processes. Second, taking clue from Clifford Geertz’s seminal essay on the Balinese cockfight (1972), I suggest elements of a macrocultural and contextualizing approach to the theatrics of public giving. Building upon aspects of Geertz’s argument that have not yet received attention, I offer to revisit not only his famed notion of cockfights as ‘deep play’, but also what he indicates concerning the public stage that contributes to sustain the latter’s enactment as such. Understanding the changing place and expression of elite philanthropy in the public sphere, I submit then in the final section, requires attending to its performative dimension as public giving and possible vector of ‘deep play’ traversed by a distinctive spate of internal contradictions and paradoxes. But it also demands positioning this performative dimension in the framework of gift repertoires, themselves shaping as well as shaped by dynamics of power, display and recognition on a public stage now increasingly akin to a shifty, enigmatic constellation of mesotheatres.

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1. I NTRODUCTION Theatre has had a bifurcated trajectory in the social sciences. As a form of art and institution, it has remained a relatively minor, specific subfield of research. As an idea and theoretical metaphor, on the contrary, it has had, and still has a deep and far reaching impact upon the sociological and anthropological imagination. Yet little attention has been drawn to the relevance of theatre, be it as art or metaphor, for research on the gift, nor vice versa, to the relevance of a gift perspective for the study of theatre. Approaching the topic from the point of view of a sociologist with an interest in gift processes but little acquaintance with research on theatre, I wish we would see more studies exploring the mutual relation between gift and theatre in all possible senses and directions indeed. I can thus easily imagine how the study of theatre as an art and institution could benefit from a gift theoretical perspective, i.e. seeing theatre, as an art and institution, standing at the nexus of a rich and complex flow of gifts and other transactions, material or else, among all those involved in its production – starting with playwrights, actors, directors, decor designers, costume makers and spectators of course, but also, widening the ring, critics, donors and sponsors, local communities and governments. In such regard, theatre may not be that different from other forms of artistic creativity, whose deep affinities with the creative and anti-utilitarian facets of gift giving Lewis Hyde has suggestively addressed already a long time ago (Hyde 2007 [1979]). Admittedly, Hyde himself appears to have been especially attentive to arts where creativity results in a tangible and visible object that can be either kept, passed on as a gift or sold (e.g. a picture, sculpture, fabric)1. Extending gift analysis to the world of performative arts, such as theatre, might thus help expose the diverse ways in which the arts can be deeply suffused with gift dynamics, even as they also face the temptations and constraints of market economies, public support and/or private patronage – themselves entailing diverse forms of gift-relationships. However important and promising this line of inquiry may be, I shall have to leave it to others, better acquainted with theatre as an art and institution, Instead, my main concern in this article will be theatre as a discursive, heuristic and theoretical metaphor, often deployed to make sense of the symbolic aspects of social action and interaction in any and all spheres of social life, and thus possibly worth extending also to the study of gift processes and interactions. Narrowing 1

The realm of art itself has given rise to conceptual currents (such as situationists, relational aesthetics), which explicitly drew inspiration from Marcel Mauss’ classical Essay on the Gift or related elaborations thereof (Sansi 2014).

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the focus thus to only one of the many possible (and possibly interrelated) facets in the relation between gift and theatre2, I suggest to start tapping into the interpretative power of theatric metaphors as a way to enrich our understanding of the gift in general and elite philanthropy as public giving (i.e. giving in public and for a public cause) in particular. The article will start by surveying how theatric concepts and metaphors were richly deployed across various currents of sociological and anthropological theory, yet somewhat surprisingly stopped short of being applied to the dramatic and performative dimension of gift processes. A following section will revisit Clifford Geertz’s seminal essay on the Balinese cockfight (Geertz 1972), from the point of view of what it happens to tell us concerning public giving. Building upon aspects of Geertz’s argument that have not yet received attention, I offer to reexamine not only his famed notion of cockfights as “deep play”, but also what his text indicates concerning the public stage that contributes to sustain the latter’s enactment as such. I shall then end with a few implications for the study of elite philanthropy as public giving and possible vector of “deep play”, charged with a distinctive set of tensions and paradoxes, which a theatric perspective may help us to explore better.

2. T HEATRE

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K EY T HEORETICAL M ETAPHOR

Cutting across a rich spectrum of theoretical approaches, theatre as a metaphor has kept nourishing the sociological and anthropological imagination for quite a while now, and in the context of many and diverse theoretical currents. We may see it thus already at work in some of Simmel’s writings on sociability, Mead’s ideas on the “theatre of the mind”, or even, if only implicitly, in functionalists conceptions of individuals as social actors enacting normative expectations attached to social roles. But it clearly became all central and full explicit in Goffman’s influential dramaturgical approach to the interaction order, peppered by terms such as role play and role distance, front stage/back stage etc., and upholding the image of individuals behaving like actors performing on a stage

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Images of theatre that nurture its power as a key theoretical metaphor, may be shaped by our perceptions of real, past and present, theatric genres and institutions. This should not be confounded with a closely relevant but distinct issue, concerning the relation between theatre (as art) and social life at large – as one of reflection, dialectical distinction or else. Few scholars have tried to tackle theatre as both art and metaphor, and in its relation to social life to boot. For some exceptions, see, in different styles, Alexander 2014; Gamliel 2012, 2016; Turner 1982, 1985; Walsh-Bowers 2016. With a focus on theatricality, see also Tronstadt 2002.

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(Goffman 1959). Similar ideas went on nourishing various related strands of symbolic interactionism – a label Goffman himself never fully identified with (Brisset and Edgley 2017 [1991]; Carter and Fuller 2016; Scheff et al. 2015). Theatric notions became again especially central to the writings of giant figures of symbolic anthropology such as Victor Turner and Clifford Geertz (Turner 1982; Geertz 1972, 1980). Since then, theatre and related ideas – such as having to do with performance, play, drama, spectacle – have been migrating into many subfields of research – e.g. the study of organizations, communications, economy, politics, social movements and more (e.g. Boje 2003; Cohen 1993; Cornelissen 2004; Chou et al. 2016; Ezrahi 1995). More recently, theatric notions have been gathering renewed theoretical interest as a result of the current explosion of interdisciplinary interest in ‘performative studies’ as well as more than a decade of work centering on the idea of social performance from the ‘cultural pragmatics’ perspective associated with the Yale school of ‘strong’ cultural sociology and the work of Jeffrey Alexander in particular (Alexander 2004, 2011; Alexander, Giesen and Mast 2006). In a general theoretical sense, images of theatre are also deeply associated with long lasting debates concerning the very nature of social action and interaction, the extent to which it is rather conscious or unconscious, free or regulated, anchored in the agency of individuals or cultural scripts and social structures, and above all perhaps, the extent to which it is authentic or rather fictive, falsifying and manipulative, and even more generally stated, the weight one needs to allow to symbolic representation and fiction in the study of social life at large. As such, theatre as a metaphor has proved especially useful in underscoring the deployment of symbolic action and negotiation of collective representations pervading all levels of social life and now often deemed increasingly distinctive of our times – if also deeply transformed, among else, by the expansion of the internet (Brizarielli/Armano 2017; Ezrahi, 2015; Hénaff and Strong 2001).3 From the point of view of current sociological theory, at any rate, theatre as a metaphor is still very much at work in shaping our thinking, as the focus is not any more, or at least not only, on what used to be subsumed under the notion of “the social construction of reality” (starring in the title of a formidably seminal 1966 book by Berger and Luckman), nor even on its collective ‘accomplishment’ in a more American pragmatic vein. Today the attention rather focuses on

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If a distinction between what theatre is and what it is not is taken to be essential to the efficacy of theatre as an interpretative metaphor, we might wonder if the latter is not reaching its limits at a time of ‘société de spectacle’, of digital capitalism and ‘fake news’, when the very boundaries between the ‘real’ and the ‘virtual’, truth and fiction, appear to be constantly challenged.

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the performance: i.e. the spectrum of performative practices – such as gestures, mise en scène, rhetorical devices and narrative or dramatic structures – sustaining a fleeting sense of shared ‘reality’, or at the very least, assumed ‘authenticity’. Such practices, moreover, are in need to be constantly performed and reperformed, re-produced within and across specific situations and social contexts, be these rather private or public, ordinary or extraordinary, and above all, far from confined to the more dramatic performative aspects of public or sacred rituals as traditionally understood, such as rites of passage, religious ritual practices, rites of coronation, ceremonial investitures into high public positions, convening of political assemblies. Remarkably, this concern with the theatrical, performative aspects of social life, be these more or less ritualized, also cuts across diverse, even antagonistic trends of sociological thought. It is as useful and attractive a point of view for currents of critical sociology (i.e. propounding a systematic stance of hermeneutic suspicion geared to the unmasking of actors tacit, hidden interests), as it is to interpretative trends giving heuristic priority to the study of social actors’ own understandings and meaning making. Both, critical and interpretative styles of approach thus share an increasing interest in studying not only what is said or kept tacit, displayed or hidden, but also how this is performed, and further, what makes a felicitous, convincing vs. a failing, unconvincing type of performance. What does count for a successful performance does remain somehow enigmatic – often with reference to an experiential dimension of ‘flow’, intense attention and emotions, or ‘fusion’ on the part of the spectators.4 Yet there seems to be a wide agreement that performance is most successful precisely when one happens to ‘forget’, at least for a while, and somewhat paradoxically, that it is a performance. As aptly phrased for example by Bernhard Giesen (closely related to the Yale current of cultural pragmatics mentioned above), when discussing the importance of ritual performance in particular for what he calls the “poesis of social reality”: No construction of social reality can entirely dispense with this constitutive poesis of the social – there has to be an ultimate horizon where we simply give up the doubts as to

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In Alexander’s cultural pragmatics, for example, the quality of a performance is affected by how it brings together a number of interdependent, if also analytically and empirically autonomous components: collective representations – background symbols and foreground scripts, actors, audience, means of symbolic production, mise en scène, social power (see e.g. Alexander 2004).

130 | I LANA F. SILBER whether the action is staged or spontaneous, artificial or authentic, true or false, and where we ignore any further questions and take the performance for real. (Giesen 2006: 340)

If so powerful and pervasive in current theoretical rendering of social life in general, the metaphor of theatre might seem to be no less relevant to the gift. Some difficult issues cannot fail to emerge, however, in such regard. Stating it a bit simply and provocatively: if “everything is theatre”, and gift interactions as everything else are also theatre, how are we to tease out the relation between the two? The question becomes even more challenging, if we add, again in provocative and simplifying terms, “everything is gift”. This lesser known, condensed formula refers to the idea that much can be understood through the prism of the gift as itself a creative, foundational aspect of all social life – a line of argument developed for many years now, in the framework of a complex, comprehensive ‘neo-Maussian’ gift paradigm (e.g. Caillé 1994, 2000; Chanial 2008; Godbout 2007). From such a perspective, gift dynamics – suffused as they are themselves with elements of play and symbolic recognition not unlike those attached to theatre – (Caillé/Chanial 2015; Hénaff 2009; Lazzeri/Caillé 2007), may even be placed at the very root of the theatric dimension of social life as such. I shall not claim to provide a proper answer to these difficult, fundamental and foundational questions for now. Yet precisely focusing on gifting and related gift processes will help us see that however pervasive the impact of the theatre metaphor might seem to be, it has actually been applied in a selective fashion to the empirical and theoretical study of some aspects of life more than others and by mobilizing some aspects of theatre itself rather than others – thus also limiting its possible traction as a theoretical metaphor in general and in the field of gift giving in particular.

3. T HEATRICAL T HINKING AND THE G IFT : A S URPRISING O CCLUSION In all senses considered above (and bracketing out for now the more foundational issues just broached), theatre as a metaphor would seem to be eminently applicable to the topic of the gift, or what I prefer to call gift processes. Giving, receiving, returning, exchanging gifts might even be seen as performative practices by excellence. So much depends not only on what is given, but also how. For example, it is enough to attach a ribbon around an object indeed, wrap it in a special paper, or give it at an unexpected moment or place of interaction (under a napkin on the recipients plate for example) to frame it as a gift, removing it thus

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from the more ordinary movement of objects in our social environment. But gifts may equally become the occasion for an elaborate flurry of practices, even full blown rituals with a structure, phases and sequences of their very own – all much depending on their performative, processual unfolding between not only donor and recipient, but also a group of witnesses or an audience. Enough to think for example of Christmas presents, first piled in some way in a visible site near the tree, only opened at a later point, in presence of everyone present and so on (Berking 1999; Cheal 1986); or jumping to a very different context, that of large scale philanthropic gifts, the unveiling of a commemorative plaque celebrating a donor’s gift to an institution, or the public, dramatic announcements of mega donations by the very wealthy, whereby names such as Warren Buffet, Bill Gates, Mark Zuckerberg and more have become common knowledge across the world (a topic I shall return to later). Surprisingly enough, however, these performative, dramaturgic aspects of gift interactions have not received enough attention. I do not mean to say of course that no attention has been paid to the symbolic and even ritual aspects of gift interactions in general, and their meaningful implications for the expression and shaping of social relationships between donor and recipient in particular. On the contrary, there is a wealth of studies in that direction. But more often than not, the tendency has been to apply a very general paradigm of symbolic performance and interaction, whereby any and all meanings might be attached to a gift interaction as to any other social event, essentially depending upon the symbolic interaction and ongoing definition of the situation between the entailed parties in specific, usually face to face contexts. What is kept out of sight in this type of general, diffuse symbolic interactionist perspective, for present purposes, are the symbolic and relational dynamics of giving/gifting as a particular pattern of social interaction, with its very own patterns and very own, complex charge of pulses, tensions and contradictions – such as the tension between interest and disinterestedness, freedom and obligation, reciprocity and non-reciprocity – amply brought into relief (however varyingly interpreted) by many, starting with Marcel Mauss, in a vast and expanding body of writings (e.g. among many more, Adloff 2016; Berking 1999; Bourdieu 1977, 2000; Caillé 2000; Godbout 2007; Komter 2007; Osteen 2002; Schrift 1997; Silber 2000, 2009, 2014; Vandevelde 2000). This has combined with the neglect, moreover, of the performative aspects of gift processes as such, and even more significantly here, those aspects revolving around the distinction between actors and audience. Too often the tendency is to assume a dyadic structure of donor/recipient, where those on the receiving side are the only audience, or to see them both as anyway partaking of a general, ab-

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stract or unconscious structure (such as Levi Strauss’ idea of generalized exchange) – both options equally ignore that gifting is very often a public event enacted or performed in and even sanctioned and otherwise monitored by the presence of others. A similar neglect of gift interactions and their performative and theatrical aspects is found – even more surprisingly so – in the context of symbolic anthropological theory. Few could be more intently attune than Victor Turner and Clifford Geertz to the interpretative power of theatre as an interpretative and theoretical metaphor. Enough is to recall here, for example, Geertz’ work on Negara as the “theatre state” (Geertz 1980). In Turner’s case, this even entailed an active personal as well as theoretical interest in theatre, richly attested in his deep association with Richard Schechner (see Turner 1982; and Turner’s foreword to Schechner 1985). Yet neither displayed any special interest in gift processes and relations as such, to my knowledge at least, nor ever tried to explore the relation between gift and theatre from any direction. In contrast, I submit, we do need to attend to those symbolic relational and performative ‘theatrics’ of gifting that appear to be constitutive of gift interactions as a distinctive mode of social interaction. Yet with that aim in mind, it is nevertheless to a text by Geertz, precisely, that I now wish to turn attention, namely his all famous analysis of the Balinese cockfight as deep play (Geertz [1972] 2005), even though it has nothing to do with the gift indeed, or so it would seem at least.

4. G IFT

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D EEP P LAY : A N OTE

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G EERTZ ’ ‘N OTES ’

So why should we “take note” from a text which Geertz himself modestly titled as just a few “notes” on the Balinese cockfight, yet became perhaps the best known of his writings and one of the most famous texts in symbolic anthropology and even cultural theory at large? To recall, Geertz describes a situation in which cockfights were banned as illegal at the time and looked upon with contempt, as primitive and backward, by Bali’s social elites yet nevertheless kept on being repeatedly arranged and followed with riveting, even ferocious intensity in the public square – fueled by an elaborate system of monetary betting, and ideally pitting two equally matched roosters in a fight to the death. I shall not enter here into the detail of Geertz’ rich, “thick” interpretation, limiting myself to his emphasis on two aspects of these fighting events in particular: a stark reversal of Balinese usual norms of restraint and aversion to bestiality, and deep seated

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emotions having to do with the dramatic, dramatized (if also unconscious) representation of virility and status rivalry. More immediately important here is the fact that Geertz is reticent to simply categorize the cockfight phenomenon as a ritual, game or gambling,5 and rather prefers to borrow Bentham’s concept of deep play, referring to “play in which the stakes are so high that it is, from his utilitarian standpoint, irrational for men to engage in it at all” (Geertz [1972] 2005: 71). Very quickly though Geertz gives that notion a more symbolic and anti-utilitarian slant of interpretation: “in such play, money is less a measure of utility, had or expected, than it is a symbol of moral import, perceived or imposed” (Geertz [1972] 2005: 71).6 Reading this account with an eye to research on the gift, I cannot but draw attention to the many affinities with Mauss’ rendering of the potlatch as an extreme form of gift exchange, with its deep and dramatic agonistic pulsions, dynamics of status competition, spending of wealth to the point of destruction, and underlying searing violence. In all such ways, the notion of deep play would seem to apply to agonistic, potlatch like forms of gifting no less than to Balinese cockfight indeed. Both phenomena, moreover, are essentially public events, the dramatic intensity of which needs be understood, at least in part, from their taking place in the public eye, in sight of others, in front of an audience. Yet there is another reason I wish to take a new look at this text by Geertz for present purposes, which has to do with something that he mentions very early on, on the second page, but leaves out unattended after that, namely that the instance of cockfight he first attended shortly after entering his field of work was taking place to raise money for a new school: My wife and I were still very much in the gust of wind stage, a most frustrating, and even, as you soon begin to doubt whether you are really real all, unnerving one, when, ten days or so after our arrival, a large cockfight was held in the public square to raise money for a new school. (Geertz [1972] 2005: 57, emphasis added)

And a bit lower, referring again to the fact that cockfights were illegal and because of that were often held in more secluded places:

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Geertz does record minor forms of gambling (by lower status actors, women) surrounding these events, but does not see gambling as the hard core of these events. The idea of play itself, as a universal dimension of human life, perhaps even the foundational matrix of social life as such, has an important pedigree in the human sciences which Geertz does not refer to in his text, such as Johan Huizinga’s 1938 Homo Ludens, Caillois’ 1958 Les jeux et les hommes in particular.

134 | I LANA F. SILBER In this case, however, perhaps because they were raising money for a school that the government was unable to give them, perhaps because raids had been few recently, perhaps, as I gathered from subsequent discussion, there was a notion that the necessary bribes had been paid, they thought they could take a chance on the central square and draw a larger and more enthusiastic crowd without attracting the attention of the law. They were wrong. (ibid. [1972] 2005: 57)

The cockfight, in others words, in this instance at least, was taking place in a context of giving for a public cause, or as I prefer to term it, public giving. I do not wish to exaggerate the significance of that fact, as it also emerges that cockfights could be held in various contexts, and for a variety of reasons – including probably no reason at all, or as a form of art, another term Geertz also uses occasionally later in the article (Geertz, 2005: 65, 69). Yet neither is it an altogether random, insignificant detail, as Geertz also explains a bit later that in classical times, much in contrast with their current illegal status, cockfights had a major component of “civic virtue” and were even a compulsory duty of citizenship: In classical times (that is prior to the Dutch invasion of 1908) [...] the staging of a cockfight was an explicitly societal matter. Bringing a cock to an important fight was for an adult male a compulsory duty of citizenship; taxation of fights, which were usually held on market days, was a major source of public revenue; patronage of the art was a stated responsibility of princes; and the cock ring, or wantilan, stood in the center of the village near those other monuments of Balinese civility. (Geertz [1972] 2005: 65)

Be this as it may, I can only regret that Geertz never goes on to elucidate that connection between cockfight and fundraising for a school with the same detailed attention he applies to other aspects of the cockfight events: how does this take place precisely, which betting gains are or are not directed to that benefit, how are they pooled together, depending on whom and what, with what kind of negotiation or emotions entailed, as carefully regulated as the cockfights themselves or not, etc. The point is, for now, that cockfights need be understood as taking place in the context of a specific state of the public arena, which they both shape and are shaped by. Their meaning and intensity, or “depth of play” might have something to do not only with the specific elements of “thick description” which Geertz emphasized, but also aspects of the Balinese public sphere which he alluded to but remained marginal to his interpretation: a public sphere, in this case, where the gains stemming from betting can and are at least sometimes meant to be channeled into donations to a public cause (here, building a new school to

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compensate for the failure to do so by the government); a public sphere, to boot, where cockfights, besides being considered illegal, and thus safer to enact in hiding, are still tempting or virtuous enough to be staged in public sight precisely, and might perhaps even still somehow continue or connote a not too distant past when they were a legitimate, even official vector of public virtue. Geertz’ analysis of cockfights has been both praised and criticized on many grounds – be it empirically, methodologically or theoretically – a debate I shall not join right now.7 What I focused upon in this brief ‘note’ to Geertz’ “notes” is his suggestive idea of deep play, the intensity and meaning of which, or as he also says, “moral import” needs to be interpreted not only in the context of Balinese culture and human life at large in the specific terms he suggested, as “a Balinese reading of Balinese experience; a story they tell themselves about themselves” (Geertz 2005 [1972]: 82), but also, I submit, as aspects of the Balinese public sphere/stage, which appeared on the margins of his analysis, and might well have affected, perhaps even intensified its public import and performance, precisely, as deep play. There may well be additional aspects of that public arena to be taken into account, of course, which only specialists of Bali culture could help us identify. As it emerges from Geertz’ text at any rate, cockfights constitute a form of agonistic art, now officially illicit and held in contempt but invested with civic virtue in the past, yet still held in public display and occasionally serving as a way to raise funds for a public cause (a school) otherwise insufficiently provided for. If cockfights could be experienced as deep play, in other words, it is also because they had to do, to some extent at least, with public giving in the context of a specific, rather hostile configuration of the public sphere. As Geertz makes it clear not all instances of cockfights are equally deep and dramatic, much depending, as he also specifies, on the amount of betted money at stake, and precise matching of the cocks. Similarly, not all instances of agonistic giving need to be equally intense and violent, even as they still entail a dimension of deep play. In that vein, much the same may be said, I submit, of all forms of gift interactions in fact, even those much lower on the scale of agonistic competition and violence; and no less so with regard to public giving, i.e. donations given publically, in and for the public sphere. Generalizing the argument beyond the case of Bali, public giving, i.e. giving in public and for a public cause, might be partly channeled via recurrent, intent, dramatic forms of deep play, as it appears could be the case with cockfights in 7

Especially relevant here, if not only focusing on that specific text, see the rich collection of texts reevaluating Geertz’ legacy as a whole from a cultural sociological point of view in Alexander/Smith/Norton (eds.) 2011. See also Smith 2008 and Céfai 2008.

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Bali in classical times. But it might also coexist, compete or overlap with them, as seems to become increasingly the case in contemporary contexts, where it would appear to be quite inconceivable to mobilize philanthropic giving via the medium of a cockfight, but on the contrary becomes conceivable, even normal to do, via the medium of a rock star concert, or the good will of especially wealthy individuals. I shall pursue now with a few thoughts concerning what makes for that (variable) element of deep play in public, philanthropic giving of that latter sort precisely, by the very wealthy. Public giving is thus approached here as a spectrum of events that may bear affinities, as well as coexist or compete, with other types of symbolically charged public events and interactions, and may similarly vary in dramatic charge and intensity. However, I submit, it also displays symbolic relational performative dynamics of its very own and draws its moral import and dramatic intensity – its “depth of play” – from a distinctive range of meaningful tensions and paradoxes. Reaching for a fuller understanding of public giving and its specific theatrics, I contend, requires supplementing any form of culturally “thick” contextualizing interpretation (be in it Geertz’ personal style or other) with a systematic attention to the gift’s distinctive set of tensions and paradoxes, and to the public sphere in which that form of giving takes place.

5. D EEP P LAY

AND THE

T HEATRICS

OF

P UBLIC G IVING

Among the many reasons that still make Mauss’ writings a lasting fount of inspiration, as noted above, is his path breaking conceptualization of the gift as a complex phenomenon, charged with a distinctive set of tensions and contradictions. Strongly intimated in his Essay on the gift already, and further elaborated in research on the gift to this day, is the paradoxical and uncertain character of gift relations and processes; their contradictory combination of utilitarian and non-utilitarian motives, freedom and obligation; the element of risk or bet, the entailed indeterminacy and undetermined stretching in time between giving and returning; the possibility of both reciprocity and non-reciprocity; solidarity and competition; and closely related to all these, in sum, the lability, volatility and unpredictability of a gift’s implications. In sum, one can never be sure if a gift will be given or not, accepted or not, returned or not, why and how precisely, with what fluctuating, and often internally contradictory interpretations and im-

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plications, ranging from benevolent, communicative and peaceful to threatening, controlling and violent.8 For better or for worse, at any rate, a gift interaction is seldom devoid of implications. To that extent, the difference when compared with cockfights, in Geertz’ understanding at least, could not be greater, as he repeatedly stresses that cockfights never bring any change in real life, of status or otherwise, for those taking part in it. In contrast, gifts have a distinctive power to both express, register the state of a social relationship, maintaining or on the contrary modifying it; they may as well infuse a relationship with mutual respect, love and recognition as end up rather igniting hostility–even if in ways far from automatically corresponding to the conscious intent of the donor. As the historian Natalie Davis put it aptly when writing of gifts in 16th century France, “gifts can go wrong” (Davis 2000: 110). Giving, in other words, tends to entail a degree of enhanced emotional intensity, and a sense of risk or ‘suspense’ (for both donor and recipient, as well as any witnessing party), not unlike those attached to the idea of deep play. All of the above, I contend, remains richly relevant to public, philanthropic giving, be it in past or present contexts. Still, we need to complement gift theory so as to address not only gift interactions in the sphere of proximate, face to face relations but also gift processes in the public sphere in general, and mega donations by the very wealthy in particular. More than hitherto taken into account, I wish to argue, much depends on the place the gift has come to occupy, been made or allowed to occupy, in the public space. However contradictory, restless and enigmatic giving may be, as just underscored above, we need to recall that it has been valorized and extensively institutionalized in many cultural and political traditions, past and present, thus also spawning not only fleeting face to face practices but also institutions that were and still are major features of the public sphere in many parts of the world. Rather than only one dominant ideal, normative practice or institution, moreover, we can usually identify various forms of ideals and practices of public giving coexisting or competing within diversified ‘gift repertoires’ – such as charitable help to the needy, festive largesse, political tributes, donations to religious or cultural institutions, sponsoring of arts and sciences, beautification of the public

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Perhaps one of the most important developments in gift theory since Mauss is the contribution of typologies of the gift, distinguishing between types, dimensions or ‘components’ of gift giving, and usually approaching these not in terms of absolute distinctions and dichotomies but rather flexible, variable categories of analysis. For a more detailed review of such trends see Silber 2007.

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space in cities – be it by individuals or organized donating entities (foundations, nonprofit organizations, states). What is now addressed as elite philanthropy, i.e. mega donations of private wealth for public causes, given by donors in positions of wealth and/or power, is thus far from being a new phenomenon. Neither is the part it can come to play in the public sphere. Starting with Paul Veyne’s magisterial study of evergetism in the cities of Late Antiquity, historians have by now done much that helps us understand how giving for the public good (“giving for the city”) was not only a way for the wealthy and powerful to express their persona in the public sphere, but also a practice deeply infused with symbolic relational dynamics, intertwining with the expectations and reactions of an audience of citizens and plebs; a practice, moreover, profoundly hierarchical and unilateral in some ways, but also sustained by official rewards and expressions of public recognition in other ways (Gygax 2016; Veyne 1990; Silber 2011). Jumping over many centuries and glancing now, if only all too briefly, at philanthropic donations by the very wealthy in our own times, we need to start to explore the symbolic and relational dynamics of giving, as well as the relevant features of the public stage on which giving is still deployed as a public practice and performance and may develop its own, variable breed of deep play. Clearly enough, elite philanthropy is currently carving itself a place of growing visibility and importance in the public arena worldwide. Mega donors and their latest rates, patterns and policies of giving are quickly aired and scrutinized by all types of media. Contributing to philanthropy’s high profile, moreover, is the advent of more assertive, ‘high engagement’ forms of philanthropy, now often gathered under the umbrella of “philanthrocapitalism” (Bishop/Green 2015), as well as the part played by so-called “celanthropy” (philanthropic engagements of movie stars and other celebrities) and a series of highly publicized, dramatic gestures of individual philanthropic commitment – such as the “Giving Pledge” launched by Bill Gates and Warren Buffet in 2010, the Zuckerberg-Chan announcement in 2015 of their intention to donate 99% of their Facebook shares during their lives, or most recently, Jeff Bezos’ unprecedented seeking of public input on Twitter on how he should best allocate his wealth, followed a few months later by the announcement of a massive donation to a politically controversial cause (TheDream.US). Together with this formidable rise in visibility and prominence, however, comes a huge ambiguity and ambivalence in the overall cultural and public sta-

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tus of philanthropy in general and elite mega-donors in particular.9 Criticism and suspicion abound and appear to reflect not only practical but also more profound cultural and political divides and dilemmas in ways that I cannot describe within the limitation of the essay here. My argument, though in a nutshell, is that while mega public giving is increasingly prominent and in the public eye, it also lacks the more solid institutional props and ideological sources of legitimacy (be these religious or not) it was able to secure in some major pre modern settings. But if this is the case, it is also to a large extent because the public sphere itself, or what can count as such, is undergoing sweeping changes: shrinking welfare states, declining trust in governments and in a public sphere that is increasingly ‘mediated’, fragmented, unprecedented levels of socio economic inequality and concentration of wealth among the top wealthy in an era of uncontrolled financial and digital capitalism – all of this cannot but undermine the propensity to trust those among the very wealthy (be these individuals or corporate entities) engaging in public giving. This in turn cannot but enhance the sense of risk and intensity, of moral import and symbolic drama for those megadonors willing to “enter the scene”, join in the public display of wealth given away, thereby exposing themselves to the uncertain ebb and flow of respect and recognition, or on the contrary hostility and contempt, perhaps even worse, cool indifference, of the public at large. Clearly enough, there is a vast arena of possible variations and distinctions that needs to be empirically examined (and no less vast an arena of methodological and theoretical challenges), on our way to try to understand how and why and in what contexts, vis à vis which audiences, some mega donors and/or philanthropic practices appear to muster a better public image, deploy a more convincing performance and with what implications. Looking at current criticisms of elite philanthropy at any rate, it is not difficult to identify the lasting impact of the perennial set of tensions and contradictions associated with gift-giving in general as just discussed above. But further affecting public giving, and intensifying it as a site of controversy and deep play, is an additional source of tension, eminently relevant to any form of theatric metaphorical thinking: namely, the tension between display and secrecy, i.e. performing the gift in a visible and explicit way, or keeping it rather hidden, invisible and tacit.

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There is still no systematic, comprehensive empirical analysis of this state of affairs. See however, recently, for various styles of work and viewpoints: Acz, 2013; Bishop/Green 2015; Callahan 2017; Goss 2016; Hall 2013; Lindsay 2017; Reich/Cordelli/ Bernholz 2016; McGoey 2011; Warren/Bell 2014.

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Of course, this tension is far from new. It finds a strong legacy in religious traditions that have long given special, ideal value to the unilateral, disinterested or “pure” gift (Parry 1986). Ideal giving, in such traditions, is giving that is not only nonreciprocal in intent, but also discrete, non-ostentatious, or even better, kept secret.10 Even then, however, the tension between display and secrecy was never entirely settled. Leafing through Starobinski’s magnificent volume Largesse, with its rich selection of visual and literary artistic treatments of the display of generosity, is enough to testify to the presence and intensity of that dilemma across many times and contexts (Starobinski 1994).11 The dilemma, in any case, is not just a past, ancient one: on the contrary, we witness analogous debates in our own times concerning the virtues of keeping one’s giving anonymous vs. allowing it to be publicized so as to encourage others to give likewise (Schervisch 1994). But be that as it may, the issue clearly acquires special intensity and becomes urgently ‘dramatic’ with regard to mega donations by the very wealthy, the more so in light of the current undermining of trust in the public sphere in general and in the very wealthy in particular. Perhaps one of the most significant and difficult questions for present purposes, is: how are we to identify the audience and public stages, or arenas that are empirically relevant to the symbolic relational dynamics of public giving?12 Obviously enough, not all public giving comes from the very wealthy only (far from it), and not all mega-giving comes to be expressed in the highly, globally visible mode of public announcements and twitters by mega donors. Most significant for present purposes, public giving is in fact increasingly performed in the context of an only partly visible, expanding field of potential and intertwined actors and audiences – such as peer donors, fund raisers, consultants, mediators, and recipients – some of which are precisely geared to protecting donors’ secrecy. It is in such a context that one needs to address elite philanthropy in our times as not only expanding but also increasingly prone to the deployment of new performative practices, new theatrics, which remain very much to be explored in precisely such terms. 10 This idea is echoed in Derrida’s approach to the gift – as basically “impossible” since it stops being a gift at the very moment it is known to be so. 11 Taking early Christian texts for example, it is enough to mention here the already indecisive stand emerging from the Sermon on the Mount, both recommending secrecy of course, but also not hiding the shine of good works too much either, “so that others might be inspired to do likewise and thus glorify God in heaven” [Matt. 5, 15] (Starobinski 1994: 57). 12 For similar issues in connection to pointedly political performances see Binder 2017; Wherry/Lichterman/Berezin 2014. See also, suggesting a diversifying approach to performance, Reed 2006; and addressing related questions of cultural resonance McDonnel/Bail/Tavory 2017.

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Images of performance and deep play, however potent as tools of cultural analysis, cannot exhaust the complex and new ways in which mega donors negotiate their own and others’ practical and moral dilemmas, as well as matters of relative status and power, in increasingly diverse social and institutional arenas. But however chaotic the current state of affairs may seem, I hope to have at least conveyed the need to further mobilize the power of performative metaphors in highlighting the cultural dynamics of public giving, and their production of varied configurations of play and display, in so many old and new micro, meso and macro theatres.

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Resonanz und Performanz: Theatertheoretische Positionen

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„Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Gabentausch im Theater und die Phänomenologie der Aufführung J ENS R OSELT

Abstract “We really do not need that.” – Exchange of gifts in the theatre and the phenomenology of the performance: Contemporary theatre shows a lasting interest in the possibilities and limits of encounter and participation. Here, various scenic forms are developed, which pick up on the status of the actors and the position of the audience, editing and reflecting it. The article deals with the risky operations which demand or exact much and provoke resistance from each participant of a performance – in the audience and on the stage – and which for a brief moment put everything at risk. Here it is proposed to understand the relationship between the stage and the audience as an exchange that takes place in performances as a dialogical intermediate event. The gift appears – so the thesis – as a special form of the answer, which is able to throw the exchange between stage and audience out of balance, where extraordinary performance situations and special forms of aesthetic experience are possible.

E IN Z USCHAUER

GEHT RAUS

„Das brauchen wir nun wirklich nicht“, stöhnte ein Zuschauer in der Berliner Schaubühne am Ende einer Aufführung von Herbert Fritschs Zeppelin-Inszenie-

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rung.1 Dass die gut eindreiviertelstündige Aufführung gleich zu Ende sein werde, verriet dem Publikum sowohl ein Blick auf die Uhr, als auch die Sicht auf die Bühne. Denn was sich dort zeigte, war nicht nur von gewieften Theaterzuschauern als Schlusstableau zu lesen. Der Bühnenraum wurde von einem skulpturalen Zeppelingerüst beherrscht, auf das die Darsteller geklettert waren. Sie richteten ihre regungslosen Körper frontal zum Publikum aus, blickten mit weit aufgerissenen Augen in den Zuschauerraum und ihre Mimik schien zu zeigen, dass sie den zu erwartenden Applaus schon hören konnten. Links und rechts der Konstruktion standen eine Schauspielerin bzw. ein Schauspieler an der Rampe. Beide streckten und spannten ihren Oberkörper und hielten ihre Arme von sich, als würden sie jeden Moment zur Verbeugung ansetzen. Am Rande der Bühne gab es noch den Musiker des Abends, der an einem Synthesizer einen grummeligen Ton im Raum vernehmbar machte. Nach einigen Sekunden setzte dieser Ton aus, und es war still. Als Zuschauer konnte man ahnen, dass nach einigen weiteren Sekunden ein Black die Bühne in Dunkel hüllen würde, wonach frenetischer Applaus zu erwarten war. Denn bis zu diesem Moment hatte die temporeiche Inszenierung ihrem Publikum durch slapstickartige Körperkomik sowie die Rhythmisierung und Musikalisierung der Bühnenvorgänge ein Gefühl für Timing vermittelt, das in jeder Szene einen überraschenden Höhepunkt erwartbar machte. Diese Ereignisdramaturgie des ganzen Abends hätte durch ein abruptes Black ihren gekonnten Abschluss erfahren. Doch das Licht blieb an. Es gab kein Black. Das Tableau wurde gehalten. Es passierte offenbar nichts. Ensemble und Publikum schwiegen sich gegenseitig an.2 Eine dergestalt unklare Situation am Ende einer Aufführung gehört durchaus zum Alltag von Zuschauerinnen und Zuschauern im Theater. Man weiß nicht genau, ob Schluss ist und fragt sich, was die Schauspieler nun von einem erwarten. Jeder für sich und alle zusammen stehen dann vor der Aufgabe, den diffusen Moment zu lösen und den ritualisierten Schluss einer Theateraufführung herbeizuführen. Es kam also, wie es kommen musste: Nach einer gefühlten Ewigkeit erbarmte sich jemand im Dunkel des Parketts und spendete einen beherzten, kurzen Applausimpuls, dem ein kleinlaut verebbendes Nachklatschen folgte. Diese Strategie funktioniert, wenn andere Zuschauer die Initiative aufgreifen und kollektiv verstärken, indem sie in den Beifall einstimmen und die Schauspielerinnen 1 2

Zeppelin, frei nach Texten von Ödön von Horváth, Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Premiere am 19. September 2017, Aufführungsbesuch am 27. September 2017. Claudia Benthien hat solche kollektiven Schweigesituationen als Merkmale des neueren Theaters untersucht und gezeigt, dass die Schauspieler durch ihr „Zurückschweigen“ dem Publikum seine für das historische Modell des dramatischen Literaturtheaters konstitutive Stummheit spiegeln und es so „in seiner Passivität und Rezeptivität“ entblößen (Benthien 2002: 178).

G ABENTAUSCH

IM

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UND DIE

P HÄNOMENOLOGIE DER A UFFÜHRUNG

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und Schauspieler mehr oder weniger erleichtert ihre Pose auflösen. Bei Zeppelin funktionierte das jedoch nicht. Im Moment, da der Applausimpuls ertönte, machte der Schauspieler an der Rampe mit Blick auf den Applausherd eine beschwichtigende Geste der Hände, die zu sagen schien: Es ist noch nicht Schluss. Bitte nicht applaudieren. Zumindest scheint das im Publikum so verstanden worden zu sein. Denn es wurde wieder still. Gespannte Erwartung erfüllte den Raum. Nichts passierte. Das Licht blieb an. Dann versuchte es eine ganze Gruppe von Zuschauerinnen und Zuschauern, sich mit einem erneuten Applausimpuls durchzusetzen. Wieder versuchte der Schauspieler an der Rampe durch Gesten und Blicke Ruhe herzustellen. Doch so schnell wollte die ungebetene Claque nicht nachgeben. Die Gruppe erhöhte gar die Schlagfrequenz, als wollte sie das Ensemble zum Verbeugen zwingen und so das gesamte Publikum erlösen. Das gelang nicht. Denn auch der Schauspieler verstärkte seine Gesten und gab seinem Anliegen so eine gewisse Dringlichkeit. Die renitenten Applaudeure verstummten schließlich. Nachdem sich der Ablauf von Applausversuch und Unterdrückung wiederholt hatte, verließen die ersten Zuschauer zügig den Raum. Man hörte kein empörtes Türenknallen. Nur der eine oder andere kopfschüttelnde Kommentar wurde hörbar: „Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Der Mann, der das sagte, ging entschlossen raus. Wie lange das so ging und weshalb es dann beendet wurde, lässt sich aus dem Gedächtnis nicht mehr genau ermitteln. Schließlich aber lösten die Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne das Tableau auf, kletterten vom Gerüst und kamen an die Rampe, wo ihre entspannte Körperhaltung und lockere Mimik dem Publikum zu zeigen schien, dass sie nunmehr bereit waren, den Beifall zu empfangen. Dieser setzte auch prompt ein. Musik ertönte und mit einer exakt geprobten, schmissigen Applauschoreografie fand der Abend für alle, die noch da waren, ein versöhnliches Ende, dessen Affirmation allenfalls durch eine Nachfrage getrübt werden konnte: Was sollte das eben? Rekapituliert man die beschriebene Situation mit einem Gedankengang, der von der Idee der Gabe inspiriert ist, lässt sich der Satz „Das brauchen wir nun wirklich nicht“ wie folgt verstehen: Die Formulierung deutet darauf hin, dass eine Art Gabe im Raum stand, deren Annahme der Zuschauer allerdings zurückwies. Ob diese Ablehnung seiner Irritation geschuldet war oder der souveränen Entscheidung an dem vermeintlichen szenischen Experiment nicht teilhaben zu wollen, muss offen bleiben. Sicher aber ist, dass die Ökonomie des Tauschhandels zwischen Bühne und Publikum, der in dieser wie in vielen anderen Inszenierungen des Regisseurs eigentlich prächtig floriert, aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Soll und Haben waren nicht mehr ausgeglichen. Die Bühne bot mehr, weniger oder anderes, als

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mancher im Publikum erwartete, brauchte oder wollte. Die Gabe erschien als Zumutung angesichts derer man mit der Titelfigur von Hermann Melvilles Erzählung Bartleby hätte sagen mögen: „I prefer not to do.“ Damit riskierte die Aufführung der ansonsten durchaus gefälligen Inszenierung am Schluss sehr viel. Sie machte aus einem kultivierten eben noch zufrieden gestellten Schaubühnenzuschauer einen äußerst unhöflichen Zeitgenossen, der eine Gabe brüsk zurückwies, die ihm angeboten oder sogar geschenkt wurde. Als Zuschauerin oder Zuschauer des zeitgenössischen Theaters allerdings kann man solche extremen Situationen kennen, in denen der geregelte Tauschhandel nicht mehr zu funktionieren scheint, wobei die Gabe im doppelten Sinne problematisch wird: Man bekommt zu viel bzw. etwas, das man nicht braucht, nicht will oder nicht erwartet hat. Und man weiß selbst nicht genau, was man erwidern, zurückgeben oder antworten soll. Im Folgenden soll der Überlegung nachgegangen werden, dass gerade solche Momente explizit machen, was Aufführungen generell kennzeichnet. Es geht um jene Formen und Verfahren von Teilhabe im Theater, die Theatererfahrung auf der prekären Schwelle von Zutrauen und Zumutung verorten. Die Schlusssituation von Zeppelin wäre demnach weder als Inszenierungspanne, noch als gezielte Provokation oder als kollektives Rezeptionsversagen des Publikums zu betrachten, sondern als ein emergentes Geschehen, das sich zwischen Bühne und Publikum ereignete. Das Interesse richtet sich damit auf jene riskanten Operationen, die jedem einzelnen Teilnehmer einer Aufführung im Publikum und auf der Bühne viel zumuten oder zutrauen, die Widerständigkeit provozieren und mit denen für einen kurzen Moment alles aufs Spiel gesetzt wird. Hierfür wird vorgeschlagen das Verhältnis von Bühne und Publikum als einen Tauschhandel zu verstehen, der sich in Aufführungen als dialogisches Zwischengeschehen vollzieht. Dabei wird auf die Phänomenologie von Bernhard Waldenfels Bezug genommen, um die Wahrnehmung von Zuschauerinnen und Zuschauern von deren Responsivität her zu verstehen. Die Gabe erscheint dabei – so die These – als eine besondere Form der Antwort, welche den Tauschhandel zwischen Bühne und Publikum aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag, wobei außerordentliche Aufführungssituationen und besondere Formen ästhetischer Erfahrungen möglich werden.

AUFFÜHRUNG

ALS

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Momente wie die genannte Schlusssituation von Zeppelin provozieren nicht nur die Zuschauerinnen und Zuschauer im aktuellen Erleben einer Aufführung, sie

G ABENTAUSCH

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P HÄNOMENOLOGIE DER A UFFÜHRUNG

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stellen auch die nachträgliche Analyse des Vorgangs vor eine Herausforderung. Denn zweifellos wurde die Inszenierung vorher wochenlang minutiös geprobt. Jede szenische Handlung auf der Bühne beruhte auf wiederholbaren Festlegungen. Für jede Szene hatte das Ensemble im Probenprozess spezifische Strategien der Aufmerksamkeitslenkung und Publikumsbeeinflussung entwickelt und eingeübt. Dass ein Schauspieler die Applausversuche von Zuschauern ad hoc mit exakten Gesten zu unterbinden sucht, verweist darauf, dass auch die Akteure auf der Bühne Erwartungen gegenüber dem Publikum hegen und mit bestimmten Reaktionen rechnen. Und doch geschah durch die Zuschauerinnen und Zuschauer etwas, das sich der Planbarkeit und Kontrolle der Akteure auf der Bühne entzog. Den Satz „Das brauchen wir nun wirklich nicht“, hatte der Mann, der den Saal verließ, nicht auswendig gelernt. Im Moment, da er sich erhob, wusste er vielleicht selbst noch nicht, dass er sprechen und was er sagen würde. Seine Handlungen folgten keiner Regieanweisung. Der Abgang war nicht geprobt, eher schon passierte er. Mit anderen Worten: Er ereignete sich. Wenn Ereignisse sich aber durch ein gewisses Maß an Unplanbarkeit auszeichnen und Ereignishaftigkeit ein Signum von Theateraufführungen ist, wie kann man dieses ungestaltete, zufällige mithin beliebige Geschehen als einen ästhetischen Vorgang würdigen? Hierfür erscheint es zunächst notwendig die theaterwissenschaftliche Unterscheidung der Begriffe Inszenierung und Aufführung fruchtbar zu machen. Eine Inszenierung umfasst demnach sämtliche szenischen Elemente und ihr Arrangement. Sie bringt die Materialität der Aufführung in eine räumliche Ordnung und gibt ihrem Ablauf eine zeitliche Struktur. Anordnung und Ablauf einer Inszenierung folgen einem Plan. Ihre Dramaturgie ist geprobt und beruht auf Festlegungen und Absprachen der Beteiligten. In diesem Sinne kann eine Inszenierung als ein dichtes Gewebe verstanden werden, das die einzelnen Fäden des Theaters strategisch miteinander verknüpft, um eine bestimmte Wirkung hervorzubringen, eine Aussage zu treffen oder ein Thema zu verhandeln. Auch der eigentümliche Schluss von Zeppelin kann in diesem Sinne als Teil einer Inszenierung begriffen werden, was nicht zuletzt die strategischen Schweigegesten des Schauspielers zeigten. Gegenüber dem dichten Gewebe der Inszenierung erscheint deren Aufführung wie ein wildes Geschehen. Denn die Aufführung (einer Inszenierung) bezieht stets ein konkretes Publikum mit ein, das mitgeht, sich verweigert, entsetzt oder fasziniert auf die Bühne starrt und „Bravo“ ruft, mit den Türen knallt oder einfach verschwindet. Eine Aufführung ist als ein emergentes Geschehen zu verstehen, das prinzipiell unfertig ist, weil die Zuschauerinnen und Zuschauer es durch ihre Anwesenheit sowie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen mit her-

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vorbringen. Während eine Inszenierung wiederholt werden soll, wird jede ihrer Aufführungen einmalig. In diesem Sinne kann man Theateraufführungen mit dem amerikanischen Ethnologen Milton Singer generell zu den cultural performances oder eben kulturellen Aufführungen zählen, welche sich durch ihre besondere zeitliche und örtliche Verfasstheit, durch die Teilnehmer sowie ihren Ablauf und Anlass bestimmen und differenzieren lassen. Eine cultural performance hat demnach „a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance.“ (Singer 1959: xiii) An diesem Aspekt von Theater hat sich die neuere Theaterwissenschaft in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort des Performativen besonders interessiert gezeigt.3 Eine Theateraufführung kann demnach als einmaliges, vorübergehendes und nicht wiederholbares Geschehen gelten, das zwischen den Teilnehmenden spezifische Wahrnehmungssituationen schafft, die im Moment ihres Vollzugs erfahrbar werden. Eine Aufführung läuft demnach weder vor allem auf der Bühne ab, noch findet sie in erster Linie in den Köpfen des Publikums statt, sie ereignet sich vielmehr zwischen ihren Teilnehmern. Wenn eine Aufführung dergestalt von allen Beteiligten hervorgebracht wird, ist sie für einen Einzelnen oder eine Gruppe weder vollkommen planbar, steuerbar und kontrollierbar noch vorhersagbar. Gerade das hat die Schlussszene von Zeppelin eindringlich erfahrbar gemacht. Jede einzelne Person im Publikum wirkte am Verlauf der Aufführung durch ihr Verhalten mit. Ihr Handeln oder Unterlassen, ihre Kommentare oder ihr Schweigen sowie ihr Gehen oder das Bleiben hat andere Zuschauer beeinflusst und das Aufführungsgeschehen mitgestaltet. Eine Aufführung kann demnach nicht ausschließlich von den vermeintlichen Intentionen ihrer Produzenten erschlossen werden. Ihre Analyse sollte sich deshalb nicht darauf kaprizieren Aussagen der Regie darüber zu erhaschen, was sie wollte, dachte oder meinte (Weiler/Roselt 2017: 278f). Vielmehr müssen sämtliche wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren, mentalen und körperlichen, individuellen und kollektiven Erfahrungen sowie die vermeintlich wichtigen und scheinbar nebensächlichen Beobachtungen und Äußerungsformen des Publikums als konstitutiver Teil der Aufführung in den Blick geraten. Dass eine Aufführung für Einzelne nicht planbar ist, bedeutet zugleich, dass jeder Teilnehmer der Aufführung für ihren Verlauf mitverantwortlich ist, denn da „jeder einzelne – wenn auch in verschiedenem Ausmaß – sowohl den Verlauf der Aufführung mitbestimmt als auch sich von ihm mitbestimmen lässt, nimmt

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Grundlegend hierfür: Fischer-Lichte 2004.

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niemand ‚passiv‘ an ihr teil. Jeder ist insofern auch mitverantwortlich für das, was sich während der Aufführung ereignet.“ (Fischer-Lichte 2012: 12) Und man darf wohl jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin von Zeppelin unterstellen, dass er oder sie seinen bzw. ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen bereit war. Die schweigend Ausharrenden waren ebenso verantwortlich wie die mehr oder weniger schweigend Gehenden. Dieses Zwischengeschehen kann man durchaus als Tauschhandel begreifen, als ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Wobei diese Begriffsverwendung durchaus heikel ist, wenn man mit Tauschhandel und auch Gabe etwas verbindet, was sich früher oder später dingfest machen lässt, was sich materialisiert oder als verbalsprachliche (Ent-)Äußerung begriffen werden kann. Das ist bei Aufführungen aber wohl eher die Ausnahme. Die Erfahrung der Teilnehmer einer Aufführung lässt sich nicht messen oder aufzeichnen, sie geht vielmehr mental, intellektuell, sinnlich, körperlich und affektiv vonstatten, in einer Weise also, die sich zumeist erst in nachträglicher, erinnernder Beschreibung erfassen und reflektieren lässt. Umso relevanter ist es, mit welchen theoretischen Begriffen dieser Prozess bedacht wird. Eine aufschlussreiche Methode der reflektierenden Beschreibung bietet die Phänomenologie an, die nun in der Auslegung von Bernhard Waldenfels rekapituliert werden soll, um schließlich zu klären, welche Rolle der Begriff der Gabe in einer Phänomenologie der Aufführung spielen kann.

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Wenn man einen Schauspieler beobachtet oder die Stimme einer Sängerin hört, wenn man ein Requisit anstarrt oder den Blick durch den Bühnenraum schweifen lässt, wenn man einer Handlung folgt oder einer Melodie lauscht, wenn man sich über einen stinkenden Sitznachbarn aufregt oder merkt, dass man den Zuschauern hinter sich den Blick auf die Bühne verstellt, kurz wenn einem in Aufführungen etwas oder jemand ins Bewusstsein tritt, wird damit eine Beziehung zwischen dem Zuschauer und dem von ihm Wahrgenommenen hergestellt. Diese Bezogenheit von Bewusstseinsvorgängen bezeichnet man in der Phänomenologie als Intentionalität. Intendieren bedeutet, sein Streben auf etwas zu richten. Intentionalität meint also die Gerichtetheit, mit der sich jemand auf etwas bezieht, indem er es wahrnimmt oder sich vorstellt (Roselt 2008: 164ff). Wenn man Intentionalität „als allgemeine Grundeigenschaft des Bewusstseins“ (Husserl [1950]/1992: 35) jedem Akt der Erfahrung, der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Fantasie unterstellt, bedeutet dies, dass man wahrneh-

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mend nie ganz bei sich ist, sondern auf das bezogen bleibt, was man wahrnimmt. In diesem Sinne kann man mit Waldenfels feststellen: „Indem jemand etwas erlebt oder erfährt, ist er in sich selbst bei anderen, ist er außer sich, überschreitet sich selbst.“ (Waldenfels 1992: 16) Der Begriff Intentionalität kann in Zusammenhang mit Theater allerdings schnell missverständlich klingen, da Intention im Diskurs über Aufführungen häufig auf die Aussagen, Wirkabsichten oder Ziele der Produzenten bezogen wird, womit vor allem die auktoriale Position der Regie oder von Autorinnen und Autoren gemeint sein können. Aus phänomenologischer Perspektive haben aber auch Zuschauerinnen und Zuschauer Intentionen, indem sie ihre Wahrnehmung auf etwas richten und Dinge und Personen dergestalt ,als etwas‘ wahrnehmen. Wer aufmerksam wird für seine Blicke im Theater, kann feststellen, dass diese auf etwas eingehen, etwas verfolgen oder zu erhaschen suchen, das ihnen vorausgeht. Auch wenn man Wahrnehmung als Aktivität begreift, wird man also einzuräumen haben, dass die Wahrnehmenden keineswegs durchgehend souveräne Akteure sind, die ihre Blicke lenken und ihre Aufmerksamkeit steuern. Zuschauer im Theater werden vielmehr getrieben, ein Geschehen zu verfolgen und genötigt, auf etwas aufmerksam zu werden, das sich ihnen immer wieder entziehen kann. Genau das war in der beschriebenen Zeppelin-Situation der Fall. Die Intentionalität der Zuschauenden wurde problematisch. Man wusste nicht, als was man das Geschehen auffassen respektive intendieren sollte: als verpatzten Schluss? als gelungenes Experiment? als Panne, Peinlichkeit oder gezielte Provokation? Waldenfels hat das Konzept der Intentionalität deshalb um den Begriff der Responsivität erweitert. Response bedeutet Antwort. Responsivität meint, dass jedes Verhalten, jede Wahrnehmung und jede Erfahrung auch immer eine Antwort auf einen Anspruch ist, der einem entgegentritt und fremd erscheint. Der Mann, der die Zeppelin-Aufführung verließ, hatte seine Antwort deutlich ausgesprochen: „Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Mit der Äußerung antwortet er auf eine uneindeutige Situation. Man könnte auch sagen, durch die Aufführung sah sich der Zuschauer in Frage gestellt, was dann seine Antwort provozierte. In diesem Sinne ließen sich auch die vergeblichen Applausversuche der anderen als Antworten verstehen, die nicht sprachlich formuliert, sondern körperlich vollzogen wurden. In aller Regel sind Antworten in Aufführungen nicht verbalsprachlich verfasst. Von Antwort kann also auch die Rede sein, wenn man „hinsieht und hinhört und jemandem oder einer Sache Aufmerksamkeit schenkt“ (Waldenfels 1998: 95). Ein Blick oder ein Gedanke, die genaue Beobachtung, ein Erklä-

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rungsversuch oder staunendes Schweigen – all diese willkürlichen und unwillkürlichen Verhaltensweisen können als Antworten verstanden werden. Eine Leistung des Publikums besteht demnach darin, sich von Aufführungen in Anspruch nehmen zu lassen und sich in Frage zu stellen, um Antworten zu finden. Entsprechend sollte der Reflexionsprozess von Wahrnehmungen und Erfahrungen von der eigenen Antwort ausgehen und gefragt werden: „Worauf antworten wir, wenn wir etwas erfahren, sagen oder tun?“ (Waldenfels 1994: 188). Anders als Intentionalität weist Responsivität Wahrnehmung nicht als planmäßiges, regelhaftes und zielgerichtetes Tun aus, sondern setzt am Mangel, der Störung oder dem Ungenügen ein, das mit dem Gewahrwerden eines fremden Anspruchs einhergeht. Gerade die Unterbrechung von Sehgewohnheiten kann so in Aufführungen als einschneidendes Erlebnis erfahren und später erinnert werden. Mit der Responsivität gerät die pathische Dimension von Theater in den Blick, die darin besteht, dass wir als Publikum in Aufführungen einem Geschehen ausgesetzt werden, das wir wie Widerfahrnisse erleiden, „die uns zustoßen, uns zuvorkommen, uns anrühren und verletzen“ (Waldenfels 2002: 9) können. Mit der Responsivität kommt eine Erfahrungsweise von Theater ins Spiel, die nicht beim einzelnen Zuschauer ihren Ausgang nimmt, sondern im fremden Anspruch ein Initial hat, auf das Zuschauer in Aufführungen zu antworten haben. Damit entzieht sich das Zwischengeschehen einer Aufführung der Kontrolle und Planbarkeit einzelner. Selbst der eigenen Antwort kann man sich nicht enthalten. Wer sich weigert, auf einen fremden Anspruch einzugehen, ist eben dadurch schon auf ihn eingegangen. Wer verstummt, die Augen und Ohren schließt oder sich sonst wie abwendet, zeigt sich immer schon vom fremden Anspruch getroffen, gerade auch wenn er sagt: „Das brauchen wir nun wirklich nicht.“ Begreift man den Tauschhandel der Aufführung dergestalt als ein dialogisches Zwischengeschehen, das von der Responsivität – also der Antwortlichkeit der Erfahrung – her zu verstehen ist, wäre zu klären wie sich der Gedanke der Gabe in eine solche Phänomenologie einfügt. Waldenfels hat sich an zwei Stellen explizit mit der Gabe auseinandergesetzt. Im Antwortregister (1994), in dem er seine Phänomenologie der Responsivität darlegt, befasst er sich mit der Gabentheorie von Marcel Mauss und untersucht, wo die Gabe auftaucht, wenn man das Wechselspiel von Frage und Antwort als ein Geben und Nehmen begreift. Diese Überlegung führt er in dem Aufsatz „Das Un-ding der Gabe“ (1997) fort, in dem er sich ausführlich mit Jacques Derridas Auslegung von Mauss’ Gabenkonzept auseinandersetzt. Der springende Punkt beider Texte ist jene Spezialform des Gabentauschs, bei der die „Reziprozität von Geben und Nehmen […] aus dem Gleichgewicht gebracht“ wird (Waldenfels 1994: 607). Ein solches Geben, „das aus den Quel-

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len des ‚Überflüssigen‘ schöpft und sich nicht in den Schlingen des Austauschs verfängt“ (ebd.: 605), vermag Überschüsse freizusetzen: Jede Gabe verkörpert einen Überschuß, da sie als solche über das Geschuldete hinausgeht und als Verausgabung und Vergeudung auch das Maß des Verwertbaren überschreitet. Hier zeigt sich ein Mehrwert, ein Surplus […]. Man gibt mehr, als man muß, und mehr, als man hat. (Ebd.: 607)

Mit dieser Argumentation soll nicht jede Antwort auch irgendwie als Gabe deklariert werden. Es geht vielmehr um jenen Sonderfall der Gabe – Waldenfels nennt es „anormales Geben“ (Waldenfels 1997: 399) – bei dem das Geben „auf einen fremden Anspruch antwortet, der nicht erfüllbar ist, da er aus einer nicht einholbaren Ferne kommt“ (Waldenfels 1994: 609). Dieses anormale Geben habe „seinen Ursprung in einem Überschuß, der jede mögliche Ziel- und Gesetzeserfüllung übersteigt.“ (Ebd.) Solch antwortendes Geben ist exzessiv, maßlos, unberechenbar, überfordernd und überfordert. Es vermag Ordnungen zu stören oder zu sprengen. Damit scheint genau jene eigentümliche Situation in der Schaubühne umrissen zu sein, die eingangs beschrieben wurde und die man mit Waldenfels nun auch als „Gebeereignis“ (Waldenfels 1997: 401) bezeichnen könnte, „das über den äquivalenten Tausch“ (ebd.) hinausgeht. Die Applausversuche, das Dazwischenrufen, das Verlassen des Saals aber auch die maßlose Ratlosigkeit, die Zuschauerinnen und Zuschauer ereilen konnte, verweisen auf dieses antwortende Geben: „Wer so gibt, gibt, was er nicht hat, und weiß nicht, was er tut.“ (Waldenfels 1994: 620) Die Gabe betont also das Exzessive, Überschüssige und Überflüssige von Theatererfahrung, das maßlos Unverständliche, das worauf es keine adäquate Antwort gibt und macht so erst eine kreative Antwort vorstellbar, mit der man gibt, was man nicht hat, erfindet, was man nicht kennt, erfasst, was man nicht begreift oder spürt, was man nicht empfindet. Eine Erfahrung im Theater zu machen, bedeutet also auch, sich selbst durch eine Erfahrung bestimmen zu lassen. In Hinblick auf die Aufführungssituation kann man deshalb sagen, dass Zuschauer nicht nur die Voraussetzung von Aufführungen sind, sondern als solche erst durch die Aufführung hervorgebracht werden.

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Diese Überlegungen sollen abschließend mit einem anderen Beispiel konfrontiert werden. Es geht um eine Szene aus Jérôme Bels Inszenierung The Show must go on. Die Produktion avancierte seit ihrer Premiere 2000 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu einer der erfolgreichsten Arbeiten des neueren Tanztheaters weltweit. Der Choreograf hat sein Konzept inzwischen an zahlreichen Theatern mit wechselnden Ensembles, zu denen sowohl Laien als auch Profis gehören können, re-inszeniert, zuletzt im Frühjahr 2018 mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Bels Konzept ist sehr einfach und zugleich sehr komplex. Das Einfache daran ist die dramaturgische Struktur als lockere Reihung von insgesamt 19 in sich geschlossenen Szenen. In jeder Szene wird ein eingängiger populärer Song von einem CD-Player abgespielt, dessen Refrain wörtlich verstanden und szenisch vorgeführt wird. Bei Tonight (West Side Story) ist die Bühne dunkel. Bei Let the Sunshine in! (Hair) erhellen Scheinwerfer allmählich den Raum. Bei Come together (The Beatles) treten die 20 Tänzerinnen und Tänzer auf und bei Let’s dance (David Bowie) beginnen sie zu tanzen. Das Komplexe daran ist, dass man dieses dramaturgische Prinzip (ein Song, ein Refrain eine Handlung, eine Szene) nicht notwendig von Beginn an versteht, vielleicht erst im Laufe der 19 Szenen der 80minütigen Aufführung hypothetisch darauf kommt oder bis zum Schluss der Aufführung außer penetranter Musik und sinnlosen Aktionen nichts versteht. Je nachdem ob und wann sich die Struktur des Geschehens für die Zuschauerinnen und Zuschauer enthüllt, intendieren sie unterschiedliche Aufführungsmomente und kreieren dementsprechend äußerst disparate Antworten. Aufführungen von The Show must go on sind inzwischen dafür bekannt, dass Zuschauerinnen und Zuschauer sowohl ihre Emphase als auch ihre Ablehnung lautstark zu Gehör bringen und dadurch auf den Ablauf der Aufführung einwirken, ohne aber den Fortgang der Inszenierung beeinflussen zu können.4 Insbesondere die kurzen Übergangsmomente zwischen den einzelnen Szenen, in denen ein Performer vor der Bühne die CDs wechselt, werden von einzelnen Personen oder ganzen Gruppen im Publikum genutzt, um sich lachend, pfeifend oder mit expliziten Zwischenrufen zu Gehör zu bringen. Obwohl oder gerade weil das Publikum von den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne nie explizit adressiert, angesprochen oder gar aufgefordert wird, entwickeln Zuschauerinnen und Zuschauer eigenwillige Formen der Teilhabe. 4

Es liegt eine ungeschnittene Aufzeichnung der Hamburger Premiere vor. Außerdem greifbar ist eine Version des Filmemachers Aldo Lee, der 2001 eine Aufführung im Teatro Nacional San Joao in Porto gefilmt hat.

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Wie sehr das Publikum gerade durch dieses Verhalten zum Koproduzenten der Aufführung werden kann, wird in der Szene deutlich, in der man in dem wieder verdunkelten Bühnenraum Sound of Silence von Simon and Garfunkel hört. Kann man Stille hervorrufen? Oder anders gefragt: Wie führt man Stille im Theater auf? Jedes Mal, wenn im Refrain das Wort Silence zu hören ist, wird das Abspielen der CD für einige Sekunden unterbrochen. Es entsteht so ein Moment, in dem die Stille hörbar wird bzw. hörbar werden könnte, wenn das Publikum mitspielt. Doch dies gelingt in den vorliegenden Aufführungsmitschnitten kein einziges Mal. Gerade der Moment der Unterbrechung provoziert Zwischenrufe. Man hört ein Juchzen. Jemand ahmt das Bellen eines Hundes nach. Eine Gruppe Zuschauer animiert das Publikum zum rhythmischen Klatschen. Das muss nicht notwendig damit zu tun haben, dass die Zuschauer das dramaturgische Prinzip dieser Szene nicht verstanden hätten. Einzelne Zuschauer versuchen durchaus, Verantwortung für die gesamte Situation zu übernehmen und die anderen um Ruhe zu bitten. Dabei produzieren sie allerdings einen performativen Widerspruch: Denn wer andere auffordert zu schweigen, stört mit seinem Aufruf die Stille ebenso wie diejenigen, die er zum Schweigen bringen möchte. In einer Unterbrechung kommt es so zu einem chorischen Zischkonzert, bei dem man nur noch Zuschauer hört, die mit ihrem Zischen das Zischen der übrigen unterbinden wollen. Und auch der Mann im 1. Rang, der mit sonorer Stimme um „Ruhe im Puff“ bittet, wird mit seinem Appell und den sich ihm anschließenden Sympathiebekundungen anderer Zuschauer zum Unruhestifter. Die gemeinsame Kreation eines stillen Moments will nicht gelingen. In seiner Analyse von The Show must go on kommt der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund zu dem Schluss, dass die Inszenierung im Rahmen des Theaters die Frage stellt „nach der Art des Austauschs, der im Theater stattfindet und stattfinden kann“ (Siegmund 2006: 362). Das erwähnte Wechselspiel von Bühne und Publikum lässt sich so als eine Form des Gabentauschs verstehen, die unter Bezug auf Marcel Mauss’ Gabentheorie Potlatsch genannt werden kann: „Das Verlassen des Saals oder das Stürmen der Bühne bedeutet demnach eine Verletzung der Balance und des Ausgleichs, das der Potlatsch herzustellen trachtet.“ (Ebd.) Dieses asymmetrische Verhältnis von Gabe und Gabenempfang, das auch Siegmund unter Bezug auf Derridas Auslegung der Studie von Mauss stark macht, kann die Aufführung für ihr Publikum zum Geschenk werden lassen: „Denn dass wir in The Show Must Go On nichts erhalten, nichts zumindest, mit dem wir im Rahmen einer Tanzaufführung rechnen dürften, macht ihren Geschenkcharakter aus.“ (Ebd.: 363) Siegmund kommt deshalb zu dem Schluss,

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dass auch die Zuschauer sich geben müssen, „indem sie die Liedtexte des Stücks mittragen und mitrealisieren“ (Ebd.). Genau das aber – so ist jetzt zu resümieren – war in der erwähnten Silence-Szene nicht der Fall. Gerade in dem Moment, in welchem die Zuschauerinnen und Zuschauer ihre Antworten explizit wiedergaben und so ihre Teilhabe an der Aufführung reklamierten, wurde die Unzulänglichkeit ihrer Gabe vorgeführt, wobei dem Publikum gleichwohl erschütternd offenbar werden konnte, was für ein maßlos schönes Geschenk The Show must go on ist. Die Performance von Stille war in diesem Fall eine Leistung, welche das Publikum letztendlich nicht zu bringen vermochte. Diese Gabe des Publikums blieb (leider) aus.

L ITERATUR Benthien, Claudia (2002): „Die Performanz der schweigenden Masse. Zur Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen“, in: Sylvia Sasse/Stefanie Wenner (Hg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld: transcript. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (2012): „Die verwandelnde Kraft der Aufführung“, in: dies. et al. (Hg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 11-23. Husserl, Edmund (1992 [1950]): „Cartesianische Meditationen. Eine Einführung in die Phänomenologie“, in: ders., Gesammelte Schriften 8, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Roselt, Jens (2008): Phänomenologie des Theaters, München: Wilhelm Fink Verlag. Siegmund, Gerald (2006): Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript. Singer, Milton (1959): Traditional India: Structure and Change, Philadelphia: American Folklore Society. Waldenfels, Bernhard (1992): Einführung in die Phänomenologie, München: Wilhelm Fink Verlag. Waldenfels, Bernhard (1994): Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (1997): „Das Un-ding der Gabe“, in: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Waldenfels, Bernhard (1998): Grenzen der Normalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2002): Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weiler, Christel/Roselt, Jens (2017): Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen: Francke Verlag.

Begabtes Publikum: Eine theatrale Entdeckung! Von der Gabentheorie zu Theater und Tabu O RTRUD G UTJAHR

Abstract Gifted audience: A theatrical discovery! From the gift theory to theatre and taboo: In Handke’s spoken play “Offending the Audience” – seen from a gifttheoretical standpoint – the actors wilfully refuse to give the theatrical gift that is expected from them: a stage-show-play where the audience can feel themselves endowed. The passive reception of the audience is shown as active giving. Thereby, the act of exchanging gifts – as conceptualised by Marcel Mauss in his “Essai sur le don” as a three step sequence of giving, receiving, and reciprocating – is directly questioned. Yet, by emphasising the serious sanctions which result from a refusal to reciprocate the gift, the sociologist lights a way of comprehending the exchange of gifts, one which he does not follow himself. For a gift is also to be understood as a transmitter of norms, which go hand in hand with taboos. In his essay, Mauss insists on “the enjoyment of generous artistic output” as also being a continuing effect of gift-giving. With this in mind, this article provides, in a cursory theatre history overview, how the audiences are configured as co-actors in the act of gift-giving with regard to the respective epoch’s underlying taboos. The article represents the thesis that the circular three-step of giving, receiving and reciprocating is overcome in the theatrical context in favour of dialoguing, because the theatric openness is equally primal in both the gift of the theatre professionals and in the giftedness of the audience. Therefore, the audience then responds emotionally to the output on the stage as well as to their own scenes on an inner stage.

164 | O RTRUD G UTJAHR Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden. HANDKE 2017: 15

Mit Zurückweisungen gängiger Zuschauererwartungen wie diesen setzt Peter Handkes einaktiges Sprechstück Publikumsbeschimpfung ein, das am 8. Juni 1966 im Frankfurter Theater am Turm in der Inszenierung von Claus Peymann seine Uraufführung fand. Unmittelbar an der Bühnenrampe stehend greift eine Gruppe von vier Schauspielern allenthalben schwelende Revolten gegen verkrustete Gesellschaftsstrukturen auf und erklärt eingefahrenen Seherwartungen im traditionellen Stadttheater eine Absage. Dabei adressieren die Schauspieler vom ersten bis zum letzten Wort das Publikum direkt: „Sie wohnen hier keinem Theaterstück bei. Sie wohnen nicht bei. Sie sind im Blickpunkt. Sie sind im Brennpunkt.“ (Handke 2017: 22) Durch offensive Anrede wird somit von Beginn an ausgestellt, dass es nicht um ein Spiel vor Zuschauern geht, sondern um das Publikum als solches. In Handkes Sprechtheater der Attacke verweigern die Schauspieler unter gabentheoretischen Gesichtspunkten eigensinnig die von ihnen erwartete theatrale Gabe: ein Bühnen-Schau-Spiel, bei dem sich das Publikum als beschenkt erfahren kann. Damit wird ein Gabentausch, wie ihn Marcel Mauss in seinem Essai sur le don (1923/24) als dreischrittige Abfolge von Geben, Nehmen und Erwidern konfiguriert hat, geradezu infrage gestellt. Denn bei Handke ist keine Darstellung gegeben, die von den Zuschauern aufgenommen und in ihrer Wirkung ablehnend oder begeistert zurückgespiegelt wird. Vielmehr erheben die Schauspieler durch ihren Sprechtext das Publikum selbst zum Gegenstand ihrer Darstellung. Vor der leeren Bühne etablieren somit die Worte und Blicke der Schauspieler in den Zuschauerraum hinein eine ‚Bühne des Auditoriums‘, auf der sich das Publikum als stummer Protagonist des Sprechstücks mit der Vielfalt seiner Rollen im Theaterkontext konfrontiert sieht. Somit werden sich die Zuschauer in dieser Aufführung von der Rampe aus theatral selbst gegeben. Sie sind die explizit Angesprochenen, deren innere Bewegtheit durch die Sprecher-Schauspieler zur Sprache kommt. Ihr passives Nehmen wird als aktives Geben ausgestellt. Mit anderen Worten realisieren sich die Zuschauer als Akteure eines Gabentausches, bei dem ihre Begabung für die ‚Rolle des Publikums‘ gleichzeitig mit der Darbietung auf der Bühne abgefordert ist. Diese Gleichzeitigkeit von Geben und Nehmen in Handkes Sprechstück ist zwar Effekt eines dramaturgischen Coups, doch das di-

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rekte Anspielen des Publikums, das den Blick der Zuschauer auf die Schauspieler unmittelbar und explizit auf sie selbst zurücklenkt, kann ein Gabengeschehen – das soziologisch als strukturell grundlegend für verbindliche Kommunikationsprozesse gilt – aus theatraler Perspektive neu ausleuchten.

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Bereits zu Beginn seines Essays, dessen Titel in deutscher Übersetzung Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften lautet, stellt Marcel Mauss unumwunden fest, dass in vormodernen sozialen Verhältnissen Austauschprozesse durch Geschenke eingeleitet werden, die „theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen“ (Mauss 1989: 12). Basis dieser These sind vornehmlich ethnographische Aufzeichnungen und frühe Rechtstexte, die der Soziologe im Hinblick auf Begründungen sozialer Verbindlichkeiten ausgewertet hat. Nach seinem Ansatz liegt die bezwingende Kraft von Kontakt herstellenden Geschenken darin, dass sie unweigerlich die Verpflichtung zur Erwiderung nach sich ziehen. Der Gebende ist damit in einer machtvollen Position, denn er macht den jeweiligen Anderen, der gehalten ist, die angebotene Gabe anzunehmen, zu einem Gabennehmer, der wiederum unweigerlich verpflichtet ist, das Gegebene in angemessener Frist adäquat zu erwidern. Die Annahme einer Gabe fordert also Entscheidungen bezüglich des notwendigen Intervalls zwischen Gabe und Erwiderung heraus sowie die Frage nach der situativ angemessenen Form der Gegengabe. Mauss verknüpft mit dem Begriff ‚Gabe‘ mithin eine vielfältig ausdeutbare kommunikative Praxis, die etwa im Kontakt mit Fremden auch als Integrationsangebot Einsatz findet. Entscheidend ist ihm jedoch insistierend der Dreischritt von Geben, Nehmen und Erwidern, der zu wechselseitiger Verpflichtung und sozialer Bindung führt. Mit seinem Ansatz zum Gabentausch entwickelt Mauss Grundannahmen des seinerzeit noch jungen Faches Soziologie weiter, wie etwa Émile Durkheims Vorstellung über die Bedingtheit des Einzelnen durch „ein System von handelnden Kräften“ (Durkheim 2017: 653) innerhalb der Gesellschaft. Er lenkt den Blick auf Verfahren der Reziprozität, wie Georg Simmel, der feststellt, dass „das Geben“ eine grundlegende Form der Vergesellschaftung ist und „keineswegs nur eine einfache Wirkung des Einen auf den Anderen, sondern […] eben das, was von der soziologischen Funktion gefordert wird: […] Wechselwirkung.“ (Simmel 1992: 663) Doch der von Mauss betonte Zwang zur Erwiderung des Gegebenen bot der Forschung reichlich Anlass, sein Konzept des Gabentausches auf

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Ambivalenzen und Widersprüche hin zu überprüfen. So konzediert Claude LéviStrauss zwar, dass Mauss’ Essay „eine neue Ära der Sozialwissenschaften“ (Lévi-Strauss 1989: 28) eingeleitet hat, indem er die eminente Bedeutung von Austauschbeziehungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt profiliert, doch bezweifelt er den Dreischritt im Gabentausch, da „die Erfahrung nichts als die Fragmente, die zerstreuten Glieder“ (ebd.: 30) dieser Struktur liefern könne. Pierre Bourdieu moniert, dass die geradezu zwanghafte Verpflichtungsstruktur von Geben und Nehmen einer verdeckten Tauschhandlung gleiche und diese „strukturelle Wahrheit“ des Gabentausches überdies „wie kollektiv verdrängt“ (Bourdieu 1998: 164) wirke. Auch stellt er fest, dass selbst der zeitliche Abstand zwischen Gabe und Gegengabe einer Verschleierung diene, da sie gerade dadurch „als unverbundene Einzelhandlungen erscheinen“ (ebd.: 163). Auch Jacques Derrida sieht die Gabe durch ihre Einbindung in eine Austauschbeziehung oder Zirkulation korrumpiert und fordert im Dienste der Rettung eines uneigennützigen Gebens mit moralisierender Verve, dass der Gabenempfänger gerade „nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt.“ (Derrida 1993: 24) Solche Versuche, den Begriff ‚Gabe‘ in seiner näheren Bestimmung von ökonomischen Zirkulationsprozessen strikt abzugrenzen und gegenüber psychodynamischen Infiltrationen zu immunisieren, sind für die Aufdeckung der Spannung erzeugenden Ambivalenzen im Gabentausch kontraproduktiv. Denn welche Formen der kulturspezifische Gabentausch im historischen Kontext jeweils annimmt, und welche Ambivalenzen dabei kaschiert sind oder zu Tage treten, können nur Analysen eines in seinen Bedingungen näher spezifizierten sozialen Feldes klären. Zwar wird die Idee einer uneigennützigen ‚reinen Gabe‘ in der soziologischen Literatur immer wieder aufgegriffen, doch auch kritisiert, dass damit romantische Vorstellungen verbunden sind, die sich in der sozialen Praxis nicht bewahrheiten (u. a. Schwaiger 2011: 150). So beschäftigen sich die Forschungen im Rekurs auf Mauss sowohl mit Implikationen des interessegeleiteten Gabentausches wie auch mit dem selbstlosen Geben, das ein Gegengeschenk ausschließt. Sie bewegen sich im Spannungsfeld von „Warentausch und ‚reiner‘ Gabe“ (Miklautz 2010: 18) und betonen die historische und situative Variabilität der Gabe, da diese „Gegenstand von kulturellen und sozialen Aushandlungsprozessen und keineswegs ‚gegeben‘“ (Adloff/Mau 2005: 48) ist. Auch wird hervorgehoben, dass „[d]ie Wahrheit des Begriffs Geben […] nicht in der Zuspitzung auf eine ausgezeichnete oder absolute Bedeutung, sondern in der Vielfalt seiner Verwendungen“ (Stamer 2011: 32) liegt. Von daher sind die pragmatischen, destruktiven oder utopischen Elemente des Gabenprozesses ebenfalls mit in Betracht zu ziehen.

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Dass der Gabentausch risikobehaftet ist und sich nicht immer zwangsläufig im Dreischritt von Geben, Nehmen und Erwidern gestaltet, sondern auch Ausdruck von Verweigerung sein kann, konzediert Mauss bereits selbst in den „Moralischen Schlussfolgerungen“ seines Essays. Dabei gibt er zu bedenken, dass sich „auch heute noch“ derjenige selbst erniedrige, der eine Gabe „ohne den Gedanken an eine Erwiderung annimmt“ (Mauss 1989: 123). Mit dieser Selbsterniedrigung, mithin der negativen Sanktionierung einer ausbleibenden Erwiderung, weist Mauss jedoch einen Weg zum Verständnis des Gabentausches, den er selbst nicht mehr einschlägt. Denn durch die unwillkürliche Selbstbestrafung bei Nichteinhaltung der geforderten Erwiderung ist die Gabe nicht nur einfach ein je Gegebenes und in seiner Funktion zu Bestimmendes, sondern auch Transmitter einer Norm, die mit einem Tabu einhergeht. Denn als Kommunikationsangebot folgt die Gabe dem impliziten Imperativ: ‚Du sollst nehmen und erwidern‘. Zugleich ist das Kommunikationsangebot mit dem Meidungsgebot belegt: ‚Du sollst nicht nehmen, wenn Du nicht erwidern willst‘. Bereits die Ablehnung einer Gabe kann sich im entsprechenden kulturellen Kontext als eklatanter Bruch mit sozialen Übereinkünften erweisen und erhebliche Sanktionen nach sich ziehen. Wenn nun aber die Annahme ohne Erwiderung ebenfalls einen Tabubruch darstellt, so ist der normativ organisierte Gabentausch also durch ein doppeltes Tabu abgesichert: Die Gabe darf ‚nicht abgelehnt‘ und sie darf ‚nicht nicht erwidert‘ werden. Erst eine Berücksichtigung dieser Tabu-Struktur vermag den Verbindlichkeitscharakter des Gabentausches näher zu erhellen. Im Unterschied zu explizit formulierten Verboten wird die Einhaltung von Tabus durch implizite Imperative gesteuert, die bei den Mitgliedern kulturspezifischer Gruppen tiefgreifend verankert sind. Dementsprechend werden Tabuverletzungen nicht nur seitens der Gesellschaft geahndet, sondern auch unmittelbar von den Tabu-Brechern selbst durch sich unwillkürlich einstellende Gefühle von Schuldig- oder Beschämt-Sein. Die Einhaltung von Tabus wird also sowohl durch soziale Kontrolle als auch psychische Zensurmechanismen überwacht. Erst dadurch gewinnt die unabdingbar verpflichtende Wirkung im Dreischritt des Gabenprozesses Evidenz. Zwar verweist Mauss in seinem Essay (wenn auch lediglich in einer Fußnote) bei den Darlegungen zur engen Verbindung von Personen und Sachen im römischen Recht auf ein „Eigentumstabu“ (Mauss 1989: 96), das sich im nexum als ältester Form des Vertrags finde. Doch geht er auf die dem Gabentausch zugrunde liegenden Tabus nicht ein, auch wenn er hier etwa an Durkheim anschließen könnte, der Tabus als „negativen Kult“ (Durkheim 2017: 440) versteht und zu den Interdikten zählt, durch die gesellschaftliche Bereiche vor Veränderung geschützt werden sollen.

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Durkheim greift hier eine lange und intensive Auseinandersetzung mit Tabus auf. Denn bereits James Cook entdeckte auf seiner dritten Expeditionsfahrt (1776-1780) auf den Südsee-Archipelen eine tapu oder tabu genannte Verhaltensweise, deren Bedeutung ihm Rätsel aufgibt: „The word itself implys no more than that a thing is not to be touch’d, and therefore every thing that is under such restriction for certain reasons is said to be Taboo’d.“ (Cook 1967: 947) Die Nichteinhaltung dieser Verhaltensvorschriften zieht gravierende Sanktionen nach sich, weshalb er das Wort Tabu erklärt als „the common expression when any thing is not to be touche’d, unless the transgressor will risque some very severe punishment as appears from the great apprehension they have of approaching any thing prohibitet by it.“ (ebd.: 918) Cook vermutet, dass er einen grundlegenden Verhaltenscodex gefunden hat, allerdings bleibt ihm dieser letztlich ein Phänomen von „mysterious signification“ (ebd.: 982). Doch gewinnt die Forschung zum Tabu besonders um 1900 an Fahrt, als die Ureinwohner Australiens ins Zentrum des Interesses rücken und ihre Verhaltensweisen Aufschluss über frühe Formen menschlicher Vergemeinschaftung zu geben versprechen, wie dies beispielsweise James George Frazer mit seiner Studie Taboo and the Perils of the Soul (1911) nahelegt. Auch Wilhelm Wundt geht in seinem zehnbändigen Werk zur Völkerpsychologie (1900-1920) davon aus, dass keine Kulturstufe ohne Tabus denkbar sei, wobei er hierzu auch Meidungsgebote zählt, die sich auf Eigentum beziehen. Er ist der Meinung, dass „das Tabu der älteste ungeschriebene, aber durch Furcht und Schrecken seine Herrschaft behauptende Gesetzeskodex der Menschheit“ (Wundt 1906: 308) ist. Durkheim stimmte mit der Vorstellung des Völkerpsychologen Wundt überein, dass ein gemeinsam getragener Moralkodex für die Stiftung von Gesellschaft unabdingbar ist, und geht in seinem Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) davon aus, dass der Begriff ‚Tabu‘ in der polynesischen Sprache verwendet wird, um „eine Institution zu bezeichnen, auf Grund deren gewisse Dinge dem gewöhnlichen Gebrauch entzogen sind“ (Durkheim 2017: 406). Er lässt nur die religiösen Tabus, mit denen der Respekt vor dem Heiligen eingefordert wird, als „kategorische Imperative“ gelten, während er profane Tabus als „Nützlichkeitsmaximen“ (ebd.: 442) sieht, die sich aus pragmatischen Erwägungen durchsetzen. Mit Durkheims Ansatz wird deutlich, dass der Begriff ‚Tabu‘ einerseits als ethnologischer Fachterminus Einsatz findet, um vormoderne Sitten zu kennzeichnen, andererseits aber auch zunehmend zur Beschreibung von Verhaltensweisen in modernen Gesellschaften westlicher Prägung verwandt wird. So stellt Sigmund Freud in seiner kulturtheoretischen Schrift Totem und Tabu (1912/13) fest, dass das Phänomen Tabu (anders als das Glaubenssystem des Totemismus) „in unserer Mitte fortbesteht“ (Freud 1974b: 292) und als gesellschaftlicher

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Wirkmechanismus ungebrochen gültig ist. Ein Tabu, so gibt Freud unmissverständlich zu verstehen, ist, „obwohl negativ gefaßt und auf andere Inhalte gerichtet [...] seiner psychologischen Natur nach doch nichts anderes als der ‚kategorische Imperativ‘ Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt.“ (Ebd.) Er betont mit dieser kurz gefassten Definition von Tabus die Notwendigkeit, über deren jeweilige Modellierungen und Reichweite für die individuelle Verhaltensdisposition sowie das gesellschaftliche Miteinander aufzuklären. Freud geht überdies von der Annahme aus, dass Kultur immer auch Gedächtnis ihrer selbst ist, insofern sie über Artefakte auch ihre eigene Entstehungsgeschichte speichert und dem rekonstruierenden Verstehen grundsätzlich zugänglich macht. Nicht allein durch Überreste und Funde früherer Kulturen oder mündliche und schriftliche Tradition kann demnach Wissen um ursprüngliche Geschehnisse und Erfahrungen überliefert werden, sondern auch über symbolische Ausdrucksformen. Über archäologische und historische Erklärungsansätze zur Entstehung von Kultur hinausgehend, versucht er, das kulturelle Gedächtnis zu erschließen, das insbesondere in den Tabus seinen Ausdruck findet. So folgert er aus dem kulturell ubiquitär gültigen Tötungstabu als zentralem gesellschaftlichen Regulativ, dass dieses ein starkes Begehren zurückdrängen muss: „Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es schließt sich von selbst aus.“ (Freud 1974a: 56) Wenn also, wie Freud feststellt, dem Tabu ein destruktives, den sozialen Frieden schädigendes Begehren zugrunde liegt, das in Schach gehalten werden muss, so liegt dem Zwang beim Gabentausch (den Mauss durch den sich in die Gabe veräußernden Geist des Gebers erklärt) offensichtlich ein ‚Raub-Tabu‘ zugrunde. Die Gabe ist demnach vom egoistischen Impuls des Rauben- und Nicht-hergeben-Wollens bedroht, sodass es der Sicherung von Reziprozität im sozialen Miteinander bedarf. Denn Tabus vertreten gleichsam die Rechte des als schützenswert erachteten Impliziten einer Kultur und stehen zugleich auch für die Bedrohung dieser Einhegungen (Gutjahr 2008b). Sie markieren affektiv hoch besetzte Grenzen, deren Sicherung prekär ist, und beziehen sich zu einem Gutteil auf zu kanalisierende aggressive Energien. Von daher können sie als angstbesetztes Schwellenphänomen verstanden werden, denn aufgrund der latenten Kraft zu Zerstörung und Vernichtung, zu Exzess und Auflösung wurden sie überhaupt erst etabliert. So sind unter Tabus Meidungsgebote zu verstehen, die jenseits expliziter Verbote und kodifizierter Gesetze in sozialen Gemeinschaften verhaltensregulierend wirken. Sie dienen der identitätsstiftenden Sicherung von personalen und sozialen Einheiten in ihrer physischen und psychischen Gestalt wie auch symbolischen Repräsentanz und formieren eine implizite kulturelle Topographie mit

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schutzgebenden Bereichen, die Zugehörigkeit oder Ausschluss markieren. Anders gewendet: Gesellschaftliches Zusammenleben ist ohne Tabus undenkbar, weil der Einzelne ansonsten ohne implizites Wissen über Verhaltensgebote und ohne Schutz vor Verletzung seiner persönlichen Rechte leben würde. Durch Tabus werden sowohl indirekte Handlungsanweisungen gegeben als auch sensible Bereiche personaler und kollektiver Identität geschützt, aber was und in welcher Form als Tabu gilt, ist in weiten Bereichen historisch und kulturell unterschiedlichen Diskursordnungen geschuldet. Somit können Veränderungen oder gar Aufhebungen von Tabus als signifikante Indikatoren kulturellen und gesellschaftlichen Wandels gelten. Wenn Mauss hervorhebt, dass sich bis in die Gegenwart hinein die Abfolge von Geben, Nehmen und Erwidern in gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen finden lässt, so kennzeichnet er den Gabentausch ebenfalls als historisch variables und vielseitig einsetzbares Kommunikationsmodell, bei dem sich, so meine These, auch die (von ihm nicht untersuchten) zugrunde liegenden Tabus und möglichen Tabubrüche je nach Situation und Kontext verändern. Entgegen späterer Einwürfe, dass der Gabentausch in „segmentären Gesellschaften universell verbreitet“ (Luhmann 1997: 650) gewesen sei, in modernen Gesellschaften hingegen fehle, insistiert Mauss in den „Schlussfolgerungen“ seines Essays auf der Fortwirkung des Gabentausches, der sich auch im „Gefallen an großzügiger künstlerischer Verausgabung“ zeige (Mauss 1989: 127). Er lenkt hier die Aufmerksamkeit also nicht auf die Kunst als solche – wie etwa später Georges Bataille, der sie im Gabenprozess als eine „Schöpfung durch Verlust“ (Bataille 1985: 15) fasst –, sondern speziell auf das Gefallen am Beschenkt-Sein durch Kunst. Von dieser ästhetischen Wirkung aus rücken für den Gabentausch im Theater dezidiert die Zuschauer als Aufnehmende solch „großzügiger künstlerischer Verausgabung“ in den Blick – wie etwa in Handkes Publikumsbeschimpfung. Denn hier wird das Publikum, das durch eine anfeuernde künstlerische Darbietung selbst Feuer fängt, als „Entdeckung“ gefeiert: Sie wohnen hier keinem Theaterstück bei. Sie wohnen nicht bei. Sie sind im Blickpunkt. Sie sind im Brennpunkt. Sie werden angefeuert. Sie können Feuer fangen. Sie brauchen kein Muster. Sie sind das Muster. Sie sind entdeckt. Sie sind die Entdeckung des Abends. (Handke 2017: 22)

Die hier reklamierte „Entdeckung“ des Publikums ereignet sich jedoch bereits seit Beginn des Theaters unter veränderten Bedingungen immer wieder neu. So kann ein zumindest kursorischer Blick auf die historische Entwicklung des europäischen und deutschen Theaters verdeutlichen, dass die Zuschauer in den jewei-

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ligen Epochen auf signifikant unterschiedliche Weise als Mitakteure des Bühnengeschehens und theatralen Gabentausches konfiguriert sind. Dabei geht es auch hier um die Durchbrechung wie Einforderung von Tabus, die das Verhältnis von Bühne und Publikum jeweils regeln.

D IE E NTDECKUNG DES P UBLIKUMS Erst eine Darbietung lässt diejenigen, die ihr als Zuschauer beiwohnen, zu einem Publikum im theatralen Sinne werden. Denn jeder einzelne Zuschauer ist im Theater Individuum und zugleich Teil eines Publikums, das sich durch das gemeinsame Erleben einer Inszenierung begründet. Das Publikum (von lat. publicus, dem Volk oder Staat gehörig) kann somit als ein theatral konfiguriertes Gemeinwesen verstanden werden, welches sich auf eine szenische Darstellung fokussiert, die verändernd wirkt. In diesem Veränderungspotenzial für das Publikum liegt die gesellschaftspolitische Kraft der Bühnenkunst wie auch deren Anreiz, einen Idealzuschauer nach jeweiligen Wirkungsintentionen zu entwerfen. So geht Aristoteles davon aus, dass eine Aufführung den Zuschauer durch Jammer (eleos) und Schrecken (phobos) fesselt. Lessing nimmt an, dass eine durch Mitleid und Furcht hervorgerufene kathartische Wirkung den Betrachter in das Bühnengeschehen involviert. Schiller versteht das Theater als ‚moralische Anstalt‘, in welcher der Zuschauer seine ästhetische Urteilskraft schärft und seine Bildung vervollkommnet. Brecht gestaltet seine Inszenierungen als Labor der Reflexion und Kritik für das Publikum, während das postdramatische Theater insbesondere mit seinem Werkstattcharakter von Aufführungen zur Auseinandersetzung mit aktuellen Konfliktkonstellationen und deren medialen Transformationen herausfordert. Die Unterschiedlichkeit der Wirkungsabsichten verdeutlicht, dass nicht allein ein jeweils künstlerisch Dargebotenes, sondern die damit untrennbar verbundene Ästhetik der Darbietung den Zuschauern ihre jeweilige Rolle zuweist. Somit ist ästhetisches Erleben unter gabentheoretischem Aspekt als Angesprochen-Sein durch eine ästhetisch distinkte, theatrale Gabe zu verstehen. Bezüglich des Gabentausches wird im Bereich von Malerei und Bildhauerkunst sowie von Photographie und Film durch die teilweise sehr große zeitliche und räumliche Distanz zu den jeweiligen (vielleicht schon verstorbenen) Künstlern eine direkt rückkoppelnde Erwiderung der Betrachter oder Rezipienten verunmöglicht. Hingegen ist in den darstellenden Künsten (wie Schauspiel, Performance, Tanz oder Oper) durch die raum-zeitliche Kopräsenz von Darstellern und Publikum auch ein direkter Austausch zwischen Bühne und Zuschauerraum gegeben. Das Intervall

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zwischen Geben und Erwidern ist hier gleichsam verdichtet auf das ‚Ereignis: Theater‘. In einem unmittelbaren Hier und Jetzt der Aufführungssituation beschenken sich Schauspieler und Publikum gleichzeitig mit geteilter Lebenszeit und wechselseitiger Zuwendung. Wie Aristoteles in seiner Poetik darlegt, ist das Theater aus der menschlichen Fähigkeit zur Nachahmung erwachsen. Die Wiedergabe von sprachlichen und gestisch-szenischen Handlungen durch Schauspieler stellt dem Publikum Figurationen eines Erfahrungswissens in ästhetisch verdichteter Form vor Augen. Die Zuschauer erfassen durch das Nachgeahmte bereits Bekanntes mit neuem Blick und empfinden bei diesem Lernprozess, wie er betont, „größtes Vergnügen“ (Aristoteles 1994: 11). Ist in neueren Ansätzen zum Gabentausch vom „Homo donator“ (Godbout 2000: 35) die Rede, der sich durch seine Fähigkeit zum Schenken auszeichnet, wie auch vom „Homo reciprocans“ (Klein 2010: 282), der sich an der Beobachtung des Gebens mimetisch ausrichtet, so kann beim Theaterzuschauer von einem ‚Spectator reciprocans‘ gesprochen werden, insofern er durch das gegebene Bühnengeschehen zur Erwiderung angeregt wird. Das Erkenntnisvergnügen liegt dabei in der Möglichkeit, sich wechselweise in die eine oder andere Position (etwa von Protagonist, Antagonist oder Chor) hineinversetzen zu können, um daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Denn im Gegensatz zum agon, bei dem sich Protagonist und Antagonist zur Profilierung der je eigenen Position gegenüberstehen, werden auf der Bühne affektiv aufgeladene Konflikte über unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen verhandelt. Bereits die für die Öffentlichkeit eingerichtete Bühne der Antike ist mit ihrer Entstehung aus dem Kultus und im Bestreben zu unterhalten auch darauf ausgerichtet, dem Publikum mäeutisch Wissen über Mythos und Geschichte zu vermitteln. Das in europäische Austauschbeziehungen eingebundene ‚deutsche Theater‘ avant la lettre sucht zunächst vor allem in den mittelalterlichen Mysterienspielen und barocken Schuldramen dem überschaubaren Zuschauerkreis religiöse Glaubenssätze, moralisch bewertete Tugendvorstellungen und philosophische Lehrmeinungen zu vermitteln. Erst mit dem sich gegen die spektakelhaftburleske Wander- und höfische Repräsentationsbühne profilierenden Aufklärungstheater ist Austausch mit dem Publikum über (bürgerliche) Problematiken erwünscht. Nun setzt mit dem Bildungsgedanken, dass Anlagen und Begabungen erst entwickelt werden müssen, eine intensive Debatte darüber ein, wie das Publikum durch das theatrale Geschehen belehrt und zur Reflexion angeregt werden kann. Dabei ist eine strikte Trennung von Bühne und Zuschauerraum gegeben, wie dies die Rampe als unüberschreitbare (Tabu-)Grenze markiert. Die Kommunikation soll zunächst lediglich bühnenintern und nicht mit den Zuschauern stattfinden. Maßgeblich ist hier Denis Diderots Forderung nach einem Illusionsthea-

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ter mit ‚Vierter Wand‘, bei dem die Schauspieler so selbstbezogen miteinander spielen sollen, „als ob der Vorhang nicht aufgezogen“ (Diderot 1986: 40) wäre. Damit sind die Zuschauer mit ihrem Blick auf den von drei Seiten umschlossenen Bühnenraum als heimliche Beobachter eines selbstkonzentrierten Geschehens bestimmt. Weitergehend sucht Gotthold Ephraim Lessing, der Diderots Ausführungen zum Theater ins Deutsche übertragen hat, ein empathisches Mitgehen der Zuschauer bei den sprachlich-szenischen Dialogen zu erleichtern. In seiner Hamburgischen Dramaturgie plädiert er für die Ausbildung von Geschmack und Kritikfähigkeit, da er selbst bei mittelmäßigen Stücken die Chance sieht, dass „der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt“ (Lessing 1985: 185). Das Affiziert-Sein gilt nun als adäquate Erwiderung auf die theatrale Gabe und geradezu als Ausweis für die publikumsinterne Teilhabe an einer bürgerlichen Wertediskussion. Mahnt Goethe in seinen Regeln für Schauspieler den Darsteller, stets daran zu „denken, daß er um des Publikums da ist“ (Goethe 1998: 858), so betont Friedrich Schiller in seiner Schrift Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, dass sich die Zuschauer über das gemeinsame Erleben einer Aufführung wechselseitig bestärken: „Jeder einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen.“ (Schiller 1976: 729) Im Dienste einer Verfeinerung der Sitten wird Mäßigung bzw. Angemessenheit im Ausdruck für Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen gefordert. Deshalb werden Anstrengungen unternommen, einen „idealisierten Schauspielertypus“ wie auch einen „idealisierte[n] Zuschauertypus“ (Korte 2014: 48) zu entwerfen. Wie sehr um 1800 die Debatte um eine gemäße Erwiderung des Publikums im Theater entbrannte, verdeutlichen aber nicht nur die zahlreich erscheinenden theoretischen Schriften zur Bühnenkunst, sondern auch Artikel und Rezensionen in Theaterjournalen (Korte/Jakob/Dewenter 2014). So wird der Beobachtung Ausdruck gegeben, dass die Zuschauer „am Gelingen und Misslingen des Theaterabends maßgeblich beteiligt“ (Korte 2014: 9) sind, indem sie etwa auf den Einsatz oder Ausschluss von bestimmten Schauspielern pochen oder auf den Spielplan Einfluss nehmen. Das Theater-Publikum will demnach den Gabentausch zu seinen Gunsten beeinflussen und benimmt sich dabei keinesfalls wie in einer ‚sittlichen Abendschule‘ (Haider-Pregler 1980). Von Theaterkritikern und Connaisseuren der Bühnenkunst wird befürchtet, dass der erwünschte Gabentausch zwischen Bühne und Zuschauerraum außer Kontrolle gerät, und sie ermahnen von daher das Publikum eindringlich, sich während der Vorstellung auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren und sich nicht einmischend oder gar fordernd zu gebärden (Korte/Jakob 2012). Gespräche, spontane Zwischenrufe, laut-

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starke Unmutsäußerungen, Beifallsbekundungen oder Da-capo-Schreie während der Vorstellung gelten (anders als noch bei den Wanderbühnen) ab sofort als grobe Störungen. Es ist gewünscht, das jeweils aufgeführte Stück (gleich einer theatralen Gabe) respektvoll anzunehmen und durch adäquate Reaktionen zu erwidern. Wie in vielen Rezensionen nachzulesen, ist zwar die Überwältigung der Zuschauer durch die mit dem Bühnengeschehen evozierten Gefühle höchstes Ziel einer Inszenierung, doch soll diese in gesitteter Form stattfinden. Dabei setzt sich die Vorstellung durch, dass der Kunstcharakter einer Aufführung erst durch das Verhalten des Publikums sanktioniert wird. Mithin werden mit dem Bestreben, ein künstlerisch anspruchsvolles bürgerliches Theater durchzusetzen, Tabus für die Zuschauer etabliert. Denn nur durch den Verzicht auf Ein- und Übergriffe seitens des Publikums kann das Theater als Medium der Bildung und bürgerlichen Selbstverständigung nobilitiert werden. Gleichsam als Belohnung für die Einhaltung eines theatralen Paktes mit ‚Eingriff-Tabus‘ werden die Zuschauer sukzessive zum konstitutiven Bestandteil der Bühnendarstellung promoviert. So betont Friedrich Hegel, dass Kunst allgemein und eine Theateraufführung im Besonderen „nicht für sich, sondern für uns, für ein Publikum“ (Hegel 1955: 276) existiert. Arthur Schopenhauer geht noch weiter und verweist darauf, „daß jedes Kunstwerk nur durch das Medium der Phantasie wirken kann“ und deshalb aktive „Mitwirkung des Beschauers“ (Schopenhauer 1968: 523) gefordert ist. Im Sinne einer solchen ‚Mitwirkung‘ hat Richard Wagner mit seiner Idee des Gesamtkunstwerkes den Zuschauer zum „organisch mitwirkenden Zeugen“ (Wagner 1852: 177) des Bühnengeschehens und „nothwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes“ (ebd.: 166) erhoben. Schließlich rückt der Zuschauer im Zuge der Theaterreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts endgültig ins Zentrum des Interesses, wenn etwa der Theatertheoretiker Georg Fuchs in seiner Schrift Die Revolution des Theaters (1909) apodiktisch erklärt: „Spieler und Zuschauer, Bühne und Zuschauerraum sind ihrem Ursprung und Wesen nach nicht entgegengesetzt, sondern eine Einheit.“ (Fuchs 1909: 63f) Er geht davon aus, dass die Zuschauer durch das affektive Angesprochen-Sein in einer Inszenierung eine gesteigerte Selbst-Empfindung erleben. Dieser Ansatz findet bei vielen Regisseuren Anklang, wie beispielsweise auch bei Wsewolod Meyerhold, der in seinem Aufsatz Zur Geschichte und Technik des Theaters (1907) Inszenierungen fordert, „in denen der Zuschauer mit seiner Vorstellungskraft schöpferisch beendet, was die Bühne nur andeutet.“ (Meyerhold 1979: 135) Mit dieser Ermächtigung der Zuschauer zu Mitschöpfern des theatralen Ereignisses wird die Rampe enttabuisiert und nicht mehr als strikte Trennlinie zwischen Bühne und Publikum verstanden, sondern als zu bespielender liminaler

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Bereich. Oder aber es werden im Dienste eines neuen theatralen Erlebens Orte im städtischen Raum zur Bühne umfunktioniert, wie dies Max Reinhardt als einer der Ersten tat. So hat schon Hugo von Hofmannsthal in Reinhardts bahnbrechenden Theaterarbeiten eine Würdigung des Publikums als wichtigstes Glied in einem Tausch von Gaben ausgemacht: Damit ein Theaterstück zu seiner letzten, vollständigsten Wirkung komme, muß der Dichter dem Regisseur freien Raum lassen, der Regisseur dem Schauspieler, der Schauspieler aber dem Zuschauer: in dessen Gemüt erst darf sich das Wechselspiel der Wirkungen vollenden. (Hofmannsthal 1979: 316)

Mit der Aufhebung der strikten Trennung von Spiel- und Zuschauerbereich verändert sich die Position des Zuschauers im theatralen Gabentausch erneut. So fordert die Bühne der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch insbesondere Bertolt Brechts episches Theater die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen heraus. Statt illusorischer Repräsentation geht es nun verstärkt um demonstrative Präsentation, wobei die Integration von dokumentarischem Material und Fremdtexten zu heterogenen Rede- und Darstellungsformen führt, die dann im postdramatischen Theater keiner eindeutigen Figur mehr zuordenbar sind. Die Entkoppelung von Figur und Rollentexten nötigt die Zuschauer, sich einer Vielfalt von sich widersprechenden oder überkreuzenden Stimmen und Diskurspositionen zu stellen. Überdies führt das postdramatische Theater verstärkt in einen Prozess der Recherche mit der Hinterfragung von Produktions- und Rezeptionsbedingungen hinein. Jeder einzelne Zuschauer wird damit konfrontiert, dass es „nicht mehr von ihm selbst, sondern auch von den anderen abhängt, was er erlebt. Sofern seine eigene Rolle ins Spiel kommt, kann sich das Grundmodell des Theaters förmlich umkehren.“ (Lehmann 2005: 183) Obgleich in zahlreichen Texten niedergelegt ist, dass sich Theater in Bezug auf die Zuschauer realisiert, blieb in der Theaterforschung das Publikum lange Zeit eher marginal. Doch ist offensichtlich, dass die Minimaldefinition von Theater als ‚ein Spiel in Rollen vor einem Publikum‘ erweitert werden muss in ‚ein Spiel in Rollen vor Zuschauern in der Rolle des Publikums‘. Gabentheoretisch kann es auch nicht mehr heißen: ‚ein Spiel in Rollen als Gabe für Zuschauer, die diese durch ablehnende oder zustimmende Reaktionen erwidern‘. Vielmehr geht es um ‚ein Spiel in Rollen, das sich als theatrale Gabe auf die gleichursprünglich angenommene Begabung der Zuschauer für die Rolle als Publikum bezieht‘. Diese Begabung des Publikums offenbart sich in der Offenheit für ästhetische Erfahrung, die eine Inszenierung als Theaterereignis erst möglich macht. Mit

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dem Ereignis aber ist eine dionysische Dimension verbunden: die Überwältigung und Entfesselung des Publikums durch künstlerische Verausgabung. Und doch ist beim theatralen Gabentausch auch eine vollkommene Ablehnung möglich. So können sowohl die Theatermacher die von ihnen erwartete Gabe aus Unvermögen oder mit Intention (wie in Handkes Publikumsbeschimpfung) verweigern wie auch das Publikum, indem es mit Enttäuschung, Wut oder Empörung über das Gegebene unmittelbar reagiert. In solchen Akten der Zurückweisung und emotionalen Entlastung geht es unter gabentheoretischen Gesichtspunkten um mehr als die Ablehnung einer so nicht akzeptierten Leistung. Denn hier gewinnt die Möglichkeit Raum, den Zwang zur Erwiderung mit seiner Negation zu parieren und damit erst zugrunde liegende Tabus deutlich werden zu lassen. Auf diese Weise sprengt der theatrale Gabenprozess eine Tabu-Struktur auf, die im dreigliedrigen Gabentausch mit Geben, Nehmen und Erwidern im Dienste der Verschleierung von theatralen Konfigurationen bleibt. Das Theater ist der Ort, an dem die Gabe nicht nur enthusiastisch gefeiert, sondern auch mit Verve zurückgewiesen werden kann. Somit sind nicht nur die Schauspieler auf der Bühne (wie etwa in Handkes Publikumsbeschimpfung), sondern auch die Zuschauer zum Tabubruch bereit. Sie inszenieren sich selbst in der Rolle der Rebellierenden, welche die Gabe erwidern, indem sie diese unter lautstarkem Protest zurückweisen.

T HEATRALE G ABE : E RWARTUNG , E NTTÄUSCHUNG , E RFÜLLUNG Die Entdeckung des Publikums beginnt immer wieder neu, insofern die Bühne gefordert ist, den Anspruch zu kommunizieren, den sie mit einer Produktion verbindet. Das Theater stellt bereits seine Spielpläne im Hinblick auf die Zuschauer zusammen, die es mit den ausgewählten Stücken gewinnen will. Mit der Planung einer neuen Inszenierung und der Entwicklung von Vorstellungen über die Wirkung des zu Zeigenden im Probenprozess richten sich Regieteam und Schauspieler unwillkürlich an der Förderung der Begabung des Publikums zur Offenheit für die theatrale Gabe aus. Anhand von Themen und Fragestellungen, die nicht nur die an der Produktion beteiligten Theaterschaffenden umtreiben, sondern auch die Zuschauer interessieren könnten, wird eine Inszenierungsidee entwickelt, die sich von der ästhetischen Signatur bisheriger, dem theateraffinen Publikum vielleicht bereits bekannter Aufführungen absetzt. Denn jedes Theaterprojekt findet entsprechend der Anlage des Stücks und den ästhetischen Vorlieben des Regisseurs seine je eigenen Formen der Zuschauereinbindung. Hierbei geht

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es weniger um die Vorstellung von Konzepten als um drängende Fragen, die mit alten wie neuen Stücken vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse verhandelt werden. So formiert sich eine Inszenierung von der ersten Probe bis zur Premiere bereits als Gebende, die mit ihrem dramaturgischen Konzept die Zuschauer überraschen und ansprechen will. Auf der Suche nach neuen Erkenntnis- wie Darstellungsmöglichkeiten hat sich die Regie von der Rekonstruktion und Deutung eines teilweise sakrosankten Textes aufgemacht zur Neukonzeption eines Erfahrungsraumes auf der Bühne, in dem ein theatraler Hypertext in Polylog mit Diskursen, Künsten und Medien geführt wird. Die Aufführung schafft gleichsam einen theatralen Text, der sich in ein intertextuelles Verhältnis zum gegebenenfalls literarischen Werk wie auch zur eigens erstellten Spielfassung setzt. Was Zuschauer somit in einer Vorstellung sehen, ist die im Probenprozess entwickelte Auslegung eines Textes in Bezug auf anschlussfähige Kontexte. Mit seinem Inszenierungskonzept reagiert ein Regieteam mithin sowohl auf Bühnenkonventionen und Stiltraditionen als auch auf virulente gesellschaftspolitische Diskurse und aktuelle mediale Präsentationsformen. Über ironische Zitation, Camouflage oder Verfremdung des Erwartbaren stellen Inszenierungen die Neuartigkeit ihres Ansatzes aus. Häufig arbeitet das gegenwärtige Regietheater mit dem Einsatz multimedialer Mittel wie Videoclips, Musikeinspielungen und Bildprojektionen, betont den Spielcharakter des Dargebotenen und lässt die Inszenierungspraxis selbst zum Thema der Aufführung werden (Gutjahr 2008a). Regisseure grenzen sich in neueren Produktionen durch Zitate und Anspielungen von früheren eigenen Inszenierungen, denjenigen von Kollegen oder Theaterskandalen deutlich ab und setzen eine theatral immer neu zu (er-)findende Zeitgenossenschaft in Szene. Entwickelt wird damit eine theatrale Gabe für ein Publikum, das an aktuellen Fragestellungen interessiert und für neue Ausdrucksformen offen ist. Für die Theaterzuschauer konkretisieren sich die im Probenprozess aufgenommenen Inszenierungsideen unmittelbar sinnlich wahrnehmbar durch die szenische Vergegenwärtigung auf der Bühne. Dabei wirft das Gezeigte durch den Aufbau und die darauffolgende Zurücknahme oder gar den Zusammenbruch von Bezügen erneut Fragen auf, die den Zuschauern überantwortet werden. Wer eigens die Inszenierung eines geschätzten Regieteams betrachtet, will sich durch das Bühnengeschehen in eine spezifische Weise des Sehens und in eine neue Form der Auseinandersetzung mit Texten und Diskursen hineinbegeben. Dabei dienen die eingesetzten theatralen Zeichen der Verdeutlichung polyvalenter Bezüge und neuer Deutungsebenen. Von daher spricht das postdramatische Theater ein Publikum an, das sich auch von der Art der Beschäftigung mit aktuellen Konflikten überraschen lassen möchte.

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Jede Theateraufführung ist für das Publikum mit der Erwartung verbunden, vom Gezeigten angesprochen zu werden. Somit ist für jede Inszenierung, gleich welcher Ausrichtung, entscheidend, dass die Zuschauer von Anbeginn in den Prozess des theatralen Gabentausches eingebunden sind. Dies geschieht etwa durch Spiel- und Sprechverfahren, die aus dem Bühnengeschehen hinausweisen und den stummen, zumeist im Dunkeln sitzenden Zuschauer explizit miteinbeziehen. Oftmals werden Konfidentfiguren, die über Geheimnisse, innerste Regungen und noch nicht weiter kommunizierte Pläne der Protagonisten wissen, als Stellvertreterfiguren der Zuschauer inszeniert. Nicht selten wird das Publikum ostentativ angesprochen, indem etwa die Spielfläche in den Zuschauerraum hinein verlängert wird und dort helles Licht eingeschaltet bleibt oder Schauspieler an die Rampe treten, um die Zuschauer in ihrer Doppelrolle als Gebende und Gabennehmer zu adressieren, wie etwa in Handkes Publikumsbeschimpfung. Solche direkten Ansprachen werden von den Zuschauern erst dann als zu erwidernde Gaben wahrgenommen, wenn sie sich vom Gesagten und Gezeigten gemeint fühlen. Sie bergen jedoch das Risiko, bemüht und wenig überzeugend zu wirken, wenn der Eindruck entsteht, dass der theatrale Pakt zwischen Darstellern und Betrachtern einseitig gebrochen wird oder die Theaterschaffenden in Verdacht geraten, nicht ihr Bestes zu geben. Angesichts der Enttäuschung über das auf der Bühne Gesehene können dann die ökonomischen Rahmenbedingungen des theatralen Gabentausches in Anschlag gebracht werden. Denn die Theater gehen zwar durch die Bereitstellung von Ressourcen und den Probenprozess mit einer Vorleistung in den Gabenprozess hinein, doch werden sie dabei finanziell unterstützt. Gerade in Deutschland sind insbesondere die Stadt- und Staatstheater durch Steuergelder subventioniert. Auch sind Theateraufführungen in der Regel kein kostenloses Geschenk, sondern leben vom Zuspruch des Publikums, der sich auch in der Anzahl und Preiskategorie der verkauften Eintrittskarten niederschlägt. Der theatrale Gabentausch wird also erst durch beiderseitige Vorleistungen möglich, die ökonomischen Regeln folgen. Die Theaterzuschauer gehen mithin in der Erwartung ins Theater, eine Inszenierung geboten zu bekommen, die nach subjektivem Empfinden das zuvor investierte Geld auch wert ist. Diese Wertschätzung des theatral Gebotenen hängt wiederum stark von Erwartungen ab, die mit einer Vorstellung verbunden sind. Die theateraffine (Stadt-)Bevölkerung erfährt über Medien von neuen Inszenierungen und imaginiert sich etwa durch einen ansprechenden Werbetext, frühere Theatererfahrungen, Kenntnisse über das Stück sowie Vorlieben für einen bestimmten Regisseur, ein beeindruckendes Ensemble oder einzelne herausragende Schauspieler in die Rolle des Zuschauers hinein. Unweigerlich kommen Theaterbesucher also in eine Vorstellung bereits ‚mit eigenen Vorstellungen‘,

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die mit dem Zu-sehen-Gegebenen abgeglichen werden. Wer ein Stadt- oder Privattheater, eine Off-Bühne oder eine performative Veranstaltung mit hochgesteckten Erwartungen besucht, geht ein hohes Risiko ein, enttäuscht zu werden, ja vielleicht sogar, sich am Ende um den Einsatz an Zeit und Geld betrogen zu fühlen. Dies umso mehr, wenn zuvor gesehene Darbietungen als seinerzeit ,geldwerter Maßstab‘ angelegt werden. Fällt die Bilanz für das neu Miterlebte negativ aus, macht sich Enttäuschung oder Verärgerung breit, während Aufführungen Beifall finden, in denen ein mitreißendes Bühnenereignis erlebbar wird. So sind für das Empfinden des Zuschauers, über das Erwartbare hinaus beschenkt zu werden, überzeugende darstellerische Leistungen, die Relevanz des Dargebotenen und die Stimmigkeit des Inszenierungskonzepts entscheidend. Doch hängt die Wertschätzung des theatralen Geschehens als Gabe auch maßgeblich von den bisherigen Theatererfahrungen und der Fähigkeit ab, sich auf unterschiedliche ästhetische Mittel und Inszenierungsstile einzulassen. Die Begabung der Zuschauer zur Offenheit erweist sich somit als Vermögen, sich mit einem wie auch immer gearteten Handlungsverlauf auf der Bühne selbst in einen Prozess der Veränderung hineinbegeben zu können. Der ökonomisch gerahmte, theatrale Gabentausch setzt in seiner Gleichzeitigkeit von Geben, Nehmen und Erwidern diese Begabung im Sinne einer weiterzuentwickelnden Anlage der Zuschauer voraus.

T HEATRALER G ABENTAUSCH : D IALOGE UND T ABUBRÜCHE Im Kontext des Theaters tritt der Gabentausch aus dem zirkulären Dreischritt von Geben, Nehmen und Erwidern heraus und wird dialogisch, denn die theatrale Gabe ist mit der Begabung der Zuschauer zum Theatralen gleichursprünglich. Theater, als spielerische Darstellung für Zuschauer verstanden, ist im eigentlichen Sinne ohnehin erst vor und damit im direkten Kontakt mit dem Publikum realisierbar. Ein theatrales Ereignis ist somit nicht nur durch die Darstellung auf der Bühne gegeben, sondern notwendig immer auch von Interaktionen der Schauspieler mit dem Publikum sowie einem subtilen Zusammenwirken der Zuschauer untereinander getragen. Zwischen den sprechenden, tanzenden, singenden Darstellern und dem mit Auge und Ohr gespannt auf die Bühne ausgerichteten Publikum findet über Darstellungs- und Rezeptionsenergien ein Austausch statt. Das szenische Spiel zwischen den dramatis personae springt in seiner Semiose und emotionalen Besetzung auf die Betrachter über und versetzt diese in unterschiedliche Stimmungen, die wiederum eine Gesamtenergie des Publikums

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erzeugen. Die Zuschauer sind dadurch nicht mehr bloß stumme Zeugen eines Geschehens, sondern auch Angesprochene, die ihrer Betroffenheit Ausdruck geben. Erst mit ihren affektiv fundierten Reaktionen geben sie zu erkennen, ob sie die theatrale Gabe annehmen oder ablehnen. Sie tragen das szenische Geschehen auf der Bühne allein schon durch ihre gespannte Aufmerksamkeit oder nehmen ihm durch ihre Unkonzentriertheit, Ermüdung oder Gespräche mit Begleitpersonen an Energie. So können sie durch bestätigendes Lachen, Zwischenapplaus oder Laute der Begeisterung die Aufführung befeuern wie auch durch unwillige Zwischenrufe, Husten und Zischen ins Wanken bringen. Durch lautstarken Protest, Pfiffe, Buhs, Aufstehen und lautes Türenknallen wird Missfallen oder Verärgerung direkt rückgekoppelt. Damit brechen die Zuschauer die impliziten Tabus des theatralen Gabentausches, denn sie schenken der Aufführung nicht mehr ihre konzentrierte Zuwendung. Vielmehr treten sie aus ihrer stummen Rolle des disziplinierten Betrachters heraus und maßen sich die Rolle eines Antagonisten an. Solche Tabubrüche, die gegen die Wahrung der erwarteten Zuschauerrolle verstoßen, können jedoch auch als Ausdruck produktiver Krisen im theatralen Selbstverständnis gesehen werden, weil sie zur Begründung von Erwartungen und zur Reflexion selbstverständlicher Wertsetzungen nötigen. Auch für die Theaterschaffenden kann die theatrale Gabe mit für notwendig erachteten Tabubrüchen verknüpft sein, insofern diese es als ihre Aufgabe sehen, das auf die Bühne zu bringen, was bisher zu wenig erinnert und problematisiert oder dargestellt wurde (Bettelheim 1994). Ohnehin gerät eine Inszenierung leicht unter Verdacht, konservativen oder verdrängerischen Tendenzen Vorschub zu leisten, wenn sie entgegen aufklärerischen Bestrebungen an prekär gewordenen Tabus festhält. Von daher sind Enttabuisierungen, die als Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und überholten Vorstellungen zu verstehen sind, genuine gesellschaftliche Aufgabe von Theater. Im Hinblick auf die sozialen, politischen und sexuellen Befreiungsbewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gilt der Tabubruch geradezu als Signum gesellschaftlicher Umbrüche und künstlerischer Innovationen (Braungart 2004). Da Tabus sich der unmittelbaren Evidenz entziehende Meidungsgebote sind, fordern sie zur Entdeckung und Deutung heraus. Das Theater als Medium, das paradigmatisch aufzeigt und in die ‚Unverborgenheit‘ bringt, sucht nicht selten dem Tabubruch durch einen ‚inszenierten Skandal‘ besondere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Gerade die Ambivalenz von Tabus, die sich aus ihrer Funktion der Eindämmung zerstörerischer Energien ergibt, wirft ein Licht auf den ,sozialen Schrecken‘, den der Tabubruch hervorzurufen vermag. Denn Übertretungen verdeutlichen, dass eingehegte Tabubereiche vor äußeren Grenzverletzungen und inneren Zerstörungspotenzialen nicht gefeit sind. So werden auf dem Theater Differenzen und Grenzziehungen bevor-

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zugt über Taburegeln und deren unerwartete Durchbrechung inszeniert. Auch lässt sich die Unterschiedlichkeit von Werthorizonten und Kulturvorstellungen durch schockierende Tabuverletzungen auf dramatische Weise illustrieren. Für ein Erfassen der soziokulturellen und psychodynamischen Ambivalenzen, die Tabus inhärent sind, ist ebenfalls die Offenheit der Zuschauer für unterschiedliche Inszenierungsformen wesentlich. Denn das Theater vermag durch Verfahren der Vieldeutigkeit die ambivalente Struktur von Tabus zu verdeutlichen wie auch die Wucht des Tabubruchs in affektprallen Szenen der Raserei, des Wahnsinns und Exzesses (Lehmann 1987). Auch kann das Gezeigte gegen implizite Darstellungskonventionen verstoßen und die mit Tabus verbundene fragile Balance zwischen Bloßstellung und Repräsentation schockartig augenfällig machen. Gerade weil Tabus zur basalen kulturellen Formung von Individuen und Gesellschaften gehören, bezieht das Theater Stellung zu Zensurmechanismen (Kaltenbrunner 1978). Mit sich verändernden ästhetischen Mitteln wird immer wieder neu hinterfragt, durch welche Institutionen und Repräsentanten und mit welcher Absicht die Einhaltung von Tabus eingefordert wird, wem sie dienen und in welcher Weise sie für das Zusammenleben notwendig sind. Das theatrale In-Szene-Setzen von Tabus und Tabubrüchen ist von daher als fortgesetztes Aufklärungsprojekt über kultur- und gesellschaftsspezifische Zwänge und die Möglichkeit von Schutzgebungen zu verstehen. Auch von daher tritt eine Inszenierung nicht selten über spielerische Selbstreflexionen mit dem Publikum in Kontakt. Es wird verdeutlicht, dass sich die theatrale Wirklichkeit durch dialogische Szenen aufbaut, denen im Verlauf der Bühnenhandlung sukzessiv neue Bedeutungen zugesprochen werden. Somit geht es nicht um die bloße Wahrnehmung des Bühnengeschehens, sondern um die gleichsam mitinszenierten Möglichkeiten, eigenen Vorstellungen Raum zu geben. Denn erst durch diese Imagination der Zuschauer wird die Bühnenhandlung zum lebendigen, wahrheitsverbürgenden Geschehen. Mit anderen Worten: Die Flüchtigkeit von einzelnen Theaterszenen verlangt die Einbeziehung von Vorund Nachszenen, um den Mitvollzug ihrer Bedeutung überhaupt zu ermöglichen. Die Erwartungen, Assoziationen oder Erinnerungen, die mit einer Szene verknüpft werden, versetzen den Zuschauer in einen Zustand der Erregung, in ein affektives Mitgenommen-Werden. In ihm entwickelt sich auf mental und psychisch komplexe Weise eine eigene ‚Vorstellung‘, eine gesteigerte Empfindung des eigenen Selbst: ein Gefühl des Beschenkt-Seins. Somit ist nun der Ort, den jeder einzelne Besucher in der Ordnung des Theaters einnimmt, nicht allein im Zuschauerraum oder auf einem wie auch immer lokalisierten Schauplatz theatralen Geschehens, sondern auch auf einer eigenen inneren Bühne. Denn im Mitvollzug der Aufführung wird der Zuschauer durch

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eigene Erfahrungen und Teilhabe an der Publikumsgemeinschaft zum „Doppelwesen“ (Roselt 2008: 333). Er begibt sich durch sein Imaginationsvermögen aber auch in die Welt des Dargestellten hinein, wird zum Mitspieler und Beobachter zugleich. Er übernimmt somit in der theatralen Beschenkung eine Doppelrolle: die des Schauenden und des Sich-als-erkannt-Erlebenden (Gutjahr 2017a). Diese Doppelrolle lässt sich mit dem Konzept der Dialogizität, wie es der Semiotiker Michail Bachtin entwickelt hat, näher fassen. Er legte dar, dass sich der Sinn einer Sprachhandlung nicht direkt aus den einzelnen Worten oder Sätzen erschließt, sondern erst unter Berücksichtigung der Redesituation. Je nach Verwendungszusammenhang meint ein und derselbe Wortlaut ganz Unterschiedliches. Begriffe und Propositionen werden somit durch ihre Verwendung referenzfähig und jede Äußerung ist auf vorhergehendes und künftiges Sprechen bezogen. Da Worte immer mehrdeutig und offen für weitere Deutungen sind, meint Dialogizität hier also die Interferenz von unterschiedlichen Sinnpositionen (Stimmen) in einem Wort oder einer Äußerung, die als neue Sinnstiftung erfahren wird. Von daher kann Bachtin resümieren: „Die dialogische Erkenntnis ist eine Begegnung.“ (Bachtin 1979: 352) Eine solche dialogische Erkenntnis ereignet sich in der szenischen Begegnung des Publikums mit dem Bühnengeschehen und verweist zugleich auf eine elementare Form der Selbstvergewisserung und Weltorientierung, die zur conditio humana gehört. Besonders fremdartiges oder verstörendes Erleben – nicht zuletzt das von Tabuverletzungen – zieht imaginäre Inszenierungen nach sich. Das Erlebte muss in der Phantasie erneut durchgespielt werden, um überhaupt bearbeitbar zu sein. Dabei inszeniert und beobachtet sich das Selbst auf einem inneren Schauplatz, indem es die erlebte Szene in immer neuen Variationen und Möglichkeiten nachspielt und die eigene Position und die der anderen so lange verändert, bis durch Distanz zu sich selbst eine Lösung gefunden und das Erlebte zur Erfahrung gemacht werden kann. Diese innere Differenz als „Abständigkeit des Menschen zu sich“ (Plessner 1982: 407) bei gleichzeitiger Verwiesenheit auf den und die Anderen wird beim Zuschauer durch den Mitvollzug eines Spiels in Rollen wachgerufen. Erst aus dieser inneren Differenz erwächst die Begabung, sich selbst in anderen Rollen zu imaginieren und sich ein inneres Repertoire an Erfahrungen immer wieder neu zu erspielen. Beim Besuch einer Inszenierung im Theater wird der Zuschauer mithin in szenisch-dialogische Kommunikation mit dem Bühnengeschehen geführt. Er ist von Anfang an Beobachter ‚fremder Szenen‘, die ‚eigene Szenen‘ in verändernder Weise innerlich anstoßen. Abgefordert wird somit die Bereitschaft, sich in das, was andere darstellen und durch Gestik, Mimik, Stimme und Sprache zu sagen haben, hineinzuversetzen, um damit zugleich in ein vielschichtiges inneres

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Spiel einzutreten. Die Zuschauer reagieren unmittelbar auf das Miterlebte, fühlen sich berührt oder zurückgestoßen und beginnen in einem inneren Gespräch, Fragen an die Inszenierung und damit auch an sich selbst zu stellen. Dargestellte Szenen rufen im Modus der Verfremdung oder Ähnlichkeit Selbsterlebtes wach und bringen es in unmittelbare Präsenz. Dabei kann eine emotionale Umbesetzung dieser erinnerten Szenen gelingen, wenn aus dem theatralen Dialog neue Empathie erwächst: das Vermögen, sich dialogisch in andere Positionen hineinzuversetzen und diese zugleich in sich anzuerkennen. Erst durch solch innere Re-Inszenierungen im Modus ästhetischer Erfahrung werden die Zuschauer Teil der theatralen Handlung und beglaubigen die Wahrhaftigkeit des Zu-sehenGegebenen. Nun wird unmittelbar evident, dass durch diese Form der Teilhabe am Bühnengeschehen keine andere Wirklichkeit geschaffen wird, sondern eine genuin theatrale Situation, die selbst wirklich ist. Ein Gabentausch ist im Theater somit dann gegeben, wenn das Publikum über das Erwartbare hinaus einen Überschuss an Verdichtung erlebt, der in innere Bewegung versetzt. Eine geglückte Konstellation ästhetischer Zeichen wird zum theatralen Ereignis, wobei sich die Schauspieler in ihrer leiblichen Präsenz und Ausgesetztheit selbst geben. Die Aufnahme dieser Verausgabung erwidern die Zuschauer mit ihrer Ergriffenheit für eigene Szenen. Das große Bedürfnis, sich nach einer Inszenierung mit anderen über das Gesehene und damit auch das eigene Angesprochen-Sein auszutauschen, verdankt sich dieser Erfahrung. Der Wunsch nach Gespräch wird allein schon durch das gemeinsame, teilweise zutiefst aufwühlende Erlebnis einer Aufführung evoziert. Ein verändertes Verständnis über das, was ein Stück ist, und die Ausdifferenzierung intermedial ausgerichteter Inszenierungsstile fordern in besonderer Weise zu kritischen Auseinandersetzungen heraus (Gutjahr 2017b). Daher sind Möglichkeiten der Partizipation und Reflexion sowie der Wunsch nach Teilhabe an einer dialogischen Kultur Ausdruck eines tiefgreifenden Selbstverständnisses der szenischen Künste und ihres Publikums. So sucht das gegenwärtige Theater auffällig häufig auch jenseits der Aufführung von Theaterstücken den Dialog mit seinem Publikum. Es führt gezielt unterschiedliche Gruppen an Aufführungsprojekte heran, erläutert seine Inszenierungen vor Beginn der Vorstellung und bereitet sie in Publikumsgesprächen nach. Es veranstaltet Lesungen und Autorengespräche, um alte Stoffe und neue Themen in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Bühne und darüber hinaus vorzustellen. Es greift in Diskussionsforen gesellschaftlich aktuelle Fragen auf und bietet wissenschaftlichen Symposien Raum. Die starke Nachfrage bei solch diskursiven Veranstaltungen verdeutlicht, dass der Erfolg einer Inszenierung sich nicht allein an der begeisterten Zustimmung bemisst, mit der das Publikum auf das Bühnengeschehen reagiert, sondern auch

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an der Intensität, mit welcher dieser angestoßene Dialog auch außerhalb des Theaters fortgeführt wird. Denn auch hier zeigt sich, wie begabt das Publikum ist. In diesem Sinne wird in Handkes Publikumsbeschimpfung den Zuschauern gegen Ende des Stückes prophezeit: „Wenn Sie zusammenbleiben, werden Sie eine Theatergesellschaft bilden.“ (Handke 2017: 43)

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Weitergeben. Theater mit Kindern für Erwachsene als Generationsverhältnis: Milo Raus Five Easy Pieces K RISTIN W ESTPHAL Ein Schauspieler spielt nicht für sich selbst. Er spielt für das Publikum. Er denkt nicht an sein Vergnügen, sondern nur für das des Publikums. Winne sagt, Theater ist wie Puppenspielen, nur mit echten Menschen. Aber wenn ich jemand küsse, ist das dann Polly, die küsst oder die Figur, die küsst? Wenn ich auf Euch schieße (nimmt eine Pistole und zielt aufs Publikum) bin ich es dann, die auf Euch schießt oder die Figur? POLLY, FIVE EASY PIECES VON MILO RAU 2017

Abstract Passing on. Theatre with children for adults, using the example of Milo Raus “Five Easy Pieces”: In educational institutions such as the theatre, the transfer of traditions, knowledge and practices plays a fundamental role, as older people pass on their knowledge, their traditions, etc. to the younger ones. For pedagogy, the problem arises that educating is directed towards an undefined future – as no-one knows how it will shape itself. These possibilities can be played with in the theatre. The paper pursues the thesis that passing on is a transformation in the sense of responsiveness. Giving and taking as an entangled relationship then means less acceptance, but rather, in Levinas sense, to take upon oneself and to take over. Against this backdrop, a theatrical work with children for adults in the generational context is to be discussed and investigated more intensively on the example of Milo Raus production of “Five Easy Pieces”.

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1. V ORÜBERLEGUNGEN

ZUM

G EBEN UND N EHMEN

Marcel Mauss’ Untersuchungen in seinem bahnbrechenden Essai sur le don (1923/24) ist auf einen Dreiklang von Geben, Nehmen und Erwidern angelegt, dessen Dimensionen für Kunst, Ökonomie, Politik, Erziehung etc. in den modernen westlichen Gesellschaften zu verschiedenen Lesarten geführt hat. Aufgegriffen hat das Phänomen u.a. Waldenfels und zu der These überführt, den Gabentausch im kommunikativen Sinne als Gabe im Austausch zu betrachten. Geben bedeutet demnach z.B. ein „Weitergeben dessen, was irgendwo schon existiert und es bedeutet weiterhin ein Wiedergeben dessen, was in einem anderen Medium schon existiert“ (Waldenfels 1994: 600). Diese These ist unter dem Aspekt des Einsatzes von künstlerischen Reenactments1 bei Milo Rau von besonderer Bedeutung, insofern hier ein Weitergeben als ein Wiedergeben in einem körperlichen Vollzug, über Mimesis geschieht und somit leiblich-sinnliche, räumliche und zeitliche Dimensionen in einer Verschiebung ins Spiel kommen. Waldenfels versteht das Weitergeben nicht allein als ein komplementäres Verhältnis, sondern folgt mit Derrida2 und Merleau-Ponty3 den Momenten des Vorschusses und Überschusses, die über den Rahmen ökonomischer, rechtlicher oder moralischer Ordnungen eines Gabentausches hinausgehen und in unserem Kontext von Theater und Pädagogik von besonderem Interesse sind. „Wir sollten uns frei machen von der Vorstellung, es ginge in erster Linie darum, etwas zu geben und zu nehmen.“ (Waldenfels 1994: 615) Das Antworten auf einen Anspruch bedeutet für Waldenfels, dass man eine Antwort nicht bloß als eine Gabe gibt, vielmehr geht es ihm um eine Umwandlung im Sinne einer Responsivität. Antworten heißt dann: „Ich gebe, indem ich nehme, und ich nehme, indem ich gebe“ (ebd.). Dabei versteht er es nicht als ein Ansichnehmen, sondern im Sinne von Levinas als ein Aufsichnehmen und Übernehmen (ebd.: 614). Bei Mauss finden wir die Aussage bezogen auf polynesische Sitten, „daß jemanden etwas geben soviel heißt, wie etwas von sich selbst geben“ (Mauss 1989: 161 dt. 26). Geben heißt dann immer, sich selbst zu bekun-

1 2

3

Zur Verflechtung von Theater und Geschichte, vgl. Heeg et al. 2014. Derridas Gabentheorie versteht den Gabentausch nicht in einem ökonomischen Zyklus von Gabe und Gegengabe: „Die Gabe darf auf keinen Fall zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden, auf gar keinen Fall darf sie sich, als Gabe verschleissen lassen im Prozess des Tausches, in der kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt.“ (Derrida 1993: 17) Husserl spricht vom Überschuss von Wahrnehmungen am Rande, von Präsentationen der Mitanwesenheiten: Appräsentationen (Husserl 1994). Merleau-Ponty spricht vom Überschuss des Kunstwerks, der über die bewussten Intentionen hinausgehe (Merleau-Ponty 2003: 153).

W EITERGEBEN . THEATER

ALS

G ENERATIONSVERHÄLTNIS – R AUS FIVE E ASY P IECES

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den. Daraus zieht Waldenfels die Schlussfolgerung, dass am Anfang kein „Subjekt“ stehe, das einen Akt des Gebens vollziehe, vielmehr suche sich das Geben erst seinen Geber und Empfänger. „Ein Geben, das sich von dem her bestimmt, worauf es antwortet, macht jemanden zum Respondenten, das heißt auch: zum Geber einer Antwort, der zugleich Empfänger dessen ist, worauf er antwortet.“ (Waldenfels 1994: 618) Schon in der Antike galt der Schauspieler in diesem Sinne weniger als Akteur als ein Antwortender. „Pathos und Response bilden den Doppelakkord einer Erfahrung, die nicht eigenmächtig bei sich selbst beginnt und nicht um sich selbst kreist.“ (Waldenfels 2015: 39f.) Vor diesen kurz skizzierten Thesen, die das Weitergeben als ein responsives Geben und Nehmen, als ineinandergreifendes leiblich-sinnliches Geschehen in einer zeitlich-räumlichen Verschiebung zeichnen, möchte ich am Beispiel von Milo Raus Five Easy Pieces eine Theaterarbeit mit Kindern für Erwachsene im Generationsverhältnis genauer erörtern und befragen. Wie stellt sich die Frage des Weitergebens in einer Theaterarbeit mit Kindern im Verhältnis von Darstellung und Dargestellten? Hierzu einige Vorbemerkungen, die die Frage nach dem Weitergeben als Geben und Nehmen zunächst als ein strukturelles Moment in der Erziehung bespricht, wie sie auch für eine Theaterarbeit mit Kindern im Sinne eines intergenerationellen Weitergebens geltend gemacht werden kann. 1.1 Vorbemerkungen zum Geben und Nehmen in der Erziehung In Bildungseinrichtungen wie dem Theater spielt das Weitergeben von Traditionen, Körper/Wissen und Praktiken eine grundlegende Rolle, indem die Älteren den Jüngeren ihr Wissen, ihre Traditionen, ihre Ängste, kollektiven Traumata in Märchen, Mythen, Epen und Realem etc. weitergeben. Für die Pädagogik stellt sich das Problem, dass Erziehen und Bilden auf eine unbestimmte Zukunft für den Zuerziehenden hin ausgerichtet ist, von der keiner wissen kann, wie sie sich gestalten wird. Im Theater kann mit diesen Möglichkeiten gespielt werden, ohne zugleich in eine Pflicht genommen zu werden (vgl. Westphal 2011b). Schleiermacher, der 1826 in seinen Vorlesungen zur Pädagogik von einer Kultur spricht, die der nachkommenden Generation so zu vermitteln sei, dass sie in Kenntnis dieser Kultur eine vollständig eigene entwickeln solle, ist einer der ersten Pädagogen, der das grundlegende Problem deutlich macht, was es heißt für eine Zukunft auszubilden, die wir, weder die Kinder noch die Erwachsenen, noch nicht kennen. Im Spiel und wiederholenden Üben sieht er das Potential, dass das Kind sich im Spiel seiner Kräfte und der Entwicklung seiner Fähigkeiten bewusst werde und zu einem Selbstbewusstsein gelangen könne (Schleier-

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macher 1983: 87). Schleiermacher betrachtet dabei das Kind als einen autonomen Menschen, das ein Recht auf eine offene, selbstbestimmte Zukunft habe.4 Johannes Bilstein und Jörg Zirfas fassen vor dem Hintergrund der Diskurse in der Pädagogik und Anthropologie in einem jüngst erschienenen Band zum Geben und Nehmen in der Erziehung grundlegend strukturelle Momente zusammen: „Indem sich der Erwachsene dem Kind in der Erziehung (mit)gibt, erzeugt er einen Überschuss, der kaum kompensiert werden kann. Er erzeugt eine Beziehung, die prekär und unberechenbar und asymmetrisch bleibt.“ (Bilstein/Zirfas 2018: 35) So könne man nie sicher sein, ob die Erziehung auch angenommen oder der Generationenvertrag nicht aufgekündigt werde. „Das Geben und Nehmen bringt im Pädagogischen eine Bindung mit sich, die mit dem Annehmen und Erwidern verknüpft ist, ohne diese Handlungen kausal hervorrufen zu können.“ (Ebd.) Marcel Hénaff geht sogar so weit zu sagen, dass mit der Bewegung der Generationen die Gegenleistung unmöglich sei: Es gilt das Leben in einer paradoxen Gegenseitigkeit zu behaupten, indem man das Entschwindende und das Kommende, das Sterbende und das neu Geborene und Heranwachsende miteinander verkettet. Die Kinder, die geboren werden, sind die Erwiderung auf die Generation derer, die sterben. (Hénaff 2017: 20)

Diese von Hénaff – mit Mauss weitergedacht – unter ethischen Gesichtspunkt bezeichnete indirekte Übermittlung als Gegenseitigkeit in der intergenerationellen Beziehung betrachtet er als eine Gabe, mit der die Verbindung zwischen den Generationen nicht nur als Übermittlung und ein Weitergeben zu deuten ist, sondern als eine Verbindung zu sehen ist, die eine Verpflichtung schafft (ebd.). Nun hat das Weitergeben in pädagogischen Verhältnissen grundlegend die Selbstbestimmung und die Autonomie zum Ziel, das einen ökonomischen Aspekt wie auch den Aspekt des Selbstbewusstseins beinhaltet. Dabei haben wir es mit einer Paradoxie zu tun, die das Verhältnis von Erziehung als Geben und Nehmen bestimmt: Wenn man unter Erziehung das Weitergeben und Annehmen, also das […] Dual von Vermittlung und Aneignung versteht, dann scheint zwar der Erzieher Erziehung dem Zögling zu geben, doch auf den zweiten Blick kann man auch die umgekehrte Perspektive einnehmen. Denn nur dann, wenn es einen erziehungsbedürftigen und erziehungsfähigen Menschen gibt, braucht man auch Erziehung und Erzieher. (Bilstein/Zirfas 2017: 34f.)

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Vgl. vertiefend Westphal 2013: 173.

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Nur durch die Annahme komme Erziehung als Prozess und Resultat zustande. Insofern sehen Bilstein und Zirfas den Erzieher zuerst in der Schuld des Zöglings, weil seine Anstrengungen ohne den Zögling ins Leere laufen würden (ebd.: vgl. 35). Die Annahme und das Wiedergeben, das Antworten auf Erziehung ist somit unweigerlich damit verbunden, dass man auf den anderen und dessen Anerkennung angewiesen bleibt, ohne es voraussetzen zu können. Das Weitergeben bewegt sich Bilstein und Zirfas zufolge insofern in der Verbindung der Generationen immer in einer Aporie von Bindung und Trennung. Bei Mauss lesen wir: „So gibt es in der ganzen menschlichen Entwicklung nur eine Weisheit ...: Wir sollten aus uns herausgehen, Gaben geben, freiwillig und obligatorisch, denn darin liegt kein Risiko“ (Mauss 1989: 165 zit. bei Bilstein/Zirfas 2017: 36). Wie zeigen sich diese hier knapp skizzierten Momente von Erziehung im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen auf der Bühne in dem Stück von Milo Raus Five Easy Pieces? Was heißt es, wenn an dem Fall des Kinderschänders und -mörders Marc Dutroux von Milo Rau festgemacht, Kindern das Recht auf Selbstbestimmung, also ihre Würde und körperliche und seelische Unversehrtheit durch Missbrauch und Gewalttätigkeit genommen wird? Ein höchst tabuisiertes Thema nicht nur innerhalb der Pädagogik. Und was heißt es, wenn man wie bei Milo Rau, mit Kindern als potentielle Opfer dieses Thema bearbeitet und dann noch im Theaterspiel für Erwachsene, die sich in der voyeuristischen Rolle als Zuschauer wiederfinden? Ist es auszuhalten für Erwachsene, angesichts ihrer Verpflichtung als Schutzbefohlene für ihre Kinder, daran erinnert zu werden, dass Kinder solchen Grausamkeiten ausgesetzt sind? Bevor auf die besondere Spielweise des Stückes eingegangen wird, soll zunächst der Kontext dieses Stücks beleuchtet werden.

2. T HEATER MIT K INDERN

FÜR

E RWACHSENE

Das Stück von Milo Rau Five Easy Pieces (Premiere: Kunstenfestivaldesarts 2016) knüpft an mehrere – Nikolaus Müller-Schöll (2017) spricht von epochemachenden Inszenierungen – an, für die das Kinder- und Jugendtheater in Gent (ehemals Victoria Theater; heute campo arts centre) seit 1999 Theatermacher*innen aus dem Bereich der Performance Art dazu verpflichtet hat, mit Kindern Stücke für Erwachsene zu erarbeiten. Nach üBUNG von Josse de Pauw (2001) erfolgte das Chortheaterstück That Night Follows Day (2004) von Tim Etchells gefolgt von Before Your Very Eyes (2011) der Gruppe Gob Squad und Next Day (2014) von Philippe Quesne, um im Theater mit Kindern experimentelle Spielweisen zu erproben. All diese Produktionen legen es darauf an, in der

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Theaterarbeit mit Kindern für Erwachsene Zuspitzungen in einer Umkehrung des Generationenverhältnisses herzustellen, indem Kinder die Erwachsenen spiegeln und spielen. Mit den Arbeiten geht einher, dass sie nicht nur das (Erziehungs-) Verhältnis von Kindern und Erwachsenen, sondern das Theater als Theater und seine Mittel selbst zur Disposition stellen (Pauwels 2012: 57).5 Mehr oder weniger gemeinsam haben all diese Arbeiten, dass sie sich von dem zwischen dem mittleren 18. und dem frühen 20. Jahrhundert etablierten und auch das Kindertheater dominierenden Sprechtheatermodell lösen, um mit anderen Weisen des Umgangs mit Zeit, Raum, Text, Körper und Medien zu spielen. Auch ist allen Spielweisen gemeinsam, dass sie weniger im Sinne eines Voroder Schauspielens angelegt sind, sondern vielmehr an die Spiel- und Artikulationsweisen sowie Lebenswelten von Kindern anzuknüpfen wissen. Diesem Vorgehen liegt zudem ein Dialog im Probenprozess zwischen den Kindern und Künstler*innen zugrunde, der mehr oder weniger in die Produktionen selbst eingeht mit der Folge, dass Brüche und Aushandlungsprozesse aus den Proben gezeichnet werden, die i.d.R. für Produktionen geglättet werden.6 Sie lassen sich in Verbindung bringen mit Konzepten und Utopien der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, etwa von jenen, die Asja Lacis in Orel mit verwahrlosten Straßen- und Heimkindern entwickelte, deren Eltern im Bürgerkrieg gefallen waren, und später im zusammen mit Walter Benjamin verfassten Programm eines proletarischen Kindertheaters festhielt (Benjamin 1978; vgl. Burk 2015). Dazu gehören auch die Lehrstücke von Bertolt Brecht, die er auch Learning Plays, Spiele zum Lernen nannte, in der die Idee für eine andere Zukunft von Theater bereits aufscheint: So ist der Kern des Lehrstück-Modells das Nicht-Lehren, das Brecht in Anknüpfung an neue pädagogische Theorien in seiner Zeit und die Schulmusikerbewegung und in einem Versuch entwarf, eine andere Spielpraxis zu entwickeln. Im Unterschied zu diesen Vorläufern der Historischen Avantgarde und den vielen anderen Inszenierungen, die derzeit das Generationsverhältnis mit Kindern auf die Bühne bringen, bleibt Milo Rau mit seiner Inszenierung jedoch einem konventionellen Spiel, einem Theater des Rea-

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Theater mit Kindern für Erwachsene zu produzieren hat in der Folge mittlerweile andere Künstler*innen inspiriert mit weiteren Variationen zu spielen: wie mit Boris Charmatz’ Tanzstück enfant mit professionellen Tänzer*innen und Kindern oder die mit Jugendlichen neu inszenierte Version von Pina Bauschs Kontakthof oder die Arbeiten der Gruppe Skart, das Stück Generation von Nachbar und dan Droste (2018) oder das Stück mit Eltern und Kindern vom Forschungstheater am Fundustheater von Sibylle Peters oder von Kim Willens und Merit Kiderlen Die Natur der Kinder und wie wir Eure Herzen treffen (NaXosstudio Frankfurt a.M. 2016), um nur einige zu benennen. Vgl. Liebert/Westphal 2015; Westphal 2015; 2017; 2018a/b.

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lismus verhaftet. Seine Inszenierung zielt auf eine Kritik an den Machtverhältnissen des Theaterapparates, in dem er sich selbst bewegt, um es in eine Analogie zu den Machtverhältnissen zwischen Kind und Erwachsener zu überführen, ohne das Konzept eines strikten Regietheaters aber aufzulösen (vgl. Bläske 2017a: 74f). Eingehen möchte ich im Folgenden vor dem Hintergrund der eingangs vorgestellten Thesen auf die Frage: Wer gibt an wen was und wie weiter? Eine Frage, die an dem Stück von Milo Rau in ganz besonderer Weise auf den verschiedenen Spielebenen exemplifiziert werden kann: Wie eine Theaterarbeit mit Kindern für Erwachsene sich im Austausch von Geben und Nehmen als ein Weitergeben nicht nur im Sinne einer Theaterpraxis, sondern zugleich eines höchst tabuisierten Themas in doppelter Hinsicht zeigt; wie ein pädagogisch theatraler Zugang für ein höchst prekäres Thema, das die Kinder selbst als potentielle Opfer betrifft, eröffnet werden kann; und wie Medien und Theater/Reenactments dazu beitragen können, kollektive Themen der Gesellschaft weiterzugeben und zugleich selbst als Medien der Weitergabe fungieren können.7 2.1 Milo Raus Five Easy Pieces Milo Rau verwendet das Leben des Kindesmörders und Sexualtäters Marc Dutroux als Beispiel für die Gewalt Erwachsener gegenüber den Kindern, um mit sieben Kindern zwischen 8 und 13 Jahren und einem erwachsenen Darsteller in der Rolle als Spielleiter das Stück zu entwickeln. Der Fall Dutroux hat die Nation in den 1990er Jahren eine lange Zeit in Atem gehalten und ist als Trauma ins nationale Gedächtnis eingegangen. Jedes Schulkind in Belgien kennt ihn.8 Milo Rau vom „International Institute of Political Murder“ ist bekannt durch seine Reenactments, in denen er historische und aktuelle Gerichtsverhandlungen nachstellt und damit politischen Morden in ihrer strukturellen, administrativen Dimension nachgeht. In diesem Falle ändert er jedoch sein Konzept mit der Hinwendung zu einer Spielweise, in der die Erfahrungen der Kinder szenisch umgesetzt werden. Mit Hilfe von „Übungen“ und durch mit erwachsenen Schau-

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Vgl. vertiefend das Gespräch von Juliane Rebentisch mit Milo Rau, in der sie nach der Grenze des Ästhetischen fragt in Auseinandersetzung mit Politik, Ethik und Gewalt etc.: https://www.youtube.com/watch?v=pm1eYaP7JIM (11.11.2017). Marc Dutroux hatte bis Mitte der 1990er-Jahre mehrere Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 19 Jahren entführt und sexuell missbraucht. Nachdem er seinen Komplizen sowie zwei von ihm entführte junge Frauen im Alter von 17 und 19 Jahren ermordet hatte, wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei entführte achtjährige Mädchen verhungerten eingesperrt, während er im Gefängnis war (vgl. Wikipedia, Marc Dutroux).

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spielerinnen und Schauspielern vorab einstudierten Reenactments wird einerseits ein historisches Panorama belgischer Geschichte von der Unabhängigkeit des Kongo bis zur Großdemonstration des „Weißen Marsch“ entfaltet. Andererseits fragt die Inszenierung nach den Grenzen von dem, was Kinder wissen, fühlen und tun dürfen. Was bedeutet es, sie dabei zu beobachten? Und was erfahren wir dadurch über unsere eigenen Ängste, Hoffnungen und Tabus? (Bläske 2017a) Nun maßt sich Milo Rau nicht an, das Ungeheuerliche im Fall des Kindesmörders, dieses zutiefst Fremde und Unzugängliche, aneignen zu wollen, sich sogar damit zu identifizieren. Vielmehr schafft Milo Rau in Five Easy Pieces durch die Geschichte von Marc Dutroux – wie er sagt – eine Art „Alibi, um [auch] über etwas Anderes zu sprechen“9, über Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern; darüber, was Theater bedeutet und wie es sich selbst reflektieren kann, und was mediale Mittel bewirken können.10 2.2 Aufbau und szenische Momente Als das Publikum an dem Abend der Kölner Aufführung am 29.6.2017 den Theaterraum betritt, sitzen bereits sieben Kinder auf der Bühne, drei (ein Junge und zwei Mädchen) auf der rechten Bodenseite, links ein Junge und ein Mädchen ebenfalls auf dem Boden, ein Junge auf einem Hocker und einer in der Ecke an einem Keyboard. Sie unterhalten sich oder sitzen einfach nur still da, der Junge auf dem Hocker malt sich Schminke ins Gesicht. Während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, hört man die Melodie eines bekannten Popsongs aus dem Jahr 2012: Hero von Family of the Year, die auch am Ende wieder eingespielt wird. Es handelt davon, den eigenen Weg und damit sich selbst zu finden. Im Hintergrund der Bühne ist eine große Leinwand aufgebaut, davor reihen sich mittig fünf Stühle aneinander. Als die Musik verstummt, betritt ein Mann die Bühne und setzt sich rechter Hand an einen Schreibtisch. Eine Live-Kamera, die vor dem Tisch platziert ist, bringt das Gesicht des erwachsenen Schauspielers Peter Seynaeve übergroß auf die Leinwand. Es beginnt eine Art Casting-Situation, in welcher er die Kinder nacheinander aufruft, jeweils auf den Stühlen Platz zu nehmen. Er stellt ihnen zum einen Fragen zu ihrer Person, zum anderen aber auch allgemeinere wie „Was ist Theater?“ oder „Was bedeutet Freiheit?“ Es 9

Aussage von Milo Rau in einem Publikumsgespräch anlässlich der Aufführung in Köln am 29.6.2017. 10 Das Stück wird von mir auch reflektiert unter der Frage der Leiblichkeit/Verletzlichkeit/Sterblichkeit zum Thema: „kids on stage. Über die Zur-Schaustellung von Kindern“ auf der Bühne im Theater mit Kindern. Reflektiert wird darin auch das Verhältnis von Theater und Medien sowie der Einsatz von Reenactments im Theater (Westphal 2018a; vgl. auch Westphal 2015).

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folgt „Piece I: Vater & Sohn“; die weiteren Teile sind „Piece II: Was ist Theater“, „Piece III: Versuch über die Unterwerfung“, „Piece IV: Allein in der Nacht“ und es schließt mit „Piece V: Was sind Wolken“, eine Metapher aus dem gleichnamigen Film von Pasolini. Zu diesen Szenen gibt es weitere, in denen die Kinder in unmittelbaren Reenactments Erwachsene nachspielen. Dazu werden kurze Filme, in welchen die Rollen von Erwachsenen verkörpert werden, eingespielt (u.a. die Freiheitsrede des kongolesischen Politikers Patrice Lumumba, eine Tatortbegehung und Nachstellung im Fall Dutroux, eine Beerdigungszeremonie für eines der toten Mädchen) während die Kinder diese Szenen detailgetreu und zeitgleich auf der Bühne nachspielen. Andere Szenen wiederum werden von den Kindern frei nachgestellt und auf die Leinwand projiziert. Diese unmittelbaren Spielsituationen werden häufig durch Kommentare und Korrekturen von Peter Seynaeve unterbrochen oder führen zu Gesprächen mit den Kindern, die häufig philosophische Anmutungen haben. 2.3 Eingangsszene: Seh- und Raumordnung im Spiegel des Generationsverhältnisses Schon die Eingangsszene eröffnet eine symbolische Lesart für die Zahl fünf. Denn fünf Stühle mit Kostümen behängt stehen auf der Bühne und im Hintergrund erscheint auf der Leinwand der Titel Five Easy Pieces. Der Titel verweist auf den Komponisten Igor Strawinsky, der vor einhundert Jahren seine Five Easy Pieces als Etüden komponierte, um seinen Kindern das Klavierspielen beizubringen. Klar wird: hier geht es um Erziehung und wie wir unseren Kindern etwas weitergeben können. Die Raumaufteilung und die übergroße Projektionsfläche, die sich im Bühnenraum befindet, verweist auf die Bedeutsamkeit des Mediums Video. Die dort angebrachte Leinwand wird später für eine Video Live-Übertragung mit der Handkamera dienen, gleichzeitig aber auch für vorher aufgenommene Filme, für Untertitel und für Animationen. Auf diese Weise wird, wie wir noch sehen werden, die Differenz zum Bühnengeschehen herausgestellt. Das paradoxe Verhältnis von Realität und Virtualität, Nähe und Ferne, die gleichzeitige Ab- und Anwesenheit von Körperlichkeit und Differenz eines erwachsenen zum kindlichen Körper können so gezeigt und thematisiert werden. Das erste Kind, Elle Liza, wird aufgerufen und setzt sich nach zweimaliger Aufforderung etwas widerstrebend auf den äußersten Stuhl im Bühnenraum links. Dabei richtet sie ihren Blick auf die erwachsenen Zuschauer. Hinter ihrem Rücken befindet sich die oben erwähnte große Leinwand, auf welcher das Gesicht von Peter Seyvaene auf sie hinunterblickt und Fragen zu ihrer Person stellt:

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Name, Geburtstag, Herkunft, Vorlieben etc. Nacheinander werden alle sieben Kinder befragt. Nur für fünf der Kinder ist Platz auf den Stühlen. Zum Ausdruck gelangt die Situation einer Selektion, die die Kinder tatsächlich für diese Produktion durchlaufen mussten: Denn nicht jeder kann einen Platz in der erwachsenen Theaterwelt einnehmen; dafür muss zuvor etwas von sich selbst gegeben werden. Abb. 1: Castingszene

Fotograf: Phile Deprez. © Milo Rau

Medial überhöht und zugespitzt zeigt sich eine Situation, die uns die körperliche Mächtigkeit eines Erwachsenen – wie hier in der Rolle des Regisseurs/Spielleiters – gegenüber einem Kind vorführt. Er befindet sich zum einen via Video räumlich über den Kindern, und zum anderen durch seine reale Position im hinteren Bühnenraum, von dem aus die Kinder ihn nicht sehen können, die Situation scheinbar wie ein Marionettenspieler lenkend. Diese Seh- und Raumordnung setzt nicht nur den Medien- und Bühnenraum in Beziehung, sondern verräumlicht auch das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. Denn wie ein Puppenspiel wirken die auf der Bühne gespielten Szenen und Reenactments im Verhältnis zu den filmisch gezeigten Einspielungen auf der Leinwand. Zugleich sind die Kinder auf der Bühne den Blicken von erwachsenen Zuschauern ausgesetzt. Nicht nur sind die Kinder in ihrer körperlich-seelischen Verfasstheit den Kräften der Erwachsenen ausgesetzt, auch in der Ausgesetztheit der Blicke, die

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voyeuristisch dem ausgestellten Kind als Objekt/Opfer gilt (vgl. Lehmann 1999: 47). Nicht nur findet sich hier eine Analogie des dargestellten Themas, sondern in der Darstellung, der Sehordnung selbst liegt die Brisanz in der Weise, dass dem erwachsenen Zuschauer sein voyeuristischer Blick auf das Kind gespiegelt wird. Indem die Kinder die Blickachse ins Publikum geben, wie hier in der Eingangssituation szenisch angelegt, sind es die Zuschauer, die selbst als Teil dieser Sehordnung zu Mitspielern werden und auf diese Weise ins Geschehen gezogen werden. Das Sehen und Hören ist dann kein einseitiger Akt auf ein Objekt (das Kind) allein, das Sehen nicht mehr als eine bloße Aneignung angelegt, sondern es vollzieht sich im Wechselspiel zwischen gebenden Sehen und nehmenden Gesehen werden, von Publikum und Akteuren, Regisseur und Darsteller zugleich. Das Publikum wird auf diese Weise, sich selbst in der Rolle des Voyeurs wiedererkennend, gleichzeitig zur Aufgabe genötigt (vgl. Westphal 2011a: 82f.). Denn für den Zuschauer und Akteur gleichermaßen gilt: Sich den Blicken aussetzend wird der Blick freigegeben für ein gebendes Nehmen und nehmendes Geben, für den fremden Blick im eigenen.11 Die Mächtigkeit des Erwachsenen wird verstärkt durch die Ansprache an die Kinder. Fragen werden zunächst nur vom Erwachsenen gestellt, Regieanweisungen müssen befolgt werden, unklare und zu leise Antworten werden gemaßregelt, anderen Antworten schmunzelnd oder bewundernd, ermunternd, müde lächelnd oder zynisch begegnet und wenn ein Kind zu sehr ausschweift, unterbricht er es etc.: die ganze Palette wie Erwachsene Kindern autoritativ erziehend begegnen und umgekehrt Kinder antworten. Und wie ein Psychologe notiert er sich die Antworten, häufig auch wiederholend und durch Intonation und Blicke kommentierend, was bei den Zuschauern nicht ohne Wirkung bleibt und im Wiederkennen zu Affekten wie Lachen führt. Denn die Art und Weise, wie sich die Kinder auf die Fragen des Spielleiters antwortend vorstellen, führen uns Verhaltensweisen von Kindern vor, die uns erinnern an unsere eigenen Verhaltensweisen in den Begegnungen mit Erwachsenen: Ella Liza, die etwas aufmüpfig und muffelig auftritt, Pepyn, das Allroundgenie; sein kleiner vorwitziger Bruder Willem, den Pepyn als overacting charakterisiert, die nachdenkliche Polly, die altkluge Rachel, der kleine Prinz Winne oder der eigensinnige Maurice. Scheinbar geben die Kinder persönliche Dinge preis. Wie in einer Quizshow zeigt der Spielleiter Elle Liza ein Foto und fragt danach, um wen es sich handele. Das Mädchen gibt die richtige Antwort: „Patrice Lumumba, ein Freiheitskämp-

11 Lehmann bestimmt die tragische Erfahrung in der Struktur als einen Fall der ästhetischen Erfahrung, insofern sie in einem Modus der Selbstkonfrontation, einer SelbstFremdheit den Charakter eines Zustoßens von etwas Fremden, nach Waldenfels einer „Widerfahrnis“ habe (Lehmann 2013: 217).

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fer im Kongo, der um die Unabhängigkeit von Belgien gekämpft hat.“ Der Regisseur spricht an, dass ihr Vater aus Kamerun stammt und die Mutter aus Belgien. Auf die Frage, ob sie sich mehr als Europäerin oder als Afrikanerin fühle, antwortet sie, das sei aber eine komische Frage. Nach kurzem Zögern sagt sie, dass sie in Belgien mehr als Schwarze wahrgenommen werde und in Afrika als Weiße. Sie scheint sich selbst zu spielen. Später wird sie bei einem Reenactment in die Figur des Freiheitskämpfers schlüpfen. Konstruktion (das Verhör), Fiktion (die Rolle) und Realität (das reale Kind auf der Bühne mit seinen Erfahrungen gespaltener Identität), also Persönliches und Überpersönliches überkreuzen sich. Ausgesprochen wird, welcher Verletzbarkeit ein Kind zweier ethnischer Hintergründe ausgesetzt ist, wenn es auf Grund seiner Hautfarbe weder in der einen Welt noch in der anderen als ganz zugehörig wahrgenommen wird. In den weiteren Vorstellungen der Kinder wird sich zeigen, dass auch andere etwas zu der Frage der Verletzbarkeit des Leibes beizutragen haben: wenn z.B. der kleine Winne seine große Narbe zeigt, die durch einen Austausch seiner Leber durch die eines toten Babys entstanden ist. Das Ausgesetztsein in der Zur-Schaustellung des eigenen Körpers auf der Bühne wird auf diese Weise reflexiv und problematisch zugleich und eröffnet Assoziationen zum Fall Dutroux. Wieviel Konstruktion und wieviel Raum für die Antworten der Kinder gegeben wird, durchzieht das ganze Stück und führt immer wieder zu Irritationen, was echt oder nicht echt, was Sein und Schein, Freiheit und Dressur ist. Gespielt wird mit der Erwartungshaltung seitens der Zuschauer und den Vorstellungen, welche durch das Spiel der Kinder ausgelöst werden. Das durch und durch komplex angelegte Stück lebt von der Spielweise der Kinder, die ohne Scheu, mit großer Ernsthaftigkeit und Vertrauen mit ihren eigenen vor ihrem Erfahrungshintergrund gewonnenen Erkenntnissen oder Fragen sich selbst ins Spiel bringen: Es sind in diesem Fall die Kinder, die uns Erwachsenen einen Vorschuss an Vertrauen schenken. Die Kinder als sich Schenkende seitens der Erwachsenen anzunehmen, zeigt die Kehrseite der diesem Stück unterlegten ungeheuerlichen Thematik, die manch einem Zuschauenden die Kehle zuschnürt und als unzumutbar wahrgenommen wird. Der Zugang zu dem Thema zeigt sich wie folgt in dieser offenen Szene: Peter: Habt ihr schon mal getötet? Polly: Ich hatte mal ein Aquarium. Erst hatte ich nur einen Goldfisch, dann eine ganze Fischfamilie mit sechs Kindern. Irgendwann habe ich vergessen, den Wasserfilter sauber zu machen, und alle sind gestorben. Willem: Ich verbrenne gerne Ameisen und Wespen mit dem Feuerzeug. Einmal habe ich eine Wespe in einem Glas gefangen und das Glas lange geschüttelt, bis sie total desorien-

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tiert war. Dann habe ich sie auf einen Ameisenhaufen geworfen. Nach einem langen Kampf zwischen den Ameisen und der Wespe haben die Ameisen die Wespe aufgefressen. Das war cool. (Rau 2017: 34)

2.4 Reflexives Arbeiten mit den Mitteln des Theaters und Mediums Die Besonderheit der Arbeitsweise von Milo Rau besteht darin, dass er den Vorgang der Erarbeitung, vom Casting zum Probenprozess bis hin zur Bearbeitung von szenischen Übungen selbst mit den Kindern auf die Bühne bringt. Dabei tritt auch der Regisseur in Gestalt des erwachsenen Schauspielers in Erscheinung, der im normalen Bühnengeschehen unsichtbar bleibt. Der vermeintliche Probencharakter der Aufführung zeigt sich auch darin, dass die Kinder wie auch der Schauspieler ihre Namen behalten. Herausgestellt wird: Sie spielen sich selbst, aber auch nicht. Sie geben sich selbst ins Spiel und übernehmen aber zugleich in den Reenactments detailgetreu die ihnen vorgeführten erwachsenen Haltungen und Gesten. Ein weiteres Moment der Spielweise von Milo Rau, die vom traditionellen Theater abweicht besteht darin, dass – indem der Regisseur als Regisseur selbst zum Mitspieler wird – sich der Beobachterblick verschiebt, der in der Regel allein von den Zuschauern eingenommen wird. Indem der Beobachterblick des Regisseurs auf die Bühne kommt, doppelt sich dieser Beobachterblick und bricht sich zugleich. Thematisiert und problematisiert wird auf diese Weise nicht nur das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen als Zuschauer und dem Kind als Darsteller, sondern auch das zwischen Regisseur und Darsteller. Und ein drittes Moment sei hervorgehoben: Die Produktionsweise ist derart angelegt, dass Theater nicht nur vom Produkt her denkt, sondern auch den Vorgang des Herstellens und Hervorbringens selbst zeigt und in die Aufführung einlässt. Ungewöhnlich ist gegenüber einer traditionellen Spielweise, dass auf die Bühne gebracht wird, was normalerweise tabuisiert ist, z.B. wenn Schauspieler gegenüber den Wünschen des Regisseurs Widerstand leisten. Als Rachel in „ihrer Szene“, in der sie das entführte Mädchen Sabine spielt, sich zunächst nicht ausziehen (lassen) will, drängt Peter Seynaeve sie drei Mal dazu: „Mach es so wie in den Proben!“ oder als Pepijn in seiner Darstellung des Vaters des getöteten Mädchens nicht weinen will und, wie er in Castingszene schon bekannt hat, in der Öffentlichkeit auch nicht zu weinen vermag, gibt er ihm einen Tränenstift und lässt ihn seine letzten Sätze wiederholen. In der Wiederholung, die uns zeigt wie Emotionen mit einem Trick gezeigt werden können, bricht sich das Spiel und verhindert zugleich für den Zuschauer, sich der Unerträglichkeit der Szene

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ausgesetzt zu fühlen. In dieser sich nachträglich herstellenden Distanz ist dem Spielenden wie dem Zuschauer die Möglichkeit gegeben, eine Haltung zum Geschehen um die Ohn/Machtverhältnisse auf den drei Ebenen zwischen Kind und Erwachsenem, Regisseur und Darsteller, gespielten Eltern und Kind gegenüber einem Täter zu entwickeln. Abb. 2: Piece III: Versuch über die Unterwerfung.

Fotograf: Phile Deprez. © Milo Rau

Aufgegriffen wird, was tatsächlich in den Proben mit den Kindern erfahren wurde, statt sich in festgelegte Rollen einzufügen; die Rollen sind den Kindern der ersten Besetzung – so Bläske (2017a) – neben der detailgetreuen Wiedergabe der Reenactments auf den Leib geschrieben worden. Offen gelegt wird das Hervorbringen von Theater, das im traditionellen Theater nicht zu sehen ist, befragt wird das Konzept der Katharsis und Authentizität, und nicht zuletzt wird die Idee eines Weitergebens im Austausch von Geben und Nehmen in den verschiedenen Nuancierungen zwischen Erwidern und Verweigern ausgespielt. Gezeigt wird Theater in seiner Potenzialität, das Theater in der Vermittlung und Aneignung im Sinne eines Weitergebens, um mittels des Spiels der Kinder eine neue Sicht darauf zu geben. Ein Beispiel soll diesen Gedanken vertiefen, in dem der Gedanke des Weitergebens im Sinne einer Unterbrechung als Nichtgabe vertreten werden soll.

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2.5 Weitergabe als Nichtgabe Den – dramaturgisch und ästhetisch gesehenen – Höhepunkt des Stücks stellt das Reenactment m.E. erst nach der Szene der Unterwerfung dar: „Auf der Leinwand sehen wir einen Wolkenhimmel wie am Anfang, die Kamera schwenkt langsam nach unten auf einem Friedhof. Vor einem offenen Grab eines der verstorbenen Kinder sind Trauerende versammelt.“ (Rau 2017: 52) Auf der Bühne wird die Szene am Grab von vier Kindern detailgetreu nachgestellt. Sie tragen Kleidung wie Erwachsene. Rachel mit einer Blume in der Hand tritt z.B. in einem Trenchcoat und einer übergroßen Sonnenbrille auf. Eingespielt wird zunächst der Kommentar des Erzählers: Er spricht mit ruhiger, sachlich gehaltener, tiefer Stimme zum Hintergrund des Geschehens. Sichtbar wird auf eine groteske Weise die Differenz zwischen den kindlichen Körpern zu den erwachsenen, die trotz der erwachsenen Kleidung als Kinder durchscheinen. Vor dem Hintergrund der vom Erzähler vorgestellten Realitäten sehen wir Kinder vor einem fiktiven Kindergrab stehen! Diese bizarre Szene, die mit keinen weiteren besonderen dramatisch-ästhetischen Mitteln des Theaters arbeitet, offenbart die Schuld der erwachsenen Welt, den Kindern etwas weitergeben zu müssen, dass man eher als Nicht-Gabe bezeichnen möchte (Pepeyn wird am Ende sagen, dass das eine langweilige Szene für ihn gewesen sei, da müsse mehr Action rein!). Die Kinder stehen da in ihrer Nichtschuld bzw. Verpflichtung, eine Schuld der älteren Generation zu übernehmen und weiterzugeben für die noch nicht Geborenen, die kommende Generation. Diese Spiegelung ist für manch einen Zuschauenden unerträglich, im Zuschauerraum herrscht in dem Moment eine atemlose Stille. Fragt man Zuschauende im Nachhinein, stoßen wir sowohl auf Zustimmung, als auch auf Ablehnung für diese Form der Darstellung mit Kindern. Im Theater gehen wir einen Austausch im Geben und Nehmen auf Zeit ein, der aber keine Verpflichtung bedeutet (vgl. Westphal 2011b). Das Generationenverhältnis allerdings, um das es hier geht, steht als Thema in der Zeit, dem sich weder die Erwachsenen noch die Kinder und kommende Generation zwar im Theater, nicht aber in der Realität entziehen können. Hinzugefügt sei, – was wäre ein Theater ohne Skandal – dass die oben kurz angedeutete Szene mit Rachel, in der sie sich in der Rolle von Sabine bis auf die Unterhose auszieht und aus den originalen Briefen frei vorträgt, als live gespielte Szene auf der Bühne in der Aufführung in Köln nicht hat stattfinden dürfen, andernfalls hätte das ganze Stück nicht aufgeführt werden können. In München wurde diese Szene zu spielen nur unter der Bedingung erlaubt, dass Rachel vollständig angekleidet ist. So wurde vom Regierungspräsidium zum Schutze von

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Kindern entschieden, dessen Auftrittsgenehmigung eingeholt werden muss, wenn Kinder unter 14 Jahren auf einer Bühne auftreten. Die Kinder haben in Köln für den Moment, in dem die Szene dann nur über die eingespielte Großaufnahme gezeigt wurde, die Bühne verlassen müssen. Zeigt sich in dem Vorgang, was in dem Stück selbst thematisiert wird? Im Fall Dutroux wurde das Unvermögen und die Ohnmacht seitens des Staates, der Polizei, der Politik, des Könighauses und der Eltern deutlich, die allesamt nicht in der Lage waren, Kinder vor Missbrauch und Mord zu schützen. Hier zeigt sich das Kontrollvermögen des Staates gegenüber dem Theater, das im Fall Dutroux auf privater Ebene versagt hat.

3. ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Ingrid Hentschel stellt fest, dass im Kindertheater seitens der Erwachsenen eine Idealisierung der eigenen Kindheit vorherrschend sei, die auf die heutige Kindheit übertragen werde. Kindheit sei eine von Eltern und Erwachsenenangst besetzte Kindheit (Hentschel 2018). Milo Rau sagt: „Gezeigt bekommen Erwachsene, was sie von Kindern nicht sehen wollen“12 (vgl. Westphal 2017), etwas, was sie vielleicht ablehnen, da es auf der einen Seite nicht in die idealisierte Vorstellung von ihrer Kinderwelt passt, zum anderen – zugespitzt gesagt – aber genau diese reale Welt wiedergibt. Das Kind wird in dieser Performance nicht idealisiert, wie es in anderen Theaterdarstellungen oder im Vorgaukeln einer heilen, „wirklichen“ Welt oftmals der Fall ist. Walter Benjamin hebt hervor, dass die Merkwelt des Kindes überall von Spuren der älteren Generation durchzogen sei und sich mit ihnen auseinandersetze, so auch in seinen Spielen (Westphal 2009: 174f.).13 Kritisch bemerkt er, dass es so etwas wie vom Kinde aus nicht gebe: „Unmöglich, sie in einem Phantasiebereich, im Feenlande einer reinen Kindheit oder Kunst zu konstruieren“ (Benjamin 1969: 67). Abschließend sei im Sinne von Michel Foucault bemerkt, es seien die Erwachsenen, die den Kindern ihre Geheimnisse ins Ohr flüstern würden.

12 Milo Rau in einem Interview anlässlich der Aufführung, Berlin 2016 Sophiensäle. 13 In unserem Zusammenhang ist auch Benjamins Vorstellung vom Spiel als ein sich Wiederholen relevant (vgl. Westphal 2009: 177). „Nicht ein So-tun-als-ob, als ein Immer-wieder-tun, Verwandlung der erschütterndsten Erfahrung in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spielens.“ (Benjamin 1969: 70f.)

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Nietzsche and Artaud: Theatre and the Gift of the Mask G ERT H OFMANN

Abstract Since Derrida we know, that the pure gift is only possible as the emerging reality of an impossibility, and as a case of suspended causality: as the gift of an event, or as the gift of death. Kant called it the “spontaneity” of ideas, the signet on the truth of human freedom. Derrida, however, sinks this freedom into the experiential gravity of the human condition, where it claims the commitment of an “amour fou” that doesn’t shy away from the experience even of the ultimate unknown which is anticipated in death. Hölderlin called this experience the “apriority of the individual over the whole” where the intellectual and categorical ultimately surrenders to the experiential and individual. For him it enabled a process of surviving the death of his love through writing poetry. In any case the ultimate gift of living and dying, the only gift that puts me into relation “with the transcendence of the other” (Derrida) results in an event of procreation. It manifests itself in a procreative act of art, be it in Nietzsche’s theatrical philosophy as a radical “art for artists only”, which captures the Dionysian momentum of procreative ecstasy in the moment of tragic decline, or be it in Artaud’s physical “mise-en-scène” which must be understood as a “spontaneous creation from the stage”, transcending all “clear” ideas, words and concepts. “Because for me”, writes Artaud, “clear ideas, in the theatre as in everything else, are ideas that are dead and finished”. The physical venue of this theatrical ambiguity between life and dead, or between stage presence and narrative absence, which breeds procreative powers, is for both, Nietzsche and Artaud, the theatrical mask. The mask both presents at its front the emergence of life in the theatrical event and harbours from behind the abyss of extinction that conditions it.

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The classical cult of Dionysus, the Greek god of theatre, invokes his presence by alluding to his absence – by presenting the face of the mask. The face of the theatre mask is the face of Dionysus. The play of the mask on stage invokes the transition between presence and absence, between human and divine, death and life in both ways. Nietzsche’s philosophy of theatre and Artaud’s theatre of cruelty, both focus on this borderline experience and interpret it as an ecstatic and creative impulse which can unleash metamorphic experiences. This, in turn, influenced the modern discourse of European theatre throughout the 20th century. Enabling such a transition or transfiguration dynamic, the play of the mask is the true gift of theatre. Since Derrida we understand, that a pure gift, a gift in its most radical and uncompromising sense, is only possible as an emerging reality of impossibility. The gift always occurs as a case of suspended causality: as the gift of an event, or as the gift of death. Kant called it the “spontaneity” of ideas, which is the highest seal of approval on the truth of human freedom. Derrida, however, drives this freedom towards the pull of experiential gravity of the human condition, where it claims the commitment of an “amour infini” that does not shy away from the experience even of the ultimate unknown which is anticipated in death.1 In any case the ultimate gift of living and dying, the only gift that puts me into relation with the “transcendence of the other”2 results in an event of creation. It manifests itself in a procreative act of art, be it in Nietzsche’s theatrical philosophy as a radical “art for artists only,” which captures the Dionysian momentum of procreative ecstasy in the moment of tragic decline, or be it in Artaud’s physical mise-en-scène which must be understood as a “spontaneous creation from the stage,” transcending all “clear” ideas, words and concepts. “Because for me,” Artaud confesses, “clear ideas, in the theatre as in everything else, are ideas that are dead and finished” (Artaud in Derrida 1998: 68). The physical venue of these theatrical conversions between life and dead, or between stage presence and narrative absence, which breeds creative powers, is for both, Nietzsche and Artaud, the theatrical mask. The mask both presents at its front the emergence of life in the theatrical event and harbours from behind the abyss of extinction that conditions it.

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“Mais le mortel ainsi déduit est quelqu’un dont la même responsabilité exige qu’il ait affaire non pas seulement à un Bien objectif mais à un don d’amour infini à une bonté oublieuse de soi. Disproportion structurelle, dissymétrie entre le mortel fini et responsable d'une part, a bonté du don infini d’autre part.” (Derrida 1992: 54) Derrida’s definition of the subjectile: “Transcendence of the Other – and of the One. Beyond being, epekeina tes ousias.” (Derrida 1998: 138)

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1. D IONYSIAN P ROLOGUE Euripides calls Dionysus the “God to come”. For the ancient Greeks Dionysus acquires a status as being the deferred God, the god whose advent, even though always imminent, never happens.3 In Greek mythology, Dionysus is the border figure of a permanently postponed epiphany of the mythical itself. He encapsulates a returning confidence in the meta-narrative of myth, the emergence of which, however, marks the end of the mythical process as such; he configures a mythical presence that extends into post-mythical times and accommodates the conditions of discursive rational thought instigated by the democratic culture of the polis.4 In his capacity as the God of theatre in a period of cultural transition, he lends expression, in the context of the dramatic agon (the dramatic competition), to the struggles of Mythos and Logos, i.e. the struggles between religious tradition and a new political vision.5 As the “god to come” Dionysus has the status of a Messiah. But Dionysus’ gift, which is the mythic-eschatological promise of a Messiah, namely the promise that he will emerge someday as the divine harbinger of a new golden age, as the guarantor of the realisation of a Utopia which can be understood as both religious and political,6 is contradictory in nature. As the inhibited god only, whose actual arrival appears indefinitely postponed, he demarcates the realm of divine mythical authority against human sovereignty in politics and poetics. Nevertheless, however, the countless Dionysian festivals held all over Greece and especially in Athens, (cf. Graf 1998: 11-32; Burkert 1977; Pickard3

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Karl Kerényi sees Dionysos as the actual god of epiphanies, or even epidemics (gr. epidemía = ‘arrival in the country’): “Eine göttliche ‘Epidemie’, deren Verwandtschaft mit der ‘Heimsuchung’ durch eine Krankheit wenigstens in einem Punkt nicht geleugnet werden kann – es war immer der Einbruch von etwas Überwältigendem.” (Kerényi 1976: 123) He suggests here two things: The image of Dionysus has messianic characteristics, like Christ (gr. Christós = Messias, ‘der Gesalbte’); it will thus be charged with an eschatological promise referring to the presence of its ritual epiphany. Cf. also: Detienne 1995. Cf. Frank (1982: 12): “Denn Dionyos hieß [...] schon bei Euripides der ‘neue’ oder der ‘kommende Gott’: der Zukunfts-Gott, der am Endpunkt eines mythischen Prozesses, unter Bedingungen einer rationalen Daseinsorientierung, die Substanz der religiösen Hoffnung späteren Geschlechtern aufbewahrt.” Cf. Easterling 1997 who emphasises the religious aspects of the dramatic agon: “[If we] concentrate our attention on what sort of phenomenon it was, we may find hints in the surviving texts that what was performed was intended specifically for the god and associated in distinctive detail with his worship.” (Easterling 1997: 48) Also here, at the point of clashing profane and spiritual experiences, the affinity of Dionysian and Christian messianism becomes apparent. Cf. the entry Messianism in Eliade 1987: 469-481; also Fabry 1988: 416-422.

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Cambridge 1968) with their cyclic frequency, offer an enthusiastic celebration of his actual ‘arrival’! How is this to be understood? The answer lies in the medium of theatre. Having been the god of ritual ecstasy engendering a divinely altered human state of mind, the classical Dionysus has become the God of Theatre. The classical cult of Dionysus invokes his presence by expressly alluding to his absence. That is to say, the more emphasis is placed on the sheer potentiality of his coming, as being central to his theatrical imagining, the less his failure to present himself, or the absence of his eschatological advent, are seen as negative aspects. The theatrical event prevails over the eschatological advent. Dionysus, as the god of theatre, is no longer representative of an ‘indestructible’ life force laid out in the continuous cycles of cosmic life (as suggested by Kerényi 1976); he appears rather as the eventful embodiment of their interruptions, the caesuras of life and death, the threshold experiences and in-between stages of order and chaos, the absences and unconscious states between living and dying – in short all those moments in which the totality of life, literally speaking, is to play for. Theatrical performance, tragic conflict and crisis, as it stood at the heart of the great Dionysian festival, both embody in a quite actual and non-metaphorical sense the essence of the God himself: as the actual gift of these life happenings. Dionysus the (mythical) God becomes the tragic mask.7 The mask is no longer to be understood as an attribute, rather as the materialisation of the always contradictory nature of his being, understood as something which remains yet to gain its full presence. In his theatrical epiphany the “god’s self-revelation entails his own disguise” (Friesen 2014: 43). The God is the mask – and the mask is the focus of the tragic performance, the reflective device of a human ‘tragic awareness’: the mask takes up both presence and absence, presents a front, while hiding what lies behind, presence and pretence, proffered identity and actual loss of identity.8 The mask is the membrane of a merely provisional and imaginatively fixed identity emerging from an actual abyss of obliteration and disappearance, which becomes an inexhaustible reservoir of identity possibilities for the theatrical performance. The mask becomes in the theatrical play the surface of a dual projection: the ambiguous figures of a time (of mythology) which is in the process of disappearing, appears through its reverse side; the front side by contrast, reflects the configurations of a power of imagination which is no longer mythi-

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Re. thematic of the mask in ancient Greece cf.: Vernant and Frontisi-Ducroux 1990; also Vernant 1985 and Wrede 1928. Cf. Cartledge (1997: 6): “The quintessential outsider, [Dionysos] was entirely appropriately worshipped in the form of a mask, which could both figure his absent presence and provide actors and chorus with the alibi and means of alienation required for the dramatic representation of others (and otherness).”

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cal, but has become self-modelling, or poetic. (poiesis the word for a human fabrication) In the dramatic agon and more accurately in the conflict of the tragic performance it becomes clear that the messianic gift of life can only be fulfilled in, so to speak, an inverse and anti-redemptive fashion. The yearned for arrival of the divine, as a power which in the sphere of humankind (in the realm of mortals) conquers time and mortality, can only be realised in the performance of its tragic disempowerment. The tragic mask is the inter-face of both, enactment and disempowerment of a force of life. Taken in this sense each tragic hero reconfigures yet again the mortal essence of the tragic god Dionysos, while at the same time the human ability to recall, repeat and poetically vary the masked performance of the god’s demise allows the staging of his re-birthed metamorphoses. The arrival of the Dionysian Messiah into the turbulent realm of theatrical experience, masked performance, and role play is synonymous with the enforced departure of his religious promise of redemption. Theatre fulfils the promise of the Messiah in a blasphemous way, because it does not re-confirm the fulfilment of the eschatological expectation to be released from the trauma of death, but re-enacts it only in the sense of a radical process of humanisation – with the consequence of the god’s tragic entanglement in the hopelessness (Heillosigkeit) and frailty of the human condition. The divine gift of messianic redemption is replaced with the human gift of renewed life, with the procreative dynamics of the masked play. Precisely this, this inversion of the redemptive truth of a Messianic presence into the creative crisis of a playful event, and the masked presence of what is essentially and irreversibly lost, is what emerges in Artaud’s and Nietzsche’s concepts of theatrical art and philosophy. In the performance on stage the presence of the mask conjures up blasphemous images of the God’s tragic impotence, but it also delivers a true gift of life as the event of an ecstatic human experience in which blasphemy manifests itself as the genuine human form of dignity.

2. N IETZSCHE Nietzsche has been the first to mould the wisdom of Dionysus into a new kind of theatrical philosophy. Nietzsche’s philosophy is meant to perform thought in the way of a theatrical event which gives birth to the lived experience of the interdependence of life and death through art.

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For the theatre-philosopher, who has now taken over from the priest, truth can only emerge as the painful experience from a time of difficult malaise (which is a human privilege), and as the repeated act of giving birth to the human body, exposing it again and again to the ‘agonies’ of an ephemeral existence: philosophy is the irreversible act of giving birth to the spirit of life as an event of liberation: We philosophers are not free to divide body from soul as the people do; we are even less free to divide soul from spirit. We are not thinking frogs, nor objectifying and registering mechanisms with their innards removed: constantly, we have to give birth to our thoughts out of our pain and, like mothers, endow them with all we have of blood, heart, fire, pleasure, passion, agony, conscience, fate, and catastrophe. Life – that means for us constantly transforming all that we are into light and flame – also everything that wounds us; […] Only great pain is the ultimate liberator of the spirit, […] Only great pain, the long, slow pain that takes its time – on which we are burned, as it were, with green wood – compels us philosophers to descend into our ultimate depths and to put aside all trust. (Nietzsche 03/03/05)9

What is put aside in tragic theatre is the trust that the established narrative of the past necessitates a vision for future life. The potential for life is never rooted in the past, but in the present event of giving birth to a potential future – this is the gift of time as Derrida has described it in La fausse monnaie. The gift of time, as the only gift without the possibility of compensation, can only be delivered through creating an event that unleashes the fictional powers from which future – and past – only emerge. Of course Derrida has been inspired here by Nietzsche. Nietzsche emphasizes that only the “complete release of all symbolic powers” in the theatrical event could drive man to the ultimate climax of “self-expenditure” (Selbstentäußerung) that bears the potential for new life:10 “not just the symbolism of the

9 Cf. Hofmann 2003. 10 Cf. KSA1: Die Geburt der Tragödie 33-34: “Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. [...] Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!”

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mouth, the face, the word, but the entire gestic symbolism of the rhythmically moving body of the dancer”11 (KSA1: 33-34). The body, in its vulnerable presence, constitutes the subject of tragic awareness. The body is the agent of the theatrical act and the giver of the gift of the theatrical event, not the intellect. The symbolic power of the human body, and the sacrifice of it, insofar as it stimulates the performance of life’s motion, manifests itself as the actual matter of Nietzsche’s philosophy. The human body is the focus of all of life’s conflicts. It is the creature of two opposing, yet jointly operating forces: the Apollonian power of figuration, which enables the process of human individuation, and the Dionysian power of disfigurement and obliteration. But the symbolism of the body does not convey this opposition as an antagonism, neither does it suspend it dialectically, it rather gives a synoptic metaphorical expression to both sides by staging them in the play of the masks. The play of the mask always oscillates between, on the one hand, a metaphysical confidence in the archetypal clairvoyance of the image as a face of truth and, on the other hand, its pleasurable denouement as a mask which distorts and tarnishes the truth. In the end, of course, the confusing and disrupting power of the mask must prevail, because it bears all the stimulations of life: Every profound spirit needs a mask: even more, around every profound spirit a mask is growing continually, owing to the constantly false, namely shallow, interpretation of every word, every step, every sign of life he gives. (Nietzsche 03/03/05a; id. 1980 [KSA5]: 58)

The mask seems to accomplish here two things: it both provides protection of a truth that must remain veiled, and it procures the utterance of a truth of life that is essentially fictitious. If the subject of truth, the priest or philosopher, is to become a masked performer, then the theatre stage becomes the locus of their self-presentation. The altar becomes a stage and the stage an aesthetically transfigured altar upon which every lesson in truth, whether philosophical or theological, falls victim to the play of art.12 The truth of Nietzsche’s philosophy presents itself as the theatri-

11 “[...] eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm.” (KSA1: 33-34; emphasis added) 12 Precisely at this point of turning towards aesthetic perspectivism Nietzsche's thought differs from Schopenhauer’s pessimism, as Richard Schacht has noted: “But Nietzsche saw that he had raised profoundly serious questions about life, which could no longer be answered as theologians and philosophers traditionally had answered them,

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cality of its performance. The volatile ‘corporeality’ of theatrical performance is the eternal symbol of truth itself and of its pretending nature. Theatre is not merely a modus of representation but the actual event of truth as such: “Only as aesthetic phenomena are existence and the world eternally justified”.13 The face of truth is the dual face of the theatrical mask. It justifies the performing arts as neither naturalistic imitation nor an idealised sublimation of reality. Through the sufferings of the tragic hero on the one hand and the explicit attention drawn to the performative nature of the stage event on the other, the art of the theatre is able to represent the two fundamental aspects of human life, as both sides of the theatrical mask. The Dionysian reverse side of the mask presents the tragic face of a quenched identity, lost selfhood and concealed, unknown intent. The Apollonian front-side of the mask presents the ludic face of an apparent, played-out identity and actorly pretence. Both are categorically separated, but also one and the same; and because they remain un-synthesised, they bring forth a third aspect, namely the theatrical scene as an all-art event which shows all the metamorphoses of human life, as a configuration of what is essentially non-identifiable and illusory, i.e. the happenings of a mise-en-scene. For Nietzsche it is nevertheless the truthful gift of the theatrical act: The world which concerns us, is false, that is, it has no factual basis. Rather it is constructed from a limited sum of observations. It remains molten, something in a state of becoming, a constantly changing falsehood, which never approaches the truth – for there is no truth. (KSA12: 112; trans. Anna Maria Mullally)14

What Nietzsche’s theatrical philosophy wants us to make aware of, is not the opposition of true and false, which would permit a dialectical or eschatological solution, rather it is each and every nuance, no matter how slight, of an eccentric movement of the subject, which distorts approved perceptions, cultivating instead the artistic virtue of changing perspectives and enabling a fictitious outlook on life: “All life [is based on] appearance, art, deception, optics and the necessity of perception – and of error.” (KSA1: 18)

and to which new answers had to be found if those given by Schopenhauer himself were not to prevail.” (Schacht 1995: 130) 13 This formulation appears twice in Nietzsche’s Die Geburt der Tragödie: KSA1 47, 152. 14 This was written in 1885/86, when Nietzsche worked towards the “Versuch einer Selbstkritik” related to The Birth of Tragedy. Here he was determined to annihilate the seemingly metaphysical character of the book.

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MASK AS THE SUBJECT AND SUBJECTILE

OF THEATRE In a lengthy footnote in one of his most discussed texts on Artaud, La parole soufflé (Derrida 1976: 285) Derrida attempts to compare Nietzsche’s and Artaud’s approaches to theatre and art. While Derrida’s reading of both authors suggests a shared affinity with regards to the disempowerment of the text, which is with regards to a logically pre-determined, organised language in opposition to the genuine physical symbolism of the theatre, he notes a difference in Nietzsche’s chosen emphasis on dance and music as the original Dionysian arts. According to Derrida Nietzsche wishes […] to free music, as in other places dance, from text and recitation. In Artaud’s eyes there is no doubt but that this setting free is abstract. Only theatre, as a complete art form placing music and language on a par with other forms of language, can achieve this release. (Derrida 1976: 285-286)

In my view Derrida misses the point of Nietzsche’s philosophy here, because also for Nietzsche theatre’s new world of symbols embraces not only the genuine physical arts of dance and music “in its rhythm, dynamic and harmony,” but also “the symbolic range offered by the mouth, face and the word,” in short the complete register of theatrical artistic possibility (KSA1: 33-34). The affinity stretches further than Derrida insinuates. It also resides in the ambition to subvert artistically the philosophical and religious tradition of metaphysics, of logos and mythos, and to establish instead the meta-physics of the body as the true gift of the theatrical act. Artaud’s theatrical metaphysics is genuinely materialistic and corporeal, that is anti-metaphysical in the religious and philosophical sense of the word ‘metaphysics’. “There is no spirit, only differentiations of the body” emphasises Artaud (cf. Derrida 1976: 287) in order to develop a new type of theatre, a “pure theatre” which would take account, like Nietzsche, of the “physicality of the absolute gesture”. For Artaud (in his essays on the Balinese Theatre), the passage [of the mind] through the labyrinth of the matter is demanded (Artaud 1996: 66). The purity of the new theatre consists in the ambiguous conditionality of its physical body language, which reveals on the one hand the “impotence of the word”, but deploying on the other hand the instruments of theatrical performance such as “music, dance, plastic art, pantomime, mimicry, mime, intonation, architecture, lighting, décor and costumes [i.e mise en scene, G.H.] for the creation of a specific ‘language of the stage’” (Artaud 1996: 66).

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Here it becomes manifest what Nietzsche and Artaud have in common; they both aim to set the performing body free from its linguistic (logic and mythic) dispossessions, alienations and necessitations, in order to explore the body’s own potential to become the subject and the agent of a genuine artistic practice of signification, which does not depend on (metaphysically/categorically or socially/conventionally) pre-formulated semantics. I maintain that this physical language, aimed at the senses, and independent of speech, must first satisfy the senses. There must be poetry for the senses just as there is for speech, but this physical, tangible language [...] is really only theatrical as far as the thoughts it expresses escape spoken, articulated language. (Artaud 1974: 25)

This other language becomes an intonation of the body, conveying the nuances of all bodily conditions of arousal and pain (Artaud 1996: 48-49). It deconstructs the conceptually articulated language of words while simultaneously reconstructing “all these processes by means of shouts, onomatopoeia, symbols, postures, or by slow, copious and emotional nervous inflections, stage by stage, term by term” (Artaud 1974: 85). Its purpose and objective is a paradoxical (as Derrida puts it) “metaphysics of the flesh” (Derrida 1976: 274), which constantly reconnects the transcendence of its symbolic values with the purely sensual and experiential immanence of what Artaud calls “the body without organs”15 (Artaud 25/02/2018). By this he means the unarticulated and decomposable physical presence of the subject with no identity, which in so far as it has not already been dispossessed, structured and organised by language, is a limitlessly transformable and susceptible bare living flesh. This is the subject of theatre, the presentation of a subject prior to all signification; and this is the blank face of the theatrical mask as the enactment of the body’s unconditional exposure to life captured in the scene of the theatrical event. The unique endowment of this subject, this proto-subject which is the mask of theatre could be described with Derrida as “the life of the body” (Derrida 1976: 280). Such life traces its subjectivity, without contracting into individual subjects, in a “poetry for the senses” – which for the first time is able to give ex-

15 The term originates from Antonin Artaud’s radio play To Have Done with the Judgement of God (1947): “When you will have made him a body without organs, then you will have delivered him from all his automatic reactions and restored him to his true freedom.”

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pression to the conceptually inarticulate nature of basic physical experience: Thus, in Artaud’s Theatre of Cruelty, the redemptive power of the messianic is achieved in a subversive sense, because it paves the way for an eschatology of the body which Derrida has described as, “the making absolute of death, not of the eternal”. The “making absolute of death” accomplishes what Nietzsche had requested: it protects the mystery of life from the violence of unveiling. It happens in theatre through the unfathomable presence of the mask, which is always a mask of the dead, but also spurs life’s mystery as the source of its constant reemergence. The authentic mystery of life, writes Derrida in The Gift of Death, “must remain mysterious, and we should approach it only by letting it be what it is in truth – veiled, withdrawn, dissimulated” (Derrida 1995: 37). With the play of the tragic mask the presence of death is converted into the ultimate gift of life. With the playful appropriation of the mask, the actual anticipation of death as an event of life becomes a possibility in every singular theatrical event. This appropriation of the mask is physical and absolute. It determines what Artaud called the “the state of my body” which “will serve the last judgement” (Artaud 1948: 124). This “last judgement” – in the moment of tragic cognition – as a transcending physical experience prompted by the performance of the mask is the opposite to the cognitive appropriation of the mask as an object. But it does not constitute the subject as the authorial agent of this judgement either, be it transcendental or empirical, because the event of the emerging mask on stage does not constitute the integrity of the subject, but subverts it by establishing the pretending and vanity nature of what the subject’s life is to play for. The true face of this subject of constant transformation is the mask of the theatrical play. It is the only way how we can conceive a ‘subject’ of pure gift: it is the mere proto-subject of a theatre of transforming identities, as the birth giving performance of an unheard of lived experience – not as writing forth the previously conceived narrative of life, but as the emergence of a new narrative in the face of the obliterating old one. That is why the birth-giving metaphor is crucial: it is pure gift insofar as it is the enabling and enacting of spontaneity of life in its own right – not the transference or transmission of a continuous potential of life from one subject to the other. Derrida has discovered the presence of this proto-subject of such manifestations of life’s futility in that what “is called the subjectile” in Artaud’s writings about visual art (including his own drawings). Even though Derrida puts some emphasis on the relatedness of what “is called the subjectile” (but cannot be identified as the subjectile!) to visual art, Artaud himself, however, emphasises the proto-cognitive, and pre-linguistic nature of the subjectile as the unfathoma-

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ble subject of the theatrical performance in particular. As subjectivity without subject it becomes before all manifest in the pure mise-en-scène of the theatrical act, resisting the grip of logos which forces us, in Artaud’s writing “to use words in order to express ideas that are clear. Because for me [Artaud] clear ideas, in the theatre as in everything else, are ideas that are dead and finished” (cf. Derrida 1998: 68). Language as a whole is to be born on the stage only, as the living gift of a theatre event, not as the dead end of a lost tradition. Language is secondary to the presence of the mask as the subjectile of this birth act, it is the product of an enactment and embodiment: [Language] draws its power and its spontaneous creation from the stage, and struggles directly with the stage without resorting to words […] it is mise-en-scène that is theatre, much more than the written and spoken play. (Derrida 1998: 68; Artaud 1976: 234)

Derrida points out in his essay, how Artaud’s “subjectile” defies fundamentally linguistic representation: The “subjectile”, which is […] the support, the surface or the material, the unique body of the work in its first event, at its moment of birth, which cannot be repeated, which is as distinct from the form as from the meaning and the representation, […] will never be transported into another language (Derrida 1998: 64)

– i.e. other than the poetics of the body, or the physical language of the mise-enscène. Artaud’s birth-giving metaphorism of the subjectile can thus be taken as a model for the theatrical mask in Nietzsche’s sense, as the presence of a categorical ambivalence between protection and transgression, or between un-sensing the ideas carried by the old language of words, and creating the corporeal sensation of a new language of the body, which is always owed to the momentous dynamic of the stage event, that is: to the gift of the mask.

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N IETZSCHE AND A RTAUD : THEATRE AND

THE

G IFT

OF THE

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Überschreitungen: Politiken der Gabe

Was ist es, was wir im Theater geben? Statt Gemälden auf der Leinwand geben wir unsere Körper, Gefühle, Willen, Imagination – wir geben eine Form pulsierender Kunst zum Leben selbst. Michael Chekhov, To the Director and Playwright, 1984, 24.

Tahrir – Versuch zu Souveränität 1 und Verausgabung A SMA D IAKITÉ During the Tahrir Square 18-day long sit in, which brought Mubarak down, theatre artists made their presence very much felt. With collectively improvised stories, sketches, songs and dances they helped their fellow revolutionaries keep up their morale, fight off the bitter cold and, in between skirmishes, some of them bloody, mourn the martyrs and while away the long days and nights of the long, long suspenseful wait. SELAIHA 2011

Abstract Tahrir – Attempt on Sovereignty and Exhaustion: By looking at art production under radical conditions of social and political upheaval, this essay describes the mode of gift as a practice of exhaustion. It looks in particular at an example of artistic practice after the Egyptian revolution, when power structures are suspended and an aesthetic force emerges that subverts the political through its excess. The performance of Egyptian dancer and actor Ezzat Ismail shows that revolt is not merely to be understood as a political movement but also as an autonomous aesthetic current that questions what is reasonable and rational. Moreover this essay asks the question: How does the political in theatre change if we understand exhaustion as a category of aesthetics? 1

Der Beitrag fusst auf Kap. IV. der Publikation „Verausgabung. Die Ästhetik der AntiÖkonomie im Theater“ der Verfasserin (Diakité 2017).

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Am 25. Januar 2011 kommt es zur Zäsur in der ägyptischen Geschichte. Ein Volk stürzt seinen Diktator und weist den scheinbaren Konsens der Unmöglichkeit einer Revolte als Irrtum aus. Was hat zu dieser Revolte geführt, welche Kräfte waren hier im Spiel? Die hier formulierte These soll lauten: die ägyptische Revolution ist eine Revolte2, die ohne die Verausgabung, die Zerstörung von Akkumulation, Unterbrechung der Produktion, ohne das Risiko, die Gewalt usw. nicht zu Stande gekommen wäre. Gleichzeitig kann man gerade in der Umsetzung der Revolte den engen Zusammenhang von Verausgabung und ästhetischen Prozessen erkennen. Kein Tag verging auf dem Tahrirplatz ohne Gesänge, Erfindung neuer Slogans, Rollenspiele etc. In kaum einem politischen Aufbegehren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der künstlerische Ausdruck des Widerstands so deutlich gezeigt wie in der ägyptischen Revolte. Es ist ein Aufbegehren, das gewissermaßen durch seine kreative Form Ausdruck fand. In den achtzehn Tagen der Besetzung des Tahrirplatzes ging es freilich zunächst um politische Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit usw. Diese Forderungen jedoch haben insbesondere durch ihre Form Gehör gefunden. Die Weltöffentlichkeit konnte einem Aufstand zusehen, dessen Kraft aus seinen kreativen Strategien herrührte, und nicht zuletzt ist der Protest ähnlich heutigen Flashmobs über das Internet verabredet und koordiniert worden. Trotzdem oder gerade weil es aber keine rationale Verknüpfung von Kunst und Politischem gibt, weil die Kunst nicht der Revolution vorausgeht, sie nicht die Hüterin ihrer Ideologie sein darf, sondern jenseits des Nutzens steht, stellt das Rätsel um die zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen verlaufende Spur die hier formulierte Herausforderung dar. Der Begriff der Freiheit und der Befreiung scheint formelhaft wie ein Mantra im Zentrum vieler Arbeiten zu stehen. Doch wie verhält es sich mit der Freiheit im Kontext von Politik und Kunst? Die Frage, ob im Kontext eines politischen Aufbegehrens künstlerischer Praxis überhaupt noch ästhetische Freiheit zukommt, ließe sich aber auch positiv formulieren. Der Begriff der Souveränität beleuchtet hier die Frage neu, nämlich: Wie vermag nicht explizit politisch motivierte Kunst ein kritisches Potential freizusetzen, ohne sich von politischen Strategien, Marktmechanismen oder Disziplinierungsmaßnahmen vereinnahmen zu lassen? Als besonders vielseitig, heterogen und kraftvoll hat sich in diesem Zusammenhang die ägyptische Streetart mit ihren vielfältigen performativen Formaten erwiesen. Gerade durch die Verbannung der Kunst aus dem öffentlichen Raum 2

Wir bevorzugen hier den Begriff der Revolte gegenüber der Revolution insbesondere für die achtzehn Tage der Besetzung des Tahrirplatzes. Wie aber die Nachwirkungen des Aufstands zu nennen sind, steht auf einem anderen Blatt.

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kam es dort, wo es keine Kunst geben durfte, zu einem explosionsartigen Ausbruch ästhetischer Praxis. Hier stellt sich die Spannung von ästhetischer Lust und ethischer Forderung auf verstärkt komplexe Weise dar, da die Kunst auf der Straße sich immer unmittelbar dem öffentlichen Diskurs, geltenden Tabus und dem sofortigen Urteil stellt. Dies wird insbesondere im Hinblick auf die ägyptische Gesellschaftsstruktur und den beschränkten Zugang zu Kunst virulent.

D E D UVE UND B ATAILLE : P ROJEKT , M AXIME , AUTONOMIE

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Die künstlerische Praxis während der politischen Umbrüche in Ägypten veranlasst dazu, das Verhältnis von Politik und Kunst erneut zu überdenken. Angesichts der gescheiterten Hoffnungen der Moderne sowie der fortwährend bestehenden politischen und sozialen Probleme scheint die Avantgarde tot und der Glaube an den Fortschritt äußerst zweifelhaft oder zumindest ambivalent. Dies ist die Situation, von der aus Thierry De Duve nach der kritischen Funktion der Kunst und ihrer Ambition, „[...] das Projekt der Emanzipation zu begleiten [...]“ (De Duve 2006: 21), fragt. Für ihn verbindet sich mit der Fortschrittsideologie jene Utopie, die die Kunst in den Dienst der Ethik stellt und sie gleichermaßen mit einem politischen – oder besser kritischen – Anspruch versieht, der zur Emanzipation des Menschen führen soll. Mit dem Ableben des Fortschrittsglaubens muss sich für De Duve die Frage stellen, wie glaubwürdig sich noch eine kritische Funktion der Kunst behaupten lässt, obwohl sie der Befreiung bzw. der Emanzipation des Menschen keinen Dienst mehr leisten kann. Zunächst stellt De Duve fest, dass „das emanzipatorische Projekt“, dem die kritische Funktion dienen soll, immer auch Implikationen von Macht mit sich bringt. Emanzipation, verstanden als die ‚Bewilligung von Mündigkeit‘, kann, wie De Duve bemerkt, immer nur von einer bereits mündigen Person ausgesprochen werden. Es handelt sich immer um eine mündige Minderheit, die im Namen und zum Wohle einer unmündigen Mehrheit agiert. Wie der Begriff selbst andeutet, hat die Avantgarde einen Vorsprung. Ihr Vorsprung liegt im Zustand des Erwachsenseins, dessen sie sich früher erfreut als die ,Unmündigen‘, die es zu emanzipieren gilt. (De Duve 2006: 23)

Ein Großteil moderner Kunst hat sich in den Dienst eines solchen Emanzipationsprojektes gestellt und ihre Qualität über jene Verflechtung von Ästhetischem

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und Ethischem bestimmt. In dieser Konzeption ist „ästhetische Befreiung oder Revolution als Ankündigung [...] von ethischer Befreiung [...]“ (De Duve 2006: 24) zu verstehen. Was aber wird nun aus der „kritischen Wachsamkeit“ der Kunst oder der Revolution angesichts des Scheiterns des Emanzipationsprojektes der Moderne, das nichts als die Desillusionierung der Postmoderne hervorgebracht hat? Wäre die Konsequenz ein Zurück zur bloß dekorativen Kunst? De Duve bietet eine Alternative, die am Fundament des emanzipatorischen Projekts selbst gräbt. In seinem Verständnis gibt es den emanzipierten Menschen nicht, wenn damit „[...] der vollkommen rationale und autonome Zustand des aufgeklärten Subjekts [...]“ (De Duve 2006: 28) gemeint ist. De Duve sieht dies im biologischen Fakt der Unvollständigkeit der menschlichen Entwicklung – sprich der geistigen Unreife – zum Zeitpunkt der Geburt begründet. Insofern nun das Projekt der Emanzipation ein in die Zukunft gerichtetes ist, d.h. „[...] eine Hoffnung, dass der Fortschritt letztendlich die Wirklichkeit mit dem Ideal in Übereinstimmung bringen werde“, bleibt es immer ein aufgeschobenes, uneingelöstes Versprechen. In diesem Aufschub – einer noch nicht erlangten Anerkennung – liegt die Problematik des Emanzipationsprojekts. Durch das Zurückbleiben in der Entwicklung – also „die Diskrepanz zwischen den rationalen Kapazitäten des Gehirns und den instinkthaften Überresten“ (De Duve 2006: 29) – bleibt es dem Menschen unmöglich, eine transparente und vollkommen rationale Identität zu bilden. Hierin liegt die Wendung von einer in die Zukunft gerichteten Autonomie zu einer Vorwegnahme derselben, denn insofern „[...] die Menschen in gewissem Sinne von Anfang an emanzipiert sind: ihre Geburt schleudert sie mit einem so großen Vorschub gegenüber ihren tatsächlichen Fähigkeiten zur Autonomie in die Welt“ (ebd.), muss jedem vorzeitig seine Mündigkeit ‚bewilligt‘ werden. In diesem autonomen Als-ob-Zustand tritt die „Maxime“, an die man sich als emanzipiertes Subjekt zu halten vorgibt, an die Stelle des Projekts. Im Projekt der Befreiung heiligt der Zweck die Mittel und die Maxime der Freiheit gerinnt zum Terror: Revolutionen beginnen fehlzuschlagen, wenn Maxime und Projekt durcheinander gebracht werden. Dann ergreift eine Avantgarde von der Emanzipationsmaxime besitz und behauptet [...] das Volk im Namen des Volkes zu erziehen und die Heraufkunft der Befreiung zu verschieben [...]. (De Duve 2006: 31)

Steht aber an Stelle eines Projektes die Maxime, erfährt jeder einen Vorschuss auf Freiheit, der dazu dient, sich als Teil einer menschlichen Gemeinschaft zu

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spüren. Das Ästhetische hat in dieser Konstellation – und das ist der springende Punkt – keine bewahrende, sondern eine reflexive Funktion. Denn gibt es kein zu verwirklichendes Projekt der Befreiung, fällt die bewahrende Funktion der Kunst weg – ist auch die transitive Verbindung zwischen der Ethik und der Kunst gekappt. Im Hinblick auf die Maxime wird auf dem Feld des Ästhetischen für den Einzelnen der Zustand des Als-Ob und damit Teil einer Gemeinschaft zu sein wahrnehmbar. Die Verbindung zwischen der Kunst und der Moral basiert somit lediglich auf einem subjektiven Gefühl, ausgelöst durch eine ästhetische Erfahrung. Keine Kausalverknüpfung, keine logische Implikation bindet auf dem physischen Terrain der Sozialgeschichte die Kunst an die Politik, oder aber auf dem geistigen Terrain der Ideologie die Ästhetik an die Ethik. Es ist nicht wahr, daß sich künstlerische Freiheit von politischer Freiheit herleitet [...] oder daß künstlerische Befreiung oder Revolution notwendigerweise die politische Befreiung ankündigt, vorbereitet, herausfordert oder begleitet. Man könnte höchstens sagen, daß künstlerische Freiheit oder ein Mangel an ihr, für die Kunst das ist, was ethische Freiheit oder ein Mangel an ihr, für die Politik ist. (De Duve 2006: 33)

Ohne ein objektives Kriterium bereitzustellen, bewirkt die Kunst demnach ein In-Gang-Setzen einer Reflexion, in der wir unsere Quasi-Autonomie antizipieren und sie als gemeines Gefühl, „der menschlichen Art anzugehören“ (De Duve 2006: 32), wahrnehmen. Hierin liegt ihr kritisches Vermächtnis. Diese von De Duve formulierte Kantische Wendung einer Maxime – einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (De Duve 2006: 33) – im Unterschied zu einem Befreiungsprojekt führt uns zu einem Unterschied ums Ganze: In der Perspektive des französischen Philosophen Georges Bataille steht die Revolution als zweckmäßige, in die Zukunft gerichtete und von politischem Machtinteresse durchsetzte Bewegung auf der Seite des Rationalen. Deshalb ist sie strikt vom Aufstand der Revolte und ihrem plötzlichen Ausbruch von Souveränität zu unterscheiden. Während die Revolution das rationale und autonome Subjekt impliziert, wird die Revolte vom souveränen und irrationalen Menschen, der kein Subjekt mehr ist, angeführt. Insofern liegt die Revolte in Batailles Konzeption jenseits jeglicher Zweckmäßigkeit – sie ist die totale und augenblickliche Einlösung von Souveränität ohne jeden weiteren Zweck. Wenn De Duve das Projekt durch die Maxime ersetzt sehen will, dann ließe sich von Bataille sagen, dass sein Schreiben sich grundlegend gegen das Projekt richtet – dies meint das Projekt der Nützlichkeit wie der Aufklärung, der Philo-

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sophie wie der Dialektik und der Autonomie wie der Moral. Insofern durchbricht die Revolte die Struktur von Macht, ohne dabei eine weitere Struktur derselben aufkommen zu lassen. Souveränität ist in genau diesem – nämlich dem der Macht opponierenden – Sinne das Gegenteil von Autonomie. Die Ebene der Moral ist die Ebene des Projekts. Der Gegensatz des Projekts ist das Opfer. Das Opfer fällt unter die Formen des Projekts, aber nur scheinbar (oder in dem Maße seiner Entartung) [...] Und während im Projekt allein das Resultat zählt, ist es der Akt selber, der im Opfer den Wert auf sich konzentriert. Nichts wird im Opfer auf später verschoben, es hat die Macht, im Augenblick, in dem es stattfindet, alles in Frage zu stellen, alles vorzuladen, alles zu vergegenwärtigen [...] Das Opfer ist unmoralisch, die Poesie ist unmoralisch. (Bataille 1999: 191)

Nun sollte der Rekurs auf De Duves Position vor allem zeigen, dass eine, die Kunst als Hüterin der Ethik setzende, Perspektive zu allererst weitere Implikationen von Macht mit sich bringt und gleichzeitig die Souveränität fortwährend aufschiebt. Batailles Perspektive auf das Opfer zeigt gleichwohl, dass erstens das Projekt und die Souveränität unvereinbar sind und zweitens, dass das Opfer – welches synonym mit all jenen heterologen Praktiken der Verausgabung gelesen werden kann – und die Poesie, also die Kunst, eine Verwandtschaft aufweisen. Etwas anderes – ein feiner aber fundamentaler Unterschied zwischen Bataille und De Duve – kommt an dieser Stelle ebenfalls zum Vorschein. Während bei Bataille das Opfer zur Souveränität führt, ist es bei De Duve die Maxime – der gemeinsame Glaube an die „Idee der Humanität“ (De Duve 2006: 32). In De Duves Konzeption wird demnach „die kritische Funktion der Kunst über das ästhetische Urteil ausgeübt [...]“ (De Duve 2006: 37). Dies rückt den Verstand und die Erkenntnis in den Mittelpunkt und unterwirft die ästhetische Kraft einer erkenntnistheoretischen Ordnung. Bei Bataille aber kommt dem Ästhetischen gerade dadurch Souveränität zu, außerhalb der Erkenntnis zu operieren und somit keiner Ordnung zu unterliegen. Michael Rutschky fasst dies sehr treffend zusammen, wenn er Batailles Formel von Souveränität klar von einer verstandesmäßigen Entscheidung trennt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet – aus der Perspektive Batailles gelesen, ist diese Formel sinnlos. Souverän ist für Bataille, wer in den Ausnahmezustand – sagen wir: hineingerät. Und der Ausnahmezustand, die Ekstase, das Wunder macht sich gerade dadurch unabweisbar, daß ein wohlkonturiertes Subjekt, das eine Entscheidung fällt, weil es die Lage überblickt – das durch seine Entscheidung eine überblickbare Lage

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herstellt –, dieser Ausnahmezustand ist eben dann eingetreten, wenn es ein solches Subjekt nicht mehr gibt; dessen Souveränität erweist sich gerade daran, daß es seine eigene Wohlgestalt, die auch seine Grenzen markiert, überschreitet. (Rutschky 1988)

Wie aber lässt sich dieses Antizipieren beschreiben, diese reflexive Verknüpfung des Ästhetischen als Transgression erklären, ohne sie dem Verstand unterzuordnen? Anders gefragt: Wie drückt sich das Außer-sich-Sein, sprich die Revolte ästhetisch aus?

E ZZAT I SMAIL : W AITING ?! Es ist Sperrstunde in Kairo. Ein nie dagewesenes Bild leerer Straßen zeigt sich auf der Videoaufnahme3 von Waiting?!. Es herrscht im wahrsten Sinne der Ausnahmezustand in den Straßen, die von Panzerpatrouillen bewacht werden. Ezzat Ismail sitzt um zwei Uhr morgens zur Sperrstunde auf einer Straßenbank unweit von Panzern und wartet.4 Die Sperrstunde als Stunde Null des postrevolutionären Zustands ist der zeitliche Rahmen dieser Video-Performance, deren Titel sowohl Ausruf als auch Frage ist. Ismail tanzt in einem „moment of suspense“ das Warten. In verschiedenen Figuren drückt sich seine Unsicherheit, Angst, Anspannung, aber auch Freude über das unbekannte Kommende aus. Er liegt, sitzt und steht auf der Bank, er denkt nach und streckt sich. Seine Füße zappeln ungeduldig – isoliert vom Rest des Körpers. Es sind starke Posen und Schritte, die immer wieder die Balance auf der Bank ausloten und zu halten versuchen. Auf einen Sprung folgen sofort der Stillstand und die Korrektur der Haltung. Es ist ein wechselhaftes Erörtern der Gefühlslage, wenn sich der Kopf nach rechts dreht und die Hand ihn wieder zurückbiegt. Ein sich verselbstständigender Körper, der alle Figuren des Wartens ausprobiert, in einer Zeit des Wandels und der Veränderung. Es sind Posen, die allesamt eine gesteigerte Zeiterfahrung – nämlich die der Aus-Zeit – widerspie-

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Ein Auszug der Videoperformance war im Dokumentarfilm „The Noise of Cairo – A documentary about Cairo, Art and Revolution“ zu sehen. Eine DVD des Films wurde für die Sichtung der Performance herangezogen (s. Lange 2012). Dass die Performance als Video existiert bzw. als Videoperformance konzipiert ist, soll in der weiteren Diskussion keine Rolle spielen. Es ist leider nicht bekannt, ob es außer den anwesenden Soldaten und dem Filmer Zuschauer gab.

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geln. Es geht um das Auskosten der Unsicherheit, der Spannung, der Ungewissheit – des vibrierenden Inneren, wie Ismail selbst sagt.5 Insofern ist der Tanz eine Performance der Unterbrechung, eine Reflektion des Zeitfühlens, des Umgangs mit der Zeit – jedoch nicht irgendeiner Zeit, sondern einer Zeit nach der Revolte, einer Zeit, in der die Uhren auf Null gestellt werden und ein Zeitvakuum herrscht. Wenn Lehmann Becketts Zeitästhetik, in der „Vision, Traum, Erinnerung, Hoffnung und reales ‚Jetzt‘“ (Lehmann 2005: 326) untrennbar sind, als „Dramaturgie des Nullpunkts“ bezeichnet, trifft das gleichermaßen auf Ismails Performance zu. Ihr ist eine Dramaturgie eigen, die keine Zeit als Referenzpunkt hat – in der Zeit nicht voranschreitet. Und insofern kreist sie zur Sperrstunde im wahrsten Sinn um den Nullpunkt – den Nullpunkt der Geschichte, der Politik, aber auch der Zeit. Dass Becketts Zeitästhetik als Hinweis dienlich ist, zeigt sich umso deutlicher, wenn wir bei Lehmann lesen: „Die Dekomposition und Zerstäubung der Zeitdimension manifestiert Zerfall und Tod des Individuums.“ (ebd.) Lehmanns Hinweis auf den Zusammenhang von Zeit und Tod bzw. die Analogie zwischen dem Zerfall der Zeiteinheit und dem Zerfall des Individuums rückt eine weitere Dimension der Performance in den Fokus – Becketts Stück über das Warten (Beckett 1963) als Grenzgang zwischen Leben und Tod bietet hier nicht nur dem Titel nach Parallelen. Denn auf den ersten Blick wählt Ismail für seine Performance einen Ort der Rast – ein seltener Ort in einer Stadt wie Kairo, in der es kaum Parkbänke gibt. Doch verhält es sich mit diesem Ort angesichts des unweit stehenden Panzers etwas schwieriger. Ismail setzt sich selbst einer realen Gefahr aus – vielleicht sogar dem Tod. Das Warten auf den Tod steht mithin ebenso zum Thema wie das Warten auf ein neues Leben. Insofern wird Warten zum bewussten Spürbarmachen des aufgeschobenen Todes. In Anbetracht der politischen Umstände, der vielen gestorbenen Demonstranten, wird der Aufschub des Todes umso evidenter, denn Ismail wählt die Sperrstunde als Zeit und die Parkbank unweit der Panzer als Ort seiner Performance. Beides – Ort und Zeit – sind gewissermaßen das über Ismail schwingende Damokles Schwert, das mit jeder weiteren Minute an diesem Ort die Anwesenheit und den Aufschub des Todes aufzeigt. Mit dem aufgeschobenen Tod rufen wir eine Begrifflichkeit auf den Plan, mit der Jean Baudrillard – ein intensiver Leser Batailles – ein Äquivalenzverhältnis

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Sinngemäße Übersetzung des Interviews mit Ezzat Ismail aus dem Englischen, in: Lange 2012.

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zwischen Zeit und Tod aufdeckt. In diesem Verhältnis steht der gewaltsame Tod der Akkumulation von Zeit entgegen, was gleichermaßen bedeutet, dass er der Dauer und der Produktion opponiert. Seine Plötzlichkeit erschüttert jegliches Kalkül. Und weil er in seiner Unkontrollierbarkeit Fortschritt und Sicherheit unterläuft, steht er ganz und gar auf der Seite der Verausgabung. Der aufgeschobene Tod hingegen ist kalkuliert und insofern ökonomisch – er ist das Leben als langsamer Tod. Immer ist es der Tod, der den Kalkül der Äquivalenz und die Regulierung durch die Indifferenz ermöglicht. Dieser Tod ist nicht gewaltsam und physisch, sondern er ist die gleichgültige Vertauschung von Leben und Tod, die wechselseitige Neutralisierung von Leben und Tod im Überleben, anders gesagt: der aufgeschobene Tod. (Baudrillard 2005: 69)

Baudrillards Analyse greift Batailles Einsicht in die Zusammenhänge von Arbeit und Tod auf und erklärt anhand einer beschränkten Ökonomie, in der der Tod das Stigma eines Mangels trägt – nämlich dem Mangel an Zeit und an Nützlichkeit – die Weigerung bzw. Verfemung des symbolischen Tausches. Die Akkumulation der Zeit bringt die Idee des Fortschritts hervor, wie die Akkumulation der Wissenschaft die Idee der Wahrheit bringt: in beiden Fällen tauscht sich das Akkumulierte nicht mehr symbolisch aus und wird zu einer objektiven Dimension. […] Daher die absolute Sackgasse der politischen Ökonomie: durch Akkumulation will sie den Tod abschaffen – aber die zur Akkumulation benötigte Zeit ist selber eine Zeit des Todes. (Baudrillard 2005: 231)

Den Tod als Teil eines Gaben- bzw. Tauschsystems zu betrachten, bedeutet, ihm eine soziale Funktion zuzusprechen. Sowohl Bataille, als auch Baudrillard geht es um diese symbolische Kraft des Todes. Für beide ist der reziproke Zyklus von Leben und Tod maßgeblich für das Soziale. Das Symbolische ist mithin eine soziale Kategorie für die die Reversibilität konstitutiv ist. Demnach ist die Ordnung, die restituiert werden soll, nicht einfach eine Ordnung des Exzesses und des Überschwangs. Das, was Baudrillard mit der Gabe und ihrer Gegenseitigkeit im Auge hat, ist vielmehr die Zerstörung einer einseitigen Macht zu Gunsten einer Gemeinschaft, die sich durch ihre Reziprozität stabilisiert. Baudrillards Gabentheorem verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Verfemung des Todes, einer Zeitökonomie der Akkumulation und einer Ordnung der Destruktion des Symbolischen sowie des Sozialen. Dies ist eine Perspektive, die etwa ein halbes Jahrhundert nach Batailles Theorie die Ökonomie

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des Todes – sprich die zwanghafte Akkumulation von Lebenszeit im Sinne Batailles – als Geiz der Moderne entlarvt. Baudrillard wie Bataille geht es um eine Bereitschaft zum Tod in der das Leben nicht wie ein Besitz akkumuliert, sondern im Angesicht des Todes und des Risikos gelebt wird. Hier – d.h. in der Bejahung der radikalen Endlichkeit – liegt Batailles Denken der Revolte verankert. In der Überschreitung der Vernunft, in der Transgression des Rationalen und nicht im kalkulierten Machtwechsel liegt der Gestus der Revolte. Im Gegensatz zur Revolution drückt sich in der Revolte kein Willen zur Macht aus. Die Revolte richtet sich gleichsam gegen das Selbst bzw. das rationale Subjekt. Batailles souveräne Revolte will dem Hegelschen Subjektverständnis im Sinne eines erkennenden Subjektes seinen Tod geben und sucht stattdessen ein Subjekt im Ruin. Anders gesagt, der Tod, der bei Hegel das knechtische (Selbst-) Bewusstsein bzw. die Arbeit des Bewusstseins erst hervorbringt und somit das Subjekt konstituiert, fällt bei Bataille in das Bewusstsein ein. Als sein blinder Fleck durchbricht er die Repräsentation. Als extreme Erfahrung des Bewusstseins, die ihm so innerlich ist, dass der Mensch keinen Zugang zu ihr hat, sie nicht begrifflich fassen kann, markiert der Tod jenes Moment, in dem das Subjekt nicht mehr kann. Der Tod bringt dem Bewusstsein seinen Tod. Der Modus der Revolte als extremster Punkt einer dem Menschen möglichen Erfahrung, als Überschreitung der Vernunft ist es, was sie (die Revolte) mit der Kategorie des Todes verbindet. Mit anderen Worten, Revolte heißt die Erfahrung des Todes zu denken und in diesem Denken bis ans Äußerste zu gehen. Deshalb bedeutet die Revolte für Bataille – anstelle der Machtergreifung – das Gegenteil von Handeln. Dies mag eine überraschende Perspektive auf die Revolte sein – so doch Subversion immer mit Aktion und Handlung gleichgesetzt wird. Dieses NichtTun, von dem die Rede ist, ist aber nicht als ein Hinnehmen der Gegebenheiten zu verstehen. Es geht bei Bataille vielmehr um die Subversion des (Hegelschen) Diktums des Tuns, der Operation, des Handelns, der Arbeit etc. – all jener Kategorien, die eine beschränkte Ökonomie hervorgebracht haben und in denen sich die Weigerung zur Verausgabung, zur Sinnlichkeit usw. ausspricht. Ismails Performance verdeutlich, wie gerade im Nicht-Tun, in der gesetzten Zäsur ein Subjekt, das nicht mehr kann, hervorgebracht wird und lässt indes die Frage nach der Konstitution des Subjekts selbst virulent werden. Indem Ismail Posen des Wartens – also der Unfähigkeit zu Handeln – tänzerisch hervorbringt, wird deutlich, dass er sich seinem eigenen Tod aussetzt. Hier findet keine spektakuläre Selbstverletzung oder dergleichen statt. Ismail wartet lediglich tanzend auf einer Parkbank unweit eines Panzers und tut weiter nichts.

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Kurz gesagt: Es zeigt sich in der Tat, dass der Zerfall der Zeiteinheit in der Performance mit der Thematisierung des Todes, d.h. mit dem Zerfall des Individuums, einhergeht. Ismails Performance verdeutlicht diesen Zusammenhang gerade durch das Fehlen einer linearen Zeitästhetik. Vielmehr wird die Zeit als solche spürbar und nähert sich gleichsam in ihrer Referenzlosigkeit der Erinnerung und dem Traum an. Obwohl die Geste des Wartens eine in die Zukunft gerichtete ist, gibt Ismails Performance das absolute Jetzt. Verstärkt wird die totale Gegenwärtigkeit durch die wissentliche Anwesenheit des Militärs. Es ist ein reales, grenzüberschreitendes Spiel des Nicht-Tuns, das dem „Jetzt“ seinen Vorrang verschafft und den Tod in Betracht zieht. Sandra Umathums kürzlich erschienener Aufsatz über Die Kunst des Abschiednehmens hat am Beispiel von Christoph Schlingensiefs selbstinszenierten Sterben den Zusammenhang von realem Tod und Subjektkonstitution in der szenischen Kunst sehr treffend beleuchtet. In Erscheinung tritt er vielmehr als jemand, der seinen eigenen Tod thematisch werden lässt – und zwar nicht seinen womöglich in unbestimmter Ferne liegenden Tod, sondern und dies ist entscheidend, seinen Tod als eine Gegebenheit, deren Nähe und baldiges Eintreten Wahrscheinlichkeit beansprucht. Kunst wird hier zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vorbereitung auf den Tod, dem eigenen Prozess des Abschiednehmens oder anders gesagt zum Schauplatz des Höchstpersönlichen und gleichsam der existenziellen Bedrohung: dem finalen Selbstverlust und mithin jenem Moment, in dem man als Subjekt aufhört, noch länger Subjekt zu sein. (Umathum 2012: 253f)

Umathums Deutung der Schlingensief’schen Sterbelehre als ein Ineinander von „Zentrierung und Dezentrierung“ des Subjekts im Sinne eines Annäherns und einer gleichzeitigen Distanznahme zum Tod spürt den Prozess des Loslassens und des Zerfalls des Subjekts auf, der angesichts der Todesnähe sichtbar wird. Dies eröffnet eine Perspektive auf die Performance, die Baudrillards Überlegungen zur Gabe und Batailles Theorie als gemeinsames Kraftfeld ausweist. Innerhalb dieses Feldes zeigt sich eine theatrale Praxis, die den Tod als persönliche und existenzielle Bedrohung sichtbar macht und einen Prozess der Fragmentierung und der Überschreitung in Gang bringt. Präzis: In der Überschreitung der Ich-Grenzen liegt die prägnanteste Schnittstelle zwischen Batailles Theorie der Verausgabung, dem Gabenkonzept Baudrillards und Waiting?!. Die Überschreitung des Ich als Ankündigung einer Zerbrechlichkeit der Identität, als gegen ein kohärentes Selbst sich widersetzender Gestus, spiegelt genau jene Erfahrung von innerer Immanenz wider, die Bataille im Sinn hat,

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wenn er scheinbar paradox von der Kontinuität, dem brüchigen Bewusstsein, oder aber der Nacht und der Blindheit spricht. Was Umathum mit Dezentrierung des Selbst meint, beschreibt eben jene Entrückung des Subjekts, in dem es „nicht mehr können“ (Levinas 1995: 47)6 kann und insofern auch im Levinas’schen Sinn seine „Herrschaft als Subjekt“ (ebd.) aufgibt. An dieser Stelle wird bei Bataille eine Erfahrung der eigenen Immanenz möglich, die die radikale Endlichkeit des Menschen als seine Kontinuität aufzeigt. Wenn Ismail seinen eigenen Tod „er-wartet“, stellt er sich im doppelten Sinn an den Rand der Welt und lässt los: „Für denjenigen […], der den Tod zum Anlass nehmen kann, sich aus dem Zentrum zurückzunehmen, […] verändern sich die Gewichte. Er lässt sich los, indem er sich in die Welt zurück und in dieser an den Rand stellt.“ (Tugendhat: 2006: 51) In diesem Loslassen, welches sich gleichwohl als „ein sinnfälliges Bild für die im Subjekt angelegte Widersprüchlichkeit von Subjekt-Ich und Objekt-Ich [...]“ (Umathum 2012: 261) darstellt, kommt die Baudrillard’sche Reversibilität zum Ausdruck. Es geht zum einen, um die Öffnung des reziproken Zyklus von Leben und Tod – das „An-die-Seite-Treten“ (ebd.) kann hier auch als Platzmachen für Neues gelesen werden – und zum Anderen um die Restituierung der symbolischen Kraft des Todes. Jeder von uns wird so aus der Enge seiner Person herausgetrieben und verliert sich so weit als irgend möglich in der Gemeinschaft von seinesgleichen. Aus diesem Grunde ist es für ein gemeinsames Leben unabdingbar, sich an der Größe des Todes zu messen. (Bataille 1970-1988: 245f zit. n. Nancy 1988: 2)

Den Tod als jene Bruchstelle des Systems und zugleich der Subjektkonstitution zu verstehen, bedeutet gleichsam, die Möglichkeit einer Subversion – sowohl der Ordnung des Systems, als auch der das Subjekt betreffenden Normen – aufzuspüren. Insofern stellt Ismails Performance auch die Frage nach dem revoltierenden Subjekt – bzw. dem Subjekt der Revolte und welche Rolle diese Revolte als Unterbrechung für die Konstitution von Subjektivität spielt. Solch ein „Nicht-Tun“ wie Ismail es in Waiting?! zelebriert, stellt mithin einen aktiven Zerfall, ein aktivisches Ablassen anstelle einer passiven Stagnation dar. Dieses Ablassen konterkariert als Unterbrechung – und dies ist das Bataille’sche Moment der Souveränität – das Projekt des Fort-Schritts. Ismails Per-

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Hervorhebung im Original.

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formance umkreist eben dieses Bataille’sche Moment der Unterbrechung, des Umbruchs, der Erschütterung und ihrer subversiven Kraft. Insofern weisen die Kraftlinien, die sich zwischen Batailles Denken und der Performance ergeben, eine Perspektive auf, die über die Inszenierungszeit hinausgeht und die diese wissenschaftliche Auseinandersetzung vorantreibt. Die Rede ist von einem ästhetischen Aufbegehren, einer Überschreitung, die das Ästhetische selbst überschreitet und das Politische weniger ihrem Inhalt nach aufspürt, jedoch aber in der Unterbrechung desselben eine andere Form von Aufmerksamkeit, ja Wahrnehmung schafft. Kurz gesagt: Es geht um die ästhetische Verfasstheit der Möglichkeit, das Handeln zu zerstören (Ebeling 2000: 26).

E KSTASE STATT H ANDELN – DIE ÄSTHETIK DER V ERAUSGABUNG

INNERE

E RFAHRUNG

DER

Es mag verlockend sein, die im Kontext der ägyptischen Revolte entstandene Kunst, und insbesondere solche, die sich als revolutionäre oder politische Kunst versteht – einerseits als paradigmatische Beispiele für die Bataille’schen Begriffe anzuführen und sie andererseits als gesellschaftsverändernde Maßnahmen zu überhöhen. So simpel steht es aber nicht – wie so oft bei Bataille – um die Begriffe, weshalb auch bei ihm die Souveränität, die Revolte und die Gemeinschaft im Verlauf seiner Schriften zunehmend komplexere Formen annehmen. Man muss sich durchaus fragen, ob, vor allem in einer Gesellschaft, in der die Künstler marginalisiert am Rand der Gesellschaft tätig sind, Kunst überhaupt in der Lage ist Tabus zu brechen. Im Fall von Ismails Performance wissen wir nicht, wie das Ende der Performance aussieht, oder aber ob und wie das Publikum reagiert hat. Das Video gibt eben jene Position des Zuschauers, aus der die Frage nach dem Politischen – unter anderem gedacht als Frage nach der Gemeinschaft – gewissermaßen erst hervorgeht, nicht preis. Dies Argument ließe sich aber auch umkehren und die Rolle der Kamera könnte hier als Intensivierung der Zuschauerposition gedeutet werden. Schließlich ist spätestens seit dem arabischen Frühling deutlich geworden, welche Rolle Handyvideos und andere neue Medien sowie ihre Verbreitungsmöglichkeiten über Internetplattformen gespielt haben. Dass sie machtvolle und gefürchtete Mittel der Unterwanderung, der Auflehnung und ihrer Dokumentation sind, lässt sich inzwischen von keinem System mehr ignorieren. Die Frage also, welche Gefahr von einem Tanz auf einer Parkbank ausgeht, erweist sich als sehr viel komplexer als man zunächst annehmen mag.

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In Rabih Mroués Lecture Performance The Pixelated Revolution7 geht es um eben jene Bedeutung der Handyvideos und Aufnahmen im syrischen Aufstand. In der Lecture-Performance zeigt Mroué selbstgedrehte Videoaufnahmen und Bilder der syrischen Aufständischen. In einer der Sequenzen sehen wir, wie ein Rebell, während er seinem Mörder gewissermaßen durch die Linse ins Auge blickt, seinen eigenen Tod filmt. Plötzlich ändert sich die Perspektive des Videos, nun blickt der Zuschauer durch dieselbe Linse auf den Scharfschützen und wird so selbst zum Todesopfer. Der mit der Kamera anvisierte Scharfschütze sieht die Kamera, hebt sein Gewehr, zielt und drückt ab. Wir sehen unserem eigenen Abschuss zu. Mroués Feststellung „The Syrians are shooting their own death“8 meint deshalb den Todesschuss durch die Waffe und die Kamera gleichermaßen. Indem Mroué dokumentarisches Kriegsmaterial zum Kunstakt macht, legt er die Macht der Bilder und das komplexe Geflecht von Opfer und Zeuge frei. Wenn wir dies nun auf Ismails Performance übertragen und davon ausgehen, dass Ismail sich selbst zum Abschuss freigibt und dies aber gleichzeitig zum „Videoshoot“ macht, dann zeigt sich, dass gerade in der Entgrenzung des Politischen – schließlich filmt sich Ismail nicht beim Demonstrieren – hin zum Ästhetischen das subversive Potential der Performance liegt. Das Irrationale der Performance entspringt gerade der Tatsache, dass Ismail nichts weiter tut als auf einer Parkbank zu tanzen. Doch dabei bleibt es nicht. Die Anwesenheit der Kamera – und dies scheint hier evident – impliziert einen Zuschauer. Insofern setzt sich Ismail sowohl dem Abschuss der Militärs als auch dem Schuss der Kamera respektive des Zuschauers aus. Die vorab gestellte Frage nach dem Tabubruch erfährt somit eine andere Reichweite. Es zeigt sich mit Bataille, dass es darum geht, eine Praxis freizulegen, die das Politische unmöglich macht. Der zu setzende (Tabu-)Bruch ist schlichtweg nicht am Moralischen, sondern am Handeln selbst zu vollziehen. Und insofern berührt die Performance mehr als nur ein vordergründiges Tabu innerhalb eines Kunstakts. In genau jenem Bruch – sprich in der Distanznahme zur Produktivität, zur aktivischen Kreativität – besteht ein Abgrenzungsmechanismus der Kunst gegenüber dem Ökonomischen. Insofern betrifft die Zäsur nicht zuerst das Sittliche, sondern das Handeln, welches immer zu Gunsten des Sittlichen und nicht des Sinnlichen ausfällt. Dieter Thomä elaboriert dies sehr treffend in seiner Be-

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The Pixelated Revolution, Rabih Mroué (Regie), 2012. Die Video-Lecture-Performance hat die Verfasserin am 12.09.2012 auf der documenta (13) in Kassel gesehen. Rabih Mroué, The Pixelated Revolution, a.a.O. Das Zitat ist eine Niederschrift aus der Video-Performance.

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trachtung der ästhetischen Freiheit (Thomä 2010). Wenn Thomä hier die Seite der Rezeption und der Passivität stärkt, so tut er dies, um den Begriff der ästhetischen Freiheit neu zu fassen und ihn zu rehabilitieren. Er geht damit geradewegs gegen das Missverständnis vor, ästhetische Freiheit und Praxis seien notwendigerweise Handlungen bzw. produktionistisch. In dieser Neufassung des Freiheitsbegriffs tritt die Rezeption – also die Seite der Empfänglichkeit – in den Vordergrund. Für die rezeptive Seite der Kreativität wählt Thomä den Begriff der Ekstase. Die Ekstase ist hier nicht nur eine sich vom Aktivischen der Handlung abgrenzende Kategorie, sondern zu allererst ein Zustand des „Außer-sich-sein“. Thomä beschreibt diesen Zustand als Kontemplation, die keine „natürliche Ordnung“ mehr kennt und sich stattdessen über eine Situation des ekstatischen Kontrollverlusts auszeichnet. Ebenso wie Bataille geht es ihm um jenen Punkt, an dem das Subjekt sich nicht mehr bei einer „einzusehenden Ordnung der Welt“ rückversichern (Thomä 2010: 165) – es sich selbst als Subjekt nicht mehr klar abgrenzen kann. Dieser Zustand der Hingabe – im wörtlichen Sinne ein sich Hingeben, ein Hineingeraten – widersetzt sich dem Paradigma von kreativer Produktivität. Spannen wir nun den Bogen zwischen den Begriffen, so zeigt sich, dass die eingangs unter anderem mit De Duve formulierte kritische Funktion des Ästhetischen mit Thomä um die Situation der Ekstase – um das Nicht-Tun präzisiert wird. Sie (die kritische Funktion) grenzt sich auch bei Thomä von Prozessen der Erkenntnis ab und zeigt gleichzeitig auf – und hier kommen wir zum Zentrum der Bataille’schen Theorie – inwiefern sich das Ästhetische dem Ökonomischen widersetzt. Die ästhetische Freiheit über den Zustand der Ekstase – als einem der Handlung opponierenden – herzuleiten, gewährt der Ästhetik einen souveränen Bereich, der ganz im Sinne Batailles außerhalb einer beschränkten Ökonomie liegt. „Umgekehrt enthält die ästhetische Freiheit in dem Maße, wie sie sich an die Ekstase hält, ein Gegengift gegen jene Ökonomisierung.“ (Thomä 2010: 168) In Waiting?! kulminieren die aufgeworfenen Fragen um die ästhetische Freiheit und die kritische Funktion, da sich dort in besonderem Maße die Performance einer gesteigerten Kontemplation aussetzt – gesteigert vor allem deshalb, weil das Geschehen in Waiting?! nicht nur dem Titel nach jegliche Form von Produktivität unterläuft. Sie widersetzt sich sowohl dem Primat der Nützlichkeit wie der Vernunft, gleichsam unterläuft sie jede Möglichkeit einer ideologischen Vereinnahmung. Anstelle einer Mündigkeits- oder Autonomieerklärung geht es um die „Erfahrung“ eines ausnahmslos machtfreien Zustands, der sich gerade durch die Distanznahme zur Produktion und somit auch zum politischen Projekt zeigt.

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Die hier beschriebene Arbeit fordert von ihrem Zuschauer und fördert bei ihm eine andere – eine gesteigerte, vielleicht auch eine gestörte – Rezeptivität. Es ist eine Kontemplation, die über das Gekannte hinausgeht und darin, das Theoretische zu exerzieren und eine bewusste Erfahrung dieses Exzesses als Ereignis zu ermöglichen, besteht ihre Kraft – eine Kraft, die auch der Revolte eigen ist. Es ist diese Kraft, die das Spiel mit der Revolte verbindet, die jedem Spiel etwas Revoltierendes und jeder Revolte ein Spiel zu Grunde legt. Eine ästhetische Praxis, in der die Revolte und das Spiel eine gemeinsame Kraftquelle teilen und damit füreinander durchlässig sind, erweist sich gerade darin als verfemt, als sie die Sicherheiten und Gewissheiten um das was gut, richtig, falsch oder wahr zu sein scheint erschüttert, sie das Subjekt in einen Zustand jenseits der natürlichen Ordnung führt und ihm keine Handlungsvorlage mehr bietet. In genau diesem Sinn ist die Ästhetik bei Bataille als „[...] der letzte Schrei der Philosophie [...]“ (Ebeling 2000: 21) zu verstehen. Sie setzt an jenem Punkt ein, an dem die Philosophie in ihre Grenzen verwiesen bleibt: der Erfahrung. „[...] die ästhetische Lebensführung entfaltet auf diesem Wege ethische Potentiale, die etwa unter den Vorgaben der Kreativität verschlossen bleiben würden.“ (Thomä 2010: 167) Anders gesagt: Am Modus der Gabe und der Unterbrechung in „Waiting?!“, zeigt sich eine Verausgabungspraxis, die das Theater und seine ästhetische Kraft über seine Dysfunktionalität bestimmt – will heißen, dass sich mit der Infragestellung des rationalen Subjekts, die sich in der Erfahrung der Ekstase auftut, eine ästhetische Kraft zeigt, die sich durch ihre Souveränität und ihre Unkontrollierbarkeit auszeichnet. In Christoph Menkes Ästhetik der Kraft finden wir diese Bestimmung wieder: Die ästhetische Kraft des Menschen erscheint; sie erscheint als Unterbrechung des vernünftigen Subjekts und seiner Praktiken. Wir wissen von unserer ästhetischen Natur, weil wir die Erfahrung solcher ästhetischer Ereignisse ihres Erscheinens gemacht haben. (Menke 2008: 68)

Die Natur des Menschen als ,Spiel dunkler Kräfte‘ (Menke 2008: 9) und dieses Spiel als ästhetisches zu begreifen macht – kurz gefasst – Christoph Menkes Grundbestimmung einer Ästhetik der Kraft aus. Bei Baumgartens Ästhetik angefangen, über Herders Kritik derselben hin zu Kant und letztlich Nietzsche entfaltet Menke seine Theorie vom Wirken „dunkler Kräfte“ ohne Regeln und Zweck, das sich als Prozess der Ästhetisierung des

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Subjekts und seiner Vermögen zeigt. In der ästhetischen Situation, so Menke, fällt das Spiel dunkler Kräfte als Regression in den Zustand „vernünftiger Subjektivität“ ein und transformiert nicht nur das Subjekt, sondern auch seine Praxis (Menke 2008: 73). In diesem Prozess erscheint also das Ästhetische als Transformation, d.h. das Ästhetische wirkt verändernd auf das Subjekt und seinen Selbstbezug, indem es als Ereignis ins Praktische einfällt und die übend erworbenen Vermögen zu ästhetischen macht. Dieser Prozess wird als ästhetische Selbstreflexion spürbar. In dieser Reflexion zeigen sich die Vermögen als Kräfte ohne Zweck oder normativen Gehalt, es geht nicht mehr um ihr Gelingen oder die Hervorbringung eines Guten, sondern, wie Menke anhand von Nietzsches Handlungskritik weiter ausführt, um das lustvolle Erfahren des Nichtkönnens: Deshalb ist der Mensch im Zustand rauschhaft gesteigerter Kräfte durch eine wesentliche Unfähigkeit definiert [...] die Unfähigkeit zum Handeln als die zum ästhetischen Reagieren, Sichausdrückenmüssen. (Menke 2008: 113)

Die Kraft der Kunst über ihre Dysfunktionalität zu bestimmen und sie so vom Denken der zweckgeleiteten Tätigkeit – dem Primat des Tuns – zu befreien, d.h. ihr einen irrationalen Bereich zuzuweisen, in dem sie sich frei bewegt, bedeutet jene Bataille’schen Begriffe in nuce auf den Plan zu rufen. Hier zeigen sich nun bereits die Berührungspunkte zu Menkes Ästhetik der Kraft, die in der ästhetischen Situation ebenfalls von einer Infragestellung des Subjekts ausgeht. Im gesteigerten Spiel dunkler Kräfte erfährt sich der Mensch als Mensch und nicht als Subjekt. Bei Bataille entspricht dies genau jener ekstatischen Erfahrung der Kontinuität des Menschen, die er durch seinen Eintritt in die Welt der Arbeit und seine Bestimmung als Zweck verloren hat. Präzis an diesem Punkt liefert Bataille aber eine Beschreibung bestimmter Formen und Situationen, die eine solche Erfahrung ermöglichen. Es sind all jene Formen der Verausgabung, das Lachen, das Opfer, die Poesie, die Ekstase, die Erotik usw., die sich der diskursiven Erkenntnis verschließen und den Selbstverlust des Subjekts hervorrufen. Wenn Menke in der Trennung von Kraft und Vermögen und in der Befreiung vom Können – sprich dem Primat der Handlung – die Bestimmung der ästhetischen Erfahrung begründet sieht, so tut er dies ganz im Sinne Batailles. Bataille aber präzisiert jene Situationen, die eine ästhetische Verwandlung ermöglichen um die Verausgabung und ihre exuberanten Phänomene. Warum aber sollten ausgerechnet die Formen der Verausgabung, das Opfer, die Erotik, der Tod, das Risiko, jene Erfahrung ermöglichen? Und: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für einen theaterwissenschaftlichen Diskurs, der

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danach fragt, wie sich das Ethische im Hinblick auf eine Ästhetik der Verausgabung zeigt? Die Stärke einer Theorie der Verausgabung ist, dass sie die Gewalt der ästhetischen Erfahrung ästhetisch fasst und nicht psychologisch. Deshalb lässt sich die ästhetische Freiheit in Verknüpfung mit den Formen der Verausgabung als Erfahrung von Freiheit formulieren. Führen wir uns eines noch einmal vor Augen: Bataille geht es letztendlich immer um die Freiheit: die Freiheit vom Handlungszwang, der Knechtschaft, der beschränkten Ökonomie, dem Moralismus. Sein ganzes Denken umkreist die Möglichkeitsbedingungen eines freien Menschen. Die Verausgabungsformen sind gewissermaßen Reste einer vormals freien Kraft, sie sind der Spalt oder der Katalysator, der die Kräfte zumindest für eine gewisse Zeit wieder zum Spielen bringt und das Subjekt in den Zustand der Ekstase versetzt. Diesen Spalt öffnet das Theater gerade dann, wenn es ein anderes Spiel als das der Produktivität und des Nutzens, in Gang setzt. Indem sich also Ismails Arbeit durch ihren exuberanten Modus von einer – sagen wir – ‚handlungsorientierten‘ Ästhetik unterscheidet, widersetzt sie sich dem Primat des Tuns. In solchen künstlerischen Arbeiten, die das Risiko eingehen zu verstören, zu entblößen, schmerzhaft, unverständlich, zersetzt, asozial zu sein, „[...] geraten wir durch einen Sprung in eine Situation, die nicht mehr durch nützliche Verfahren definiert ist“ (Blanchot 1999: 280). Es ist dieser Sprung, der ein Hineingeworfensein ins Ethische bedeutet. Und es ist jene Verfasstheit der hier untersuchten „Spielweisen“ – nicht auf der diskursiven Ebene oder der Ebene der Handlung, jedoch durch die ästhetische Erfahrung, die sie ermöglichen – eine „positive Kollision“ zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen zu bewirken. Durch das Aussetzen der Erkenntnis und weil das Theater sich in seiner Materialität immer auch als Reales ereignet, führt es uns unweigerlich in die Nähe eines ‚realen Spiels‘, in dem das Selbst riskiert wird – in einen Ausnahmezustand. Die Rede ist hier von einem Moment radikaler Unsicherheit, in der wir mit einer ethischen Situation durch den Kollaps unserer normativen Gewissheiten konfrontiert werden. Eine Ästhetik der Verausgabung ist die Beschreibung einer solchen ästhetischen Praxis des Risikos, in ihr verbinden sich die ästhetischen und ethischen Begriffe aufs engste. Die vielfältige und heterogene Praxis der Verausgabung im Theater bringt demnach ein transformatorisches Potential hervor, das sowohl die Performer, die Zuschauerinnen, als auch das Material selbst (Sprache, Körper, Zeichen, Raum, Zeit etc.) betrifft. Die Rede ist von einem Verwandlungsprozess, der dem Zuschauer, wie den Performerinnen die Möglichkeit einer gesteigerten Wahrnehmung eröffnet. Diese Verwandlung fußt auf einem imaginativen Prozess – oder besser, einer Erinnerung an eine vormals existente heterogene Wirklichkeit.

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Es ist eine grundlegende Kraft der Verausgabung, in der Konfrontation mit dem Tod, dem Eros, dem Wahnsinn, diese Erinnerung hervorzubringen. Das heißt, dass diese wirkungsästhetischen Prozesse insbesondere dort zum Tragen kommen, wo Formen der Verausgabung ein Spiel gesteigerter Kräfte in Gang setzen. Ohne das Theater zur Hüterin der Ethik zu erklären, formuliert sich hier dennoch ein politischer Anspruch der Ausnahme. Es kann nicht darum gehen zu behaupten, das Theater oder die szenische Kunst liefere Antworten auf die Krisen unserer Zeit – oder gar die Verfasstheit des Menschen. Im Gegenteil: Es geht der Verausgabung als theaterwissenschaftliche Kategorie gerade darum, keine Antwort zu liefern, die die Dinge klarstellt oder zumindest keine solche Antwort, die die In-Frage-Stellung wieder aufheben würde. Dies ist der hier behauptete Widerstand, der Stachel, den das Theater versetzt – verstanden als eine Weigerung, die Wogen zu glätten, die Widersprüche auszutreiben, um Licht ins Dunkel zu bringen.

L ITERATUR Bataille, Georges (1999): Die innere Erfahrung, Berlin: Matthes & Seitz. Bataille, Georges (1970-1988): Œeuvres complètes (=Band VII), Paris: Gallimard, S. 245-246. Baudrillard, Jean (2005): Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz. Beckett, Samuel (1963): „Warten auf Godot“, in: ders., Dramatische Dichtungen (=Band I), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-204. Blanchot, Maurice (1999): „Nachwort. Die innere Erfahrung“, in: Bataille, Die innere Erfahrung, S. 277-284. De Duve, Thierry (2006): „Die kritische Funktion der Kunst und das Projekt der Emanzipation“, in: Menke, Christoph/Rebentisch; Juliane (Hg.), Kunst. Fortschritt. Geschichte, Berlin: Kadmos, S. 21-39. Diakité, Asma (2017): Verausgabung. Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater, Bielefeld: transcript. Ebeling, Knut (2000): Die Falle. Zwei Lektüren zu Georges Batailles ,Madame Edwarda‘, Wien: Passagen. Lange, Heiko (=Regie) (2012): The Noise of Cairo – A documentary about Cairo, Art and Revolution, Filmmakers Library. Lehmann, Hans-Thies (2005): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren.

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Levinas, Emmanuel (1995): Die Zeit und der Andere, Hamburg: Meiner. Menke, Christoph (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Nancy, Jean-Luc (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz. Rutschky, Michael (1988): „Souverän ist, wer außer sich gerät. Über Georges Bataille, anläßlich von Bernd Mattheus’ zweibändiger ‚Thanatographie‘“, in: Die Zeit vom 30.09.1988, http://www.zeit.de/1988/40/souveraen-ist-werausser-sich-geraet (8. Juni 2018). Selaiha, Nehad (2011): „A year of revolutionary theatre“, in: Al-Ahram weekly online Nr. 1078 vom 29.12.2011 – 4.01.2012, http://www.masress.com/en/ ahramweekly/28524 (2. Februar 2014). Thomä, Dieter (2010): „Ästhetische Freiheit zwischen Kreativität und Ekstase. Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Ökonomik“, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos, S. 149-170. Tugendhat, Ernst (2006): Über den Tod, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Umathum, Sandra (2012): „Die Kunst des Abschiednehmens“, in: Bachmann, Michael/Kreuder, Friedemann/Pfahl, Julia/Volz, Dorothea (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld: transcript, S. 253-262.

Gabe und Grenze E VELYN A NNUSS

Abstract Gift and Demarcation: What is the relation between current calls for a new art of living together in the age of neoliberal exclusions and theatre as a space of copresence of actors and audience? The paper explores two complementary performative practices which question the framing of existent theatres: the exodus from institutionalized art spaces and their artivistic occupation. Both modes can be read as crisis experiments of contemporary theoretical reflections on practices of giving, new performative formats and the entanglement of aesthetics and the social field.

Unter der Überschrift des Konvivialismus sind Theorien der Gabe in den letzten Jahren – diskurspolitisch erfolgreich – für den Anspruch auf gesellschaftliche Transformation und Formen der kollektiven Selbstregierung programmatisch formuliert worden. Das von über 40 französischsprachigen Intellektuellen um Alain Caillé lancierte und von Frank Adloff auf Deutsch herausgegebene gleichnamige Manifest versucht eine postdekonstruktive, neohumanistische Rückkehr zu Marcel Mauss’ bündnispolitischer Figur des Kooperierens jenseits des eigenen tribes (Les convivialistes 2014; Adloff/Heins 2015). Mauss hat sie fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Essay über die Gabe aus anthropologischer Perspektive als Gegenmodell zum Terror des politischen Agonismus dargelegt (Mauss 1990 [1923/24]).1 Vor dem Hintergrund neoliberalisierten Wettbewerbs und der zunehmenden Ressourcenknappheit übersetzen die konvivialistischen Forderungen das nun in den Ruf nach einer affektiv bestimmten neuen, selbstregierungstechnischen Kunst des Zusammenkommens. Dementsprechend

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Siehe daran anknüpfend auch Alain Caillé 2008.

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scheinen sie prädestiniert zu sein, um von Seiten des Theaters an sie anzudocken. Bestimmt von der physischen Kopräsenz von Darstellenden und Publikum kann man gerade das Theater als Spielraum energetischer Reziprozität begreifen. Diese Vorstellung liegt bereits den Anfängen der Theater als Aufführungswissenschaft zugrunde. Max Herrmann verweist Anfang der 1930er Jahre auf die wechselseitige Affektion von Spielenden und Zuschauenden im von ihm so genannten theatralischen Raum (Herrmann 2006 [1931]).2 In den Nullerjahren wird das mit der Rede von der „autopoietischen Feedbackschleife“ (Fischer-Lichte 2004)3 aufgegriffen und mit den Performances als Live Studies verknüpft. Bei Herrmann deutet sich aber bereits ein potenzielles Problem der Konzentration auf die Aufführung beziehungsweise die Performance an. Wie die neuere Forschung zum Auftritt zeigt, bleibt unterbestimmt, was das Hier und Jetzt bedingt (Menke, B. 2016).4 Entsprechend wird das konstitutive Moment der Einräumung ausgeblendet. Hingegen wird über den Einsatz von Echtzeitvideos, wie sie Bert Neumann an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz geprägt hat, also über die Visualisierung des Offs und des Auf-die-Bühne-Kommens, das konstitutive Außen des theatralischen Raums im Gegenwartsschauspiel immer wieder offensiv ins Gedächtnis gerufen. Von der Erinnerung an das Off der Szene aus wird die (form-)politische Potenz von Theater deutlich, seine Relation zum öffentlichen Raum und damit auch seine gesellschaftlichen Bedingungen reflektierbar zu machen. Theater ist nicht nur Kunstraum kontemporärer Anwesenheit, sondern zugleich sozialer Raum (Wihstutz 2012), in dem wir uns von anderswo kommend und unsere Geschichte mitschleppend versammeln und den Performenden unsere Zeit schenken. Der Aufführung vorausgesetzt ist sowohl eine Raumgabe als auch die Einräumung eines Kredits an die Performenden. Jacques Derrida beschreibt in seinem 1991 erstmals auf Französisch veröffentlichten Buch Falschgeld, in dem er Mauss’ Kopplung der Gabe an den Tausch mit der Gedankenfigur der Nichtreziprozität der Gabe konfrontiert, einen vergleichbaren Akt der Einräumung mit Blick auf die verschränkte Zeitlichkeit des eigenen Auftritts in einer Vortragssituation und stellt damit die Beschränkung aufs Hier und Jetzt in Frage:

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3 4

Nicht zuletzt weil Herrmann den Werkcharakter der Aufführung akzentuieren muss, grenzt er seine Überlegungen zum theatralischen Raum vom populären Freilicht- oder Naturtheater ab; denn dieses öffnet sich auf den Umraum hin und untergräbt so die Qualität jenes energetischen Austauschs in einem vermeintlich geschlossenen Organismus, um den es Herrmann geht. Terminologisch im Rekurs auf die neurobiologisch motivierten Überlegungen von Maturana/Varela 1980. Zur Auftrittsforschung siehe auch Matzke/Otto/Roselt 2015; Vogel/Wild 2014.

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Zwischen uns besteht ein Vertrag, der zwar nicht unterzeichnet ist, aber gleichwohl wirksam ist und völlig unerläßlich für das, was hier geschieht, da (S)sie dem, was ich hier von mir gebe, meinem Vortrag nämlich, ihrerseits etwas geben, schenken oder leihen: ihre Aufmerksamkeit und, wie ich hoffe, irgendeinen Sinn. Dies bleibt auf jeden Fall die unerläßliche Grundvoraussetzung für den Kredit, den wir uns einräumen, für die Glaubwürdigkeit, die wir uns zubilligen, für den Glauben, den wir uns schenken, auch dann noch, wenn wir gleich diskutieren und in nichts mehr übereinstimmen sollten. (Derrida 1993: 21f)

Mein Vorschlag für die Auseinandersetzung mit der Relation von Theater, Tausch und Gabe ist es, Derridas Frage nach der Einräumung eines Zeitkredits in allegorischer, das heißt in fortgesetzter Übertragung auf die Reflexion von Konvivialismus und Grenzziehungspraktiken in performativen Formaten zu beziehen und mit Blick aufs Theater den Akzent auf die räumliche Dimension zu verschieben. Wie ließe sich Theater nicht als Container energetischer Austauschprozesse im Feld der Kunst denken, sondern als Praxis, die ihre eigenen Bedingungen exponiert und durch spielerisch erprobte Formen des Zusammenkommens hindurch territoriale Ansprüche und gesellschaftliche Ein- beziehungsweise Ausschlüsse verhandelt? Inwiefern können performative Versuchsanordnungen den Ausblick auf einen politischen Möglichkeitsraum eröffnen, der über die werbewirksame, auf spezifische Zielgruppen zielende Mobilisierung konvivialistischer Slogans in irgendwelchen Theater- oder Festivalprogrammen hinausweist? Stephan Lessenich hat in seiner Kritik des Konvivialistischen Manifests darauf aufmerksam gemacht, wie wenig darin die gesellschaftlichen Bedingungen und damit der Raum, in dem die neue Kunst des Zusammenlebens statthaben soll, analysiert werden. Ihm zufolge ist dieses Manifest, in dem sich die Lebenswelt relativ gesicherter Sozialmilieus spiegele, Zeugnis intellektueller Selbstüberschätzung: Wer soziale Kooperationsbeziehungen zum Dreh- und Angelpunkt einer anderen Gesellschaft [...] erhebt, muss das ubiquitäre flexibel-kapitalistische Wettbewerbsregime in den Blick nehmen, [...] den politischen Durchgriff auf die Subjekte in selbstökonomisierender und selbstrationalisierender Absicht. Wer als ‚Kunst des Zusammenlebens‘ einen Vergesellschaftungsmodus positiver sozialer Relationierung imaginiert, [...] der muss auch sagen, [...] was einem solchen ‚con-vivere‘ [...] strukturell entgegensteht. (Lessenich 2015)

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Ich möchte zwei aktuelle Krisenexperimente des Theaters vorstellen, die mit diesem Einwand korrespondieren und hierzu die Frage der Einräumung stellen: zum einen im inszenierten Exodus aus einem abgrenzbaren Schauplatz der Darstellung im Rahmen einer Performance, zum anderen mittels der Inszenierung einer bedingungslosen Raumnahme, der Okkupation eines unbespielten Theatervorraums. Beide Einsätze greifen konvivialistische Forderungen auf und testen deren Tragfähigkeit, indem sie sie mit der Erinnerung an gesellschaftliche Grenzziehungspraktiken konfrontieren. Im Modus des Als-ob erkunden sie, unter welchen Voraussetzungen wir überhaupt anders zusammenkommen könnten, während sie die Demarkationslinien des Theaters, sein Verhältnis zum urbanen Raum und dort stattfindenden Ausschlussprozessen untersuchen. Sie rücken also die politische Dimension der Frage nach der Relation von Theater, Austausch und Gabe ins Blickfeld und machen sie als Raumfrage kenntlich.

1. E XODUS Es gibt keine unschuldigen Räume, so die Regisseurin Claudia Bosse (2014), Leiterin des Wiener theatercombinats. Ihre Arbeiten finden meist außerhalb jener institutionalisierten Theaterhäuser statt, die als safe spaces für bestimmte Bevölkerungssegmente etabliert sind. In ideal paradise. eine nomadische stadtkomposition durch verschiedene orte in wien probt Bosse den Auszug aus einer abgrenzbaren Szene der Darstellung und untergräbt die herkömmliche Platzanweisung ans Publikum (theatercombinat 2016). Diesen inszenierten Exodus, der alle zum Teil eines offenen Environments macht, überführt Bosse schließlich in ein kollektives Picknick, das auf die gastrosophische Begründung des Konvivialitätsbegriffes verweist: auf die Vorstellung von einer Tischgesellschaft als Begegnungslabor unterschiedlicher Leute (Adloff/Heins 2015).5 Bei Bosse aber geht es, anders als in manchen konvivialistischen Forderungskatalogen, frei nach Brecht ums Fressen und nicht um die Moral. ideal paradise beginnt auf einer eingezäunten Brache im Wiener sechsten Bezirk. Zunächst kommen die sechs maskierten Performenden in silbernen Anzügen, die an Science Fiction und die zeitgleich in den Medien zirkulierenden Bilder von Wärmedecken für Geflüchtete in Seenot erinnern, aus einem ebenfalls silbern verkleideten Container und scheinen das Terrain zu erkunden. Hinter dem Bauzaun sitzend, die Straße im Rücken, kann man ihn auch als Referenz

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So Adloff/Heins 2015 im Verweis auf Jean Anthelme Brillat-Savarins 1825 entstandene Physiologie du goût.

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auf den Guckkasten beziehungsweise auf einen geschlossenen Kunstraum lesen. Schließlich fangen die Performer an, aus dem eingezäunten Territorium auszuziehen. Dann beginnt eine Art Zwischending aus Demonstration, Flashmob und Prozession, bei der das Publikum aufgefordert wird mitzukommen. Bosses Performance erinnert an das konstitutive Moment der Raumspende, des Einräumens, indem sie eine Art Exodus als Voraussetzung dafür inszeniert, andere Orte in der Stadtlandschaft vorübergehend gemeinsam und in wechselnden Konstellationen zu okkupieren. Dabei werden permanent Ein- und Ausschlüsse verhandelt. Während man durch die Stadt geht, spricht Bosse via Lautsprecher, die wie Monstranzen an Latten befestigt mitgeschleppt werden, über Passanten, kommentiert sie übergriffig, besondernd und manchmal ethnisierend. Den öffentlichen Raum beschallend, sinniert sie z. B. darüber, inwiefern irgendwelche Leute auf der Straße als Teil ‚von uns‘ zu betrachten wären. Der Stadtraum wird also auch akustisch besetzt und dabei auf die Frage nach unterschiedlichen, flexiblen Ausgrenzungspraktiken bezogen. Bosse schließt den performativen Auszug aus einem begrenzten, zum art space deklarierten Raum mit der Erinnerung an unser von Didier Bigo (2008) so genanntes kontrollgesellschaftliches „Banopticon“ kurz: an unsere von erkennungsdienstlichen Behandlungen, Überwachungskameras und privatisierten Sicherheitsdiensten zunehmend gekerbten Stadträume, in denen wir uns keineswegs einfach von gleich zu gleich begegnen. Man wird letztlich daran erinnert, dass nicht nur die performativen Formate, sondern auch die Regierungskünste im Wandel sind und sich unter neoliberalen Bedingungen längst flexibilisiert haben. Genau diese kontrollgesellschaftliche Kehrseite gegenwärtiger konvivialistischer Konjunkturen adressiert ideal paradise. Irgendwann nehmen sich die 20 Choreuten, die im Verlauf der Performance erst allmählich als solche erkennbar werden, ihren singulären Auftritt. Einzeln beginnen sie, die anderen Teilnehmenden in ihrer Muttersprache, später auf deutsch zu adressieren und von sich zu erzählen: Ich bin Haydar. Ich komme aus dem Irak. Ich bin Schauspieler etc. Face to face wird man mit einer Fluchtgeschichte konfrontiert, die das eigene anonyme Mitlaufen untergräbt und nach den je spezifischen Bedingungen dieses temporären Zusammenkommens für unterschiedliche Leute fragen lässt. Mit der Zeit wird allerdings auch deutlich, dass man nicht persönlich, sondern nach einem sich ständig wiederholenden Schema angesprochen wird, das aus dem Namen, der Herkunft und dem jeweiligen Bezug zum Theater besteht. So ist man als Teil des Publikums auch mit den eigenen Projektionen auf die jeweils als anders Identifizierten konfrontiert. Schließlich endet ideal paradise vor dem Schloss Belvedere und setzt ein ans Fastenbrechen erinnerndes Picknick in Szene. Irgendwann mischen sich die

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Choreuten unter einen losen, asynchronen Bewegungschor der Performer, um schließlich silberne Folien auf dem Boden auszubreiten, Köfte und Baklava samt Rotwein anzuschleppen und alle mit einer stummen kollektiven Geste einzuladen. Die Aktion erinnert an harmlose Formate der invitational art. Sie zitiert Bilder einer gastfreundlichen Willkommenskultur, setzt sie jedoch den vorher ins Gedächtnis gerufenen banoptischen Kerbungen des Stadtraums entgegen. Sie oszilliert zwischen gastrosophisch verkitschter Vergemeinschaftung und der Erinnerung daran, dass keineswegs alle an den hiesigen Futtertrögen landen. Zugleich aber ermöglicht sie, vorherige Rollenzuweisungen außer Kraft zu setzen und mit den Beteiligten u. a. über die Performance zu reden. ideal paradise schafft eine andere Form von Kopräsenz als im institutionalisierten Theaterraum – nicht einfach, weil die Trennung zwischen Performenden und Publikum aufgelöst wird, sondern weil die Performance nicht so tut, als säßen wir im Theater alle immer schon im selben Boot. Es ist eine Art Versuchsanordnung, um sich auch über die eigene, vielleicht peinliche, vielleicht produktive Sehnsucht nach temporärem Zusammensein und dessen Voraussetzungen zu verständigen. Das zeitlich begrenzte Picknick wird zum Begegnungslabor, in dem alle gemeinsam abhängen können und man mit einigen weiterziehen kann, um in der Stadt zumindest zeitweise noch einen anderen Ort zu besetzen. An die Stelle besondernder Fluchtdarstellungen im abgrenzbaren Kunstraum, wie sie seit 2015 Konjunktur haben, wird genau dort, wo manche erkennungsdienstlich behandelt werden und andere vergleichsweise entspannt shoppen oder eben picknicken können, erkundet, inwiefern sich der öffentliche Raum überhaupt gemeinsam reterritorialisieren ließe. Man mag das auch als eine zeitgemäße Antwort auf eine inzwischen kanonisierte andere Wiener Container-Aktion im öffentlichen Raum lesen: Um die Jahrtausendwende gelingt es Christoph Schlingensief, als „Piefke“ in Wien mit Bitte liebt Österreich einen hysterischen Massenauflauf zu erzeugen.6 Im Container sind angeblich echte Asylbewerber platziert, die man wie bei Big Brother über Telefon oder Internet rauswählen und abschieben lassen kann. Eine Woche steht der Container mit seinem Ausländer-raus-Schild, von Schlingensief und seinen Doubles moderiert, in der Wiener Innenstadt. Die Aktion sorgt dafür, dass Leute handgreiflich aufeinander losgehen und sich anbrüllen. Bosse wählt eine andere, vielleicht zeitgemäßere Antwort, in der es weniger darum geht, agonistische Affekte zu triggern, als die Bedingungen für ein offenes Wir reflektierbar und zugleich eine Art affective utopianism erfahrbar zu 6

Christoph Schlingensief: Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche. 9. bis 16. Juni 2000, Wiener Festwochen. Siehe den Dokumentarfilm von Paul Poet 2002: Ausländer raus! Schlingensiefs Container.

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machen. Der Exodus aus dem Kunstraum wird hier zur Voraussetzung dafür, um in einem fingierten open space zu erproben, wie wir uns – mit Michel Foucault (2010) gesprochen – nicht so dermaßen regieren lassen und uns auf andere Weise begegnen können. Darin scheint in der Tat eine Verschiebung im Umgang mit Affekten auf, die sich sowohl in neueren performativen Formaten wie in konvivialistischen Überlegungen abzeichnet. ideal paradise verflüssigt temporär die Grenzen zwischen uns und den anderen, Spielort und öffentlichem Raum, Publikum und Darstellenden, bioeuropäisch und „Nafri“, wie die Polizei Migranten nordafrikanischer Herkunft inzwischen gelabelt hat. Über die Geschichten einiger Choreuten, über die Lautsprecher und Bosses Ein- und Ausschluss thematisierende Rede sowie über die regelmäßig von Passanten gerufene Polizei wird der Sicherheitsterror des Banopticons zugleich erinnerbar gehalten und dennoch deutlich gemacht, dass die Geflüchteten längst Teil einer chorischen Konstellation, unsere Nachbarn, irgendwelche Leute im urbanen Raum sind, denen man auf der Straße begegnet – bestehenden Ungleichheitsverhältnissen, abgeschirmten Kunstblasen und regierungskünstlerischen Kontrollregimen zum Trotz. Die Performance lädt im Bezug auf unsere Gegenwart zur spielerischen Selbstverständigung über die tools eines anderen Zusammenlebens ein – einer Politik der offenen Bezugnahme, die um bestehende Machtverhältnisse weiß und die Demarkationslinien sozial abgesicherter Parallelgesellschaften nicht akzeptieren will.

2. O CCUPY „Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!“ (Volksbühne/facebook.com 2017)7 lautete der erste Facebook-Post der neuen Volksbühnenleitung unter Chris Dercon, mit der die Intendanz von Frank Castorf und damit auch das Fortleben des künstlerischen Erbes von Bert Neumann am Haus beendet wurden. Von Dercons Führungstechniken konnte man kurz darauf beim SZ-Wirtschaftsgipfel für 1650€ pro Tag lernen.8 Die performativen Formate, mit denen der breit diskutierte Intendantenwechsel9 programmatisch zunächst auf dem Tempelhofer Feld eingeläutet wurde, setzten dem konvivialistischen Marketing entsprechend wie Bosse auf gemeinsames Picknick und Kollektivchoreografien jenseits des stehenden Theatergebäudes, anstatt das bisheri-

7 8 9

Zur Kritik vgl. Dirk Pilz 2017. Siehe www.sz-wirtschaftsgipfel.de (8. März 2018). Vgl. exemplarisch bereits Christoph Menke 2016.

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ge Schauspielprofil der Volksbühne mit festem Ensemble und Repertoire zu bedienen. Bei den neuen Produktionen handelt es sich vorzugsweise um bestehende Marken, die auf europäischen Festivals eingekauft und nach Berlin importiert wurden. Nun war die Vergabe der Intendanz an einen Kurator aus der bildenden Kunst durch die Politik – wohl in der Hoffnung auf internationale Sponsoren – ohne Beratung durch Theaterexperten und vor allem ohne öffentliche Moderation zwei Jahre zuvor hinter verschlossenen Türen eingetütet worden. Das wurde von vielen als neoliberale Top-Down-Abwicklung der Volksbühne im Kontext gegenwärtiger gentrification und als Vorbote einer Restrukturierung der hiesigen, spezifisch subventionierten Theaterlandschaft begriffen – zumal die neue Intendanz umstandslos die bisherigen Dramaturgie- und Regiestellen durch Produktions- und Marketingposten ersetzte und quasi ohne stehendes Ensemble antrat.10 Deshalb wurde die konvivialistisch beworbene Neuprogrammierung der Volksbühne von breiten Protesten des bisherigen Publikums v. a. in den sozialen Medien begleitet und die von der Politik beharrlich überhörte Frage aufgeworfen, wem die Volksbühne eigentlich gehöre und unter welchen Bedingungen die Entscheidung getroffen worden sei. Während der Streit immer schriller wurde, weil durch Nichtkommunikation ein Vakuum entstanden war, wurden die festgefahrenen Auseinandersetzungen von jüngeren Artivistinnen und Artivisten durch die sogenannte Operation Staub zu Glitzer unterbrochen. Im September wurden die Foyers der noch unbespielten Volksbühne im Rahmen einer als solchen deklarierten Kunstaktion besetzt und eine kollektive Intendanz von und für alle ausgerufen. Die Occupy-VolksbühneAktion funktionierte als illegale Raumnahme durch eine in ihren Konturen unbestimmbare Räuberbande, bei der sich nicht so genau sagen ließ, wer da eigentlich spricht. Man kann sie auch als Krisenexperiment des neuen Volksbühnenprogramms lesen: Die Rhetorik des Zusammenkommens im Rahmen einer multimedialen Plattform, so der neu definierte Unternehmenszweck der Volksbühne, wurde aufgegriffen und auf ihre Grenzen hin ausgelotet. Dabei übersetzte die Alternativbespielung des Theaters die Frage, wem die Volksbühne gehört, in einer Weise ins Performative, die eben nicht als militante Erstürmung eines Kunstpalastes auftrat, sondern als an alle gerichtete freundliche Übernahme. „Macht die Stadt zum Theater und das Theater wird zur Stadt“, so die Parole. Von kunstbeflissenen Kritikern als Pubertistentheater geschmäht, schloss die Aktion den Protest gegen neoliberale Kultur- und Stadtentwicklungen kurz und zitierte dabei Christoph Schlingensiefs soziale Plastiken – Aktionen, die alle vor Ort in die

10 Zur Redefinition des Ensemblebegriffs vgl. Marietta Piekenbrock 2017.

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Performance einbeziehen. Dabei aber war diese Operation im Unterschied zu Schlingensiefs Arbeiten irritierend überreguliert und – wie Bosses Performance – alles andere als agonistisch. Der avantgardistische Rampensau-Gestus à la Schlingensief wurde systematisch unterlaufen, um stattdessen Kollektivstrategien zur Beherrschung potenzieller Konflikte auszutesten. Unter dem Label der Atombombe B61-12 wurde überhöflich von ‚dem Kollektiv‘, der nach eigenem Anspruch perspektivisch auch die bereits amtlich eingesetzte Intendanz angehören konnte, zu einer transmedialen Inszenierung eingeladen, die die Demarkationslinien des institutionalisierten Theaters sprengte: Sehr geehrte Damen und Herren, es ist geschehen. Die VB61-12 wurde platziert und sie tickt. In einer gewaltigen transmedialen Theaterinszenierung haben soeben hunderte von Menschen das Gebäude der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz betreten. Vor Ort erschaffen sie etwas nie Dagewesenes. Weitere Informationen geben wir in der HEUTIGEN PRESSEKONFERENZ um 17 Uhr bekannt. Der Ort ist das Sternfoyer der Volksbühne. Wir freuen uns Sie dort empfangen zu können. Mit freundlichen Grüßen, Das Kollektiv (B6112@StaubzuGlitzer/facebook.com 2017)11

Dazu wurden unter der Überschrift „gilt für alle“ detaillierte Hausregeln gepostet, die bei meiner Hausbesetzer-Generation erst einmal fassungsloses Befremden auslösten, aber immerhin einen wohl geordneten Spielraum evozierten, in dem wir – um das konvivalistische Manifest zu zitieren, „einander [...] widersprechen“ können, „ohne einander niederzumetzeln“ (Les Convivialistes 2014: 47). Die Räume seien sauber zu hinterlassen, Ruhestörung würde mit Hausverbot geahndet und alle, die in der Volksbühne wohnen wollten, müssten sich an Gemeinschaftsaufgaben und Plena beteiligen. Voraussetzung dieses Raums der Reziprozität war freilich ein unbedingtes kollektives Übernehmen der Volksbühnenfoyers, das die Frage nach den Bedingungen konvivialistischer Spielformen als Raumfrage stellte. Staub zu Glitzer transponierte das Prinzip des Exodus, der Verweigerung der herrschenden Ordnung, in die Okkupation des Bühnenvorraums und reklamierte die Volksbühne als Teil eines urbanen Gefüges, das sich lieber selbst regiert.

11 Vgl. zudem https://b6112.de/2017/09/22/pressetext-der-transmedialen-theaterinszenie rung/ (8. März 2018).

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Die Operation schloss letztlich den Konvivialismus mit dem Gespenst dessen kurz, was Stefano Harney und Fred Moten in den Undercommons als fugitive public bezeichnet und als unassimilated underground der commons ins Spiel gebracht haben: als eine Art maroon community, „who does not intend to pay“ (2013: 62). Harney und Moten fragen nach den Bedingungen reziproker Verhältnisse, um queere Verschuldungen mit Bezug auf US-amerikanische Ungleichverhältnisse und das Nachleben von Sklaverei sowie kolonialer Ausbeutung in gewaltförmigen Ausschlusspraktiken zu propagieren. Im Verweis auf ökonomische Strukturen und die Aftereffekte vorgängiger Gewaltverhältnisse propagieren sie die Verweigerung der Gegengabe durch diejenigen, die sie sich nicht leisten können. Staub zu Glitzer übertrug diese Gedankenfigur in ein unbedingtes Nehmen, in eine performative Raumnahme, die sich nicht um die amtlich regulierten Grenzen eines Kunstraums und entsprechende Platzanweisungen an ein Publikum schert, das ja aus Regierungsperspektive ohnehin nichts zu melden hatte. Damit wurde die bürgerliche Publikumskritik am Berliner Durchregieren im Gespann mit den Beschwörungen des Zusammenkommens durch die neue Volksbühne in ein soziales Experiment überführt. Immer wieder wurde in den Medien irritiert darauf verwiesen, wie sehr das Programm der Kollektivintendanz und der Volksbühne unter Dercons Leitung korrespondierten. Doch die Foyerbespielung war insofern Krisenexperiment des neuen Volksbühnenprogramms im Zitat des akademischen Konvivalismus, als sie vorgeführt hat, welcher Strukturen der eingangs zitierte Slogan vom Zusammenkommen und Sich-Kleinmachen bedürfte, wenn man ihn nicht als Animations-, sondern als radikaldemokratisches Teilhabeangebot für alle ernst nähme und auf eine offene Stadtgesellschaft bezöge. Das Experiment, das die Macht- als Raumfrage aufwarf, dauerte in dieser Form entsprechend nur eine knappe Woche. Dann stellte der amtlich eingesetzte Volksbühnenintendant mit Unterstützung der Berliner Politik Strafanzeige und ließ die Foyers durch die Polizei räumen.12 Damit mutierte die Volksbühne zum polizeilich abgesicherten Kunstpalast. Nach der Wende war sie mit Großveranstaltungen wie Loving the Alien oder Schlingensiefs Aktionen für alle möglichen Akteure und Interessen geöffnet worden. Sie stand also nicht nur für den über die Bühnengestaltung reflektierten Umgang mit dem theatralischen Raum, sondern für den Anspruch, den Doppelcharakter des Theaters Kunst- und sozialer Raum zu sein, auszuloten. Deshalb hat die alte Volksbühne enorme Bindungskräfte entwickelt, durch die sich erstaunliche Protestallianzen zwischen bil-

12 Räumungsvideo vom 28. September 2017 unter www.facebook.com/pg/StaubzuGlitz er/videos/?ref=page_internal (8. März 2018).

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dungsbürgerlichem Theaterpublikum, gentrifizierungskritischen Mietrebellen, Stadtsoziologen, Kunstkollektiven und poplinken Intellektuellen mobilisieren ließen. Das kollektive Kapern der Volksbühnenfoyers hat in einem kulturpolitischen Vakuum in der Tat also einen Möglichkeitsraum eröffnet, in dem alle dazu aufgerufen wurden, sich nach den Regeln konvivialistischer Kunst darüber zu verständigen, was eine Volksbühne in der Tradition politischen Theaters heute sein könnte, wie sie in einer von Investitionen in Betongold allmählich zerstörten Stadt zu verorten wäre und in was für einem Berlin wir überhaupt leben wollen. An Dercons Polizeipremiere hat sich gezeigt, dass es hierbei längst um mehr geht als darum, wer der neue Platzhirsch der Volksbühne sein soll. Um Brechts Fatzer zu entwenden und das emblematische VB6112-Label als Atomisierungsexperiment mit dem Unmöglichen lesbar zu machen: […] das ganze stück, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen für experiment, ohne realität! zur ‚selbstverständigung‘ (Brecht 1997: 1120).

Exodus und Raumnahme operieren in den beiden skizzierten Fällen als komplementäre Praktiken, die sich der Agonistik entziehen und dennoch die bestehenden Schranken institutionalisierter Kunsträume aufkündigen, indem sie deren konstitutives Außen ins Spiel bringen und herrschende Regierungsgefüge in Frage stellen. Es sind performative Proben aufs Exempel konvivialistischer Rhetorik. Sie verdeutlichen, dass das bloße Beschwören des Zusammenkommens im Theater zur galvanisierenden, künstlichen Belebung von entwendeten Yogaweisheiten verkommt – so Benjamins Essay Erfahrung und Armut (1991 [1932/33]) in freilich anderem Zusammenhang, dass das Theater den Blick auf die darunter statt habenden gesellschaftlichen Verwerfungen verstellt, wenn es nicht auch auf die lokalen gesellschaftlichen Bedingungen und Grenzziehungen Bezug nimmt. Im Spiel mit Praktiken des Einräumens und Aussperrens besteht denn auch die politische Potenz dieser Mobilisierungen des Theatralen.

L ITERATUR Adloff, Frank/Heins, Volker M. (Hg.) (2015): Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld: transcript. Adloff, Frank/Heins, Volker M. (2015): „Was könnte Konvivialismus sein?“, in: dies. (Hg.): Konvivialismus. Eine Debatte; www.diekonvivialisten.de/debat te.htm#hintergruende (8. März 2018).

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B6112@StaubzuGlitzer/facebook.com (2017): Post vom 22. September 2017. www.facebook.com/pg/StaubzuGlitzer/posts/?ref=page_internal (8. März 2018). Benjamin, Walter (1991 [1932/33]): „Erfahrung und Armut“, in: ders., Gesammelte Schriften 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Bigo, Didier (2008): „Globalized (in)Security: the Field and the Ban-opticon“, in ders./Anastassia Tsoukala (Hg.): Terror, Insecurity and Liberty. illiberal Practices of liberal Regimes after 9/11, Oxon/New York: Routledge, S. 1048. Bosse, Claudia (2014): „es gibt keine unschuldigen räume“, in: Eke, Norbert O./Haß; Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater, München: Fink, S.63-81. Brecht, Bertolt (1997): „Fatzer“, in: ders.: Werke (=Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 10.2), hg. v. Werner Hecht/Jan Knopf et. al. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M: Aufbau/Suhrkamp. Caillé, Alain (2008): Anthropologie der Gabe, hg. v. Frank Adloff und Christian Papilloud, Frankfurt a.M.: Campus. Derrida, Jacques (1993): Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2010): „Was ist Kritik?“, in: ders.: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin: Suhrkamp, S. 237-257. Harney, Stefano/Moten, Fred (2013): The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study, New York: Autonomedia. Herrmann, Max (2006 [1931]): „Das theatralische Raumerlebnis“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 501-513. Les Convivialistes (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, hg. v. Frank Adloff/Claus Leggewie, Bielefeld: transcript. Lessenich, Stephan (2015): „Von der Strukturanalyse zur Morallehre und zurück. Für eine neue Ökonomie des Zusammenlebens“, in: Adloff/Meins: Konvivialismus. Eine Debatte; online zugänglich unter: www.diekonvivia listen.de/debatte.htm#lessenich (8. März 2018). Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (1980): Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dodrecht et al.: Reidel. Matzke, Annemarie/Otto, Ulf/Roselt, Jens (Hg.) (2015): Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld: transcript. Mauss, Marcel (1990 [1923/24]): Die Gabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Menke, Bettine (2016): „im auftreten/verschwinden – auf dem Schauplatz und anderswo“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) 7/1, S. 185-200. Menke, Christoph (2016): „Die Idee einer Volksbühne“, in: FAZ, 4.11.; http://www.faz.net/aktuell/feuillton/buehne-und-konzert/berliner-kulturstreitdie-idee-einer-volksbuehne-14509464.html (8. März 2018). Piekenbrock, Marietta (2017): „Unsere Vision ist ein Mehrspartenhaus“, Interview mit Detlev Baur und Frank Weigand, Deutsche Bühne 7, S. 58-62. Pilz, Dirk (2017): „Ärger im Netz. Wie Chris Dercons Volksbühne auf Facebook und Twitter schwurbelt“, in: Berliner Zeitung vom 3.8.2017; www.berlinerzeitung.de/kultur/theater/aerger-im-netz-wie-dercons-volksbuehne-auf-face book-und-twitter-schwurbelt-28107792 (8. März 2018). theatercombinat (2016): www.theatercombinat.com/projekte/katastrophen/KAT_ IP_stadt.htm (8. März 2018). Vogel, Juliane/Wild, Christopher (Hg.) (2014): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin: Theater der Zeit. Volksbühne/facebook.com (2017): Post v. 31.7.2017. www.facebook.com/Volks buehne/ (8. März 2018). Wihstutz, Benjamin (2012): Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich/Berlin: Diaphanes.

Nichttun als Gabe? H ANNE S EITZ

Abstract Inactiveness as gift? The demand for productivity, flexibility, vigilance and constant activity in today’s society involves a stressful compulsion to accelerate and leads to general states of exhaustion. Instead of trying to ‘to keep pace’, we should aim (as Han proposes) towards a culture of “active tiredness”. Through the performative turn, the academic disciplines have been vividly interested in agency and discover now that the downside of the performative act is inactiveness, and that any kind of not-doing (passiveness, omission, omittance, forbearance, etc.) is a performative utterance – also in the performing arts. A phenomenological reading of Xavier Le Roy’s “Low Pieces”, Tino Sehgal’s “AnnLee” and Marina Abramovi’s “The Artist is Present” will present artworks that follow the aesthetics of performance and deal with different notions of inactiveness. Brief references to Merleau-Ponty’s theory of the flesh, Benjamin’s thoughts on melancholia, Heidegger’s approach to boredom and releasement, and Agamben's vision of désœuvrement allow to trace ‘time‘ as the key experience in these performances. Any gift (tangible or intangible) is acknowledged (even if ignored) – in the arts already due to the presence of the spectator. The only gift possible, Derrida assumes, is time – inasmuch as it interrupts the circuit of economic exchange and resides outside the measured time. The gift of time reveals something beyond ‘and’ inside the field of the visible (or audible, or tangible) and encounters the essence of the human and the being. No one can give time, it is there as an inaccessible ‘nothingness’ – yet not nothing. The horizon of time is revealed when possibilities are left unused, e.g. in states of releasement, boredom, withdrawal, or passiveness as shown in the examples here. By ‘letting’ [Lassen] (Seel 2002) one becomes aware of the human potential which is not only the ability to release this potential in action, but even more to maintain it by inactiveness.

260 | HANNE S EITZ „Weitermachen ist mehr, als ich tun kann.“1

„Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!“ (Lewis Carroll 1974: 39) Vom Rennen noch atemlos und erschöpft, wundert sich Alice, dass sie noch immer unter dem gleichen Baum ist. Doppelt so schnell rennen, um vom Fleck zu kommen? „Ich möchte bitte lieber nicht!“ entgegnet Alice der Königin (ebd.). Das Wunderland hinter den Spiegeln, das Alice in Verwirrung versetzt, scheint gut 150 Jahre später alles andere als Fiktion. So schnell rennen wie möglich und nicht vorankommen? Das Bild ist nicht nur in die Evolutionsbiologie2 eingegangen, sondern bringt auch den Beschleunigungsschub spätmoderner Gesellschaften auf den Punkt, der bei allem technischen Fortschritt nur mehr als Rasender Stillstand (Virilio 1992) vernehmbar ist und dessen Folgen erst heute, im sogenannten postdigitalen Zeitalter, vollends zu ermessen sind. Die Antworten auf die Zumutungen der Moderne sind alt und die Liste (auch der populärwissenschaftlichen Ratgeber) inzwischen lang. Ihnen gemein ist ein Plädoyer für die Wiedergewinnung der inneren Zeit, für Passivität, (Los)Lassen und Nichttun. Nicht zuletzt auch in der Kunst, wo die Praxis der Reduktion ehedem zur Abstraktion, monochromen Malerei oder Minimal Art geführt und eine Ästhetik des Unterlassens (Brock 2002) hervorgebracht hat. Aktuelle Publikationen3 deuten darauf hin, dass eine im Zuge des Performative Turn weitgehend vernachlässigte Dimension der Performativität des Handelns mehr und mehr in den Blick gerät – Passivität. Anstatt sich durch immer mehr Leistungsdruck Burn-out einzuhandeln, plädiert Byung-Chul Han dafür, die Erschöpfung zu kultivieren und in der Müdigkeit eine Inspirationsquelle zu finden: „Die Müdigkeit befähigt den Menschen zu einer besonderen Gelassenheit, zu einem gelassenen Nicht-tun.“ (Han 2010: 59) Müde werde man von einer Sache, so Gilles Deleuze, weil man nichts verwirklichen kann, daher geht es darum, etwas zu tun, „aber zu nichts“ (Deleuze 1996: 51). Er plädiert dafür, das Mögliche zu erschöpfen 1 2

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Unter diesem Titel sind die frühen Briefe von Samuel Beckett herausgegeben worden, vgl. Beckett 2013. Die von Van Valen Anfang der 1970er Jahre entwickelte „Red-Queen-Hypothese“ geht davon aus, dass wetteifernde Organismen sich ständig an veränderte Umwelten anpassen, also ‚rennen‘ müssen, um Gleichstand zu halten. So bekämpft das aus Schimmelpilzen gewonnene Penicillin den ungebetenen Gast, doch dieser ‚rennt‘ auch und entwickelt Resistenzen (vgl. Chamary 2016: 168). Um nur einige zu nennen: Performanzen des Nichttuns (Gronau/Lagaay 2008), Lassen und Tun (Hobuß/Tams 2014), Gelassenheit – Und andere Versuche zur negativen Ethik (Ottmann/Saracino/Seyferth 2014), Die Entdeckung der Langeweile (Wüschner 2016), Mut zur Faulheit. Die Arbeit und ihr Schicksal (Liessmann 2018).

N ICHTTUN

ALS

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und „auf alle Bedürfnisse, Vorlieben, Ziele oder Sinngebungen“ verzichten – z.B. durch endloses Tun und Wiederholen eine Leere schaffen wie die Figuren von Samuel Beckett (ebd.: 55). Auch der Anwaltsgehilfe Bartleby in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung, möchte nichts als Schriften kopieren, doch bald auch dieses nicht mehr. Durch insistentes Wiederholen der Worte „I would prefer not to“ (Melville 1856: 8) verweigert er das ihm Aufgetragene nicht, sondern entzieht sich. Er bleibt unentschieden, formuliert weder eine Bitte noch leistet er Widerstand, sondern hält beides – Bejahung (I prefer) und Verneinung (not to) – in der Schwebe, noch dazu in einem Konjunktiv, dem das Verb fehlt. Er möchte lieber nicht, weder die Kanzlei verlassen noch sonst eine Veränderung, sondern verharrt geistergleich auf seinem Platz hinter dem Paravent und äußert überhaupt nur einmal eine Vorliebe: „I like to be stationary.“ (ebd.: 25) Indem er nichts verwirklicht und im Stillstand selbst das Mögliche erschöpft, bringt er das ganze System zum Kollabieren. Dass sich ausgerechnet das Theater als Erprobungsort für Nichttun hervortut, mag verwundern – nicht nur weil die Schauspielkunst von alters her dem Publikum handelnd und erzählend gegenübertritt, sondern mehr und mehr zu aktiver Partizipation einlädt, die Zuschauer4 mitunter sogar selbst auf der Bühne stehen. So manches zeitgenössische Theater erprobt sich sogar als Krisenexperiment – etwa im 12-Spartenhaus (2013) von Vinge & Müller, wo dem Publikum im Foyer Videoschnipsel aus dem explosiv anmutenden Theaterinneren präsentiert werden, um nach stundenlangem Warten zu erfahren, dass kein Einlass erfolgt, da die Theaterleute längst in das nächtliche Berlin aufgebrochen sind. Oder gar als Übung im Zeitverschwenden in tag7. Vom Nichtstun und Müßiggang (2015) der Agentur für Weltverbesserungspläne, die in Hannover gemeinsam mit dem Publikum einem neuen Auftrag nachgeht: nichts tun. Sich dem Nichttun aussetzen bedeutet im weitesten Sinne lassen, das ‚Doing‘ (sei es Culture oder Gender) aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nämlich „das Tun vom Lassen her zu denken“ (Seel 2002: 149)5. Es bedeutet in Augenschein nehmen, was mit der konstruktivistischen Weltsicht und dem Fokus auf das Hervorbringen und Erzeugen selbst im Umgang mit Bildern zunehmend vergessen wurde: Pathos – ein Begriff, der „sowohl die mit allen Ereignissen und Widerfahrnissen verbundene Passivität als auch eine Sphäre der

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Zugunsten des Leseflusses wird im Folgenden auf eine gendergerechte Schreibweise verzichtet. In seiner Kolumne untersucht Martin Seel „jenes Handeln, das dem Anschein nach ein Nicht-Handeln ist“ und blickt auf Phänomene wie Auslassen, Unterlassen, Seinlassen, Sicheinlassen, Passivität und Gelassenheit (Seel 2002: 149f).

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Affektivität und des (Er-)leidens“ bezeichnet (Busch/Därmann 2007: 7). Doch selbst das exzessive Tun hat mit Lassen zu tun. Etwa in Becketts Hey Joe, wo die manischen Sprechhandlungen jeglichen Sinn verwirken, der Wortschwall sich selbst überlassen im Nichts versickert oder in Anne Imhofs Faust, wo die überbordende Dynamik der endlos wiederholten Bewegungen nurmehr rasenden Stillstand anzeigen.6 „Später mag da nichts gewesen sein, nichts jedenfalls, was sich in der Welt dingfest machen ließe. Dieses Nichts jedoch ist nicht nichts; in der ästhetischen Theorie heißt es ‚Schein‘.“ (Rebentisch 2017) Die jeder Aufführung innewohnende Performativität spielt in den folgenden Beispielen, die eher der Performance- als der Theaterkunst zuzuordnen sind, auf besondere Weise unterschiedliche Handlungs-, Zeichen- und Sprachebenen ein. Eine Ästhetik des Performativen (Fischer-Lichte 2004) verlagert den Blick auf die Materialität der Zeichen, auf deren Bedeutungsüberschuss und die daraus erwachsende Unvorhersehbarkeit, Ambivalenz und Kontingenz. Performative Verfahren zielen auf Grenzüberschreitung, die die Demarkationslinie zwischen den Kunstgattungen und die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum tendenziell aufheben, wie überhaupt die leibliche Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer im Mittelpunkt und so auch die Grenze zwischen Kunst und Alltag auf dem Spiel steht. Ob es nun darum geht, Zuschauer zu bleiben, Publikum zu werden oder Performer zu sein (vgl. Seitz 2014), ob Passivität oder Aktivität zentrales Merkmal der Aufführung ist, der Modus der Gabe (Hentschel/Hoffmann/ Moehrke 2011) scheint virulent, selbst wenn die Gabe ungebeten ist (vgl. Seitz 2011) oder sich im Nichttun ereignet. Sowohl Gabe als auch Performance ereignen sich im Vollzug, der zuletzt auch Entzug und Widerfahrnis bedeuten und Passivität und Nichttun als Kehrseite mit sich bringen kann. Da Kunstschaffende, indem sie etwas zur Darstellung oder Aufführung bringen, nicht umhin können, etwas zu tun, geht es im Folgenden genaugenommen auch eher um ein Nicht-Nichttun.7

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Beide Stücke waren im November 2017 zu sehen: Hey Joe mit Anne Tismer zur NeuEröffnung der Berliner Volksbühne und Faust im Deutschen Pavillon zum Abschluss der Biennale in Venedig. Das Wortspiel ist durch Richard Schechner inspiriert, der davon ausgeht, dass der Performer weder ‚ich‘ noch ‚nicht-ich‘ (also Träger einer Rolle), sondern „not not me“ ist (Schechner 1985: 112).

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L ANGEWEILE – L OW P IECES (2009) VON X AVIER L E R OY Die Performer sitzen in Trainingsanzügen am Rand der Bühne auf dem Live-ArtFestival 2012 auf Kampnagel in Hamburg, nennen ihre Namen und beginnen ein Gespräch. Es geht um Fragen der Repräsentation, um politische Verantwortung und soziales Handeln, auch um den Unmut einiger Zuschauer, sie seien nicht gekommen, um zu diskutieren, sondern um ein Stück zu sehen. Nach einer Viertelstunde geht das Licht aus, und kurz darauf sieht man die Performer hellerleuchtet, gruppiert vor schwarzem Bühnenhintergrund – nackt, identitäts- und geschichtslos. In einer Art Tableau Vivant werden unterschiedliche, präzise inszenierte Bilder gezeigt. Es sind fast bewegungslose, atmosphärenstarke Stillleben, in denen die Performer anorganische, vegetable und organische Zustände zu verkörpern scheinen – jedenfalls nichts menschliches: eine Landschaft voller Steine vielleicht, Flamingos an einem Wasserloch, vom Windhauch bewegtes Schilf, ein vorbeiziehender Kranichschwarm (die einzige Szene übrigens, die gänzlich dunkel und nur hörbar ist), ein träges Löwenrudel in der Mittagshitze der Savanne. Bis auf das Vogelgeschrei – nur Stille. Abb. 1: Xavier Le Roy: ,Low Pieces‘, Théâtre de la Cité internationale, Paris

Auf diese jeweils etwa zehnminütigen Szenen folgt erneut eine 15minütige Diskussion – komplett im Dunkeln. Die ‚Bilder ohne Worte‘ sind also durch das gerahmt, was nach Vorstellung der Conditio Humana den Menschen auszeichnet: intentionales Handeln und Sprachvermögen.

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Man könnte die Bilderserie als rückwärtsgewandte, romantische Naturmetaphorik abtun, würde hier nicht das Primat des Handelns in Frage stehen. Natürlich bringt Le Roy etwas zur Aufführung, doch es geschieht nichts – vollkommene Passivität. Eine denkwürdige Fadheit und Leere kommt darin zum Ausdruck, wie beides zugleich von (unsichtbar bleibender) Fülle und Farbigkeit spricht – die Performer, um mit Lao-Tse zu sprechen, „tun, was ohne Tun ist“.8 Sie nehmen ihre Körper wahr und fühlen sich in (andere) Zustände ein: „Wir versetzen uns in uns und in die Dinge, in uns und in die anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden.“ (Merleau-Ponty 1994: 209)9 Low Pieces bringt evolutionäre Momentaufnahmen zur Anschauung, gleich-gültige Zustände, die sich nicht entwickeln und zu nichts führen. Die Körper sind weitgehend der Schwerkraft überlassen, und Bewegung entsteht, wenn überhaupt, durch muskuläre Reflexe oder zufällige Impulse der anderen Körper. Bis auf kurze Momente gebannter Aufmerksamkeit, wie auf etwas von außen kommendes hörend, wirken die Performer benommen und vollkommen bei sich. Das Ausgedrückte ist – was die ‚Körperlandschaft‘ wie auch das Stimmungsbild betrifft – ‚low‘, der Ausdruck dafür umso intensiver. Die Bildarrangements erinnern an Martin Heideggers Gedanken zum Wesensunterschied von Stein, Tier und Mensch, das ‚Benehmen‘ der Performer an seine Ausführungen zur tiefen Langeweile, eine Grundstimmung des Daseins, die der Benommenheit der Tiere gleicht und beim Menschen in den „Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und herzieht“ (Heidegger 2004: 117). Das „Seiende“ tritt in eine Gleichgültigkeit zurück – ein sich „bekundender Entzug“, der nichts erwarten lässt und das Da-Sein bannt: „Das Bannende ist nichts anderes als der Zeithorizont“ (ebd.: 221). Heidegger spricht bewusst von Bekunden, denn gerade im Versagen, in dieser tiefen Verlassenheit der Langenweile offenbart sich mit der Zeitlichkeit die Bedingung des Menschseins.10 Doch wie anders beschreibt es Walter Benjamin: „Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“ (Benjamin 1977: 392) Nicht weil sie von der Aufführung gelangweilt wären, sondern aufgrund dieses Versprechens zieht die Performance auch die Zuschauer in den Bann – ein

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Im Taoismus ist das Fade jener unbestimmte Grund, vor dem sich die Welt vor aller Festlegung hervorhebt und ihre Essenz offenbart. Fadheit zu erzielen, ist in der chinesischen Landschaftsmalerei die höchste Kunst; ihr gelingt es, „den Blick in Bewußtsein umzuwandeln und uns endlos in sie zu vertiefen“ (Jullien 1999: 166f). 9 Für Merleau-Ponty sind die Anfänge – die „Beziehung der Physik zur Physis, der Physis zum Leben, des Lebens zum Bereich des ‚Psychophysischen‘“ – nicht überwunden; „jede überwundene Stufe [bleibt] in Wirklichkeit vorausgesetzt“ (ebd.: 229). 10 Vgl. hierzu meine weiterführenden Ausführungen (u. a. mit Bezug auf Han, Agamben und Merleau-Ponty) und eine Kritik an Heideggers Anthropozentrismus: Seitz 2017a.

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‚pulsierender Stillstand‘, der das Wirkliche hinter sich und das Mögliche aufscheinen lässt – als Unverfügbares. Es handelt sich um ein Ereignis, das Resonanz (Rosa 2016) als stummes Antwortverhältnisses zwischen Selbst und Welt stiftet. Eine Gabe, deren ‚Empfang‘ in einer Weiterentwicklung der Aufführung übrigens noch deutlicher wird: Temporary Title (2015) wurde in einem Warenhaus (ohne Bühne und Raumbegrenzung) in Sydney aufgeführt, wo sich die Besucher inmitten der Performer frei bewegen, manche sich ‚steingleich‘ dazulegen oder ‚tiergleich‘ in Benommenheit versinken, kurz: Gelassenheit üben konnten.11

M ELANCHOLIE – A NN L EE (2015) VON T INO S EHGAL Ein vielleicht elfjähriges Mädchen mit langen blonden Haaren, in rosa T-Shirt, lilafarbenen Jeans und hellen Sneakers betritt langsamen Schritts den Ausstellungsraum im Berliner Martin Gropius-Bau und bleibt in der Mitte stehen. Sie wirft einen kurzen Blick auf die anwesenden Besucher, wartet und beginnt leise und langsam zu sprechen. Sie heiße Ann Lee und habe mehrere Wandlungen durchlaufen, so die zweite und dritte Dimension und sei nun endlich in der vierten angekommen. Der Künstler Tino Sehgal habe ihr eine Anstellung gegeben. „I wanted to be individual, embodied, incorporated.“ Eine merkwürdige Introvertiertheit und Zurücknahme geht von diesem Geschöpf aus: zerbrechlich, fast körperlos und geisterhaft. „I like art and the places it’s shown – so individualistic. And I like the kind of people who come to see – like you!“ Ann Lee wirkt freundlich, aber nicht zugewandt – der Körper ohne Gestik, das Gesicht ohne Mimik, die Stimme ohne Ausdruck, der Blick meist in die Ferne gerichtet. Immer wieder macht sie lange Pausen. Die Besucher erfahren, dass sie schon in ihrem vorherigen Leben mit Künstlern zu tun hatte. „They were all nice, but seemed very busy.“ Nach einer erneuten Pause wendet sie sich unvermutet direkt an eine Besucherin: „Can I ask you a question? Would you rather feel too busy, or not busy enough?“ Nach einem Moment des Nachdenkens antwortet diese, sie sei eigentlich lieber beschäftigt. „And why is that?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ist Ann Lee schon wieder bei sich, erzählt, wie sie Tino besucht habe, der im Übrigen auch sehr beschäftigt sei, und wie sie in einem Buch einen Satz entdeckt habe, den sie gerne vortragen möchte. „Thus we ask now: even if the old rootedness is being lost in this age, may not a new ground and foundation be granted

11 Die Freiheit des Sein-Lassens hat erst der späte Heidegger entdeckt. In den Ausführungen zur Langeweile geht es noch darum, das sich bekundende Offene zu ergreifen – der Mensch, „wenn er werden soll, was er ist, je gerade das Dasein sich auf die Schulter zu werfen hat“ (Heidegger 2004: 246).

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again, a foundation and ground out of which human’s nature and all their works can form in a new way even in the technological age?” Sie verstehe das nicht und fragt, ob es jemand erklären könne, lässt ihren Blick lange in die kopfschüttelnde Runde schweifen. „I can repeat it for you.“ Sie wiederholt das Zitat, bewegt sich langsam zur Wand und fragt, wiederrum nach einer langen Weile der Stille: „What is the relation between sign and melancholia?“ Erneut Pause. „You don’t know?“ fragt sie einen Mann. „Well, it’s ok.“ Etwas verlegen fragt dieser, ob sie es denn wisse. „I don’t know.“ Das Mädchen löst sich von der Wand und setzt seine Schritte so, als suche es im Boden die fehlende Verbindung. „I don't know.“ Ann Lee steht an der Tür, blickt nochmals in die Runde. „Ok – take care“ und verlässt leise den Raum. Ratlosigkeit unter den Zurückbleibenden. Dieses rätselhafte Geschöpf spricht als ob es nicht spräche, bewegt sich als ob es sich nicht bewege, lebt als ob es nicht lebe. Sehgal zeigt seine flüchtigen Interventionen vorzugsweise im (eigentlich für das Bewahren zuständigen) Museum. Da er zudem jegliche Verwertungsketten (Programmhefte, Werbung, Fotos, ja selbst Verträge) verweigert (vgl. Moehrke 2011: 116 ff),12 müssen Informationen anderweitig eingeholt werden.13 Zur Frage der Beziehung zwischen Zeichen und Melancholie gibt Walter Benjamin Auskunft: Der Melancholiker sei ein „Grübler über Zeichen“, dem die Sinnhaftigkeit der Welt abhanden gekommen und der „die entleerte Welt maskenhaft neubelebt“ (Benjamin 1991: 318). Wie im Trauerspiel der Tod in Gestalt des Gespensts (ebd.: 354), wird in AnnLee das Mädchen zur Allegorie. Der Melancholiker leidet am Ende weniger an der Leere, als dass er nicht vergessen kann, in völliger Retention verzweifelt an einer Erinnerung festhält, die er nicht erinnern kann und darum in allegorische Zeichen übersetzt. Jener rätselhafte Satz, den das Mädchen zitiert, stammt übrigens aus Heideggers „Rede zur Gelassenheit“, worin er sagt: „Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis geben uns Ausblick auf eine neue Bodenständigkeit.“ (Heidegger 1959: 24f) Der Wille (auch das Nicht-Wollen) kann eine solche Haltung nicht hervorbringen. Gelassenheit kann nur durch ein Tun erreicht werden, das außerhalb der „Unterscheidung von Aktivität und Passivität“ liegt (ebd.: 35). „Gemäßer als durch eine Veranlassung zum Sicheinlassen können wir kaum in die Gelassenheit gelangen.“ (Ebd.: 46) 12 Sehgals Strategie, eine andere Ökonomie durch immaterielle Wertschöpfung in Gang zu setzen, macht seine Arbeit natürlich umso profitabler und erfolgreicher und verhindert nicht, dass im Internet dennoch Fotos kursieren. 13 Eine Internet-Recherche lüftet die rätselhafte Erzählung: Ann Lee war zuvor tatsächlich zweidimensional, nämlich eine japanische Manga-Figur, bevor eine Künstlergruppe die Rechte an der Marke gekauft und Sehgal ihr schließlich zu einem LiveAuftritt verholfen hat (vgl. Seitz 2018).

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So bleibt zu fragen, ob AnnLee tatsächlich eine Gabe ist, ob das Stück Anlass gibt, sich einzulassen und es also gelingt, eine „Situation“ zu geben14 oder es sich doch ‚nur‘ um eine (wenn auch eindrucksvolle) Vorführung handelt. Hier kommt ein Subjekt ins Spiel, das an nichts festhält und bei aller Passivität zwar tut, was Menschen normalerweise tun (z.B. kommunizieren), um es aber im gleichen Moment vollkommen zu neutralisieren. Der neue Gebrauch, der Giorgio Agamben zufolge durch solcherart Deaktivierung und Außerkraftsetzung entstehen könnte, jenes „Spiel als Organ der Profanierung“ (Agamben 2005: 74) findet nicht statt. Das „Offene“, jene „Weite des Fernen, in dessen Nähe es die Weile findet“ (Heidegger 1959: 44) lässt nicht einmal auf sich warten. Alles, was die Protagonistin tut – gehen, stehen, sprechen, blicken, warten –, tut sie, als ob sie es nicht tut (zumindest als ob es sie nicht anginge). Agamben versteht „désœuvrement“ (nicht tun, unterlassen) als die „höchste Figur des Lebens“ (Agamben 2002: 96), und Sehgal gelingt durchaus, diese dem Menschen gegebene Potenz – nicht tun zu müssen, sondern lassen zu können – vor Augen zu führen. Von Gelassenheit – keine Spur. Eher kommt ein Leben zum Vorschein, das im ‚Als-obnicht‘ zu erstarren droht und zuletzt posthumane Züge trägt.

P ASSIVITÄT – T HE A RTIST VON M ARINA ABRAMOVI 

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P RESENT (2010)

Die Künstlerin sitzt bewegungslos über zweieinhalb Monate, täglich sieben Stunden, im Atrium des New Yorker Museum of Modern Art auf einem Stuhl und nimmt das Blickverhältnis mit jedem auf, der sich ihr gegenüber an den Tisch setzt – so lange, bis der Stuhl wieder verlassen wird. Abramovi weckt den Eindruck, als ob sie immer dort säße. Über 75 Tage lang verändert sich praktisch nichts – lediglich der Tisch wird entfernt, die Farbe ihrer Robe wechselt (von blau über rot zu weiß) und Menschen bewegen sich (von draußen kommend) entlang der Wände langsam voran. Insgesamt eine halbe Millionen warten darauf, sich auf dem Stuhl niederzulassen.

14 Dass Sehgal seine Performances Situations nennt, zeigt an, dass er auf ‚Einlassung‘ (besser: Verwicklung) zielt.

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Abb. 2: Marina Abramovi: ,The Artist is Present‘, MoMA, New York

Abramovi tut nichts, außer passiv anwesend sein und nach Art der Agape15 erwartungs- und bedingungslos, gleichermaßen respektvoll wie zurückgenommen ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ‚verschwendet‘ ihren Blick – eine Face-to-Face-Situation, die unterschiedliche Reaktionen auslöst: manche brechen ab, andere fühlen sich zum Machtspiel (gar zu einer kleinen Performance) provoziert, einige verfallen in stille Tränen, die meisten sitzen einfach (manche kurz, andere lang), erwidern den Blick und nehmen das ihnen Gebotene an.16 Abramovi beschreibt es so: „After a while they don’t look at me anymore, their eyes look inward into their selves [...]. It triggers all these emotions, and emotions are overwhelming“ (Pearson/Richard 2010). Und an anderer Stelle äußert sie: „When you do nothing, it’s amazing what’s happening. You deal completely with some other energy and you charge the space with another type of energy. Your perception moves beyond what is in front of you; you start seeing with your body.“ (Jacobs 2004: 188) Für die Künstlerin ist Duration und Time der Schlüssel zu dieser inneren, fast metaphysischen Wandlung: „I can find time in performance.“ Um wenig später zu sagen: „because I created a space with no time“ (ebd. 190).

15 Vgl. Ricœurs Bezugnahme auf die Agape und sein Vorschlag, Gabe als „Antwort auf einen Appell“ zu verstehen (Ricœur 2006: 302). 16 In dieser Hinsicht fungiert die Künstlerin eher als Botin – eine, die den Inhalt nicht kennt bzw. vergessen hat, der Empfänger somit auch nicht weiß, was, nur dass er etwas bekommt.

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Im Blicktausch geschieht, was Merleau-Ponty Chiasma nennt, jenes Ineinander von Berührung und Berührtwerden, in der die Sehhaptik am Ende weniger den Anderen als im Anderen das Selbst erreicht, und zwar nachträglich. Denn im Augenblick des Ereignisses fällt das Selbst ‚in der Zeit aus der Zeit‘, in das ‚Seinsmoment‘ der Präsenz und ‚vergisst‘ sich – ein Vergessen, das, ohne „Bestimmbares, Sinn- und Bedeutungsvolles zu sein, doch nicht nichts ist“ (Derrida 1993: 29, Herv. H.S.). Damit – und besonders durch das Erleben von Zeit und Dauer und die damit verbundene Unterbrechung der ‚normalen‘ Zeit – rückt die Performance in die Nähe von Jacques Derridas Konzept der Gabe. Eine solche sei zwar „das Unmögliche“ (da die auf Tausch basierende Gegengabe sie annulliert), sie könne es aber „in dem, was das System unterbricht“, durchaus geben (ebd.: 24).17 Denn: „Das, was es gibt, was die Gabe gibt, ist die Zeit, aber diese Zeit ist zugleich ein Verlangen nach Zeit.“ (ebd.: 59) Zwar meint Derrida, dass man Zeit nicht geben könne, da sie niemandem gehört (ebd.: 43), um dann doch die Gabe, die etwas Bestimmtes gibt, von jener zu unterscheiden, die „das Element des Gegebenen überhaupt gibt“ (ebd.: 89). „Die Zeit zu geben, den Tag oder das Leben geben, heißt nichts zu geben, jedenfalls nichts Bestimmtes, gegeben wird vielmehr das Geben allen möglichen Gebens, die Bedingung des Gebens.“ (ebd.: 76, Herv. H.S.) Was nichts anderes heißt, als mit einer „Bewegung, die in die Ruhe eingelassen bleibt“, empfangen, was aus der Ferne entgegenkommt (Heidegger 1959: 35). So formstreng das Setting in The Artist is Present ist, so ‚unformuliert‘ bleibt die Gabe, wenn es sie denn hier überhaupt gibt. Denn nicht Gelassenheit, sondern ‚eiserne Disziplin‘ und „Der Wille zu Kunst“ (Wyss 1997) treibt in das Nichttun, in dem zuletzt die Künstlerin – ihr Selbst – in den Mittelpunkt rückt. Wo sonst der ‚Flux‘ der Performance (und sei er durch Passivität vorangebracht) die Intentionalität zurückdrängt und als pathische Widerfahrnis auch Risiko und Selbstverlust bedeutet, scheint hier die gnostische Einstellung die Kontrolle zu behalten – „die Grenze des Vollzugs, die immer ein Entzug ist, der Umschlag der Macht, der als Ohnmacht erfahren wird“ (Krämer 2011: 66) ereignet sich eher nicht. Die durch kontemplative Versenkung erzeugte Präsenz (zumal in dieser Dauer) beeindruckt nachhaltig (und rührt auch zu Tränen), verhindert aber womöglich gerade „das Zulassen einer Anrufung, worin das Gegenüber anerkannt wird, welches allem subjektiven Leben und Erleben vorausgeht“ (Tams 2014: 179). Dies liegt weder am Schweigen noch an der Passivität, sondern an einem Entzug, in dem sich die Künstlerin zuletzt unverbunden zeigt. Das Gegenüber ist 17 Natürlich ist die Kunst als ‚anökonomische‘ Gabe auch hier nur eine Denkfigur – besonders wenn man bedenkt, dass die Besucher Eintritt zahlen und Abramovi vom Museum für ihre ‚Dienste‘ (vermutlich üppig) bezahlt wird.

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weniger Empfänger einer Gabe als vielmehr staunender Zeuge eines Ereignisses (wie im Übrigen auch das Publikum), in dem sich eine Künstlerin Zeit ‚nimmt‘ und durch ,nichts tun‘ erschöpft.18 Was natürlich nicht nichts ist, sondern auch für die ‚Gäste‘ eine tiefgreifende Erfahrung von Passivität. Nichttun bedeutet zuletzt nicht, nichts zu tun, sondern von sich absehen und dabei das anthropozentrische Weltverhältnis hinter sich lassen. „Das Wesen des Menschen besteht darin, von dem angerufen zu werden, was nicht ‚menschlich‘ ist.“ (Han 1999: 197)19 Womöglich ist in jener Leere – in jenem Raum, wie Han es ausdrückt, „der nach dem Rückzug des Menschen sich ausbreitet“ (ebd.: 196) – nicht nur das unverfügbare Sein, sondern zuweilen auch der stumme Ruf der Kunst hörbar. Bei Abramovi mag es nicht immer gelingen, das sehende Sehen der Kunsterfahrung in den Leib zu verlagern und die ‚freie Weite‘ zu ahnen – im Unterschied zu den nicht-menschlichen Tableaus in Le Roys Low Pieces. Und vielleicht wird die Anrufung in Sehgals AnnLee auch nur aufgrund des Schreckens überhört, den die Begegnung mit einem Mädchen hervorruft, das sich im Als-ob-nicht eingerichtet hat und des Menschlichen nur vermeintlich entbehrt. Mit Blick darauf kann die Gabe der Kunst (nicht im Sinne des auf Tausch beruhenden Barters, sondern als Bedingung des Gebens) in gelingenden Momenten also womöglich auch dies zeitigen: „Das Wesen des Menschen zu erblicken, ohne auf den Menschen hinzusehen!“ (Heidegger 1959: 31) Und dabei die Kehrseite des Tuns entdecken – die Freiheit, zu lassen.20 Lieber nicht. Nicht alle Potenz im Akt verspielen, sondern im Nichttun bewahren.

L ITERATUR Agamben, Giorgio (2002): Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2005): Profanierungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

18 Also anders als die Figuren, die Deleuze vor Augen hat, auch anders als in den frühen Performances von Abramovi, in denen sie sich bis zur Selbstaufgabe verzehrt. 19 Han bezieht sich hier auf Heidegger, demzufolge der Mensch sein Wesen nicht aus dem Menschsein, sondern aus der „Gegnet“ erfährt, womit er die „freie Weite“ der Gegend, den Horizont oder z.B. auch die Nacht meint, „die zur Sammlung zwingt, ohne Gewalt anzuwenden“ (vgl. Heidegger 1959: 33/57f). Phänomenologisch gesehen ist es das rohe Sein z.B. der Wellen und Wälder, die niemandes Stimme sind und einen „wilden Sinn“ für jene hörbar machen, die Ohren haben, es zu hören (MerleauPonty 1994: 203). 20 Eine Potenz, die in der Performance-Gesellschaft keine Chance hat (vgl. Seitz 2017b).

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Seitz, Hanne (2017a): „As if Not Human. Practising Boredom in the Arts“, in: Performance Research 22, S. 98-106. Seitz, Hanne (2017b): „Kunst und Bildung in der Performance-Gesellschaft“, in: Johannes Bilstein/Jörg Zirfas (Hg.), Geben und Nehmen. Sozialökonomische Zugänge der Pädagogischen Anthropologie, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 82-99. Seitz, Hanne (2018): „Begegnung mit Ann Lee. Von Mädchen, Manga und Melancholie im Museum“, in: Ursula Stenger/Jörg Zirfas (Hg.), Kinder – Kindheit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, im Erscheinen. Tams, Nicola (2014): „Gabe und Performativität“, in: Steffi Hobuß/Nicola Tams (Hg.), Lassen und Tun. Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturelle Praktiken, Bielefeld: transcript. Virilio, Paul (1992): Rasender Stillstand, München: Hanser. Wüschner, Philipp (2016): Die Entdeckung der Langeweile. Über eine subversive Laune der Philosophie, Berlin: Turia & Kant. Wyss, Beat (1997): Der Wille zur Kunst – Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln: DuMont.

ABBILDUNGEN Abbildung 1: „Xavier Le Roy: Low Pieces (Nr. 6)“, Fotograf: Vincent Cavaroc, mit freundlicher Genehmigung von Xavier le Roy. Abbildung 2: „The Artist is present – MoMA“, Fotograf: Andrés Nieto Porras, Lizenz: CC BY-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/ (25. September 2018); Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_ Artist_is_present_-_MoMA_(4423713664).jpg (25. September 2018).

Gabe und Opfer – Über Mother! von Darren Aronofsky1 und das Theater als Körper der Hervorbringung R EINHOLD G ÖRLING

Abstract Gift and Sacrifice – About Darren Aronofsky’s Mother! and Theatre as a Body of Emergence: Gift and sacrifice are two different figurations of transgressing the realm of equivalence and economic circulation. The gift is different from the sacrifice insofar as the gift cannot be bonded to an idea of return, the sacrifice insofar as it includes an interruption of circulation and an irreversible loss, although the sacrifice cunningly includes the hope of a profit in return. Religion as well as art relate to these forms of transgression. Darren Aronofsky’s “Mother!” is read as a filmic analysis of the transformation of the gift into a sacrifice as the core element of monotheistic religion. Theatre and film are understood as practices of emergence that are able to resist the violence of sacrifice.

Gabe und Opfer sind zwei unterschiedliche Figurationen der Übertretung des Bereichs der Äquivalenz oder der ökonomischen Zirkulation. Die Gabe unterscheidet sich vom Tausch darin, dass sie nicht mit der Idee der Wiedergabe verbunden sein kann, das Opfer darin, dass es zumindest eine Unterbrechung der Zirkulation und eine nicht wieder umkehrbare Veräußerung einschließt, auch wenn das Opfer listig auf eine Wiedergabe in anderer Form hofft. Diese beiden Praktiken eigene Übertretung macht sie für religiöse wie für ästhetische Zusammenhänge interessant.

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Mother! Regie Darren Aronofsky (USA 2017).

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In der Regel denken wir Übertretung als etwas Räumliches: Man tritt über eine Grenze, man übertritt eine verbotene Linie. Das Paradox der Überschreitung in diesem Sinne besteht dann darin, dass sie eine immer wieder neue Grenzziehung erfordert, weil ja eine übertretene Grenze keine Grenze mehr ist. Der Begriff der Übertretung, wie ihn etwa George Bataille benutzt, geht über das Paradox dadurch hinaus, dass er das Außen der Grenze als einen qualitativ anderen Raum denkt, einen Raum ohne eingeschriebene Grenzen: einen eigentlich kosmischen Raum, in dem es Veränderung, aber keine Grenzen gibt (Bataille 1994). In diesem kosmischen Raum sind Raum und Zeit nicht getrennt. Die Übertretung in diesen anderen Raum erfolgt mithin auch unter Aufgabe der eigenen Verräumlichung, des eigenen territorial bestimmten Ortes, des eigenen abgeschlossenen Körpers. Die Erotik oder das Opfer sind Praktiken, in denen Bataille dies realisiert sieht. Diese Aufgabe ist nicht immer schon als Verlust zu verstehen, jedenfalls wenn es möglich ist, Hingabe und Aufgabe zu unterscheiden. Kann Hingabe als Gabe und Aufgabe als Opfer begriffen werden? Und wie wäre diese Differenz zu fassen? Zunächst erscheint es sicher so, dass Gabe etwas ist, das nicht verlangt werden kann, das freiwillig geschieht. Aber ein Opfernder kann das vielleicht auch über seine Handlung sagen. Kann Gabe überhaupt vom Willen abhängig sein und über ihn definiert werden? Wenn Gabe, wie es Jacques Derrida ja so eindringlich betont (Derrida 1993), vom Tausch zu unterscheiden ist, kann Gabe dann überhaupt ein vom Willen oder von der Intention getragener Akt sein? Wäre Gabe nicht eher als etwas zu bestimmen, das von einem der Intention nicht zugänglichen Außen kommt, das Opfer dagegen etwas, dass sich intentional auf ein Außen richtet, mit ihm in eine Kommunikation zu treten versucht, was aber in der Regel gerade nicht einschließt, dass der Opfernde seinen eigenen Ort verlässt? Und wenn das so ist, wäre dann vielleicht auch das, was in der ästhetischen Erfahrung – wie dem Theater und der Literatur, dem Kino, der Kunst und der Musik, die sich vom religiösen Ritual emanzipiert haben – als Gabe zu bestimmen wäre, etwas, das von einem Außen in eine Sichtbarkeit überführt oder gefaltet würde, während das Opfer als ein Sichtbares und Bestimmbares verstanden werden kann, mit dem ein Außen, ein Kommendes, ein Nicht-Planbares adressiert werden soll? Dann hätten Gabe und Opfer aber auch eine zeitlich andere Bestimmung, dann wäre die Gabe mit der Gegenwärtigkeit, das Opfer mit einer Abwesenheit verknüpft. Ja, dann wäre die Gabe in einer Gegenwärtigkeit, in der sie selbst gar nicht bestimmbar ist, weil sie nicht zu einem Zeichen werden kann, nur zu einer Präsenz im Sinne des Ikon oder der Erstheit in der Sprachtheorie von Charles Sanders Peirce. Das Opfer aber wäre immer mit einem Verweis oder einer Stellvertretung, einem Index oder einer Symbolisierung verbunden.

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Das Opfer wäre eine theatrale Inszenierung, die immer von einem Ort in der symbolischen Ordnung her realisiert wird, die Gabe dagegen emergierte in einem Zwischenraum des Spiels, in dem die Logik der Repräsentation oder der Sprache einen guten Teil ihrer Wirkung verloren hätte. Gabe und Spiel haben etwas Primärprozesshaftes im Sinne des psychoanalytischen Begriffs, Opfer und Tausch dagegen realisieren sich in der symbolischen Ordnung. Darren Aronofskys Film Mother!, der auf den Filmfestspielen in Venedig 2017 Premiere hatte, sehe ich als eine filmische Reflexion über die Umwandlung der Gabe in ein Opfer, was als Gründungsritual der Religion verstanden werden kann. Bevor ich das weiter entfalte, möchte ich den Ausgang meiner Überlegungen zur Gabe noch etwas deutlicher an die Diskussion über Gabe in der französischen Philosophie anschließen.

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Die Gabe ist auch da, wo sie in einem Ding figuriert wird, nichts, das sich die Menschen, die über sie in einen sozialen Kontakt kommen, als Gegenstand präsentieren können. Sie ist in einem spezifischen Sinne immer schon da, denn sie hat keinen fixierbaren Ursprung. Sie ist Gabe der Kommunikation, oder, in einer anderen Theorietradition formuliert, sie ist Medialität. Das wird schon bei Marcel Mauss deutlich. Für ihn gehört die Gabe zu den faits sociaux totaux, zu den totalen sozialen Tatsachen oder besser Fakten. Er bezieht diesen Begriff selbstverständlich auf Émile Durkheim, aber er definiert ihn etwas anders: Totale soziale Fakten bestehen für Mauss wohl aus einzelnen Handlungen, Vorstellungen, Dingen und Ereignissen, sie bilden zusammen aber etwas Neues: Sie setzen in ihrer Verbindung die gesamte Gesellschaft oder eine große Zahl ihrer Institutionen „in Gang“ („mettent en branle“) (Mauss 1990: 176; 1925: 179). Mauss stützt seine Theorie der Gabe bekanntlich auf eine intensive Lektüre der anthropologischen Arbeiten zum Potlatsch (die dann ja auch Bataille aufgreift), wie zum Phänomen des Kula auf den Trobiand Inseln im südlichen Pazifik. In den untersuchten Gesellschaften sei es die Gabe, welche die Gesellschaft in Gang bringe. Mauss analysiert die Gabe damit als etwas, das einen Zusammenhang bewirkt, ohne selbst auf eine bestimmte einzelne Praxis reduzierbar zu sein. Die Gabe durchdringt transversal die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche und stellt damit „gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische, morphologische Phänomene“ her (ebd.). Insoweit gibt die Gabe bei Mauss, ohne selbst etwas zu sein. Sie ist nicht etwas, das jenseits dessen ist, was das Soziale oder die Gesellschaft ausmacht, sondern ein

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Feld sozialer Praktiken, aus denen so etwas wie soziale Bindung und Gesellschaftlichkeit emergiert. Die Gabe entwächst einem nicht-ursprünglichen Ursprung, sie ist eine Praxis, die etwas bereitstellt, ohne selbst fixierbar zu sein. Ja, in gewisser, noch näher zu bestimmender Weise, gibt sie, ohne selbst zu sein. Das heißt nicht, dass die Gabe immateriell wäre, aber man kann sie sich nicht gegenüberstellen, oder genauer: man kann sich das, was in einem Ding oder einer Handlung Gabe ist, nicht gegenüberstellen. In dem 1991 erschienen Donner le temps 1: La fausse monnaie bezieht sich Jacques Derrida primär auf Mauss’ Aufsatz aus dem Jahre 1924 und einen kurzen Prosa-Text von Charles Baudelaire. Derrida nennt dabei vier Einsichten von Mauss, die ihn für seine eigene Theorie der Gabe interessieren: Mauss spreche (1.) der Gabe einen nicht auf den Tausch reduzierbaren „Eigensinn“ zu; er sehe (2.) in ihr etwas, das sich von der „ökonomischen Vernunft nicht bändigen“ ließe und religiöse, kulturelle, ideologische, diskursive, ästhetische, literarische und poetische Phänomene einschließe; er versuche (3.) in der Gabe eine „zumindest relative Homogenität aller menschlichen Kulturen“ aufzuzeigen; und er verbinde (4.) eben die Gabe mit dem Kredit und dem Geben von Zeit, mit dem „Termin“ bzw. der „Frist“ (terme), die er im Ding, im Interesse des gegebenen Dings aufsuche, also in einem Überborden des Dings über seine Gegenwärtigkeit, in einer „supplementären différance (aus dem ‚später und nicht mehr zurückgeben‘)“ (Derrida 1993: 60). Die Gabe selbst ist präsent, aber nicht als Ding, sondern als Unruhe, Prozess, Transgression. Auch Gilles Deleuze und Félix Guattari greifen die Theorie der Gabe auf. Sie zielen dabei auf eine Art ursprünglicher Einschreibung der Gewalt in den Körper, einer Einschreibung, die sie mit dem Verhältnis der Schuld in Verbindung bringen. Die Gabe selbst ist nicht an die Schuld gebunden, aber sie kann in ein Verhältnis der Schuld eingebunden werden. Es ist bedeutsam, so schreiben Deleuze/Guattari, „in der Schuld eine direkte Folge der primitiven Einschreibung zu sehen, statt sie (und die Einschreibung selbst) zu einem indirekten Mittel des universellen Tauschs zu deklarieren“ (Deleuze/Guattari 1974: 237). Schuld ist die Zeit zwischen einer Gabe und einer Gegengabe im Tausch, sie errichtet „auf der Grundlage der Verdrängung des alten bio-kosmischen Gedächtnisses ein Gedächtnis der Worte“ (ebd.). Ist das bio-kosmische Gedächtnis im Sinne einer Faltung oder Monade zu verstehen, wie es Deleuze dann unter anderem in seinem Buch über Leibniz darlegt (Deleuze 1995), bedeutet die Einschreibung eine Markierung, eine Einfügung der Gabe in ein Verhältnis der Sprache, das das zum Zeichen Gewordene in einem seiner Entstehung fremden Zusammenhang einfügt? Mit Mauss, der offen gelassen habe, „ob die Schuld gegenüber dem Tausch primär sei oder nur ein

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Tauschmodus“ (ebd.) und gegen die einseitige Beantwortung dieser Frage zugunsten der zweiten Möglichkeit durch Claude Lévi-Strauss beharren auch Deleuze/Guattari darauf, dass die Gabe nicht der Zeit der Ökonomie angehört, sondern den Arbeitsweisen des Unbewussten oder des Wunsches folge: „Der Wunsch ignoriert den Tausch, er kennt nur den Diebstahl und die Gabe, zuweilen, unter Einwirkung einer primären Homosexualität, das eine im anderen.“ Die Schuld jedoch „entspringt geradewegs der Einschreibung“, die in „Schmerzensritualen“ eines „Theater der Grausamkeit“ erfolgt, wie die Autoren in offensichtlicher Anspielung auf Antonin Artaud schreiben (Deleuze/Guattari 1974: 243). Entspringt die Empfindung des Schmerzes einer Abwehr gegen eine Bedrohung der inneren Ökologie, so wird seine dieser Abwehr noch folgende Memorierung und Einschreibung zum Hebel für die Einfügung in eine andere Ökonomie. Diebstahl und Gabe in dem elementaren Sinne, wie Deleuze/Guattari es hier ansprechen, sind jedoch ohne Wissen und chronologische Zeit, sie liegen vor der Einschreibung. Sie gehören noch der kosmischen Zeit an, oder jedenfalls einer Zeit ohne Gesetz. Auch Derrida folgt in Zeit geben diesem Gedanken und benutzt den psychoanalytischen Begriff der Kastration zur Figuration der Einschreibung des Gesetzes in den Körper: „Überall, wo es Kastration und die Problematik der Kastration gibt […], gibt es die Rationalität des Randes und gibt es keine Gabe und nicht einmal die mögliche Problematik der Gabe.“ (Derrida 1993: 122) Die „Rationalität des Randes“ ist die des Opfers. Es stellt sich gleichwohl die Frage, wie sich die Bereiche der Gabe und des Opfers in bestimmten Praktiken zueinander verhalten. Sind sie als Schichtungen zu verstehen, die ihre eigene Wirkung behalten? Oder lässt es sich doch eher so verstehen, dass die Logik der Schuld und des Opfers eben an einer gewaltsamen Markierung der Gabe ansetzt? Die Ausführungen bei Mauss deuten eher auf ein Verhältnis der Schichtung hin. Für ihn emergiert aus der Gabe ein sozialer Zusammenhang, der transversal die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft durchzieht. Die Gabe selbst aber ist nicht zu fassen, da sie nicht dinglich ist: Es geht nicht um die Muschel und auch nicht um das Fest, sondern um eine Relation, die daraus entsteht. Diese selbst ist Prozess und Ereignis, nicht Ding und auch nicht nur Handlung. In seinen Médiations pascaliennes greift Pierre Bourdieu die in seinem Essay Die Ökonomie der symbolischen Güter begonnene Diskussion über die Gabe neu auf und verändert auch seine Argumentation. Er sieht in ihr den Stifter legitimer Herrschaft: Dies unter anderem, weil sie aus der Zeitspanne, die Gabe und Gegengabe voneinander trennt (oder Mord und Rache), eine Zeit kollektiver Erwartung der Gegengabe oder der

280 | REINHOLD GÖRLING Dankbarkeit macht oder, deutlicher gesagt, eine Zeit anerkannter, legitimer Beherrschung, hingenommener oder geliebter Unterordnung. (Bourdieu 2001: 254)

Während für Derrida die Differenz von Gabe und Tausch bei Mauss nicht konsequent genug verfolgt wird, dreht Bourdieu diese Kritik in gewisser Weise um, da er die Trennung selbst infrage stellt und als historische Illusion der Ablösung einer vom Sozialen und seinen Institutionen getrennten Sphäre des Ökonomischen bestimmt. Sie geht einher mit der Illusion eines Gegensatzes von Leidenschaft und Interesse, welche für Bourdieu ein konstitutives Element für die geschichtliche Herausbildung des Ökonomischen im engeren Sinne ist. Die Gabe ist aber, so Bourdieu, die verdrängte Grundlage des Tausches, die als solche aber nicht mehr verständlich ist oder nur noch als Praxis kolonialer Gesellschaften untersucht wird, weil sie eben ein öffentliches Geheimnis oder gemeinsames Verkennen darstellt. Führt man die Gabe wieder in den Bereich des Tausches ein, könne sie die Logik der Ökonomie interessegeleiteten Handelns sprengen und ihr wieder die Dimension der Leidenschaft zuführen. Der Tausch großzügiger Gaben führt zu einer sozialen Verbindlichkeit, die über die Ökonomie des symbolischen Tausches sich als Schuld „in Form von Leidenschaft, Liebe, Unterwürfigkeit, Respekt den Körpern einschreibt und in die Anerkennung einer untilgbaren und, wie es oft heißt, immerwährenden Schuld wandelt“ (ebd.). Noch deutlicher als bei Mauss verhalten sich Gabe und Tausch bei Bourdieu wie zwei Schichten, von der die eine, die der Gabe, die grundlegende ist, ohne die der Tausch gar nicht möglich wäre. Anders als bei Derrida und Deleuze/Guattari durchwirkt die Gabe den Tausch als basaler sozialer Kitt, weshalb es politisch darum ginge, ihn in den Verhältnissen des Tausches stärker zur Wirkung kommen zu lassen. Ähnlich wie es schon Mauss im letzten Abschnitt seines Textes entwickelt, geht Bourdieu davon aus, dass sich die Ökonomie des Tausches nur scheinbar von der der Gabe löst, letztere unterfüttert die erste gleichsam, ohne doch direkt adressiert werden zu können. Das führt zur Frage, ob über die Rücknahme der Illusion der Trennung von Leidenschaft und Interesse in die Ökonomie, namentlich die des Neoliberalismus, ein Moment der ethischen Verpflichtung zur Großzügigkeit und Uneigennützigkeit wieder eingeführt werden kann. Die Differenz zum Argument von Derrida und Deleuze/Guattari ist nicht groß, denn Leidenschaft ist eine Kategorie, die der Dimension des Wunsches und des Triebes angehört und nicht der Rationalität des Tausches. Wenn es einen Unterschied gibt, dann liegt er eher darin, welche Konsequenzen für politische und künstlerische Praktiken aus dem Ineinander von Gabe und Tausch zu ziehen sind. Weder Derrida noch Deleuze/Guattari sind so zu verstehen, dass die Gabe nicht in praktisch jeder sozialen

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Handlung mitspiele. Es geht stattdessen darum, ob man sie eher als subversive Kraft gegen den Tausch und die universelle Äquivalenz setzt, oder eher als reformistisches und in gewisser Weise sogar konservatives Korrektiv. Analog in der Kunst: Kann ihre Gabe als eine Kraft verstanden werden, die gegen die Ordnung des Tausches eine nicht reduzierbare Differenz behauptet, oder ist diese Differenz vor allem ein Wert im Rahmen des symbolischen Tausches?

C HOR UND ,C HORA‘ Wenn Mauss zufolge die Gabe als Stifterin von sozialen Beziehungen verstanden werden kann, dann nicht, weil sie selbst etwas ist, das gibt, das also jenseits oder vor der Gabe schon existierte, die Gabe ist immer nur der Ort oder die Zeit, in der etwas Neues in Erscheinung tritt. Entscheidend ist dabei nicht, ob die Gabe in einem Ding symbolisiert wird oder ob sie als gesellschaftliches Verhältnis abstrakt bleibt. Wichtig ist, dass die Gabe gar nicht als etwas adressiert werden kann, das man zurückgeben könnte, da es weder einen bestimmbareren Geber noch eine gegenständliche Realität der Gabe gibt. Das wird aber im Opfer verkehrt. Das Opfer soll zur Figuration von etwas führen, das keine Gestalt hat, weil es eben nicht unabhängig vom Geben existiert. In der Figuration des Opfers ist die Gabe aber gerade nicht Anerkennung, sondern Verleugnung oder gar Negation der Gabe, notwendig misslingender und gewaltsamer Versuch, die Gabe in die Logik des Tausches einzuführen. Eben dies begründet wiederum Derridas Insistieren auf der Unmöglichkeit der Gabe im Rahmen aller Tauschökonomie. Sie ist die nicht fixierbare Differenz. Diese différance ist in Falschgeld. Zeit geben das, was in der Gabe ihre nicht in einem Ding oder Zeichen fassbare Gegenwärtigkeit ausmacht: Sie ist das, was Zeit gibt, aber selbst nicht ist. In Marges de la Philosophie von 1972, das also etwa 20 Jahre zuvor geschrieben ist und das ja im Titel schon die Grenzfigur benennt, schreibt Derrida über die différance, dass sie älter sei als das Sein, älter als die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, auf die Martin Heidegger zielt. Sie ist „Spiel der Spur“: einer Spur, die nicht mehr zum Horizont des Seins gehört, sondern deren Spiel den Sinn des Seins trägt und säumt, sie ist das Spiel der Spur oder der différance, „die keinen Sinn hat und die nicht ist. Die nicht angehört. Keine Jetztzeit, keine Tiefe für dieses bodenlose Schachbrett, auf dem das Sein ins Spiel gebracht ist“ (Derrida 1988: 47). 1987, also 5 Jahre vor Falschgeld. Zeit geben, erschien Derridas Text zu chora, einem Begriff aus Platons Timaieus. Chora ist bei Platon das, was selbst kein Ort ist, aber einen Ort

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gibt (Timaeus 48e4). Platon nennt sie auch die dritte Gattung: ein Rezeptakulum, das statt gibt ohne selbst zu sein (Derrida 1990). Es ist einer Erwähnung wert, dass chora im Alt-Griechischen zunächst wohl das bezeichnet hat, was außerhalb der Polis lag. Chora ist also immer schon eine Figuration der Grenze und ihrer Übertretung, in der das, was ist, die Polis, das bezeichnet, in dem es ist und von dem es sich zugleich abgrenzt. Es wäre für die Thematik des Verhältnisses von Theater und Gabe natürlich wunderbar, wenn das Wort Chor zur selben Familie wie das Wort chora gehörte. Das ist aber wohl nicht der Fall. Interessanterweise gehen ja aktuelle Theorien des Chores im griechischen Theater davon aus, dass er eine Figur oder Figuration von etwas ist, das von außerhalb der Polis kommt, etwas, das mit dionysischen Festen und Tänzen verbunden ist, mit dem Land, nicht mit der Stadt, wo das Theater entsteht. Bevor sich Chor und Szene, bzw. Protagonist, trennen und sich diese Trennung in der Topologie oder der Architektur des Theaters verfestigt, dürfte sich das Verhältnis von Chor und Szene eher so verstehen lassen, dass im Kreis der Tanzenden jemand heraustritt und von den anderen betrachtet und beurteilt wird. Der Chor schafft die Bühne, gibt sie, aber umgedreht schafft die Bühne auch den Chor. Deshalb ist der Chor auch immer „schon-da“, wie Ulrike Haß schreibt (Haß 2014: 143), und zugleich flüchtig, „unbehaust“ (ebd.: 145). Insoweit das Theater Gabe ist, ist es deshalb als einseitige Differenz oder Faltung zu verstehen: Etwas öffnet sich, stellt sich selbst oder einen Teil von sich aus und wird dadurch Bild oder Szene, die betrachtet oder beurteilt werden kann. Es gehört zu den vielen längst noch nicht wirkungslos gewordenen Gaben des Denkens von Walter Benjamin, dass er in seinem Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit diese Differenz zwischen dem Kultwert und dem Ausstellungswert eines Kunstwerkes so deutlich hervorhebt: Erst im Ausstellungswert wendet sich das Kunstwerk auf seinen Betrachter, setzt sich dem Spiel seiner Erfahrung aus, schafft einen Spielraum und löst sich von der List der Naturbeherrschung, die im Opfer wirksam ist (Benjamin 1989: 350-384). Es gibt also eine thematische Überlagerung der Begriffe Chor und chora. Im „Timaios“ nennt Platon chora das dritte Geschlecht: Zuvor hatte er von zwei Geschlechtern gesprochen: dem Vorbild und dem Nachahmenden. Aber damit eben dies möglich ist, muss es noch ein Drittes geben, ein Aufnehmendes. Tatsächlich gendert Platon das deutlich: Das Aufnehmende ist für Platon verbunden mit der Mutter (Platon 2006). Spätestens seitdem haben wir die kulturell hoch wirksame Konstruktion, dass die Frau gibt, der Mann formt und das Kind nachahmt/imitiert. Die Frau als Matrix und Gebärende, der Mann als Gestaltender, das Kind als Nachahmendes, Mimetisches im engen Sinne. Diese Einfügung der Gabe in die Logik der Geschlechter und (genauer) der Familie mag zunächst

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nicht mehr als ein Versuch der Figuration dessen sein, was sich nicht fassen lässt. Doch in diesem Bemühen einer Figuration wird, wie schon in der Logik des Opfers, genau das verleugnet oder negiert, was die Gabe ist.

M OTHER ! Auf Darren Aronofskys Film Mother! wurde bei seiner Premiere auf der Biennale in Venedig 2017 und dann nochmals bei seiner Kinoauswertung mit sehr vielen abwertenden, ja wütenden Kritiken reagiert. Es ist etwas an dem Film, das ihn für die kulturellen Seh- und Rezeptionsgewohnheiten schwer erträglich macht.2 Er erzählt die Einbindung und Ausbeutung der Gabe als Prozess der Entstehung von Religion, jedenfalls von monotheistischer Religion. Er greift dabei Elemente des Horrorfilms auf, durch die dieser Prozess in provokanter Deutlichkeit als der Gewaltzusammenhang zu verstehen ist, der er war und ist. Zwei Mal setzt die Erzählung an, die erste Erzählung ist eine Rekonstruktion der Gründung der Religion im alttestamentarischen, die zweite im christlichen Sinne. Die insbesondere durch ihre Hauptrolle in The Hunger Games3 bekannt geworden Jennifer Lawrence spielt eine jüngere Frau, deren Namen wir nie erfahren, die aber zweifellos mit dem titelgebenden Ruf Mother! adressiert werden kann. Sie lebt mit einem Schriftsteller zusammen, gespielt von Javier Bardem. Er ist berühmt, gegenwärtig aber bedrückt ihn offensichtlich eine Schreibblockade. Die Frau renoviert dem Dichter das absurd große, mitten auf einer grünen Lichtung alleinstehende Haus, das ein Brand verwüstet hat. Sie richtet es ein, kocht, wäscht, umsorgt ihn. Schon in den ersten Szenen wird deutlich, dass es eine enge körperliche Beziehung zum Haus gibt: Als die Frau eine Wand berührt, die sie farbig streichen möchte, scheint sie sich in etwas Fleischliches zu verwandeln, als ob die Frau ihrem inneren Körper begegnete. Eines Abends kommt ein Mann ins Haus, gespielt von Ed Harris. Der Schriftsteller lädt ihn ein, im Haus zu übernachten. Am kommenden Morgen taucht auch seine Frau in dem Haus auf, gespielt von Michelle Pfeiffer. Der unfreiwilligen Gastgeberin ist das von Anfang an nicht recht. Sie erfährt das Paar als Eindringlinge in ihr mit dem Schriftsteller geteiltes Haus, aber dieser setzt sich darüber hinweg. Die beiden Gäste nehmen die Gabe des Hauses oder der

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Unter den deutschen Kritikern war es Dietmar Dath in der FAZ, dessen Besprechung als Beispiel für projektive Abwehr kaum zu überbieten ist (Dath 2017). Aber selbst ein Kritiker des Guardian positioniert den Film im bad movie club (Bradshaw 2017). The Hunger Games, Regie Gary Ross (USA 2012).

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Gastfreundschaft an als sei es ihr Recht, hier zu sein. Auch achten sie keine Grenzen der sozialen Räume, dringen in die Intimsphäre der Gastgeber ebenso ein wie sie ihre eigene ausstellen. So liegen sie etwa bei offener Tür zusammen im Bett beim sexuellen Akt. Schon zu Beginn des Films sehen wir, dass sich die verkohlten Wände und Möbel des Hauses wie von magischer Hand wieder in eine wohnliche Bleibe verwandeln. Bald sehen wir, wie die Frau Versorgungsleitungen einzieht, die Wände verputzt und streicht. „We live all our time here, I wanna make a Paradise“, sagt sie zur Frau des Eindringlings. Dabei verwandelt sich das Haus unter ihrer Berührung aber wieder in etwas Organisches, bekommt Adern voller Blut und ähnelt einem Uterus. Irgendwann ist auch eine Wunde im Fußboden des Erdgeschosses, blutig, durchlässig, in der Form einer Vagina. Die Frau steckt den Finger hinein, fühlt, verdeckt die Wunde schließlich mit einem Teppich, durch den das Blut aber nach oben dringt. Die Frau fällt in diesen Szenen in einen Schwindel, sie hat selbst keinen Ort, weil ihre Umhüllung zugleich ihr Körper ist, der aber selbst einer Umhüllung bedarf. Aus diesen Schwindelanfällen hilft ihr eine Medizin. Sie besteht aus einer ockerfarbenen Flüssigkeit, die sie in ein Wasserglas schüttet. In einem Wirbel vermischen sich Wasser und Medizin, bis sie gebunden sind. Vielleicht kann man die Bedrohung durch diesen Schwindel als szenische Erinnerung an eine verschlingende Mutter lesen, die der Tochter jeden Ort zu sein verweigert. Sicher aber ist es die Not einer Frau, die einem Mann einen Ort gibt, ohne dass dieser ihr selbst diese Gabe bieten könnte oder wollte. Er scheint sie kaum zu beachten, auch nicht sexuell. So gibt die Frau, die Gast ist, der Frau, die Gastgeberin ist, auch ungefragt Ratschläge, welche Unterwäsche sie tragen solle, um den Mann in einem Verhältnis, in dem „eine Generation übersprungen“ sei, sexuell zu interessieren und die Kinderlosigkeit des Paares zu beenden. Schließlich kommen die beiden Söhne des Besucher-Paares: Im Streit über das Erbe des kränkelnden Vaters erschlägt der eine den anderen. Die biblischen Anspielungen sind dabei sehr deutlich, so trägt der eine ein Mal auf der Stirn. Haben wir die Geschichte von Kain und Abel, darf man die beiden Eltern beruhigt auch als biblische Figuren Adam und Eva verstehen: aus dem Paradies vertrieben, nun aber an einem Ort, den die, die gibt, zum Paradies machen möchte. Das Paradies war und ist der jüdisch-christlich-muslimische Ort der scheinbar absoluten Gabe – der schuldlosen Grazie oder Begabung.4

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Die Verbindung der Paradiesvorstellung mit der Idee der Grazie hat Heinrich von Kleist prominent in Über das Marionettentheater durchgespielt. Die Geschichte lässt sich aber nicht rückwärts schreiben, es gibt keinen Weg zurück ins Paradies, auch nicht „von der anderen Seite“ (Kleist 1987), weil das andere des Begehrens, die

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Wenn die beiden Eindringlinge als Adam und Eva zu verstehen sind, dann wäre die Frau lesbar als gebende Kraft der Natur und der Mann als Gesetzesmacht des Wortes. Am nächsten Tag kommen die Eltern wieder und mit ihnen eine Menge Leute, die so etwas wie eine Totenfeier veranstalten: Kain hat Abel im Streit getötet. Die Feier geschieht entgegen dem Willen der Frau des Hauses, aber eingeladen vom Schriftsteller. Dieser hält dann auch eine Rede: I’m so sorry for your loss.… I can understand your pain. Concern your whole life. Days in days, hours in hours, seconds in seconds and now, suddenly, it seems that there is nothing. Only Darkness. But there is a voice crying out to be heard, loud and strong, just listen, … your hear life. Do your hear that? That is the sound of life, the sound of humanity. That is your son’s voice. A prayer of love. It is love for you. (Transkriptionen der Filmzitate: R.G.)

Der Film zeigt die Zuhörenden scheinbar tief gerührt. Die rhetorische Bewegung des Dichters ist bemerkenswert. Sie beginnt mit einer Erwähnung des Verlustes eines Objekts, das allerdings nur als Objekt der Sorge vorgestellt wird, eben als Objekt, dem man selbst einen Ort gegeben zu haben glaubt. In der Dunkelheit, die nun bleibt, ertönt eine Stimme. Die Dunkelheit selbst wird zu einer gebenden, sie gibt Leben, Menschlichkeit. Der Verlust eines Objektes der Liebe verwandelt sich in die Behauptung der Gabe eines Gebetes der Liebe. Aus Leben wird Sprache. Dieselbe Verwandlung, nur in verkehrter Richtung, scheint sich nun zu vollziehen. Die Trauerfeier mutiert in eine aus allen Fugen geratende Party. Die Gäste übertreten jegliche soziale Grenze und beginnen, sich in den Schlafzimmern einzurichten und das Haus zu demolieren. Doch es gelingt der Frau schließlich, sie wegzujagen. Am Abend fordert sie das sexuelle Begehren des Mannes heraus; ob sie wirklich miteinander schlafen, ist jedoch nicht ganz sicher. Am darauffolgenden Morgen jedenfalls sieht die Frau ein Licht durch das Fenster und fühlt ihr Herz. Sie weckt ihren Mann mit den Worten, dass sie schwanger sei. Zusätzlich zu diesen überdeutlichen Anspielungen auf die unbeflecktes Empfängnis Mariens wird der Mann mehrfach in Einstellungen gezeigt, die an Darstellungen der Malerei des Leichnams Jesu erinnern: So beginnt der zweite Teil des Films. Die Frau kippt ihre Medizin weg, als wisse sie, dass die Schwangerschaft diesen Schwindel der Ortlosigkeit beendet hat, denn nun ist sie nicht nur die, die einem Mann eine Umhüllung gibt, sie ist auch Mutter für ein werdendes Kind. Doch alles

Schuld und das Gesetz, immer schon da sind. Schon das Paradies ist durchzogen vom Gesetz, jedenfalls aus dem Blick der monotheistischen Religion.

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scheint sich zu wiederholen, nur dass diesmal nicht das ältere biblische Paar und der Tod eines ihrer beiden Söhne der Anlass für die Okkupation des Hauses sind, sondern eine Party, die der Dichter ohne Ansage an seine Frau zur Feier seines neuen Buches bzw. seines Genies veranstaltet. Als wäre das in der unbefleckten Empfängnis gegebene Wort Gottes das eigentlich Fruchtbare, hatte er nämlich seine Schreibschwierigkeiten überwunden. Immer mehr Fans tauchen auf. Die Zerstörungen wiederholen sich. Die Frau ist inzwischen hochschwanger. Sie kämpft sich durch die immer zahlreicher werdenden Besucher und versucht vergeblich, die Zerstörungen zu verhindern. In einer wirklich gespenstischen Szenerie zeigt uns Aronofsky das Haus als Ort, der sowohl Baracke eines Konzentrationslagers wie Kulisse eines Überfalls durch ein Antiterror-Kommando sein kann, dann einfach nur Ort, in dem ein Mob plündert oder der ein Hintergrund eines Shooter-Spiels zu sein scheint. Schließlich wird das Kind geboren. Der Dichter beschützt zunächst Mutter und Kind, möchte aber das Neugeborene der vor der Zimmertür wartenden Menge zeigen. Die Mutter ahnt das Schlimmste und verweigert dies. Doch der Dichter wartet. Sie kämpft gegen ihre Müdigkeit. Aber irgendwann ist sie eingeschlafen, der Dichter nimmt das „Jesus-Kind“, trägt es hinaus, die Masse ergreift es, tötet es, opfert es, verspeist sein Fleisch in einem kannibalistischen und orgiastischen Ritus. Als die Frau aufwacht, sieht sie ihr Kind in den Händen der Menge, kann aber das Opferritual nicht verhindern. In ihrer Wut und ihrer Verzweiflung zündet sie das Haus an, indem sie die Öltanks im Keller in Flammen setzt. Mehrfach war sie diesem Ort der Energie schon näher gekommen, ohne ihn zu betreten. Nun in ihrer wütenden Verzweiflung tut sie es, vereinigt sich mit dieser Kraft, in der sie doch auch selbst verbrennen wird. Hatten wir zu Anfang des Films Szenen gesehen, welche die Frau beim Wiederaufbau des Hauses zeigten, hält der völlig unversehrte Dichter nun seine an den Verbrennungen sterbende Frau im Arm. „Just let me go“, sagt sie. „There is a last thing“, antwortet er. „I have nothing to give.“ – „Your heart. It’s still there, isn’t it?“ – „Go ahead. Take it.“ Seine Hände dringen in ihre Brust und reißen das Herz heraus. Er drückt es zusammen und der Zuschauer beginnt zu ahnen, dass es sich in seiner Faust zu einem Glasblock verwandelt wie der, den wir im ersten Teil auf einem kleinen Altar über dem Kamin des Arbeitszimmers des Dichters gesehen hatten. Das Paar, das zu Besuch kam, zerbrach es. Wir haben es also mit einem seriellen Zusammenhang zu tun. Und tatsächlich endet der Film wie er begonnen hatte: Eine junge Frau erwacht im Morgenlicht in einem Ehebett, wendet sich um und greift vergeblich nach dem Mann, den sie an ihrer Seite wähnte: „Baby?“ ruft sie ihn leise und etwas ängstlich.

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Aronofskys Film ist voller Zitate aus der Geschichte der christlichen Malerei und Verweise auf das Alte Testament. Er erzählt die Geschichte der Gabe zwei Mal, das erste Mal als alttestamentarisch-jüdische, das zweite Mal als christliche. Die Frau ist in beiden Fällen die, die gibt: das Haus und den Körper, sie ist Umhüllung und gibt den Ort und auch die Zeit. Nur durch sie gibt es eine Erneuerung. Auch in der ersten Episode wird die Gabe missbraucht, aber das Haus wird nicht zerstört, die Frau kann es letztlich verteidigen. Die eigentliche Übertretung geschieht hier als Verführung durch die Mutter und folgendem Brudermord um das Erbe, der als Konkurrenz um die Liebe der Mutter, also Evas, beginnt, denn sie war es, die den Vater veranlasst hat, dem einen das Eigentum zu überschreiben und nicht dem anderen. „You are giving, and you are giving and you are giving, and it’s just never enough“, sagt die ältere zur jüngeren Frau. Alle Gäste verhalten sich so, auch ihr Mann, der sich um die Wiederherstellung des Hauses nicht kümmert, es bedenkenlos öffnet und damit ihre Gastfreundschaft missbraucht. „All I’m trying to do is to bring life into this house“, brüllt der Schriftsteller im zweiten Durchlauf seine schwangere Frau an. „Open the door to new people, new ideas“ Und jeder Gast übertritt die Grenze der Gastfreundschaft, die allerdings, folgt man Derrida, in sich keine Grenze haben kann (Derrida 1997). Sie ist eine Gabe, und darin eben nicht einer Abwägung oder einer ZweckMittel-Relation unterworfen. Der Gast ist immer ein Fremder, sonst ist er nicht Gast im vollen Sinne. Und nur insoweit der Gast ein Fremder ist, ist Gastfreundschaft eine Gabe. Die gemeinsame Wortherkunft von guest, ghost, host, hostility, hospitality ist nicht ganz unumstritten, aber sie liegt nahe. Die Frau braucht auch in der ersten Episode sehr lange, um den Gästen ihre Gastfreundschaft aufzukündigen, sie aus dem Haus zu werfen, aber es gelingt ihr. In der zweiten, der christlichen Episode gelingt das nicht mehr, weil sie nun einen Sohn gebiert, weil sie nicht mehr nur einen Ort gibt, der Leben ermöglicht, sondern Leben selbst, Leben, das sie vergeblich zu schützen versucht. Aus der Geschichte der Übertretung der Gebote, für die die Frau in ihrer Körperlichkeit und Sexualität verantwortlich gemacht wird, ist eine Geschichte der Opferung geworden. Sie ist damit anders in die Bewegung der Übertretung und des Opfers einbezogen: Dass sie schwanger wird und ein Kind gebiert, nimmt ihr noch mehr als zuvor jeden Ort. Sie wird zu einer Art Durchlauferhitzer der Religion: Sie hat das Kind, unbefleckt empfangen, körperlos und damit auch ortlos. Nun wird ihr aber auch das, was ihr gleichwohl noch einen wenn auch prekären Ort geben könnte, eben das geborene Kind, genommen und dem symbolischen Kreislauf wiederzugeführt, dem Gott geopfert, getötet und verschlungen. Die Frau ist nur noch gebende, ortlos, während sie im ersten, alttestamentarischen Durchgang zumindest noch ihren Körper als erotisches Objekt

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hatte. Michelle Pfeiffer als Eva insistierte darauf. Die christliche Mutter ist aber nur Medium, Medium Gottes, Durchlauferhitzer des Monotheismus. Von daher gibt sie auch weniger, als dass es Gott ist, der durch die Jungfrau Maria hindurch gibt. So wird ihr Körper von zwei Seiten negiert: Sie hat das Kind körperlos empfangen und sie hat auch keinen Ort mehr, der ihren Körper aufnehmen würde. Und zugleich situiert sich ein männlicher Herrschaftsanspruch auf den Raum. Vor allem Luce Irigaray hat darauf hingewiesen, dass die Frau für den Mann mal als Umhüllende, mal als Objekt seines sexuellen Begehrens erscheint. Der Mann kann diesen Widerspruch nicht lösen. Denn wenn die Frau für ihn Objekt ist, steht sie ihm gegenüber, kann sie nicht mehr Umhüllung sein. Die Frau könnte ihm einen Körper geben, wenn er ihr einen Körper gibt. Dazu müsste er aber lernen, auf die Umhüllung zu verzichten, auf die Frau als gebende Mutter (Irigaray 1991: 19). Dieser Widerspruch kommt unter anderem in der Spaltung des Bildes der Frau in das der gebenden Mutter und das des Sexualobjekts Hure zum Ausdruck, wie er sich – nicht ausschließlich aber insbesondere – in von den monotheistischen Religionen geprägten Kulturen findet. Doch gilt das etwas verschoben auch für die Frau, die die umhüllende Macht der Mutter im passiven wie im aktiven Verhältnis eben wiederum nur aufbrechen kann durch das Begehren des Vaters und Mannes. Diese maligne Verzahnung könnte vielleicht gelöst werden, wenn das Ereignis der Beziehung der Sozialität und der Liebe, also das Ereignis der Gabe selbst, als ein uns selbst vorgängiges verstanden werden könnte, als eines, das nicht gegenständlich fassbar ist, weil es eben nur die Potentialität des Ereignisses der Relationalität ist. Als dieses Dritte ist es ein in Erscheinung bringendes, nicht aber ein selbst Erscheinendes. Wenn die Frau in der Eröffnungsszene von Mother! wie – nun in der reinen Wiederholung – in der Schlussszene des Films aufwacht, ist der Schriftsteller außer Haus, macht einen morgendlichen Spaziergang, um auf Ideen zu kommen, wie er sagt. Im Laufe des ersten Teils verlassen die Männer immer wieder das Haus. Adam, der Arzt ist, bekommt in ihm Hustenanfälle, als ob er ersticken würde. Weil das umhüllende Dritte nicht als Gegenüber adressiert werden kann, wird es als nicht Greifbares und Einengendes erfahren: als Gabe unterläuft es das vor allem männlich konnotierte Streben nach Autonomie. Das wiederum muss vom Mann als Kastration und ödipaler Konflikt erlebt werden. Die Kraft, die Frau zum erotischen Objekt zu machen, erfährt er erst in der Bruderhorde. Im ersten, gewissermaßen alttestamentarischen Teil beschwört der Schriftsteller einen Männerbund der freien Geister, was ihn im Verbund der Schwangerschaft der Frau als Beweis seiner (illusionären) Vaterschaft immerhin befähigt, zu schreiben. Dass das Schreiben phallisch konnotiert ist, macht der Film in den vielen seiner Einstellungen auf den Füllfederhalter des Mannes nur zu deutlich.

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Im zweiten, neutestamentarischen Teil des Films muss das Wunder der Gabe dann durch das Opfer beglichen werden. Der, der ein Leben opfert, maßt sich in Stellvertretung Gottes die Souveränität des Tötens an. Wenn das Zeit geben, Leben geben, wenn die Geburt die eine Grundfigur der Übertretung ist, dann ist das Tod geben (Derrida 1994) die andere. Das Gegenüber zur Gabe des Lebens ist das Töten. Wir kennen die Definition, die Michel Foucault dem Souverän gegeben hat: Es ist der, der über Leben und Tod entscheidet (Foucault 1999: 282 ff). Er kann nicht Leben geben, aber eben den Tod. Der Schriftsteller kann keine Körper zur Welt bringen, nur Worte. Und die Geste des Souveräns besteht darin, diesen Akt höher zu hängen als den Akt des Lebens: Die Stimme des Toten, das sei das eigentliche Leben, das sei Menschlichkeit, sagt der Schriftsteller in Mother!. Eine Selbstermächtigung, die entweder nur durch die selbst ausgeübte Gewalt des Tötens möglich ist oder indem das eigene Wort diese Gewalt verleugnet.

K ÖRPER DER H ERVORBRINGUNG Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Gabe des Zeit geben und dem souveränen Akt des Tod geben. Denn während die eine Übertretung etwas schafft, eine Relation im Mauss’schen Sinne, einen fait social total, einen neuen sozialen Zusammenhang, der aber nicht einfach kalkulierbar ist, der emergiert und nicht produziert wird, ist das Tod geben immer produziert, kalkuliert und zerstörend. Der Souverän ist jemand, der die Übertretung nachahmt. Er gehört eigentlich der zweiten Gattung Platons an, ist nicht formgebend, gestaltend, sondern nachahmend. Der Souverän gibt nicht, er ahmt das Geben nach. Er tut nur so, als würde er das kosmische Außen berühren können. Tatsächlich ist er immer in der Ordnung. Schon bei Hobbes ist er immer in der Ordnung und immer in der Sprache. Deshalb ist sein Genuss auch obszön. Alle Übertretung geschieht im Namen des Gesetzes. Und er braucht das Gegenüber als Umfassung und zugleich als Bedrohung, wie es Hobbes mit dem Naturzustand formuliert, der aber nicht positiv gesehen wird, sondern als etwas Ungenügendes (Hamacher 2004: 222). Demgegenüber binden sich die Menschen an das vertraglich gegebene Wort, das dann von der Fiktion des Souveräns repräsentiert wird. In dieser Differenz zwischen der Potentialität der Gabe und der Fiktion des Souveräns, die sich im Opfer manifestiert, steckt auch die ganze Differenz zwischen dem Theater als Kunst und der Theatralität und Performativität des Rechts (vgl. Vismann 2011) und einer vom Recht abgeleiteten Politik. In zweiter Linie macht sie aber auch ein Theater des Erscheinens und ein Theater der Repräsenta-

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tion unterscheidbar. Das Theater entsteht aus der einseitigen Unterscheidung zwischen Chor und Szene bzw. Protagonist. Dadurch emergiert eine Bühne und ein Bild. Sie eröffnen eine Möglichkeit der Betrachtung und der Reflexion. Damit ist auch die Möglichkeit der Bewertung gegeben, aber dies ist ein zweiter Schritt, der keineswegs notwendig mit der Bühne oder dem Bild verbunden ist. Und vor allem: Die einseitige Unterscheidung des Theaters selbst schließt ein Urteil des Gezeigten durch äußere Kriterien nicht ein, sie hält sich in der Spannung ihrer Emergenz als Erscheinendes. In der Theatralität des Rechts geht es aber darum, dass das Vorführende dem Zweck der Urteilsfindung nach festgelegten Kriterien untergeordnet und letztlich auch nur insoweit zugelassen wird, als es dieser dienlich ist. Übertragen auf das Theater selbst bedeutet das, dass es umso mehr zu sich und seiner Potentialität findet, je mehr es seiner eigenen Bewegung der Hervorbringung szenischer Konstellationen und Bilder vertraut. In Mother! geht es nicht um Theater, sondern um das Schreiben und in der Übertragung um die Kinematographie. Durch die reine Wiederholung der Szene wird die Kritik deutlich vorgetragen: Die Selbstinszenierung des Künstlers als Genie trachtet nach der zumindest symbolischen Zerstörung, Aneignung und Selbstzuschreibung dessen, was gibt, aber nicht fassbar ist. Und eben das tut der Dichter: Er ergreift das Herz, wodurch es sich in einen Block Glas verwandelt: durchsichtig und doch sichtbar, fassbar und doch sich entziehend, taktil undurchdringlich und visuell unbestimmbar, hart und zerbrechlich. Eine Verkehrung dessen, das Leben gibt, in einen zerbrechlichen Fetisch. Mother! zeigt nicht das Unfassbare, sondern seine Zerstörung durch die kulturellen Traditionen des Monotheismus. Er führt das Opfer vor, stellt es aus mit seiner Verleugnung der Gabe. Mit dem Opfer des Sohnes in der christlichen Tradition wird der Körper der Frau entwertet, das Wort Gottes und das Wort des Dichters drängen ihn zurück und ordnen die Gabe des Lebens der machtvollen Fiktion einer Figuration des Außen unter. Wenn wir aber die ästhetische Erfahrung des Theaters mit Ulrike Haß als eine einseitige Unterscheidung zwischen Chor und Protagonist verstehen können, in der etwas sichtbar und gezeigt wird, was zuvor Teil einer Szene war, dann ließe sich das Theater metaphorisch als Körper der Hervorbringung verstehen. Das gilt für den Film noch stärker. Die für das Theater konstitutive Trennung von Chor und Protagonist war im bürgerlichen Theater mit seiner Guckkastenbühne fast unsichtbar und deshalb vergessen worden. Das Kino greift sie wieder auf und nimmt sie sogar weit zurück, indem es chorische Figuren wie Chaplin auf die Bühne bringt und, vor allem, indem es den Zuschauer in ein Wechselspiel von Betrachtung und Immersion versetzt. Das hat übrigens schon Walter

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Benjamin deutlich gesehen, wenn er in der ersten Fassung seines Kunstwerkaufsatzes schreibt, dass der Film „eine Synthese der scheinbar so ganz verschiedenen Zerstreuungen vornimmt, die auf dem beruhen was vor einem und auf dem was mit einem geschieht.“ In der Tragödie seien diese beiden Zerstreuungen dissoziiert, aber „der Film macht sie ausdrücklich rückgängig“ (Benjamin 2013: 2021). Mehr als im Theater und dynamischer als in der Performance bewegen wir uns im Film auf einer Schwelle zwischen dem, was vor und was mit uns geschieht. Auch ist das Kino ein durchscheinender, bewegter, fluider Körper, ein Traumkörper wie der, den die Frau in Mother! als ihr Haus erfährt.

L ITERATUR Aronofsky, Darren: Mother! (USA 2017). Bataille, George (1994): Die Erotik, München: Matthes & Seitz. Benjamin, Walter (1989 [2., erw. Fassung 1936]): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften Band VII, 1. hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 350-384. Benjamin, Walter (2013): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Kritische Gesamtausgabe Band 16, hg. v. Burkhardt Lindner, Berlin: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bradshaw, Peter (2017): „What the F? How Mother! joined the ‘bad movie’ club“, in: The Guardian vom 18.09.2017. Dath, Dietmar (2017): „Im Gefängnis muss man lügen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.09.2017. Deleuze, Gilles (1995): Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1993): Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink. Derrida, Jacques (1988): Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen. Derrida, Jacques (1990): Chra, Wien: Passagen. Derrida, Jacques (1994): „Den Tod geben“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 331445. Derrida, Jacques (1997): Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen.

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Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hamacher, Werner (2004): „Wild Promises. On the Language ‚Leviathan‘“, in: The New Centennial review IV/3, 215-245. Haß, Ulrike (2014): „Die zwei Körper des Theaters. Protagonist und Chor“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich-Berlin: Diaphan, 139-159. Irigaray, Luce (1991): Ethik der sexuellen Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kleist, Heinrich von (1987): „Über das Marionettentheater“, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe Band 2, München: DTV, 338-345. Mauss, Marcel (1925): „Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques“, in: L’Année Sociologique I/1923-1925, Paris. Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Platon (2006): Sämtliche Werke Bd. 4/Timaios. Kritias. Minos. Nomoi, Reinbek b. Hamburg: rororo. Ross, Gary: The Hunger Games (USA 2012). Vismann, Cornelia (2011): Medien der Rechtsprechung, hg. v. Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Geben und Vergeben. Der Avatar als Palimpsest des Selbst Begegnungen mit der Installation The Art is Present1 A NTON R EY

Abstract Giving and Forgiving. The Avatar as a Palimpsest of the Self. Encounters with the Interactive Installation “The Art is Present”: The smallest possible theatre is a theatre not without spectators or without actors, but one in which the spectator perceives himself as actor, confronting himself as his own performer. We built a confessional, in which the visitor encounters his own avatar and confessor instead of a priest. Here, a gift of experience occurs in which there is no tangible reciprocity, no form of mutual feedback loop, but an outside-in experience of which we are hardly ever relieved in everyday life. A contemplation to examine, reject or affirm us when seeing ourselves as someone else. What is revealed in this self-contained installation, where we suddenly face our own avatar? ‘The Art is Present’ breaks with the conventions of a scientific conference and calls for contemplation and self-encounter. The artistic experiment makes us aware of time and self – time that is apparently lacking in the receipt of the gift of one’s conscious alter ego. Time given, but seldom taken.

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The Art is Present. Die Installation bezieht sich als „Space of the Art“ auf Marina Abramovi’s The Artist Is Present (MoMA, 2010/2012) und zieht eine konzeptionelle Linie mit den Mitteln der Personalisierung. The Art is Present. Idee und Durchführung: Anton Rey. Skizzen: Salomon Wicki, BA Szenografie ZHdK. Konstruktion: Daniel Schuoler, Stephan Schwendimann. Programmierung: Raphaël Jecker, ZHdK; Andrew Sempere, EPFL.Video Technologie und Montage: Michel Weber, ZHdK.

294 | A NTON R EY Die Kontemplation und die Tätigkeit haben ihre Scheinwahrheit; aber erst die von der Kontemplation ausgesendete oder vielmehr die zu ihr zurückkehrende Tätigkeit ist die Wahrheit. FRANZ KAFKA2

Unmittelbar nach dem Eintritt, direkt hinter dem Haupteingang und ebenso versteckt wie offensichtlich, stand an zwei Tagen während einer internationalen Tagung3 ein Beichtstuhl. In seiner Ausführung schlicht, bar aller Insignien, dennoch unverkennbar an die katholische Provenienz erinnernd, mit drei roten Vorhängen; der mittlere bis zum Boden reichend. Im Rahmen des Tagungsmottos „Theater als Tausch und Gabe: Gabentheoretische Perspektiven“ schien ein Beichtstuhl als ‚Stage of the Art‘ der Selbst-Avatarisierung gut zu passen und wurde dafür aus der Zwingli-Stadt Zürich extra hergefahren. Auf einer Sitzgruppe vor dem Beichtstuhl lag ein Stapel von Flyern, mit Erläuterungen. „Die Installation, ein Beichtstuhl, wo Einzelpersonen sich (als Avatar) konfrontieren, beobachten und reflektieren können, ist rundum konfessionsfrei, solipsistisch und für multiplen Gebrauch konzipiert.“, stand darauf. Und in Majuskeln: BITTE NUR EINZELN BETRETEN / IHRE PERFORMANCE WIRD NICHT AUFGEZEICHNET, WEDER ZUR ERINNERUNG, NOCH ZUM AMUSEMENT, NOCH ZUR WEITERBILDUNG ODER VERBESSERUNG DES ANGEBOTS / NEHMEN SIE SICH ZEIT / KOMMEN SIE WIEDER

Man betrat einen der seitlichen Schränke, wo sich statt einer Kniebank eine karge Sitzbank und statt eines vergitterten Fensters für das Sündenbekenntnis ein Bildschirm fanden. Eine kaum versteckte Kamera spiegelte das Angesicht des Eingetretenen auf den Screen zu einem Avatar, welcher sich in vorher festgelegten Abständen verwandelte. Das Konzept erwartete offensichtlich nur Soloauftritte. Solipsistische Begegnungen in einer solitären Zone, aus der je individuelle Biographien reflektiert

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Kafkas Dilemma zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen gesellschaftlicher Vernetzung und religiöser Verortung findet sich in mehreren Stellen im vor einhundert Jahren entstandenen Das vierte Oktavheft. Hier zit. aus Kafka 1983: 86. „Theater als Tausch und Gabe. Gabentheoretische Perspektiven“, Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZiF), 26. – 28. Oktober 2017 https:/www.uni-bielefeld.de/ZIF/AG/2017/10-26-Hentschel.html (15. Juni 2018).

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werden sollten. Konfessionsfrei und äußerem Einfluss entzogen, weil niemand, auch kein Ohr eines Priesters oder anderen Stellvertreter Gottes der Beichte lauschen würden, und für multiplen Gebrauch bestimmt, weil BesucherInnen im Rahmen der Öffnungs- und Tagungszeiten mehrmals eintreten könnten: In die linke Seite, wo man sich nach einer Weile als Avatar auf dem Bildschirm wiederfinden konnte, oder in die rechte Seite, wo in einem mehrminütigen Loop Filmszenen mit angstverzerrten Gesichtern zu sehen waren, tonlos und unkommentiert. In den mittleren Teil des Beichtstuhls war der Zutritt verboten, was dazu führte, dass praktisch alle Gäste sich erkundigten oder hinter den mittleren Vorhang lugten um sich zu versichern, dass da niemand säße und lauschte. Die Abgeschiedenheit des Alleinseins sollte auf keinen Fall ohne vorherige Versicherung belauscht oder beobachtet werden. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Beobachtung der Reaktionen aus der linken Box. Auch hier gab es kaum eine/n BesucherIn, der/die nicht vorher und danach, gelegentlich auch während des Besuchs von Glaubensbekenntnissen oder zumindest von religiösen Fragen und Erinnerungen eingeholt wurde4. Schon während einer Testphase5 vor der Bielefelder Installation hatte sich in Gesprächen mit BesucherInnen herausgestellt, dass die Form des Beichtstuhls und der rote Vorhang starke Assoziationen auslösten, verstärkt durch das Alleingelassensein. Nur wenige Menschen vermochten sich dem Experiment vorurteilsfrei auszusetzen. Die Absenz einer kirchlichen Instanz wurde durch die Präsenz einer anonymen Stellvertretung ersetzt, deren Regeln weitgehend unbekannt waren. Wie sollte man sich hier verhalten? Was wäre zu beichten? Wer lauscht? Auch in Bielefeld blieb etwa ein Drittel der TagungsteilnehmerInnen auf sicherer Distanz zur ‚Stage of the Art‘, wie das begehbare Kunstobjekt auf dem Flyer beschrieben war. Etwa die Hälfte der Anwesenden betrat es zwar, aber nur mit größter Vorsicht. Es schien fast als hätten sie die Absicht, sich dieser Begegnung nur spaßhaft auszusetzen. Diese ‚PönitentInnen‘ wollten keine sein, sondern ihren Mut und ihre Überlegenheit beweisen, indem sie laut scherzend entweder den Vorhang offen ließen oder hinter diesem vernehmbare Kommentare von sich gaben wie „Wo muss man da drücken?“ und „Passiert noch etwas?“ Aussagen, die sie in einem katholischen Beichtstuhl gewiss unterlassen hätten.

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Laut Protokoll der Bielefelder Mitarbeiterin Liska Sehnert, die Aufenthaltsdauer, Reaktionen und Kommentare aller Beichtstuhl-ProbandInnen notierte, erreichten von über vierzig BesucherInnen nur zwei Studentinnen (Fachbereich Sozialwesen) ohne Tipps die letzte Stufe. „Die beiden waren schätze ich über 40. Nach mehrmaliger Erklärung hat es auch bei zwei Professorinnen geklappt.“ (Email vom 28.11.2017) ZHdK, Tag der Forschung, 12.12.2015 und ShowRoom Z-Plus, 4.11.2016, Zürich.

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Hier aber suchten sie in ständigem Kontakt mit der Außenwelt zu bleiben. Das würde ihrer Performanz eine gewisse Rückendeckung verleihen. Von den insgesamt 49 Personen, die sich hineinsetzten und den Blicken der Außenstehenden entzogen, sind 19 weniger als eine Minute lang sitzen geblieben. Von den verbleibenden 30 BesucherInnen haben immerhin 9 eine Dauer von über fünf Minuten kontemplativer Ruhe gefunden. An dieser Stelle entpuppte sich eine zweite Erkenntnis betreffs des mit der Installation konzipierten Solipsismus. Die „philosophische Lehre, nach der die Welt für den Menschen nur in seinen Vorstellungen besteht“ (Duden 2006: 943), trat nämlich hier nur sehr bedingt ein, weil der/die BesucherIn durch die ungewöhnliche Situation mit besonders wachen Sinnen der Aufforderung nach Kontemplation und stillen Gedanken nachkommen sollte. Das kam einer unerwarteten Entschleunigung gleich, im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung, wo für gewöhnlich im Gegenteil Auftritts- und Debattierkompetenzen gefordert sind. Aber der ausgelegte Flyer, der in der Bielefelder Fassung sogar den vieldeutigen Hinweis „Bitte beachten Sie, dass Ihre Handlungen aus Qualitätsgründen aufgezeichnet werden“ vermied, weil er bei vorgängigen Testversuchen nur Verunsicherung provoziert hatte, wirkte nicht vertrauenserweckend genug. Am Doppeldeutigsten muss schließlich auf dem Handout die Wendung „für multiplen Gebrauch“ gewirkt haben. Natürlich durfte sich jeder mehrfach hineinsetzen, so die Schlange nicht zu lange wäre. Aber vielleicht würden die Bilder doch aufgezeichnet, säßen irgendwo hinter dem Beichtstuhl andere, die von der Situation „Gebrauch“ machen würden? Würde die Kamera, die den/die ZuschauerIn schon beim Eintreten mit einigen Sekunden Verzögerung deutlich erkennbar aufzeichnete – würde diese die Bilder gleichzeitig weltweit verbreiten? „Ihre Performance wird nicht aufgezeichnet“ kann schließlich jeder behaupten, „Weder für Sie, noch für uns, noch für Studienzwecke oder unser Amüsement“. Das machte vielmehr stutzig. Da es sich um eine interaktive Installation handelte, also Kunst, glaubte schließlich niemand diesen Ansagen. Man betrat den Beichtstuhl, wenn überhaupt, mit Skepsis und auf mancherlei Überraschungen vorbereitet. Daran hinderte auch der letzte, wichtigste Hinweis nicht, fett und in großen Lettern gedruckt: LASSEN SIE SICH ZEIT („Take Your Time“). So ehrlich er gemeint war, so misstrauisch stimmte er. „Der Mann und seine Person fragten sich beinahe gleichzeitig: ‚Wer ich?‘ – ‚Wer ich?‘“ (Strauss 2016: 81)

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Abb. 1: Der Beichtstuhl im ZiF, Bielefeld 2017, © Anton Rey

Dieser Beichtstuhl war weder als Amüsement, noch als Falle gedacht, wenn auch das Nachdenken über Webcams durchaus im Interesse der Erfinder lag. Die Idee zu diesem Beichtstuhl – oder auch „Beichthaus“, wie ein Zürcher Schreiner beim Markieren der Kulissen auf eine der Rückseiten schrieb – die ursprüngliche Idee entstammte dem Wunsch, das kleinstmögliche Theater zu entwerfen, in welchem der/die ZuschauerIn gleichzeitig der/die PerformerIn wäre. Sich beobachtend, sich belauschend, sich selber wahrnehmend als eine andere, oder als ein Anderes – was wäre hierzu geeigneter als ein kleiner Raum, in dem man sich selbst beiwohnt? Zwar würde das auch zum Beispiel ein Fotoautomat können, in der Art wie sie noch in einigen Bahnhöfen und Passbüros stehen, wo schnell ein Portrait, ein Erinnerungsbild oder offizielles Selfie hergestellt werden kann. Aber der Fotoautomat hält vom Gesicht nur einen Augenblick fest und ist als Raum relativ neutral, etwa wie die Telefonzelle. Der Beichtstuhl hingegen ist mit einer religiösen Konnotation belastet und voller Historiographie, die sich aus der je individuellen Erfahrung und Zugehörigkeit speist. Er weist als selbstbesinnendes Kommunikationstool unmittelbar auf den katholischen Glauben und hat Jahrhunderte geprägt. Im Beichtstuhl sitzt oder kniet der Einzelne, um seine Vergehen zu gestehen. Die traditionelle, fixe Struktur mit dem Pater als Ohr Gottes in der Mitte macht diesen als stellvertretende Instanz zum Vermittler. Dieser hört sich die Beichtgeschichte des Sünders an und sühnt die Sünde durch die Vergabe einer

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Strafe, die der Beichtende selbstverantwortlich auszuführen hat. Eine Anzahl Vaterunser, Mariaseigebenedeit oder ein anderer Sühnevollzug. Die Ehrfurcht weist aber auf die letzte Instanz hin. Gott ist da, bei aller Säkularisierung und wissenschaftlichen Fragwürdigkeit. Der Bielefelder Beichtstuhl war konfessionslos. Kein Kreuz, nirgendwo. Niemand saß in der Mitte und nahm die Beichte ab. Wer also wäre das Andere? Und welche Sicherheit haben wir im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert, welche Daten wo gespeichert und vermittelt werden und welche Kameras oder Mikrophone nebst den sichtbaren versteckt wären? Wer sieht uns, wenn 900 Milliarden Fotos pro Jahr ins Netz gestellt werden? Ist mein Selfie ein künstlerischer Akt oder eine Form von Selbstwahrnehmung? Konnten sich die TeilnehmerInnen der Tagung sicher sein, ob nicht ihr Auftritt wie ihre Email-Korrespondenz irgendwo durch Programme oder von unbekannten Interessengruppen ausgewertet würden? Was sie sich selbst in diesen Momenten des Alleinseins schenken, vergeben oder verpassen würden, blieb ihr Geheimnis. Auffallend viele Kommentare schienen eine Unsicherheit mit Scherzen zu kommentieren oder offen zu verweigern, selten aus religiösen Beweggründen, wie dies anlässlich der gleichen Installation in Venedig6 der Fall war. Hat jemand im Zeitalter moderner Kommunikation die Rolle des Beichtvaters eingenommen? In diesem Beichtstuhl durfte geschwiegen werden, wurde Schweigen empfohlen. Man saß sich selbst wortlos gegenüber, traf, nach einer kurzen Musterung des funktional ausgestatteten Innenraumes auf sich in Form eines Bildschirms, da, wo sich für gewöhnlich das Sprechgitterchen befindet. Das Gegenüber hinter diesem Screen war: man selbst. Ein digitales Bild, zuerst ein Außenbild der vor wenigen Sekunden Eintretenden, dann in Echtzeit das eigene Gesicht, welches sich, je nach Art der Kontemplation und Hektik der Kopfbewegungen, in ein Antlitz mit verschiedenen Gesichtsausdrücken und -verzerrungen verwandelte. Aber nur bei jenen, die sich ihrer inneren Ruhe vergewissern und der digitalen Spiegelung hingeben. Wie erwähnt und wie zu erwarten war, schauten praktisch alle ProbandInnen zuerst in den Mittelteil um zu kontrollieren, ob da nicht doch jemand sitze. Ein Kontrollblick, den sich in einer Kirche im Gestühl und bei einem katholischen Beichtstuhl niemand geleistet hätte. Die Instanz im Halbdunkeln, durch das Gitter geschützt, akustisch wahrgenommen, nicht erblickt, nie betrachtet, nie durchschaut und immer anonym – eine Stimme, die Rat erteilt, Absolution, Vergebung im Namen Christi – im Bielefelder Beichtstuhl war nur eine innere Stimme zu hören. Bei diesem stummen Zeugnis antwortete auch nach längerer Zeit keine

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The Palimpsest of Selves, Research Pavilion Giudecca, Venice 29.7.2017.

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Seelsorge, sondern verwandelte sich das digitale Portrait allmählich in fremde Bilder des eigenen Gesichtes. Diese schauten zurück im verschobenen Winkel zwischen eigener Blickrichtung und Kameraposition. Man saß, schaute, wurde gesehen. Bei einigen ProbandInnen stellten sich stille Wut, Ekel, Angst, Glück, oder Traurigkeit ein. Erfolg im Sinne weiterführender Levels und wechselnder Selbstporträts konnte ausschließlich durch möglichst aktionsfreie Ruhe provoziert werden. Selbstgespräche mündeten einige Male in schallendes Gelächter. Jene BesucherInnen, fast immer Frauen, denen dies unkatholische Gebaren widerfuhr, mochten im Anschluss trotz bester Laune nicht erzählen, was ihnen geschehen war. In unserem Zeitalter der globalen Kommunikation sind Momente, die intime Bereiche der Selbsteinschätzung zu isolieren vermögen, unsicher, flüchtig, ephemer, schwer zu fassen. Seiner gewahr werden im halböffentlichen Raum ist eine seltene Gabe. Prozesse der Selbstzertifizierung, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, werden durch elektronische Geräte in unkontrollierbare Darstellungen des Erscheinens geworfen. Die Interdependenzen zwischen diesen mannigfaltigen Bildformen und der Selbsteinschätzung werden immer schwieriger. Traditionelle Orientierungen durch Religion, Familie, Politik, Etikette, Schule usw. verschwinden und werden durch Mittel, die über Web-Interferenz definiert sind, ersetzt. Bin ich das auf dem Bildschirm? Was passiert, wenn ich mich im Gesicht eines anderen finde, wenn ich meine persönlichen Emotionen in den Gesichtsmerkmalen einer anderen finde? Wer ist meine Priesterin in Zeiten der Post-Säkularisierung? Abb. 2: Der Beichtstuhl am Tag der Forschung in Zürich 2015, © Anton Rey

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Das „Beichtstuhl“-Projekt untersuchte Fragen der Selbstgenügsamkeit in einem theatralen Setting, an einem kleinstmöglichen Begegnungsort zwischen KünstlerIn und BeobachterIn, SchauspielerIn und Publikum, einem metamorphosierenden Zwischenraum und Observatorium von Individualität. Die BetrachterInnen wurden gleichzeitig SpielerInnen, AkteurInnen wurden ZuschauerInnen. Erst nach einer Weile verwandelte sich das Gesicht zu einem Avatar. Und erst später, als letzte Stufe, erklang Musik. Ein georgisches Arbeiterlied, Guruli Naduri. Der kräftige A Capella-Gesang motivierte bei einem Testlauf des Beichtstuhls anlässlich einer Zürcher Tagung im Cabaret Voltaire7 viele Gäste, diese Stufe auch erreichen zu wollen. Sie hörten die Klänge und wollten herausfinden, wie sich diese herbeiführen ließen. Aber je hektischer sie suchten, desto seltener erreichten sie den Gesang. Erst nach etwa fünfzehn Minuten physischer Ruhe stellte sich die visionierte Alterität und damit eine Nabelschau mittels hybrider, theatralischer Selbstkonfrontation ein. Die Kamera wurde zu einem der vielen Augen, von denen wir nicht wissen, wem sie gehören. Der Beichtstuhl referiert aber auch auf ein laufendes Projekt des Schweizerischen Nationalfonds Actor & Avatar.8 Die Installation ermöglicht ein Erscheinen – oder Auftreten – in einer fremdgesteuerten Gestalt als Avatar, künstliche Person und grafischer Platzhalter des eigenen Wesens, als Ersatz für den realen Körper und die Interaktion mit der vertrauten Welt. Welche neuen Blicke ermöglicht diese auf den Zusammenhang von Selbstbild und Fremdbild, auf das Erkennen des Eigenen im Fremden? Gibt es einen Zusammenhang zur Denkfigur der „Maske“9, und kann interaktives Handeln helfen, um deren gewahr zu werden? In diesem „Theater als Tausch und Gabe“ wurden Perspektiven im Selbstgespräch reflektiert. Ein Geben und Vergeben angesichts der eigenen Gesichtsüberschreibung evoziert. Der Avatar als Palimpsest des Selbst und die zunehmend fragwürdigen Unterscheidbarkeiten in der Gesichtswahrnehmung meiner Person und meines Avatars ließen Rückschlüsse auf vielseitige Bezugnahmen zu. Im kleinst möglichen „Theater“ ist man der Virtualität ausgesetzt. Fremd gesteuerte Bildgewalt tritt in der Installation The Art ist Present an die Stelle eines Schauspiels und Schauspielers, der im veritablen Theater auf einer Bühne als

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Pre-Opening at Cabaret Voltaire, Zürich 22.11.2016. Ein interdisziplinäres Projekt zwischen Institut für Theorie, Institut for the Performing Arts & Film und dem Schweizerischen Epilepsie-Zentrum. Leitung: Thomas Grunwald (Klinik Lengg AG, Schweizerische Epilepsie-Klinik), Dieter Mersch (ith), Anton Rey (IPF) https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/432987 (15.Juni 2018). Vgl. den Beitrag von Gert Hofmann zur Gabe der Maske in diesem Band.

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Gegenüber und anderer Mensch zu identifizieren ist. Wer aber hat den Avatar gemacht, wer steuert ihn, was habe ich als Besucher im Beichtstuhl für einen Einfluss darauf, auf mein SelbstBild (ist es überhaupt meines?) als Fremdes? Dabei lautet die philosophische Frage: Was ist der/die Andere? Was bedeuten Gesicht, Antlitz, Maske, wenn diese mir als andere Person, als Ding, als fremdes Wesen, als virtuelle Erscheinung gegenübertritt? Das Setting war hier aufs äußerste intim, die reflexive Selbstbegegnung mit dem eigenen und fremden Gesicht: Schweigend alleingelassen, mir als Avatar gegenüber, mir selbst in einem religiös konnotierten Raum gegeben, in keinem öffentlichen Theater, und doch....? Welche Fragen würden auftauchen? Welche Überschreibungen der Selbstwahrnehmung im Stillen stattfinden? „Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir die Dinge, auf die es am meisten ankommt, nur zu uns selbst sagen, und zwar in einem Dialekt, der den letzten privaten Dimensionen unserer Psyche vorenthalten ist.“ (Steiner 1990: 79) Draußen, in sicherem Abstand, lauschte die wartende Schlange auf Zeichen innerer Vorgänge. Die geringe Entfernung war nah genug, um Bruchstücke monologischer Reaktionen zu vernehmen, aber weit genug, um nichts davon zu verstehen. Nur das gelegentliche Zappeln der Füsse war unter dem roten Vorhang zu beobachten. Bisher ist der Beichtstuhl ein Prototyp. Das eigentlich als Endprodukt konzipierte Artefakt ist noch nicht fertig entwickelt. Die dafür notwendige Programmierung ist so aufwändig, dass sie noch einige Jahre der Weiterentwicklung bedarf. Wir hoffen, den stillen Ort bis 2020 abschließend und in voller Pracht einweihen zu können. Auf der Welt gibt es und gab es immer nur einen einzigen Menschen. Er ist ganz und gar in jedem von uns, er ist also wir selbst. Jeder ist der andere und die anderen. (Genet 1996: S. 51)

L ITERATUR Genet, Jean (1996): Rembrandt – Was von einem Rembrandt übriggeblieben ist, der säuberlich in kleine, viereckige Fetzen zerrissen und ins Klo geschmissen wurde, Gifkendorf: Merlin. Kafka, Franz (1983): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch.

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The Rustavi Choir (1989): Georgian Voices. CD, Label: Elektra Nonesuch, 979224-2. Steiner, George (1990): Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, übers. v. Jörg Trobitius, München/Wien: Hanser. Strauss, Botho (2016): ‚Oniritti‘. Höhlenbilder, München: Hanser.

Autorinnen und Autoren

Adloff, Frank, Prof. Dr., Professor für Soziologie (insbes. Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft) am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorien; Theorie der Gabe; Konvivialität; Zivilgesellschaft; Nachhaltigkeit; Postwachstum. Publikationen: Gifts of Cooperation. Mauss and Pragmatism, London 2016. Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2014 (Hg. mit Claus Leggewie). Vom Geben und Nehmen Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/New York 2005 (Hg. mit Steffen Mau). Annuß, Evelyn, Prof. Dr., Gastprofessorin am Theaterwissenschaftlichen Institut der FU Berlin, Privatdozentin an der Ruhr Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Global Performance Cultures und populäre Kulturen; Theater und Mediengeschichte; politische Inszenierungen und Chorforschung; Performativitätstheorien; Postkoloniale Kritik und Intersektionalität. Publikationen: „kollektiv auftreten“, in: Themenheft Forum Modernes Theater 2017. „Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft?“, in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters, Bielefeld 2016. Diakité, Asma, Dr. phil., leitet die kulturelle Programmarbeit des GoetheInstituts für Subsahara-Afrika. Nach ihrem Studium der Theater- Film- und Medienwissenschaft, Philosophie und Kulturanthropologie in Frankfurt a.M. und Kairo gründete und leitete sie das Künstlernetzwerk Revolution Divine und promovierte nach Forschungsaufenthalten u.a. im Iran und Ägypten zum Begriff der Verausgabung in den szenischen Künsten. Forschungsschwerpunkte: die Rolle der Performancekunst im arabischen Frühling. Publikationen: Verausgabung. Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater, Bielefeld 2017.

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Görling, Reinhold, Prof. Dr., 2002-2018 Professor für Medienwissenschaft an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, gegenwärtig Gastprofessor für Filmwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie; mediale Ökologien; Theorien der Zeit; Migration und Medien; Theorie und Geschichte des Films; Bildlichkeit und Gewalt, Kulturelle Topografien; Psychoanalyse. Publikationen: „Spiel:Zeit“, in: Ders./Astrid Deuber Mankowsky (Hg.), Denkweisen des Spiels, Wien 2017, S. 19 52. Szenen der Gewalt. Folter und Film von Rossellini bis Bigelow, Bielefeld 2014. „Emplacement“, in: Ders./ Vittoria Borsò (Hg.), Kulturelle Topographien. Stuttgart 2004, S. 43 68. Gutjahr, Ortrud, Prof. Dr., Eckprofessur für Neuere Deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Forschungsgebiete: Literatur vom 18. Jhdt. bis zur Gegenwart; Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft; psychoanalytische Literatur- und Filmtheorie sowie Theater und Szenisches Verstehen; Zusammenarbeit mit Theatern und Festivals; Leiterin der Symposiums- und Publikationsreihe Theater und Universität im Gespräch; Mitorganisatorin der Reihe OpernForum. Veröffentlichungen: „Lessings Hamburgische Dramaturgie und die Idee eines diskursiven Theaters“, in: Dies. (Hg.), Lessings Erbe? Theater als diskursive Institution, Würzburg 2017, S. 4568.; „‚Plötzlich angesprochen!‘ Überlegungen zum theatralen Dialog mit dem Publikum“, in: Stephan Kirste et al. (Hg.), Die Kunst des Dialogs. Gedenkschrift für Michael Fischer. Frankfurt a.M. 2017; S. 39-51. Hénaff, Marcel, PhD, † 2018, Distinguished Research Professor of Philosophy and Anthropology; Adjunct Professor of Political Sciences at University of California in San Diego. Research areas: Continental and Political Philosophy; Cultural Anthropology and Cognition. Awarded with the Grand Prize 2002 of Philosophy from the French Academy; the Prize of Philosophy from the Academy of Moral and Political Sciences Paris; the Faculty Research Award, University of California San Diego 2011. He frequently published highly topical essays in Lettre. His work has been translated into Italian, German, Spanish and Korean. Publications: Le don des philosophes. Repenser la réciprocité, Paris 2012. Le Prix de la Vérité. Le don, l’argent, la philosophie, Paris 2002. Hentschel, Ingrid, Prof. Dr., Professorin für Theater und Ästhetik am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Theatertheorie und Gegenwartstheater; Theorie der Gabe; Spiel und Ritualtheorie; Theater und Religion. Publikationen: Die Kunst der Gabe – Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis, Bielefeld 2018 (Hg.). Theater zwischen Ich

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und Welt. Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters, Bielefeld 2016. Im Modus der Gabe – Theater, Kunst, Performance in der Gegenwart, Berlin 2011 (Hg. mit Una H. Moehrke et al.). Dionysos kann nicht sterben. Theater in der Gegenwart, Münster 2007. Hofmann, Gert, Dr. phil. habil., Head of the Department of German at University College Cork, Ireland; teaches German and comparative literature, critical theory and aesthetics. Research areas: aesthetics; comparative literature; critical theory; literary anthropology. Publications: Presence of the Body. Awareness in and beyond Experience, Leiden/Boston 2016 (ed. with Snježana Zori). Schweigende Tropen. Studien zu einer Ästhetik der Ohnmacht, Tübingen/Basel 2003. Miklautz, Elfie, Prof. Dr. habil., Kultursoziologin und Professorin am Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Forschungsschwerpunkte: Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst; symbolische Ökonomie; materielle Kultur; Musikästhetik. Publikationen: Neugier. mehr zeigen, Paderborn 2017 (Hg. mit Wilhelm Berger). Mit Adreis Echzehn: „al niente – a dissolution. Thinking in Images and Sounds“, in: Paolo de Assis et al. (Hg.), The Dark Precursor. Deleuze and Artistic Research (=Image, Space, and Politics, Volume II), Leuven 2017, S. 386-389. Geschenkt. Tausch gegen Gabe. Eine Kritik der symbolischen Ökonomie, München: 2010. Moldenhauer, Eva, geb. 1934 in Frankfurt am Main. Studium der Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte. Seit 1964 Übersetzerin, u.a. von Claude LéviStrauss, Claude Simon, Marcel Mauss, Jorge Semprun, Jean-Paul Sartre, Marcel Hénaff. Auszeichnungen: 1982 Helmut M. Braem-Preis; 1991 Celan-Preis; 2005 nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse; 2007 Wilhelm Merton-Preis; 2009 Prix lémanique de la traduction; 2011 Raymond-Aron-Preis; Chevalier de l’ordre des Arts et des Lettres; 2012 Prix de l’Académie de Berlin 2012. Pyyhtinen, Olli, PhD, Associate Professor at the New Social Research program at the University of Tampere, Finland. Research areas: Social theory; philosophy; science and technology studies; study of art. Publications: The Simmelian Legacy, London 2018. The Anthem Companion to Georg Simmel, London 2016 (ed. with Thomas Kemple). More-than-Human Sociology, London 2015. The Gift and Its Paradoxes, Surrey 2014. Disruptive Tourism and its Untidy Guests, London 2014 (ed. with Soile Veijola et. al.). Simmel and the Social, London 2010.

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Rey, Anton, Prof., seit 2002 Dozent für Theorie und Praxis des Theaters am Departement Darstellende Künste und Film der Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK. 2007 Gründung des Institute for the Performing Arts and Film. Seit 2015 Mitglied im PEEK Board des Österreichischen Wissenschaftsfonds. Dramaturg und Regisseur an zahlreichen europäischen Theatern und Filmsets. Forschungsschwerpunkte: Performative Praxis; Dramaturgien des Alltags; Truth of Emotions. Publikationen: Staging Space. The Architecture of Performance in the 21st Century, Zürich 2019, im Druck (Hg. mit Jeffrey Huang et al.). IPF – Die erste Dekade. 10 Years of Artistic Research in the Performing Arts and Film, Berlin 2018 (Hg. mit Yvonne Schmidt). Roselt, Jens, Prof. Dr., Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Autor und Dramaturg u.a. an der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Berlin, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Staatstheater in Mainz und Stuttgart. Träger des Gerhart-Hauptmann-Preises. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst; Geschichte und Theorie der Schauspielkunst und Regie; Aufführungsanalyse und Probenprozesse. Publikationen: De-/Professionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens, Berlin 2018 (Hg. mit Stefan Krankenhagen). Regietheorien. Regie im Theater, Berlin 2017. Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017 (Hg. mit Christel Weiler). Phänomenologie des Theaters, München 2008. Sansi, Roger, Ph.D., Professor of Social Anthropology at the University of Barcelona, Spain. Research areas: Afro-Brazilian culture and religion; money in Brazil; the concept of the fetish in the Black Atlantic; infrastuctures and the imagination in Barcelona; theories of contemporary art and anthropology. Publications: with Marilyn Strathern: “Art and anthropology after relations”, HAU Journal of ethnographic theory 6 (2) 2016, 425-439. Art, Anthropology and the Gift, London/New York 2015. “The pleasure of expense. Mauss and The Gift in contemporary art.” Journal of Classical Sociology 14 (1) 2015, 91-92. Economies or Relation. Money and Personalism in the Lusophone World, New England 2013. Sorcery in the Black Atlantic, Chicago Il 2011 (ed. with L. Nicolau). Seitz, Hanne, Prof. Dr., bis 2017 Professorin an der Fachhochschule Potsdam, weiterhin in Forschung und Lehre tätig. Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Theaterverfahren; Künstlerische Interventionen; Site specific Art und Performance; Pädagogische und Historische Anthropologie; Performative Research; Post-digital Research. Publikationen: „Sich mit dem Tier ins Benehmen setzen.

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Tiere in den zeitgenössischen Künsten“, in: Johannes Bilstein et al. (Hg.), Tiere. Pädagogisch-anthropologische Reflexionen, Wiesbaden 2018, S. 301-320. „Rahmen geben. Sich inmitten der Kunst versammeln“, in: Tom Braun et al. (Hg.), Illusion Partizipation. Zukunft Partizipation, München 2017, S. 141-152. Silber, Ilana F., PhD, Associate Professor in the Department of Sociology and Anthropology at Bar-Ilan University Israel. Research areas: sociological theory; gift-giving and philanthropy; comparative historical and interpretative cultural sociology. Publications: “Boltanski and the Gift: Beyond Love, Beyond Suspicion...?” Simon Susen et al. (eds.) The Spirit of Luc Boltanski. Essays in the ‘Pragmatic Sociology of Critique’, London/New York 2014, 485-500. “Emotions as Regime of Justification? The Case of Philanthropic Civic Anger.” European Journal of Social Theory 14 (2) 2011, 301-320. “Bourdieu’s Gift to Gift Theory: An Unacknowledged Trajectory.” Sociological Theory 27 (2) 2009, 173-190. Editor of Marcel Mauss’s Essai sur le Don (Hebrew version). Stamer, Gerhard, Dr. phil., Leiter des Instituts für praktische Philosophie Reflex, Vorsitzender der Stiftung Philosophie zur Zeit; Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Philosophie der Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie; Moralphilosophie; Naturphilosophie. Einschlägige Publikationen: „Schillers ‚ästhetische Erziehung‘. Gedanken zum Realitätsgehalt der Ästhetik“, in: Michael Spieker et al. (Hg.), Bildungsphilosophie. Disziplin – Gegenstandsbereich – Politische Bedeutung, Baden-Baden 2017, S. 229-241; „Die Philosophie der Gabe – Gaben ohne Gegengabe?“, in: Ingrid Hentschel et al. (Hg.), Im Modus der Gabe. Theater, Kunst, Performance in der Gegenwart, Berlin 2011, S. 30-46. „Metaphysik und Existenz. Eine philosophische Betrachtung zu dem Filmprojekt Social Dogma“, in: Thomas Kellein et al. (Hg.), Social Dogma, Heidelberg Berlin 2010, S. 150-179. Westphal, Kristin, Prof. Dr. phil. habil., Professorin an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz FB1 Bildungswissenschaften; Leitung des Zentrums für zeitgenössisches Theater und Performancekunst, Studiengang Darstellendes Spiel. Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Phänomenologie; Ästhetik und Bildung; Erziehen und Bilden in der Kindheit; Forschung zur Kulturellen Bildung. Publikationen: räumen. Raumwissen in Natur, Kunst, Architektur und Bildung, Weinheim/Basel 2018 (Hg. mit Birgit Engel). ZWISCHEN Kunst und Bildung. Theorie, Vermittlung, Forschung in der zeitgenössischen Theater-, Tanz- und Performancekunst, Oberhausen 2018 (Hg. mit Teresa Bogerts et al.).

Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Andreas Englhart

Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de