Camouflage: Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914-1945 9783110693201, 9783110652239

Kunst im Krieg? Das Buch zeigt anhand der Geschichte der Camouflage, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überr

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German Pages 304 Year 2020

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Camouflage: Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914-1945
 9783110693201, 9783110652239

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Hannah Wiemer Camouflage

Hannah Wiemer

Camouflage Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914–45

Das dieser Publikation zugrunde liegende Forschungsvorhaben wurde vom Bundesministerium für Bildung und ­Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1412 gefördert. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Ein weiterer Teil der Druckkosten wurde dankenswerter Weise durch den Lehrstuhl von Prof. Dr. Viktoria Tkaczyk, Humboldt-Universtität Berlin, übernommen. Die Stelle, die die Fertigstellung des Buches ermöglicht hat, wurde von der Volkswagenstiftung finanziert.

ISBN 978-3-11-065223-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069320-1 Library of Congress Control Number: 2020933574 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Covergestaltung, Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Einbandabbildung: © Imperial War Museum Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis 7

Danksagung

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Einleitung 1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

31 37 46 63 82 87

Kriegstheater und Kriegsschauplatz – Theatermetaphern im Kriegskontext Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater Mimikry und Moral: Tierhaut als Modell für Kriegsstrategien Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation Kriegsschauplatz als räumliches Konzept des Völkerrechts Imaginationen des entgrenzten Kriegsraums – Paul Scheerbarts Kriegstheater

2. Der Maler Solomon J. Solomon als Camoufleur im Ersten Weltkrieg 101 109 119 131 144 161

Neubestimmung des Kriegsschauplatzes Solomon J. Solomon (1860–1927) – ein Salonmaler beim Militär Sehen lehren – Solomon als Lehrer für Malerei und Camouflage Oberflächenstruktur und Reflexionsfaktor – einen Raum aus Licht und Schatten schaffen Lesbarkeit – die Physiognomik der Kriegslandschaft Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

3. László Moholy-Nagys New Bauhaus (Chicago) und Camouflage im Zweiten Weltkrieg

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Ausgangsituation und Quellenlage: New Bauhaus und School of Design in Chicago Kriegsprogramm der School of Design György Kepes’ Camouflagekurse an der School of Design 1942/43 Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago Stadtlichter: Chicago tarnen

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Schluss

181 187 195 222

281 295 303 304

Farbtafeln Literaturverzeichnis Bildnachweise Register

Danksagung Dass ich dieses Buches schreiben konnte, habe ich vielen Menschen zu verdanken, die mich unterstützt und meine Arbeit ermöglicht haben. Dafür will ich einigen an dieser Stel­ le besonders danken. Helmar Schramm hat mich als mein erster Doktorvater mit seiner inspirierenden Energie, mit anregenden Fragen und überraschenden Leseempfehlungen im Anfangsstadium des Projektes begleitet. Viel zu früh musste ich auf seine Art der Be­ treuung verzichten. Er ist nach schwerer Krankheit im September 2015 verstorben. Umso dankbarer bin ich, dass ich mit Peter Geimer einen neuen Erstgutachter gefunden habe, dessen Rat mir in jeder Phase der Promotionszeit sehr wertvoll war. Das Vertrauen, das er mir entgegengebracht hat, hat mich sehr gestärkt. Mit großer Offenheit für mein ursprüng­ lich in der Theaterwissenschaft angesiedeltes Projekt hat er mich in der Kunstgeschichte willkommen geheißen und mir so den Fachwechsel leicht gemacht. Viktoria Tkaczyk ist mir als Zweitgutachterin meiner Dissertation eine großartige Mentorin geworden. Mit viel Geduld, großem Einsatz und Enthusiasmus hat sie mich beraten und sich meinen Text­ entwürfen gewidmet. Ihre Kommentare und kritischen Fragen zu meinen Überlegungen sowie ihre Art des historischen Forschens haben mir für mein Arbeiten viele neue Türen aufgestoßen. Peter Geimer und Viktoria Tkaczyk ist es außerdem in wunderbarer Weise gelungen, in ihren Kolloquien Räume des wertschätzenden Austauschs zu schaffen. Ich danke den Teilnehmenden beider Kolloquien für die offene Aufmerksamkeit, die mich immer wieder zum Weiterdenken ermutigt hat, und für das engagierte Lesen und Disku­ tieren meiner Entwürfe. Dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) danke ich dafür, dass es die ­Arbeit an meiner Dissertation zu einem erheblichen Teil finanziert hat: durch ein drei­jähriges Promotionsstipendium, durch die finanzielle Unterstützung meiner Archivrei­ sen und durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss für die Herstellung dieses Buches. Darüber hinaus war das ZfL für mich ein wichtiger und prägender Ort des Austausches, an dem ich viele Anregungen erhalten und viel Zuspruch für meine Arbeit erfahren habe. Hier konnte ich immer auf ein offenes Ohr zählen, wenn ich praktischen Rat oder inhaltliche Diskussion suchte. Von großer Bedeutung war für mich auch die „Selbsthilfegruppe“ im „Doktorandenzimmer“ des ZfL, in der wir uns gemeinsam durch die Krisen der Promotions­ zeit manövriert haben. Für die Unterstützung am ZfL danke ich ganz besonders meinen Kolleg*innen und Mentor*innen Sigrid Weigel, Eva Geulen, Stefan Willer, Daniel Weidner, Margarete Vöhringer, Uta Kornmeier, Judith Weiß, Georg Töpfer, Hannes Becker, Stefanie Burkhardt, Denise Reimann, Lukas Pallitsch, Maria Kuberg, Insa Braun, Lisa Schreiber und Elisa Ronzheimer. Claude Haas, Gwendolin Engels, Dirk Naguschewski und Japhet Johnstone haben mich mit viel Geduld, hilfreichen Kommentaren und einem sensiblen Blick für sprachliche Feinheiten bei der Publikation von zwei Aufsätzen unterstützt. Sehr erleichtert hat mir das ZfL-Bibliotheksteam die Arbeit, indem es unermüdlich jede Art von

8

Danksagung

Forschungsliteratur ausfindig gemacht und in die Schützenstraße gebracht hat – dafür danke ich besonders Jana Lubasch, Halina Hackert und Ruth Hübner. Ulrich Plass hat mich in die Welt der German Studies Association eingeführt. Dem DAAD danke ich für die Finanzierung meiner Archivreise in die USA. Wenn es an dieser Stelle auch darum geht, wenig sichtbare Arbeit zu würdigen, dann gilt das ganz besonders für die Arbeit der Archive. Mein großer Dank gilt den Mitarbeiter*innen der Archive, die die historischen Dokumente mit größter Sorgfalt bewahren und es Forscher*innen wie mir ermöglichen mit ihnen zu arbeiten: Ich danke den Mitarbeiter*innen des Imperial War Museum London, des Archivs der National Portrait Gallery London, des Archivs der Royal Academy of Arts, der Special Collections & University Archives der University of Illinois at Chicago, des Art Institute of Chicago, des Harold Washington Library Center der Chicago Public Library, des Chicago History Museum, der Hoover Institution Library & Archives, Karen Reimer von der Renaissance Society Chicago sowie Adam Strohm, Direktor der University Archives and Special Collections des Illinois Institute of Technology. Eine erste Möglichkeit, meine Archivfunde mit einem so kritischen wie zugewandten Publikum zu teilen, hat mir der Workshop Research in Art and Visual Evidence (RAVE) am kunsthistorischen Institut der University of Chicago gegeben – herzlichen Dank dafür an alle Diskutant*innen sowie besonders an Luke Fidler und Chris Zappella, die den Workshop organisiert haben, an meinen Respondenten Max Koss und an Maggie Taft, die mir später wertvolle Anmerkungen geschickt hat. Başar Amca hat mir in Chicago großzügig sein Haus geöffnet. Bahar, José und Max haben mir als Freund*innen den Aufenthalt unvergesslich gemacht. Die Möglichkeit meine Arbeit in verschiedenen Stadien auf unterschiedlichen Fachkonferenzen diskutieren zu dürfen, hat mir sehr viel bedeutet. Dafür danke ich denjenigen, die diese Zusammenkünfte initiiert und organisiert haben: Eva Frey, Fabian Grütter, Max Stadler haben mich zur Konferenz „Designing Things – Engineering the Senses“ bei eikones in Basel eingeladen. Lars Nowak hat mir auf der Tagung „Medien – Krieg – Raum“ an der Universität Erlangen-Nürnberg die Möglichkeit gegeben, erste Ergebnisse meiner Arbeit zur Diskussion zu stellen und im Sammelband zu veröffentlichen. Michalis Valaouris hat mich auf eine Tagung ins Museum für Fotografie in Berlin eingeladen. Joost Joustra hat die Konferenz „Art of the Invisible“ am London organisiert. Die Möglichkeit meine Überlegungen zu Scheerbarts Kriegstheater auf der Jahrestagung der GSA in Pittsburgh vorstellen zu können, verdanke ich den Organisatoren des Scheerbart-Panels Josh Alvizu, Thorsten Carstensen und Robert Leucht. Dem Kollektiv kritischer Wissenschaftler*innen danke ich dafür, dass es mich für einige Monate in sein Büro in der Leinestraße in Berlin-Neukölln aufgenommen hat. Urte Brauckmann vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte danke ich herzlich für ihren großen Einsatz beim Beschaffen der Bilddateien und Bildrechte für dieses Buch.

Danksagung

Großer Dank gebührt meiner Familie und meinen Freund*innen, die in vielfältiger Wei­ se zu diesem Buch beigetragen haben und in der langen Arbeitsphase für mich da waren: Meine Schwester Helena war mein unbestechlicher Vortragscoach; mein Vater mein um­ sichtiger Berater im Wissenschaftsbetrieb; Lotte, Harriet, Flo und Myri haben sich als kluge Lektorinnen einzelner Kapitel des Textes angenommen; Neslihan war meine unersetzli­ che Bibliotheksgefährtin; der Stammtisch in der Filmbar war jeden Mittwoch für mich da, wenn ich ein kühles Getränk brauchte; Tunçay war mein liebevoller Begleiter auf kürzeren und längeren Schreibaufenthalten in Istanbul, Kapısuyu an der türkischen Schwarzmeer­ küste und Siggen in Holstein. Meine Mutter Irmtrud Schweigert hat sich heldinnenhaft durch jede Rohfassung dieser Arbeit gekämpft. Mit ihrer Gabe, vage Ideen und hinkende Wortansammlungen in stich­ haltige Sätze zu verwandeln, hat sie mein Nachdenken und Schreiben geprägt. Ihr Einsatz für mich und mein Projekt und ihr Zuspruch haben mir sehr viel Kraft gegeben. Ihr ist das Buch gewidmet.

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Einleitung Erschütterte Räume: der Kriegsschauplatz im Umbruch Im September 1943 wendet sich das US-amerikanische Office of Civilian Defense mit der sechzigseitigen Broschüre Precautionary Camouflage an die Zivilbevölkerung: Die Infor­ mationsschrift wirbt dafür, sich bei Bauvorhaben schon im Stadium der Planung von Prin­ zipien wie „low visibility“ und „low vulnerability“1 leiten zu lassen – damit Tarnungsmaß­ nahmen nicht, wie bei schon vorhandenen Bauten, nachträglich integriert werden müssen. Entsprechend lautet der Untertitel der Schrift „A Guide for Promoting Low ­Visibility with­ out Dependence upon Artificial Coverings“. Diese Unabhängigkeit von künst­lichen Abde­ ckungen wie mit Tarnungsmustern bemalten Planen oder Netzen soll in erster ­Linie durch dezentrales Bauen erreicht werden. Neu geplante Anlagen sollten in mehreren kleinen Gebäuden auf dem Gelände in unregelmäßigen Formationen verteilt werden, um von oben gesehen weniger ins Auge zu fallen. Zudem verspreche, auch wenn man von den Bedrohungsszenarien des Luftkriegs absehe, eine derart intelligente Stadtplanung ohne­ hin eine höhere Lebensqualität. In dezentralen Baustrukturen gebe es mehr Platz, mehr Grünanlagen und weniger symmetrische Gleichförmigkeit. Das Thema der Camouflage, die in ihren zentralen Entwicklungsphasen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges Gegenstand der vorliegenden Studie ist, lässt sich, wie die Broschüre andeutet, bis in Stadtplanungsszenarien zur Zeit des Kalten Krieges verfolgen.2 Auch in Deutschland wurde noch während des Krieges folgender angesichts des Luftkrie­ ges entwickelter Baugrundsatz verbreitet, der auch die Stadtplanung der Nachkriegszeit prägte: „Die Angriffswirkungen sind um so geringer, je weiträumiger und aufgelockerter die Anlage gestaltet ist.“3 Dies macht deutlich, dass die im Rahmen des Krieges entwi­ ckelten Tarnungsstrategien Praktiken und Analysemuster hervorbrachten, die das Kriegs­ ende weit überdauerten: Sie prägten das Nachdenken über den Anblick einer Stadt aus der Vogelperspektive nachhaltig. Meine Studie Camouflage – Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914–45 nimmt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickel­ ten und theoretisierten Strategien des Täuschens und Verbergens in den Fokus, die dafür richtungsweisend waren. Dabei geht es mir darum, in diesem Kontext bisher wenig wahr­ genommene historische Verbindungen aufzuzeigen und bereits bekannten Formationen neue Konturen zu verleihen. Wie verändert sich der Kriegsschauplatz, wenn sein Äußeres nach strategischen Kriterien gestaltet und inszeniert wird? Auf welche Weise werden da­ bei künstlerische Praktiken kriegsrelevant? Mit seiner Argumentation und seinen bildlich-­ 1 2 3

U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage. A Guide for Promoting Low Visibility without Dependence upon Artificial Coverings, Washington D. C. September 1943, III. Vgl. beispielsweise Charles Waldheim, Landscape as urbanism. A general theory, Princeton, New Jersey 2016. Karl Otto, Luftkrieg und Städtebau, in: Raumforschung und Raumordnung. Monatszeitschrift der Reichsar­ beitsgemeinschaft für Raumforschung, 4/9 (1940), S. 341–344, hier: S. 341.

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Einleitung

1 Grafik „Our Shrinking World“, in: U. S. Office of Civilian D ­ e­fen­se, Precautionary Camouflage, ­September 1943, S. 50

rhetorischen Strategien stellt das Informationsheft Precautionary Camouflage ein kom­ plexes historisches Dokument dar, anhand dessen sich die Problematik der Camouflage und das Forschungsanliegen der vorliegenden Arbeit besonders pointiert entfalten lassen. Ein bemerkenswertes Schaubild skizziert darin die historische Entwicklung, die die beschriebene städtebauliche Umstrukturierung notwendig mache (Abb. 1). Nur indirekt ist dabei Tarnung das Thema. Vielmehr werden hier mit großer Geste die welthistorischen Umstände dargestellt, die laut Broschüre eine vorausschauende Implementierung von Camouflagemaßnahmen erforderten. Gerade diese Begründungslogik macht die Grafik der US-amerikanischen Behörde zu einem für den Rahmen dieser Arbeit besonders auf­ schlussreichen Bild. Denn sie gewährt Einblick in ein größeres, auch bildlich verfasstes Narrativ um veränderte räumliche Strukturen des Krieges und Strukturen der Sichtbarkeit, das die Entwicklungsgeschichte der Camouflage begleitet.

Erschütterte Räume: der Kriegsschauplatz im Umbruch

Die Grafik mit dem Titel „Our Shrinking World“ bildet anhand der schematischen Dar­ stellung von vier Zuständen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – nämlich von 1812 bis in die prognostizierte Zeit „1950+“ – die zunehmende Beschleunigung der Überquerung des Atlantiks von Europa nach Amerika ab. Der Entwicklungsstand der verkehrstechni­ schen Verbindung der beiden Kontinente ist dabei jeweils durch einen Globus dargestellt, in den technische Daten zur Ozeanüberquerung eingetragen sind. Während die Reise 1812 mit dem eingezeichneten Segelschiff noch Wochen dauert, braucht der Dampfer 1914 nur noch mehrere Tage. In der Gegenwart von 1943 ist der Flug eine Sache von Stunden. Für die nähere Zukunft ab 1950 prognostiziert die Grafik eine weitere drastische Verkürzung der Reisezeit auf Minuten – wobei diese Angabe durch ein einschränkendes Fragezeichen gekennzeichnet ist. Eingefügt ist der zusätzliche Hinweis „Stratosphere“, der auf eine mög­ liche zukünftige Flugtechnologie in besonders großer Höhe hindeutet, durch die das Zu­ rücklegen der weiten Strecke mit noch größerer Geschwindigkeit Realität werden könnte. Die technische Entwicklung, die eine immer schnellere Fortbewegung ermöglicht, lässt die Welt ‚schrumpfen‘. Während diese Entwicklung häufig als begrüßenswerter Fortschritt ge­ feiert wird, präsentiert die Grafik im Gegensatz dazu ein Bedrohungsszenario – in Gestalt der dicken schwarzen Pfeile, die in immer größerer Geschwindigkeit von Europa aus auf Amerika zurasen. Die Bedrohung begründet die drängende Notwendigkeit, sofort Schutz­ maßnahmen gegen die befürchtete Invasion aus der Luft zu ergreifen. Die Broschüre pro­ gnostiziert in warnendem Gestus: Without being unduly pessimistic, one may conceive of the science of flying as progressing in a few years to a point where an enemy from half way around the earth may be able to make stratospheric flight in a fraction of the time now required, and visit upon us his bombs, almost before we know it.4 Diese Darstellung der räumlichen Veränderung der globalen Verhältnisse ist zwar stark vereinfacht und unverkennbar geprägt durch ihren Entstehungszusammenhang mitten im Zweiten Weltkrieg. Obwohl die Atlantiküberquerung durch die dargestellten Schiffe und Flugzeuge in beide Richtungen gleichermaßen zu bewältigen ist, suggeriert die Skizze mit den einseitig gerichteten Pfeilen allein die Bedrohung für Amerika. Auf diese Weise entsteht das Bild eines durch die wachsende Geschwindigkeit zunehmend verletzlichen, den Angriffen aus der Luft in immer stärkerem Maße ausgesetzten Kontinents. Trotz oder gerade wegen ihrer mit Händen zu greifenden propagandistischen Verein­ fachung berührt diese Darstellung zentrale Themenfelder, die für die vorliegende Studie relevant sind. Die Grafik präsentiert in überspitzter Deutlichkeit eine plakative Analyse der Veränderung globaler Raumverhältnisse durch technische Errungenschaften, die in der Argumentation der Broschüre mit existentiellen Fragen der Tarnung verbunden werden. 4

U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, S. 1.

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Einleitung

Während die Welt durch die erhöhte Fortbewegungsgeschwindigkeit schrumpft, dehnt sich in einer reziproken Entwicklung der Kriegsraum auf eine aggressive Art und Weise aus. Blieben frühere Kriege lokal begrenzt, kann 1943 nicht einmal mehr der gewaltige Ozean der räumlichen Entgrenzung des Krieges Einhalt gebieten. Bis dato gültig geglaubte Auffassungen von räumlichen Verhältnissen werden zutiefst erschüttert. In verschärfter Weise gilt dies für die Räume des Krieges. Zusätzlich zu den dargestellten Aspekten der Entgrenzung des Raumes und der da­ mit verbundenen zeitlichen Ordnung impliziert die Abbildung, insbesondere durch ihre Kontextualisierung in der Camouflage-Broschüre, eine Neuordnung des Räumlichen im Hinblick auf veränderte Blickachsen und veränderte Konstellationen von Sichtbarem und Unsichtbarem. Denn die Flugzeuge, die für diese Entwicklung mitverantwortlich sind, ver­ kürzen nicht nur die Reisezeiten und können sich im Luftraum problemlos gleitend über bisher wirksame Grenzbefestigungen hinwegsetzen, seien es natürliche Begrenzungen wie Gewässer und Gebirge oder menschengemachte Barrieren. Sie erheben zudem inner­ halb des radikal vergrößerten Raumes eine neue Perspektive in den Rang des militärisch ­Relevanten: den Blick von oben. Der imaginierte Blick aus dem Cockpit eines angreifenden Flugzeuges und die Luftfotografien bewirken eine Neubetrachtung der eigenen Städte und Landschaften unter dem Aspekt der Formationen, die diese von oben gesehen bilden – da­ von zeugen die Camouflageüberlegungen der erwähnten Broschüre. Da Städte unabhängig von ihrer topografischen Lage mögliche Ziele von Angriffen aus der Luft und potentielles Kriegsgebiet sind, werden die visuellen Strukturen, die sich dem Blick von oben darbie­ ten, zum Gegenstand von Überlegungen, Plänen und Experimenten. Diese sind als Denk­ figuren und Praktiken, die daraus resultieren, auch dann wirksam und folgenreich, wenn wie in den USA im Zweiten Weltkrieg der Angriff auf die Städte de facto nie erfolgt. Das Visuelle wird in diesem Kontext militärisch auf eine völlig neue Weise bedeut­ sam. Denn Kriegslandschaften werden aus Flugzeugen heraus betrachtet und auf Luftfoto­ grafien abgebildet. Aus dieser Perspektive können Informationen über das gegnerische Lager gesammelt, Aktivitäten beobachtet und zentrale Punkte identifiziert werden. Umge­ kehrt wird auch der Kriegsschauplatz durch Camouflagemaßnahmen aktiv nach den Krite­ rien des Visuellen gestaltet. Somit lässt sich eine für die vorliegende Untersuchung grund­ legende These formulieren: Indem die Luftperspektive auf den Kriegsschauplatz technisch realisierbar und militärisch relevant wird, verändert dieser sein Aussehen. Der militärische Blick von oben bringt den Kriegsschauplatz als solchen erst hervor – indem der Kriegs­ schauplatz sich als Raum gleichsam5 für den militärischen Blick und auf diesen hin formiert. 5

Das Wort ‚gleichsam‘ hat gemeinhin keinen guten Ruf. Es gilt als verzichtbares Füllwort, als relativieren­ de Geste, die alle auf sie folgenden Aussagen schon im Vorhinein entschuldigend zurück nimmt und ab­ schwächt – ganz so, als traute sich die Autorin nicht, den Gedanken ohne die Sicherheit eines stützenden ‚gleichsam‘ frei auf den Weg zu schicken. Meistens lässt es sich beim Redigieren eines Textes ersatzlos streichen, ohne dass jemand etwas vermissen würde. Wer aber den Theaterwissenschaftler Helmar Schr­ amm (verstorben am 28. September 2015) kannte, weiß, dass dieses Wort auch zu ganz anderem in der Lage sein kann. Helmar Schramm machte ‚gleichsam‘ zum Adverb einer denkenden Suchbewegung mit offenem

Kriegsschauplatz: der begriffs- und literaturhistorische Kontext

Kriegsschauplatz: der begriffs- und literaturhistorische Kontext Vor diesem Hintergrund bildet folgende These den Rahmen meiner Dissertation: Camou­ flage als neuartige Kriegsstrategie ist Teil einer größeren Umwälzung der Konstellationen des Sichtbaren auf dem Kriegsschauplatz. Entsprechend macht die Arbeit den Kriegs­ schauplatz in seinen visuellen und bildlichen Strukturen zum Gegenstand der Analyse. In­ nerhalb dieses Rahmens untersucht sie die militärische Praxis der Camouflage des Ersten und Zweiten Weltkriegs als eine spezifische Form, das Aussehen der Kriegsschauplätze zu inszenieren und gestalten. Dabei geht es mir darum, die spezifischen Veränderungen des Kriegsraumes aufzuzeigen, auf den die Camouflage in gleichem Maße reagierte wie sie ihn ihrerseits mitprägte. Auf die Camouflage trifft dabei – wie zu zeigen sein wird – in besonde­ rem Maße zu, was der Medienwissenschaftler und Kriegstheoretiker Paul Virilio bei seiner Analyse von Bunkerarchitekturen des Zweiten Weltkriegs formuliert: Militärische In­stru­ mente sind nie rein funktional.6 In diesem Sinne will Camouflage – Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914–45 die enge Verwobenheit der Camouflage mit ästhetischen Überlegungen und gesellschaftlich virulenten Imaginationen herausarbeiten. Dabei ist die Funktionalität von Camouflage ebenso von Interesse wie Tarnungsmaßnah­ men oder militärische Inszenierungsideen, die sich als unbrauchbar oder gar kontrapro­ duktiv erwiesen. Denn der Kriegsraum, so eine Ausgangsthese der Arbeit, entfaltet sich aus Imaginationen, Narrationen und Bildern ebenso wie er durch Frontlinien, Waffenreichwei­ ten und Medientechnologien bestimmt ist. Camouflage ist seit ihrer Entstehung im Ersten Weltkrieg von anderen gesellschaftlich relevanten Diskursen so wesentlich geprägt, dass ein Fokus rein auf ihrer militärischen Funktionalität zu kurz greifen würde. Daher soll im Folgenden die Camouflage der beiden Weltkriege in ihrer kultur- und ideengeschichtlichen Verwobenheit mit Kunst und Theater zur Darstellung kommen. Zudem wird das Phänomen Camouflage im größeren Kontext theatraler Auffassungen vom Krieg und seinen Schau­ plätzen verortet. Ich zeige, inwiefern Camouflage als visuelle Strategie der Inszenierung im 20. Jahrhundert auf eine völlig neue Weise Elemente von Theater in den Krieg einträgt. Dabei nehme ich den Begriff des Kriegsschauplatzes zunächst beim Wort und gehe im ersten Teil des Buches einigen Strängen seiner Genealogie nach. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Was haben die Räume des Krieges an sich, dass von ihnen als Schauplät­ zen die Rede sein kann – also als Räumen, die nach theatralen Kriterien von Schauen und Zeigen strukturiert sind?

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­ usgang. Er führte vor, wie ‚gleichsam‘, die Neuformulierung eines Gedankens einleitend, diesen im Verlauf A des Formulierens auf andere, vielleicht abwegige, vielleicht zielführende, aber immer unerwartete Pfade lenken kann. Das wiederholte Formulieren eines Gedankens geht an diesem nicht spurlos vorbei. ‚Gleichsam‘ bildet den Auftakt für das Ausholen, Umstellen oder Verknüpfen – das Verknüpfen von vermeintlich Dispa­ ratem. Ein so gebrauchtes ‚gleichsam‘ fehlt, wenn es nicht mehr da ist. In der vorliegenden Arbeit soll das Wort, wenn es hier oder da schüchtern auftaucht, an Helmar Schramm erinnern, der diese Arbeit zu Beginn ihrer Entstehung in der ihm eigenen energetischen Art mit auf den Weg gebracht hat. Vgl. Paul Virilio, Bunker Archeology, New York 1994, S. 27.

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Einleitung

Der Begriff Kriegsschauplatz lässt sich auf das barocke Konzept des theatrum belli, des Kriegstheaters zurückführen. Während andere barocke Theatermetaphern im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren, wird von den Orten des Krieges bis heute als von Schauplätzen, im Englischen als theatre of war, gesprochen. Woran liegt es, dass die Metapher über die Jahrhunderte hinweg als Bezeichnung für Kriegsräume plausibel erscheint? Ausgehend von dieser Frage verfolge ich in ausgewählten Texten aus dem 19. und 20. Jahrhundert die Geschichte des Konzepts Kriegstheater. Bei dem Militärtheoretiker Carl von Clausewitz fin­ den sich in dieser Hinsicht aufschlussreiche Hinweise: Er definiert den Begriff des Kriegs­ theaters prominent und einflussreich als einen von allen Seiten abgeschlossenen Raum der Übersicht.7 Spätere Referenzen – etwa des schillernden Schriftstellers Paul Scheerbart kurz vor dem Ersten Weltkrieg oder eines Schülers von Carl Schmitt, Ferdinand Friedensburg, während des Zweiten Weltkriegs – verweisen in sehr unterschiedlichen Textformen auf die massive Entgrenzung des Schlachtfeldes.8 Durch die Ausweitung in den schrankenlosen Luftraum erschien die Metapher des begrenzten Schauplatzes fragwürdig. Das theatrale Setting bleibt allerdings nach wie vor für die so unterschiedlichen Raumanalysen ein ent­ scheidender Referenzpunkt. Denn in dem Maße, in dem die Kriegsräume eine radikale historische Umwälzung erfahren, durchläuft auch das Theater fundamentale Neudefini­ tionen. Gilt es dem barocken Verständnis nach als Raum der Übersicht und Erkenntnis, treten später Konnotationen von Schein und Falschheit hinzu. Die avantgardistischen Kontexte des frühen 20. Jahrhunderts schließlich beziehen sich häufig auf die Dimension des Spektakels oder des sinnlichen Erlebens und schaffen theatrale Situationen außerhalb klassischer geschlossener Bühnenräume. Auf diese Weise ergeben sich auch für die Analyse der modernen technisierten Kriege in ihren entgrenzten Räumen neue Schauplatzkonstel­ lationen, neue Konzeptionen des theatrum belli – so meine These, der ich im ersten Teil der Untersuchung (S. ##) nachgehe. Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, räumt meine Arbeit der philologi­ schen Methode der begriffsgeschichtlichen Analyse einen prominenten Platz ein. Dieser für eine bildwissenschaftliche Arbeit außergewöhnliche methodische Zugang ist der Tat­ sache geschuldet, dass sich die Imaginationen des Kriegsraumes als Theater insbesondere in Texten und im metaphorischen Sprachgebrauch manifestieren – entsprechend drängen sich für eine angemessene Bewertung dieser sprachlich-literarischen Phänomene spezifi­ sche Analysemethoden auf. Blickkonstellationen lassen sich in Bildern und in theatralen Settings besonders eindrücklich beobachten – sie haben jedoch auch eine sprachlich ver­ fasste konzeptuelle Dimension und sind in metaphorische Ausdrucksweisen eingeschrie­ ben. Das komplexe Phänomen der Camouflage profitiert, soll es nicht nur als isoliertes Kuriosum militärisch-künstlerischer Zusammenarbeit, sondern in seiner kulturgeschicht­ 7 8

Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Bonn 1980, S. 500. Vgl. Paul Scheerbart, „Kriegstheater“, in: Der neue Weg. Zeitschrift für das deutsche Theater, 38/26 (3.7.1909), S. 16–17; Ferdinand Friedensburg, Der Kriegsschauplatz insbesondere als Ausdruck rechtlicher Raumfassung, Berlin 1944.

Die Fallstudien: traditionalistische Malerei und avantgardistische Kunst im Dienste des Krieges

lichen Verwobenheit zur Darstellung kommen, von einem besonders vielschichtigen me­ thodischen Zugang. Das zu untersuchende Material und die historischen Quellen, über die sich die Kontexte von Camouflage erschließen lassen, sind außerordentlich heterogen und verlangen daher nach entsprechend differenzierten Herangehensweisen. Dabei ist die schon erwähnte Luftfotografie als Referenzmedium ebenso wichtig wie die in literarischen Texten (wie denen von Scheerbart) und juristischen Abhandlungen (wie der Dissertation von Friedensburg) geprägten Konzepte des Kriegsraumes als Schauplatz, der sich durch spezifische Blickachsen und Blickordnungen auszeichnet. Im ersten Kapitel soll mit dem Konzept des Kriegstheaters der historisch-begriff­liche Analyserahmen erschlossen werden, der es ermöglicht, die darauffolgenden konkreten historischen Fallstudien zu kontextualisieren. Angesichts der illusionserzeugenden ­Kulissen, der Aspekte räumlicher und landschaftlicher Gestaltung und der Imagination unterschiedlicher Perspektiven, die mit Camouflage verbunden sind, will ich in der vorlie­ genden Arbeit Kriegstheater und Kriegsschauplatz als gedankliche Konzepte vorschlagen, mit denen sich unterschiedliche theatrale wie militärische Genealogien der Camouflage nachzeichnen lassen. Was macht den Krieg zum Schau-Platz oder Theater? Was zeigt sich auf dem Kriegsschauplatz und was bleibt dort im Verborgenen? Und damit auch: In wel­ chem historischen Zusammenhang einer Geschichte des militärischen und kriegerischen Blickens ist die Camouflage als Technik der Blickverweigerung, Blicktrübung oder Blick­ täuschung zu verorten?

Die Fallstudien: traditionalistische Malerei und avantgardistische Kunst im Dienste des Krieges In zwei konkreten Fallstudien untersuche ich, auf welche Weise sich Künstler*innen in die Entwicklung von Camouflage eingebracht haben beziehungsweise inwiefern sich an den entstandenen Camouflagetechniken und -objekten Spuren künstlerischer Praktiken ablesen lassen (S. 101–179 und S. 181–266). Zudem ist die Camouflagearbeit der von mir untersuchten Künstler auch als Arbeit am Begriff der Camouflage zu werten, den sie auf je unterschiedliche Art mitprägten, ausloteten und hinterfragten. Die eine der beiden Fallstu­ dien beschäftigt sich mit dem Londoner Porträt- und Historienmaler Solomon J. Solomon (1860–1927), der sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Camoufleur zum Dienst meldete und an der Gründung der Camouflage School der britischen Armee beteiligt war. Als Verfechter traditionalistischer Malerei in der Zeit avantgardistischer Umbrüche ist S ­ olomon beinahe in Vergessenheit geraten – das stellt seine Biografin schon 1933 bedauernd fest.9 Ein nähe­ rer Blick auf seine vielfältigen Beiträge zur Camouflage lassen den als altmodisch und pe­ dantisch stigmatisierten Maler in einem anderen Licht erscheinen. Seine Auseinanderset­ zung mit dem Medium der Fotografie und seine Vehemenz in F ­ ragen der gesellschaft­lichen 9

Vgl. Olga Somech Phillips, Solomon J. Solomon. A Memoir of Peace and War, London 1933, S. 103.

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Einleitung

Rolle von Künstler*innen ist besonders komplex und stellt, wie meine Analyse zeigen will, das Fortschrittsnarrativ in der Kunstgeschichtsschreibung der Moderne infrage. Die andere Fallstudie untersucht den Beitrag des New Bauhaus, der vom ehemaligen Bauhaumeister László Moholy-Nagy (1895–1946) geleiten Designschule in Chicago, zur ­Camouflage während des Zweiten Weltkriegs in den USA. Die Camouflage-Aktivitäten des New Bauhaus bzw. der School of Design, wie die Schule ab 1939 hieß, sind deutlich von der Bauhauspädagogik geprägt und – aller Programmatik von militärischer Anwendbar­ keit zum Trotz – nicht zu trennen von den experimentell-künstlerischen Interessen ihrer Protagonist*innen. Indem ich nachzeichne, wie sich Ideen der berühmten Weimarer und Dessauer Schule in den amerikanischen und in den militärischen Kontext einschreiben, kann ich zeigen, wie Bauhauskonzepte in den Krieg zogen. Darüber hinaus leistet meine Arbeit einen Beitrag zu neueren Debatten um die Migrationsgeschichte des Bauhauses und zum Einfluss der aus dem Bauhaus kommenden Emigrant*innen auf die Kunst und das Design- und Kunstausbildungssystem in den USA.10 Die für die Untersuchung ausgewählten Akteur*innen repräsentieren ein grundsätz­ lich unterschiedliches Verständnis künstlerischer Arbeit: Während der von der Salonma­ lerei kommende Solomon einen traditionalistischen Kunstbegriff verteidigt, vertreten die Künstler*innen der School of Design in der Tradition des Bauhauses ein Kunstkonzept, das sich durch einen starken Bezug zu Anwendungsbereichen und neuster Technik auszeich­ net. In der Gegenüberstellung dieser beiden Konstellationen ergibt sich ein facettenrei­ ches Bild: Wiederkehrende Motive, die die Beteiligung an der Camouflage mit sich bringt, lassen sich ebenso ausmachen wie zeit- und situationsspezifische Aspekte, die auf die jeweiligen gesellschaftspolitischen und künstlerischen Kontexte verweisen. Im Zuschnitt der vorliegenden Studie wurden absichtsvoll zwei differierende Positionen zur kontrastie­ renden Untersuchung gewählt – standen sie doch aus ihrer eigenen Identifikation heraus der jeweils anderen künstlerischen Ausrichtung dezidiert ablehnend gegenüber. Sowohl Solomon als auch die Mitglieder der School of Design setzten sich aus ihrer jeweiligen Position heraus damit auseinander, welche Aspekte ihres künstlerischen Arbeitens auf militärische Camouflage übertragbar seien und welche Gegenstände ihres Unterrichts auch für Camoufleur*innen relevante Lehrinhalte sein könnten. Angesichts der grund­ sätzlichen inhaltlichen Opposition in ihrer Auffassung von Kunst sind Fragen nach dem spezifischen Verständnis von Kunst, nach der gesellschaftlichen Rolle und Funktion von Kunst angesichts des Krieges, wie sie sich in den Camouflagearbeiten von Solomon und der School of Design zeigen, besonders aufschlussreich.

10 Vgl. Annika Strupkus, Jürgen Waurisch und Ute Ackermann (Hg.), Bauhaus global. Gesammelte Beiträge der Konferenz Bauhaus Global vom 21. bis 26. September 2009, Berlin 2010; Burcu Dogramaci, Zur Globalisierung des Bauhauses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 13–14 (2019). Vgl. zudem die Ausstellungsprojekte „bauhaus imaginista“ im Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2019; „Bauhaus und Amerika. Experimente in Licht und Bewegung“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster 2018/2019; „New Bauhaus Chicago. Experiment Fotografie und Film“ im Bauhaus Archiv, 2017/2018 Berlin.

Die Fallstudien: traditionalistische Malerei und avantgardistische Kunst im Dienste des Krieges

Solomon meldete sich im Ersten Weltkrieg freiwillig für die Camouflageabteilung der britischen Armee, gründete eine Camouflage Schule im Londoner Park Kensington Gar­ dens und veröffentlichte nach dem Krieg ein Buch über das richtige ‚Lesen‘ von Luftfoto­ grafien. Seine 1920 publizierte Analyse stellt eine der ersten Monografien zu Camouflage überhaupt dar.11 Solomons Beitrag offenbart eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Kriegsschauplatz als gestaltetem Bild. Er hebt die Nähe zur Malerei hervor und ar­ gumentiert, dass Künstler*innen mit ihrem für Feinheiten geschulten Auge sehr gut als Camoufleur*innen und insbesondere für die Interpretation der Luftfotografien geeignet seien. Hervorzuheben ist sein apologetischer Gestus: Solomon betont in dieser und ande­ ren Schriften unermüdlich seine künstlerische Expertise. Sie alleine erlaube es ihm, auf den Fotografien Dinge zu erkennen, die sonst niemand wahrzunehmen in der Lage sei. Camouflage sei, so seine überraschende Argumentation, Maltechnik in Umkehrung: Wer wie ein Maler auf der Fläche eines Papiers durch feine Schattierungen einen räumlichen Eindruck herstellen könne, sei auch in der Lage, umgekehrt dreidimensionale Objekte durch Bemalung flächig erscheinen zu lassen. Bisher kaum beachtetes Archivmaterial – sowohl Skizzen von Solomon mit Vorschlä­ gen zur Tarnung von Soldaten als auch Briefwechsel und eine von ihm für das Militär ver­ fasste Abhandlung über Camouflage – ermöglichen es meiner Studie, Solomon als einen vielschichtigen Akteur im Bereich des Militärischen vorzustellen. Aus den Quellen lässt sich eine polemisch geführte Debatte rekonstruieren, die zeigt, mit welcher Vehemenz und gegen welche gesellschaftlichen Widerstände Solomon seine Erfahrungen im künst­ lerischen Arbeiten als kriegstaugliche Expertise im Bereich der Camouflage reklamierte. Zudem lässt sich bei einer genauen Gegenüberstellung von Solomons kunstdidakti­ schen Schriften und seinen Schriften zu Camouflage die Denktradition der Physiognomik als eine Grundlage für den Umgang mit Camouflage identifizieren. Der traditionalistische Maler Solomon war ein Verfechter der Physiognomik und empfahl seinen Schüler*innen in seinem Malereilehrbuch von 1910 als Grundlage für die Gestaltung von Porträts das Studium von Johann Caspar Lavater und anderen Physiognomikern des 19. Jahrhun­ derts.12 Die Physiognomik geht von einem systematisierbaren Zusammenhang zwischen den äußeren Merkmalen eines Menschen, vor allem des Gesichts, und seinem inneren Wesen und Charakter aus. Diese Art von Pseudowissenschaft stellte bekanntermaßen ein wichtiges gedankliches Modell für rassistische Ideologien dar. Solomon liefert in seinem Camouflagebuch darauf aufbauend detaillierte Lektüreanleitungen für die Ana­ lyse von Luftfotografien. Auf dem Bild erkennbare Grautöne, Formen und Strukturen überträgt er mit einer Legende und vielen Anweisungen in die von ihm vermuteten Ge­ gebenheiten der Kriegslandschaft. Dieser Umgang mit Luftfotografien ähnelt in seiner Grundüberzeugung und seiner Herangehensweise der physiognomischen Betrachtung 11 Solomon J. Solomon, Strategic Camouflage, London 1920. 12 Vgl. Solomon J. Solomon, The Practice of Oil Painting. And of Drawing as Associated with it, London 1910, S. 51.

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von Gesichtern. In beiden Formen der ‚Lektüre‘ geht es darum, durch ein genaues Studi­ um der Oberfläche Rückschlüsse auf ein verborgenes Inneres oder ‚eigentliches‘ Wesen ziehen zu können. Den Gesichtern von Menschen und Kriegslandschaften ist bei allen Unterschieden offensichtlich eines gemeinsam: Sie werden bei der forschenden Betrach­ tung in ähnlicher Weise als potentiell unverständlich, undurchschaubar und trügerisch erlebt – weswegen ein ausgeklügeltes System von Methoden ihre Dechiffrierbarkeit garantieren soll. Von besonderem Interesse ist dabei Solomons spezifischer Umgang mit dem Kriegs­ schauplatz. Die in seinem Buch über Camouflage veröffentlichten Interpretationen von Luftfotografien, auf denen er groß angelegte Camouflageanlagen der Deutschen zu ent­ decken glaubt, erlauben entsprechende Rückschlüsse.13 Seine Lektüre dieser Aufnahmen ist dabei von einer nahezu paranoischen Betrachtungsweise geprägt, die in jedem Merk­ mal der abgebildeten Landschaft einen potentiellen Hinweis auf Täuschungen und dop­ pelte Böden sieht. Da Solomon sowohl Malerei als auch Camouflage unterrichtete, lässt sich anhand seiner Lehrsätze besonders gut herausarbeiten, welche Prinzipien, die der klassischen Malerei entstammen, er auf die Camouflage übertragen konnte. Einen auch visuell und ästhetisch eindrücklichen Einblick in die Arbeit der militärischen Camouflage School, an deren Gründung Solomon beteiligt war, gibt eine Serie von Fotografien, die die an der Schule entwickelten Camouflageobjekte zeigen und in ihrer Wirksamkeit vorführen. Die School of Design beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs auf US-amerika­ nischer Seite an unterschiedlichen Camouflage-Aktivitäten. Die Designschule nahm ihre Arbeit in Chicago 1937 unter der Leitung von László Moholy-Nagy zunächst unter dem Namen New Bauhaus auf. Ab 1939 firmierte sie ohne namentliche Bezugnahme auf das berühmte Vorbild als School of Design und wurde später in Institute of Design umbenannt. Als solches existiert sie bis heute. Mit Kriegseinstritt der USA im Dezember 1941 entwi­ ckelte die Schule mehrere Seminarangebote mit Kriegsbezug. Dabei spielten die von der Armee zertifizierten Kurse in ziviler und industrieller Camouflage, die ab Anfang 1942 zum Lehrprogramm gehörten, eine wichtige Rolle. Dozent dieser Kurse war der Künstler György Kepes (1906–2001). Bei der vom Bauhaus inspirierten Designschule liegt es nahe, dass sie die Verbindung zu nicht-künstlerischen Anwendungsbereichen suchte. Der Anspruch einer umfassenden Ausbildung, welche Kreativität, Geschick und den Umgang mit neuesten Technologien als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme versprach, prägte die Agenda der Schu­ le. Moholy-Nagy sprach davon, einen neuen „type of person“ auszubilden: Menschen mit Blick für das große Ganze, die gleichzeitig spezialisiert und kompetent in ihren Arbeits­ feldern sein sollten.14 In der Kriegssituation traten die Verweise auf die Nützlichkeit des

13 Vgl. Solomon, Strategic Camouflage. 14 Vgl. László Moholy-Nagy, Lecture “School of Design of Design in Chicago”. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 6, Folder 186 ([1940]), hier: S. 1.

Die Fallstudien: traditionalistische Malerei und avantgardistische Kunst im Dienste des Krieges

Ausbildungsprogramms noch stärker in den Vordergrund. Diese Rhetorik lässt sich als Gradmesser für den verschärften Rechtfertigungsdruck werten, unter dem die Künste in Kriegszeiten mehr denn je standen. Moholy-Nagy wurde bei seinen zahlreichen öffent­ lichen Auftritten als Direktor der Schule nicht müde zu betonen, dass das Bauhaus-Pro­ gramm eine ideale Ausbildung darstelle, um den Herausforderungen des technisierten Krieges zu begegnen. Meine Studie analysiert diese Rhetorik in den Veröffentlichungen der Schule und in unveröffentlichtem Archivmaterial. Dazu will ich kritisch fragen, wel­ che Aspekte der künstlerischen und didaktischen Arbeit der School of Design und ihres berühmten Vorläufers aus Weimar und Dessau tatsächlich in die militärische Kooperation einflossen. Die Camouflagekurse fanden einige Beachtung in der Presse und führten zu weiterer Kooperation der Schule mit dem Militär: Moholy-Nagy und Kepes wurden vom städtischen Verteidigungskomitee als Berater für die Entwicklung von Plänen zur Tarnung Chicagos im Falle eines Luftangriffs auf die Stadt hinzugezogen. Hierfür analysierten sie auf nächtli­ chen Testflügen das Erscheinungsbild der Stadt und planten eine lichtbasierte Tarnung. Die Grundidee dabei war, die Uferbeleuchtung am Lake Michigan, die der Stadt von oben be­ trachtet eine markante, leicht erkennbare Form verlieh, in den See zu verlagern. Diese Vision einer durch Lichtformationen gestalteten Stadt korrespondiert mit früheren, noch am Bau­ haus entwickelten Ideen Moholy-Nagys, die sich um Lichtkunst und urbane Lichtspektakel drehten. Das militärische Angriffsszenario eröffnete für Moholy-Nagy die Möglichkeit diese Ideen weiterzuentwickeln. An diesen Planungen war außerdem das U. S. Office of Civilian Defense beteiligt, dessen Agenda mit dem eingangs beschriebenen Bild dargelegt wurde. Innerhalb der Schule wurden die Camouflagekurse dem Bereich des Light and Color Workshop zugeordnet, in dem unter der Leitung von Kepes vor allem Lichtskulpturen und fotografische Arbeiten hergestellt wurden. Die institutionelle Zuordnung ist kein Zufall, sondern stellt, wie meine Arbeit zeigt, schon eine spezifische Analyse der Funktion und Aufgabe von Camouflage dar, wie sie an der School of Design vorgenommen wurde: Ca­ mouflage bedeutet Gestaltung von Licht. In seiner Einführungsvorlesung zum Camoufla­ gekurs begründet Kepes seine Herangehensweise mit folgender Überlegung: Camouflage sei die Kunst der Täuschung, Täuschung beruhe auf Kenntnissen der visuellen Wahrneh­ mung und diese wiederum sei ohne Licht nicht denkbar.15 Von ähnlicher Logik im Umgang mit Fragen der visuellen Gestaltung ist auch Kepes’ einflussreiches kunst- und designtheoretisches Buch Language of Vision, veröffentlicht 1944, geprägt, an dem er zeitgleich arbeitete.16 Darin erklärt er an der Gestaltpsychologie orientierte Prinzipien der visuellen Wahrnehmung zur unabdingbaren Grundlage für die Entwicklung neuer Formen der visuellen Gestaltung des modernen Lebens. Anhand die­ 15 Vgl. György Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 6, Folder 174 (16.9.1942), hier: S. 2. 16 György Kepes, Language of Vision. Painting, Photography, Advertising-Design, Chicago 1944.

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ser Korrespondenzen arbeitet meine Studie Verbindungen zwischen Gestaltpsychologie, Camouflage und Kepes‘ künstlerischem Schaffen heraus. Die Suche nach einer Sprache des Visuellen findet, so lässt sich zeigen, in der Camouflage ein Anwendungsfeld, denn Kepes versteht sie als eine spezifische Form, mit den Mitteln des Visuellen im Kriegsraum Botschaften zu erzeugen. Durch Archivrecherchen in Chicago und Stanford konnte ich historisches Material er­ schließen, das es mir erlaubte, die Inhalte der Camouflagekurse und den politisch-gesell­ schaftlichen Kontext, indem sich die Designschule zu behaupten hatte, zu rekonstruieren. Briefe, Manuskripte und Zusammenfassungen der im Rahmen der Seminare gehaltenen Vorträge sowie Mitschriften von Studierenden offenbaren aufschlussreiche Verbindun­ gen zwischen den militärischen Erfordernissen, den didaktischen Anliegen des Bauhauses und der künstlerischen Arbeit seiner Protagonist*innen. Eine weitere bedeutsame Quelle für meine Forschung stellt Moholy-Nagys Film Design Workshops dar, ein 38-minütiger Stummfilm aus dem Jahr 1944, in dem die Arbeit der Schule vorgestellt wird. Diesen Film nutzte Moholy-Nagy bei den zahlreichen Vorträgen, in denen er für das Konzept seiner Schule warb, die von Anfang an mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Der Film zeigt Studierende bei der Arbeit in den Werkstätten oder bei Ausstellungen in der Schule und die dort entstandenen Objekte. In der zweiten Hälfte des Films taucht eine Reihe von kleinen Szenen und Gegenständen auf, die offensichtlich in Zusammenhang mit den Camouflagekursen der Schule stehen (vgl. Tafeln I sowie X–XV, S. 282 und 290). Angesichts der Rhetorik der Nützlichkeit überraschen die im Film gezeigten skur­ rilen Objekte, deren konkrete Anwendbarkeit auf den ersten Blick schwer vorstellbar scheint. Aus den archivierten Absagen von Militärangehörigen, die zu einer Ausstellung mit militärischen Objekten der Schule persönlich eingeladen worden waren, lässt sich ­schließen, dass auch sie diesen Arbeiten womöglich keine allzu große strategische Rele­ vanz bei­maßen.17 Vielmehr handelte es sich offensichtlich um didaktische Objekte, die unverkennbar Ähnlichkeit mit den Arbeiten der sogenannten Vorkurse am Bauhaus auf­ weisen. Gleichzeitig wirken sie auch experimentell künstlerisch und ähneln anderen am New ­Bauhaus hergestellten beweglichen Skulpturen, die Schattenformationen erproben. Obwohl die Arbeiten im Camouflagekurs sich mit dem konkreten Problem der Tarnung angesichts drohender Luftangriffe beschäftigten, lassen sie sich nicht als rein militärische Objekte begreifen. Daher geht die vorliegende Arbeit der Frage nach, inwiefern die militä­ rische Problemlage in diesem Zusammenhang auch als Inspirationsquelle für experimen­ telle, sich eindeutigen Zuordnungen entziehende Arbeiten mit eigenem ästhetischem und didaktischem Wert wirkte.

17 Archives of American Art, Smithonian Institution, The Renaissance Society, War Art correspondence 2402 0001 0102 – 0110 (1942).

Camouflage als Bildtechnik

Camouflage als Bildtechnik Quer zur beschriebenen Struktur der Studie – mit der rahmenden Analyse des Kriegs­ schauplatzes und den beiden Fallstudien – durchziehen die Arbeit weitere Themenstränge, die immer wieder auftauchen. Dazu gehört die Betrachtung von Camouflage als bildbasier­ te militärische Strategie. Die rasanten technischen Entwicklungen, vor allem im Bereich der Aviatik und der Fotografie, sowie die über Jahre andauernde Situation des Stellungs­ kriegs ermöglichten im Ersten Weltkrieg ein systematisches Ausspionieren des Kriegsgeg­ ners, das durch die Luftfotografie in weiten Teilen bildbasiert funktionierte. Noch bevor Flugzeuge technisch dazu in der Lage waren, Bomben zu transportieren, wuchs ihnen durch ihre privilegierte Luftperspektive enorme strategische Bedeutung zu. Die techni­ schen Innovationen veränderten die Militärstrategie im Ersten Weltkrieg grundlegend und machten erstmalig im großen Stil Tarnungsmaßnahmen erforderlich. Das Bild, das die Formationen auf der Oberfläche der Erde für den Blick aus einem Cockpit heraus oder mittels einer gegnerischen Luftfotografie abgeben, wird zur relevanten Grundlage militä­ rischer Entscheidungen. Besonders prominent hat der amerikanische Fotograf und Theoretiker Allan Sekula in seinem einflussreichen Aufsatz „The Instrumental Image“ von 1975 die militärische Luftfotografie und deren bildlichen Status zwischen abstrakt und instrumentell zum Ge­ genstand bildwissenschaftlicher Forschung gemacht.18 Medientheoretiker wie Friedrich Kittler und Paul Virilio haben in unterschiedlichen Studien herausgearbeitet, inwiefern Medientechnologien als Waffen zu verstehen sind.19 Camouflage – Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914–45 kann an diese Arbeiten anknüpfen. Gleichzeitig gilt mein Interesse den außermilitärischen Genealogien der Medientechnologien und der Prozesse, die diese zu militärischen Strategien werden ließen. Mit dem Fokus auf Camou­ flage betrachtet meine Studie die Luftbilder als Teil eines Inszenierungsprozesses, bei dem nicht nur das Bild, sondern auch der Kriegsschauplatz selbst nach bildlichen Kriterien ge­ staltet ist. Ich werde deutlich machen, dass Camouflage und die mit dieser Kriegs­strategie verbundenen Bildpolitiken weder rein technisch-militärisch noch als ausschließlich ästhe­ tisch-künstlerische Praktiken zu verstehen sind. Camouflage als Kriegsstrategie ist ein Novum des Ersten Weltkriegs, in dem zuerst in der französischen Armee – daher das Fremdwort – und dann bei den anderen kriegsbe­

18 Vgl. Allan Sekula, The Instrumental Image. Steichen at War, in: Artforum, XIV/4 (1975), S. 26–35. 19 Vgl. Friedrich Kittlers Analysen zum technisierten Krieg, Friedrich A. Kittler, „Krieg im Schaltkreis“, in: Short cuts, Frankfurt am Main 2002, S. 249–268; Friedrich A. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 175–270; Paul Virilio, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 1989; Paul Virilio, Die Sehmaschine, Berlin 1989, sowie die medienwissenschaftlichen Untersuchungen zum militärischen Luftbild von Bernhard Siegert, Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 1911–1921, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 12/45/46 (1992), S. 41–54; Wolfgang Mühl-Benninghaus, Oskar Meesters Beitrag zum Ersten Weltkrieg, in: KINtop Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, 3 (1994), S. 103–115.

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teiligten Armeen spezialisierte Einheiten für Camouflage etabliert wurden. Diese Einhei­ ten, für die sich viele Menschen mit künstlerischem Interesse freiwillig meldeten, hatten den Auftrag, die visuellen Verhältnisse der Kriegsschauplätze zu analysieren und dafür passende Tarnungs- und Täuschungskonzepte zu entwickeln. Gerade Experimente der künstlerischen Avantgarde – bis dahin zumeist eher als unpatriotisch diffamiert – ließen sich nun für patriotische Zwecke nutzen: Die Techniken des Brechens einer eindeutigen Perspektive, des Auflösens von Formen und Konturen, der Verschmelzung von Figur und Grund, bislang auf dem Gebiet der künstlerischen Gestaltung erprobt, wurden nun für militärische Zwecke einsetzbar. Das berühmte Diktum Picassos fehlt in den wenigsten Dar­ stellungen zur Entstehungsgeschichte der Camouflage: Er soll kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs beim Anblick eines Lastwagens mit Tarnbemalung auf dem Pariser Boulevard Raspail mit dem Ausruf „Das haben wir ja gemacht, es ist Kubismus!“20 die Urheberschaft der Camouflage für sich reklamiert haben. Tatsächlich möchte man der spontanen Be­ hauptung der Urheberschaft des prominenten Malers zustimmen. Die Ähnlichkeit der Tar­ nungsmuster, die durch verschiedenfarbige kleinteilige Flecken die Form und Kontur der Objekte optisch auflösen, mit den Prinzipien kubistischer Malerei ist nicht zu übersehen. Allerdings würde eine Identifizierung der Camouflage mit kubistischer Malerei verken­ nen, worum es hier in erster Linie ging: Gertrude Stein beschreibt in ihren Erinnerungen an die Panzerparade weniger eine gelungene Tarnung als vielmehr eine auf Sichtbarkeit ausgelegte öffentliche Zurschaustellung der Kriegsmaschinen.21 Camouflage als Kubis­ mus zu betrachten, klammert zudem einen wesentlichen Aspekt militärischer Tarnungs­ strategien aus. Denn auch und gerade die für das Theater typischen ungebrochen illu­ sionistischen Verfahren der Imitation, Täuschung, Maskierung und Verkleidung kamen zum militärischen Einsatz. Es entstand ein ganzes Arsenal an kulissenartigen ­Attrappen, darunter falsche Bäume, in denen sich eine Person verstecken konnte, um die gegneri­ sche Kriegspartei aus dem Inneren der Baumimitation heraus ungesehen beobachten zu können.22 Die Fotografie in Abb. 2 zeigt einen solchen Baum in einer Werkstatt. Die Attrappe ist für das Foto gut sichtbar, längs geteilt in zwei Hälften aufgestellt worden. Eine Hälfte zeigt die hohle Innenseite, die andere das Äußere der Konstruktion, das eine baumrinden­ 20 Gertrude Stein, Picasso. Erinnerungen, Leipzig 1986, S. 14. Dieselbe Begebenheit fand außerdem Eingang in eines von Steins bekanntesten Werken The Autobiography of Alice B Toklas: „All of a sudden down the street came some big cannon, the first any of us had seen painted, that is camouflaged. Pablo stopped, he was spellbound. C’est nous qui avons fait ça, he said, it is we that have created that, he said. And he was right, he had.“ Gertrude Stein, The Autobiography of Alice B. Toklas [1933], London 1960, S. 84–85. 21 In ihrer Studie zu Camouflage bezieht Hanna Rose Shell sich auf den vielzitierten Ausruf Picassos und merkt kritisch an, dass es sich bei dem beobachteten Panzer auf dem Pariser Boulevard tatsächlich kaum um ein getarntes Objekt handeln konnte, sondern das Kriegsgerät in der Hauptstadt paradierend im Gegenteil be­ sonders sichtbar zur Schau gestellt wurde. Vgl. Hanna Rose Shell, Hide and seek. Camouflage, photography, and the media of reconnaissance, New York 2012, S. 19–20. 22 Vgl. hierzu mit reichem Bildmaterial: Cécile Coutin, Tromper l’ennemi. L’invention du camouflage moderne en 1914–1918, Paris 2012.

Camouflage als Bildtechnik

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2 Britische Soldaten mit Baum­attrappe Erster Weltkrieg, Imperial War ­Museum: Q 17809

artige Maserung aufweist. Auf dem Boden ist etwas aufgebaut, das womöglich als Spitze der Baumattrappe fungiert. Drei Soldaten in Uniform präsentieren das Werk mit Blick in die Kamera. Von hinten fällt Licht durch eine weit oben befindliche Fensterreihe in die Arbeitshalle und lässt die Szene im Gegenlicht erscheinen. Als Dokument aus einer mi­ litärhistorischen Sammlung, dem Archiv des Londoner Imperial War Museum, wirkt das Bild überraschend theatral. Stünden nicht drei ernst blickende Uniformierte neben dem merkwürdigen Objekt, würde man vermuten, das Foto stamme aus einer Theaterwerkstatt. Wie sich im vorliegenden Buch zeigen wird, zeichnet die hier augenfällige Ambivalenz zwischen Kunst, Theater und Krieg viele der Bilder und Gegenstände aus, die im Zusam­ menhang mit Camouflage als militärische Objekte entstanden sind. Viele dieser Maßnahmen wurden während des Ersten Weltkrieges in provisorisch eingerichteten Werkstätten an der Front oder an neu ins Leben gerufenen Einrichtungen wie der Camouflage School der britischen Armee in London entwickelt und erprobt. Im

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Zweiten Weltkrieg griff man die Tarnungsstrategien des Ersten Weltkriegs auf und entwi­ ckelte sie in Hinblick auf militärtechnische Neuerungen weiter.23 Neben der militärischen ­Camouflage gewann zu dieser Zeit auch der Bereich der industriellen Camouflage an ­Bedeutung. Darunter wurden Maßnahmen verstanden, die private Unternehmen zur Tar­ nung ihrer Gebäude, häufig Fabrikanlagen, ergriffen – die einleitend thematisierte ameri­ kanische Broschüre zielt auf diesen Bereich. Da Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg technisch in der Lage waren, Bomben über weite Strecken zu transportieren, war die Möglichkeit eines Angriffs nun potentiell auf dem gesamten Gebiet der kriegsbeteiligten Länder gege­ ben. Obwohl mit der Einführung von Radar und Sonar als Technologien der Ortung das ­Visuelle hierfür scheinbar an strategischer Relevanz verlor, wurden Fragen der visuellen Tarnung und Täuschung weiterhin als bedeutsam angesehen. Die bekannten Muster, die durch ihre Fleckenstruktur die Konturen von Objekten optisch auflösen und mit dem Hin­ tergrund verschwimmen lassen, gehören bis heute weltweit zur Standardausrüstung von Armeen. Als Expert*innen für das Erzeugen von Illusionswirkungen mit Farbe und Pinsel, Licht und Dunkelheit oder skulpturalen Materialformationen fühlten sich viele Künst­ ler*innen qua Profession für die militärische Camouflage qualifiziert.24 Sie beteiligten sich als Freiwillige, als Berater*innen oder als reguläre Soldaten an der Entwicklung und Durchführung von Tarnungs- und Täuschungsmaßnahmen. Dieser spezifische Einsatz von ­Menschen mit einem künstlerischen Hintergrund ist bemerkenswert, werden künstleri­ sche Arbeiten zum Krieg doch zumeist eher unter dem Aspekt der Darstellung des Krieges betrachtet. Als Bildpropaganda wird auch diese durchaus als militärisch relevant einge­ schätzt, tritt aber weniger als aktives und genuines Element kriegerischer Handlungen

23 Vgl. ausführliche Erläuterung zur Innovationsgeschichte im Bereich fotografischer Technologie bei Roy M. Stanley, To fool a glass eye, Shrewsbury, England 1998, S. 11–12. 24 Da sich die vorliegende Arbeit mit Unsichtbarkeiten beschäftigt, können die Unsichtbarkeiten, die durch die Sprache produziert und reproduziert werden, schlechterdings nicht unerwähnt bleiben. Die Rede ist von der Beteiligung weiblicher Akteurinnen an den Gegenständen und Prozessen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beschrieben und analysiert werden. Da sich die Untersuchung mit im weitesten Sinne mili­ tärischen Aktivitäten in den beiden Weltkriegen beschäftigt, hatte es zu Beginn der Recherche den Anschein, dass die sprachliche Herausforderung des Genderns für diese Arbeit leicht zu bewältigen sein würde, da nur männliche Akteure relevant wären. Wider Erwarten tauchten aber nach einiger Recherche die ersten Fotografien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs auf, auf denen ganze Gruppen von Frauen bei der Herstellung von Camouflageobjekten zu sehen sind ( vgl. die Fotografie in Abb. 24, S. 178). Die Überraschung, die der Anblick der Frauen auf den Bildern auslöst, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass ihre Beteiligung in aller Regel durch die durchgängige Verwendung der maskulinen Form sprachlich nicht vermittelt wird. Das fotografische Bild hält eine Realität fest, die im sprachlich vermittelten Bild nicht benannt wird – sozu­ sagen eine perfekte Camouflage, die Frauen sprachlich in der männlichen Form verschwinden lässt. Auch wenn die Beteiligung von Frauen an der Camouflage nicht Thema der vorliegenden Studie ist, so soll diese dennoch nicht durch den Gebrauch der männlichen Formen gänzlich verschwiegen werden. Daher werden maskuline Pluralformen nur dann verwendet, wenn tatsächlich rein männliche Personengruppen gemeint sind. Sollen unbestimmte oder gemischte Personengruppen benannt werden, stellen Pluralformen nach dem Prinzip ‚Künstler*innen‘ den Versuch dar, die geschlechtliche Heterogenität der Gruppe auch sprachlich abzubilden.

Camouflage als Bildtechnik

in Erscheinung. „Der seismographische Künstler“25 spüre – so der Architekturhistoriker Sigfried Giedion – den Charakter seiner Zeit und verleihe ihm kreativen Ausdruck. Die vor­ liegende Studie versteht sich dagegen als ein Beitrag, die ‚seismographische‘ Perspektive auf intervenierendes künstlerisches Arbeiten zu erweitern und Künstler*innen mit ihrer Arbeit auch als Akteur*innen eigener Qualität innerhalb der gesellschaftlich-politischen Erschütterungen zu begreifen. In den letzten Jahrzehnten wurden der ungewöhnlichen Zusammenarbeit von Künst­ ler*innen mit dem Militär, die die Entwicklungsgeschichte der Camouflage dokumentiert, einige kunsthistorische Studien gewidmet. Der Name Roy Behrens ist mit dieser Forschung besonders eng verbunden. Der Kunsthistoriker hat zahlreiche Studien zum Themenfeld Camouflage und Kunst veröffentlicht.26 2009 hat er mit Camoupedia zudem ein umfangrei­ ches enzyklopädisches Werk publiziert, in dem sich vor allem biografische Angaben zu den zahlreichen an der Entwicklung und Herstellung von Camouflagemaßnahmen beteiligten Künstler*innen finden.27 Andere haben die biografischen und stilistischen Verbindungen zwischen Camouflage und Kunst untersucht und dabei, nicht zuletzt angestoßen durch das schon erwähnte Narrativ Steins, vor allem auf die Nähe zu unterschiedlichen Strö­ mungen der modernen Malerei hingewiesen.28 Einschlägige Studien sind zudem den Ver­ bindungen von militärischer Camouflage und Naturforschung gewidmet worden.29 Histo­ riografische Studien haben Camouflage zusammen mit anderen Täuschungsstrategien als militärische Innovationsgeschichte analysiert.30 Anders als diese Forschungsarbeiten zielt meine Analyse auf die Praxis und Theorie, die Camouflage als eine Form der räumlichen Gestaltung und Inszenierung der Kriegslandschaft begreifen.

25 Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Hamburg 1994, S. 65. 26 Vgl. u. a. Roy R. Behrens, Art & camouflage. Concealment and deception in nature, art, and war, Cedar Falls, Iowa 1981; Roy R. Behrens, False colors. Art, design, and modern camouflage, Dysart, Iowa 2002; Roy R. Beh­ rens, The role of artists in ship camouflage during World War I, in: Leonardo, 32/4 (1999), S. 53–59; Roy R. Behrens, On Max Wertheimer and Pablo Picasso. Gestalt Theory, Cubism and Camouflage, in: Journal of the GTA, 20/2 (1998), S. 109–118; Roy R. Behrens, Revisiting Abbott Thayer: non-scientific reflections about camouflage in art, war and zoology, in: Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences, 364/1516 (2009), S. 497–501. 27 Vgl. Roy R. Behrens, Camoupedia. A compendium of research on art, architecture and camouflage, Dysart, Iowa 2009. Das enzyklopädische Projekt wird seit der Veröffentlicung der Buchfasung außerdem als Blog online weitergeführt http://camoupedia.blogspot.com/ 28 Vgl. Elizabeth Louise Kahn, The Neglected Majority. „Les Camoufleurs,“ Art History, and World War I, Lan­ ham, MD 1984; Paul K. Saint-Amour, Modernist Reconnaissance, in: Modernism/modernity, 10/2 (April 2003), S. 349–380; Ann Elias, Camouflage and Surrealism, in: War, Literature and the Arts, 24/1 (2012); Coutin, Tromper l’ennemi; Albert Roskam, Dazzle painting. Kunst als camouflage, camouflage als kunst, Rotterdam, Venlo 1987; Birgit Schneider, „Gefleckte Gestalten: Die Camouflage von Schiffen im Ersten Weltkrieg“, in: Claudia Blümle und Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich [u. a.] 2007, 141–158. 29 Vgl. Shell, Hide and seek; Peter Forbes, Dazzled and Deceived: Mimicry and Camouflage, New Haven 2011. 30 Vgl. Nicholas Rankin, Churchill’s Wizards. The British Genius for Deception 1914–1945, London 2008; Martin Davies, ‚Conceal, create, confuse‘. Deception as a British battlefield tactic in the First World War, Stroud [Eng­ land] 2009; Charles Cruickshank, Deception in World War II, Oxford, New York 1980.

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Einleitung

Für die Analyse von Camouflage in ihrer Entstehungsphase muss insbesondere die Luftfotografie in den Blick genommen werden. Denn die visuellen Tarnungsstrategien bil­ deten sich in Reaktion auf technische Errungenschaften heraus: Seit dem Ersten Weltkrieg ließen sie das äußere Erscheinungsbild von Waffen, Soldaten und Schauplätzen auf eine neue Art und Weise virulent werden und schufen so veränderte Paradigmen der Sichtbar­ keit. Mit Kameras ausgestattete Flugzeuge lichteten im Stellungskrieg die gesamte Front ab und schufen auf diese Weise neue Bilder der Kriegslandschaft. Die unzähligen Fotogra­ fien wurden in den strategischen Zentralen zu sog. mosaic mappings zusammengesetzt.31 Die Zertrümmerung des Schlachtfelds fand ihr Pendant in der zerstückelten, collagierten Darstellung. Mit dieser Form der Abbildung verband sich, wie die vorliegende Arbeit he­ rausarbeiten wird, auch ein veränderter Blick auf die Kriegslandschaft: eine messende, suchende, von Verdachtsmomenten geleitete und – angesichts der potentiellen und tat­ sächlichen Täuschungen durch Camouflage – mitunter gar paranoide Wahrnehmung. Wo keine gegnerischen Spuren zu erkennen waren, musste immer noch eine allzu perfekte feindliche Camouflage befürchtet werden. Die Luftfotografien, die den Raum des Krieges aus ungewohnter Perspektive zeigten, konnten nicht einfach betrachtet werden, sondern mussten von speziell geschultem Perso­ nal interpretiert und ‚gelesen‘ werden.32 Expert*innen übersetzten das deutungsbedürftige Bild in ein Narrativ der vermuteten gegnerischen Handlungen und Handlungsabsichten. Die Fotos wurden in regelmäßigen Abständen durch neue Aufnahmen aktualisiert. In die­ ser Serialität entwickelte sich die Fotografie – eigentlich das Medium der Momentaufnah­ men und der festgehaltenen Zustände – zu einem Bildverfahren, das die Bewegungen des Gegners sichtbar machte und Vermutungen über beabsichtigte, potentielle oder künftige Aktionen zuließ. Mit Camouflage wurde nun ein ganzes Bündel an Maßnahmen bezeichnet, die dies zu verhindern suchten. Entsprechend war ein genaues Wissen über die Art und Weise, wie die Kriegsschauplätze durch die Fotografie zum Bild wurden, Voraussetzung für die Entwicklung von Camouflage. Dies macht die Militärstrategie der Camouflage und die einzelnen eingesetzten oder auch im Entwicklungsprozess verworfenen Maßnahmen zu einem Untersuchungsgegenstand, der nicht nur Auskunft über das Herstellen von Un­ sichtbarkeit, sondern besonders auch über die Luftfotografie geben kann. Sie ist gleichsam das Gegenstück, auf das sich die Tarnungsstrategien ausrichteten.

31 Vgl. die Begriffsdefinition von „mosaic mapping“ beispielsweise in: Canada. Dept. of the Interior, The Use of Aerial Photographs for Mapping, Ottawa 1932, S. 67. 32 Davon zeugt die oben mehrfach zitierte Broschüre „Precautionary Camouflage“ ebenso wie militärische Handbücher und wissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit der Interpretation von Luftfotografien be­ schäftigen und detaillierte Leseanleitungen liefern. Darunter z. B. Notes on the Interpretation of Aeroplane Photographs, Washington 1917; André-H. Carlier, La photographie aérienne pendant la guerre, Paris 1921; Clarence Winchester und F. L. Wills, Aerial Photography, London 1928; Edward Steichen, „American Aerial Photography at the Front [1919]“, in: Ronald J. Gedrim (Hg.), Edward Steichen. Selected texts and bibliography, New York 1996, S. 70–74; Erich Ewald, Das Luftbild im Unterricht, Breslau 1924; H. E. Ives, Airplane Photography 1920.

Landschaftslektüren

Landschaftslektüren In der kunsthistorischen Forschung ist in Bezug auf die Camouflagearbeiten von Künst­ ler*innen während der beiden Weltkriege betont worden, dass diese zwar deutlich sicht­ bar technischer Natur, jedoch unbestreitbar auch in ihrer Ästhetik faszinierend seien.33 Diese doppelte Lesbarkeit von Produkten der Camouflage wird auch die in den folgenden Kapiteln vorzustellenden Beispiele kennzeichnen. Der spezielle Charakter dieser Objekte, die zum Teil auf widersprüchliche Art und Weise zwischen experimenteller Kunst und angewandtem Militärdesign changieren, soll näher untersucht und zum Anlass genom­ men werden, nach dem eigentümlichen Status der Camouflageobjekte zu fragen. Dieser nämlich wird sich als aufschlussreich erweisen und es erlauben, Aussagen über das am­ bivalente Verhältnis der Künstler*innen zu ihrer militärischen Kooperation zu treffen. In diesem Kontext spielen Rechtfertigungsstrategien für künstlerisches Arbeiten, das in Zei­ ten des Krieges unter Druck gerät, ebenso eine Rolle wie das grundsätzliche Bemühen um die gesellschaftliche Anerkennung spezifisch künstlerischer Kompetenzen oder das experimentelle Erproben didaktischer Konzepte. Dass das Aufkommen von Camouflage in eine Zeit tiefgreifender Umbrüche in den Künsten fällt, in der die Grenzen zwischen Kunst und Alltag neu ausgelotet und bewusst überschritten wurden, beeinflusst eminent deren Entwicklung. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts experimentierten avantgardistische Bewe­ gungen mit neuen Formen und Techniken und stellten insbesondere im Theater und in der Malerei traditionelle Darstellungsformen und Kunstauffassungen radikal infrage. An­ gesichts dieser konfliktträchtigen Konstellation wirft die Beteiligung von Künstler*innen an der Entwicklung des Konzepts der Camouflage in der Ausnahmesituation des Krieges die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst überhaupt auf. Die Arbeit der Camoufleur*innen setzte – bedingt durch die Komplexität der Tarnungsund Täuschungsprojekte – immer auch die Reflexion über Wahrnehmungsweisen und Möglichkeiten der aktiven Gestaltung von Wirklichkeit voraus, insbesondere in Anwen­ dung auf die entsprechenden Landschaften. Auf diese Weise bildete sich ein spezifisches Raum- und Landschaftsverständnis heraus – entscheidend geprägt durch die neue Ästhe­ tik der Luftperspektive und der Luftfotografie. Wie genau sehen Objekte aus der Luftpers­ pektive aus? Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Oberflächenmaterialien und Oberflächenstrukturen auf das fotografische Bild? Die Beantwortung dieser Fragen erfor­ dert die Entwicklung einer neuen Form von nun nicht mehr ausschließlich als künstlerisch, sondern als militärisch-strategisch qualifiziertem Spezialwissen. Für die Herstellung von zur Camouflage bestimmten Objekten spielten zudem nicht nur reale, selbst erfahrene Perspektiven eine Rolle; vielmehr musste der Blick von oben 33 Vgl. dazu beispielsweise Lloyd C. Engelbrecht, Moholy-Nagy. Mentor to Modernism, Cincinnati 2009, S. 613: „While the course aimed at what was practical and useful, the result nevertheless proved to be visually fas­ cinating“ oder Christoph Asendorf, Super-Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien, New York 1997, S. 217.

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Einleitung

mitgedacht, imaginiert, in Modellen simuliert und damit im Grunde jedes Mal gedank­ lich neu erfunden werden – schließlich stand ein aktuelles Luftbild oder die Möglichkeit eines Fluges nicht unbedingt zur Verfügung. Aufgrund der spezifischen Räumlichkeit des technisierten Krieges vereint die Camouflage auf komplexe Weise zwei Perspektiven in sich, die sich als gegensätzlich und komplementär beschreiben lassen: die Perspektive der Tarnung ebenso wie die Perspektive der enttarnenden Beobachtung, die bei der Gestaltung der Camouflage mitgedacht werden muss. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungs­ konstellation lässt sich das Phänomen der Camouflage nicht allein mit Blick auf die Tar­ nung erfassen. Vielmehr muss Camouflage als Teil einer neuen Form der Betrachtung der Kriegslandschaft und ihrer Bilder begriffen werden, die sich zusammen mit der Camoufla­ ge herausbildet. Dabei lässt sich beobachten, dass die Betrachtungsweise, mit der auf Tar­ nungen und Täuschungen reagiert wird, existentielle, ja tendenziell paranoische Zweifel an der Wahrnehmung, gar grundsätzlich an der Wahrnehmbarkeit von Realität auslösen kann. Folgerichtig werden ausgeklügelte Betrachtungsanleitungen zusammengestellt, mit deren Hilfe sich Täuschungsmanöver und getarnte Objekte enttarnen lassen sollen. Diese können als Versuche der Systematisierung verstanden werden, um einer durch die Mög­ lichkeit der Tarnung als unsicher und zweifelhaft erfahrenen Realität zu begegnen. Die vorliegende Arbeit will diese Betrachtungsweisen, wie der Titel des Buches an­ kündigt, als ‚Landschaftslektüren‘ analysieren. Damit kommt die Lektüre, das Lesen als Betrachtungsmodus ins Spiel. Die sachkundige Lektüre militärischer Luftfotografien, das geübte Lesen der von oben sichtbaren Spuren, die militärisches Handeln zwangsläufig hin­ terlässt – all das spielt eine wichtige Rolle für die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Camouflage während der beiden Weltkriege. Indem die Kriegslandschaft als ein Ensemble von Codes betrachtet wird, die es zu verstehen und zu entschlüsseln gilt, etabliert sich eine neue Form der Lektüre. Mit Sekula lässt sich Camouflage als ein „Sprachspiel“ auf­ fassen, bei dem die Kriegsrealität als ein Zusammenhang semiotischer Zeichen begriffen wird, in den sich Camouflage mit bewusst hergestellten falschen Botschaften einschreibt.34 Mit ‚Landschaftslektüren‘ ist also einerseits dieses Wechselspiel zwischen Camouflage als manipulierender Gestaltung der Erdoberfläche und den Betrachtungsweisen von oben – sei es vermittelt im Medium der Luftfotografie, als direkter Blick aus einem Cockpit oder nur als imaginierte Perspektive – angesprochen. Anderseits will ich mit meiner Studie gewissermaßen auch selbst die Landschaften lesen, deuten und in einen Zusammenhang stellen, die durch Camouflage sowohl ganz real in der militärischen Praxis, aber auch in Bildern, Texten und Überlegungen geformt wurden. Um die so entstandenen Landschaf­ ten nachzuvollziehen, bedient sich meine Lektüre bildwissenschaftlicher, philologischer und historiographischer Methoden.

34 Allan Sekula, Das instrumentalisierte Bild. Steichen im Krieg, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 12/45/46 (1992), S. 55–73, hier: S. 58.

1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg Kriegstheater und Kriegsschauplatz – Theatermetaphern im Kriegskontext Beide Begriffe – Kriegstheater und Kriegsschauplatz – sind deutsche Entsprechungen für das lateinische ‚theatrum belli‘ und das französische ‚théâtre de guerre‘. Der Ursprung die­ ser Begriffe liegt in der barocken Tradition der Theatrum-Metaphorik, in der nahezu alle Aspekte menschlichen Lebens als ‚Theater‘ oder ‚theatrum‘ bezeichnet werden konnten.1 Besonders häufig findet sich der Begriff zu dieser Zeit in Buchtiteln, wodurch eine Analo­ gie zwischen Bühne und Buch als Orten der Wissensdarbietung hergestellt wird. Thomas Kirchner konstatiert in seiner Analyse des barocken Theaterbegriffs: „Zu keiner Zeit hatte das Wort Theater bzw. seine lateinische Form theatrum einen annähernd weiten Bedeu­ tungsumfang wie im Barock. Es bezeichnet schlechthin alles, was zu sehen ist […].“2 Dabei wird das architektonische Arrangement des Theaters mit seiner spezifischen Wahrneh­ mungskonstellation zwischen Publikum und Bühnengeschehen zum paradigmatischen Modell sowohl der Erkenntnis, als auch der Wissensproduktion und -verbreitung.3 Bemer­ kenswerterweise hat der Begriff Kriegstheater, wie Marian Füssel beobachtet, die eigentli­ che Kernphase der Theatrum-Metaphorik der frühen Neuzeit überdauert.4 Noch in Texten zum Ersten Weltkrieg findet er sich, obwohl sich die Theatrum-Metaphorik in Bezug auf andere Wissensbereiche im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich verlor, als dem Theater mehr und mehr Konnotationen von Schein und Falschheit zugeschrieben wurden.5 Die Orte des Krieges als Schauplatz zu bezeichnen, ist bis heute üblicher Sprachgebrauch. Im Englischen ist ‚theater of war‘ vor allem militärfachsprachlich die geografische Bezeich­ nung für eine Region, in der, wie es im Fachwörterbuch heißt, „military activities“6 ausge­ führt werden. Was ist es also, das den Krieg über die historischen Veränderungen so vieler Jahrhun­ derte hinweg als Ort des Schauens verstehen lässt? Was macht diesen Schauplatz aus, was gibt es auf ihm zu sehen, und wer wird als Zuschauerin gedacht? In historischer Perspektive ist für eine Auffassung des Krieges als Schauplatz der syn­ optische Charakter der Kriegsdarstellungen der Frühen Neuzeit charakteristisch, als eine

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Vgl. die Analyse des barocken Theaterbegriffs bei Thomas Kirchner, Der Theaterbegriff des Barocks, in: Maske und Kothurn, 34 (1985), S. 131–140. Ebd., S. 131. Vgl. Hole Rößler, „Weltbeschauung: Epistemologische Implikationen der Theatrum-Metapher in der Frü­ hen Neuzeit“, in: Nikola Roßbach und Constanze Baum (Hg.), Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit, http://diglib.hab.de/ebooks/ed000156/start.htm 2013, S. o. Seitenangabe. Vgl. Marian Füssel, Theatrum Belli. Der Krieg als Inszenierung und Wissensschauplatz im 17. und 18. Jahrhundert, in: metaphorik.de, 14 (2008), S. 205–230, hier: S. 205. Vgl. ebd., S. 205. Franz Uhle-Wettler, „Theater of War“, in: Franklin D. Margiotta (Hg.), Brassey’s Encyclopedia of Land Forces and Warfare, Washingtion DC, London 1996, S. 1064–1067, hier: S. 1064–1065.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

ganze Theatrum-belli-Literatur entstand.7 Füssel stellt in seiner Analyse von Kriegsdar­ stellungen des 17. und 18. Jahrhunderts die optische Dimension der Theater-Metapher he­ raus. Vereinfachende Darstellungen, die beispielsweise alle Schlachten eines Krieges in übersichtlicher Weise grafisch verzeichnen und Kriegsverläufe kartografieren oder Panora­ magemälde, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten verübte Ge­ waltakte auf einem Bild versammeln, fungieren dabei, so Füssel, als „mnemotechnisches Gedächtnistheater“8. Panoptische Darstellungsweisen erscheinen als Reaktion auf die Pro­ bleme der Darstellbarkeit der extrem chaotischen Kriegshandlungen. Chaotisch sei dabei sowohl die Situation auf dem Schlachtfeld als auch der Gesamtverlauf eines Krieges oder Feldzuges mit den Siegen und Niederlagen der einzelnen Schlachten, die keinem linearen Ablauf folgen. Die Theatermetaphorik trage zur Ordnung und Strukturierung sowohl der Wahrnehmung als auch der Repräsentation des Krieges bei. Der apokalyptische Zustand der Kriegssituation wird in der Repräsentation auf einen vorstellbaren und kartografier­ baren geografischen Raum reduziert. Füssel spricht im Zusammenhang mit Kriegsdarstel­ lungen von der Theatermetaphorik als ideologisch motivierter „Rationalitätsfassade“: Angesichts der von einer extremen Unübersichtlichkeit geprägten Schlachten, die dadurch tendenziell zu unsichtbaren Ereignissen wurden, kann der Rückgriff auf die Theatermetaphorik hingegen geradezu als Rationalitätsfassade angesprochen werden, die eine faktisch nicht zu erreichende Überschaubarkeit suggeriert.9 Theater fungiert als „distanzgewährendes Orientierungsmodell“10 in Anbetracht schier un­ überschaubarer, höchst komplexer und gleichzeitig existentiell bedrohlicher Zusammen­ hänge. Die ideologische Dimension der barocken Theatrum-belli-Metapher besteht darin, dass sie durch „die semantische Virtualisierung des massenhaften Tötens als Schauspiel […] sicher nicht unwesentlich zum Bild einer gezähmten Bellona“11 beitrug. Die Metapher der Übersicht und distanzierten Betrachtungsmöglichkeit nimmt dem Krieg seinen exis­ tentiellen Schrecken und versucht die Bedrohungen im Zaum zu halten, die mit Chaos und Undurchdringlichkeit einhergehen. Anhand zeitgenössischer Selbstzeugnisse aus dem 18. Jahrhundert gelingt es Füssel außerdem nachzuweisen, dass der Gebrauch der Theatermetapher nicht auf einen gelehrten Diskurs beschränkt war, sondern von größeren vom Krieg betroffenen Bevölkerungsteilen benutzt wurde.12  7 Vgl z. B. anonym, Neues Kriegs-Theater oder Sammlung der Merkwürdigsten Begebenheiten des Gegenwaertigen Krieges In Teutschland in accuraten in Kupfer gestochenen Vorstellungen, Leipzig 1758. 8 Füssel, Theatrum Belli, S. 215. 9 Ebd., S. 218. 10 Helmar Schramm, „Theatralität und Öffentlichkeit: Vorstudien zur Begriffsgeschichte von ‚Theater‘“, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius und Wolfgang Thierse (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch, Berlin 1990, S. 202–242, hier: S. 212. 11 Füssel, Theatrum Belli, S. 220. 12 Vgl. ebd., S. 219.

Kriegstheater und Kriegsschauplatz – Theatermetaphern im Kriegskontext

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm listet ‚Kriegstheater‘ als deut­ sche Übersetzung von ‚théâtre de guerre‘ und verweist auf das Wort ‚Kriegsschauplatz‘ als die geläufigere Übertragung ins Deutsche, die inzwischen – das ist 1873 – jedem „mund­ gerecht“13 sei. So wird ‚Kriegstheater‘ auch als ein feststehendes Kompositum gelistet, obwohl – wie in der Einleitung des Wörterbuchs dargelegt wird – auf Komposita bei der Aufnahme ins Wörterbuch so weit wie möglich verzichtet werde, da die Zusammenset­ zungsfähigkeit der deutschen Sprache zu „unermeszlich“ sei.14 „[E]inlasz gewähr[t]“ werde nur den „gangbaren und geläufigen, […] günstigen und treffenden bildungen […]“15 und denjenigen Komposita, nach denen im Sprachgebrauch ein Bedürfnis festgestellt werden könne. Im Umkehrschluss heißt das, dass ein Wort wie Kriegstheater offenbar den Kriteri­ en der Geläufigkeit im Gebrauch sowie der sprachlichen Notwendigkeit für die Aufnahme in das Wörterbuch der deutschen Sprache genügt haben muss. Der grimmsche Eintrag zum Kriegstheater umfasst den Hinweis, dass man bei diesem Begriff „an theater kaum noch [denke]“16. Das heißt: Wer den Begriff in der zweiten Hälf­ te des 19. Jahrhunderts benutzt, spricht in der Regel von einer militärisch-geografischen oder räumlichen Einheit und hat nicht unbedingt im Sinn, durch einen bildlichen Aus­ druck eine theatrale Konstellation des Krieges zu behaupten. Im Wort ‚Kriegstheater‘ ist das Theater, so hat es hier den Anschein, mit dem Krieg zu einer rein militärischen Einheit verschmolzen. Doch das unscheinbare, aber verräterische Wort „kaum“ im Wörterbuch­ eintrag gibt zu verstehen, dass zumindest Spuren aus dem Ursprungszusammenhang der Metapher, also dem Theater, auch dem Begriff des Kriegstheaters noch anhaften. Dass man „kaum noch“ an Theater denke, wie das Wörterbuch konstatiert, bedeutet also umgekehrt, dass zu einem gewissen Anteil eine Vorstellung und Konnotation von Theater, von Theat­ ralität oder einer Bühnenkonstellation mitschwingen, wenn von den Räumen des Krieges als ‚Kriegstheater‘ und ‚Kriegsschauplatz‘ die Rede ist. So soll hier argumentiert werden, dass Krieg von theatralen Dimensionen geprägt ist, die in den Begriffen ‚Kriegstheater‘ und ‚Kriegsschauplatz‘ Ausdruck finden und die Wahrnehmung des Krieges prägen. Nicht zuletzt durch die Theatralität der Camouflage stellt sich die Frage, wie eigentlich oder uneigentlich das Kriegstheater mit dem Theater verbunden ist. Die Aktivitäten im Zu­ sammenhang mit Camouflage bieten dafür reichhaltiges Material, weil sie auf räumliche Veränderungen des Kriegsschauplatzes und seiner strategischen Repräsentationsformen reagieren, sich in Kriegslandschaften einschreiben und gleichzeitig in das Kriegsszenario theatrale Elemente von Illusionserzeugung und Kulissenarchitektur eintragen. Was ein

13 o. V., „Kriegsschauplatz“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm und Rudolf K. Hildebrand (Hg.), Deutsches Wörterbuch. Fünfter Band, K, Leipzig 1873, Sp. 2291–2292, hier: Sp. 2292. 14 Vgl. Jacob Grimm, „Vorwort“, in: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Hg.), Deutsches Wörterbuch. Erster Band. A-Biermolke, Leipzig 1854, S. I–LXVIII, hier: XLII. 15 Grimm, Vorwort, XLIII. 16 o. V., „Kriegstheater“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm und Rudolf K. Hildebrand (Hg.), Deutsches Wörterbuch. Fünfter Band, K, Leipzig 1873, Sp. 2296, hier: Sp. 2296.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Kriegstheater ist, lässt sich also nur in seinem jeweiligen Kontext aus militärischen und theatralen Konstellationen verstehen. Die Untersuchung geht davon aus, dass metaphorische Ausdrücke, wenn sie in neue Kontexte eintreten, Bedeutungen ihres ehemaligen Verwendungszusammenhanges nicht einfach ablegen, sondern Spuren davon beibehalten und in ihre neuen Kontexte hinein­ tragen. Der französische Philosoph Paul Ricœur entwickelt innerhalb seiner Theorie der „lebendigen Metapher“17 ein ähnliches Verständnis der Funktion von Metaphern in der Sprache. Die Metapher, so Ricœur, sei nicht auf ihre rhetorische Funktion zu beschränken, in der sie über eine assoziativ evozierte Ähnlichkeit gebraucht wird, um eine Aussage an­ schaulich zu machen. Er betont demgegenüber den wirklichkeitsstiftenden Charakter von Metaphern, die zwei entfernte Bedeutungen in einen Zusammenhang stellen und so eine neue Sicht auf die Wirklichkeit provozieren können: Ich sagte, daß der metaphorische Sinn eine ‚Nähe‘ zwischen Bedeutungen schafft, die vordem einander fremd waren. Jetzt möchte ich sagen, daß dieser ‚Nähe‘ eine neue Vision der Wirklichkeit entströmt, der die gewöhnliche und an den Wortgebrauch der Umgangssprache gebundene Anschauung Widerstand leistet.18 Die Theatrum-Metapher in ‚Kriegstheater‘ und ‚Kriegsschauplatz‘ ist zwar streng genom­ men keine „lebendige“ Metapher nach Ricœurs Auffassung, der bestimmte Arten von Me­ taphern aus seiner Analyse ausklammert – nämlich „die gewöhnlichen […], die eigentlich gar keine sind, […] so zB. den Fuß des Stuhles. Metaphern gibt es nicht im Wörterbuch.“19 In diesem Sinne ist die Metapher vom Kriegstheater schon seit mehreren Jahrhunderten keine poetische Neuschöpfung mehr, sondern ein feststehender Begriff, der entsprechend auch nicht im Wörterbuch fehlt. Jedoch zeigt das Beispiel des Kriegstheaters, dass es auch feste metaphorische Begriffsverbindungen gibt, bei denen Reste von der Fremdheit der beiden zusammengeführten Bedeutungen auch dann noch spürbar bleiben, wenn sie schon zu geläufigen Begriffen geworden sind. Insbesondere kann sich diese ursprüngliche Fremdheit aktualisieren, da sich im Laufe der Jahre sowohl die Art und die Wahrnehmung des Krieges als auch Auffassungen von Theater und theatrale Praktiken grundlegend ge­ wandelt haben. Dem Krieg etwas Theatralisches zu unterstellen oder ihn als ein Spektakel zu betrachten, bekommt angesichts der realen Gewalt und des Leidens erst dann etwas Zynisches, wenn das Theater mit einer Konnotation von Falschheit oder Unterhaltungs­ kultur verbunden ist. Die Rede vom Kriegsschauplatz wird dann (wieder) fragwürdig und die Schauplatz-Metapher irritierend, wenn sich die Räume des Krieges als unendlich aus­ gedehnt erweisen und an ihnen nichts einer begrenzten, überschaubaren Bühne gleicht. 17 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, München 1986. 18 Paul Ricœur, „Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache“, in: Paul Ricœur und Eberhard Jüngel (Hg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, S. 45–70, hier: S. 51. 19 Ebd., S. 49.

Kriegstheater und Kriegsschauplatz – Theatermetaphern im Kriegskontext

Auch wenn der metaphorische Ausdruck längst zum allgemein gebräuchlichen Begriff geworden ist, haftet ihm je nach historischer Situation des Gebrauchs noch oder wieder etwas von der ursprünglichen poetischen wirklichkeitsstiftenden Geste an. Die Metapher ist nichts anderes als das Aufkleben eines bekannten Etiketts mit einer bestimmten Vergangenheit auf einen neuen Gegenstand, der sich dieser Übertragung erst widersetzt, dann nachgibt. Man findet hier das Wesentliche der vorgängigen Analysen wieder, die die Metapher in die Nähe eines einkalkulierten Fehlers brachten; die wörtliche Falschheit ist also ein Bestandteil der metaphoren Wahrheit.20 Im Falle des Kriegstheaters lässt sich sogar vermuten, dass die „wörtliche Falschheit“ der Verbindung von Krieg und Theater zu späteren Zeiten eklatanter hervortrat, womöglich gar eine größere Reibungsfläche bot als zur Zeit ihrer Entstehung, in der die Theatrum-Me­ taphorik in so vielen Bereichen gegenwärtig war. Evozierte die Metapher des Theaters zu Beginn der Wortschöpfung eine angestrebte Übersicht über den Krieg, ließen gewandelte Theaterkonzepte und Theaterpraktiken den vorgeschlagenen Ähnlichkeitsbezug zwischen Theater und Krieg zunehmend fragwürdiger, unpassender oder gar ethisch verwerflich erscheinen. Diese Fragwürdigkeit bringt 1909 Paul Scheerbart in seiner Vision eines kriegerischen Freiluftspektakels zum Ausdruck, indem er den kurzen Text als „Kriegstheater“ betitelt, wobei das Wort in distanzierende Anführungsstriche gesetzt ist. In Scheerbarts Text wird die „wörtliche Falschheit“ des militärischen Fachterminus „Kriegstheater“ vorgeführt und erzeugt eine ganze neue „metaphore Wahrheit“, die den Krieg der Zukunft als hochtechni­ siertes Spektakel eigener Ästhetik düster gigantesk vorzeichnet (vgl. die Ausführungen zu Scheerbart in dieser Studie, S. 87–100). Wie das Beispiel des ‚theatrum belli‘ zeigt, gibt es also auch Metaphern, die zum Begriff geworden sind, und dennoch in ihren jeweils neuen Bedeutungskonstellationen lebendige Konzepte bleiben oder situationsabhängig wieder zum Leben erweckt werden können. Insofern können Metaphern sehr langlebig sein. Denn Metaphern, so Ricoeur, „währen solange, wie der semantische Widerstreit (clash) zwischen den Wörtern wahrgenommen wird. Sobald sie üblich und selbstverständlich sind, werden sie auch trivial und sterben als Metaphern.“21 Vor diesem Hintergrund will die vorliegende Arbeit danach fragen, welche Elemente der Wahrnehmung und Repräsentation des Krieges dafür gesorgt haben, dass Vergleiche mit dem Theater naheliegend schienen und die Metapher „mundgerecht“ werden konn­ te, wie es das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm 1873 konstatiert. Welche Aspek­ te von Theater und Krieg dagegen sträuben sich gegen den nahegelegten Vergleich und 20 Ebd., S. 52–53. 21 Ebd., S. 63.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

lassen an einer Auffassung des Krieges als Schauplatz Anstoß nehmen? Dazu gilt es, die neuen Bedeutungszusammenhänge in den Blick zu nehmen, die sich aus der Metapher und ihren unterschiedlichen Kontexten ergeben. In gewisser Weise folgt dieser Umgang mit den Metaphern Hans Blumenbergs metaphorologischem Appell, „das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken“22. Der metaphorischen Bildsprache soll dabei in der vorliegenden Studie mit Blumenberg ein Rest der Unauflösbarkeit ins Begriffliche zugesprochen werden, der eine „katalysatorische Sphäre“23 bildet, aus der sich die Sprache bereichert. In Bezug auf die Metapher des Kriegstheaters ist der von Blumenberg als kata­ lysatorisch bezeichnete Effekt als eine Latenz des Theatralen zu verstehen, die sich in den als Theater und Schauplatz bezeichneten Räumen des Krieges ausmachen lässt. Die Theatermetapher transportiert ein Wahrnehmungsmodell, das im Kriegskontext erstaunlich virulent bleibt. Die Phantasie und Vision einer distanzierten Beobachterpo­ sition, die sich in der Metapher vom Kriegstheater ausdrückt, lange bevor so etwas wie Aufklärungsfotografie denkbar war, lässt einen strategischen Einsatz von Wahrnehmen und Beobachten naheliegend erscheinen. Denn der Gedanke an ein Kriegstheater verlangt eine Zuschauerposition. So sind nicht zuletzt die technisch erweiterten und veränderten Wahrnehmungs- und Beobachtungsmodi, innerhalb derer die Kamera im Rahmen der so genannten militärischen Aufklärung oder ‚reconnaissance‘ zur tödlichen Waffe wurde, durch die Metapher vom Kriegstheater möglicherweise besonders plausibel geworden. Jedenfalls lässt sich das Spannungsfeld, das die durch die Metapher vom Kriegstheater aufgerufene Wahrnehmungskonstellation eröffnet, in diesem Sinne als eine katalysato­ rische Sphäre untersuchen. Welche „logische Verlegenheit“24, für die die Metapher laut Blumenberg einspringt, deutet sich hier im Umgang mit Krieg, in seiner sprachlichen und strategischen Repräsentation an? Das Aufdecken einer „Logik der Phantasie“25 hinter den Metaphern gibt Einblicke in die historisch womöglich unsagbaren oder undenkbaren Ide­ en und Vorstellungen, die durch die metaphorische Rede Eingang in die Sprache gefunden haben und auf diese Weise heute noch einer Analyse zugänglich sind. Aus diesem Grunde sollen die Metaphern Kriegstheater und Kriegsschauplatz als Indi­ katoren für den jeweils historisch spezifischen Zugriff auf den Raum des Krieges betrachtet werden. Dabei wird mit dem Theaterwissenschaftler Helmar Schramm davon ausgegan­ gen, dass Metaphern einer speziellen Analyse bedürfen, weil sie sich – anders als Begriffe – nicht ohne Weiteres in Wörterbüchern festschreiben lassen, sondern ihre Polysemie sich jeweils erst im Gebrauch entfaltet: „sie erwachen als solche überhaupt erst in lebendigen 22 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998, S. 11. 23 Ebd., S. 11. 24 Ebd., S. 10: „Einer Analyse muß es ja darauf ankommen, die logische ‚Verlegenheit‘ zu ermitteln, für die die Metapher einspringt, und solche Aporie präsentiert sich gerade dort am deutlichsten, wo sie theoretisch gar nicht ‚zugelassen‘ ist.“ 25 Blumenberg greift die Formulierung von Giambattista Vico auf, der die „Logik der Phantasie“ als die Mög­ lichkeit der Einsicht in vom Menschen geschaffene Dinge gegenüber der nur Gott zugänglichen Einsicht in sein Schöpfung stark mache: ebd., S. 8.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater

Texten, werden aktiviert im öffentlichen Diskurs.“26 Die Schwierigkeit des Festschreibens spricht auch aus Formulierungen in den zitierten Artikeln des Grimmschen Wörterbuchs, eine Art philologischer Verlegenheit, die sich in einschränkenden Formulierungen wie „kaum“ oder „eigentlich“ ausdrückt. Sie ergibt sich bei Metaphern aus den semantischen Wanderungsbewegungen, die sich in der Geschichte ihrer Gebrauchszusammenhänge nachzeichnen lassen. Wer dennoch den Versuch wagt, Metaphern als Begriffe in enzyklo­ pädische Projekte aufzunehmen, kommt in die Zwangslage, eigentliche und uneigentliche Bedeutungen auseinander dividieren zu müssen.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater Am prominentesten definiert der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz den Be­ griff ‚Kriegstheater‘ in der kurz nach seinem Tod zwischen 1832 und 1834 unter dem ­Titel Vom Kriege veröffentlichten und bis heute sehr einflussreichen Sammlung seiner Schriften.27 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, markiert Clausewitz’ Umgang mit dem Konzept von Kriegstheater einen Wendepunkt in der Geschichte der Verwendung der Metapher: Die barocke Bedeutungsdimension der Übersicht wird abgelöst von dy­ namischen Raumkonzepten, die das Nicht-Wissen und den Zufall in den Mittelpunkt rücken. Dies kann allerdings nicht als ein linearer Ablösungsprozess verstanden wer­ den. Auch wenn Clausewitz dem Kriegstheater neue Bedeutungsdimensionen hin­ zufügt, überlagern diese die barocken Ursprünge der Theater­metapher nicht immer vollständig und es tritt mal der eine Aspekt, mal der andere stärker hervor. Aus wis­ sensgeschichtlicher Perspektive befindet sich Clausewitz um 1800 an einer Schwelle des Umbruchs, innerhalb derer Konzepte von Theatralität eine zentrale Rolle einnehmen. Die Philosophin Sibylle Peters zeigt in Anlehnung an Michel Foucault und mit Bezug auf Denis Diderot, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Immanuel Kant und Karl Philipp Moritz, wie in zentralen philosophischen Texten dieser Zeit die menschliche Wahrnehmung als einziger Zugang zur Welt und somit auch ihre Bedingtheit in den Fokus rückten. Peters analysiert darin die Rückgriffe auf ein theatrales Modell, das es ermögliche, den Menschen und seine Wahrnehmungsmöglichkeiten zum Forschungsobjekt zu machen. Anhand der Komplexität der theatralen Wahrnehmungssituation konnte dabei gleichzeitig mitgedacht werden, dass die Forschenden selbst den Wahrnehmungsbedingungen unterworfen sind, die sie untersuchen, dass sie also weder ganz Zuschauer*innen noch ganz Handelnde sein können. Die „Intuition der theatralen Wahrnehmung“28, sowie der „Rekurs auf das

26 Schramm, Theatralität und Öffentlichkeit, S. 203. 27 Clausewitz, Vom Kriege. 28 Sibylle Peters, „Die Aisthesis des Wissens: Zur Beziehung von Theatralität und Wahrnehmung um 1800“, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen 2001, S. 67–84, hier: S. 78.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

­ okabular und die Erfahrungen des Theaters“29 habe dabei geholfen, so Peters, insbesonde­ V re „das Nicht-Funktionieren, das Scheitern, die Umwegigkeit“30 der Verfahrensweisen der sich herausbildenden Humanwissenschaften zu plausibilisieren. Sein Wahrnehmungsset­ ting prädestiniert das Theater gerade um 1800 – unter sich verändernden Vorzeichen – in anderer Weise als noch in der barocken Theatrumtradition zum epistemologischen Modell. Es modelliert nun weniger den idealen Übersichtsraum, sondern rückt in stärkerem Maße den Menschen als Agierenden und Zuschauenden in den Fokus – sowie infolgedessen das Bühnengeschehen als etwas vom Menschen Gemachtes, etwas speziell Arrangiertes. Clausewitz und sein Rekurs auf theatrale Blickanordnungen für seine Theorie des Krie­ ges sind in diesem Kontext der zeitgenössischen Funktion theatraler Modelle zur Welt­er­ schließung zu verstehen. Seiner Definition von Kriegstheater schickt Clausewitz voraus, dass „die Natur der Sache“ eine vollkommen trennscharfe Bestimmung der Begriffe ‚Kriegs­ theater‘, ‚Armee‘ und ‚Feldzug‘, die er mit physikalischem Vokabular als Kategorien von „Zeit, Raum und Masse im Kriege“31 bestimmt, nicht zulasse. Diese drei grundlegenden „Werk­ schuhe“32 eines jeden Krieges hingen so eng miteinander zusammen, dass sie ohne einan­ der nicht gedacht werden könnten. Dennoch macht er den Versuch, „sie einmal jede für sich als ein Ganzes in ihrem Wesen und ihrer Eigentümlichkeit“33 zu betrachten. Dabei beginnt er mit einer Definition des Kriegstheaters als der räumlichen Maßeinheit des Krieges: Eigentlich denkt man sich darunter einen solchen Teil des ganzen Kriegsraumes, der gedeckte Seiten und dadurch eine gewisse Selbständigkeit hat. Diese Deckung kann in Festungen liegen, in großen Hindernissen der Gegend, auch in einer beträchtlichen Entfernung von dem übrigen Kriegsraum.34 Für diese theoretische und isolierte Charakterisierung der Kategorie des Raumes muss Clausewitz diesen quasi gewaltsam und trotz eingeräumter Unmöglichkeit von den bei­ den anderen mit ihm so sehr verwobenen Grundkategorien des Krieges (Armee und Feld­ zug) abgrenzen. Die Selbständigkeit eines Kriegstheaters liegt nach Clausewitz in seiner abgrenzbaren Lage, also entweder „in einer beträchtlichen Entfernung von dem übri­ gen Kriegsraum“ oder „in Hindernissen der Gegend“ begründet. Durch diese räumliche Trennung übten „die Veränderungen, welche sich auf dem übrigen Kriegsraum zutragen, ­keinen unmittelbaren, sondern nur einen mittelbaren Einfluß“35 auf die Geschehnisse ­innerhalb des Kriegstheaters aus. Im Vergleich zu den räumlichen Strukturen des Ersten 29 Ebd., S. 76. 30 Ebd. 31 Clausewitz, Vom Kriege, S. 500. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater

und Zweiten Weltkriegs ist das hier definierte Kriegstheater zumindest in der Theorie noch in einer Weise abgrenzbar, die später aufgrund technischer Innovationen in der Reichwei­ te der Waffen und der Geschwindigkeit der Transport- und Kommunikationsmittel nicht mehr aufrecht zu erhalten sein wird. Der zu allen Seiten abgrenzbare Raum bildet – mit einer Bühne vergleichbar – eine überschaubare exponierte Einheit. Als Theoretiker beobachtet Clausewitz, um „die Be­ trachtung der Dinge mit Klarheit und Leichtigkeit“36 zu ermöglichen, den Krieg von ei­ nem distanzierten Standpunkt aus und nimmt bei seiner Beschreibung des Kriegstheaters gedanklich eine imaginierte, eine fiktive Zuschauerposition ein. Seine die Definition des Kriegstheaters einleitende Formulierung „Eigentlich denkt man sich darunter […]“ mar­ kiert diese ideale Perspektive als Gedankenspiel, als theoretische Analysekategorie mit dem Ziel der Strukturierung des Krieges. Indem er den Kriegsraum strukturell denkt und theoretisch strukturiert, erschafft Clausewitz – ganz in der Tradition der einen Überblick suggerierenden barocken Theatermetapher37 – die idealtypische Perspektive, die das ge­ samte Kriegstheater überblicken kann. Diese Perspektive entspricht der privilegierten Sicht vom sprichwörtlichen Feldherrenhügel aus, die eher erträumte Vision und beherr­ schender Topos der Schlachtenmalerei war als reale Seherfahrung. Das Kriegstheater ist also kein gegebener Raum, der metaphorisch als Theater umschrieben wird. Vielmehr hilft die Theatermetapher dabei, das Ganze des Kriegsraumes in vorstellbare Einheiten zu strukturieren. Das Konzept des Kriegstheaters erfüllt dabei eine ähnliche Funktion der Unterteilung und Visualisierung eines großen Terrains wie die Kartografie, deren historischer Zusam­ menhang mit militärischer Eroberung in der Literatur schon hervorgehoben wurde.38 Der Literaturwissenschaftler Anders Engbert-Pedersen beschreibt den kartografischen Appa­ rat, der im Zuge der Napoleonischen Kriege aufgebaut wurde als „attempt to domesticate and control the hazardous empire of war“39. Engbert-Pedersen sieht also in der Praxis des Kartografierens weniger eine zweidimensionale, von klaren Strukturen geprägte Raumauf­ fassung gespiegelt. Im Gegenteil deutet er die Praxis als eine Strategie, des entsprechen­ den Raumes und der unabsehbaren Realitäten, die dieser repräsentierte, Herr zu werden.

36 Ebd., S. 277. 37 Vgl. zur epistemischen Funktion der barocken Theatermetapher: u. a. Rößler, Weltbeschauung; Kirchner, Der Theaterbegriff des Barocks; Peter Rusterholz, Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein, Berlin 1970 und speziell zum theatrum bellum Füssel, Theatrum Belli. 38 Woodward führt aus, wie die Kartographie als Visualisierung bestimmter Territorien historisch mit militäri­ scher Eroberung verbunden sind: vgl. Rachel Woodward, Military geographies, Malden, MA 2004, S. 107–108; ebenfalls ausführlich dazu Jeremy Black, Maps and politics, London 1997; auch zeitgenössisch wurde die Kartographie als „Hülfswissenschaft“ für die Kriegskunst erkannt, so zum Beispiel von H. G. Hommeyer, Beiträge zur Militair-Geographie der europäischen Staaten, Breslau 1805, S. xiii–xiv. 39 Anders Engberg-Pedersen, Empire of chance. The Napoleonic wars and the disorder of things, Cambridge 2015, S. 182.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Eine ähnliche Betrachtungsweise will ich hier auch für das Konzept des Kriegstheaters vorschlagen, das in einer ähnlichen Dynamik wie die Kartografie strukturierend in eine chaotische Realität interveniert. Dabei eröffnet sich das Kriegstheater aus einer bestimm­ ten Perspektive, die den Krieg in einer Dynamik von Blickordnungen zu begreifen versucht. Der Rekurs auf die Theatermetaphorik innerhalb der Kriegsterminologie ermöglicht es für Clausewitz, einen umgrenzten Raum aus dem unstrukturierten allgemeinen Kriegsraum herauszuschälen und diesen als Raum der Repräsentation zu verstehen. Darüber hinaus wirkt Theater innerhalb dieser Art des analytischen Zugriffs auf den Raum des Krieges als Modell für eine Wahrnehmungskonstellation, bei der sich ein Subjekt durch Distanznah­ me und fokussiertes Zuschauen einen Begriff vom Krieg machen kann.40 Die Perspektive der Distanz ist zentral für die ordnende Funktion, die das Kriegstheater bei Clausewitz einnimmt. Clausewitz beschreibt in einer Passage über die „Gefahr im Kriege“ eindrücklich, wie der Grad der Schauspielhaftigkeit in der Wahrnehmung abnimmt, je näher man dem Kriegsgeschehen kommt und dort realen Gefahren ausgesetzt ist. Darin nimmt Clauswitz den Leser als „Neuling“ in Sachen Krieg in präsentischer Erzählung narrativ gewisserma­ ßen auf das Schlachtfeld mit: Begleiten wir den Neuling auf das Schlachtfeld. Wenn wir uns demselben nähern, so wechselt der immer deutlicher werdende Donner des Geschützes endlich mit dem Heulen der Kugeln, welches nun die Aufmerksamkeit des Unerfahrnen auf sich zieht. […] Jetzt einen Schritt in die Schlacht hinein, die vor uns tobt, fast noch wie ein Schauspiel, zum nächsten Divisionsgeneral; hier folgt Kugel auf Kugel, und der Lärm des eigenen Geschützes mehrt die Zerstreuung.41 Nah am Geschehen zu sein bedeutet Zerstreuung, umso mehr, als das Geschehen im Fall des Krieges nicht nur mit schnell wechselnden und besonders starken Sinneseindrücken verbunden ist, sondern ganz besonders auch deswegen, weil Donner, Heulen und umher­ sausende Kugeln eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Während für die Betrachtung des Kriegstheaters die Blickachsen, also das Visuelle, von Bedeutung sind, ist die Nahperspektive in dieser Schilderung besonders durch ihre Akustik, ihren Lärm, gekennzeichnet. Distanz bedeutet demnach nicht nur eine vorteilhafte Blickperspektive, sondern auch Sicherheit und Ruhe, die die Voraussetzungen für eine erkennende Betrach­ tung bieten. In Clausewitz’ Definition von Kriegstheater fließen, neben dem barocken Phantasma der Übersicht, aber noch weitere Aspekte ein, die eine andere Auffassung von Theater 40 Vgl. Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 51, der anhand von frühneuzeitlichen Texten aus Philosophie, Dichtung und Naturforschung zeigt, wie die Theatermetaphorik „ganz konkret das Bemühen [unterstützt], sich einen Begriff von der Welt zu machen.“ 41 Clausewitz, Vom Kriege, S. 253–254.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater

e­ vozieren. So ist der von allen Seiten gedeckte Ort nicht nur ein Ort, der durch seine Um­ grenzung übersichtlich ist. Vielmehr ist er ein Ort der Übersichtsphantasie, die ebenso ersehnt wie unerreichbar ist. Unter Rekurs auf die Theatermetapher ruft er die barocke Übersicht, Ordnung und das erkennende Sehen der Repräsentation auf. Gleichzeitig mar­ kiert Clausewitz diese Raumvorstellung deutlich als Imagination und behelfsmäßige Ana­ lysekategorie, die realiter als ideale Blickposition in den Unwägbarkeiten des Kriegs nicht eingelöst werden kann. Vielmehr betont Clausewitz dabei den außergewöhnlich bedeut­ samen Faktor des Unbekannten, mit dem man es im Krieg zu tun habe; dieser verbiete es einer seriösen Theorie, konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Das Gebiet, um dessen Hoheit die teilnehmenden Parteien im Krieg kämpfen, sei von vorneherein immer auch an­ derweitig besetzt: „Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit.“42 Das Kriegstheater fungiert dabei, so soll im Folgenden gezeigt werden, als ein Übergangskonzept, das die Theaterme­ tapher mit ihren epistemischen Implikationen der barocken Tradition auf die von Clau­ sewitz erfahrene Kriegsrealität überträgt und diese dabei modifiziert. Theater bezeichnet hier einen begrenzten Raum, einen Ausschnitt, der in seiner Begrenzung einerseits seine erkenntnisfördernde Kraft gewinnt und gleichzeitig deutlich auf sein Dahinter, das Aus­ geklammerte, das dem Blick Entzogene verweist. Damit gerät die theatrale Rahmung des räumlich verstandenen Krieges in den Blick, die die Dinge sichtbar erscheinen lässt und dafür zwangsläufig anderes verdeckt. Für die Beschreibung dieser Unverfügbarkeit des Wissens im Krieg verwendet Clau­ sewitz Metaphern aus dem Bereich der Beleuchtung, die im Theater als einem Raum des Schauens eine konstituierende Rolle spielt. Zudem war bis zur Entwicklung des elektri­ schen Lichts, die Beleuchtung im Theater eine dauernde Streitfrage zwischen Ästhetik, Praktikabilität und Brandsicherheit.43 Endlich ist die große Ungewißheit aller Datis im Kriege eine eigentümliche Schwierigkeit, weil alles Handeln gewissermaßen in einem bloßen Dämmerlicht verrichtet wird, was noch dazu nicht selten wie eine Nebel- oder Mondscheinbeleuchtung den Dingen einen übertriebenen Umfang, ein groteskes Ansehen gibt. Was diese schwache Beleuchtung an vollkommener Einsicht entbehren läßt, muß das Talent erraten, oder es muß dem Glück überlassen bleiben.44 Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Wissen über das Kriegsgeschehen zu erlangen, wird in den gewählten Formulierungen direkt an die Frage der Sichtbarkeit gekoppelt, indem in einer Metaphorik des Lichts bzw. der Dunkelheit von „Dämmerlicht“, „Mondscheinbe­ leuchtung“, „schwache Beleuchtung“ und „Nebel“ die Rede ist. Dass ein ungehindertes 42 Ebd., S. 233. 43 Vgl. Carl-Friedrich Baumann, Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis zum Glühlampen-Scheinwerfer, Stuttgart 1988. 44 Clausewitz, Vom Kriege, S. 289.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Sehen im Krieg niemals gegeben ist, vielmehr die eingeschränkten Wahrnehmungsbe­ dingungen viele Dinge verzerren, ihnen „ein groteskes Ansehen“ verleiht, macht eine der Schwierigkeiten der Kriegführung aus. Wo das Auge nicht weiterhilft, ist das „Talent“, die Dinge zu „erraten“ gefragt: „ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen“.45 Die Deckung der Seiten, die Clausewitz als konstituierendes Merkmal des Kriegsthea­ ters nennt, steht auch für eine gesetzte Rahmung des Ausschnitts und für Sichtbarrieren, die ein überblickbarer Raum in seiner Begrenzung zwangsläufig mit sich bringt. Diese Grundeigenschaft des Kriegstheaters deutet sich in der eingangs zitierten Formulierung an, laut der die Abgeschlossenheit, die das Kriegstheater als solches konstituiert, „in gro­ ßen Hindernissen der Gegend“46 begründet liegt. Die Deckung des Kriegstheaters schützt also die militärische Stellung nicht nur, sondern ist auch „Hindernis“, indem sie die Sicht auf das dahinter Liegende oder das Entfernte behindert. Der größte Teil des gesamten Kriegsraumes bleibt immer im Dunkeln. Das Kriegstheater ist nur der modellhafte Aus­ schnitt oder die Stichprobe und steht für das wenige Wissen, das erlangt werden kann – und den übergroßen Anteil des Nicht-Wissens umso spürbarer werden lässt. Es ist der sorgsam gehegte Bereich, den der Feldherr dem Dunkel des ansonsten uneinsehbaren Krieges mühsam abtrotzen muss. Uneinsehbar ist der Kriegsraum nicht nur durch räum­ liche Sichtbeschränkungen, sondern auch in Bezug auf die Unberechenbarkeit der Hand­ lungen des Gegners, ja aufgrund der prinzipiellen Kontingenz alles Zukünftigen. So betont Clausewitz auch, dass die für den Feldherrn ideale Perspektive, von der aus das Kriegstheater überblickt werden kann, unter realen Kriegsbedingungen nur in selte­ nen Fällen tatsächlich eingenommen werden kann. So sei der Feldherr in der Unübersicht­ lichkeit der Kriegsrealität auf seinen „Ortssinn“47 und seine Vorstellungskraft angewiesen, um sich auf unbekanntem Terrain schnell zurechtzufinden und sich beim Durchqueren und Einnehmen fremder Gebiete immer wieder neu Orientierung zu verschaffen. Nur in einem „Akt der Phantasie“48 könne er sich den Raum zum Komplizen machen, indem er sich diesen innerlich vorstelle: Der Führer im Kriege aber muß das Werk seiner Tätigkeit einem mitwirkenden Raume übergeben, den seine Augen nicht überblicken, den der regste Eifer nicht immer erforschen kann, und mit dem er bei dem beständigen Wechsel auch selten in eigentliche Bekanntschaft kommt.49

45 Ebd., S. 234. 46 Ebd., S. 500. 47 Ebd., S. 247. 48 Ebd. 49 Ebd.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater

Der Raum wird in dieser Darstellung zu einem geheimnisvollen und unberechenbaren, aber umso wirkmächtigeren Akteur, den der Feldherr für sich gewinnen muss. Die Unter­ teilung des Raumes in unterschiedliche Kriegstheater erscheint im Lichte dieser Raumauf­ fassung als eine Strategie, sich dieser seltsam unerforschlichen Kriegspartei anzunähern und sie sich zur Mitstreiterin auf der eigenen Seite zu machen. Zu einer erfolgreichen Umgangsweise nicht nur mit dem Raum, sondern auch mit anderen Unbekannten, die der Krieg als Bedrohung bereithält, gehört der „coup d’oeil“50. Dieser ‚Schlag des Auges‘, den Clausewitz zunächst provisorisch als Augenmaß übersetzt, ist die im militärischen Jargon mit dem französischen Ausdruck bezeichnete Fähigkeit, mit einem Blick, auf einen Schlag die Lage der Dinge zu erfassen und zu begreifen. Der coup d’oeil, der in der militärwissenschaftlichen Literatur vom 18. Jahrhundert an bis heute als wichtige Fähigkeit für militärisches Führungspersonal – als göttliche Gabe, glückliche Anlage oder als „strategic intuition“51 – proklamiert wird, kann als Metapher des Blicks und der Wahrnehmung ohne den hier skizzierten Kontext des Kriegstheaters kaum richtig eingeschätzt werden. Während das Kriegstheater den Ort der Anschauung bezeichnet, fungiert der coup d’oeil als damit korrespondierender Modus des Betrachtens. Das Konzept des coup d’oeil macht die visuelle Raumwahrnehmung zu einer epistemolo­ gischen Praxis, es verbindet „space with epistemology“52, wie Engberg-Pedersen in seiner Studie über die Napoleonischen Kriege festhält. Das Kriegstheater ist der Ort des Schau­ baren, an dem der mit Genie begabte Stratege in einem coup d’oeil, einem Moment der Plötzlichkeit alles auf einmal sieht und versteht. Anders noch als 1753 bei Friedrich dem Großen, für den sich der coup d’oeil ein messender, ein „richtiger Blick“ darstellt,53 ist er in Clausewitz’ subjektiver Prägung stärker von den denkerischen Fähigkeiten des Subjekts abhängig als von einer rein visuellen Wahrnehmung durch das Auge. Beim militärischen coup d’oeil ist naturgemäß zwar das Auge beteiligt, der eigentliche Prozess der erkennen­ den Wahrnehmung aber ist ein innerer.54 Für Clausewitz ist daher der „Genius“55 für den Krieg unabdingbar, weil er die Gabe hat, mit seinem coup d’oeil auch das Ungewisse und den Zufall in seine Entscheidungen einzubeziehen, diesen „Fremdling“, der – wie Clausewitz bedauernd betont – im Krieg wie auf keinem anderen Feld menschlichen Lebens ständiger Begleiter sei:

50 Ebd., S. 235. 51 William R. Duggan, Coup d’oeil. Strategic Intuition in Army Planning, Carlisle Barracks 2005. 52 Engberg-Pedersen, Empire of chance. The Napoleonic wars and the disorder of things, S. 167. 53 Vgl. Friedrich, II., der Große, „General-Principia vom Kriege: applicirt auf die Taktique und auf die Disciplin derer Preußischen Truppen“, in: Isaak Marcus Jost (Hg.), Gesammelte Werke Friedrichs des Großen in Prosa. Ausgabe in einem Bande, Berlin 1837, S. 532–563, hier: S. 537. 54 Diese Subjektivierung des Sehens korreliert mit der These Jonathan Crarys, der herausarbeitet, wie zu Be­ ginn des 19. Jahrhunderts technische, wissenschaftliche und philosophische Diskurse, einen neuen subjek­ tiven Beobachter hervorbrachten: Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden [u. a.] 1996. 55 Clausewitz, Vom Kriege, S. 247.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.56 Offensichtlich ist für Clausewitz der Krieg eine Extremform des Wirkens dessen, der menschliche Existenz generell prägt und unberechenbar macht: des Fremdlings Zufall, der, indem er sich ungebeten seinen „Spielraum“ nimmt, immer wieder jedes planvolle menschliche Handeln sabotiert. Für Clausewitz stellt sich die Frage, wie der Stratege im Krieg mit ihm umgehen kann, um dennoch vernünftige Entscheidungen zu treffen. Ebenso wie in der Definition des Kriegstheaters spielen für die Auffassung der Rolle des Zufalls im Krieg die Seiten eine besondere Rolle: Während das Kriegstheater als ein Raum mit gedeckten Seiten begriffen wird, ist man im Krieg „nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt“57 mit dem Zufall. Diese Analyse des Kriegs unter dem Aspekt seiner räumlichen Struktur ist nicht zufällig gewählt. Vielmehr hebt Clausewitz, indem er das Wesen des Krieges über seine Ränder definiert, die Bedeutung von Begrenzung als Ein- und Abgren­ zung hervor. So bedeutet die Deckung, die aus dem Gebiet des Krieges ein Theater her­ ausschält, nicht nur die Deckung gegen den Gegner, sondern vielmehr die Ausgrenzung eines viel bedrohlicheren Akteurs: des Zufalls. Dieser wird gleichsam von der Bühne des Kriegstheaters vertrieben. Sein „Spielraum“ ist dadurch aber dennoch kaum geschmälert. Er findet zwar keinen Platz im gedeckten Raum des Kriegstheaters, umso unbeschränk­ ter kann er dafür außerhalb des Kriegstheaters, im gesamten restlichen Kriegsraum walten. Die Personifizierung des Zufalls als unberechenbaren wie allgegenwärtigen „Fremd­ lings“ in der oben zitierten Passage ist für eine militärstrategische Abhandlung ungewöhn­ lich. Durch die Wahl dieses rhetorischen Mittels stellt der Autor den Zufall als einen Akteur des Krieges vor Augen, der sich als Subjekt in den Krieg einschaltet. Seinen unberechen­ baren Handlungen sind die Krieg führenden Parteien in erheblichem Maße ausgesetzt. Das Wirken des Zufalls stellt den schreibenden Militärtheoretiker, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Sache des Krieges „aufzuräumen“ und „durchzuarbeiten“58, ebenso vor eine Herausforderung wie den Feldherrn, der sich der Herausforderung stellen soll, das Unberechenbare berechnen zu müssen. Clausewitz schafft somit mit seinem Konzept des Kriegstheaters ein gedankliches Konstrukt, das es ermöglicht, einen – wenn auch kleinen – Raum von den Unwägbarkeiten, die der Krieg wie keine andere Situation mit sich bringe, frei zu halten.

56 Ebd., S. 234. 57 Ebd., S. 234. 58 Ebd., S. 291.

Coup d’oeil – der Blick aufs Kriegstheater

In späteren Überlegungen zu den Räumen des Krieges wird Clausewitz’ Konzeption des Kriegstheaters als Ausdruck zeittypischer spezifischer Raumauffassungen interpre­ tiert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich anhand veränderter Kriegstheaterde­ finitionen beobachten, dass eine viel größere Fläche als Kriegstheater bezeichnet wird. So definiert der US-amerikanische Professor für Military Engineering, J. B. Wheeler, in einem Ausbildungsbuch für angehende Offiziere 1878 ‚theatre of war‘ als Begriff, der „[t]he area of country or territory in any part of which the hostile forces can come into col­ lision“59 bezeichnet. Das Kriegstheater ist hier nicht mehr der konkrete begrenzte Bereich, den Clausewitz als Theater benennt, sondern die gesamte am Krieg beteiligte Region, in der es potentiell zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen kann. So hat sich das Kriegstheater sprunghaft ausgedehnt.60 Diese Ausdehnung des Kriegsraumes liegt nicht nur in der Entwicklung der Reichweite von Waffen begründet, sondern insbesondere auch in Informationstechnologien wie der Telegrafie, die zusammen mit der Fotografie – bei­ spielsweise während des Krimkriegs 1853 bis 1856 – Kunde von den Geschehnissen inner­ halb von kürzester Zeit in die Metropolen der kriegführenden Länder brachten.61 Bereits zu dieser Zeit zeigt sich eine bedeutsame Verschiebung in der räumlichen Verfasstheit der Kriege und der strategischen Strukturierung dieser Räume. Während bei Clausewitz die Bühnenanalogie in dem umgrenzten Raum, auf dem unabhängig agiert wird, deutlich spürbar ist, setzt Wheeler gut vierzig Jahre später die Theatermetaphorik weitaus weniger spezifisch ein: Das Kriegstheater wird zu einem diffusen Raum der potentiellen „collision“, der sich im gesamten Territorium ereignishaft konstituieren kann. Heute wird der coup d’oeil üblicherweise als Intuition verstanden und hat sich vom semantischen Feld des Visuellen entfernt. Das mag daran liegen, dass mit der Einführung der militärischen Aufklärungsfotografie die vollständige Sichtbarkeit auch sehr großer Ge­ biete – bis dahin aufgerufen als mit dem coup d’oeil zu erstrebendes Ideal – in zuvor unvor­ stellbarer Weise realisiert werden kann. Dass aus dieser gesteigerten Möglichkeit, Dinge zu sehen, dennoch nicht immer per se Erkenntnis erwächst und das Gesehene nicht automa­ tisch auch richtig verstanden und gedeutet wird, lässt möglicherweise Metaphern aus dem Feld des Sehens weniger plausibel erscheinen. Im Zusammenhang mit der Entstehung der Camouflage zeigt sich, dass das auf dem Gebiet der Physiologie längst als potentiell unzuverlässig angezweifelte Sehen auch im Bereich des Militärischen nicht mehr unhin­ terfragt als privilegierter Weltzugang dienen konnte. Daher lässt sich sagen: Je umfassen­ der die Möglichkeiten des medial vermittelten Sehens wurden, desto mehr verloren das Sehen und die richtige Blickposition ihren Status als idealisierter Zugang zur Erkenntnis.

59 J. B. Wheeler, A Course of Instruction in the Elements of the Art and Science of War. For the Use of the Cadets of the United States Military Academy, New York 1878, S. 12. 60 Vgl. Sonja Dümpelmann, Flights of Imagination: Aviation, Landscape, Design, Charlottesville, Virginia 2014, S. 161. 61 Vgl. zur spektakulären Inszenierung des Krimkriegs Ulrich Keller, The ultimate spectacle. A visual history of the Crimean War, Amsterdam 2001.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Folgerichtig wächst mit der zunehmenden Technisierung und medial vermittelten Sichtbarkeit durch Luftfotografien im Ersten Weltkrieg die Forderung nach einer Aus­ schaltung des subjektiven Sehens, des inneren Auges, das die Wahrnehmung leitet – für das Clausewitz’ coup d’oeil noch stand. Die Luftbilder sind technische Bilder, die nicht be­ trachtet, sondern gelesen und entschlüsselt werden müssen. Der Medienwissenschaftler Bernhardt Siegert beschreibt den Status militärischer Luftbilder folgendermaßen: „Die mi­ litärische Forderung nach einem Sehen ohne Imagination ist Absage an eine Hermeneutik, die sehend oder lesend stets nur (in jedem Wortsinn) sich erinnern wollte.“62 Während die Phantasie für Clausewitz die einzige Möglichkeit ist, dem großen Dunkel des Unsichtbaren Herr zu werden, muss gerade diese für die Interpretation der fotografischen Luftbilder systematisch ausgeklammert werden. Dies betont auch André Carlier, im Ersten Weltkrieg Leiter einer fotografischen Sektion der französischen Armee, in seiner Auflistung der für die Interpretation von Luftfotografien erforderlichen Fertigkeiten. Er schließt die „imagi­ nation“ explizit aus – ein guter „interprétateur“ muss sie meiden: Pour devenir un bon interprétateur il faut, à notre avis: avoir une bonne vue, avoir beaucoup de méthode, être rigoureusement consciencieux, ne pas se laisser aller à son imagination, savoir d’entourer de toutes les sources de renseignement ­possibles et n’en négliger aucune.63 Im Ersten Weltkrieg sind es gerade die gesteigerten Möglichkeiten, Dinge zu sehen und zu überblicken, die die Entstehung der Camouflagetechniken als Gegenstrategie des un­ sichtbar Machens begünstigen. Sobald die Überblicksphantasie technisch realisiert wird und potentiell kein Dahinter hinter dem sichtbaren Raum mehr zulässt, erweist sich der sichtbare Raum selbst als mit Unsichtbarkeiten durchsetzt. Wo die „[Hindernisse] der Ge­ gend“64 im Zeitalter von Aufklärungsfliegerei und Waffen mit enormer Reichweite weder Sichthindernisse noch Schutz vor gegnerischen Attacken darstellen, verändert sich die räumliche Struktur des Kriegs und damit das Kriegstheater fundamental.

Mimikry und Moral: Tierhaut als Modell für Kriegsstrategien Clausewitz betont die Wandelbarkeit der Formen des Krieges: „Der Krieg ist also […] ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“65. In diesem Bild fasst er zusammen, was er im Vorangegangenen expliziert: dass der Krieg keine unabhängige Entität, „kein selbständiges Ding“66, sondern Teil vielschichtiger 62 Siegert, Luftwaffe Fotografie, S. 46. 63 Carlier, La photographie aérienne pendant la guerre, S. 130–131. 64 Clausewitz, Vom Kriege, S. 500. 65 Ebd., S. 212. 66 Ebd.

Mimikry und Moral: Tierhaut als Modell für Kriegsstrategien

­ olitisch-gesellschaftlicher Prozesse sei. Daher nähmen Kriege „nach der Natur ihrer Mo­ p tive und der Verhältnisse, aus denen sie hervorgehen“67, jeweils unterschiedliche Formen und Ausmaße an. Diese Einsicht hält er für grundlegend, um die verschiedenen Ausprä­ gungen von Krieg und deren historische Entwicklungen verstehen und einordnen zu kön­ nen. Denn „nur mit dieser Vorstellungsart ist es möglich, nicht mit der sämtlichen Kriegs­ geschichte in Widerspruch zu geraten“68, sprich eine Theorie des Krieges zu entwickeln, die Allgemeingültigkeit beansprucht. Der erste, der großartigste, der entscheidendste Akt des Urteils nun, welchen der Staatsmann und Feldherr ausübt, ist der, daß er den Krieg, welchen er unternimmt, in dieser Beziehung richtig erkenne, ihn nicht für etwas nehme, was er der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann.69 Clausewitz warnt den Feldherrn, an den sich seine Abhandlung richtet, mit der emphati­ schen Reihung von drei Superlativen „der erste, der großartigste, der entscheidendste Akt des Urteils“ nachdrücklich davor, nach einem vorgefertigten Schema für die Kriegsführung zu suchen, und spricht sich stattdessen dafür aus, die jeweiligen politisch-historischen Umstände für die Beurteilung einer Situation zu beachten. Um diese Grundeigenschaft des Krieges als politisch bedingt wandelbar zum Ausdruck zu bringen, wählt Clausewitz mit der Metapher des Chamäleons bemerkenswerterweise gerade das Tier, das im Ersten Weltkrieg in der französischen Armee zum Emblem der neu gebildeten Camouflage-Ein­ heiten wurde und als Abzeichen diente (Tafel II, S. 282). Um welches Blickverhältnis in Bezug auf den Kriegsschauplatz geht es jeweils, wenn das Chamäleon vor den angesprochenen sehr unterschiedlichen Kriegshintergründen zur Veranschaulichung herangezogen wird? Um dieser Frage nachzugehen, soll im Fol­ genden zunächst anhand von lebenswissenschaftlichen Texten des 19. Jahrhunderts die kulturell-moralischen Aufladungen in der Betrachtung des wandelbaren Reptils herausge­ arbeitet werden. Bei der genauen Lektüre zeigt sich, dass für Überlegungen zur Tarn- und Anpassungsfähigkeit von Tieren besonders häufig auf theatrale Denkmodelle, die die Haut als Schauplatz begreifen oder Momente von Falschheit unterstellen, zurückgegriffen wird. Anders als die Camoufleur*innen des Ersten Weltkriegs zielt Clausewitz mit seiner Metapher nicht in erster Linie auf die Tarnungsfähigkeit des Reptils. Ihn interessiert das Chamäleon als exotisches Wechselwesen mit einer speziellen Haut, die es in die Lage versetzt, sein Äußeres jeweils situativ und immer wieder neu seiner Umgebung anzupas­ sen. Diese Fähigkeit zur ständigen äußerlichen Veränderung hat zur Folge, dass sich die Identität des Tieres kaum angemessen erfassen lässt und es sich einer kategorisierenden

67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd.

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1. Kriegstheater – theatrale Blickordnungen im Krieg

Klassifizierung in Arten und Unterarten anhand der statischen Beschreibungskategorien von Farbe oder Körperform entzieht. So schreibt beispielsweise der britische Zoologe John Edward Gray, der sich 1865 für eine „revision“ der bisher gängigen Unterteilung der Unter­ arten der „Chamaeleonidae“ und ihrer Nomenklatur einsetzte: The distinction of the species from one another, as is almost always the case in a natural group, is difficult, and requires careful study and consideration. […] there are a few species, […] which have a broad geographical distribution, that offer several variations such as, if the differences did not appear gradually to pass into each other, might induce one to believe that they were specific.70 Das Klassifizieren von Arten und Unterarten ist in seiner Funktion als zoologischer Kura­ tor des British Museum jahrzehntelang Grays Arbeitsgebiet. Mit enzyklopädischem Eifer veröffentlicht er in dieser Zeit zahlreiche Kataloge, in denen er Arten auflistet und be­ schreibt. Auch andere Forscher bemühen sich im 19. Jahrhundert wie Gray redlich, dem Wesen der Chamäleonhaut mit naturwissenschaftlichen Mitteln auf den Grund zu gehen. Dazu setzen sie das lebendige Tier Licht, Dunkelheit, Wärme, Kälte und allerlei Substan­ zen aus oder sezieren die Haut des toten Reptils in ihrer Schichtung, um einzelne Zellen unter dem Mikroskop zu untersuchen.71 Der österreichische Physiologe Ernst Wilhelm von Brücke, der sich zudem intensiv mit Farbenlehre beschäftigt,72 räumt dabei in seiner Vortragsreihe über „den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons“ (1851/52) ein, dass der Farbwechsel des Tiers in seiner lebendigen Dynamik mit sprachlichen Mitteln nur unzureichend wiedergegeben werden kann: Da unsere Sprache für die Bezeichnung der Farben so arm ist, und wir es bei dem Chamäleon mit vielen unreinen Tinten zu thun haben, so konnte ich den Spielraum des Farbenwechsels nur mit groben Zügen umgrenzen.73 Die Unreinheit der „Tinten“ und insbesondere die farblichen Übergänge während des Wechselns erschweren eine wissenschaftlich adäquate Beschreibung und Klassifizierung. Die Sprache, die mit Farbadjektiven jeweils statisch einzelne Zustände benennen kann, er­ weist sich für eine dynamische Beschreibung der Zwischentöne in einer chronologischen 70 John Edward Gray, Revision of the genera and species of Chamaeleonidae, with the description of some new species, in: The Annals and magazine of natural history; zoology, botany, and geology, 15/3 (1865), S. 340–354, hier: S. 340–341. 71 Ernst Wilhelm von Brücke legt neben seinen eigenen Forschungsergebnissen auch einen kritischen Über­ blick über den Forschungsstand von Aristoteles bis zu seinen Zeitgenossen dar: vgl. Ernst Wilhelm von Brücke, Untersuchungen über den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons, Wien 1852, S. 3–18. 72 Vgl. Ernst Wilhelm von Brücke, Die Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe auf Anregung der Direction des kaiserlichen Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie, Leipzig 1866. 73 Brücke, Untersuchungen über den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons, S. 18.

Mimikry und Moral: Tierhaut als Modell für Kriegsstrategien

Beobachtung ihrer Veränderungen als ungeeignet: Im Verlauf des Farbwechsels lösen die Schattierungen einander in fließenden Übergängen ab. Die Identität des wechselhaften Tiers lässt sich also mit Worten schwerlich wiedergeben oder festschreiben. Selbst die brutal anmutenden Versuche, der Dynamik der Farbwechsel durch Tötung ein Ende zu setzen, bringen nicht die erhoffte Wirkung. Obwohl Brücke seine Chamäleons auf unter­ schiedliche Arten tötet, gelingt es ihm dennoch kaum, bei den Tieren einen endgültigen farblichen Zustand zu fixieren. Zum Erstaunen des Forschers rufen seine tödlichen Expe­ rimente jeweils ungeahnte unterschiedliche Verfärbungen hervor, die sich auch nach dem Tod des Tiers noch weiter verändern. Aristoteles sagt, dass die Thiere sterbend bleich (blassgelb ωχρός) werden und es nach dem Tode bleiben; man kann dies aber nicht als allgemein gültig betrachten. Ein Chamäleon, welches ich tödtete, indem ich ihm das Herz ausschnitt, wurde in demselben Augenblicke schwarz und gelblich-weiss gefleckt. Beide Tinten waren in grossen Flecken ziemlich gleichmässig über den ganzen Körper vertheilt und schroff gegen einander abgegrenzt, so dass das Thier ein Ansehen hatte, ­welches ihm im Leben nie eigen gewesen war. Später wurden auch die hellen Flecke ­dunkler, so dass das Thier im Allgemeinen vielmehr dunkel als hell zu nennen war. Ein anderes Chamäleon, das ich tödtete, indem ich ihm die Medulla ­oblongata [den untersten Teil des Gehirns, Anmerkung H. W.] durchschnitt, wurde gleichfalls nicht blass, ja man kann sogar, wie wir oben gesehen haben, das Chamäleon unmittelbar nach dem Tode fast ganz schwarz machen, indem man ihm das Rückenmark zerstört. Zwei Chamäleonen aber, welche aufhörten zu fressen und an Entkräftung zu Grunde gingen, waren allerdings während des Todeskampfes hell.74 Wenn Clausewitz in seinem einleitenden Kapitel die Chamäleon-Metaphorik bemüht, be­ tont er damit einen für seine Theorie zentralen Aspekt der Natur des Krieges: Dieser tritt – historisch betrachtet – jeweils in unterschiedlichen Formen auf. Gleichzeitig verweist er mit der im Unterkapitel „Resultat für die Theorie“75 auftauchenden Metapher zudem insbesondere auf die kaum zu bewältigende Schwierigkeit seiner eigenen Tätigkeit als Militärtheoretiker. Zwar macht er es sich zur Aufgabe, das Wesen des Krieges gedanklich und sprachlich umfangreich und erschöpfend zu erfassen; aber wie das wandelbare Tier entzieht sich sein Thema jeder festschreibenden Analyse. Wie unübersichtlich sein ehrgei­ ziges Projekt für ihn wird, lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass er daran zwölf Jahre bis zu seinem Tod arbeitet und das Werk unvollendet hinterlässt.76

74 Ebd., S. 32. 75 Clausewitz, Vom Kriege, S. 212. 76 Vgl. das Vorwort der Herausgeberin, Clausewitz’ Witwe Marie von Clausewitz, die darin auf den Arbeitspro­ zess eingeht: Clausewitz, Marie, „Vorrede zur ersten Auflage“, in: Clausewitz, Vom Kriege.

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Analog zu Brückes Experimenten steht die Biologie bis heute bei einzelnen Chamäleon­ arten mitunter vor der Schwierigkeit einer genaueren Bestimmung. Diese wechseln nicht nur die Färbung ihrer Haut, sondern können auch ihre Körperform bis zur Unkenntlichkeit verändern, indem sie sich beispielsweise aufblähen oder am Kopf befindliche Lappen ab­ spreizen. Die Beobachtung solcher Phänomene wirft die Frage auf, inwiefern sich Identität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe an äußeren Merkmalen wie Körperform oder Hautfarbe festmachen lässt. Wenn Clausewitz das Chamäleon im Zusammenhang mit seinen kriegstheoretischen Überlegungen erwähnt, bringt er damit seine Überzeu­ gung zum Ausdruck, dass „das Absolute“ in der Theorie der Kriegskunst „nirgends einen festen Grund findet“77. Diese Theorie muss sich daher „schwebend“78 bewegen zwischen wenigen Grundelementen, die eine Verallgemeinerung zulassen, oder Tendenzen, die ih­ rerseits veränderliche Größen sind.79 So führen biologische Diskussionen bezüglich des Chamäleons zu grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis vom eigentlichen Wesen ei­ ner Sache und deren Aussehen, sowie nach dem Zusammenhang von verborgener Inner­ lichkeit und sichtbarem Äußerem. Die äußere Haut fungiert also nicht nur als „border zone between an organism and its environment, between inside and outside“80, wie die Wissenschaftshistorikerin Hanna Rose Shell schreibt, sondern sie dient ebenso der Kommunikation und Identifikation und macht in dieser Funktion eine Gestaltung nach illusionistischen Kriterien erst möglich. Shell bezeichnet dies im Kontext der Praxis des Präparierens von Tierhäuten für Naturkun­ demuseen im 19. Jahrhundert als eine „epistemologische Funktion“81 von Haut. Wenn Haut also als ein Schauplatz zu begreifen ist, auf dem das Innere – wenn auch in kryptischer Codierung – sichtbar wird, so erfüllt die Haut des Chamäleons durch ihre Wandelbarkeit dies in besonders spektakulärer Art und Weise.82 Seine Wandelbarkeit allerdings entzieht sich physiognomischen Lesarten, die in deterministischer Weise über das Äußere Rück­ schlussmechanismen auf Wesenszüge des Inneren zu etablieren versuchen. Das Chamä­ leon irritiert, da seine Wandelbarkeit eine auf statischen Kriterien basierende Identifika­ tion oder Identität unmöglich macht. Gleichzeitig legt die Fähigkeit, sich farblich an seine Umgebung anzupassen, nahe, dass das Äußere des Tieres keineswegs ausschließlich als Indikator für innere Dispositionen oder Prozesse gelesen werden kann, sondern vielmehr in Relation mit der Umwelt zu deuten ist.

77 Clausewitz, Vom Kriege, S. 208. 78 Ebd., S. 213. 79 Diese benennt Clausewitz als „wunderliche Dreifaltigkeit“ aus dem „bildende[n] Naturtrieb“ von Hass und Feindschaft, der „freie[n] Seelentätigkeit“, die mit dem Zufall umgehen muss, und dem „bloße[n] Verstande“, der den Krieg als politisches Element betrachtet, die als „veränderliche Größen“ den Krieg ausmachen: Ebd., S. 213. 80 Shell, Hide and seek, S. 35. 81 Ebd. 82 Vgl. zur Kulturgeschichte der Haut das Kapitel „Seelenspiegel. Die Epidermis als Leinwand“ in: Claudia Ben­ thien, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 111–131.

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Die physiologische Forschung des 19. Jahrhunderts war sich allerdings keineswegs darüber einig, ob das Chamäleon als Meister der Verstellung und Anpassung mit den da­ mit verbundenen moralischen Konnotationen der Falschheit zu begreifen sei, oder ob die Haut des Tieres in erster Linie seine inneren Zustände im Sinne eines indikatorischen Zeichens oder im Zuge absichtsvoller Kommunikationsakte preisgebe. Brücke bezieht sich kritisch auf ältere und zeitgenössische Texte, die noch dem seiner Ansicht nach irrigen „Glauben“ anhingen, das Chamäleon nehme die Farbe seiner Umgebung an: „So schwer ist es, verjährte Vorurtheile der Menschen auszurotten, weil sie in Zufälligkeiten immer neue Nahrung finden“83. Der Tonfall des Biologen lässt erkennen, dass er das „unschuldige Thierchen“ vor der seiner Ansicht nach ungerechtfertigten Unterstellung, es verstelle sich, auf emphatische Weise in Schutz nimmt. Kategorien moralischer Bewertung von Verstel­ lung auf der einen und von Transparenz auf der anderen Seite klingen im Unterton mit an. Das Chamäleon wird dabei gegen den moralischen Vorwurf, es verstelle sich, verteidigt. Gleichzeitig deutet sich auch an, dass der Autor geradezu Mitleid für das Tier empfindet, das mit seiner lesbaren Haut jederzeit sichtbar Auskunft über seinen „Gemütszustand“ zu geben verdammt ist. Man hat das Chamäleon zu einem Sinnbilde der Mantelträgerei und der Verstellung gemacht, aber nie ist ein Symbol schlechter gewählt worden; denn wohl kein Wesen ist weniger geeignet sich zu verstellen als dieses unschuldige Thierchen, dem sein jedesmaliger Gemüthszustand nicht nur auf der Stirn sondern auf dem ganzen Leibe geschrieben steht. Wenn sie ernstlich unter einander kämpfen, so werden sie bisweilen ganz dunkel, so dass man im eigentlichsten Sinne von ihnen sagen kann, dass sie vor Zorn schwarz werden.84 Die Chamäleonhaut wird hier zum Schauplatz moralischer Wertediskurse. Dabei wird die Epidermis einerseits mit dem Vorwurf der Verstellung konfrontiert, mit einer Metapher aus dem Bereich der Bekleidung als „Mantelträgerei“ bezeichnet, während der Autor das Tier andererseits für die allzu auskunftsfreudige Lesbarkeit seiner nackten Haut zu bedau­ ern scheint. Hinter dem angedeuteten Bedauern lässt sich die Auffassung vermuten, dass die Haut das Innere nicht nur zusammenhalten und vor schädlichen Einflüssen bewahren soll, sondern mindestens ebenso den „Gemüthszustand“85 im Sinne einer Intimsphäre vor eindringenden Blicken zu schützen habe. Hierzu wählt Brücke als Beispiel den „Zorn“ der Tiere im Kampf. Damit legt er nahe, dass es womöglich gerade im Kampf nicht im­ mer vorteilhaft ist, wenn der eigene Zorn sich allzu offensichtlich zeigt – erschwert dies doch die Anwendung von List und Strategie. In der anthropomorphisierenden Projektion

83 Brücke, Untersuchungen über den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons, S. 13. 84 Ebd., S. 30. 85 Ebd.

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­ oralischer Verhaltensnormen auf das Tier deutet sich an, was die Literaturwissenschaft­ m lerin Claudia Benthien für die Herausbildung einer modernen Körper- und Hautauffas­ sung des Menschen im späten 18. Jahrhundert analysiert. Dafür ist zentral, dass – wie Ben­ thien schreibt – Physiognomik und Pathognomik im 19. Jahrhundert zu „Leitdisziplinen“ aufsteigen, die die Haut „semiotisier[en] und kodier[en]“86. Es gehört zu den zentralen Topoi einer Kulturgeschichte der Haut, daß sie in allen sozialen Situationen kontinuierlich gedeutet und interpretiert wird, daß man sie als Ausdruck der Tiefe, des Seelischen, des inneren Charakters versteht und miß­ versteht.87 In diesen Zusammenhang sei auch die von ihr beobachtete Forderung nach einer unge­ schminkten und ‚natürlichen‘ Haut einzuordnen, die „das Sein offenbaren soll und kann“88. Brückes Untersuchung interpretiert und erklärt, was dem Tier nicht nur, wie es Menschen nachgesagt wird, auf der Stirn, sondern generalisiert „auf dem ganzen Leibe geschrieben steht“89. Somit lässt er sich von der physiognomischen Grundannahme leiten, die vom „Äußeren, visuell Wahrgenommenen und Kategorisierten […] in deterministischer Manier auf einen bestimmten Menschentypus“ schließt und mit Klassifikationen des Körpers ein „angeblich zuverlässiges Zeichensystem“ etabliert.90 Die Haut ist nicht der einzige Schauplatz, auf dem die Frage nach dem Verhältnis von Innerem und Äußerem verhandelt wird. Dies zeigt umso deutlicher, dass das Chamäleon mit seiner Haut sich in besonderer Art und Weise zur Projektionsfläche für gesellschaftli­ che Problemstellungen eignet, die weit über biologische Fragen hinausgehen. Brücke wen­ det sich in seinem Buch über die „Physiologie der Farben“ auch entschieden gegen die „störende Illusion“ bei der farblichen Gestaltung von Alltagsgegenständen, wie beispiels­ weise Teppichen oder Fußbodenornamenten, die durch ihr Muster räumliche Illusionen erzeugen. Es könne nicht gebilligt werden, wenn durch Zeichnung, Farbe, Licht und Schatten, kurz, durch alle Mittel, die der Technik zu Gebote stehen, uns die störende Illusion geradezu aufgedrängt wird, wie dies von Seiten unserer Teppichfabrikanten so häufig geschieht. Es mag für diesen oder jenen die Vorstellung angenehm sein, auf Blumen umherzuwandeln; aber warum sich diese Blumen noch um geschnitzte Holzrahmen herumschlingen,

86 Claudia Benthien, „Die Tiefe der Oberfläche: Zur Kulturgeschichte der Körpergrenze“, in: Christoph Geissmar, Irmela Hijiya-Kirschnereit und Naoki Satō (Hg.), Gesichter der Haut, Frankfurt am Main 2002, S. 45–62, hier: S. 59. 87 Benthien, Haut, S. 17. 88 Benthien, Die Tiefe der Oberfläche, S. 59. 89 Brücke, Untersuchungen über den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons, S. 30. 90 Benthien, Haut, S. 17.

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oder warum wir gelegentlich auf in Stein gehauenen Engelsköpfchen herumtreten müssen, die zwischen den Blumen hervorlugen, das ist in der That nicht einzusehen. Ein Teppich soll, wie jedes andere Ding, das, was er ist, ganz sein.91 Bemerkenswert ist die moralische Entrüstung, die in der zitierten Passage zum Ausdruck gebracht wird. Macht sie doch dem Teppich mit Blumenmuster wie einem Menschen den Vorwurf, seine wahre Identität zu verbergen. Ein untadeliger Teppich soll zu dem stehen, was er ist, und mit seinem Muster „weder die Fläche verleugnen, noch die Technik, in der es ausgeführt ist.“92 Die vehement vorgetragene Forderung, „das, was er ist, ganz [zu] sein“, entspringt einem umfassenden Verlangen nach Wahrhaftigkeit, nach Identität von (innerem) Wesen und (äußerer) Erscheinung. Dieses Verlangen beschränkt sich of­ fensichtlich nicht auf die Verhaltensweisen von Lebewesen, wenn Brücke wie hier auch Gegenständen die Fähigkeit zu täuschen zuspricht. Die Verantwortung dafür tragen in seinen Augen allerdings deren kommerzielle Hersteller*innen, die „Teppichfabrikanten“, die durch die farbliche Gestaltung und in kommerzieller Absicht Dinge produzieren, die nicht ganz das sind, was sie sind. Ein solches moralisch begründetes Verständnis von Warenästhetik ist im Entstehungskontext der Schrift zu verstehen, die vom kurz zuvor gegründeten k. k. ­Österreichischen Museum für Kunst und Industrie angeregt wurde, wie der Autor im Vorwort zu berichten weiß. Das Museum trat bei seiner Gründung 1864 mit dem Anspruch an, die handwerkliche und ästhetische Verbesserung der Produktion der täglichen Gebrauchsgüter zu fördern. Die Entwicklung industrieller Produktionsverfahren ließ Fragen nach der Wahrhaftigkeit von Gegenständen, Materialien und deren Gestaltung virulent werden. Die sonderbaren Fähigkeiten des Chamäleons, die entweder als totale Anpassung – moralisch bewertet als Lüge – oder als totale Transparenz – empathisch bedauert als Eindringen in die Intimsphäre – interpretiert werden, werfen auch im Hinblick auf den Menschen eine wichtige Frage auf: Inwiefern ist das Bild, das ein Mensch mit seiner eige­ nen Haut und Physiognomie für die Augen der anderen zwangsläufig abgibt, zuverlässig lesbar, inwiefern steht es in einer Beziehung zur Umgebung? Charles Darwin, ebenfalls Zeitgenosse von Brücke, Gray und Clausewitz, äußert sich in der vierten Ausgabe seines berühmten Buches The Origin Of Species unter der Überschrift „Analogical Resemblances“ mit deutlich moralischen Untertönen zur optischen Anpassungsfähigkeit von Tieren.93 In dieser überarbeiteten Ausgabe von 1866 reagiert Darwin auf Veröffentlichungen des Mimikryforschers Henry Walter Bates. Bates wiederum beschreibt in seiner Studie das

91 Brücke, Die Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe auf Anregung der Direction des kaiserlichen Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie, S. 297. 92 Brücke, Die Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe auf Anregung der Direction des kaiserlichen Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie, S. 297–298. 93 Charles Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1866, S. 502–506.

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Verhalten und Aussehen von Schmetterlingen, die er im Amazonasgebiet beobachtet und erforscht hat.94 Dort stellt dieser fest, dass einige Schmetterlingsarten in Flügelzeichnung und Flügelform frappierende Ähnlichkeiten mit anderen Arten aufweisen, obwohl sie mit ihnen nicht verwandt sind. Er beobachtet, dass vor allem nicht giftige Arten das Ausse­ hen von wehrhafteren Arten annehmen, um auf diese Weise von ihren Fressfeinden für giftig gehalten und dadurch gemieden zu werden. Bates beschreibt die Ähnlichkeit als so verblüffend, dass er selbst trotz langjähriger Erfahrung in der Insektenbeobachtung die Tiere nicht richtig zuordnen konnte, also von diesen „getäuscht“ wurde. „Although I had daily practice in insect-collecting for many years, and was always on my guard, I was constantly being deceived by them when in the woods.“95 Darwin schließt sich der Analyse seines Kollegen an und beruft sich auf diese Beobachtungen von Bates, wenn er rhethorisch fragt: „why, to the perplexity of naturalists, has nature condescended to the tricks of the stage?“96 Die Natur begibt sich also laut Darwins Formulierung auf das Niveau von Bühnentricks herab – und diese spielen, wie es scheint, bei der Selektion und der Ent­ stehung der Arten eine Rolle. An dieser Stelle ist die Frage angebracht, ob das Erstaunen angesichts dieser „miraculous […] mimetic resemblances“97 neben der Faszination für die detailreiche visuelle Strategie auch daher rührt, dass Bates der Natur zunächst im Gegen­ satz zum zivilisationsdegenerierten Leben der Menschen eine Wahrhaftigkeit unterstellt, die aber durch die in der Natur selbst festgestellte Theatralität irritiert wird. Theatertech­ nik wird zum Referenzsystem für die in der Natur beobachteten Phänomene; sie lassen sich offenbar aus Sicht der Autoren so adäquater beschreiben lassen als mit biologischem Vokabular. Weder Bates noch Darwin können in ihren Formulierungen der Versuchung wider­ stehen, den Tieren in den beobachteten Ähnlichkeiten eine Handlungs- und Täuschungs­ absicht zuzuschreiben. Dabei ist diese Form der Anpassung, da sind sich beide einig, kei­ nesfalls als intentionales Handeln, sondern aus dem Prozess der natürlichen Selektion zu erklären. Die Anpassung gilt ihnen sogar als besonders anschaulicher Beweis der Selektionstheorie.98 Im Widerspruch dazu sind es auf der sprachlichen Ebene die Tiere, die in trügerischer Absicht handeln: Da ist die Rede von Arten, die andere nachahmen (mimic)99, die daran Beteiligten werden in zwei Parteien unterteilt, „the mockers“ und 94 Vgl. Henry Walter Bates, Contributions to an insect fauna of the Amazon Valley. Lepidoptera: Heliconidae, in: Transactions of the Linnean Society (London), 23/3 (1862), S. 495–566. 95 Ebd., S. 507. 96 Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, S. 504–505. 97 Bates, Contributions to an insect fauna of the Amazon Valley. Lepidoptera: Heliconidae, S. 514–515. 98 Vgl. Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, S. 506: „So that here we have an excellent illustration of the principle of natural selection.“ Bates, Contributions to an insect fauna of the Amazon Valley. Lepidoptera: Heliconidae, S. 514–515: „Those who earnestly desire a rational explanation, must, I think, arrive at the conclusion that these apparently miraculous, but always beautiful and wonderful, mimetic resemblan­ ces, and therefore probably every other kind of adaptation in beings, are brought about by agencies similar to those we have here discussed.“ 99 Vgl. Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, S. 503.

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„the ­mocked“100, und es wird von Arten gesprochen, die andere imitieren (imitate)101. Au­ ßerdem evoziert die Bezeichnung „dress“102 für die Musterung von Insekten den Gedanken an gezielt einsetzbares An- und Umkleiden: „the form which is imitated keeps the usual dress of the group to which it belongs, whilst the counterfeiters have changed their dress and do not resemble their nearest allies.“103 So gegensätzlich die fachlichen Positionen sein mögen – das Narrativ eines trügerischen Äußeren, das gleich einer Maske das Wesen verberge, verbindet diese Analysen von speziellen Tierzeichnungen. Der Wissenschaftshistoriker Kyong-Ho Cha widmet dem Thema der Theatralität bei Darwin und innerhalb der Mimikryforschung ein ganzes Kapitel.104 Die metaphorische Bezugnahme auf die Schauspielkunst deutet er als eine Denkfigur, die dabei hilft, die angenommene trügerische Absicht bei der Beschreibung der Tiere als solche zu deuten. „Wissenspoetologisch und metaphorologisch betrachtet, ermöglicht es die Figur des Schau­ spielers, von einer teleologischen Absicht und einem Willen hinter der Mimikry auszuge­ hen.“105 Der Rekurs auf die Theatermetaphorik ermöglicht es damit, Beobachtungen und deren Deutungen zum Ausdruck zu bringen, die bezogen auf die Natur und ausgehend von naturwissenschaftlichen Grundüberzeugungen eigentlich unangemessen sind. Wenn schon die Denkfigur für ein absichtsvoll täuschendes Handeln dem semantischen Feld der Theatersprache entnommen ist, so fungiert dieses ganz grundsätzlich gesehen als kulturel­ ler Bezugsrahmen für die Konzeption von der Entstehung der Arten als Überlebenskampf. Die Sprache des Schauspielens, Täuschens, Fälschens, Verkleidens und Austricksens dient dazu, die Vorstellung vom Überlebenskampf als bewegendes Prinzip bei der Entstehung der Arten ins Wort zu bringen. Wenn Darwin hier exemplarisch die Strategien bestimmter Insekten beschreibt, hat dies weitreichende Konsequenzen: Er spricht damit auch einen Teil der Phänomene an, die im evolutionären Prozess sowohl zur Entstehung des Men­ schen als auch zur Entstehung der gesamten natürlichen Welt von Pflanzen und Tieren beigetragen haben. Mit der Bezugnahme auf Theater und Täuschung schafft er hierfür ein moralisches Bewertungssystem und ein Modell sozialen Handelns, die sich gewisserma­ ßen implizit in die naturwissenschaftliche Forschung eingeschrieben haben. Clausewitz’ Chamäleon-Metaphorik hat ihren Platz in diesem ideengeschichtlichen Zusammenhang. Der Krieg ist in seinen Formen so wandelbar, dass er den Militärtheore­ tiker, der ihn auf den Begriff bringen will, in die Bredouille bringt. Dazu sind die wandelba­ ren Formen, die der Krieg annehmen kann, auch noch schwer zu lesen und zu interpretie­ ren. Seine äußeren Formen und Schauplätze sind ebenso unbeständig wie trügerisch. Sie lassen keine zuverlässigen Rückschlüsse zu: weder auf sein Wesen, noch auf momentane 100 Ebd., S. 503–504. 101 Ebd., S. 504. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Vgl. Kyung-Ho Cha, Humanmimikry. Poetik der Evolution, München 2010, S. 111–118. 105 Cha, Humanmimikry, S. 118.

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Zustände, die gegnerische Absichten nach einem erlernbaren Schema preisgeben könn­ ten. In Reaktion darauf versucht Clausewitz neue, dem Wesen des Krieges angemessene Beschreibungskategorien einzuführen, indem er in seiner Analyse dynamischen Größen wie Zufall, Spiel oder Phantasie als bedeutsam herausarbeitet. Indem die Camoufleur*innen des Ersten Weltkrieges zur Kennzeichnung ihrer Tätig­ keit ebenfalls das Chamäleon wählen, schreiben sie die kulturelle und militärische Ge­ schichte des Tieres unter veränderten Vorzeichen fort. Im Vergleich zur Übersicht des analytischen Militärtheoretikers lässt sich ihre Sichtweise als eine ebenerdige horizon­ tale oder gar unterirdische Perspektive beschreiben: Im modernen Maschinenkrieg, der die Soldaten mit dem Schützengräbensystem in die Erde verbannt, bietet das farbwech­ selnde Kriechtier offenbar ein naheliegendes Identifikationspotential. Die Aufgabe der Camoufleur*innen ist nicht die analytische Beschreibung, sondern die Gestaltung von Kriegsobjekten und Kriegslandschaft nach den optischen Kriterien der Tarnung. Was die Camoufleur*innen für sich und ihre Mitstreiter*innen mühsam mit Farbe, Netzen und Pappmaché auf jede spezifische Situation zugeschnitten neu entwickeln und herstellen müssen, ist dem in dieser Hinsicht beneidenswerten Tier angeborene Fähigkeit und Ins­ tinkt. Das farbwechselnde Reptil, im 19. Jahrhundert noch als moralisch fragwürdig beäugt und seziert, rückt jetzt, obschon weder für Mut, noch Kraft, noch Größe bekannt, positiv in den Rang eines Symbols für kriegerische Prinzipien oder gar Tugenden. Als Meister der Tarnung kann es geradezu paradigmatisch für die Fähigkeit der perfekten Anpas­ sung an die Umgebung stehen. Darwin dagegen charakterisiert wie bereits geschildert die visuelle Anpassung, „trickery and dissimulation“, als eine Strategie der Schwachen, der „weak creatures“106, die damit andere Defizite ausglichen: „insects cannot escape by flight from the larger animals; hence they are reduced, like most weak creatures, to tri­ ckery and dissimulation.“107 Kein Wunder also, dass auch im 20. Jahrhundert noch die Camoufleur*innen innerhalb des Militärs einen schwierigen Stand haben. Deshalb wei­ sen sie immer wieder auf das vollkommen Neue des Ersten Weltkrieges hin, der bisher gültige Prinzipien außer Kraft setze. Die herkömmlichen militärischen Ideale werden für sie nicht nur unerreichbar und unbrauchbar, sondern stehen sogar im Gegensatz zu ihren Aufgaben. Das auf dem Abzeichen der Camoufleur*innen dargestellte Chamäleon (s. Tafel II, S. 282) hat zwar Stacheln auf dem Rücken, die durchaus aggressiv als Zeichen seiner Wehr­ haftigkeit oder Kampfbereitschaft gedeutet werden könnten. Jedoch fallen sie kurz und dünn aus, so dass sie eher in vereinzelten Haaren wie eine alberne Frisur vom Körper abstehen. Die langen dünnen Beine machen einen grotesk tänzerischen Eindruck und ihre angewinkelte Haltung lässt befürchten, dass das Tier auf leisen Sohlen davonlaufen möch­ te. Der lange eingerollte Schwanz allerdings sieht aus, als werde er durch seine nutzlose 106 Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection, S. 506. 107 Ebd.

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Sperrigkeit jeden Fluchtversuch vereiteln – das hintere Bein droht jeden Moment über die Schwanzspitze zu stolpern. Mittig über Bauch und Rücken bis hin zum oberen Teil des Schwanzes verläuft ein Streifen aus einem dunkleren und einem helleren Teil, der auf das eingewebte Tier gestickt ist. Woraus die Stickerei besteht, ist nicht genau erkennbar. Der leichte Schimmer jedoch erinnert an Pailletten oder einen aufwendigen Kreuzstich mit irisierendem Faden. Hat sich das Tier für den Krieg geschmückt? Das Auge, das in der Realität besonders gut entwickelt ist und durch seine exponierte Platzierung und seine Beweglichkeit ein großes Blickfeld abdecken kann, wird in der Darstellung zum großen schwarz glänzenden Rund, das dem Tier einen angsterfüllten Gesichtsausdruck verleiht. Diese gestickte Darstellung überrascht angesichts ihres militärischen Verwendungs­ zwecks – ist sie doch für die Armbinde einer Uniform geschaffen worden. Sie steht in eklatantem Widerspruch zu den bis dahin vorherrschenden Vorstellungen männlich-rit­ terlicher Kriegstugenden, laut Clausewitz „Tapferkeit, Gewandtheit, Abhärtung und Ent­ husiasmus“108, sowie „Kühnheit“ und „Beharrlichkeit“ – den beiden letzteren widmet er ganze Kapitel109. Von dem impliziten oder gar expliziten Vorwurf, Camouflage stehe im Widerspruch zu kriegerischen Idealen, zeugt die apologetische Frage „is camouflage unchi­ valrous?“110, die der Maler und Camoufleur Solomon J. Solomon 1920 in seinem Buch über Camouflage aufwirft (vgl. Kapitel 2). Hier deutet sich schon an, dass die in der Tradition der Ritterlichkeit entwickelten soldatischen Tugenden im modernen industrialisierten Krieg ins Leere laufen. Neue Prinzipien verschaffen sich machtvoll Geltung, für die auch neue Tugenden zu erstreiten sind: „Those who consider defensive concealment unchivalrous can never have visualized the conditions of modern war.“111 Die Ablösung alter durch neue Tugenden ist trotz der Rasanz des technischen Fort­ schritts ein Prozess, der Zeit braucht und ein Nebeneinander von Wertesystemen zur Folge hat. So gelten im Ersten Weltkrieg die Piloten als die bewunderten ‚Ritter der Lüfte’. Sie können paradoxerweise gerade wegen der neuesten technischen Entwicklungen noch als Kriegshelden im Sinne vorindustrieller Kriege gefeiert werden, da sie aus ihrer alles über­ fliegenden und überblickenden Position heraus in der Lage sind, durch engagierte und kunstfertige Manöver als Helden aus der Anonymität des Massenkrieges herauszutreten und der Sinnlosigkeit und unerträglichen Zufälligkeit des Massensterbens in den Schüt­ zengräben zu entkommen.112 Bezeichnend ist, dass einige Piloten auf die Tarnung ihrer 108 Clausewitz, Vom Kriege, S. 363. 109 Vgl. zu Kühnheit und Beharrlichkeit: ebd., S. 366–372. 110 Solomon, Strategic Camouflage, S. 50. 111 Ebd., S. 51. 112 Vgl dazu u. a. Monika Szczepaniak, „Ritter der Lüfte: Der Kampfflieger als (post)heroische Männlichkeitskon­ struktion“, in: Claudia Glunz und Thomas F. Schneider (Hg.), Wahrheitsmaschinen. Der Einfluss technischer Innovationen auf die Darstellung und das Bild des Krieges in den Medien und Künsten, Göttingen 2010; Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Peter Wilding, „Krieg – Tech­ nik – Moderne: Die Eskalation der Gewalt im ‚Ingenieur-Krieg‘: Zur Technisierung des Ersten Weltkrieges“, in: Petra Ernst, Sabine A. Haring und Werner Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, S. 163–186.

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Flugzeuge verzichteten und diese sogar im Gegenteil, wie beispielsweise Manfred von Richthofen, zur besseren Erkennbarkeit rot bemalten.113 Die Arbeit der Camoufleur*in­ nen steht in völligem Gegensatz zu dieser Art von Heldentum, das wie in vergangenen Jahrhunderten auf dem sichtbaren Kampf von Mann zu Mann beruht und darüber hinaus noch spektakulär in der Luft ausgetragen wird. Die von den Piloten zum Zweikampf ge­ brauchten Flugzeuge erfordern ein enges körperliches Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Ganz anders verhält es sich dagegen mit der am Boden operierenden Kriegs­ maschinerie, beispielsweise den Waffen mit großer Reichweite, dem Giftgaseinsatz, den Fernrohren, den Telekommunikationsapparaten: Sie schaffen als Maschinen der Distanz eine völlig andere Bezüglichkeit. Wenn in Bezug auf den Ersten Weltkrieg von ‚maschinel­ lem Töten‘ die Rede ist, ist nicht der spektakuläre Kampf in der Luft im Fokus. Vielmehr sind die anderen Maschinen gemeint, die in den Schützengräben Gefühle von Anonymität und Ausgeliefertsein erzeugen. Für die Camoufleur*innen mit ihrem speziellen Arbeitsauftrag der Tarnung und Täu­ schung wird die Inkompatibilität der klassischen kriegerischen Werteordnung mit der von ihnen erlebten Kriegsrealität besonders deutlich erfahrbar. Die fast schon karikaturhafte Darstellung des zutiefst unsoldatischen Chamäleons zeigt, dass sie sich dessen durchaus bewusst waren und – nicht ohne Selbstironie und Gespür für das Groteske ihrer wider­ sprüchlichen Situation – vielleicht gerade deshalb das kuriose Reptil in den Stand eines neuen soldatischen Idols erhoben. Die Entscheidung für das Chamäleon als Emblem für die Camouflageabteilung ist dabei weit mehr als die Wahl eines Maskottchens der Tarnung. Die kulturelle Vorgeschichte der Erforschung und symbolischen Aufladung des Tiers trägt sich auch in den Kontext des Ersten Weltkriegs und der Camouflage ein. Insbesondere der angesprochene Aspekt einer als lesbar verstandenen Haut gewinnt an Virulenz für die Interpretation von Luftfotografien, bei der die Kriegslandschaft in vergleichbarer Weise als Zeichensystem betrachtet wird. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Position eines Biologen des 20. Jahrhun­ derts erhellend, die für die Auffassung der Rolle der Haut und das Verhältnis des Blicks zum Äußeren eines Lebewesens wegweisend ist. Die Rede ist von dem Schweizer Biologen und Naturphilosophen Adolf Portmann (1897–1982), der in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren mehrere Schriften über die äußere Gestalt von Tieren und Pflanzen ver­ öffentlicht. Er betrachtet die Haut, bzw. das Fell oder das Gefieder von Tieren, dezidiert als einen Schauplatz, der evolutionär durch die Blicke der anderen entstanden ist. In dif­ ferenzierter Weise fragt er nach dem Verhältnis, in dem Inneres und Äußeres zueinander stehen. Innerhalb seiner Disziplin verstand er sich in Zeiten von aufkommender Mole­ kular- und Genforschung als ein Forscher, der im Gegensatz zu dieser Verlagerung des Fokus auf innere Strukturen seine Forschung den äußeren Gestaltungen der Lebewesen widmet. Sein Anliegen war es ausdrücklich, die „Grenzen des Wissens“, „das ­Ausmaß des 113 Vgl. Julia Encke, Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934, München 2006, S. 59.

Mimikry und Moral: Tierhaut als Modell für Kriegsstrategien

­Unverstandenen“114 zu betonen. Für eine kulturgeschichtliche Untersuchung von Camou­ flage, die den Krieg als gestalteten Schauplatz in den Blick nimmt, sind seine Überlegun­ gen zur tierischen Tarnung und Musterung höchst aufschlussreich, da sie die Beziehung von Innerem und Äußerem neu zu denken versuchen und dem Blicken dabei eine bedeut­ same Rolle zuweisen. Um die beiden Lager innerhalb der Biologie seiner Zeit zu beschreiben, greift P ­ ortmann wiederholt auf das Bild des Theaters zurück, das ihm eine Unterteilung in die Bereiche vor und hinter der Bühne ermöglicht. Beide Perspektiven ergäben unterschiedliche, aber gleichberechtigte Wissensformen: Die eine wisse um die Funktionsweisen und Mechanis­ men des Beobachteten, die andere betrachte das Zusammenspiel als Ganzes, seine Wir­ kungen und Illusionseffekte. Um die heutige Situation der Lebensforschung zu erfassen, will ich zu einem gewagten Vergleich greifen. Das reiche Spiel des Lebens erscheint mir wie ein ­großartiges fremdes Schauspiel, das vor uns aufgeführt wird. Will ich ­dieses ­Theater des Lebens ganz gründlich kennen, dann muß das von zwei ­ver­schiedenen Stand­orten aus geschehen: Ich muß vor der Bühne als Beschauer verweilen und versuchen, den Sinn des Geschehens zu erfassen, das sich vor mir abspielt. Ich muß aber auch hinter der Bühne Bescheid wissen, ich muß doch erfassen, wie man das alles macht. Ich entdecke hinter der Bühne alle die vielen Einrichtungen, die dem Beschauer vor der Bühne eine künstliche Natur oder eine ganz andere Illusion verschaffen.115 Portmann selbst hat sich dem „Reich der Gestalten“116, der morphologischen Forschung, verschrieben – nimmt also innerhalb dieses von ihm metaphorisch angesprochenen Ge­ füges die Zuschauerperspektive ein. Diese wird, so erfährt man in seiner 1974 von ihm im Alter von 77 Jahren publizierten Forschungsbiografie, im Laufe der von ihm als Biolo­ ge miterlebten Jahrzehnte wissenschaftspolitisch immer stärker vernachlässigt. Für den ­Horizont der vorliegenden Studie ist die von Portmann vertretende Forschung in mehrerlei Hinsicht bedeutsam: durch den von ihm konsequent verfolgten Bezug auf das Äußere von Lebewesen in einer nach visuellen Kriterien gestalteten Wirklichkeit, durch seinen Bezug auf theatrale Settings, mit dem er für eine Analyse visueller Gestaltungen argumentiert und nicht zuletzt durch seine Verteidigung einer nicht rein funktional argumentierenden Erschließung des Lebendigen. Im dichotomischen Spannungsfeld der so unterschiedlichen Forschungs­ansätze fokussiert sich Portmann in seiner wissenschaftlichen Arbeit entschieden auf die 114 Adolf Portmann, An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Wien, Düs­ seldorf 1974, S. 58. 115 Ebd., S. 48. 116 Ebd., S. 125.

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­ ußeren Formen und betont deren Eigenwert. Die Konzentration der überwiegenden ä Mehrheit seiner Kolleg*innen auf innere Strukturen versteht Portmann als Teil eines größeren kulturellen Zusammenhangs, innerhalb dessen das Äußere als scheinhaf­ te Fassade abgewertet, und das Innere als das ‚Eigentliche‘, als aufschlussreich für das Wesen gedacht wird. Diese Disposition finde sich auch in der Biologie, deren Forschung sich vor allem dem Inneren und den unsichtbaren Strukturen widme und darüber fälschli­ cherweise die äußeren Erscheinungen als irrelevant oder gar trügerisch degradiere. Dieser Beobachtung entspricht auch die moralisch wertende Einschätzung tierischer Tarnungen als unecht, täuschend und nicht dem inneren Wesen entsprechend, wie sie in den im Voran­gegangenen vorgestellten Texten aus dem 19. Jahrhundert beobachtet werden kann. Dem stellt Portmann sein eigenes Credo entgegen: Ob wir als Künstler das Tier durchschauen wollen oder als Forscher die ­Gesetze seines Baues finden möchten – stets wird die Sonderung der Innenform von der erscheinenden Gestalt eine klärende Hilfe sein, ein erster grosser Schritt zur ­Erkenntnis des Eigenwerts des Sichtbaren. Wir werden gerade die ­Erscheinungen, die unser Auge schaut, als das Bedeutsame auffassen und sie nicht zu einer ­blossen Hülle entwerten lassen, die unserem Blick das Wesentliche verbirgt. Wir wollen nicht wie die Schatzgräber das Wertvollste stets in irgendeiner dunklen Tiefe wittern.117 Portmann arbeitet somit auch an einer Umdeutung epistemologischer und kultureller Bedeutungen der Haut, weg von der Auffassung als verbergende Struktur hin zu einer Betrachtungsweise als kommunikatives, in Beziehungen zur Umwelt und zu anderen se­ henden Lebewesen eingebettetes „Organ[…] der Anschauung“118. Der Haut von Tieren und Menschen kommt als dem äußersten Organ, das sich den Blicken der anderen am stärksten ausgesetzt sieht, eine besondere Rolle zu. Die Haut ist in dieser Funktion eines der wichtigsten „organs of display“ oder auch „semiotic organs“119; ist sie doch Medium der Selbstrepräsentation, das sich im Zusammenleben von anderen als Träger von Bedeutungen interpretieren lässt. Wie schon im 19. Jahrhundert wird dabei der Chamäleonhaut ein exemplarischer Status zugesprochen. Portmann beschreibt die Haut des „Verwandlungskünstler[s]“ Chamäleon als Medium, mit dem das Tier sich nicht nur tarne; darüber hinaus diene sie ihm beispielsweise bei der Paarung oder in Bedro­ hungssituationen auch zur „Kundgabe von Erregungen“120. Die Haut des Tieres ist in dieser Betrachtungsweise ein Kommunikationsmedium und ein lesbares Zeugnis innerer Vor­ 117 Adolf Portmann, Die Tiergestalt, Basel: Reinhardt 1948, S. 35. 118 Ebd., S. 120. 119 Karel Kleisner, The Semantic Morphology of Adolf Portmann. A Starting Point for the Biosemiotics of Organic Form?, in: Biosemiotics, 1/2 (2008), S. 207–219, hier: S. 207. 120 Adolf Portmann, Tarnung im Tierreich, Berlin [u. a.] 1956, S. 92–93.

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gänge. Die Auffassung, das Chamäleon sei „zum Gleichnis der Unbeständigkeit g­ eworden“, verkenne das Tier, das in „Wirklichkeit im Reichtum der Farbvarianten vom Wechsel ­ rregungen Kunde“121 gebe – nur dass diese Kunde eben schwer lesbar sei. Die seiner E Chamä­leon­haut stehe dabei exemplarisch für „die reiche Möglichkeit, von der Innerlich­ keit eines Tiers durch wechselnde Erscheinung in einer freilich schwer lesbaren Sprache Kunde zu geben.“122 Portmann fordert dazu auf, die äußere Gestalt von Lebewesen nicht rein nach funk­ tio­nalen Kriterien zu analysieren. Vielmehr seien die sichtbaren Teile eines Körpers, also Haut, Gefieder oder Fell, aber auch die Körperform als Ganze, im Gegensatz zu den in­ neren Organen nach einer eigenen Logik, einer Logik des Visuellen gestaltet. Zwar lasse sich deren Funktionieren erklären, nicht aber die Herkunft der konkreten Formen und Gestaltungen.123 Seine Forschung zu Tarnungsformen von Tieren setzt Portmann in einen direkten Be­ zug zur militärischen Camouflage. Bemerkenswerterweise begründet er in seinem 1956 veröffentlichten Buch Tarnung im Tierreich die Relevanz des Themas und die Effektivi­ tät der tierischen Tarnungen mit einem Verweis auf die große militärische Bedeutung der Camouflage im Krieg. Während die ersten Camoufleur*innen des Ersten und Zweiten Weltkriegs sich Tiere mit Tarnungsfähigkeit zum Vorbild und als Referenzpunkt nahmen, argumentiert Portmann nur wenige Jahre später in einer umgekehrten Logik, innerhalb derer die militärische Bedeutung der Camouflage die Relevanz der Mimikry für die biolo­ gische Forschung verbürgt. Der Umstand, daß die moderne Kriegführung das Verbergen, die Tarnung der Kämpfer, auch der Geschütze, Schiffe und Gebäude in größtem Ausmaß gelernt hat, weist nachdrücklich genug auf den Erhaltungswert hin, der solchen Gestaltungen für ein Lebewesen zukommt. Nicht umsonst nehmen Beispiele von solchen Verstellungskünsten in allen Diskussionen um die Entstehung und Umwandlung der Organismen einen großen Raum ein. Charles Darwin selbst, der Begründer der modernen Abstammungslehre, hat der Tarnung bereits ein großes Gewicht beigemessen, und seither gehören diese Beispiele zum festen Bestand aller biologischen Darstellungen.124 Das Aussehen der Tiere wird hier, im Rekurs auf die beiden Weltkriege mit ihren militä­ rischen Inszenierungspraktiken, als ein wichtiger Faktor im evolutionären Selektionspro­ zess in den Fokus gerückt. Portmann markiert somit das Auge als einen selektierenden

121 Ebd., S. 212. 122 Portmann, Tarnung im Tierreich, S. 92–93. 123 Vgl. Portmann, An den Grenzen des Wissens, S. 53–54. 124 Portmann, Tarnung im Tierreich, S. 1–2.

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und dadurch die Umwelt formenden Faktor in der Evolution der Arten. Die Blicke der anderen seien seit der Entstehung visueller Organe an der Formierung der Arten maßgeb­ lich beteiligt gewesen.125 Wenn diese getarnten Gestalten oder diese Warnfarben heute wie ‚für ein Auge geschaffen‘ erscheinen, so rührt das davon her, daß eben Augen während Jahrmillionen als auslesende Faktoren am Werke waren und so diese erstaunlichen optischen Gestaltungen ermöglicht haben.126 Das heißt auch, dass alle Tiere und Pflanzen eben darum so aussehen, wie sie aussehen, weil sie angeschaut werden und wurden. Erst durch die Blicke der anderen und ausgerich­ tet an diesen haben sie im Laufe der Evolution ihr Äußeres entwickelt. Somit lässt sich sagen, dass dem Blicken in dieser Interpretation der Evolution keine passive Zuschauer­ funktion, sondern eine entscheidende gestaltende Rolle zukommt. Portmann widmet diesem Thema in den 1950er und 60er Jahren mehrere Schriften.127 Er beschäftigt sich darin eingehend mit den sichtbaren Organen wie Haut, Gefieder oder Fell, also den, wie er schreibt, „Organen der Anschauung“128, an denen er eine Strukturie­ rung nach visuellen Kriterien beobachtet: In allen Fällen haben wir also optische Strukturen vor uns, Organe der Anschauung, deren gesamte Erscheinung nur einen Sinn hat, wenn wir sie bewerten als auf ein Auge gerichtet, sei es das Auge eines Artgenossen oder das eines Feindes. Diese visuellen Organe sind die Sendeapparate, die einem ganz bestimmten Empfangsgerät zugeordnet sind, deren Sendungen auf die Eigenart des Empfangsorgans hin zu beurteilen sind.129

125 Vgl. zur Diskussion um die Gestalt von Lebewesen die Position der Wissenschaftsphilosphen Karel Kleisner und Anton Markoš, die sich auf Portmann beziehen: Karel Kleisner und Anton Markoš, Mutual ­understanding and misunderstanding in biological systems mediated by self-representational meaing of organisms, in: Sign System Studies, 37/1/2 (2009), S. 300–310, hier: S. 302: „It is highly probable that the evolutionary transition from non-specific semi-transparent bodies to sophistically structured opaque surfaces (or conversely to full transparency), like pigment patterns, physical colorations, and integumental ornaments covariates with the evolutionary appearance of sight. This was an important evolutionary event that led to the increase of communicative abilities among organisms, in which the life got its face.“ 126 Portmann, Tarnung im Tierreich, S. 96. 127 Vgl. Portmann, Die Tiergestalt; Portmann, Tarnung im Tierreich; Adolf Portmann, Neue Wege der Biologie, München 1960; Adolf Portmann, „Anpassung als Möglichkeit und Bedrohung“, in: Alexander Mitscherlich (Hg.), Das beschädigte Leben. Diagnose und Therapie in einer Welt unabsehbarer Veränderungen, Grenzach/ Baden 1969, S. 21–32; Adolf Portmann, Essays in Philosophical Zoology. The Living Form and the Seeing Eye, Lewiston, Queenston, Lampeter 1990. 128 Portmann, Die Tiergestalt, S. 120. 129 Ebd., S. 120.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

Jedoch werde die Natur, so Portmann, häufig als ein Ort erachtet, der im Unterschied zum menschlichen Leben frei von „falsche[m] Prunk“, „Oberflächlichkeit“ und „Fassade“ sei.130 In der technischen Metaphorik von „Sendeapparten“ und „Empfangsgeräten“ – Innova­ tionen, die im Ersten Weltkrieg virulent wurden – beschreibt Portmann das Äußere als dezidiert für ein sehendes Auge als Empfänger gemacht. „Visuelle Organe“ sind in diesem Beziehungsgefüge nicht die Augen, sondern die zum Senden visuell gestalteten Teile eines Körpers. Die von Portmann eigenwillig gebrauchte Metaphorik zeigt, dass die technischen Gerätschaften des Krieges zu Dispositiven der Wahrnehmung überhaupt werden und die Sichtweise auf Tiere und deren Verhaltensweisen prägen. Die Haut ist der sichtbare Schauplatz, der nicht nur von der Bedeutung des Auges im evolutionären Prozess zeugt. Sie muss, sofern sie als Kommunikationsmedium begriffen wird, so gelesen werden wie die sichtbare Erdoberfläche auf den militärischen Luftfoto­ grafien. Das Äußere gilt als „Zeuge der Innerlichkeit“131. Dabei sei die Haut als „virtuelle Grenzschicht“ entstanden, die das Innen und Außen eines Organismus voneinander ab­ grenzt und gleichzeitig ein Medium von Beziehung und Kommunikation ist.132 Die Haut ist, von ihrer evolutionären Entstehung her betrachtet, eine Struktur der Beziehung, weil sie in einer Bezüglichkeit auf die Blicke der anderen entstanden ist – seien es Feinde oder Artgenossen. Das Chamäleon und die über Jahrhunderte geführte Diskussion, ob es sich mit seinen Farbwechseln der Umwelt anpasse oder seine inneren Zustände mitteile, führt dies besonders eindrücklich und spektakulär vor Augen.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation Nachdem die Tarnungsfähigkeit von Tieren als Modell für Kriegsstrategien in den Blick ge­ nommen wurde und deren Haut als Austragungsort für moralisch konnotierte Fragen nach dem Verhältnis zwischen Innen und Außen identifiziert werden konnte, soll es im Folgen­ den um die veränderte visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes geben, der Camou­flage als Strategie seit dem Ersten Weltkrieg mit hervorgebracht hat und gleichzeitig seiner­ seits durch Camouflage geprägt wurde. Es soll dabei deutlich werden, in welche visuellen Ordnungen und Umwälzungen die Entstehungsgeschichte der Camouflage eingebettet ist. Texte, die sich aus zeitgenössischer Perspektive mit der Bildlichkeit des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen, sind dafür besonders aufschlussreich. Denn teilweise noch während des Krieges oder unmittelbar danach wird von einigen Zeitgenoss*innen sehr genau beob­ achtet, welche besonderen und historisch neuen Visualitäten dieser hervorbringt, und es werden Probleme markiert, die aus den veränderten visuellen Gegebenheiten resultieren.

130 Ebd., S. 34. 131 Ebd., S. 202. 132 Vgl. Portmann, Anpassung als Möglichkeit und Bedrohung, S. 22.

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Interessanterweise finden sich solche Beobachtungen in Texten von Kunst- und Theater­ kritiker*innen, die bei ihrer Analyse vor allem das Problem der Darstellbarkeit des Krieges und der möglichen Auswirkungen auf das Genre der Kriegsmalerei oder der Kriegsdarstel­ lungen auf der Bühne im Blick haben. Im Folgenden sollen dazu die Überlegungen des Kunstkritikers Robert de la Sizeranne (1866–1932), des Kunsthistorikers Richard H ­ amann (1879–1961) und des Theaterkritikers Heinrich Stümcke (1873–1923) vorgestellt werden. Auch wenn die Autoren ihre Reflexionen als mehr oder weniger fachinterne ­Beiträge ­verstehen, zeigt sich hier, dass die Problematik der Darstellung des Krieges im Ersten Weltkrieg eine Frage ist, die weit über das Problem einer angemessenen Repräsentation der Geschehnisse in der Malerei oder auf der Bühne hinausgeht. Denn die Auseinanderset­ zung mit dem Genre der Kriegsmalerei und den Problemen der Darstellung berührt eine Kernstrategie des Krieges. Das äußere Erscheinungsbild von Waffen, Soldaten, Fahrzeugen und Vorgehensweisen ist mit der Entwicklung der Camouflage wesentlicher Teil strategi­ scher Entscheidungen und wird nach Kriterien der Sichtbarkeit aktiv gestaltet. Aus diesem Grund ist die Frage, was es auf dem Kriegsschauplatz zu sehen gibt und wie es möglich ist, den von Unsichtbarkeiten geprägten Krieg bildlich oder theatral darzustellen, auch eine Frage nach den spezifischen Funktionsweisen dieses Krieges. Debatten darüber, ob Krieg, kriegerische Zerstörung, Gewalt und Leiden dargestellt werden können und dürfen oder eben nicht, sind bis heute brisant – doch schon den Ersten Weltkrieg begleiten sie mit einer neuen Dringlichkeit.133 Wie lässt sich der Krieg angemes­ sen repräsentieren? Was gibt es überhaupt zu sehen, das als aussagekräftig für den Krieg angesehen werden kann? Ist es möglich, bildliche, theatrale, sprachliche Darstellungsfor­ men für die als unvorstellbar empfundene Erfahrung des Ersten Weltkrieges zu finden? Be­ vor die Einschätzungen der genannten Kunstkritiker zu diesen Fragen eingeführt werden, lohnt sich ein Blick auf Walter Benjamins Überlegungen zur Darstellungsproblematik, die er 1933 in seinem Essay „Erfahrung und Armut“134 ausführt. Er negiert die Möglichkeit der Darstellung der Erfahrung des Ersten Weltkrieges zunächst, geht sogar so weit, nicht nur die Darstellungsmöglichkeiten zu problematisieren, sondern Erfahrung selbst als durch den Krieg grundsätzlich infrage gestellt zu beschreiben. Der Erste Weltkrieg, so Benjamin, lässt die Menschen, die ihn erlebt haben, „verstummen“ oder aber bringt in den „Kriegsbü­ chern“ Berichte hervor, die die Unfähigkeit dokumentieren, aus dem Erlebten gewonnene Erfahrungen zu artikulieren:

133 Vgl. zur Darstellbarkeit des Ersten Weltkriegs Annegret Jürgens-Kirchhoff, Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert, Berlin 1993; zu einer Ethik der fotografischen Darstellung von Leiden Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, New York 2003; Carolin Emckes überzeugendes Plädoyer gegen den Topos der „Unsagbarkeit“ von extremer Gewalt Carolin Emcke, „Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtig­ keit“, in: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit: Essays, Frankfurt am Main 2013, S. 13–110. 134 Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften (= II.1), Frankfurt am Main 1991, S. 213–219.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

[…] die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt.135 Benjamin beschreibt, wie das Vertrauen in so etwas wie ‚Erfahrungswissen‘ durch radikal veränderte Lebensbedingungen erschüttert wird. Es scheint nicht mehr möglich zu sein, Erfahrungen persönlich verbürgt „vom Mund zum Ohr“ an andere weiterzugeben – ma­ chen die Akteur*innen diese doch in einer Zeit, in der menschliche Verhaltensweisen, die bislang erfahrungsgemäß als vernünftig und richtig gelten, sich als falsch und unter den Umständen des Krieges gar als tödlich erweisen können. So konstatiert Benjamin einen tiefen Bruch zwischen den Generationen, der durch den Ersten Weltkrieg intensiviert zu­ tage tritt. Diese Diskontinuität ergibt sich daraus, dass die Erfahrungen der Alten für die Jüngeren unbrauchbar geworden sind, „im Kurse gefallen“, weil jene die Realität so fun­ damental verändert vorfinden. Dies betreffe nicht nur individuelle Erfahrungen, sondern im Grunde das gesamte Menschheitserbe, das angesichts der technisierten Welt wertlos erscheint. Benjamin fährt fort: Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaft­lichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.136 Benjamin geht an dieser Stelle auch auf die grundveränderte räumliche Struktur der Kriegs­ landschaft ein, in der nur ein einziges Element bleibt, das noch an eine Landschaft erinnert: die Wolken. Damit existiert Landschaft wie bisher bekannt – als ein Ensemble verschiedener Elemente der Natur, zu denen sich der betrachtende Mensch in Beziehung setzt – nicht mehr. In der als verloren konstatierten Landschaftsauffassung klingen die Überlegun­ gen Georg Simmels zu einer „Philosophie der Landschaft“ an, die er 1913 in Form eines kurzen Essays in der Zeitschrift Die Güldenkammer veröffentlichte. Darin beschreibt Simmel die Formierung von Landschaft als einen „eigentümlichen geistigen Prozeß“137 135 Ebd., S. 214. 136 Ebd. 137 Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, in: Die Güldenkammer. Eine bremische Monatsschrift, 3/2 (1913), S. 635–644, hier: S. 635.

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und meint damit die kreative Leistung des Zusammenfügens des Gesehenen durch die be­ trachtende Person. Simmel legt so den Fokus auf den schöpferischen Prozess des Betrach­ tens und auf die betrachtende Person, die in der zusammenfügenden Wahrnehmung die Landschaft erst hervorbringt. Diese Praxis des aktiven Betrachtens erweist sich als konträr zu einer militärischen Beobachtung von Landschaft bei der die Elemente der Umgebung zerteilt, verzeichnet und auf ihren Nutzen und ihre Gefahr hin kategorisiert werden.138 Der Krieg macht aus dem, was bisher als Landschaft betrachtet wird, ein „Kraftfeld“139. In einem anderen Text evoziert Benjamin die „total mobilgemachte[…] Landschaft“140, in der alle Landschaftselemente mit kriegerischer Bedeutung aufgeladen werden. Landschaft im zuvor geläufigen Sinne löst sich damit in der militärischen Betrachtung auf. An deren Stel­ le tritt ein durch militärische Erwägungen ein „semiotisiertes Terrain“141, wie die Rechts­ wissenschaftlerin und Medientheoretikerin Cornelia Vismann es in ihrer Benjamin-Lektü­ re prägnant auf den Begriff bringt. Vismann arbeitet in ihrem Aufsatz zur Kriegslandschaft des Ersten Weltkriegs mit Bezug auf Benjamin eine Unterscheidung der Begriffe Landschaft und Terrain (im englischen Original landscape und terrain) heraus. Ausgehend von der von Benjamin konstatierten grundlegenden Veränderung der Landschaft, in der nichts gleich geblieben ist, beschreibt Vismann die Auflösung der Landschaft, die zum Terrain wird. Mit dem Begriff Landschaft ist dabei der kulturelle Komplex gemeint, der sich an Vorstellungen aus der Malerei anlehnt und zur Kontemplation einlädt, während der mi­ litärische Blick die Landschaft hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit betrachtet, einteilt, katego­ risiert und sie so zum Terrain macht. Bemerkenswert an Benjamins Beschreibung dieses Auflösungsprozesses ist dabei nicht zuletzt das entsetzte Erstaunen, das er zum Ausdruck bringt, wenn er in Erinnerung ruft, dass „eine Generation“ – und das ist zweifelsohne seine Generation – „die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren“ ist, sich auf einmal mit einer Kriegslandschaft konfrontiert sieht, die alle Erwartungen an Landschaft, die diese Generation für einen Krieg im Freien mitbrachte, zurückweist.142

138 Vgl. zur militärischen Landschaftsbetrachtung Woodward, Military geographies, S. 106: „This military rea­ ding of landscape is a rationalistic one, possibly even a masculinist one where seeing and knowing are conflated. Once understood, the features are renamed; hills and streams become barriers, hedges turn into hideouts.“ Woodward, Military geographies, S. 106. 139 Benjamin, Erfahrung und Armut, S. 214. 140 Walter Benjamin, „Theorien des deutschen Faschismus: Zu der Sammelschrift ‚Krieg und Krieger‘. Herausge­ geben von Ernst Jünger“, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften (= III), Frankfurt am Main 1991, S. 238–250, hier: S. 249. 141 Cornelia Vismann, Landscape in the First World War. On Benjamin’s critique of Ernst Jünger, in: New Com­ parison, 18 (1994), S. 76–88, hier: S. 84: „With the disappearance of landscape into a semiotised terrain, a map in the 1:1 scale, memory disappeared. Benjamin’s reference to non-experience in a non-landscape, his ‚force-field‘, is precise: memory is suspended, subtracted from the landscape into the photos and maps.“ 142 Vismann bringt diese Beobachtung auf eine treffende Formulierung: „[…] landscape seems to suggest itself as the appropriate mode for conceiving the war. However, war has no landscape: the theatre of war is the terrain.“ Ebd., S. 78.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

Als Entgegnung zu Benjamins These der durch den Krieg unmöglich gewordenen Wei­ tergabe von Erfahrung sei an dieser Stelle kritisch und gleichzeitig vorsichtig optimistisch angemerkt: Wenn die Kriegsbücher auch in vielen Fällen nicht in der Lage sind, Erfahrun­ gen „vom Mund zum Ohr“ weiterzugeben, so entstehen mit ihnen dennoch – wie verzerrt, bruchstückhaft oder unbeholfen auch immer – zahlreiche Darstellungen, die Erfahrun­ gen, Erlebnisse, Eindrücke zum Ausdruck bringen, Analysen versuchen und Kommentare abgeben. Trotz fundamentaler Veränderungen, die die herkömmlichen Ausdrucksweisen und Darstellungskonventionen „Lügen [strafen]“143 und die alte Sprache falsch erscheinen lassen, versuchen Menschen, Worte und Bilder zu finden, die doch etwas von dem Erlebten transportieren und auf diese Weise dazu beitragen, eine neue Sprache und neue Darstel­ lungsweisen zu finden. Sie mögen nicht so unmittelbar und persönlich präsent sein wie Berichte „von Mund zum Ohr“ – dennoch sind es letztlich die entstandenen Formate, die versuchen, den konstatierten Bruch zwischen den Generationen kommunikativ zu über­ winden. Ohne diese Versuche wären auch Annäherungen an die Thematik wie die vorlie­ gende Arbeit nicht möglich. Benjamins eigener Text zählt ebenso dazu wie die Schriften von Sizeranne, Hamann und Stümcke, die im Folgenden vorgestellt werden. Der Kunstkritiker Robert de la Sizeranne setzt sich bereits kurz nach Kriegsende im Zusammenhang mit einer „neuen Schlachtenästhetik“ – „La nouvelle esthétique des ba­ tailles“, so die Überschrift eines Kapitels – mit den Darstellungsmöglichkeiten des Ersten Weltkrieges für Maler*innen auseinander.144 Er stellt fest, dass ein Maler auf der Suche nach den klassischen Motiven der Schlachtenmalerei an den Fronten des Ersten Welt­ kriegs nicht fündig wird: Der Kriegsschauplatz habe visuell wenig zu bieten. Sizeranne räumt ein, dass es auch seltsam wäre, wenn die „allmächtigen Zerstörungsmaschinen“145, die seit Kurzem im Einsatz seien und die die „Lebensbedingungen auf der Oberfläche des gesamten Erdballs“146 veränderten, mit ihrer fatalen Dynamik nicht auch das „Kampf­ theater“ („théâtre de la lutte“) erfasst hätten. Denn es handele sich bei diesem nicht mehr um „die reiche Landschaft der alten Schlachtengemälde, komplex und lebendig“, sondern

143 Benjamin, Erfahrung und Armut, S. 214. 144 Robert de la Sizeranne, Ce que la guerre enseigne aux peintres. A propos du salon de 1918, in: Revue des deux mondes (Mai/ Juni 1918), S. 610–634; Robert de la Sizeranne, L’art pendant la guerre 1914–1918, Paris 1919, das Kapitel „La nouvelle esthétique de bataille“, S. 221–263, entspricht nahezu wortgleich dem in der Revue des deux mondes zuvor veröffentlichten Aufsatz. 145 Sizeranne, L’art pendant la guerre 1914–1918, S. 226: „D’abord, sur le théâtre de la lutte ou son décor. Il serait bien étrange qu’il n’eût pas été modifié par les omnipotents engins de destruction récemment mis en ­œuvre, – et, en effet, il l’a été.“ 146 Ebd., S. 221: „Sur toute la surface du globe, elle [la guerre] a modifié les conditions de la vie publique et pri­ vée, du travail, de la liberté, de la sociabilité, du crédit et même du pot-au-feu, répandu le superflu et raréfié le nécessaire, enrichi ou ruiné des gens qui ne s’attendaient nullement à un changement de fortune, fait apparaître dans des pays autrefois gorgés de victuailles le spectre de la famine, mélangé toutes les races et toutes les conditions, interverti l’ordre des valeurs sociales, abattu des trônes, avancé les horloges, ramené du fond du passé des engins oubliés qu’on croyait désormais inutiles et arraché à l’avenir des progrès qu’on croyait impossibles, dissocié et fait éclater en morceaux ce qui semblait cimenté pour toujours, uni et fondu ce qui semblait prêt à se dissoudre.“

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um eine gänzlich nackte und tote Erde, eine „steinige Wüste, in der nichts wächst, sich nichts bewegt, nichts lebt“.147 Sizeranne beginnt seinen Text mit einer Auflistung der his­ torisch einschneidenden, radikalen Veränderungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, die durch den Krieg verursacht sind: Ein Krieg hat sich entfesselt, der die gesamte Physiognomie unseres Planeten verändert hat, alle Prognosen durcheinander gebracht, alle Propheten widerlegt, die Theorien der etabliertesten Strategen, Ingenieure, Ökonomen, Hygieniker und Statistiker umgestoßen, die Diplomaten bestürzt, die Chemiker verdutzt, die Soziologen ebenso wie die Köchinnen entsetzt hat. […] Kurzum, er hat unsere alte Welt erschüttert wie kein Krieg zuvor, weder vom Umfang noch von seiner Tiefe her.148 [eigene Übersetzung, ebenso alle nachfolgenden Zitate von Sizeranne] Im Kontrast zu dieser weitreichenden Erschütterung anerkannter Autoritäten und der Wahrheiten, die bisher Gültigkeit beanspruchen konnten, sei im „Salon de peinture“149 – damit bezieht Sizeranne sich höchstwahrscheinlich auf die traditionsreiche jährliche Aus­ stellung der Société des artistes français – alles unverändert geblieben. Sizeranne aber fordert eine neue Form der Schlachtenmalerei, die das Neue an diesem Krieg adäquat zum Ausdruck bringen kann. Mit dieser Zielvorstellung untersucht er in seiner Abhandlung die Neuerungen der Krieges im Hinblick auf deren mögliche Repräsentation in der Malerei.150 Eine Neuaufstellung des Genres der Kriegsmalerei sei notwendig, um dem Krieg ein erneuertes Bild zu geben.151 Allerdings sei dies eine besonders große Herausforderung, da die durch den Krieg hervorgebrachten Neuerungen sich zwar für die meisten anderen künstlerischen und wissenschaftlichen Bereiche als produktiv erwiesen, ausgerechnet die Malerei sich dagegen mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sehe. „Die m ­ oderne ‚Schlacht‘ hat viel getan für die Schriftsteller, Psychologen, Dramatiker, Moralisten,

147 Ebd., S. 226: „Ce n’est plus le riche paysage d’autrefois, complexe et vivant, des anciens tableaux de bataille, où les arbres élevaient paisiblement leurs dômes de feuillage audessus de la mêlée, où les moissons conti­ nuaient à croître autour des foulées du galop, où les boulets déchiraient, çà et là, les rideaux de verdure, mais sans les décrocher ni en joncher le sol: c’est une terre nue et aride, bouleversée, retournée, émiettée, par le pilonnage des ‘marmites’, couverte des débris de choses concassées, indiscernables, criblée d’entonnoirs, comme de fourmis géantes, un désert pêtré où rien ne croît, rien ne bouge, rien ne vit […]“. 148 Ebd., S. 221–222: „Une guerre s’est déchaînée qui a changé toute la physionomie de notre planète, déconcerté toutes les prévisions, démenti tous les prophètes, bouleversé les théories les mieux établies des stratèges, des ingénieurs, des économistes, des hygiénistes et des statisticiens, consterné les diplomates, stupéfié les chimistes, interloqué à un égal degré les sociologues et les cuisinières. […] Bref, elle a ébranlé notre vieux monde comme nulle autre guerre ne l’avait fait, ni en étendue ni en profondeur […].“ 149 Ebd., S. 222. 150 Vgl. ebd. 151 Ebd., S. 224: „Il semble qu’aujourd’hui un même renouveau dans le tableau de bataille ait dû se produire. Cette guerre, dit-on, ne ressemble à rien de ce qui l’a précédée. Elle doit donc renouveler son image. Les témoins ne manquent pas. Le artistes aux armées sont nombreux.“

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

­ ielleicht auch etwas für die Musiker: für die Maler hat sie nichts getan.“152 Das Wort v „Schlacht“ („bataille“) setzt Sizeranne in dieser Passage in Anführungsstriche. Damit bringt er zum Ausdruck, dass „bataille“ für das, was in diesem Krieg geschieht, nicht die treffende Bezeichnung ist. Die mit dem Begriff „bataille“ bislang verbundenen Vorstellungen passen nicht mehr auf die Situation – er behilft sich daher mit der Relativierung durch Anfüh­ rungszeichen: Die Schlacht ist nicht mehr das, was man sich unter dem Begriff traditionell vorstellt, aber ein neues, angemessenes Vokabular steht nicht zur Verfügung. Mit einer Neubewertung und Loslösung von überholten Begriffen ist auch einer der konkreten Vorschläge zur Entwicklung einer neuen Schlachtenmalerei verbunden, die Sizeranne den Maler*innen unterbreitet. Anstatt sich am allseits bekannten Motivs des „Schlachtfelds“ („champ de bataille“), das es in diesem Krieg nicht mehr so gebe wie früher, „festzubeißen“ („s’acharner“), sollten sie sich dem „Schlachthimmel“ („ciel de bataille“) zu­ wenden.153 Für diese Empfehlung bedarf es mit dem „ciel de bataille“ einer Wortneuschöp­ fung, deren Fremdheit und Ableitung vom vertrauten Kompositum im Text durch Anfüh­ rungsstriche besonders hervorgehoben wird. Durch die zahlreichen Explosionen und die Bedeutung von Flugzeugen sei ein Bild des Schlachthimmels bei weitem charakteristi­ scher für diesen Krieg als das des Schlachtfelds. Denn das, was am Schlachtfeld neu ist, ist durch Phänomene der Unsichtbarkeit gekennzeichnet – entzieht sich also der Darstellung. Neu an diesem Krieg sei nämlich, dass auf dem „Theater“ („théâtre“ hier als verkürz­ te Form von „théâtre de guerre“ gebraucht – im Sinne von Kriegsschauplatz oder auch Schlachtfeld) niemand zu sehen sei; auch die Bedrohung, die die Menschen davon ab­ halte, sich auf dem Kriegstheater zu zeigen, sei gänzlich unsichtbar. Diese unsichtbare Bedrohung habe das „No Man’s Land“ hervorgebracht, ein Stück Land, das nicht nur nie­ mandem gehört, sondern auch von niemandem betreten wird.154 Der Blick finde in dieser Landschaft nur Leere oder aber kaum erkennbare Überbleibsel von Bäumen, Feldern und Dörfern. Maler*innen auf der Suche nach einem passenden Motiv oder einer Szenerie für ein Kriegsgemälde finden hier kaum geeigneten Stoff. Lakonisch stellt Sizeranne im An­ schluss an eine ausführliche Beschreibung dieser trostlosen Szenerie fest: „[…] das ist die Kulisse, die die Maler vorfinden, die eine Schlacht konzipieren wollen. Sie ist halbwegs öde.“155 Mit seiner Wortwahl „Kulisse“ („décor“) bleibt er im metaphorologischen Feld des Theaters. Dem Umstand geschuldet, dass der Begriff théâtre de guerre als Synonym für den Kriegsschauplatz so gebräuchlich ist, scheinen sich andere Metaphern aus diesem Kontext 152 Ebd., S. 263: „La ‚bataille‘ moderne fait beaucoup pour les écrivains, psychologues, poètes, auteurs drama­ tiques, moralistes, quelque chose peut–être pour les musiciens: elle ne fait rien pour les peintres.“ 153 Ebd., S. 228: „Si donc le peintre veut exprimer ce qu’il y a de vraiment nouveau et de caractéristique dans le théâtre de la guerre, tel que l’ont fait les explosifs, il ne doit pas s’acharner à peindre un ‚champ‘ de bataille: il doit peindre un ‚ciel de bataille‘.“ 154 Ebd., S. 227: „Une invisible menace suspendue sur tout ce théâtre empêche une silhouette humaine de s’y aventurer: c’est le no man’s land.“ 155 Ebd., S. 227–228: „[…] tel est le décor que trouvent les peintres qui veulent situer une bataille. Il est à peu près nul.“

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gleichsam aufzudrängen. Sizeranne konfrontiert die öde Realität mit der Erwartung, die an den Krieg ebenso wie an ein Theater herangetragen wird: dass es etwas zu sehen gebe. Ursache der Unsichtbarkeit des Kriegsschauplatzes ist unter anderem die totale, die sys­ tematische Zerstörung, die ganze Landstriche von der Oberfläche der Erde auslöscht.156 Zusätzlich betont Sizeranne die Unübersichtlichkeit, die eine umfassende Wahrneh­ mung des Krieges unmöglich macht: „Heutzutage sind die Schlachten gigantisch, endlos und amorph. Niemand sieht, wie sie sich vor Ort entwickeln, […] man sieht sie nur auf geografischen Landkarten.“157 Mit dem beiläufigen Verweis auf die geografische Landkar­ te hebt er diese als die eigentlich angemessene Kriegsdarstellung hervor. Die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers arbeitet schon für die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts die Nähe von Malerei und Kartografie heraus.158 Entscheidend ist in ihrer Argumentation das Fehlen einer Perspektive. Dieses Merkmal bewirkt auf dem Bild ein Nebeneinander vieler Bildelemente, sodass es von seinem Aufbau her an eine Karte erinnert.159 Alpers verweist insbesondere auf panoramatische Darstellungen, für die das Nebeneinander einer Vielzahl von abgebildeten Gegenständen und Handlungen charakteristisch ist. Die von Sizeranne betonte Endlosigkeit der Kriegslandschaft, die von keiner realen einnehmbaren Perspektive überblickt werden kann, benötigt den imaginier­ ten Blick von nirgendwo („viewed from nowhere“160), der, wie Alpers zeigt, für diese Art von zweidimensional konzipierten Bildern entscheidend ist. Sizerannes Gedanke korres­ pondiert mit den oben erläuterten Überlegungen Benjamins zur „total mobil gemachten Landschaft“161, die mit militärischen Bedeutungen aufgeladen ist. Insofern ist die Land­ karte als semiotische Darstellung für eine solche Landschaft das am ehesten adäquate Repräsentationsmedium. Jede Linie, jede Markierung trägt Bedeutung und verweist auf ein Signifikat in der Realität. Sizeranne hebt – auch hier in Übereinstimmung mit Benjamin – den Einsatz von Giftgas als eine weitreichende Änderung hervor, die diesen Krieg zu etwas völlig Neuem mache. Anders als Benjamin nimmt Sizeranne allerdings weniger den machtpolitischen Aspekt dieser Waffen in den Blick, sondern interessiert sich für deren Auswirkung auf das Erscheinungsbild des Krieges. Denn das Giftgas ist nicht nur selbst eine unsichtbare, konturlose Waffe, „une arme amorphe“162. Es zwingt auch die Menschen, sich dieser Form anzupassen und mit monströsen Masken, kapuzenartig und mit Gucklöchern aus Glas, die die Atemwege vor Chlor, Brom und Nitrat schützen sollen, ein gänzlich amorphes Aus­

156 Vgl. ebd., S. 233–234. 157 Ebd., S. 239–240: „Aujourd’hui, les batailles sont gigantesques, interminables et amorphes. Personne ne les voit se développer sur le terrain, […] on ne les voit plus que sur des cartes de géographie.“ 158 Svetlana Alpers, The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1994. 159 Vgl. ebd., S. 138. 160 Ebd., S. 138. 161 Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus, S. 246–247. 162 Sizeranne, L’art pendant la guerre 1914–1918, S. 250.

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3 Amerikanische Soldaten an der Westfront tragen das neuste Modell einer Gasmaske, ca. 1917/18, Imperial War Museum: Q 60962

sehen anzunehmen. Die Persönlichkeit des Menschen werde durch die Verdeckung und Uniformierung des Gesichts unkenntlich. Der anonymisierende Effekt soll anhand der Fotografie (Abb. 3) aus der Sammlung des Imperial War Museum illustriert werden: Sie zeigt eine Gruppe amerikanischer Soldaten an der Westfront, deren Köpfe und Gesichter unter Gasmasken verborgen sind. Die acht Perso­ nen stehen in einer eher losen Aufreihung vor einem Unterstand aus Wellblech. Die Form ihrer Gesichter ist durch die unter der Maske befindlichen Vorrichtungen aus festem Ma­ terial so stark verändert, dass dies nur noch entfernt an ein menschliches Gesicht erinnert. Eher lassen die Gesichter an bestimmte Tiere denken, aufgrund der großen Augen etwa an Insekten oder Frösche. Durch die großen kreisrunden, schwarz umrahmten Glasscheiben an der Stelle der Augen, die auf der Fotografie hell reflektieren, und durch die schnauzenoder schnabelförmigen Gebilde, manche spitz zulaufend, andere vorne rund, die sich über der Nase befinden, erscheinen die Gesichter der Soldaten grotesk verzerrt. Das Genre des Gruppenbildes wird dadurch konterkariert, dass keiner der Abgebildeten an seinen Ge­ sichtszügen als Individuum identifizierbar wäre. Sizeranne fasst diese Situation zusammen als symptomatisch für einen „Kampf des Unerkennbaren gegen das Unsichtbare“163. 163 Ebd., S. 250: „Ainsi le gaz, qui est une arme amorphe, oblige l’homme à revêtir une armure amorphe, qui supprime sa personnalité. C’est la lutte de l’invisible contre l’inconnaissable.“

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Denn nicht nur die Gesichter der Soldaten, die Atemschutzmasken tragen, sind maskiert, sondern im Grunde, so Sizeranne, der gesamte Krieg. Diese Argumentation stützt er auf die Camouflage, die die Kriegsmaschinen, wie beispielsweise Kanonen, Flug­ zeuge, Panzer, U-Boote oder Torpedos, gänzlich unsichtbar macht, oder aber dafür sorgt, dass diese das Aussehen von unverdächtigen Gegenständen oder Elementen der Land­ schaft annehmen. In Hinblick auf die Malerei sei beides gleichermaßen unbrauchbar. Da­ bei seien es auch noch die Maler selbst, die durch ihre Arbeit als Camoufleure sich und ihre Kolleginnen der potentiellen malerischen Sujets beraubten.164 Eine Formulierung sticht in Sizerannes Analyse der Camouflage besonders hervor. So beschreibt er, dass die Kriegs­ maschinen, die nicht durch Tarnungstechnik unsichtbar seien, stattdessen so bearbeitet werden, dass ihnen „ihre Bedeutung weggenommen“165 werde. Er bezieht sich hiermit auf Objekte, die nicht durch fleckige Bemalungen oder durch den Überwurf von Netzen op­ tisch mit ihrer Umwelt verschmelzen, sondern so gestaltet werden, dass sie wie etwas anderes, Harmloses aussehen. Diese Überlegung beruht zunächst auf der Annahme, dass Dinge überhaupt eine visuelle Bedeutung haben, also ihre äußere Form als Bedeutung ver­ standen werden kann, die durch die Camouflage verschleiert, modifiziert, unverständlich gemacht oder in ihr Gegenteil verkehrt wird. Bedeutung ist hier in einem zeichentheore­ tischen Sinne gemeint, so wie ein Wort als Signifikat auf seinen Signifikanten verweist und nicht etwa im übertragenen Sinne einer Relevanz. Das heißt, dass neben dem großen Bereich des Unsichtbaren und unsichtbar Gemachten, der diesen Krieg ausmacht, selbst das tatsächlich Gesehene für eine visuelle Welterschließung und Raumorientierung nicht mehr dienlich ist. Sizerannes führt diesen umfassenden Orientierungsverlust sehr eindrücklich aus: Durch die Bemühungen der Maler werden diese großartigen Mörderinnen [gemeint sind die Kriegsmaschinen] als harmlose Gegenstände verkleidet, ‚camoufliert‘ wie man sagt: die Kanonen werden mit Laubwerk oder Netzen bedeckt, die Lastwagen und Automobile sind bunt gestreift wie Tiger mit den Farben der umgebenden Landschaft, die Panzer sind mit dem Ockerton der Erde der Umgebung überzogen. Durch interessante Nachahmungsbemühungen, die von bestimmten Tiergattungen inspiriert sind, schaffen es diese mordenden Monster, als alltägliche Objekte durchzugehen. Niemals hat das Äußere weniger über die Realität verraten. Niemals haben die Formen weniger über die Funktion ausgesagt. Niemals sind sie also so wenig vorteilhaft für die Kunst gewesen.166

164 Ebd., S. 248. 165 Ebd.: „Les autres seraient visibles, mais les hommes ont pris soin de leur ôter toute leur signification.“ 166 Ebd.: „ Par leurs soins, les formidables tueuses sont déguisées en choses inoffensives, « camouflées » comme on dit : les canons couverts de ramée ou de filets, les camions et les automobiles rayées et bigarrées comme des tigres, selon les couleurs du paysage ambiant, les tanks enduits de la même ocre que les terres en­ vironnantes. Ainsi, ces monstres homicides arrivent, par un curieux effort de mimétisme inspiré de certaines

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Dabei geht er von der These aus, Kunst benötige ‚aussagekräftige Gegenstände‘. Aussage­ kräftig sollen sie in dem Sinne sein, dass ihre Formen, ihre äußere Gestaltung etwas darü­ ber verraten, was sie sind, was ihre Funktion oder Aufgabe ist oder was sie im Moment ihrer Darstellung gerade tun. In Sizerannes Konzeption beruht die Malerei auf der Erkennbar­ keit des Dargestellten – sie benötigt folglich als Ausgangspunkt für ihre Repräsentations­ praxis eine verstehbare Realität. Als Kunstform steht die Malerei vor einem existentiellen Problem, wenn die Realität aus Gegenständen besteht, deren Äußeres nicht erkennen lässt, was sie sind und tun oder wozu sie da sind. Mit dem rhetorischen Aufbau der letzten drei Sätze der zitierten Passage wird dieser Gedankengang zugespitzt. Sowohl die Satzstruktur als auch die Formulierung „niemals […] weniger“ („jamais n’[…] moins“ bzw. „jamais n’[…] peu“) werden litaneiartig dreimal wiederholt. Durch die Emphase verstärkt sich das Narra­ tiv der radikalen Zäsur, der „grande coupure historique de 1914“167, das hier wie an anderen Stellen der Untersuchung etabliert wird. Gleichzeitig schlägt der Autor einen bemerkens­ werten gedanklichen Bogen: von der Beziehung des Äußeren zur Realität („Niemals hat das Äußere weniger über die Realität verraten“) über das Verhältnis von Form und Funk­ tion („Niemals haben die Formen weniger über die Funktion ausgesagt“) bis hin zu der Schlussfolgerung, die die Auswirkungen der skizzierten historischen Zäsur auf die Kunst betrifft („Niemals sind sie also so wenig vorteilhaft für die Kunst gewesen“). Auch wenn die große Geste hier plakativ dramatisierend anmutet, steckt Sizeranne doch in treffender Weise die Themenfelder ab, die durch das Phänomen der Camouflage berührt werden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle auch die Umkehrung des berühmten Leitsatzes „form follows function“, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von engagierten innovativen Bewegungen zunächst für die Architektur und später, insbesondere in den 1920er Jahren durch das Bauhaus, generell für die Gestaltung zum Prinzip erhoben wird. Ist damit in der Regel gemeint, dass sich die Gestaltung eines Objekts aus seiner Funktion ableiten solle, wird hier in einer umgekehrten Blickrichtung gefordert, dass die Funktion eines Gegenstands an seiner Gestalt ablesbar sein möge. Camouflage als Gestaltungsprinzip für Kriegsmaschinen widerspricht dem Postulat einer klaren funktionalen Formgebung dabei auf eine paradoxe Weise. Denn die Camouflage verwendet zwar überbordende Ornamen­ te – was gemeinhin als Gegenteil eines funktionalen Designs verstanden wird. Im Falle von camouflierten Objekten lässt sich allerdings von einer funktionalen Ornamentik sprechen, da die aufgemalten Muster oder übergeworfenen Netze gerade in ihrer Ornamentik eine spezifische Funktion erfüllen. Das Paradox liegt darin begründet, dass die optische Gestal­ tung von Gegenständen im allgemeinen Verständnis nicht selbst als ihre Funktion wahr­ genommen wird, sondern als etwas Nachgeordnetes oder etwas, das auf eine ­Funktion verweist, ohne dabei aber selbst Funktion zu sein. Im Krieg dagegen ist – spätestens mit espèces animales, à se faire passer pour des objets débonnaires. Jamais les apparences n’ont moins révélé les réalités. Jamais les formes n’ont été moins expressives de la fonction. Jamais, par conséquent, elles n’ont été si peu favorables à l’Art.“ 167 Ebd., S. 95.

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dem Aufkommen der Luftfotografie – das Erscheinungsbild als solches Teil der Funktion der Kriegsgeräte: Das Ornament wird funktional. Im Kontext eines Krieges mit verschwimmenden räumlichen Grenzen sticht die Camouflage als visuelle Strategie hervor – produziert sie doch bewusst und gezielt ver­ schwimmende optische Grenzen. Aber auch ohne eine aktive strategische Tarnung oder Verschleierung sieht vieles in diesem Krieg nicht aus wie Krieg. Das betrifft insbesondere die Tätigkeiten der Menschen. „Die meisten Kämpfenden, auch die nützlichsten, lassen das Auge nicht erkennen, dass sie kämpfen“.168 Sizeranne veranschaulicht diese Aussage, indem er einige Tätigkeiten aufzählt, die im Ersten Weltkrieg von den Kombattanten aus­ geführt werden: Der Pionier liege in seinem Loch mit einem Mikrofon an seinem Ohr, mit dem er die unterirdischen Arbeiten des Feindes abhöre; der Beobachter hänge an seinem Periskop; der Flieger sitze im Flugzeugrumpf; der Offizier im Generalstab beuge sich über seine Karten oder sein Telefon. Sie alle erfüllten höchst wichtige Kriegsaufgaben und seien größten Gefahren ausgesetzt. Und dennoch unterschieden sie sich hinsichtlich ihrer Hal­ tung in nichts von Menschen, die zivilen Arbeiten nachgehen, nichts um sie herum weise auf eine Schlacht hin. Selbst bei den obersten Befehlshabern der Armeen, von denen alle Befehle ausgingen, sehe es nicht anders aus als im Arbeitszimmer der Geschäftsführung eines Unternehmens.169 Hervorgehoben wird hier insbesondere die Technisierung durch das Flugzeug, das Telefon oder das erwähnte „microphone“ des Pioniers, wobei zu vermu­ ten ist, dass Sizeranne hier einen technisch ausgerüsteten Horchposten meint. Übereinstimmend mit dieser Beobachtung hat sich der preußische Generalfeldmar­ schall Graf Alfred von Schlieffen 1909 in seiner viel beachteten Schrift über den „Krieg in der Gegenwart“ geäußert. Zum Zeitpunkt der Entstehung und Veröffentlichung des Textes handelt es sich allerdings genau genommen noch um einen zukünftigen Krieg. Für den Urheber des sog. ‚Schlieffenplans‘ jedoch – bereits 1905/6 verfasst er dazu seine „Denk­ schrift Krieg gegen Frankreich“ – ist das Szenario, wie im Titel „Der Krieg in der Gegenwart“ deutlich anklingt, offenbar durchaus schon ein gegenwärtiges. Auch Schlieffen betont in einer anschaulichen Beschreibung die kriegerischen Tätigkeiten als völlig unkriegerisch und kontrastiert diese mit den aus vorangegangenen Kriegen und deren Darstellungen überlieferten Vorstellungen von Krieg. 168 Sizeranne, L’art pendant la guerre 1914–1918, S. 244: „La plupart des combattants et des plus utiles ne ­témoignent pas, aux yeux, qu’ils combattent […].“ 169 Ebd., S. 244: „le sapeur couché dans son trou, le microphone à l’oreille pour ouïr les travaux souterrains de l’ennemi, ou allongé dans le rameau de combat pour préparer une mine; l’observateur suspendu à son ­périscope, ou accroché à sa longue-vue, dans un observatoire d’armée, ou juché dans son poste ­convenablement camouflé; l’aviateur assis, au milieu de son fuselage ; l’officier d’état-major penché sur ses cartes ou sur son téléphone ; l’officier de liaison s’en allant sur une route balayée par le feu ; le sapeur qui coupe les fils de fer barbelés, en avant des colonnes d’assaut, jouent le rôle le plus nécessaire et courent les plus grands d ­ angers ; mais ils ne diffèrent en rien, par leurs attitudes, de gens qui s’occuperaient paisible­ ment à des travaux ordinaires d’avant la guerre, et rien ne témoigne autour d’eux qu’il y ait bataille. Le chef ­suprême, auquel aboutissent toutes les nouvelles, de qui partent tous les ordres, centre nerveux et conscient de l’immense organisme lutteur, ne gesticule pas plus qu’un patron dans son cabinet de travail.“

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So groß aber auch die Schlachtfelder sein mögen, so wenig werden sie dem Auge bieten. Nichts ist auf der weiten Oede zu sehen. […] Kein Napoleon, umgeben von einem glänzenden Gefolge, hält auf einer Anhöhe. Auch mit dem besten Fernglas würde er nicht viel zu sehen bekommen. Der Feldherr befindet sich weiter zurück in einem Hause mit geräumigen Schreibstuben, wo Draht- und Funkentelegraph, Fernsprech- und Signalapparate zur Hand sind, Scharen von Kraftwagen und Motorrädern, für die weitesten Fahrten gerüstet, der Befehle harren. Dort, auf einem bequemen Stuhle vor einem breiten Tisch hat der moderne Alexander auf einer Karte das gesamte Schlachtfeld vor sich, von dort telephoniert er zündende Worte und dort empfängt er die Meldungen der Armee- und Korpsführer, der Fesselballons und der lenkbaren Luftschiffe, welche die ganze Linie entlang die Bewegungen des Feindes beobachten, dessen Stellungen überwachen.170 Schlieffen ruft in dieser Textpassage mit Napoleon und Alexander zwei Feldherren aus weit auseinanderliegenden Epochen auf, von denen es zahlreiche berühmte bildliche Darstellungen gibt. Die assoziativ evozierten Bilder sind die Folie, vor der „der moderne Alexander“ als eine völlig neue Gestalt des Feldherrn gezeichnet wird, die mit den beiden bekannten historischen Figuren kaum etwas gemein hat. Der gängige Topos des Feldherrn­ hügels, den Schlieffen mit seiner Beschreibung der „Anhöhe“ anspricht, ist sowohl als stra­ tegische Übersichtsperspektive auf ein begrenztes Kriegstheater als auch als bekanntes Motiv der Schlachtenmalerei relevant. Militärische Strategien und bildliche Strategien der Gemäldekomposition haben ein gemeinsames Interesse, das im Feldherrnhügel einen fa­ vorisierten Standpunkt findet: Die Erhöhung mit guter Sicht auf das Kriegsgeschehen ist der Ort, an dem dem Auge etwas geboten wird und eine große Menge an Informationen übersichtlich mit einem Blick erfassbar ist. Schlieffen erkennt, dass der Feldherrnhügel in der modernen Schlacht obsolet ist, da eine Anhöhe angesichts eines extrem ausgedehnten Schlachtfelds keine Position des Überblicks über den Krieg mehr darstellt. Übersicht wird stattdessen durch medial vermittelte Information generiert: Daher sitzt der Befehlsgeber entfernt vom eigentlichen Kriegsgeschehen in einem technisch gut ausgestatteten Büro. Zu seiner Verfügung stehen die neusten technischen Gerätschaften: Telegraf, Telefon, Flugschiffe und Fesselballons, verschiedene Motorfahrzeuge. Die vom Kunstkritiker Sizeranne und vom Generalfeldmarschall Schlieffen so überein­ stimmend beschriebene Entwicklung bezüglich der Tätigkeiten der Kriegsbeteiligten ist später – seit den 1980er Jahren – von Medientheoretikern wie Friedrich Kittler und Paul Virilio aufgegriffen worden. Sie markieren den Ersten Weltkrieg als einen fundamentalen Umbruch im Bereich der Wahrnehmung, der waffen- und medientechnisch begründet sei. Beide analysieren, wie der moderne Krieg seit dem Ersten Weltkrieg verstärkt auf dem Feld der medial vermittelten Wahrnehmung ausgetragen wird. Abbilden und Töten gehen 170 Alfred von Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, in: Deutsche Revue, 34/1 (1909), S. 13–24, hier: S. 17–18.

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somit eine enge Verbindung ein.171 Kittler beleuchtet insbesondere die zivile – d. h. künst­ lerische, journalistische, private – Nutzung der Medientechniken vor dem Hintergrund ihrer vom Krieg geprägten Entstehungsgeschichte. In diesem Zusammenhang arbeitet er heraus, inwiefern Kriege, beginnend mit der militärischen Nutzung von Medientechniken, also „der Fernübertragung von Befehlen und Meldungen“172, zunehmend von Unsichtbar­ keit geprägt sind. Medientechnik und Unsichtbarkeit stünden in einem direkten Zusam­ menhang. So schreibt Kittler, dass der Feldherrnhügel als Ort der feldherrlichen Übersicht im Zuge dieser Entwicklungen nicht nur obsolet, sondern aufgrund veränderter Sichtver­ hältnisse und der ihm eigenen Exponiertheit zu einem lebensgefährlichen Ort wird: „Mit der Fernübertragung von Befehlen und Meldungen begann der Krieg, seine Sichtbarkeit zu verlieren. Der Feldherr räumte […] seinen angestammten, aber viel zu sichtbaren Feld­ herrnhügel“173. Befehle werden nun von geschützten und medientechnisch an den Rest des Kriegsgeschehens angebundenen Schaltzentralen aus erteilt. Das von Schlieffen prognostizierte und von Kittler in den Fokus gerückte Verlassen des Feldherrnhügels markiert so nicht nur einen Wandel innerhalb der militärischen Praktiken, sondern bedeutet aufgrund der symbolisch-kulturellen Aufladung dieses Ortes als Vorstellungsbild auch ein neues Denken militärischer Räume. Er ist Ausdruck neuer Vorstellungen von der Generierung von Wissen innerhalb des Krieges. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Perspektive des Feldherrnhügels in der Schlachtenmalerei und in Schlachtenbeschreibungen als Phantasma noch weiterleben, als die Kriegsrealität selbst schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgrund der größeren Masse eingesetzter Soldaten mit dem bloßen Auge längst nicht mehr überschaubar ist.174 Die Kunsthistorikerin Sybille Bock zeigt in Bildliche Darstellungen zum Krieg von 1870/71 das Auseinanderklaffen von Kriegsrealität und deren bildlicher Darstellung auf. So hält sie fest, dass in den Kriegsdarstellungen der Typus des „Überschaubildes“ zwar noch anzutreffen sei, dies aber mehr dem historistischen Festhalten der Maler an der Gen­ retradition und dem Wunsch nach der Übersicht eines Gesamtbildes geschuldet sei als der tatsächlichen Kriegsrealität, die „längst eine andere und tendenziell nur noch in Episoden erfahrbar“175 gewesen sei. Ein einzelnes Gesamtbild kann der Kriegsrealität mit der ge­ wachsenen Größe der Armeen und der topografischen Ausdehnung der Kriege nicht mehr gerecht werden. Dabei stellt sich allerdings darüber hinaus die Frage, ob die Kriegsdarstel­ 171 Vgl. insbesondere die Kapitel „Rockmusik – ein Mißbrauch von Heeresgerät“ (S. 7–30), „Der Schleier des Luftkriegs“ (S.243–248) und „Krieg im Schaltkreis“ (S.249–268), in: Friedrich A. Kittler, Short cuts, Frankfurt am Main 2002; Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, S. 190–203; sowie bei Virilio: Virilio, Krieg und Kino; Virilio, Die Sehmaschine; Paul Virilio, Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München 1989. 172 Kittler, Short cuts, S. 252. 173 Ebd. 174 Vgl. Herfried Münkler, „Clausewitz‘ Beschreibung und Analyse einer Schlacht: Borodino als Beispiel“, in: Steffen Martus, Marina Münkler und Werner Röcke (Hg.), Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Berlin 2003, S. 67–92, hier: S. 86. 175 Vgl. Sybille Bock, Bildliche Darstellungen zum Krieg von 1870/71, Freiburg 1982, S. 128.

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lungen nicht auch früher schon eine illusorische Dimension von Ordnung und Übersicht vorgeben, da selbst die kleineren Kriegsschauplätze vormoderner Kriege strukturell durch Chaos und Übersichtlichkeit gekennzeichnet sind.176 Die Unübersichtlichkeit erfährt al­ lerdings durch die Technisierung im Ersten Weltkrieg und die damit verbundene Entgren­ zung der Kriegsgebiete eine sprunghafte Steigerung. Wenn schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Darstellungsentwicklung hin zum Ausschnitthaften, Episodenhaften zu beobachten ist, so entzieht sich das „moderne Schlachtfeld […] erst recht der ‚Überschau‘“177. Der Erste Weltkrieg, so Kittler in Übereinstimmung mit Sizeranne, verweigere mit sei­ nen Schützengräben, die er als „Systeme der Unsichtbarmachung“ versteht, seine eigene Ikonografie.178 Dies liegt nicht in erster Linie an den expliziten Unsichtbarkeitstaktiken der Tarnung, zu denen auch die Schützengräben zweifelsohne zu zählen sind – bieten sie doch nicht nur Deckung vor Schüssen, sondern gleichzeitig auch ein unterirdisches Ver­ steck vor ebenerdigen gegnerischen Blicken. Vielmehr bringen es die Technisierung des Krieges und die Ausdehnung des Schlachtfelds ins Grenzenlose mit sich, dass der Krieg in seiner Gesamtheit weder visuell erfasst noch abgebildet werden kann. Indem der Krieg sei­ nen begrenzten Raum verlässt, bringt er auch die klassischen Darstellungsformen an ihre Grenzen: „Telegraphennetze und Aufmarschpläne, Aushebungsstatistiken und Geschoß­ bahntabellen ergeben nie wieder Bilder.“179 In der Feststellung, dass durch die spezifische Visualität des Ersten Weltkrieges die bisherige Kriegsikonografie an ihre Grenzen kommt, stimmt Kittler mit Sizeranne überein. Die Behauptung allerdings, dass der technisierte Krieg „nie wieder Bilder“ ergebe, im Medium des Bildes also gänzlich undarstellbar sei, verkennt die theoretischen wie künstlerischen Bemühungen von Sizeranne und vielen anderen, die konkret mit der Suche nach neuen bildlichen Darstellungsweisen beschäftigt waren. De facto wurde das Ereignis des Ersten Weltkriegs von großer künstlerischer Pro­ duktivität begleitet und hat eine schier unüberschaubare Zahl an Bildern unterschiedlichs­ ter Stilrichtungen hervorgebracht. Es lässt sich allerdings sagen, dass innerhalb der Gren­ zen der Genretradition die vielen Faktoren der Unsichtbarkeit tatsächlich nicht darstellbar sind. In diesem Sinne ergeben sich die Bilder nicht einfach mit der Selbstverständlichkeit einer bestehenden Tradition. Das heißt aber keineswegs, dass andere Darstellungsweisen, von Traditionen der Schlachtenmalerei losgelöste Darstellungen, mit anderen Mitteln, über ästhetische Umwege, Verzerrungen, Symboliken nicht doch möglich sind und in gro­ ßer Zahl realisiert werden. Die Überlegungen des Kunsthistorikers Richard Hamann zeugen von den Schwierig­ keiten, die die Suche nach einer Form der Kriegsikonografie denjenigen aufgibt, die qua Beruf die Kriegsdarstellung zu ihrer Aufgabe machen. Hamann prognostiziert 1917 in einer

176 Vgl. Füssel, Theatrum Belli, S. 218. 177 Jürgens-Kirchhoff, Schreckensbilder, S. 81. 178 Vgl. Kittler, Short cuts, S. 258. 179 Kittler, Short cuts, S. 250.

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Rede, „gehalten zur Feier von Kaisers Geburtstag in der Aula der Universität Marburg“180, angesichts der Ausmaße des Ersten Weltkriegs das Ende der Schlachtenmalerei: Das ist ohne Frage, daß eine moderne Schlacht in ihrer Ausdehnung und geistigen Bedeutung undarstellbar geworden ist. Jede Darstellung, die uns Soldaten, Stürme, Bewegungen, Geschütze, Schüsse, heroische Akte, Sieger und Besiegte zeigt, muß notwendig Episoden geben, die, mögen sie noch so menschlich erhebend oder erschütternd sein, doch nur winzige Kleinigkeiten, Ausschnitte des ungeheuren Geschehens darstellen, das die moderne Schlacht bedeutet, und umso kleinlicher, je naturgetreuer es ist. Eine malerische Darstellung aber, die ein möglichst großes Schlachtfeld zu überblicken versuchte, würde mehr als je alle Schlachtmomente aus den Augen verlieren, und man würde Menschen überhaupt nicht sehen, nur weites Feld, Ruinen, Dämpfe, Wolken, Himmel. Es bleibt auch hier nur die Landschaft unendlicher Weite.181 Hamann macht hier einen Vorschlag, wie man dem „ungeheuren Geschehen“ des Krieges malerisch begegnen könnte und verwirft diesen im selben Atemzug selbst. Eine episoden­ hafte Darstellung wäre wohl ein Ausweg aus der undarstellbaren „Ausdehnung und geisti­ gen Bedeutung“ des Krieges. Aber genau die Ungeheuerlichkeit, die diesen Krieg ausmacht, käme darin gerade nicht zum Ausdruck. Rückte man dagegen die Größe des Schlachtfeldes ins Bild, wären wiederum die kleineren „Schlachtmomente“ sowie die beteiligten Men­ schen nicht erkennbar. Das Dilemma, das Hamann beschreibt, liegt in der Wahl des Bild­ ausschnitts, die unausweichlich dazu verdammt, entweder durch eine makroskopische Perspektive die kleinen Geschehnisse und die darin agierenden und leidenden Menschen zu übersehen oder mit einem mikroskopischen Fokus die große ganze Ungeheuerlichkeit aus dem Blick zu verlieren. „Das ist die Kalamität auf allen modernen naturalistischen Schlachtenbildern.“182 Das Leiden und das Elend bleiben in der traditionellen Form undar­ stellbar, der begrenzte „Raum des Bildes“183 erscheint zu eng, um die Ereignisse in ihrer Ausdehnung oder Intensität fassen zu können: Das Martyrium aber derer, die im Trommelfeuer ausharren, kann keine Darstellung schildern, und die Masse, das Quantum des Leidens, das ein solcher Krieg über die Welt gebracht hat, läßt sich nicht einmal andeutungsweise auf engem Raum des Bildes zusammentragen.184 180 Richard Hamann, „Krieg und Kunst: Rede, gehalten zur Feier von Kaisers Geburtstag in der Aula der Univer­ sität Marburg“, in: Krieg. Kunst und Gegenwart, Marburg 1917, S. 5–37, hier: S. 5. 181 Ebd., S. 24. 182 Ebd., S. 14. 183 Ebd., S. 24–25. 184 Ebd.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

Das, was es im Krieg zu sehen gibt, übersteigt in Größe und Masse die begrenzten Aufnah­ mefähigkeiten einer Leinwand. Hamann hat dabei die bildliche Darstellung im Blick; sie wird in seinen Augen durch den spezifischen Charakter des Ersten Weltkrieges mit dem ex­ tremen, bis dahin unvorstellbaren Ausmaß an Zerstörung und der ebenso unvorstellbaren Technisierung verunmöglicht. Dabei ist der Krieg zu Beginn, so beschreibt Hamann einlei­ tend, noch für viele mit der Hoffnung auf einen „erzieherischen und bildenden Faktor“185 in Bezug auf die Kunst verbunden. Man erhofft sich eine „reinigend[e]“ Wirkung, die insbeson­ dere die Strömungen modernistischer, abstrakter Kunst „auf den Boden harter, unerbittli­ cher Wirklichkeit [zurückführen], von internationalen Moden klügelnder Ästheten auf die Tradition einer heimischen, bodenständigen Kunst zurückweisen und ihr große, vaterländi­ sche Inhalte [zuführen]“186 solle. Derartige nationalistisch reaktionäre Hoffnungen werden von Hamann als fatale Illusion und als ein grobes Verkennen der Kriegsrealität entlarvt. Das Sichtbare steht in einem unversöhnlichen Widerspruch zu einem schwer greifba­ ren ‚Eigentlichen‘, das unsichtbar bleibt und für das es kein Bild gibt. Auch Hamann geht in diesem Zusammenhang ebenso wie Sizeranne und Schlieffen in den bereits zitierten Schilderungen eindringlich auf die Tätigkeiten des Feldherrn ein, die ihm ganz und gar un­ kriegerisch vorkommen und doch mit dem so emphatisch beschriebenen undarstellbaren Leiden in direkter Verbindung stehen: Das kriegerische Tun dieses Mannes [Hindenburg] ist ja nicht mehr das Stirne­ runzeln und Zornessprühen der Augen, nicht mehr das Hauen und Stechen und dem Pferde die Sporen geben, sondern wo man ihn bei der Arbeit sieht, da sieht man ihn am Schreibtisch über Karten gebückt, das Bild eines Gelehrten, oder am Telephon, wie jeder Kaufmann sich porträtieren lassen könnte, oder in der Beratung mit seinem Stabe, wie jeder Leiter eines großen Unternehmens ähnlich dargestellt werden könnte. Niemals gibt das Bild der sichtbaren Person schon eine Vorstellung von der Bedeutung der Sache, an der hier gearbeitet wird.187 Möglicherweise hat Hamann dieses Bild von Hindenburg, Wilhelm II. und Ludendorff oder ein ähnliches Foto gesehen, das die obersten Befehlshaber zwar in Uniform, aber ansons­ ten mit gerahmten Ölgemälden im Hintergrund in einem denkbar zivil und unkriegerisch anmutenden Ambiente zeigt (Abb. 4). Die Übereinstimmung in den Schilderungen der un­ terschiedlichen Autoren ist so auffällig, dass man in der Figur des Feldherrn, telefonierend in seinem Büro, gebeugt über eine Karte, fast eine neue Ikone erkennen möchte, würden die Autoren selbst nicht die fehlende Ikonografie beklagen und gerade die so anschaulich be­ schriebenen Szenerien als besonders unzureichend für eine Kriegsdarstellung verwerfen.

185 Ebd., S. 5. 186 Ebd. 187 Ebd., S. 27.

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Doch nicht nur die Malerei steht vor dem Problem, für diesen Krieg einen Schauplatz auszumachen. Auch das Theater, eigentlich der Ort, an dem Handlungen dem Publikum gut sichtbar und wohl arrangiert vor Augen gestellt werden können, steht vor einem Dar­ stellungsproblem. Der Theaterkritiker Heinrich Stümcke gibt, ebenfalls 1917, in seinem Buch Theater und Krieg zu bedenken, dass die räumlichen Ausmaße und die explosive Kraft der Waffentechnik dieses Krieges seine Darstellung auf der Bühne verhinderten: Die ungeheure Umwälzung, die der Krieg der Gegenwart durch die Millionenzahl der Kämpfer und die Verbesserung der Waffen, die unterschiedlichen neuen Erfindungen und nicht in letzter Linie durch die schier endlose Dauer der einzelnen Operationen erfahren hat, legt die Frage nahe, ob unsere Dramatiker und Bühnenstrategen in der Lage sein werden, künftig auch einen Spiegel und eine abgekürzte Chronik des jetzigen Weltkrieges auf den Brettern zu bieten. Die Antwort wird in der Hauptsache wohl verneinend lauten müssen.188 Da es im Krieg keine Position der Übersicht mehr gibt, hat auch das Theater Schwierig­ keiten, angesichts der Realität der Kriegsereignisse angemessene Bilder für die Fiktion auf der Bühne zu finden. Als sich in der Frühen Neuzeit der Begriff des Kriegstheaters durchsetzt, fungiert die Theatersituation als Metapher, die den Krieg und seine räumliche Struktur denkbar und beschreibbar macht. Ein in sich theatral strukturierter und gedach­ ter Krieg hat auf der Bühne eines Theaters wohl gewissermaßen sein ‚Heimspiel‘ – mit dem Publikum auf der imaginären Position des Feldherrnhügels. Stümcke dagegen konstatiert einen radikalen Bruch: Der Krieg, der seinen Schauplatzcharakter verloren hat, ist auf ei­ ner Bühne dargestellt schlechthin nicht vorstellbar. Versuchte die Bühneninszenierung realistisch zu sein und die Gewalt von Gewehrsalven darzustellen, so sei dies, wie Stüm­ cke warnend anmerkt, „schon aus feuerpolizeilichen Gründen untunlich“189. Er kommt zu dem Schluss, dass dieser Krieg in seiner Gänze und Intensität unmöglich darstellbar sei: Wollte das Theater die tödliche Wucht der Waffen vorführen, die diesen Krieg wie keinen vorangegangenen ausmachen, würde es selbst in Flammen aufgehen. Wo man im Krieg keinen Schauplatz auf begrenztem Raum mehr ausmachen kann, werden die Mittel des Theaters im wahrsten Sinne des Wortes gesprengt. Die Ereignis­ se lassen sich nicht auf die begrenzte Bühne eines geschlossenen Gebäudes holen, in dem verschärfte feuerpolizeiliche Regularien einzuhalten sind. Höchstens könne man einzelne Orte zeigen, ohne aber auf diese Weise den Krieg, dessen Wesen gerade seine Entgrenzung ist, auch nur annähernd zu fassen. So prognostiziert Stümcke zukünftige Kriegsdarstellungen im Theater, ähnlich wie Hamann dies für die Schlachtenmalerei tut, als notgedrungen bruchstück- und ausschnitthaft. Dabei beschreibt er eindrücklich 188 Heinrich Stümcke, Theater und Krieg, Oldenburg, Leipzig 1915, S. 126. 189 Ebd., S. 124.

Die visuelle Struktur des Kriegsschauplatzes und das Problem seiner Repräsentation

4 Kaiser Wilhelm II (Mitte) mit Paul von Hindenburg (links) und Erich Ludendorff (rechts), 1916, Imperial War ­Museum: Q 23746

mögliche sinnliche, vor allem akustische Wahrnehmungen, durch die das Theater ein Bild vom Krieg vermitteln könnte: Nach allem Gesagten wird es sich für den Dramatiker der Zukunft nur darum handeln können, einen kleinen Ausschnitt aus dem ungeheuren kriegerischen Erleben in die zeitliche und örtliche Begrenzung eines Theaterabends einzufangen. Vielleicht wird er uns in ein Zimmer des Generalquartiers führen, wo die Morseapparate ticken, die Funksprüche knistern, die Fernsprecher läuten, vielleicht den Ausschnitt eines Schützengrabens, die Kasematte eines belagerten Forts zeigen, das jeden Augenblick von einem der Riesenmörser die Vernichtung erwarten muß.190 Das Theater ist – nicht zuletzt aufgrund seiner einschränkenden architektonischen Verfasst­ heit – zeitlich und räumlich begrenzt. Konsequenterweise diagnostiziert der Theaterkriti­ ker eine Unmöglichkeit der Darstellung aufgrund der Entgrenzung der Wahrnehmung in­ nerhalb des Krieges. Daher müsse das Theater auf den „aussichtslosen Wettbewerb mit der Wirklichkeit“191 verzichten und andersartige Bilder für die Erfahrung des Krieges finden. 190 Ebd., S. 127. 191 Ebd., S. 124.

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An den hier dargelegten Debatten um die Darstellungsproblematik des Kriegsgesche­ hens lässt sich die Herausforderung ablesen, die der Krieg hinsichtlich der Wahrnehmung und Repräsentation darstellte. Camouflage baut als visuelle Strategie auf dieser Verwir­ rung der visuellen Konstellationen auf und macht sie sich strategisch zunutze. Die von Künstlern und Kunsttheoretikern geführten Diskurse zeigen zudem eindrücklich, dass die Schwierigkeit der Darstellung des Krieges keineswegs ein nachgeordnetes, rein äs­ thetisches Problem ist. Die Autoren tangieren mit den ausgeführten unterschiedlichen Aspekten von Unsichtbarkeit und räumlicher Ausdehnung vielmehr zentrale Aspekte der technisierten Kriegsführung.

Kriegsschauplatz als räumliches Konzept des Völkerrechts Die veränderten Kriegsräume, die wie gezeigt Theater und Malerei mit ihrer Darstellungs­ problematik konfrontierten, verkomplizierten auch im Krieg relevante Rechtsordnungen, die auf räumlichen Kategorien beruhten. Bemerkenswerterweise kommt dem ­theatralen Konzept des Kriegsschauplatzes auch in den juristischen Diskursen eine zentrale Rolle zu. Der Jurist Ferdinand Friedensburg untersucht diese räumliche Verschiebung in seiner 1944 veröffentlichten und von Carl Schmitt betreuten Dissertation über den Kriegsschau­ platz aus völkerrechtlicher Perspektive. Auch er diagnostiziert, wie der schon erwähnte Walter Benjamin in „Erfahrung und Armut“192, auch aus seiner juristischen Perspektive heraus eine sprachliche Schieflage. Die Sprache werde der Wirklichkeit nicht gerecht und leite die Vorstellungen von Krieg auf fatale Weise in die Irre.193 Friedensburg vertritt die These, dass die im Kontext des Krieges bisher gebräuchlichen Begriffe angesichts einer radikal veränderten Situation nicht mehr greifen. Dies macht er an der historischen Ent­ wicklung des Begriffs des Kriegsschauplatzes deutlich: Bei genauer Betrachtung muss man feststellen, dass der Kriegsschauplatz heute keine der Raumweite dieses Begriffes entsprechende Bezeichnung mehr ist. – So lange die Kriege sich nur zulande innerhalb verhältnismäßig enger und klar überschaubarer Grenzen abspielten, konnte die Wertung als ‚Schauplatz‘ zutreffen; schon die Einbeziehung des Meeres in das Völkerleben und Kriegsgeschehen liess diese Bezeichnung aber unzutreffend werden, ganz zu schweigen von der in der Vertikale theoretisch ins Unendliche gehenden modernen Ausdehnung des Kriegsschauplatzes durch die Einbeziehung des Luftraumes. Der rein begrenzt flächenhaft aufgefasste Begriff des Kriegsschauplatzes hat seinen ursprünglichen Bedeutungsinhalt heute weitgehend verloren. Dennoch gibt es noch keine andere 192 Benjamin, Erfahrung und Armut. 193 Vgl. Friedensburg, Der Kriegsschauplatz insbesondere als Ausdruck rechtlicher Raumfassung, S. 9–66.

Kriegsschauplatz als räumliches Konzept des Völkerrechts

Bezeichnung, die an seine Stelle treten könnte, da alle uns bekannten Worte, die einen Raum benennen, stets auch dessen Begrenzung voraussetzen194 Friedensburg rückt auf der Grundlage seiner Beobachtungen des modernen Krieges die Be­ grenzung als konstituierendes und definierendes Element von Raum in den Blick. Da die Begrenzung ganz grundsätzlich konstituierendes Element von Räumen überhaupt sei, kön­ ne ein grenzenloser Raum als Kriegsraum bisher nicht gedacht werden – deswegen gebe es in der Sprache keinen Begriff dafür. Außerdem impliziere die bisher geläufige Unter­ scheidung zwischen Krieg und Frieden nicht nur eine zeitliche Differenzierung zwischen Kriegszeiten und Friedenszeiten, sondern immer auch eine räumliche Differenzierung zwischen Kriegsgebieten und Friedensgebieten. Für seine Zeit dagegen stellt Friedensburg eine weitreichende Entgrenzung des Krieges fest. Diese betreffe zum einen die juristische und völkerrechtliche Dimension, die in früheren Zeiten den Kriegszustand eingrenzte und definierte. Denn dieser Kriegszustand erstrecke sich „durch die allseitige Anspannung der Kräfte eines Volkes für den Krieg über das gesamte Hoheitsbereich des Staates“195. Zum anderen zählt er die technischen Möglichkeiten auf, die den Krieg de facto ins Unbe­ grenzte und Unbegrenzbare ausdehnen. Heute sind es keine kleinen Gebiete mehr, die den Geschützen ausgesetzt werden, vielmehr erscheinen die kriegerischen Einwirkungsmöglichkeiten praktisch unbegrenzt. Nicht nur die Reichweite der Geschütze allein, verstärkt durch die weiterreichende Artillerie, das Bombenflugzeug, sondern auch die Mittel der politischen und wirtschaftlichen Beeinflussung eines Volkes sind derart unpersönlich geworden, dass eine Abgrenzung der Kriegseinwirkungen innerhalb eines Staates kaum mehr möglich ist.196 Das Konzept von der „Hegung des Krieges“, das Friedensburgs Lehrer Schmitt 1950 in seiner Schrift Nomos der Erde prominent prägt, klingt in den erwähnten Überlegungen von 1944 schon sehr deutlich an. Schmitt hebt die „Hegung des Krieges“ als zentrales Element des bisherigen Völkerrechts hervor, das auf klaren territorialen Verhältnissen beruhe, die es ermöglichten, kriegerische Praktiken bestimmten zwischenstaatlich ver­ einbarten Regeln zu unterstellen.197 Mit der Erschließung des Luftraums aber fehle dieser Form der Hegung ihre Basis. Man habe sich an das sprachliche „Bild eines Kriegsschauplatzes gewöhnt“, der Luftkrieg aber habe, so Schmitt, „keinen Schauplatz und keine Zu­ schauer mehr“198. Die alten Kategorien, den Raum zu denken, die auf „Umzäunungen und 194 Ebd., S. 17. 195 Ebd., S. 45. 196 Ebd., S. 46. 197 Vgl. Carl Schmitt, Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, S. 158. 198 Ebd., S. 296.

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Einhegungen“199 beruhten, taugten daher nicht mehr für die Analyse einer Situation, in der der Luftraum von so herausragender Bedeutung sei. In dieser Form, rechtliche Katego­ rien vom Boden her zu definieren, klingt deutlich die nationalsozialistische Blut-und-Bo­ den-Ideologie an, an der Schmitt mit seinen Beiträgen mitschrieb. Um den nicht markierbaren Luftraum zu denken und zu organisieren, brauche es völlig neue Raumkonzepte: Der Luftraum ist nicht ein über dem Land oder dem Meer aufgestülptes Volumen, das man sich wie eine hohle Säule oder einen leeren Kasten auf der Basis des festen Landes oder des freien Meeres errichtet denkt und innerhalb dessen nun im Luftkrieg dasselbe vor sich geht, wie im Landkrieg oder im Seekrieg, nur auf einer um einige hundert oder einige tausend Meter erhöhten Ebene. Alle Konstruktionen, die mit solchen Vorstellungen arbeiten und sich das Völkerrecht des Luftkriegs teils nach Art und Analogie des Landkrieges, teils nach der des Seekrieges zurechtmachen, sind sachwidrig und im Grunde hilflos.200 Vor allem die Einschätzung des sprachlich-gedanklichen Konzepts des Kriegsraumes als „hilflos“ überrascht in dieser Passage. Das Wort „hilflos“, gewöhnlich in Kontexten emotiona­ ler Beschreibung oder Bewertung anzutreffen, fügt sich nicht ins sprachliche Register der Analyse. Umso deutlicher bringt der Terminus den sowohl definitorischen als auch emotio­ nalen Notstand zum Ausdruck, der damit einhergeht, dass der Krieg, im Jahr 1950 als atoma­ res Bedrohungsszenario präsent, nicht mit angemessenen Begriffen analysiert werden kann. Am Konzept des Kriegsschauplatzes, so Friedensburg, lasse sich „das elementare Hervor­brechen einer neuen Form menschlichen Zusammenlebens“ ablesen.201 In seiner Untersuchung arbeitet er heraus, wie folgenreich der umwälzende Wandel der räumlich-­ visuellen Verfasstheit des Krieges ist. Die fundamentalen Veränderungen zeigten sich im Krieg besonders deutlich, beträfen aber auch weit über den Krieg hinausreichende räumli­ che Konstrukte des menschlichen Zusammenlebens, wie beispielsweise den Nationalstaat, der sich ohne definierbare und markierbare räumliche Grenzen als obsoletes Konstrukt erweise.202 Friedensburgs Studie ist nicht nur bemerkenswert, weil die Dissertation 1944 in Berlin eingereicht wurde, während der von Berlin ausgegangene, räumlich ins Globale ausge­ dehnte Krieg die Welt in Schutt und Asche legte. Der Fokus auf den räumlichen Ausprägun­ gen des Krieges und der Metaphorik des Kriegsschauplatzes machen Friedensburgs Analy­ se zu einem wichtigen historischen Dokument für die Geschichte der Räume des Krieges.

199 Ebd., S. 13. 200 Ebd., S. 296. 201 Friedensburg, Der Kriegsschauplatz insbesondere als Ausdruck rechtlicher Raumfassung, S. 153. 202 Vgl. ebd., S. 152–153.

Kriegsschauplatz als räumliches Konzept des Völkerrechts

Ohne den durch die Entstehungszeit der Schrift spezifischen Erfahrungshintergrund wäre die Abhandlung in dieser Form mit großer Wahrscheinlichkeit nicht entstanden. Erstmalig rücken im Zweiten Weltkrieg auch die weit hinter den Frontverläufen liegenden Städte ins Fadenkreuz der Kriegsführung, wodurch sich die Zivilbevölkerung in ihrem alltäglichen Lebensraum massenhaft mitten auf dem Kriegsschauplatz wiederfindet. Selbst in US-ame­ rikanischen Städten, die immerhin durch den Atlantik von den Orten der eigentlichen Kämpfe getrennt sind, werden weitreichende Vorkehrungen getroffen und groß angelegte Übungsmanöver203 durchgeführt für den Fall eines Angriffs deutscher Flugzeuge, der von vielen als durchaus nicht unwahrscheinlich eingeschätzt wird.204 Im Ersten Weltkrieg sind die Flugzeuge technisch zwar noch nicht in der Lage, das Gewicht schwerer Bomben über weite Strecken zu transportieren. Dystopische Phantasien allerdings sehen den ubiqui­ tären Krieg längst voraus – dies wird anhand von Paul Scheerbarts Imaginationen eines kommenden „Dynamitkrieges“, die aus den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg stammen, im folgenden Kapitel dargelegt. Die Entgrenzung des Kriegsschauplatzes, die schon früher beginnt, wird durch die direkte Bedrohung der Zivilbevölkerung, die täglich erlebt, dass die vermeintlichen Friedensräume ihres alltäglichen Lebens zum Kriegsschau­ platz werden, in besonders eindringlicher Weise erfahrbar. Walter Benjamin weist schon 1930 im Rückblick auf den vergangenen Krieg darauf hin, dass diese Form von Krieg das Völkerrecht aushebele. Seine Analyse ist dabei weniger von einer Betrachtung der räumlichen Struktur der Kriegsschauplätze oder der Blickrelationen geleitet. Vielmehr wählt er eine der erstmalig eingesetzten Waffen zum Ausgangspunkt sei­ ner Betrachtung: das Giftgas, dem aufgrund seiner Unsichtbarkeit auch in Hinblick auf Ca­ mouflage eine bedeutende Rolle zukommt. „Mit der Unterscheidung zwischen ziviler und kampftätiger Bevölkerung, welche der Gaskrieg bekanntlich aufhebt, fällt die wichtigste Basis des Völkerrechts.“205 Zudem beobachtet er bemerkenswert vorausschauend eine entdemokratisierende Machtkonzentration, die den Waffen mit derart fataler Wirkung zu eigen ist, da die Entscheidung über Leben und Tod der Bevölkerung einer ganzen Region in der Hand einer einzigen Person, des „Führer[s] eines einzigen Flugzeugs mit Gasbomben“, liegen kann.206 Der Begriff „Führer“ für einen Piloten in einer derartigen Machtposition ist 203 So wurde beispielsweise in Chicago ein Probeluftangriff („mock air raid“) durchgeführt, bei dem verschie­ denfarbige Papierkugeln über der Stadt abgeworfen wurden, um die vereinbarten Verhaltensmaßnahmen und Arbeitsabläufe zu trainieren. Vgl. o. V., 135 Planes Will „Bomb“ Chicago, Sunday May 23. The Citizen Defense Corps Stays on the Alert to Protect You, in: Civilian Defense Alert. Offical Publication of the Chicago Metropolitan Area, II/23 (May 12, 1943), S. 4–5. Die Theater- und Literaturwissenschaftlerin Tracy Davis hat derartige groß angelegte Übungsformate für die Zivilbevölkerung der 1950er und 60er Jahre auf ihre ­Theatralität hin untersucht. Tracy C. Davis, Stages of emergency. Cold War nuclear civil defense, Durham, N. C. 2007. Die Szenerien der 1940er Jahre können als Vorläufer der späteren Großübungen gelten, wobei eine genauere Untersuchung dieser Epoche noch aussteht. 204 1941 wurde per Dekret des Präsidenten Franklin Roosevelt ein Office of Civilian Defense eingerichtet, um die Zivilbevölkerung auf mögliche Luftangriffe vorzubereiten. 205 Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus, S. 240. 206 Vgl. ebd., S. 249: „Im Führer eines einzigen Flugzeugs mit Gasbomben vereinigen sich alle Machtvollkom­ menheiten, die im Frieden unter tausend Bürovorsteher verteilt sind. Der schlichte Bombenwerfer, der in der

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dabei keineswegs zufällig gewählt – zumal in einem faschismuskritischen Text von 1930. Benjamin stellt explizit eine Verbindung dieser Form der technisch organisierten Konzen­ tration von Macht und Gewalt in einer Person zum „imperialen Führer“207 als politischer Figur des autokratischen Herrschers her. Die räumliche Entgrenzung des Krieges ist dabei nicht nur eine völkerrechtliche Fra­ ge und ein Problem ubiquitärer oder nicht lokalisierbarer kriegerischer Gewalt. Die über­ kommene Konzeption des Kriegsschauplatzes ist auch deshalb obsolet, weil der Ort des Krieges nicht mehr als überschaubarer Raum mit Zuschauern gedacht werden kann; es handelt sich also auch um ein visuelles Problem. Es scheint eine banale Beobachtung zu sein, dass ein fundamental veränderter Krieg sich notwendigerweise auch in visueller Hin­ sicht fundamental anders darstellt. Vor dem Hintergrund der Tatsache jedoch, dass durch den Einsatz der Aufklärungskameras Fotografien zu Objekten mit herausragender Bedeu­ tung für die Kriegsstrategie werden, erhält das Visuelle einen neuen, einen strategischen Stellenwert. Es muss erst neu erlernt werden, was die veränderten äußeren Erscheinungen zu bedeuten haben, wie sie interpretiert werden können und welche kriegsstrategischen Überlegungen aus ihnen abzuleiten sind.

Imaginationen des entgrenzten Kriegsraums – Paul Scheerbarts Kriegstheater208 Einige Entwicklungen der Kriegsführung im 20. Jahrhunderts sieht der ab den späten 1880er Jahren in Berlin ansässige und 1915 verstorbene Schriftsteller und Zeichner Paul Scheerbart in erstaunlicher Klarheit voraus und stellt sie mit den ihm eigenen ironischen Überspitzungen und Wendungen ins Phantastische dar. In einer Reihe von Texten, die in den Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs entstehen, nimmt er Stellung zu der neu­ en technischen Möglichkeit des Luft- und Dynamitkrieges und zeichnet Zukunfts­szenarien. Er veröffentlicht dystopische Abhandlungen, (militär-)technisch informierte Beiträge zur politischen Debatte um die Militarisierung des Deutschen Reiches, humoristisch fiktive Erzählungen und avantgardistische Theaterentwürfe.209 Scheerbart spielt die technischen ­ insamkeit der Höhe, allein mit sich und seinem Gott, für seinen schwer erkrankten Seniorchef, den Staat, E Prokura hat, und wo er seine Unterschrift hinsetzt, da wächst kein Gras mehr – das ist der ‚imperiale‘ Füh­ rer, der den Verfassern vorschwebt.“ Benjamin bezieht sich darin auf Ernst Jünger (Hg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930. 207 Ebd., S. 249. 208 Auszüge dieses Kapitels wurden bereits veröffentlicht und finden sich in: Hannah Wiemer, „Paul Scheerbarts ‚Kriegstheater‘: Imaginationen eines entgrenzten Raums“, in: Michael Auer und Claude Haas (Hg.), Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike, Stuttgart 2018, S. 231–246. 209 Vgl. zum Krieg: Paul Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten. Eine Flugschrift, Berlin 1909; Paul Scheerbart, Die Lenkbarkeit der Lufttorpedos, in: Die Gegenwart, 38/44 (1909), S. 821; Paul Scheerbart, Die internationale Militaristen-­Ausstellung auf dem Tempelhofer Felde, in: Die Gegenwart, 78 (1910), S. 1014; Paul Scheerbart, Militaristische Zukunfts-­ Musik, in: Das Blaubuch, 5 (1910), S. 564–568; Paul Scheerbart, Das neue Kriegsinstrument. Eine zeitgemäße Betrachtung, in: Der Sturm, 1/15 (9.6.1910), S. 120; Paul Scheerbart, Der Fortschritt im Luftmilitarismus, in: Die

Imaginationen des entgrenzten Kriegsraums – Paul Scheerbarts Kriegstheater

Möglichkeiten nicht nur in düsteren Szenarien eines künftigen verheerenden Krieges durch, sondern lotet spielerisch auch deren ästhetische Dimensionen aus: Die gleichen fliegenden Apparate, die in seiner Vision den Krieg der Zukunft bestimmen, revolutionie­ ren auch das Theater. Ein Beispiel dafür findet sich auf den wenigen dialogisch angelegten Seiten der theater­ ästhetischen Schrift „Das Technische im Theater“ von 1911. Darin unterhält sich das Ich des Erzählers auf einer Kreuzfahrt mit seinem Sitznachbarn, dem „fidelen“ ­Ingenieur Herrn Hannemann, der ihm von seinen Visionen einer technisch revolutionierten „Kulissen­ kunst“ erzählt. Wenn Sie zugeben, daß die Technik auch auf der Bühne den Vortritt hat, so bin ich gerne bereit, ein Glastheater zu gründen. Aber mit dem Glase allein ist es noch nicht getan. Es ist auch nötig, die Bühnenluft zu erobern. Es ist zu langweilig, daß man auf der Bühne immer noch nicht fliegende Personen auftreten läßt. Die Fliegenden treten natürlich nicht auf. Aber Sie verstehen mich wohl.210 Es ist genau diese programmatische Ausweitung des Bühnenraums und die literarische Auseinandersetzung mit den technischen Innovationen seiner Zeit, die Scheerbarts Werk für die Fragen nach dem Kriegstheater und dessen radikalen Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts so bedeutsam macht. Der Umstand, dass seine Texte in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstanden sind, dient als Ausgangspunkt dafür, das Kriegstheater bzw. den Kriegsschauplatz als einen diskursiven Raum zu skizzieren, der dem faktischen Kriegs­ raum vorausging und diesen begleitete. Will heißen der Kriegsschauplatz soll – anhand der Texte des dezidierten Antimilitaristen Scheerbart – als ein Raum ausgelotet werden, der nicht einfach gegeben ist, indem gewisse Technologien zur Verfügung stehen. Viel­ mehr entfaltet dieser sich diskursiv durch Imaginationen, Gedankenspiele, Übertragun­ gen, nicht zuletzt durch politische und ästhetische Debatten. Die Neubestimmung des Kriegsschauplatzes fällt dabei zudem in eine Zeit, in der der Theaterraum ästhetisch durch radikale avantgardistische Ideen, Experimente und Forderungen an die Institution Theater neu verhandelt wird. Am Beispiel von Scheerbarts literarisch-theaterästhetischer Vision vom Kriegsschauplatz lässt sich nachvollziehen, dass militärische, technische und ästhetische Raumvorstellungen ineinandergreifen, sich gemeinsam entwickeln und so die Raumwahrnehmung und -repräsentation prägen. Gegenwart, 79 (1911), S. 391–392 und zum Theater, neben seinen zahlreichen Stücken: Paul Scheerbart, Das Dualistische in der Bühnenkunst, in: Der neue Weg, 38 (1909), S. 138; Paul Scheerbart, Gespenster-Theater, in: Theater, 1/Sonderh. 1 (1909a), S. 138; Paul Scheerbart, Die veraltete Milieukunst und die Verschwendungssucht in der Ausstattung der Theaterstücke, in: Masken, 5/2 (1909/10), S. 45–47; Paul Scheerbart, Riesenpantomime mit Fesselballons, in: Das Theater, 1 (1909/10), S. 92; Paul Scheerbart, Das Technische im Theater, in: Das Theater, 2/17 (Mai 1911), S. 350–352. 210 Scheerbart, Das Technische im Theater, S. 352.

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„Mr. William C. Rumboldt ist jetzt in New York der Mann des Tages. Eine große Idee bewegt ihn: mit einem grandiosen Kriegstheater will er die Welt beglücken.“211 Diese Worte leiten den Text von kaum zwei Seiten ein, den Paul Scheerbart 1909 in Der neue Weg, der Wochenschrift der deutschen Bühnengenossenschaft, veröffentlicht. An dem Titel fällt auf, dass der Schlüsselbegriff „Kriegstheater“ in der Überschrift – im Gegensatz zu den Überschriften der anderen Beiträge in der Zeitschrift – in Anführungsstriche gesetzt ist. Offensichtlich ist Scheerbart sich der Doppeldeutigkeit des Wortes bewusst und fügt dem militärischen Fachbegriff des Kriegstheaters durch die distanzierenden Anführungszei­ chen bewusst und mit einem Augenzwinkern eine weitere Bedeutung hinzu, nämlich sei­ nen ganz eigenen Entwurf eines Kriegstheaters. Er gibt damit schon in der Überschrift zu verstehen, dass er den Begriff des Kriegstheaters buchstäblich beim Wort nehmen und auf seine Weise aus dem Krieg ein Theater machen will. Die Schrift gibt vor, die Idee des amerikanischen Millionärs Rumboldt für ein Kriegs­ theater vorzustellen und beruft sich dabei in längeren Zitaten auf ein Flugblatt, in dem dieser seine Projektidee beschreibe. Die ironischen Kommentare und Übertreibungen las­ sen jedoch durchblicken, dass es sich um ein fiktives Flugblatt im Stil einer Pressenotiz, handelt. Indem Scheerbart die Vision vom Kriegstheater der Figur des William Rumboldt zuschreibt und von einer nicht näher bestimmten Erzählerfigur referieren lässt, kann er seine theaterästhetische Idee in einem Wechselspiel aus Nähe und Distanz – Zitat aus dem Flugblatt und Kommentierung durch den Erzähler – dialogisch entwickeln. Das auf diese Weise dargelegte Konzept beschreibt ein Freiluftspektakel gigantischen Ausmaßes, bei dem hoch in der Luft inszenierte Kämpfe mit Luftschiffen vorgeführt werden. Zunächst sollen (natürlich) veritable Luftschlachten zwischen Yankees und Japs vorgeführt werden. Das ist in Amerika aktuell und wird die Kassen prächtig füllen. Das Theater erhält die Form einer sehr langen Rennbahntribüne, so daß die Akteure in der Luft über einen respektablen Raum verfügen können. Eine amerikanische Idee!212 Scheerbart erinnert mit dem reißerischen Ton, den er anschlägt, an die Sprache der ­ erbung und betont und somit den kommerziellen Charakter des Spektakels sowie die W Adressierung eines Massenpublikums. In seiner megalomanen Phantasie soll neben dem Luftraum nach Möglichkeit auch das Meer – einst Schauplatz spektakulärer Seeschlachten – in das „neue Schauspiel­ haus“213 mit einbezogen werden. Scheerbart zitiert dazu das schon erwähnte Flugblatt:

211 Scheerbart, „Kriegstheater“, S. 16. 212 Ebd. 213 Ebd.

Imaginationen des entgrenzten Kriegsraums – Paul Scheerbarts Kriegstheater

Vielleicht erbaue ich das neue Schauspielhaus an der Meeresküste. Dann könnte man den ganzen Luftkrieg über dem Wasser inszenieren. Torpedoboote und Kriegsschiffe mögen die Schlachtenbilder vervollständigen. Das Abstürzen der Ballons müßte dann allerdings unter großen Vorsichtsmaßregeln geschehen. Die Illusion ließe sich schließlich ja auch durch Puppen und künstlich hergestellte menschliche Gliedmaßen erzeugen. Aber die Hauptakteure – das kann ich hier gleich bestimmt erklären – werden lebende Menschen sein, die mit Fallschirm und Schwimmgürtel ausgerüstet in die Tiefe stürzen.214 Obwohl von einem neuen Schauspielhaus die Rede ist, findet das raumgreifende Kriegsthe­ ater explizit nicht in einem geschlossenen Gebäude statt – der umgebende Luftraum wird ebenso konstitutiv in das Spektakel mit einbezogen wie andere Landschaftsmerkmale. Falls die Möglichkeit, die Meeresküste in die Inszenierung mit einzubeziehen nicht gegeben sein sollte, schlägt Rumboldt vor, die Landschaft kurzerhand umzugestalten und ein künstliches Meer zu schaffen, „da ja große Landflächen mit Leichtigkeit unter Wasser zu setzen sind.“215 Ein zentrales Charakteristikum des Kriegstheaters ist seine Übergröße in allen räum­ lichen Dimensionen – es lässt sich von Wänden weder umschließen noch einschließen. Dieser radikale Umgang mit der Wand als theatralem Element kann auch als nonchalanter Beitrag Scheerbarts zur Diskussion um die sogenannte ‚Vierte Wand‘ gelesen werden.216 An dieser viel diskutierten Wand entzünden sich essenzielle theaterästhetische Streitfragen nach dem angemessenen Verhältnis von Illusion und Wirklichkeit auf der Bühne. Die eu­ ropäischen Theateravantgarden wenden sich gegen die psychologisch-realistische Schau­ spielästhetik des 19. Jahrhunderts, die sie im Umgang mit der zum Zuschauerraum hin offenen Seite der Guckkastenbühne verkörpert sehen: Die Schauspieler verhalten sich so, als sei dort eine Wand, als befänden sie sich im geschlossenen Raum der Bühnenhandlung und nicht auf einer Bühne vor Publikum. Die unsichtbare ‚Vierte Wand‘ trennt Bühnen- und Zuschauerraum voneinander und isoliert die Bühnenhandlung von der konkreten Auffüh­ rungssituation. Nach Scheerbarts Vorstellung sollen weder der imaginierte Illusionsraum noch der reale Raum der Aufführung geschlossen sein. Ein innovatives Theater soll ganz ohne Wände auskommen: Es gibt weder Wände aus Stein noch die imaginierten Wände einer in sich geschlossenen Bühnenhandlung. Die Überlegung der Öffnung des Raumes nach allen Seiten findet ihre utopische Korres­pondenz in einer später von Scheerbart verfassten Monografie, der im Jahre 1914 erschienenen Schrift Glasarchitektur. Im Stile eines Manifests fordert Scheerbart program­ matisch die umfassende Einführung von Gebäuden aus Glas und sieht darin den Beginn einer utopischen Gesellschaft. 214 Ebd., S. 16–17. 215 Ebd. 216 Vgl. zur Vierten Wand Johannes Friedrich Lehmann, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i. Breisgau 2000.

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Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Architektur. Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen.217 Die räumliche Struktur, in denen sich das Leben abspielt, identifiziert Scheerbart als ei­ nen zentralen, formenden kulturellen Faktor. Eine Erneuerung der Kultur kann demnach nur auf der Grundlage einer veränderten Architektur erfolgen. Indem die Räume durch Glaswände für das Licht und für den Blick geöffnet werden, könne die notwendige Weiter­ entwicklung der Kultur stattfinden – „wir hätten dann ein Paradies auf der Erde“218. Die „Backsteinkultur“219 mit ihren dunklen Gebäuden zeichnet er als überholt. In ihnen niste sich vorzugsweise der gesundheitsschädliche „Backsteinbazillus“220 ein, wie am typischen Geruch der Keller von Backsteinhäusern unschwer zu erkennen sei. In der zerstörerischen Wirkung von „dirigeablen Lufttorpedos“221 zukünftiger Kriege, vor der Scheerbart in vielen anderen Texten warnt, sieht er im Zusammenhang mit der architektonischen Umwand­ lung einen Vorteil: Sie würde allen, auch den notorischen „Backsteinhäusler[n]“222, sehr bald allzu deutlich vor Augen führen, dass die Backsteinarchitektur im Gegensatz zu einer mit Eisenkonstruktionen stabilisierten Glasarchitektur mit einem einzigen Angriff kom­ plett zerstört werden könne. Spätestens dieses Szenario sollte in Scheerbarts Augen alle Uneinsichtigen davon überzeugen, dass die Backsteinkultur passé sei. Sowohl Glasarchitektur als auch „,Kriegstheater‘“ beschäftigen sich mit architekto­ nisch-räumlichen Strukturen und deren Implikationen. Scheerbart setzt sich mit den Aus­ wirkungen veränderter räumlicher Bedingungen auseinander und erfindet phantastische Räume, denen er größte gesellschaftliche Umwälzungskräfte zuschreibt. Dabei beschreibt er ästhetische Auswirkungen als direkt verbunden mit Fragen nach dem Zusammenleben der Menschen. Während die Glasarchitektur als räumliche Utopie in Erscheinung tritt, ist seine Konzeption des Kriegstheaters weniger eindeutig. Zwar korrespondiert das offene Theater mit der in Glasarchitektur geäußerten Forderung, den Räumen das Geschlossene zu nehmen und lässt sich so als Utopie eines Theaters lesen, das nicht in die vier Wände eines Gebäudes gesperrt ist. Gleichzeitig aber wird inhaltlich in diesem Theater die von Scheerbart in vielen Texten ausgemalte Dystopie eines Krieges verarbeitet, der durch sei­ ne Ausdehnung in den Luftraum grenzenlos und unbezwingbar geworden ist. In seiner Schrift Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der euro­ päischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, wie „,Kriegstheater‘“ ebenfalls 1909 217 Paul Scheerbart, Glasarchitektur, Berlin 1914, S. 11. 218 Ebd., S. 29. 219 Ebd., S. 81. 220 Ebd., S. 102. 221 Ebd., S. 81. 222 Ebd.

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e­ rschienen, beobachtet Scheerbart die aktuellen militärtechnischen Entwicklungen und malt die Möglichkeiten des Einsatzes von mit Dynamit beladenen Luftschiffen aus, die er für die nahe Zukunft befürchtet. Anfänglich wollte ich die ganze Militaristentragödie in einem neu zu begründenden Witzblatt ‚bearbeiten‘. Aber – mir ist bei eingehender Beschäftigung mit dem fatalen Gegenstande der Humor ausgegangen – ich sehe zumindest nur noch alles schwarz – und vermag helle, erfreuliche Stellen in diesem ‚Kulturgemälde‘ nicht oft zu entdecken.223 Die Zukunft stellt sich in dieser Analyse als bis zum Wahnsinnig-Werden bedrohlich dar: „derartige Bombardierungen von oben werden einen Massenwahnsinn hervorbringen. Ich möchte wissen, wer dabei ruhig bleiben könnte. […] Schon das Nachdenken über derarti­ ge Kriegskünste kann eine heftige Nervenerkrankung zur Folge haben“224. „Kriegstheater‘“ dagegen ist in seiner Bewertung weniger eindeutig und bleibt durch Ironie, Übertreibung, Dialogizität und Brechungen ambivalent. In der nicht-fiktionalen Schrift legt Scheerbart dar, dass sich durch die Erschließung des Luftraumes für den Krieg die gesamte Kriegstechnik revolutionär verändern werde. Denn die Möglichkeiten eines Luftangriffes mit Dynamit, gegen den alle bisherigen mi­ litärischen Techniken absolut machtlos seien, würden unweigerlich desaströs ausfallen. Selbst Festungen, mit ihren dicken Mauern, Gräben und Wehranlagen – über Jahrhunderte hinweg der geschlossene Schutzraum per se – würden durch die Möglichkeit der Bombar­ dierung von oben schlagartig ihrer Wirksamkeit beraubt: Die Rolle, die die Festungen zu spielen haben, wenn Luftflotten mitwirken, ist eine ganz eigentümliche. Ich bin nämlich der Meinung, dass sich die Luftflotten garnicht um die Festungen kümmern werden. Diese sind doch in erste Reihe dazu da, das Vordringen der feindlichen Armee zu hindern. Wenn man aber oben in der Luft ganz frei durch kann, so braucht man doch die Festungen nicht weiter zu berücksichtigen […].225 Die Logik von Festungsbauten – in sich schon „paradoxe Architekturen“, die repräsenta­ tiv „Sicherheit und Gewissheit“ verkörpern und „zugleich monumentale Manifestationen der Angst und Furcht“ sind,226 wird hier gänzlich ad absurdum geführt. Wände werden in 223 Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, S. 28. 224 Ebd., S. 8–9. 225 Ebd., S. 12. 226 Jan Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Ber­ lin 2007, S. 91.

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­ aher Zukunft im Kriegsfall unbrauchbar sein, so Scheerbart. Und auch auf staatlicher n Ebene und darüber hinaus werde zwangsläufig eine Entgrenzung stattfinden, denn die „Grenzen durch Drahtwände zu schützen, geht ebenfalls nicht.“227 In der Erzählung „Der Traum des Aviatikers“ malt Scheerbart dementsprechend eine Zukunft aus, in der „die Staaten aufgehört [haben] zu existieren“228. Niemand werde mehr zuhause sein, wenn sich alle in ihren Gleitfliegern ewig im Ausland aufhalten werden. Und folglich werde zukünftig „jeder Mensch […] Fahrgast genannt oder Luftonkel.“229 Die technische Ausweitung des Raumes, fügt dem bisher nutzbaren Raum nicht einfach eine Dimension hinzu und vergrö­ ßert ihn damit, sondern führt in ihrer Konsequenz zu einer Auflösung bisher verbindlicher Räume, seien es Theaterbauten oder Nationalstaaten. Imaginierte grenzarchitektonische Neuheiten wie die zitierten „Drahtwände“ können den Flug der Zerstörung bringenden Luftschiffe nicht aufhalten und werden – kaum er­ dichtet – für unbrauchbar erklärt. Die Ablehnung von Wänden in der Theaterästhetik be­ deutet Auflehnung gegen überkommene Einschränkungen und Streben nach Freiheit. Im bedrohlichen Szenario des Dynamit- und Luftkriegs jedoch verlieren die vormals schüt­ zenden Wände ihre hegende, ein- und ausgrenzende Wirksamkeit – der Verlust bedeutet existentielle Bedrohung. Besonders nachts habe man vom Boden aus gegen Angriffe aus der Luft überhaupt keine Chance, denn, so Scheerbart, „so viele Scheinwerfer, um in der Nacht den ganzen Himmel zu erhellen, kann man auch nicht funktionieren lassen.“230 Für die Ästhetik von Scheerbarts Kriegstheater spielen die Scheinwerfer und die besondere Lichtsituation der Nacht eine wichtige Rolle. Was im befürchteten Krieg der Zukunft ein Symbol der Ohnmacht gegenüber der alles sehenden und potentiell alles zerstörenden Macht aus der Luft ist, wird im inszenierten Kriegstheater als bezauberndes Schauspiel „von feenhafter Pracht“ gedacht: Scheinwerfer und Raketen sollen dann [während der Nacht] eine Hauptrolle spielen. Die Beleuchtung der Ballons wird stellenweise von feenhafter Pracht sein. Ballons von Riesendimensionen sind zu bauen. Die großen Hornsignale werden einen musikalisch abgetönten Charakter tragen und dem großen Kanonen-Motorrad- und Raketen-Konzert einen ganz aparten Effekt hinzufügen.231 Das Kriegstheater wird zu einer Art Gesamtkunstwerk, gigantisch nicht nur in den räumli­ chen Dimensionen seiner Bühne und im lebensgefährlichen Wagemut seiner Darsteller*in­ 227 Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, S.9. 228 Paul Scheerbart, „Der Traum des Aviatikers“, in: Gesammelte Werke (= Bd. 7), Linkenheim 1992, S. 169–171, hier: S. 171. 229 Ebd. 230 Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, S. 9. 231 Scheerbart, „Kriegstheater“, S. 16–17.

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nen, sondern zudem auch noch optisch mit ausgeklügelten Lichteffekten gestaltet und akustisch begleitet von einem Konzert experimenteller Geräuschmusik aus dem Klang von Kanonen, Motorrädern und Raketen. Mit der Pointe des Kriegstheatertextes fällt das aufgebauschte Pathos des gigantischen Gesamtkunstwerkes jedoch schlagartig in sich zu­ sammen: Dies ist nur ein weniges aus dem Flugblatt des Herrn Rumboldt; man hat, wie bei allen derartigen amerikanischen Unternehmungen die Empfindung, daß zum Schluß eine imposante Reklame sich enthüllt. Sie bleibt nicht aus. Am Ende des Flugblattes kündet eine Theaterrequisiten-Fabrik an, daß sie künstliche und abgerissene menschliche Gliedmaßen in großer Anzahl herstellt – und nebenbei auch alle anderen Theaterbedarfsartikel – als da sind Kulissen, Kostüme, Luftballons, Fallschirme und dergleichen. Amerikanische Reklame! Wird Europa nicht allzu bald allzuviel von solcher Reklame gelernt haben?232 Am Ende soll das ganze Spektakel also nichts als Reklame sein? Sie lässt die Leserin ver­ stört zurück – wirbt sie doch für bizarre Produkte einer Theaterrequisiten-Fabrik, seltsam spezialisierte „Theaterbedarfsartikel“, wie künstliche abgerissene Gliedmaßen oder „Fall­ schirme und dergleichen“. Was für ein Theater könnte das sein, das einen Bedarf an „abge­ rissene[n] menschliche[n] Gliedmaßen in großer Anzahl“ hat? Der Text selbst bleibt auf irritierende Art und Weise in der Schwebe: Er schillert zwischen Programmschrift, Boule­ vardpresse, Manifest, phantastischer Erzählung und Satire. Inhaltlich pendelt er zwischen Affirmation der Theaterutopie, Begeisterung für die Erweiterung der Theatermittel und des Theaterraumes auf der einen Seite und der Ironisierung des Größenwahns, der Sen­ sationsgier sowie des kommerziellen Charakters auf der anderen Seite. Die prophetisch warnende Prognose in der rhetorischen Frage „Wird Europa nicht allzu bald allzuviel von solcher Reklame gelernt haben?“ wird nur wenige Jahre später zur tragischen Realität: Der Erste Weltkrieg verursacht massenhaft abgerissene Körperteile, sodass in der Nach­ kriegszeit Prothesen zur Versorgung der Heerscharen von amputierten Kriegsinvaliden erstmalig in die industrielle Massenproduktion gehen.233 Als die abgerissenen Körperteile auf den Schlachtfeldern des No-Man’s-Land noch kaum verwest sind, soll die Arbeitskraft der invaliden Heimkehrer durch Anpassung künstlicher Arme und Beine so schnell wie möglich wieder hergestellt werden. 232 Ebd., S. 17. 233 Vgl. zum Thema Prothesen nach dem Ersten Weltkrieg z. B. Karin Harrasser, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013; Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn u. a. 2008; Eva Horn, „Der Krüppel: Maßnahmen und Medien zur Wie­ derherstellung des versehrten Leibes in der Weimarer Republik“, in: Dietmar Schmidt (Hg.), KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, S. 109–136; Heather R. Perry, „Brave Old World: Recycling des Kriegskrüppels während des Ersten Weltkrieges“, in: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers aus historischer Perspektive, Zürich 2005, S. 147–158.

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Scheerbarts Kriegstheater wird nie aufgeführt und es liegt nahe zu vermuten, dass dies auch nicht das Anliegen seines Textes ist. Es finden sich im Text kaum konkrete Vorschläge zu einer szenischen Umsetzung, abgesehen von dem so lapidaren wie wenig praktikablen Hinweis, dass die herabstürzenden Darsteller*innen aus Sicherheitsgründen Fallschirme tragen sollten. Scheerbarts fiktiv-grandioses Kriegstheater existiert vielmehr als Vorstellung, als Konzept und als Aufführungsidee in einem als ironisch zu begreifen­ den Modus. Auch wenn es angesichts von Scheerbarts in anderen Texten, insbesondere in seiner Utopie der Glasarchitektur, gezeigtem Fortschrittsoptimismus durchaus vorstellbar scheint, dass er die Möglichkeit einer zukünftigen Umsetzung seiner Theateridee nicht für ausgeschlossen hielt, existiert das Kriegstheater in erster Linie als Raumimagination, die unabhängig von ihrer Umsetzung besteht. Das für „Kriegstheater“ gewählte erzählerische Format erlaubt Scheerbart diesen speziellen Raumentwurf zwischen Science-Fiction und Avantgardemanifest. Auf diese Weise wird das im Text heraufbeschworene Theater zu ei­ nem Experimentalraum, der ästhetische Höhenflüge denkbar werden lässt und dessen Illusions­apparat Phantastisches wenn nicht real, so doch vorstellbar werden zu lassen verspricht. Auch der Entwurf eines „Gespenster-Theaters“ aus dem Jahre 1909 skizziert die Aus­ einandersetzung mit veränderten Dimensionen des Kriegsschauplatzes auf einer Bühne. Dort muss ein geisterhaft weißer Napoleon mit schwarzen Stiefeln einige Ohrfeigen von Luis Blériot, dem berühmten französischen Luftfahrtpionier, einstecken. Blériot hatte im gleichen Jahr weltweit für Aufsehen gesorgt, als ihm mit einem sensationellen Flug von Ca­ lais nach Dover als erstem Menschen die Überquerung des Ärmelkanals in einem von ihm selbst gebauten Gleitflieger gelang. Scheerbart ist nicht der einzige Künstler, der von dieser Figur fasziniert war – Blériots Flugerfolg war eine Weltsensation, die viele Menschen be­ schäftigte und mit großer Intensität Begeisterung wie Angst auslöste. Beispielsweise sieht Scheerbarts britischer Kollege, der Schriftsteller H. G. Wells, wie er ebenfalls 1909 schreibt, im Flug des Franzosen eine Bedrohung seiner Heimatinsel, die sich doch durch ihre iso­ lierte Lage und durch die starke britische Flotte immer sicher geglaubt habe.234 Durch die Möglichkeit, Großbritannien über den Luftweg zu erreichen, verändert sich schlagartig die militärisch-strategische Bedeutung der Insellage des britischen Königreichs: „our insulari­ ty is breached by the foreigner who has got ahead with flying“.235 Wells’ Überlegungen zeichnen sich durch einen unverhohlenen Nationalismus aus, der sich im Laufe des Textes geradezu ins Paranoide steigert.236 Für ihn ist die Tatsache, dass einem Ausländer dieser Flug gelungen ist, eine Beleidigung des britischen National­ stolzes und ein Beweis für die Rückständigkeit seines Landes und die Versäumnisse in 234 Herbert George Wells, „The Coming of Blériot [July 1909]“, in: Social Forces in England and America, New York, London 1914, S. 1–8. 235 Ebd., S. 3. 236 Vgl. Hipplers Analyse von Wells’ Text: Thomas Hippler, Die Regierung des Himmels. Globalgeschichte des Luftkriegs, Berlin 2017, S. 26.

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den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen – von der schulischen Bildung über die militärische Ausbildung und einen lebendigen Unternehmergeist bis hin zur gene­ rellen Freiheit des Denkens und der Kunst.237 Wenn es auf diese Weise aus der Zeit gefal­ len sei, werde Großbritannien eine leichte Beute für die technisch überlegenen ­Armeen aus Frankreich, Deutschland oder Amerika, ihre Invasion aus der Luft „the day of recko­ ning coming like a swarm of birds“238 sieht er schon lebhaft vor sich. Die Intensität sei­ ner düsteren ­Vision steigert sich derartig, dass Wells am Ende seines Textes die Demo­ kratie als durch das Flugzeug bedroht zeichnet.239 Scheerbart ist also nicht der Einzige, der auf die Idee kommt, in der Figur des Blériot die Personifizierung eines folgenreichen Epochenumbruchs und einer Abrechnung mit vergangenen militärischen Traditionen zu sehen. In der von Scheerbart beschriebenen Theateraufführung gibt Blériot mit der demü­ tigenden Ohrfeige dem „alte[n] Empereur“ zu verstehen, dass Napoleons Art von Milita­ rismus nun überwunden sei. „Du Mehlwurm“, schreit Blériot das Gespenst des kleinen Korsen an, „was willst du hier in Paris, willst Du wieder Rußland mit Krieg überziehen – oder England? […] Gespenst mit schwarzen Kanonenstiefeln!“240 Der geohrfeigte Imperator kann seine vor der Brust verschränkten Arme nicht bewegen – „leider sind mir die Arme festgewachsen“241 – und ist daher gezwungen, als Gespenst auf ewig in der zur lächerli­ chen Ikone erstarrten Pose zu verharren. Napoleon versteht gar nicht, wie ihm geschieht, als er sich wie ein unwissender Schuljunge eine Standpauke des Flugzeugingenieurs an­ hören muss: Alter Empereur mit Kanonenstiefeln, die Kanonen sind abgeschafft, Infanterie und Kavallerie auch – denn jetzt fährt alles mit Gleitfliegern herum und von denen aus sind die Dynamit-Torpedos ganz leicht runterzuwerfen – und diese Torpedos besorgen allein das ganze Kriegsgeschäft. Auch Zeppelins schmeißen Dynamit – darin besteht jetzt der ganze Krieg. Man schmeißt immerzu Dynamit runter, dagegen kann sich kein Mensch wehren. Selbst Seeflotten hat man heutzutage schon abgeschafft – und die Festungen hat man auch abgeschafft. Der Militarismus, den Du mal erfunden hast – der ist überwunden. Blei und Pulver sind total veraltet. Die neuen Waffen sind pure Dynamitwaffen.242

237 Wells, The Coming of Blériot, S. 2–4. 238 Ebd., S. 7. 239 Vgl. ebd., S. 8. 240 Paul Scheerbart, „Gespenster-Theater“, in: Gesammelte Werke (= Bd. 10.1), Linkenheim 1992b, S. 407–410, hier: S. 408. 241 Ebd. S. 408–409. 242 Ebd., S. 409.

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Die Symbolik ist überdeutlich: Mit der Theaterohrfeige für Napoleons Geist, der Scheer­ barts Meinung nach im militärischen Denken seiner Zeit noch allzu präsent ist, läutet er einen Wandel der militärischen Machtverhältnisse ein. Hier triumphiert nicht mehr der große Feldherr und Kaiser, der gut hundert Jahre zuvor mit seiner Armee halb Europa eroberte. Gemeinsam mit Blériot etabliert Scheerbart neue Verhältnisse: Ohrfeigen darf nun wegen der ihm neu zugewachsenen Macht derjenige verteilen, der der Welt und damit auch dem Militär mit seinen fliegenden Konstruktionen den Luftraum zugänglich gemacht hat. Scheerbart macht den Ingenieur Blériot zum neuen „Obergeneral“, einem General frei­ lich ohne Generalsuniform, wie Napoleons Geist empört bemerkt: „Er hat ja […] gar keine Generalsuniform an! Wie kann der Kerl General sein?“243 Damit markiert Scheerbart auch auf der Ebene der militärischen Insignien und äußerlich erkennbaren Symbole eine neue Ordnung: Die Einbeziehung des Luftraums als Kriegsschauplatz schafft neue Beziehungen des Sichtbaren und Symbolischen. Napoleon tritt zwar wie gewohnt unter „Trompetenge­ schmetter“244 auf, muss aber feststellen, dass dieses akustische Signal, das einmal den Auftritt eines wichtigen Feldherrn begleitete, nicht mehr die gewohnte Wirkung erzeugen kann. Auf Blériots Beleidigungen reagiert er hilflos wie ein trotziges Kind, indem er auf den Boden aufstampft, „daß die Sporen [klirren]“, und mit „furchtbar gefurchte[m] Gesicht“ brüllt: „Ist das der Empfang für einen Empereur?“245 Typisch für Scheerbart: Das hier kurz skizzierte Gespenster-Theater ist weder ein dramatischer Text noch eine theatertheoretische Abhandlung. Der Text präsentiert sich als Bericht eines Theatergängers im saloppen Tonfall Berliner Färbung, den es, wie er zu erzählen weiß, in der Nähe der Müllerstraße im Arbeiterviertel Wedding in ein kleines Theater verschlägt, auf dessen Bühne er die beschriebenen Szenen zwischen Napoleons Geist und dem herrischen Blériot zu sehen bekommt. Eine Dame in „Ball-Toilette“, so be­ schreibt der Erzähler zu Beginn, kündigt die Darbietung mit folgenden Worten an: „Meine Herrschaften, jetzt wird gleich gespielt ein Stück für die Götter, es heißt: Blériot und der olle Napolium oder Gespenster kriegen Keile“246. Lapidar endet der fiktive Bericht mit dem Satz: „Dieses Stück habe ich gesehen und gehört, oben im Norden von Berlin, diese ‚Volks­ kunst‘ hat mich denn doch überrascht.“247 Die Vertreibung des alten Militarismus, hier durch Napoleons Geist personifiziert, macht Scheerbart sich in unzähligen publizistischen Beiträgen zur Aufgabe. Ein Jahr später schon klagt er in der Zeitschrift „Der Sturm“ in einem Artikel über lenkbare Luftschiffe als neue Kriegsinstrumente darüber, dass seinen Ausführungen keine Beachtung geschenkt werde und er sich daher ständig gezwungen sehe, sich zu wiederholen:

243 Ebd., S. 410. 244 Ebd., S. 408. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 407. 247 Ebd., S. 410.

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Kasernen, Pulvervorräte und marschierende Fußtruppen sind von den Lenkbaren ebenfalls sehr leicht zu vernichten – so leicht, daß man die Existenzberechtigung aller militärischen Arrangements, die auf der Erdrinde verbleiben, ganz energisch bestreiten muß – sie sind einer Luftflotte gegenüber einfach ausgeliefert, und man muß darauf dringen, daß sie baldigst aufgelöst werden… Das hab ich nun schon mindestens fünftausend Mal gesagt […].248 Mit seinen Beiträgen bringt Scheerbart sich in eine bestehende Debatte ein und nutzt dafür die Mittel der jeweiligen textlichen Formate, die er in der beschriebenen großen Vielfalt zu bedienen weiß. Auf der Bühne lässt sich die Vertreibung des alten Militaris­ mus in der personifizierten Form als eine rituelle Handlung, ein gleichsam exorzistischer Akt verstehen, bei dem ein böser Geist ausgetrieben werden soll. In der Theaterhandlung wird exemplarisch erreicht, worauf Scheerbart auf verschiedenen Ebenen hinarbeitet: das kritische Neudenken der militärischen Verhältnisse und ihrer Folgen. Was er mit seinen politisch-analytischen Beiträgen intendiert, wird auf der Bühne möglich: Sie erlaubt es zukünftige Szenearien, so unwahrscheinlich und erstaunlich sie auch erscheinen mögen, detailreich auszumalen und im Wortsinn ‚durchzuspielen‘. Denn das Argument, die Zu­ kunft sei unvorstellbar, lässt der phantasiebegabte Autor nicht gelten: Man hört und liest öfters, dass man sich über die weitere Entwicklung des Luft­militarismus heute noch keine klaren Vorstellungen machen kann. Jawohl – wenn man zu faul ist, darüber nachzudenken, so wird Einem alles sehr unklar bleiben. Man kann aber darüber nachdenken, und dann kommt man rasch zu Resultaten.249 Der Geist des von Scheerbart so unermüdlich bekämpften Militarismus wird, verkörpert durch seinen ausgedienten legendärsten Vertreter, auf der Bühne noch einmal belebt, um unter dem Gelächter des Publikums umso radikaler auf seinen Platz zu Füßen des Luftfahrtpioniers verwiesen und dann gedemütigt endgültig von der Bühne vertrieben zu werden. Die Figur des Napoleon spielt in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine zen­ trale Rolle in den Debatten über das Wesen und die Ausmaße eines zukünftigen, neuen Kriegsschauplatzes. Dabei ist die Referenz auf den Imperator wie gezeigt mehr als eine Bezugnahme auf die historische Figur des Napoleon Bonaparte. Napoleon steht für ein ganzes Ensemble kultureller Vorstellungen von Krieg. In Abgrenzung von ihm als exem­ plarischer Gestalt soll die Argumentation für eine tiefgreifende historische Zäsur beson­ 248 Paul Scheerbart, „Das neue Kriegsinstrument: Eine zeitgemäße Betrachtung“, in: Gesammelte Werke (= Bd. 10.1), Linkenheim 1992, S. 460–467, hier: S. 462. 249 Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, S. 32–33.

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ders deutlich werden. Im selben Jahr, in dem Scheerbart seinen Napoleon als Geist vom Weddinger Theaterpublikum ausbuhen lässt, nimmt ihm auch Schlieffen in dem schon zitierten berühmten Aufsatz „Der Krieg in der Gegenwart“250 seinen angestammten Platz, den Feldherrnhügel. Der Feldherrnhügel zählt ebenso wie die verschränkten Arme des Imperators zur klassischen Ikonografie der Feldherrndarstellungen. Obwohl der preußi­ sche Generalfeldmarschall und der antimilitaristische Schriftsteller im Berlin dieser Zeit politisch kaum weiter voneinander entfernt sein könnten, setzen sich die beiden von ihren so stark divergierenden ideologischen Standpunkten aus mit den veränderten räumlichen Bedingungen des Krieges auseinander und formulieren ähnliche Prognosen. So bezieht sich Schlieffen auf Napoleon, um die seiner Ansicht nach veralteten Vorstellungen von Krieg zu verabschieden. Er malt das zukünftige Szenario eines gigantischen und von kei­ nem Ort mehr zu überblickenden Schlachtfelds aus. „Kein Napoleon, umgeben von einem glänzenden Gefolge, hält auf einer Anhöhe.“251 Schlieffen evoziert die vor allem durch die Schlachtenmalerei bekannten Vorstellungen von Krieg und von den räumlichen Struktu­ ren des Krieges. Die bekannten Bilder entsprächen nicht mehr den militärischen Mitteln der Zeit. Der Umgang mit der Napoleon-Figur zeigt, dass Schlieffen und Scheerbart sich der Wirkmächtigkeit ikonografischer Darstellungen und der gesellschaftlich relevanten Vorstellungen, die sie formen gleichermaßen bewusst sind. Beide nehmen explizit Bezug auf sie, wenn sie das Bild vom Krieg neu zeichnen. Den bekannten Bildern setzt Scheerbart folgerichtig seine eigene Napoleon-Ikonogra­ fie entgegen (Abb. 5). In einer Zeichnung mit dem Titel „Luft-Bonaparte“ (ca. 1907–1914) erschafft er ein phantastisches Wesen, das nichts mit strahlenden Feldherrndarstellungen gemein hat. Zu sehen ist ein schnurrbärtiges Männergesicht mit einem gewundenen Kör­ per, der oberhalb wie ein gepanzertes Reptil aussieht und unten in Tentakeln ausläuft, de­ ren Enden mit einem ganzen Arsenal spitzer Speer- und Pfeilspitzen, Sicheln, Widerhaken und Dornen bewehrt sind. Statt eines Ohres wächst dem Wesen geschwürartig ein großer Trichter aus dem Kopf. Ist der auf diese Weise Entstellte mit der Trompete verwachsen, deren Fanfaren ihn so oft begleiteten? Das Wesen windet sich ungelenk, der Rücken formt sich zu einem riesigen Buckel, der den Kopf in eine verkrampfte Position zwingt. Aus dem Hinterkopf scheint ein haariges Gebilde herauszuwachsen, verfolgt vom ängstlichen Blick des Luft-Bonaparte. Die Zeichnung zeigt keinen Hintergrund und keine Umgebung des Wesens, die seinem ungelenken Körper eine Stütze sein oder ihm Orientierung in seiner Ausrichtung geben könnte. Ob Fisch oder Kriechtier, der Luft-Bonaparte ist ganz offensichtlich nicht in seinem Element und weiß den leeren Raum, in dem er weder schwimmen noch kriechen kann, nicht für sich zu nutzen. Die Zeichnung zeigt eine Figur ohne Grund. Das Wesen ist zwar mit kriegerischen Attributen ausgestattet, aber ihm fehlen die örtlichen Gegebenheiten 250 Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart. 251 Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, S. 17–18.

Imaginationen des entgrenzten Kriegsraums – Paul Scheerbarts Kriegstheater

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5 Paul Scheerbart, Ein Luft-Bonaparte, Zeichnung, Kohle auf Papier, 26,5 × 24,5 cm, ca. 1907–1914

des für den Einsatz seiner Waffen und Strategien geeigneten Kriegsschauplatzes, ohne den diese wirkungslos bleiben. Das pseudo-martialisch verwachsene Wesen kann die Luft, die ihn umgibt, nicht als neuen Raum nutzen – es hat seinen Platz im Raum verloren. Bei der Verlagerung des Kriegsschauplatzes in die Luft ist Scheerbarts Luft-Bonaparte der Ent­ wicklung nicht hinterhergekommen. Sein Körper zeigt mit der Panzerung, der Trompete und den bewaffneten Tentakelenden die Spuren vergangener Kriege. Was einst militäri­ sche Überlegenheit verhieß, ist für den der Luft unvorbereitet ausgesetzten Luft-Bonaparte quälendes Hemmnis.

2. Der Maler Solomon J. Solomon als Camoufleur im Ersten Weltkrieg Neubestimmung des Kriegsschauplatzes Bevor sich die Studie der Arbeit des Londoner Malers Solomon J. Solomon zuwendet, sol­ len zunächst zusammenfassend einige Fäden aus den vorangegangen Überlegungen auf­ genommen werden – um zu verdeutlichen, inwiefern die räumlichen und begrifflichen Überlegungen zum Kriegstheater wesentliche Aspekte für die Analyse der Arbeit des Ma­ lers Solomon als Camoufleur bereithalten. Bei der Entfaltung der Konzepte von Kriegstheater und Kriegsschauplatz konnte der Kriegsraum als ein maßgeblich von Blickordnungen geprägter Raum bestimmt werden. Dabei zeigte sich, wie die räumliche Konzeption des Krieges auf Schauplätzen den Kriegs­ raum als einen visuellen Schauraum denken lässt – als einen Raum, dessen Form und Gestaltung sich an Blicken, Blickmöglichkeiten wie Blickhindernissen orientiert und sich strategisch an diesen ausrichtet. Die Blicke im Krieg waren in diesem Sinne nicht nur als Moment der Wahrnehmung eines vorhandenen Schauplatzes zu begreifen, sondern konn­ ten im Sinne eines dynamischen Raumverständnisses als entscheidende Faktoren mar­ kiert werden, die den Schauplatz mit hervorbringen. Das Schauplatzkonzept stieß in der Analyse des vorangegangenen Kapitels allerdings in mehrerlei Hinsicht an seine Grenzen. Es erschien insofern unzureichend, als der mo­ derne Krieg technisch bedingt in immer größerem Ausmaß Unsichtbarkeiten produziert und Phänomene hervorbringt, deren sichtbares Erscheinungsbild zu ihrer Funktion und Bedeutung in keinem angemessenen Verhältnis, gar in einem eklatanten Widerspruch zu stehen scheinen. Das betrifft beispielsweise die erwähnte Tätigkeit des Feldherrn, die im medientechnisch gut ausgestatteten Hauptquartier der Armeeführung kaum anders aus­ sieht als die eines Geschäftsmannes. Oder das Giftgas, das in der wahrnehmbaren Form und Gestalt von der lebensnotwendigen Luft schwer zu unterscheiden ist und dennoch innerhalb weniger Atemzüge Tausenden den Tod bringen kann. Diese Beobachtung wurde im untersuchten Zeitraum der beiden Weltkriege nicht nur für das Erscheinungsbild des Krieges gemacht. Der Krieg erscheint hier vielmehr wie ein Prisma, in dem sich der durch die Verbreitung neuer Technologien generierte fundamentale gesellschaftliche Wandel auf besonders deutliche Art und Weise offenbart und in besonders dringlicher Form ein Überdenken bisheriger Begriffe einfordert. So konstatiert Bertolt Brecht 1931 im Dreigroschenprozess ein generelles Auseinanderklaffen von eigentlicher Realität und sichtbarem Erscheinungsbild, aus der er die Notwendigkeit einer ‚künstlichen‘ Kunst ableitet, die Bil­ der für die verdeckten Zusammenhänge schaffen soll:

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Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.1 Darüber hinaus war das Konzept des Kriegsschauplatzes nicht in der Lage, die ebenfalls festgestellte historische Entwicklung einer beispiellosen Entgrenzung der Kriegsräume zu erfassen: Die rasante Entwicklung der informationstechnischen Möglichkeiten brach­ te den Krieg immer schneller in die Städte und damit in die gesellschaftlichen Zentren. Bombenbeladene Flugzeuge mit erweiterter Reichweite dehnten auch die eigentliche Kampfzone fundamental aus. Angesichts eines Krieges mit Flugzeugen, U-Booten und all­ gegenwärtigen Kameras wirkt der Begriff des Kriegsschauplatzes, der das theatrale Setting eines geschlossenen Bühnenraums mit klaren Blickachsen für ein Publikum suggeriert, anachronistisch und fehl am Platze, wie Ferdinand Friedensburg 1944 in seiner juristi­ schen Dissertation zur völkerrechtlichen Lage des Kriegsschauplatzes moniert.2 Jedoch wurde unter Bezug auf Füssels Studie deutlich, dass das Kriegstheater schon seit der vermeintlich übersichtlicheren Zeit der Entstehung des Begriffs im Barock als gedanklich strukturierendes Konzept, also als Imagination oder auch als „Rationalitätsfas­ sade“3 und weniger als Beschreibungskategorie für tatsächliche Kriegsrealitäten fungierte. Kurz: Das Konzept des Kriegsschauplatzes stand von seinen frühneuzeitlichen Anfängen an einer schon immer mehr oder weniger unübersichtlichen Kriegsrealität gegenüber, die es ordnend zu bewältigen galt. Insofern trifft Friedensburgs Beobachtung eines entgrenz­ ten Raumes des Krieges zwar zu. Seine Ablehnung des Schauplatzbegriffes als veraltet und irreführend übersieht jedoch die gedanklich ordnende Funktion, die der Raumvorstellung als Schauplatz zukommt. Paul Scheerbarts threatrale Kriegsvisionen, insbesondere seine ironische Phantasie einer spektakulären Kriegsinszenierung, wurden in diesem Zusammenhang als Teil einer Neuausrichtung des Kriegsschauplatzes unter technisch veränderten Raumbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen. Militärtechnik und Theaterästhetik erwiesen 1

Bertolt Brecht, „Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment [1930–1931]“, in: Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller (Hg.), Werke. Große kommentierte Berliner und Frank­ furter Ausgabe (= 20: Schriften I), Berlin, Weimar 1992, S. 448–514, hier: S. 469. Brecht klagte 1930 gegen die Nero Film AG, die die Dreigroschenoper verfilmen sollte. Sein Text „Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment“ analysiert die juristische Verhandlung und lässt sich gleichzeitig als Statement für die von Brecht vertretene Ästhetik der Verfremdung lesen, mit der er sich gegen die realistische Filmästhetik stellte. Für Brecht liegen die Gründe dafür, dass die Wirklichkeit kaum erkennbar und „längst nicht mehr im Totalen erlebbar“ (S.469) ist, weniger in Medientechniken, als vielmehr in der kapitalistischen Gesellschaftsstruk­ tur. Vgl. zum Gerichtsprozess: Lothar van Laak, „Wir nähern uns dem Zeitalter der Massenpolitik“: Bertolt Brechts dialektisch-experimentelle Vorführung des „öffentlichen Zustands“ im „Dreigroschenprozeß“, in: Ute Frevert und Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 246–267, hier: S. 246–247. 2 Friedensburg, Der Kriegsschauplatz insbesondere als Ausdruck rechtlicher Raumfassung, S. 155. 3 Füssel, Theatrum Belli, S. 218.

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sich in dieser Raumkonzeption als eng aufeinander bezogen. Zu dem Zeitpunkt, als die Theatermetapher den entgrenzten Kriegsschauplatz nicht mehr angemessen zu erfassen scheint, wandelt sich auch das Verständnis von Theater selbst. Dabei wird das Theater von seinen Macher*innen immer weniger als der geschlossene Übersichtsraum verstanden, der dem Schauplatzbegriff zugrunde liegt. Vielmehr werden theatrale Situationen zuneh­ mend auch als ihrerseits selbst Raum erzeugend aufgefasst. Auf diese Weise ergeben sich für die Analyse der modernen technisierten Kriege neue Schauplatzkonstellationen, ohne dass das Konzept des Kriegsschauplatzes dafür aufgegeben werden müsste. Der Wandel der Kriegsräume darf dabei als nur ein Aspekt eines fundamentalen Wandels räumlicher Formationen insgesamt angesehen werden, der in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein­ wirkte und erst recht das Theater – als „Raumkunst“4 – nicht unberührt lassen konnte. Im Folgenden kommt der Londoner Maler Solomon J. Solomon in den Blick, der im Ersten Weltkrieg als sogenannter Camoufleur an der Einführung von Camouflage auf bri­ tischer Seite maßgeblich beteiligt war. Anhand seiner Arbeiten soll untersucht werden, auf welche Weise sich Camouflage in diese Wahrnehmungskonstellation einträgt und welche Bilder vom Krieg und seinen Räumen dazu geschaffen werden. Die bereits festgestellte Unlesbarkeit des Kriegsschauplatzes, das konstatierte Auseinanderklaffen von Erschei­ nungsbild und Funktion sind im Zusammenhang mit Camouflage kein unerwünschter Nebeneffekt der eingesetzten Medientechniken, sondern explizites und strategisch einge­ setztes Programm. Aus diesem Grund geht die Entwicklung der Camouflage zwangsläufig auch mit einer Analyse der Schauplatzqualitäten des Krieges einher: Sie setzt Studien des Bildes, das der Krieg abgibt, ebenso voraus wie Reflexionen seiner sichtbaren und unsicht­ baren Aspekte. Aus der Perspektive der Camouflage besteht der Krieg ganz aus Blickachsen und Erscheinungsbildern. Solomons kurz nach dem Krieg veröffentlichte Publikation Strategic Camouflage5 provozierte scharfe Kritik, ebenso wie seine innerhalb der Militärstruktur vorgebrachten Vorschläge und Analysen; bei einigen Vorgesetzten galt er als Wichtigtuer „without com­ monsense posing as [expert]“6, dessen vehement zum Ausdruck gebrachter „ultra enthu­ siasm“7 selbst bei Wohlgesonnenen Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Thesen hervor­ rief.8 Ein ehemaliger Kollege Solomons beispielsweise, Alister Mackenzie, der mit ihm an

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Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis [1931]“, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel, Hermann Doetsch und Roger Lüdeke (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 501–514, hier: S. 501. 5 Solomon, Strategic Camouflage. 6 R. Brooke-Popham in einem Brief vom 6.12.1919 an Capt. C. Fairbairn, The National Archives, Kew, Notes on Colonel Solomon’s ideas of German Camouflage, Air Ministry. The National Archives, Kew, Air 1/1/4/21 (30.5.1918). 7 Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 214. 8 Vgl. die Darstellung der Debatte um Solomons Thesen: Patrick Wright, Iron curtain. From stage to Cold War, Oxford, New York 2007, S. 143–147.

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der Camouflage School unterrichtete, greift ihn nach dem Krieg in einem Leserbrief an die Zeitung The Times öffentlich scharf an: I was associated with Colonel Solomon in the demonstrations which were the inception of the School of Camouflage. He was a man with many original ideas, but he was liable to be carried away by his too vivid imagination, and he became obsessed with the view that the Bosch was a superman in camouflage.9 Auch wenn immer wieder Fürsprecher*innen für ihn eintraten und sich hinter seine Über­ legungen stellten,10 bewirkte die Ambivalenz der Rezeption seiner Ideen, dass das Projekt Camouflage für Solomon geradezu zur Obsession wurde – dieses Eindrucks kann man sich bei der Lektüre seiner eigenen Veröffentlichungen und der Kommentare anderer nicht erwehren. „An obsession with deception can sometimes be self-deceiving“11, wie der Jour­ nalist Peter Forbes in seinem Buch über Camouflage mit Blick auf Solomon bemerkt. Die Gestaltung des Einbands von Solomons Buch bietet einen augenfälligen Eindruck von der im wahrsten Sinne des Wortes als doppelbödig wahrgenommenen Kriegsrealität (Tafel III, S. 283). Die Zeichnung in der Mitte des Covers zeigt auf den ersten Blick eine idylli­ sche ländliche Landschaft: Felder, Baumalleen, ein kleines Häuschen, im Vordergrund drei Fahrzeuge. Lediglich der Himmel, der übersät ist mit Flugzeugen und Rauchwolken, deutet auf ein Kriegsgeschehen hin. Ein zweiter Blick jedoch zeigt, dass die Sachlage komplizierter ist. Das Fahrzeug ganz links fährt unter dem vermeintlichen Feld heraus, während der Last­ wagen ganz rechts gerade dabei ist, unter einer tunnelartigen Abdeckung zu verschwinden. Felder, Allee und Bauernhäuschen sind also nicht so friedlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Vielmehr verdecken und ermöglichen sie den Blicken der gegnerischen Aufklärungsflieger entzogene militärische Bewegungen. Die ländliche Idylle ist trügerisch. Mit seiner obsessiven Reaktion auf die Doppelbödigkeiten des Krieges war Solomon nicht allein. Nicholas Rankin bezieht sich in seiner Studie über britische Camouflageakti­ vitäten während der beiden Weltkriege auf das Kriegstagebuch seines eigenen Großvaters, der obsessiv überall Spione am Werk sah. Er findet dafür eine plausible Erklärung: „becau­ se being seen and spotted brings down violent retribution.“12 Die existentielle Erfahrung, dass gesehen zu werden, größte Lebensgefahr bedeutet, kann das Verhältnis der Betrof­ 9 A. Mackenzie, Camouflage, in: The Times, 26.2.1921, S. 6. 10 Vgl. neben seiner Biografin Somech Phillips, den Brief, den Edwin Samuel Montagu, Staatssekretär für Indi­ en an den Premierminister verfasste. Er schreibt, er habe die Fotografien, mit denen sich Solomon befasst, selbst gesehen. Er halte Solomons Interpretation, dass es sich bei den fotografierten Landschaften um große deutsche Tarnungsanlagen hält, für überzeugend. Edwin Samuel Montagu, E. S. Montagu, India Office, to the Prime Minister. Parliamentary Archives, London, LG/F/40/2/2 (30.5.1918); außerdem positive Rezensionen seines Buches in der Presse: o. V., Again, in Strategic Camouflage, in: Flight International Magazine, 12/594, 13.51920 (1920), S. 532; o. V., Last year from time to time, in: Flight International Magazine, 13/640, 31.1.1921 (1921), S. 226. 11 Forbes, Dazzled and Deceived: Mimicry and Camouflage, S. 109. 12 Rankin, Churchill’s Wizards, S. 10.

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fenen zur Sichtbarkeit offenbar nachhaltig verändern. Trotz harscher Zurückweisungen seiner Ideen innerhalb des Militärs forschte Solomon auf eigene Faust weiter und reiste noch nach 1918 in ehemalige Kriegsgebiete, um die Richtigkeit seiner Vermutungen über groß angelegte Camouflage-Anlagen der Deutschen zu überprüfen. Der von ihm selbst und von anderen mit der Untersuchung seiner Thesen Beauftragten festgestellte Mangel an Spuren vor Ort, die seine These unterstützen könnten, galt ihm nur als Bestätigung für die Perfektion der deutschen Tarnungsstrategie. Zur perfekten Wahrung der Geheimhaltung gehöre seiner Meinung nach auch die spurenlose Entfernung – eine Argumentationsweise, die sich gegen jeglichen Einwand immunisiert: The Germans evidently look upon this strategic camouflage as a secret still, seeing that we have consistently ignored it, and would leave no evidences of it that they could possibly destroy before their departure.13 In diesem Sinne ist Solomons Arbeit als Camoufleur ein vielschichtiges Beispiel für die existentiell zutiefst verunsichernde Kraft, die vom inszenierten Kriegsschauplatz ausge­ hen kann. In seinem Kriegstagebuch beschreibt er seine Verzweiflung angesichts der Tatsache, dass seine Fotointerpretation, obwohl sich viele von ihr überzeugt zeigten, an den entschei­ denden Stellen nicht durchdringen konnte und abgelehnt wurde. „We have never under­ stood the meaning of strategic camouflage, that is why we cannot recognize it, for the eye only sees what it knows.“14 Dabei wird viel mehr verhandelt als die optische Täuschungsund Tarnungsstrategie der gegnerischen Kriegspartei: Es geht um militärische Tugenden, die Expertise von Künstler*innen und ihre gesellschaftliche Rolle. Zur Debatte steht eine Relektüre der Landschaft im Medium der Fotografie – einer Landschaft, deren Gestalt mit den alten Wahrnehmungsmustern offensichtlich nicht mehr entschlüsselt werden kann. Zudem geht es und eine Neuausrichtung ihrer kulturellen Bedeutung. Aus heutiger Pers­ pektive macht dieser Konflikt den Fall des Malers und Camoufleurs Solomon besonders aufschlussreich für die Untersuchung kultureller Entwicklungen. Seine Analyse stellt eine der ersten Monografien zu Camouflage überhaupt dar, die den künstlerischen Aspekt in der Kriegstechnik hervorheben. Sein Beitrag offenbart eine vielschichtige Auseinanderset­ zung mit dem Kriegsschauplatz als gestaltetem Bild. Aus der Perspektive des Camoufleurs und Künstlers nimmt der Autor dabei sowohl die Perspektive der Tarnung und Täuschung als auch die komplementäre der gleichsam enttarnenden Fotoauswertung in den Blick und erfasst damit die Konstellation des Kriegsschauplatzes von beiden Seiten: der gestaltend (re)präsentierenden ebenso wie der betrachtend lesenden. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist Solomon wegen seiner Charakterisierung der für Camouflage-Aktivitä­ 13 Solomon, Strategic Camouflage, S. 33. 14 Zit. nach Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 203.

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ten benötigten künstlerischen Kompetenzen und außerdem wegen seiner Vorschläge und Visionen für eine Landschaftslektüre von Interesse. Die Obsession, die die intensive Be­ schäftigung mit Camouflage bei Solomon auslöste, soll hier als Symptom der ‚Verrücktheit‘ der Camouflage gedacht werden. Indem Handeln in erster Linie in Hinsicht auf die damit verbundene Bildproduktion begriffen wird, verkehrt sich das Verhältnis von Ereignis und bildlicher Reproduktion. Wer das Prinzip der Camouflage verinnerlicht hat, läuft Gefahr, die Realität grundsätzlich als von strategischer Bildmanipulation betroffen wahrzunehmen. Einen ähnlichen Effekt ihrer Tätigkeit beobachtet der Zoologe Karl Hauser an Mimikry­ forschern, die die Tierwelt nach Tarnungen absuchen: 1908 spricht er in seinem Vortrag „Allerhand Schauspieler in der Tierwelt“ besorgt von einer regelrechten „Mimikrywut“. Er beschreibt das Phänomen als eine „Sucht“, die zur Folge habe, dass die betroffenen Bio­ logen, als „Mimikryfanatiker“15 bei ihren Forschungen „überall und unter allen Umstän­ den“16 nichts als Mimikry entdeckten. Diese Fehlleistung schreibt er der „menschliche[n] Phantasie“ zu, die mit suggestivem Blick „vielfach starke Aehnlichkeiten zu sehen glaubt, wo sie in Wirklichkeit gering sind“17. In einer wissenschaftshistorischen Studie zeichnet der Literaturwissenschaftler Kyung-Ho Cha nach, wie sich an der Mimikry „ein Streit um Wahnsinn und Vernunft in der biologischen Forschung entzündet“18. Dabei konstatiert er, dass es nicht zufällig die Auseinandersetzung mit der Mimikry ist, der „Blicktäuschung par excellence“19, die den Zweifel an der Wahrnehmung provoziert. Die strategische Augentäuschung tritt also keineswegs nur im Krieg auf. Bemerkens­ wert ist allerdings, dass sich gerade die biologischen Analysen der Mimikry häufig eines kriegerischen Vokabulars bedienen und damit den ‚Überlebenskampf‘ der Tiere und Pflan­ zen in die Nähe von gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb der menschlichen Spe­ zies rücken. Beispielsweise vergleicht der britische Biologe Hugh Cott in der Einleitung seines erstmalig 1940 erschienen On Adaptive Coloration in Animals, das im Zweiten Welt­ krieg zum Standardwerk für Camoufleure wurde, den „interspecific struggle for existence“ in der Tier- und Pflanzenwelt mit den Kriegen unter Menschen: One of the fundamental facts affecting living creatures is the interspecific warfare known to biology as the struggle for existence. […] Indeed, the primeval struggle of the jungle, and the refinements of civilized warfare, have here very much the same story to tell. In both realms we see the results of an armament race and an invention race, which has led to a state of preparedness for offence and defense as complex as it is interesting.20 15 Karl Hauser, Allerhand Schauspieler in der Tierwelt, Godesberg 1908, S. 14. 16 Ebd., S. 19. 17 Ebd. 18 Cha, Humanmimikry, S. 78. 19 Ebd. 20 Hugh B. Cott, Adaptive Coloration in Animals, London 1957, S. xi–xii.

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Kriegerische Handlungsweisen werden so zum anthropomorphen Modell, mit dem andere Realitäten wahrgenommen und beschrieben werden. Als Symbol der Wandelbarkeit und Anpassung spielte im Vorangegangenen das Chamäleon eine wichtige Rolle. Die Analyse biologischer Texte aus dem 19. und 20. Jahr­ hundert hat gezeigt, wie sich an diesem Tier und seiner Haut weitreichende Diskurse über das Verhältnis von Innerem und Äußerem sowie von Strategien innerhalb des Visuellen entfalteten. Dem Militärtheoretiker Clausewitz diente das Chamäleon als Bild für die Un­ beständigkeit des Krieges. Die spezifische Mimikry des Chamäleons und die ihm zuge­ schriebenen kulturellen Bedeutungen eröffneten für Clausewitz einen Raum, in dem er den Zufall als wichtigen Faktor des Krieges zu denken und eindimensionale militärische Handlungsanweisungen als unzureichende Kriegstheorie abzulehnen wusste. Die Camou­ fleur*innen des Ersten Weltkriegs machten das Chamäleon zu ihrem Emblem und erkann­ ten in dem scheuen Tier ganz neue Identifikationsmöglichkeiten, die im Widerspruch zu den überkommenen klassisch männlich geprägten Kriegertugenden von Mut und Tapfer­ keit standen. Auch auf dem oben schon analysierten Cover von Solomons Buch (Tafel III, S. 283) für Camoufleur*innen darf es deshalb – seiner Natur entsprechend als Ornament am Rande getarnt – nicht fehlen. In Strategic Camouflage schlägt Solomon eine spezielle Lektüre der militärischen Luft­ fotografien vor und entwirft Prinzipien für eine zukünftige Ausbildung der sogenannten readers, die für die Auswertung der Aufnahmen eingesetzt wurden. Ihre Aufgabe war es, die Fotos auf Hinweise abzusuchen, die bildlich enthaltenen Informationen mit Symbolen zu markieren, die wie die topografischen Gegebenheiten auf einer Karte in die Fotogra­ fien eingezeichnet wurden, oder sie in Sprache zu übersetzen. Bei dieser Tätigkeit war es relevant, Handlungen und Handlungsabsichten der gegnerischen Seite zu erkennen und richtig einzuschätzen. Solomons Erfahrungen als Porträtmaler und seine Nähe zur Physiognomik erlauben es, diese neue Praxis der Lektüre militärischer Bilder vor einem kunsthistorischen Hintergrund zu verorten. Der Versuch des Malers, komplizierten und undurchschaubaren äußeren Erscheinungsbildern innere, ‚eigentliche‘ Bedeutungen zuzu­ schreiben und diese zur Darstellung zu bringen, hat eine lange Vorgeschichte. So empfahl Solomon seinen Schüler*innen vor dem Malen von Gesichtern die Beschäftigung mit Phy­ siognomik, beispielsweise durch die Lektüre von Werken Lavaters.21 Solomon etablierte die Camouflage School in London zunächst eigenständig in Ken­ sington Gardens unweit von seinem Atelier. Später wurde sie vom Ingenieurskorps der britischen Armee, den Royal Engineers, fortgeführt, mit Solomon in beratender Tätigkeit. Auf einem Teil des Parkgeländes wurde mit Materialien experimentiert, unterschiedliche Tarnungsobjekte wurden produziert und erprobt. Im Archiv des Imperial War Museum London befindet sich eine Sammlung von Fotografien, die diese Arbeit dokumentieren.22 21 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 51. 22 Imperial War Museum, Photograph Archive, Royal Engineers Camouflage Collection.

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Die Dokumentation von Camouflage spielt für die Geschichte des Imperial War Museum eine bedeutsame Rolle. Das Museum wurde 1917 durch einen Beschluss des britischen Kriegskabinetts ins Leben gerufen und eigens zu dem Zweck gegründet, den Krieg zu do­ kumentieren sowie in Zukunft mit Artefakten und Bildern an die historischen Ereignisse zu erinnern. Auf der Basis dieser Agenda beteiligte sich das Museum durch die gezielte Vergabe von Aufträgen an Künstler und Künstlerinnen und den Ankauf der Bilder unmit­ telbar an der Entwicklung und Verbreitung einer Kriegsikonografie. Die Archive des Mu­ seums beherbergen bis heute die Zeugnisse dieser Praxis, das kulturelle Gedächtnis aktiv zu formen – zentrales Quellenmaterial für die vorliegende Arbeit. Darunter befinden sich auch Objekte, die die Entwicklung der Camouflage dokumentieren. Denn noch während des Krieges, im Dezember 1917, wurde Solomon vom Museum gebeten, Objekte aufzube­ wahren, die im Zusammenhang der Tätigkeit der Camouflage-Einheiten entstanden sind („material to illustrate the art and science of ‚Camouflage‘ as practised at the front“), und dem Museum sobald wie möglich zur Verfügung zu stellen.23 Die Fotosammlung der Camouflage School ist über ihren dokumentarischen Wert ­hinaus von besonderem ästhetischen Interesse, da sich auf den Bildern die experimentell inszenierte Kriegslandschaft und die traditionell arrangierte Friedenslandschaft der Park­ architektur auf faszinierende Art und Weise überlappen. Das Material soll im Folgenden auf die landschaftsbezogenen Inszenierungspraktiken hin befragt werden, die den Londo­ ner Park zum Kriegsschauplatz werden ließen. Das Areal wurde nicht nur zur Produktion und Schulung genutzt, sondern diente auch als Ausstellungs- und Vorführungsgelände, wenn die Praktiken der Camouflage Offizieren oder der Presse präsentiert wurden. So sorgte die sogenannte „Special Works School“ auch für die Bekanntheit und Popularität der neuen kuriosen Kriegstechnik sowie für die schnelle Verbreitung des französischen Fremdworts in der englischen Sprache.24 Das Staatsoberhaupt selbst, König George V., kam zu Besuch und notierte beeindruckt von der Arbeit seiner Illusionist*innen im März 1917 in sein Tagebuch: „May and I went to Hyde Park close to powder magazine where we saw a demonstration of the use of camouflage in warfare (which is concealment) most interes­ ting …“25 Der Status der Camouflage changiert dabei, so soll am Beispiel der Camouflage School deutlich werden, zwischen Staatsgeheimnis, visuellem Experimentalraum und spektakulärer Kriegsinszenierung mit propagandistischem Unterhaltungswert für die Bevölkerung.

23 Vgl. den im Archiv des Imperial War Museum befindlichen Brief mit der Anfrage an Solomon: Charles John ffoulkes, Brief an Colonel S. J. Solomon. Imperial War Museum, Modells Special Works School, EN1/1/ MODE/078/3329 (4.12.1917). 24 Vgl. Rankin, Churchill’s Wizards, S. 133. 25 King George V. zit nach: Rankin, Churchill’s Wizards, S. 133; vgl. ebenfalls den Zeitungsartikel in der Times, der von dem Besuch berichtet o. V., Court Circular, in: The Times, 9.3.1917, S. 11.

Solomon J. Solomon (1860–1927) – ein Salonmaler beim Militär

Solomon J. Solomon (1860–1927) – ein Salonmaler beim Militär Solomon war in London ein populärer Maler, bekannt für seine Gemälde mythologischer und biblischer Szenen wie für die zahlreichen Porträts, die Mitglieder der Oberschicht bis hin zur königlichen Familie durch ihn anfertigen ließen. 1906 wurde er Mitglied der Royal Academy of Arts – bemerkenswert auch deshalb, weil in der Geschichte der königlichen Kulturinstitution vor ihm erst einem einzigen Juden die Aufnahme angetragen worden war.26 Seine Biografin Olga Somech Philipps stellt diese in den Kontext der jüdischen Emanzipationsbewegung und hebt hervor, dass Solomons Berufswahl zu seiner von ihr als „early post-emancipation days“27 bezeichneten Zeit für einen Juden ungewöhnlich war. Sie hebt sein Talent als Maler und seinen Erfolg als Teil der Emanzipation aus über Jahrhunderte verinnerlichten Restriktionen hervor, die den „Anglo-Jews“ sowohl aus dem Judentum inhärenten religiösen Gründen als auch durch antisemitisch begründete aus­ schließende Mechanismen die gesellschaftliche Teilhabe nur bedingt und nur in bestimm­ ten Bereichen erlaubten. For a Jew to be a painter by vocation in those days was very unusual. It is curious to note how members of the race eagerly availed themselves of the professional avenues open to them after their centuries of confinement in petty trading ruts.28 Die hier zitierte 1927 erschienene Solomon-Biografie mit dem emphatischen Untertitel „A Memoir of Peace and War“ legt den Fokus stark auf Solomons Zugehörigkeit zur Londo­ ner jüdischen Community, indem sie auch die Geschichte seiner Familie und darüber hin­ aus die Geschichte der in Süd-London ansässigen jüdischen Gemeinde erzählt. So enthält das Buch – eine wichtige Quelle für die vorliegende Studie – eine disparate Mischung aus Lobpreisungen auf Solomon und seine Familie eingebettet in eine nostalgisch gefärbte Er­ zählung vergangenen jüdischen Lebens in London. Darüber hinaus stellt es Quellentexte von und über Solomon zusammen – darunter in verschiedenen Zeitungen erschienene Kritiken seines 1920 veröffentlichten Buches Strategic Camouflage, ein in der Zeitschrift The Jewish Quartlerly Review veröffentlichter Aufsatz Solomons und längere Tagebuch­ passagen. Damit ist die Biografie der zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte des Malers zuzurechnen und gleichzeitig ihrerseits ein Dokument von innerhalb einer Community betriebener Geschichtsschreibung. Außerdem bietet sie in ihren editorischen Teilen die Zusammenstellung von Primärquellen, die Solomons Beteiligung an der Camouflage im Ersten Weltkrieg dokumentieren, insbesondere die abgedruckten Tagebuchausschnitte.

26 Vgl. Jenny Pery, Solomon J. Solomon RA. 28 October – 18 November 1990 Ben Uri Art Gallery, London 1990. 27 Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 56. 28 Ebd., S. 22.

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Solomon war tatsächlich aktives und engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde und Mitbegründer der Maccabean Society, die es sich zur Aufgabe machte, das Bewusst­ sein für das jüdische Erbe gerade bei den säkularen, intellektuellen und erfolgreichen „pro­ fessionals“, die sich von ihren jüdischen Wurzeln zu entfremden drohten, neu zu beleben und zu stärken.29 In einer Rede vor den „Maccabeans“, in der Solomon sich mit der Frage auseinander setzt, wie das Judentum modern und gleichzeitig in Treue zur Tradition gelebt werden könne – 1901 unter dem Titel „Art and Judaism“ als Aufsatz veröffentlicht – betont Solomon die religiös bedingte kritische Distanz des Judentums zur Malerei überhaupt und insbesondere zur Darstellung von Menschen: We know that the reproduction of natural forms, more particularly the human form, was forbidden to the Jews. Art in such conditions could not flourish. All design is based on natural forms, and the key to the highest inspiration and appreciation of art is the knowledge of the human form.30 Es liegt auf der Hand, dass für die Porträtmalerei eine genaue Kenntnis der hier erwähnten „human form“ Voraussetzung ist. Auch in seiner kriegsbedingten Tätigkeit als Camoufleur sah Solomon sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine „reproduction of natural forms“31 zu schaffen, die von ihrem Original möglichst nicht zu unterscheiden ist. Seine Ansichten zur menschlichen Gestalt und zur Frage, wie diese in der Malerei abgebildet werden könne, finden sich in Solomons Lehrbuch The Practice of Oil Painting and Drawing as Associated with it32. Die darin dargelegten Prinzipien der Illusionserzeugung finden auch Eingang in Solomons Ideen zur Camouflage. Auf diese gedanklichen Verbindungen, die die Wissenschaftshistorikerin Hanna Rose Shell als einen Übersetzungsprozess be­ schreibt, wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.33 Solomon fand als Maler früh Anerkennung innerhalb der jüdischen Community. Sein Erfolg auch außerhalb der Community, der für den 46-Jährigen in der hohen Auszeich­ nung durch die Aufnahme in die prestigeträchtige Royal Academy of Arts gipfelte, wurde von den Zeitgenoss*innen als gesellschaftlicher Aufstieg eines Juden betrachtet und als positives Beispiel für soziale Mobilität gewertet.34 Angesichts seiner späteren Aktivitäten als Camoufleur bezeichnet Rankin Solomons Integration in die höhere nicht-jüdische Ge­ sellschaftsschicht als „social camouflage“35. Tatsächlich ist Solomons Auseinandersetzung

29 Vgl. ebd., S. 57–58. 30 Solomon J. Solomon, Art and Judaism, in: The Jewish Quarterly Review, 13/4 (1901), S. 553–566, hier: S. 556. 31 Ebd. 32 Solomon, The Practice of Oil Painting. 33 Vgl. Shell, Hide and seek, S. 104. 34 Vgl. Irit Miller, Hebraism and Hellenism in ‘An Allegory’: A Painting by Solomon Joseph Solomon, in: Ars Judaica, 2 (2006), S. 103–116, hier: S. 107. 35 Rankin, Churchill’s Wizards, S. 29.

Solomon J. Solomon (1860–1927) – ein Salonmaler beim Militär

mit dem Verhältnis von Kunst und Judaismus Teil eines Diskurses, der zu dieser Zeit viele intellektuelle Jüd*innen in Westeuropa beschäftigte und um die Frage kreiste, wie man sich kulturell und gesellschaftlich anpassen könne, ohne dabei die eigene jüdische Iden­ tität und Spiritualität zu verlieren.36 Seine Biografin weiß anerkennend über Solomon zu berichten: „He knew too well how to strike the perfect balance of Jew and Englishman without laying undue stress on one or the other.“37 Dass überhaupt von „undue stress“, also von einer „ungebührlichen Betonung“ in Bezug auf die eine oder die andere gesellschaftli­ che Identität die Rede ist und eine ausgewogene soziale Performance lobende Erwähnung findet, spricht Bände. Liegt hier doch nicht nur ein vielsagendes Zeugnis für die schwierige Identitätsbehauptung einer Minderheit vor, sondern auch für den prekären sozialen Balan­ ceakt, den einer beherrschen musste, der als Jude in statusträchtige Gesellschaftskreise wie die der Royal Academy of Arts aufgenommen werden wollte. „Solomon was so sensitive for the honour of his race that it made him exceedingly care­ ful in all his dealings.“38 Diese für einen Juden offensichtlich gebotene Sorgsamkeit und das Bewusstsein für die mit der eigenen gesellschaftlichen Stellung verbundenen Restrik­ tionen äußerten sich bei Solomon nicht zuletzt in Selbstzensur. Seinem Lieblingsschüler David Hillman, selbst Jude, der eine stilistisch an Rembrandt angelehnte Darstellung ei­ nes Juden ausstellen wollte, die laut Somech Phillips anekdotischer Beschreibung einen „antiquated Hebrew, with a long beard and somewhat pronounced features“ zeigte, riet Solomon kategorisch davon ab. Die Leute würden sich lustig machen oder das Porträt als Karikatur ansehen: „No, David, don’t you exhibit it. […] Rembrandt could, but don’t you!“39 Solomon ist also sehr bewusst, dass jüdische Selbstdarstellungen sich gesellschaftlich schwerer behaupten können als Darstellungen jüdischen Lebens aus Sicht des berühm­ ten alten Meisters, der in diesem Fall nicht nur die Autorität des Künstler-Genies, sondern auch die kulturell hegemoniale Sichtweise repräsentiert. Somech Pillips hebt an dieser Anekdote Solomons Fähigkeit hervor, den Blick der anderen auf ihn zu antizipieren – ein Perspektivwechsel, der nicht nur für Menschen in marginalisierten gesellschaftlichen Posi­ tionen zum Überlebenswissen gehört, sondern auch für den Camoufleur im militärischen Kontext zu einer existentiellen Leistung der Vorstellungskraft wurde. Dieser religiös-soziale Hintergrund des späteren Camoufleurs ist insofern für den Un­ tersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit von Interesse, als sich hier spezifische Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Positionen abzeichnen, die später in Solo­ mons unermüdlichem und obsessivem Argumentieren für die Anerkennung künstleri­ scher Kompetenzen, insbesondere für das geübte, auf das Wahrnehmen von Feinheiten hin sensibilisierte Auge des Malers, ihre Fortsetzung finden. Auch die vehemente Ablehnung

36 Miller, Hebraism and Hellenism in ‘An Allegory’: A Painting by Solomon Joseph Solomon, S. 106. 37 Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 58. 38 Ebd., S. 106. 39 Ebd.

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seiner Vorschläge – bis hin zu kaum verhohlen antisemitischen Äußerungen über „the wisdom of Solomon“ – muss vor diesem Hintergrund möglicherweise anders bewertet wer­ den. Die diffamierenden Worte über Solomon wählte Colonel John Rhodes, der außerdem nach dem Erscheinen von Strategic Camouflage in der rechts gerichteten Zeitung Morning Post unter der Schlagzeile „Camouflage gone mad“ anonym eine vernichtende Kritik veröf­ fentlichte.40 Im selben Jahr machte die Morning Post auf sich aufmerksam, indem sie eine Serie von Artikeln veröffentlichte, die auf dem antisemitischen Pamphlet „Protokolle der Weisen von Zion“ basierte und eine jüdische Weltverschwörung propagierte.41 Damit soll nicht für die unbelegten und aufgrund der zirkulären Argumentationsweise unbelegbaren Spekulationen Solomons über groß angelegte Camouflageanlagen der Deutschen Position ergriffen werden. Seine obsessive Vehemenz aber und die Heftigkeit der Zurückweisung seiner Ideen ergibt vor diesem Hintergrund ein anderes Bild: ein Bild, bei dem weniger die skurrile charakterliche und psychopathologische Verfasstheit eines Einzelnen im Vorder­ grund steht, als vielmehr eine gesellschaftliche Konstellation, in der neben Faktoren der medientechnischen Umwälzung, der veränderten Funktion der Malerei, der neuartigen Kriegsführung eben auch die gesellschaftlichen Positionen der Beteiligten eine Rolle spie­ len. Solomons Engagement in Sachen Camouflage soll dabei hier als ein Prisma betrachtet werden, das all diese Faktoren gebrochen reflektiert und sichtbar werden lässt. Camouflage ist real eingesetzte militärische Taktik – aber gleichzeitig zu einem großen Teil mit Imaginationen und Phantasmen verflochten. Das zeigt auch die folgende Darstel­ lung Solomons in einem Zeitungsartikel von 1920, in der er, vergleichbar mit einer Film­ szene, seine persönliche bildgewaltige Vorstellung von dem Moment schildert, in dem gut getarnte gegnerische Truppen auf einmal wie aus dem Nichts auftauchen: eine äußerst bedrohliche albtraumartige Phantasie von einer unsichtbaren, unkontrollierbaren und potentiell allgegenwärtigen Gefahr. Deutlich wird auch Solomons quälendes Bewusstsein für die Hilflosigkeit seiner marginalisierten Position, die ihm nicht erlaubt, sich mit seinen Ansichten und Einschätzungen Gehör zu verschaffen. I could visualise the surprise and astonishment of our armies suddenly confronted with literally hundreds of thousands of men, coming as it were out of the ground. Heaven only knows how I suffered at my impotence to get this information ­through.42 Eindrücklich ist außerdem die Passage, in der er sich als einen wütenden Löwen im Käfig beschreibt, der gegen die fatale Dummheit der anderen nichts ausrichten kann.

40 zit. nach Rankin, Churchill’s Wizards, S. 171. 41 Vgl. Gisela Lebzelter, Political Anti-Semitism in England 1918–1939, London 1978, S. 13–28. 42 Solomon J. Solomon, The Secret of German Camouflage, in: Oamaru Mail, 31.8.1920, S. 2, hier: S. 2.

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I can recall the scene in a Cabinet Minister’s great room, his departmental office, when he and another of my faithful friends raged like caged lions, railing at our inability to make headway against the forces of reaction and the fatal and complacent stupidity which barred the way.43 Der berühmte amerikanische Kriegsberichterstatter Richard Harding Davis evoziert üb­ rigens in seiner Beschreibung der deutschen Armee in ihren feldgrauen Uniformen bei ihrem Einmarsch in Brüssel schon im August 1914 ein ähnliches Bild einer grauen, nebel­ artigen Geisterarmee: All moved under a cloak of invisibility. Only after the most numerous and severe tests at all distances, with all materials and combinations of colors that give forth no color, could this gray have been discovered. […] After you have seen this service uniform […] you are convinced that for the German soldier it is his strongest weapon. Even the most expert marksman cannot hit a target he cannot see. […] It is the gray of the hour just before daybreak, the gray of unpolished steel. […] You saw only a fog that melted into the stones, blended with the ancient house fronts, that shifted and drifted, but left you nothing at which you could point.44 Im Mittelpunkt von Davis’ Darstellung steht die Entmenschlichung, die die Tarnfarbe und die Art der Formation der Marschierenden bewirken: „the thing became uncanny, inhu­ man“45. Soldaten sind nicht mehr unterscheidbar von Stahl oder Nebel. Mystifizierende Darstellungen von Camouflage als dem Bereich des Geisterhaften zugehörig begleiten die Entwicklungsgeschichte der militärischen Tarnung.46 Dabei wer­ den diese auch von militärischer Seite mal bewusst eingesetzt, um Camouflage als Genie­ streich und trickreiche Attraktion interessanter erscheinen zu lassen und mal abgelehnt, um Camouflage als seriöse, wissenschaftlich fundierte Militärtechnik zu behaupten. Die Abwehr mystifizierender Darstellungen von Camouflage dürfte später zu Buchanfängen wie dem folgenden von Eric Sloane geführt haben, der ostentativ allem Geheimnisvollen abschwört: This book contains no secrets. […] The science [of camouflage] frequently has been misinterpreted as a secret branch of art designed to trick an enemy with fantastic designs and optical illusion; actually it is a sound study of protective concealment.47 43 Ebd. 44 Richard Harding Davis, The German Army Flows Like a River of Steel, in: News Chronicle, 23.8.1914. 45 Ebd. 46 Vgl. Rankins Darstellung der Presseberichterstattung über die Camoufleur*innen, auch bezeichnet als „chief magicians“: Rankin, Churchill’s Wizards, S. 141. 47 Eric Sloane, Camouflage Simplified, New York 1942.

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Die fehlende Anerkennung zieht sich als wiederkehrender Topos durch die Geschichte der militärischen Camouflage als der „Cinderella among the military arts“48. Mit dieser ironi­ schen weiblichen Allegorisierung gibt Solomon die abschätzige Haltung der Camouflage gegenüber wieder, mit der er sich konfrontiert sieht und der er in seinem Buch nicht nur im Abschnitt mit der apologetisch-trotzigen Überschrift „An Art To Be Taken Seriously“49 widerspricht. Solomon verweist mit „Cinderella“ auf eine positiv konnotierte weibliche Figur, die als Aschenputtel erst ihre wahre Schönheit verbergen und viele Demütigungen über sich ergehen lassen muss, bevor der Prinz sie erkennt und heiratet. Camouflage ist also eine verkannte Kriegskunst, deren wahre Bedeutung noch anerkannt werden wird. Auch im Zweiten Weltkrieg gibt es Stimmen, die eine weiblichen Personifizierung be­ nutzen – aber diesmal, um ihr Unbehagen an der Camouflage zum Ausdruck bringen und diese spöttisch zu diskreditieren: „Camouflage is the glamor girl of civilian defense.“50 Mit „glamor girl“ wird Camouflage nun als wichtigtuerisch und militärisch unbedeutend abge­ wertet. Cha arbeitet in seiner umfangreichen Studie zur Mimikry heraus, dass menschliche Mimikry, also Verstellung und Lüge, insbesondere unter Sexualforschern und misogynen Kulturkritikern der Zeit um 1900 Frauen zugeschrieben wird, die in ihren Verstellungs­ künsten einigen Tieren ähnlich seien.51 Angesichts dieser Vorgeschichte gesellschaftlicher Bewertung von tierischer und menschlicher Mimikry verwundert es nicht, dass die Ein­ führung von Camouflage als militärische Strategie nicht ohne innere Widersprüche von­ statten ging. Vorstellungen von kriegerischer Männlichkeit vertrugen sich nur schwer mit Strategien des Versteckens, Verkleidens oder Schminkens, die als weibliche Tätigkeiten betrachtet und als feige abqualifiziert wurden. Wenn Solomon mit einer verteidigen Geste in Cinderella eine positive weibliche Referenzfigur anführt, gehört dies zu seiner Antwort auf eine bemerkenswerte Frage, die er als Überschrift eines kurzen Abschnitts folgender­ maßen formuliert: „Is Camouflage Unchivalrous?“ Die Frage nach der ‚Ritterlichkeit‘ und damit nach der Moralität der Camouflage deutet auf einen Wandel militärischer Tugenden hin. Den Wandel beschreibt Solomon folgendermaßen: Expression has been given to the idea that there is a lack of chivalry in the way that art is applied to war. Did men fight hand to hand, something might be said for this contention, but great armies and all their movements are now overlooked as are ants crawling about the ground; the mass of them attacked far behind the fighting line by bombing airmen, or by shells fired from distances varying from one to twenty miles or more, to which the sufferers can themselves make no sort of reply.

48 Solomon, Strategic Camouflage, S. 51. 49 Ebd. 50 Lawrence Corwin, Entwurf für Zeitschriftenartikel, Titel „Tangled Web, wahrscheinlich für The Architectural Forum 1942. Hoover Institution Archives, Edward M. Farmer Papers, Box 1 ([1942]). 51 Vgl. Cha, Humanmimikry, S. 238–239.

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Those who consider defensive concealment unchivalrous can never have visualised the conditions of modern war.52 Solomon führt die Veränderungen in der Kriegstechnik als Argument dafür an, dass auch das Verständnis von ritterlichem Verhalten während eines Krieges überdacht werden müsse. Angesichts riesiger Armeen, die von oben wie Ameisen beobachtet würden und angesichts des Kämpfens auf Distanz, das direkte Begegnungen zwischen den Kombat­ tanten ausschließe, habe die Ritterlichkeit im traditionellen Sinne keine Basis mehr. Der surrealistische Maler Roland Penrose, der während des Zweiten Weltkriegs Camouflage unterrichtete und ein Handbuch dazu verfasste, beschreibt diesen Wandel überspitzend gar als eine Umkehrung bisheriger Ideale. Habe es bisher gegolten, den Gegner durch das Demonstrieren von Stärke einzuschüchtern, sei die Tarnung als Technik der Unsichtbar­ keit die genau umgekehrte Strategie.53 André Carlier, während des Krieges Leiter der fotografischen Sektion einer Flieger­ staffel auf der französischen Seite, hebt in seinem 1921 veröffentlichten Buch über die mi­ litärische Luftfotografie die Hemmungen hervor, die im Hinblick auf Tarnung bestanden. Voller Nationalstolz behauptet er, dass die Kunst der Verschleierung dem französischen Charakter eigentlich zutiefst widerspreche, woraus der französischen Armee zunächst ein Nachteil erwachsen sei. Glücklicherweise aber habe dies dadurch ausgeglichen werden können, dass ab 1915 Künstler, Maler, Bühnenbildner und Bildhauer zusammengerufen worden seien und sich dieses Problems angenommen hätten.54 Im Klartext sagt Carlier da­ mit, dass Camouflage den bisher geltenden Idealen widersprochen habe. Die Beteiligung von Künstler*innen aber adelte und legitimierte die eigentlich abzulehnende „Kunst der Täuschung“ („l’art de la dissimulation“55). Auch in der Ausgabe der Encyclopaedia Britannica von 1922 findet sich ein implizi­ ter Hinweis darauf, dass der moralische Status der Camouflage umstritten war.56 Francis J. C. Wyatt, der Verfasser des Artikels „Military Camouflage“, war von 1916 bis 1918 selbst als Leiter einer britischen Camouflage-Einheit in Frankreich im Einsatz. Er vergleicht die Camouflage mit dem perfekten Verbrechen – allerdings ohne dies unter moralischen Ge­ sichtspunkten zu problematisieren. Es gehe darum, einem potentiellen Ermittler keine Spuren, Hinweise oder Verdachtsmomente zu liefern.

52 Solomon, Strategic Camouflage, S. 50–51. 53 Vgl. Roland Penrose, Home guard manual of camouflage, London 1941, S. 2. 54 Vgl. Carlier, La photographie aérienne pendant la guerre, S. 144. 55 Ebd. 56 Francis J. C. Wyatt, „Military Camouflage“, in: Hugh Chisholm (Hg.), Encyclopaedia Britannica, Cambridge 1922, S. 542–546.

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The processes of successful camouflage are closely analogous to those of successful crime – namely, preliminary reconnaissance, suppression of clues, provision of false clues, variety of method and concealment of the crime itself.57 Das Gefühl, dass die Camouflage unter den militärischen Aufgabenbereichen schlecht be­ leumundet ist, findet sich sogar im Bericht der Royal Engineers, in deren Bereich die Auf­ gabe der Tarnung während des Krieges fiel. Darin ist von negativen Assoziationen die Rede, die mit dem Wort Camouflage verbunden seien und die dazu beitrugen, dass Camoufleure häufig nicht ernst genommen wurden: Another disadvantage is apparent – that of nomenclature. The word Camouflage, associated as it is with dead horses, or pantomine, and of savouring therefore of mystery and special technique, led, often unconsciously, to the adoption of an apathetic or non-serious attitude towards camoufleurs. However, the word has arrived with every appearance of making a long stay.58 Das lässt sich als Abgrenzungsversuch der Ingenieursabteilung von windigen Camouflage­ aktionen lesen, die, so die implizite Aufforderung, bitte nicht mit seriöser Ingenieursarbeit zu verwechseln seien. Obwohl der Grund für die mangelnde Anerkennung hier im Wort Camouflage gesucht wird, zeichnen sich doch Grabenkämpfe um die Deutungshoheit und die wahre Expertise in Sachen Camouflage ab, die in diesem Zusammenhang typisch zu sein scheinen. Es zeigt sich darin ein im Krieg sich verschärfender Diskurs um die gesell­ schaftliche Rolle von Kunst überhaupt, der sich, wie beispielshaft an Solomons Einsatz gezeigt werden kann, im Ersten Weltkrieg abzeichnet, aber auch im Zweiten Weltkrieg wieder virulent wird, wie am Kontext des Chicagoer New Bauhaus und seiner Camoufla­ ge-Aktivitäten verdeutlicht werden soll (Kapitel 3). Trotz des Erfolgs von Solomon sieht sich seine Biografin Somech Philipps schon weni­ ge Jahre nach seinem Tod vor die Aufgabe gestellt, Solomon vor dem Vergessen zu bewah­ ren und sein Werk als für die Malerei seiner Zeit bedeutend zu unterstreichen. „If to-day one cannot place him actually in the top rank of artists, he was one of the most distin­ guished of an earlier decade.“59 Tatsächlich fällt Solomons anachronistischer Traditiona­ lismus, wie die Kunsthistorikerin Jenny Pery beobachtet, mit dem historischen Abstand von heute weniger ins Auge, als dies in den 1930er Jahren der Fall gewesen sein dürfte. Der bis zu seinem Tod 1927 als Maler aktive Solomon, der 1877 an der Royal Academy School sein Malereistudium aufgenommen und zeitweilig die École des Beaux Arts in Paris be­ sucht hatte, blieb auch in den bewegten Zeiten, in denen der Impressionismus und später

57 Ebd., S. 543. 58 G. H. Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918. Camouflage Service, Chatham 1926, S. 112. 59 Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 103.

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modernistische Avantgarden von sich reden machten, dem viktorianischen Stil treu, für den die konservative Royal Academy of Arts stand; deswegen wurden seine Bilder auch als „last efflorescence of the old European academic tradition“60 bezeichnet. Die Kunst der „modernity“ war seiner Ansicht nach das Werk von „poseurs“61, die effekthascherisch das Neue nur um des Neuen willen, als „technical fireworks“62 oder zum Zweck der Selbstinsze­ nierung verfolgten – statt sich um „knowledge and accuracy“63 zu bemühen. Solomon war der Meinung, dass den alten Meistern hinsichtlich der Mittel künstleri­ schen Ausdrucks im Grunde nichts mehr hinzuzufügen sei: „Painting may now be said to have reached its full development“64, schreibt er 1910, als fürchte er schon um den Nieder­ gang der Malerei. Er vergleicht die Malerei mit einer Sprache, die – einmal vollständig ent­ wickelt – durch Veränderungen außerhalb der grammatikalisch zulässigen Kombinatio­ nen unnötig verunreinigt werde. Unnötig sei dies deshalb, weil die Sprache der Kunst auch innerhalb der gesetzten Regeln unendliche Möglichkeiten zur Neukombination und damit zum kreativen Ausdruck biete. Dabei schwingt die Aufforderung mit, Abweichungen nicht „unsanctioned“ durchgehen zu lassen und nicht von gesetzten Standards abzuweichen: There is no end to the possibilities of what is known as imagination – that is, the power to make fresh combinations of existing facts and ideas. But there comes a time when the language, either literary or graphic, in which ideas are clothed may be considered fully developed, and the purity of it must suffer by the introduction of unsanctioned changes or a breaking away from its accepted law. There is, however, ample scope for the manifestation of distinctive personality within its fairly defined boundaries.65 Auf seinen Vergleich künstlerischer Ausdrucksmittel mit den Mitteln der Sprache wird im Zusammenhang mit dem ‚Lesen‘ der Kriegslandschaft durch die Luftaufklärung und ihrer Betrachtungsweise als „open book“66 noch zurückzukommen sein. Aber auch Solo­ mon musste bemerken, dass die neuen Kunstbewegungen, die sich um die „fairly defined boundaries“67 traditioneller Kunst nicht scherten, für viele, vor allem junge Künstler*in­ nen, offensichtlich eine große Anziehungskraft besaßen:

60 Pery, Solomon J. Solomon RA, S. 4. 61 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 70–71. 62 Pery, Solomon J. Solomon RA, S. 5. 63 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 30. 64 Ebd., S. 70. 65 Ebd., S. 69–70. 66 Solomon, Strategic Camouflage, S. 1. 67 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 69–70.

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Unfortunately the young are tempted to imitate these fumisteries – it is so easy – and neglect to equip themselves with the essential qualities by which a working art has been, and always will be, judged, not by the cranks, but by the real lovers of art.68 Mit dieser konservativen Kunstauffassung bleibt Solomon, vor allem aus dem zeitlichen Abstand einer heutigen Perspektive gesehen, gleichsam hinter seiner Zeit zurück, die im Rückblick untrennbar mit dem Beginn der klassischen Moderne und ihrer avantgardisti­ schen Experimente verbunden ist. Betrachtet man seine Bilder heute ohne etwas über ihre Datierung zu wissen, würde man sie vermutlich auf älter schätzen als sie sind. Allerdings liegt das schnell geschwundene Interesse an dem zu Lebzeiten so gefragten Porträtmaler auch in der Natur des Genres begründet, bei dem das Interesse an den Bil­ dern eng mit der mitunter kurzlebigen gesellschaftlichen Bedeutung der dargestellten Pro­ tagonist*innen verbunden ist.69 Porträts werden mehr als andere Kunstwerke im Hinblick auf ihren Informationsgehalt rezipiert. Der dokumentarische Charakter der Bilder wird stärker wahrgenommen, insofern diesen die Fähigkeit zugesprochen wird, authentisch Auskunft über die abgebildeten Personen geben zu können. Dies zeigt sich beispielsweise in der doppelten Archivordnung der National Portrait Gallery in London, die einige von Solomon gemalte Porträts besitzt. Dort sind die Materialien und Bilder nicht nur nach den Nachnamen der Maler*innen sortiert zu finden, sondern zusätzlich auch anhand der Namen der „sitters“, also der Porträtierten. In dieser Ordnung treten die gesammelten Por­ trätgemälde explizit als Abbilder der Dargestellten auf. Den Porträts von Angehörigen der gehobenen bürgerlichen und adeligen Gesellschaft in ihrer aufwendigen Kleidung und in ihren mit Teppichen und Polstermöbeln ausstaffierten Salons oder vor schimmern­ den Blumentapeten, mit denen Solomon seit den 1880er Jahren seinen Lebensunterhalt bestritt, dürfte schon bald nach ihrer Entstehung etwas Altmodisches angehaftet haben. Die Befremdung, mit der man sie, die sich im Selbstverständnis an der jahrhundertealten Tradition der Renaissance orientieren, schon wenige Jahrzehnte nach ihrer Entstehung betrachtete, zeugt nicht allein vom Kommen und Gehen der Moden und vom Wechsel des Zeitgeschmacks. Hier lässt sich vielmehr etwas von der Radikalität des Wandels ablesen, von der „weltgeschichtlichen Umwälzung“70 des Kunstwerks im Zeitalter seiner techni­ schen Reproduzierbarkeit, die Benjamin in den 1930er Jahren diagnostizierte. Aus diesem Grunde, so darf man annehmen, stößt man auf den Namen Solomon J. Solomon eher im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten als Camoufleur als aufgrund seiner Gemälde.71 68 Solomon, zit. nach Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 112. 69 Vgl. Pery, Solomon J. Solomon RA, S. 4. 70 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt am Main 1963, S. 22. 71 Schon in der Biografie von Olga Somech Phillips nimmt das Kapitel über Solomons Arbeit als Camoufleur durch die Wiedergabe längerer Tagebuchpassagen fast die Hälfte der Seiten ein. Einige wenige neuere eng­

Sehen lehren – Solomon als Lehrer für Malerei und Camouflage

Sehen lehren – Solomon als Lehrer für Malerei und Camouflage Aktiv und einflussreich war Solomon besonders als Lehrer, sowohl für Malerei an der Royal Academy of Arts, wo er unter anderem Mitglied des „Board of Education“72 war, als auch durch sein Engagement als Leiter und später als Berater der Londoner Camouflage School. Seine didaktischen Schriften zur Malerei geben ebenso wie die zur Camouflage in ihrer Klarheit und dem erklärenden Charakter ihrer Sprache Aufschluss über die Prinzipien und Überzeugungen, die Solomon seiner Arbeit hier wie dort zugrunde legt. Sie zeichnen sich dabei nicht nur durch einen erklärenden Gestus aus, sondern haben, indem der Autor seine ganz persönlichen Vorgehensweisen und Grundannahmen darlegt und verteidigt, auch einen auffallenden Bekenntnischarakter. Relevant für die vorliegende Studie sind diese Schriften insbesondere wegen der Gegenüberstellung von Malerei und Camouflage, anhand derer sich ein Übertragungsprozess nachvollziehen lässt: Aspekte der zunächst im Bereich der Kunst und Malerei entwickelten Vorgehensweisen und ästhetischen Überzeu­ gungen verknüpfen sich auf unerwartete Weise mit militärischen Strategien. Solomons Lehrbuch über Ölmalerei, The Practice of Oil Painting von 1910, findet bis heute Verbreitung, wie die Existenz einer Neuauflage des Buches als Reprint von 2012 belegt.73 Als Verfechter einer Malerei mit solider handwerklich-maltechnischer Grundla­ ge gibt Solomon Anleitungen zum Erlernen malerischer und zeichnerischer Fertigkeiten: „The whole project of this volume is to combat the careless craftsmanship which is too com­ mon, and is detrimental to the work of any painter, however gifted“74. An dieser program­ matischen Erklärung im Vorwort des Buches ist der kämpferische Gestus bemerkenswert. Wenige Jahre bevor Solomon sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldete, gab es für ihn einen anderen Gegner, gegen den er erbittert kämpfte: „careless craftsmanship“ in der Malerei. Die kriegerische Formulierung lässt etwas erahnen von der grundlegen­ den Verunsicherung, die von den nachhaltigen Erschütterungen der Tradition durch die avantgardistischen Kunstbewegungen ausgingen. Für Solomon galt es etwas Erhabenes zu verteidigen. In The Practice of Oil Painting betont er den gesellschaftlichen Wert einer allgemeinen ästhetischen Erziehung nicht nur für Künstler*innen – eine Argumentation, die sich in seinem Einsatz für die gründliche Schulung der Camoufleur*innen wiederfindet. Uner­ müdlich wiederholt er, dass künstlerische Kompetenz für die Entwicklung und das Aufde­ lischsprachige Monografien zum Thema Camouflage beschäftigen sich mit der umstrittenen Rolle Solomons, darunter sind besonders hervorzuheben Rankin, Churchill’s Wizards und Shell, Hide and seek. 72 Das geht aus den Archivunterlagen der Royal Academy of Arts hervor, insbesondere aus den Unterlagen mit der Signatur RAA/PC/6/3/1, die die Versammlungen des Board of Education dokumentieren und offizielle Schreiben zum Vorhaben der Gründung einer neuen Schule, die Malerei, Skulptur und Architektur unter einem Dach vereinen sollte, sowie deren Curricula beinhalten. 73 Vgl. Solomon J. Solomon, The Practice of Oil Painting and Drawing. With a New Introduction by James Gurney, Mineola, New York 2012. 74 Solomon, The Practice of Oil Painting, vii.

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cken von Camouflage unersetzlich sei. Kunst bedeutet für ihn mehr als die Produktion von Gemälden; es geht darum, sehen zu lernen und ein Gespür für Ästhetik zu entwickeln, das dabei helfe, die Welt mit kritischen Augen zu betrachten: „A knowledge, however intimate, of one craft alone is but a poor equipment for a painter, to whom a critical taste in all things is of the highest importance.“75 So empfiehlt er dem Bildungsministerium grundlegende Prinzipien der Ästhetik als Standard im allgemeinen Schulunterricht einzuführen: At school we should have been taught its elements, for it [the science of aesthetics] should form part of the curriculum at every school, high or low. The Minister of Education who desires to leave a solid ground to the country’s material and intellectual welfare might, I respectfully submit, consider this suggestion.76 Solomon präsentiert sich mit The Practice of Oil Painting als Pädagoge, der seine Erfahrun­ gen als Lehrer an der Royal Academy in eine systematische Form bringt, um diese sowohl für „Art students“ als auch für „Art teachers“ verfügbar zu machen.77 Er erklärt, worauf es bei der Konstruktion einer Figur ankomme, wie man einen Kopf, Arme und Beine zeich­ ne, führt aus, wie mit Licht und Schatten umzugehen sei, was es bei der Wahl der Farben und Materialien zu beachten gelte und gibt schrittweise Übungsanleitungen für das Er­ lernen dieser malerischen Grundlagen. Im Hinblick auf seine späteren Überlegungen zur Camouflage sind insbesondere seine Erläuterungen zum Herstellen des Eindrucks von Räumlichkeit auf dem Papier oder der Leinwand von Interesse. Denn während Solomon sich als Lehrer für Malerei darum bemüht, zu erklären, wie dreidimensionale Objekte in das zweidimensionale Medium der Mal- oder Zeichenunterlage zu überführen sind, ope­ riert die Camouflage gewissermaßen in umgekehrter Weise: Dreidimensionale Objekte sollen auf einer Fotografie oder für den direkten Beobachter unsichtbar werden, indem sie optisch als Flächen erscheinen. In einem 1916 verfassten Manuskript zur militärischen Tarnung bezeichnet Solomon dies als eine Umkehrung der Prinzipien der Natur, mit de­ nen der Maler so vertraut sei: „By reversing nature’s lighting and by eliminating shadow, flatness results.“78 Bevor die von Solomon herausgearbeiteten Prinzipien der Camouflage genauer in den Blick genommen werden, sollen im Folgenden zunächst einige seiner sozusagen komple­ mentären Überlegungen und praktischen Anleitungen zu der Frage vorgestellt werden, wie der Eindruck von Plastizität und Tiefe eines Objekts auf der Malfläche erzeugt werden kann. Malen und zeichnen basieren für Solomon unbedingt auf dem genauen Betrach­ ten des Objekts. In diesem Sinne bedeutet zeichnen lernen zunächst einmal sehen lernen. 75 Ebd., S. 263. 76 Ebd., S. 262. 77 Vgl. ebd., vii. 78 Solomon J. Solomon, Visual Deception in Warfare. National Archives, Kew – Air Ministry and Royal Air Force records, AIR/1/530/16/12/89 (April 1916), hier: S. 2.

Sehen lehren – Solomon als Lehrer für Malerei und Camouflage

Der spätere Camoufleur warnt davor, sich auf den Eindruck des ersten Blicks zu verlassen – dieser sei meist trügerisch. „The moral influence of our first stated impressions, hurried and ill-considered as they thus must be, is so great that we never entirely free ourselves from it“79. Er wendet sich folglich gegen das „blocking in“80, eine Methode des Bildaufbaus, bei der im ersten Schritt die gesamte Figur grob und schnell skizziert wird. Dabei geht es um mehr als nur um eine zeichnerische Methodenfrage. Die schnellen Striche stellen in Solomons Augen ein moralisches Problem dar und stehen für eine verantwortungs­ lose Nachlässigkeit in der Betrachtung des Objekts und in der Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung. Daher gelte es grundsätzlich dem eigenen ersten Eindruck zu misstrauen und von Anfang an genauer hinzusehen. Nur so könnten Künstler*innen sich gegen folgenreiche Fehleinschätzungen wappnen, von denen sie sich hinterher nie­ mals wieder gänzlich befreien könnten. Malerei zu studieren heißt zu lernen, der eigenen Wahrnehmung mit kritischer Aufmerksamkeit zu begegnen – im Wissen darum, dass diese Verzerrungen durch die Perspektive automatisch ausgleicht oder sich von Gewohnheit, Er­ wartungen und Emotionen beeinflussen lässt. Der erste Eindruck muss hinterfragt werden, um mit den Sehgewohnheiten zu brechen, die dafür sorgen, dass wir uns ein ‚Bild machen‘, in dem wir gefangen bleiben. Um die Subjektivität und Variabilität der Wahrnehmung zu betonen, beruft Solomon sich auf Joshua Reynolds, einen Maler des 18. Jahrhunderts und Gründer der Royal Academy of Arts, der besonders für seine Porträts und kunsttheoretischen Überlegungen be­ kannt war. Solomon zitiert Reynolds sowohl in seinem Lehrbuch für Malerei als auch in dem über Camouflage.81 Sir Joshua Reynolds says so wisely ‚that the eye sees no more than it knows,’ and we take no more from the world than we take into it. Accordingly, to discern the finer characteristics, we must ourselves reach a degree of refinement or we shall fail to recognize it in others.82 Der hier Reynolds zugeschriebene Satz vollzieht eine Dynamisierung und regelrechte Um­ kehrung der epistemologischen Grundkonstellation, die davon ausgeht, dass man etwas besonders dann weiß, wenn man es gesehen hat. Etwas ‚mit eigenen Augen‘ gesehen zu haben, bürgt für den Wahrheitsgehalt einer Aussage oder eines Sachverhalts. In der oben zitierten Aussage allerdings verkehrt sich diese Beziehung, wodurch sich eine wechselsei­ tige Dynamisierung herstellt: Wissen und Sehen bedingen einander. 79 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 21. 80 Ebd. 81 Der Wortlaut unterscheidet sich dabei leicht: so heißt es in The Practice of Oil Painting: „the eye sees no more than it knows“ (S. 52) und in Strategic Camouflage: „the eye only sees what it knows“ (S.53). Bei beiden Passagen fehlt leider eine Belegstelle. 82 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 52.

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In seinen beiden Lehrbüchern, dem für Malerei und dem für Camouflage, verweist So­ lomon mit Bezug auf Reynolds auf das schöpferische Moment der Wahrnehmung. Das ge­ malte Bild ist Ausweis der persönlichen Sichtweise der Künstlerin und lässt etwas von der Ausprägung ihrer Beobachtungsgabe erkennen. Sie kann nur malen, was sie gesehen hat. Ebenso nimmt die Betrachterin auf einem Bild nur wahr, was sie schon kennt. Diese Dyna­ mik prägt in besonderer Weise den Umgang mit militärischen Luftfotografien, deren kom­ petente Lektüre ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem Aussehen der aufgenommenen Landschaften aus der ungewohnten Luftperspektive erfordert. Bemerkenswert ist, dass Solomon das Bonmot Reynolds auf den beiden so unterschiedlichen Erfahrungsfeldern der Malerei wie der Camouflage bestätigt findet. Dabei handelt es sich doch um höchst unterschiedliche Auslegungen: Im Fall des Malereilehrbuchs werden die Schüler*innen mit dieser Formulierung dazu aufgefordert, ihre Umwelt und ihre Mitmenschen genau zu beobachten, um deren Charakteristika im Bild wiedergeben zu können.83 Im Fall der Camouflage ist es das Wissen um das Aussehen der Welt von oben, also die imaginative Kraft zu einem Perspektivwechsel, der es erst möglich macht, die Bedeutung einer Luftfo­ tografie zu erschließen.84 In beiden Fällen steht ein Bild zwischen Betrachter und Realität und macht die Subjektivität der Wahrnehmung deutlich. Hinter der Aufforderung, den eigenen ersten Eindruck stets zu hinterfragen, steht der bildtheoretische Ansatz, den Solomon folgendermaßen formuliert: „Every factor in your work should have its counterpart in fact.“85 Dem Auge kommt in dieser Konstellation eine Mittlerfunktion zwischen der Realität, den „facts“, und der mit dem Zeichenstift reprodu­ zierenden Hand zu: „Practise your hand to reproduce what your eye sees without any devi­ ation from the facts.“86 Die wahrgenommene Realität wird über die Bewegung der Hand ins Medium der Zeichnung oder der Malerei übersetzt. In diesem Übertragungsprozess ent­ steht die plane Repräsentation des in der Realität räumlichen Gegenstands auf der Malflä­ che. Was allerdings dabei als „fact“ gelten darf, liegt nicht auf der Hand und fällt auch nicht unbedingt von alleine ins Auge. Vielmehr empfiehlt Solomon seinen Schüler*innen, die Augen nahezu zu schließen, um auf diese Weise den Raum zu ermitteln, den das Objekt vor seinem Hintergrund einnimmt. „My eyes remained always nearly closed. I was redu­ cing the round object to the flat – that is to say, to the spaces occupied by its parts on the background.“87 Der Sehsinn muss durch die halb geschlossenen Augen gleichsam hinters Licht geführt werden, um „facts“ in den Blick zu nehmen, die unter alltäglichen Sehbedin­ gungen nicht wahrgenommen werden: das räumlich-proportionale Verhältnis des Objekts zu seinem Hintergrund, „[…] every […] object […] covers a definite space on its background

83 Vgl. ebd. 84 Vgl. Solomon, Strategic Camouflage, S. 53. 85 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 22. 86 Ebd., S. 21. 87 Ebd., S. 23.

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from any one given point of view.“88 Diesem Hintergrund, nämlich der Fläche, die aus einer bestimmten Perspektive vom Objekt verdeckt wird, kommt dabei eine besondere Rolle zu: Von dieser Fläche ausgehend entwickelt Solomon die Kontur des Objektes, das er zeich­ nen möchte. Um ein Objekt zu zeichnen, ist demnach nicht nur das Objekt selbst relevant, sondern auch seine räumliche Beziehung zum Hintergrund und zur Betrachterposition. Das Objekt wird nicht als eine von ihrer Umgebung losgelöste Entität wahrgenommen, sondern entscheidend auch dadurch charakterisiert, dass und wie es den Blick auf sein Dahinter verdeckt. Solomon empfiehlt zu Übungszwecken ein flaches viereckiges Objekt hinter das Ob­ jekt zu platzieren, in seinem beschriebenen Beispielfall hinter ein Pferdemodell aus Gips.89 Dies gebe eine räumliche Orientierung und helfe dabei, sich auf die Kontur des Objektes, auf „the patterns left by the white cast [gemeint ist das Gipsmodell] on the background“90, zu konzentrieren. Ähnlich wie die Kontur eines Objekts in verzerrter Form als Schatten sichtbar wird, wird die Kontur hier aus der Perspektive des zeichnenden Betrachters ima­ giniert. Der Maler betont an dieser Stelle schon, was ihn als Camoufleur unter anderen Vorzeichen beschäftigen wird – wie stark Figur und Grund sich gegenseitig beeinflussen: The tone of the setting or background is as much affected by the main object as that object is affected in tone by its setting. They act and react on each other, and the subtle differences thus brought about make all the difference in the quality of your drawing or painting.91 Der Blick durch die halb geschlossenen Augen, den er für das Erfassen der räumlichen Ausdehnung des Objekts empfiehlt, soll dabei helfen, sich auf die Kontur zu konzentrieren, und sich nicht durch die räumliche Struktur, durch Linien und Schattierungen innerhalb des Objekts verwirren zu lassen.92 Licht und Schatten93 nun lassen das so konturierte Objekt im nächsten Schritt plastisch erscheinen, denn sie seien dafür verantwortlich, den Eindruck des Massiven, Räumlichen, den „sense of the solid“94 innerhalb eines Bildes her­ zustellen. Solomon geht davon aus, dass ein Grundwissen über das plastische Modellieren von Oberflächenstrukturen auf einem Bild in der Zunft allgemein verbreitet sei. Über die her­ ausragende Bedeutung des Wissens über das Licht und die optischen Gesetze aber seien sich selbst die meisten Maler*innen nicht im Klaren: 88 Ebd., S. 22. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 22–23. 91 Ebd., S. 65. 92 Vgl. ebd., S. 29. 93 Dem Thema „Light and Shade“ ist ein ganzes Kapitel gewidmet, ebd., S. 59–65. 94 Ebd., S. 59.

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The elementary principles of chiaroscuro are now patent to all artistically cultivated minds, and my readers, I feel sure, understand them up to a point. The distinction between definite light and marked shadow is sufficiently obvious; but that a painter’s modelling is due almost entirely to the knowledge, and a capacity to use that knowledge, of tone relations is not generally appreciated.95 Er weist hier auf die „tone relations“ hin, denen er später auch bei der Interpretation der Luftfotografie als „relative tone values“96 eine große Bedeutung zuschreibt. Während diese bei der zeichnerischen und malerischen Bildkonzeption für die plastische Gestaltung des Bildes sorgen, erlauben sie in umgekehrter Logik bei der Betrachtung einer Fotografie Rückschlüsse auf die Struktur der fotografierten Objekte. Auch wo in der Realität keine di­ rekten, klar umrissenen Schatten sichtbar seien, bestimmten die diffusen Schattierungen innerhalb der Oberflächenstrukturen das Bild eines Objekts und erzeugten den Eindruck der Räumlichkeit. Auch um den richtigen Umgang mit Licht und Schatten zu erlernen, rät Solomon zu der bereits genannten Methode der halb geschlossenen Augen. Indem man die Augen langsam immer enger zusammenkneife, ließen sich die hellsten Flächen eines Objekts ermitteln. Denn was am hellsten sei, sei auch dann noch wahrnehmbar, wenn bei fast geschlossenen Augen alles andere im Dunkel verschwinde. […] there is one unfailing method by which the relation of all the light and shaded surfaces can be distinguished, and that is, by nearly closing the eyes when examining the model or subjects under observation.97 Bei dieser Anleitung fällt Solomons Wortwahl ins Auge: Das Objekt, das es zu zeichnen gilt, steht „under observation“ und wird „untersucht“ („when examining“). Grundlage einer na­ turalistischen Malerei, die ihre Darstellungen durch Schattierungen plastisch modelliert und so die Illusion von Räumlichkeit produziert, ist ein besonderer Wahrnehmungsmo­ dus. Die von Solomon vorgeschlagene Form der Wahrnehmung lässt sich als analytische Betrachtungsweise beschreiben. Unabdingbar dafür ist ein Wissen darüber, dass das ins Auge fallende reflektierte Licht für das Bild, das sich im Kopf von den Dingen der Welt formt, ausschlaggebend ist. Der Herstellung des gemalten Bildes geht eine aufmerksame Analyse der Bildwerdung der Realität im Wahrnehmungsapparat des Menschen voraus. Für die Bildgestaltung des Malers gilt es entsprechend, die Lichteffekte zu untersuchen, nachzuvollziehen und mit Farbe auf der Malfläche durch Hell-Dunkel-Tönungen einen

95 Ebd. 96 Solomon, Strategic Camouflage, S. 6. 97 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 62.

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Effekt herzustellen, der dem der Reflektionen von Objekten in der Realität möglichst ähn­ lich ist. Das Wissen darüber, wie Bilder von der Realität entstehen, erwies 1914 seine Übertrag­ barkeit auf die aktuelle Kriegsführung. In seinem für das Militär verfassten Bericht über „Deception in Warfare“ beschreibt Solomon die Tarnung als ein Umkehren natürlicher Vor­ gänge. Der Bericht liegt als Manuskript mit handschriftlichen Anmerkungen und Skizzen vor und enthält zudem einen Briefwechsel, in dem Colonel James Edmonds, Engineer-inChief, mehrere Mitglieder des General Staff um ihre Einschätzungen zur Bedeutung von Solomons Überlegungen bittet. Diese Papiere befinden sich in den britischen National Archives in Kew, wo sie als Teil der Air Ministry and Royal Air Force records aufbewahrt werden. Edmonds initiiert den Briefwechsel am 2. April 1916, indem er Solomons Schrift, die dieser ihm selbst übergeben hatte, mit empfehlenden Worten weiterleitet: „Parts of it are excellent, especially those relating to shadows and color. The issue of it with a little edi­ ting and a few additions would, I think, be of service“98. Die Antworten, die er erhält, sind allerdings etwas verhaltener. Einer der Angeschriebenen kommentiert folgendermaßen: Lt. col. Solomon’s notes are very interesting, but I cannot believe they are practical. In any case officers in the front line will hardly have time to study them. The conditions do not admit of these artistic refinements.99 Schließlich einigt man sich darauf, die Schrift lediglich unter den Chefingenieuren zu verbreiten. Dass Solomons Überlegungen von einigen als zu künstlerisch für den Krieg eingestuft werden, verwundert nicht. Denn Solomon betont immer wieder den Bezug der Camouflage zur Malerei und macht deutlich, dass er die spezifische Expertise von Ma­ ler*innen als für den Krieg unverzichtbar ansieht. Er erklärt in dem Manuskript, inwiefern der Umgang mit Licht und Schatten bei der Tarnung eine Umkehrung der Prinzipien sei, auf denen die Malerei aufbaue: Knowledge of light and shade is one of the first principles in the art of concealment. When there is no direct sunlight, light falls upon the upper surface of objects. Their sides that is those planes receding from the source of light are much lower in tone (darker) and no real light reaches the under planes. They are the darkest. It is by the variations of light and shadow (often very delicate) we recognise that an object is solid, and is detached from its background. These are the means the painter mainly uses to give a sense of roundness, solidity and detachment, to all that he paints. By reversing natures lighting and by eliminating shadow, flatness results.100

98 Edmonds, James als handschriftliche Notiz zu: Solomon, Visual Deception in Warfare. 99 Handschriftliche Notiz, Name des Verfassers nicht lesbar, in: Solomon, Visual Deception in Warfare. 100 Ebd., S. 2.

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Die Erklärung für die Entstehung des dreidimensionalen Eindrucks von einem Ob­ jekt stimmt mit dem überein, was er 1910 in The Practice of Oil Painting darlegt. Erweitert wird diese hier um den Schritt der Invertierung des Prinzips, mit dem sich ein flächiger Eindruck herstellen lasse. Der flächige Eindruck sorgt dafür, dass insbesondere auf einer Fotografie abgelichtete Objekte kaum als solche erkennbar werden. Eine Skizze in Solo­ mons Tarnungsreport (Tafel IV, S. 284) illustriert das Prinzip der Invertierung. Der obere Quader ist als Objekt „under normal light“ dargestellt: Seine obere Seite ist also am hells­ ten und der Sockel, der im Schatten liegt, auch zeichnerisch am dunkelsten schattiert. Die zweite Zeichnung zeigt dasselbe Objekt mit einer umgekehrten Hell-Dunkel-Schraffierung, bei dem die dem Licht zugewandte obere Seite dunkel bemalt ist und der im Schatten liegende Sockel hell – „nature’s lighting reversed“. In einer dritten Skizze (Tafel V, S. 285) visualisiert Solomon das von ihm erhoffte Ergebnis des bemalten Quaders unter normalen Lichtbedingungen: Alles erscheint im selben Ton, ist dadurch schlechter erkennbar und wirkt weniger plastisch. Solomon macht spezifische Kenntnisse aus der Mal- und Zeichenkunst zur Wissensba­ sis, die systematisch für die militärische Tarnung nutzbar gemacht werden soll. Insofern leuchtet es auch ein, dass er das Zeichnen im Zusammenhang mit Camouflage als einen Denkprozess („process of thought“101) bezeichnet, der besonders exakt sei und auf der Grundlage von logischen Prinzipien funktioniere. Diese Art von Denken ist eng mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen verbunden. Im Rahmen seiner Überlegungen zur Ca­ mouflage unterstreicht Solomon, dass die mit dem Zeichnen erlernten Fähigkeiten dem geübten Maler im umgekehrten Prozess dabei helfen, zu erkennen, ob es sich um illusio­ nistische Tricks handelt, die ein dreidimensionales Objekt vorspiegeln, wo sich in Wirk­ lichkeit nur eine gemalte Fläche befindet. There is no process of thought more exacting or logical than drawing. […] no one who has not passed much of his life in the use of line, tone, and shadow, to produce effects of solidity on a flat surface – such as artistic use of them will give – could possibly cope with the tricks and devices here employed to neutralise the sense of bulk.102 Künstler*innen beherrschten durch jahrelange Übung ihre Ausdrucksmittel perfekt und seien durch ihre Expertise in der Lage, mit Linien und Schatten Mitteilungen zu machen und Bedeutungen zu generieren. Ebendiese Fähigkeit ermögliche es umgekehrt auch, drei­ dimensionalen Objekten optisch ihre räumliche Erscheinung zu nehmen. Es ist deutlich geworden, dass Solomon in der Camouflage einen wichtigen Beitrag der Kunst zum Krieg sah. Er argumentiert in mehreren Schriften explizit dafür, dass Menschen 101 Solomon, Strategic Camouflage, S. 11. 102 Ebd.

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mit einer künstlerischen Vorbildung für den Einsatz im modernen Krieg besonders geeig­ net sind, da sie unabdingbare Kompetenzen sowohl für die Gestaltung von Tarnungsmaß­ nahmen als auch für die Auswertung von Luftfotografien mitbringen. Solomon verweist dabei in erster Linie auf deren durch Beobachtung geschulten Sehsinn, auf genaue Kennt­ nisse der visuellen Effekte von Licht und Schatten und auf die Übung im malerischen Modellieren eines räumlichen Eindrucks auf der Malfläche durch Hell-Dunkel-Schattie­ rungen. Welches Verständnis von Kunst aber zeigt sich in der Debatte um Camouflage, wie sie von Solomon geführt wird? Welche Rolle und Funktion wird der Kunst in der kom­ plexen Gemengelage zwischen Geniekunst, Kriegsdesign, und militärischem Kuriosum zugeschrieben? Durch die Betonung der aus der Malerei gewonnen Kompetenzen kritisierte Solomon den Umgang mit der Visualität des Kriegsgeräts und der Uniformen, wie er ihn zu Beginn des Krieges praktiziert sah – so zum Beispiel in einem Leserbrief an die Zeitung The Times vom November 1915: To detach a figure from its background the painter has only to put a touch a tone darker or lighter than any in its setting to effect it. The cap now worn detaches the men in this way from almost any setting and affords a most excellent target for the enemy marksman.103 Die Gestaltung der Soldatenmütze also folgt durch ihre dunkle Farbgebung, ohne dass dies bewusst oder beabsichtigt ist, dem malerischen Prinzip, ein Objekt durch eine dunklere Farbgebung optisch von seinem Hintergrund abzusetzen. Indem Solomon die Realität als eine Bildkomposition analysiert, macht er sich ein neues militärisches Verfahren zueigen: den Kriegsschauplatz nach den visuellen Kriterien seiner Bildwerdung zu betrachten und zu gestalten. Allerdings macht Solomon vielfach die Erfahrung, dass er mit diesen Überlegungen weder Gehör noch Anerkennung findet. Dabei, so glaubt er zu wissen, wären die Künstler*innen des Landes nur zu gerne bereit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Dienst des Krieges zu stellen. Artists, I feel certain, would be only too pleased to place their knowledge and experience at the disposal of the authorities. They discuss these matters among themselves, but so far there is no useful connecting link between the makers of the arts of peace and the designers of the munitions of war.104 Solomon beklagt die fehlende Zusammenarbeit zwischen den „makers of the arts of ­peace“, zu denen erst sich zweifelsohne selbst zählt, und den „designers of the munitions of war“. 103 Solomon J. Solomon, Uniform and Colour. To the Editor of the Times, in: The Times, 27.1.1915, S. 9, hier: S. 9. 104 Ebd.

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Das Wissen und die Fähigkeiten dieser beiden gesellschaftlichen Akteur*innen, so seine Forderung, müssten zusammen gebracht werden, um gemeinsam die richtige visuelle Ge­ staltung des Krieges zu bewerkstelligen. Was passiert aber mit den „makers of the arts of peace“, wenn sie durch ihre Tätigkeit im Bereich der Camouflage zu „desginers of the munitions of war“ werden? Solomon bezieht sich in seiner Argumentation auf ein Kunstverständnis, das vor allem die Virtuosität einer realistischen perspektivischen Darstellung betont und davon ausgeht, dass ihr ein eindeutiges Zeichensystem zugrunde liegt – in expliziter Abgrenzung von den Avantgarde-Bewegungen seiner Zeit. Über „the new movement“ äußert er sich offen abfällig: Those who have something to say and are capable of saying it are not found in the new movement. That has been left to the feeble few whose work on legitimate and logical lines is so undistinguished and ordinary that they find by standing on their head they can attract attention from the poseurs amongst artistic amateurs.105 In diesem bissigen Kommentar offenbart Solomon seinen eindimensionalen Begriff von Kunst überdeutlich: Er postuliert ein eindeutiges Bezugsverhältnis von etwas, das vermit­ telt werden soll („something to say“) zu der Ausdrucksfähigkeit, das heißt der Fähigkeit zum richtigen Einsatz der künstlerischen Ausdrucksmittel („capable of saying it“). Den Umgang mit „legitimate and logical lines“ verstünden die Maler*innen der Avantgarden dagegen keineswegs, was sie durch Effekthascherei zu kaschieren versuchten. Kunst folgt in dieser engen Definition einem festgelegten Regelset, das die legitimierten Ausdrucks­ mittel bestimmt. Solomons Schreiben über Camouflage und seine militärische Praxis aber offen­ baren einen davon abweichenden, weniger eindeutig auf bestimmte Ausdrucks- und Darstellungsmittel festgelegten Zugang zu künstlerischem Arbeiten. Denn obwohl er im Bereich der militärischen Tarnung so unermüdlich die Rolle der Kunst betont, liegt sein Fokus dabei weniger auf dem Kunstwerk, sondern in erster Linie auf der Ausei­ nandersetzung mit künstlerischer Praxis und den Kompetenzen, die daraus erwach­ sen. Das durch die Kunst geschulte und verfremdete Sehen, eine besondere Wahrneh­ mung der Realität, erlangt in diesem Zusammenhang eine größere Bedeutung als das in einem bestimmten Stil und mit einer bestimmten Virtuosität ausgeführte Werk. Es gehört nicht gerade zum klassischen Diskursrepertoire eines Mitglieds der konserva­ tiven Royal Academy of Arts, die Anwendungsbezüge von Kunst zu betonen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwar die Bestrebung von Designern, Kunsthandwerk und De­ sign als gleichberechtigte Abteilungen in die Royal Academy of Arts aufzunehmen.106 105 Solomon, zit. nach: Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 112. 106 Vgl. T. J. Cobden-Sanderson, The Arts and Crafts Movement, London 1905.

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Sie appellierten an die Akademie, allen Künsten, also auch den „decorative arts“ und den „arts in application“ das Recht einzuräumen, in Ausstellungen mit ihren Arbeiten vertre­ ten zu sein.107 Das Unterfangen war zu dem Zeitpunkt aber erfolglos: Die angewandten Künste waren nicht mit dem Kunstverständnis der Royal Academy of Arts vereinbar. Erst 1936 führte die Royal Academy of Arts die Auszeichnung Royal Designer for Industry ein und zollte damit auch den anwendungsbezogenen Künsten Anerkennung – wenn sie auch schon 1916 und 1928 für zwei Ausstellungen mit der Arts and Crafts Exhibition Society kooperiert hatte.108 Solomon dagegen – obwohl aktives Akademiemitglied – lässt in der Kriegssituation einen erweiterten und anwendungsbezogenen Kunstbegriff erkennen. Er sieht angesichts des technisierten Krieges die Kunst sogar in der patriotischen Pflicht, da einzuspringen, wo durch den Gebrauch von Luftfotografien ein verändertes visuelles Gefüge entstanden ist. Denn wo es durch die Allgegenwart der Kamera in der Kriegsland­ schaft keine natürliche Deckung durch die „Hindernisse in der Gegend“109 mehr gibt, die für Clausewitz noch den begrenzten Raum des Kriegstheaters definierten, sieht Solomon die Kunst, „Art alone“, in besonderer Verantwortung, „men and intentions“ durch Tricks und durch das optische Verbergen zu schützen.110 Bei der Camouflage legt Solomon, geschult durch seine Herkunft von der Porträtma­ lerei, einen besonderen Fokus auf den menschlichen Körper. Dieser sei markant, in der Umgebung leicht erkennbar und dadurch besonders gefährdet, wie Solomon warnend zu bedenken gibt.111 The Practice of Oil Painting gibt in mehreren Kapiteln detaillierte Auskunft über die Formen der menschlichen Gestalt und ihre Darstellung: Die Propor­ tionen des Körpers in seiner Gesamtheit, Ausprägung von Kopf, Armen, Händen und Beinen werden ausführlich behandelt. Dem Gesicht und seinem Ausdruck widmet der Porträtmaler naturgemäß besondere Aufmerksamkeit. Dessen erstaunlich konstante Er­ kennbarkeit liege in den Proportionen begründet, die die Individualität eines Gesichtes ausmachten:

107 So fasst es die Arts and Crafts Exhibition Society, die sich in Reaktion auf die Ablehnung durch die Royal Academy of Arts gründete, anlässlich ihres fünfzigjährigen Jubiläums 1936 rückblickend in ihrem Ausstel­ lungskatalog zusammen: The Arts and Crafts Exhibition Society, Catalogue of the Fiftieth Anniversary Exhibition: held at the Royal Academy Piccadilly W.1. Royal Academy of Arts Collections, Exhibition Catalogues (1938), hier: S. 7, https://www.royalacademy.org.uk/art-artists/exhibition-catalogue/1938-arts-and-crafts-exhi­ bition-society-50th-anniversary-exhibition, 5.2.2018. 108 Vgl. die entsprechenden Kataloge im Archiv der Royal Academy of Arts: The Arts and Crafts Exhibition So­ ciety, Catalogue of the Eleventh Exhibition. Royal Academy of Arts Collections, Exhibition Catalogues (1916), http://www.racollection.org.uk/ixbin/indexplus?record=VOL6203&_IXp=1&_IXz=1, 5.2.2018; The Arts and Crafts Exhibition Society, Catalogue of the Fourteenth Exhibition: at the Galleries of the Royal Academy. Royal Academy of Arts Collections, Exhibition Catalogues (1928), http://www.racollection.org.uk/ixbin/in­ dexplus?record=VOL6199&_IXp=1&_IXz=1, 5.2.2018. 109 Clausewitz, Vom Kriege, S. 500. 110 Solomon, Strategic Camouflage, S. 1. 111 Vgl. Solomon, Visual Deception in Warfare, S. 12.

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Proportion is the chief factor in the making of individuality, and this is clearly seen in those large photographic groups of schools and crowded collections of people where the individual heads are sometimes not larger than a small pea and are still easily identified. Subtleties of drawing or light and shade can hardly affect the heads so reduced, so that obviously the individuality of each head is almost entirely due to the relative proportions of the features.112 Der Besonderheit dieser Gestalt begegnet der Porträtmaler in seinen Überlegungen zur Tarnung neben textlichen Erklärungen auch unter Verwendung seines angestammten Me­ diums, des gezeichneten Bildes (Tafeln VI und VII , S. 286 und 287). In zwei Skizzen führt Solomon seine Idee vor Augen, auf welche Weise die charakteristische Form von Gesicht und Kopf so modifiziert werden kann, dass sie als solche nicht mehr erkennbar ist. Die Skizzen illustrieren, was er auf der textlichen Ebene erläutert: It is important to do all one can to obliterate what is otherwise so easily distinguishable. The shape of a man. If men had two elastic bands sewn over the peak of their caps, one to be drawn over the top by which branches, bracken, or so on could be held on firmly, and in the other grass and green cover the face and break across the shoulder line, men would become part of their landscape setting, and not recognizable.113 Den optischen Effekt dieser Tarnungsmaßnahme zeigen die beiden Zeichnungen. Das erste Bild (Tafel VI) scheint auf den ersten Blick die Skizze zu einem gewöhnlichen Soldatenpor­ trät zu sein. Zu sehen ist das Gesicht eines jungen Mannes mit einer soldatischen Schirm­ mütze. Kragen und Schulterklappen der Uniform sind anskizziert. Die handschriftliche Bildunterschrift „Elastic bands around the peak of cap“114 macht deutlich, dass die Mütze des Uniformierten mit elastischen Bändern umwickelt ist – in der Zeichnung führen zwei Striche von direkt oberhalb des Schirmes einmal um die Mütze herum. An dieser Stelle haben Uniformmützen häufig verzierende Kordeln. Das hier dargestellte Band aber erfüllt vor allem die im Zitat beschriebene andere Funktion, wie auf der zweiten Zeichnung (Tafel VII) zu sehen ist. Die Bildunterschrift erklärt, wozu die elastischen Bänder in dieser Darstel­ lung benutzt wurden: „Foliage and grass held in elastic bands“115. Laub und Gras sind so mit dem Band befestigt, dass der Kopf bis zu den Schultern von Ästen und Blättern umrahmt ist. Haarartig fallen lange Gräser ins Gesicht und verdecken Ohren, Gesichtskontur und Hals. Dadurch, dass die Gewächse zu allen Seiten abstehen, weist der dargestellte Körper im Kontrast zum deutlich konturierten Soldaten des ersten Bildes keine klare Kontur auf.

112 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 51. 113 Solomon, Visual Deception in Warfare, 12. 114 Ebd., S. 15. 115 Ebd., S. 16.

Oberflächenstruktur und Reflexionsfaktor – einen Raum aus Licht und Schatten schaffen

In der Nutzung der Materialien aus der Natur wird mit einfachen Mitteln umgesetzt, was Solomon fordert: Menschen müssen, um nicht erkannt zu werden, Teil der umgeben­ den Landschaft werden. Vermutlich könnte die eher ablehnende Haltung, mit der von Seiten des General Staff auf die Schrift reagiert wurde, nicht zuletzt dieser seltsamen und gänzlich unsoldatisch anmutenden Kopfbedeckung geschuldet sein. Hier prallen ganz offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen von Soldatentum und Krieg aufeinander. Solomon scheint dies zu ahnen, wenn er zu Beginn des Textes zu bedenken gibt: The orderly mind must also be warned that cleanness and uniformity are enemies to invisibility. The rigid outline, the clear cut and the neat, pure unbroken colour are virtues indoors, they have no place under the sky of modern warfare except to attract and invite attention.116 Tatsächlich tut sich in diesen beiden Sätzen ein Grundkonflikt auf, der die Entwicklung der Camouflage unter Beteiligung Solomons begleitet. Als Künstler versuchte er davon zu überzeugen, dass spezifische malerische Kompetenzen für einige Bereiche des neuartigen Krieges als essentiell einzustufen seien. Häufig stieß er dabei auf den Widerstand des „or­ derly mind“, dem er hier antizipierend mit einer Verteidigung seiner Herangehensweise begegnet. Das Sehen, das Solomon seinen Camouflageschüler*innen wie zuvor den ange­ henden Maler*innen beizubringen versucht, ist eine spezifische Betrachtungsweise: das lesende Sehen. Dabei lotet Solomon in der Auseinandersetzung mit Camouflage die Funk­ tionen und Wirkweisen gerade des Mediums aus, das die Malerei zur Neubestimmung ihres Feldes zwang, aber eben auch die Struktur des Kriegsschauplatzes grundlegend veränderte: Die Möglichkeiten der Fotografie forderten ein grundsätzliches Umdenken.

Oberflächenstruktur und Reflexionsfaktor – einen Raum aus Licht und Schatten schaffen So gewinnt die Fotografie für das spezifische künstlerische Sehen, das Solomon propagier­ te, eine zunehmend wichtige Rolle. Als Maler wie als Camoufleur pflegte Solomon ein am­ bivalentes Verhältnis zur Kamera. Einerseits warnte er in seinem 1910 erschienenen Lehr­ buch The Practice of Oil Painting seine Schüler davor, unverantwortlich, gar „illegitimately“ von der Kamera Gebrauch zu machen, wie dies einige Maler täten, und sich auf diese Weise zu einem „real camera fiend“117, einem von der Kamera Besessenen zu entwickeln. Richtig eingesetzt aber seien Fotografien auch für die Malerei ein durchaus lehrreiches Hilfsmittel. Dies treffe besonders auf die Grundstrukturen der visuellen Bildwerdung von Objekten zu.

116 Ebd., S. 1. 117 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 64.

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Dort nämlich gelte es, etwas über die Strukturen, Tönungen und Schattierungen einzelner Materialien zu erfahren, die auf Fotografien besonders deutlich sichtbar hervorträten. But if you would learn the importance of tone value in your art, study photographs […] from this point of view, and you will learn many a good lesson both about textures, modelling, and aerial perspective.118 Aus der Betrachtung von Fotografien könne man lernen, dass die Struktur und Schattie­ rung der helleren und dunkleren Elemente eines Objekts für dessen Erkennbarkeit im Bild wichtiger sei als die Farbe. Dies führe die monochrome Fotografie mit ihren feinen Grauschattierungen besonders klar vor Augen: „Colour plays no part here, but tone alone is sufficient to render with the utmost fidelity such textures in the photographic print.“119 Damit bezieht Solomon sich auf die Licht absorbierenden und reflektierenden Qualitäten, die Materialien, je nach der Struktur ihrer Oberflächen, spezifisch voneinander unterschei­ den: eine glatte Oberflächenstruktur, wie etwa die der Seide, reflektiert das Licht mehr oder weniger ungebrochen, während sich das Licht in einer stärker strukturierten Ober­ fläche, wie beispielsweise bei Samt, in den hervorstehenden Stofffasern vielfach bricht. So kommt es, dass das Licht dort stärker absorbiert wird und der dichtmaschige Stoff folglich auf Schwarz-Weiß-Fotografien dunkler erscheint. In seiner Eröffnungsrede anlässlich einer Ausstellungseröffnung der Royal Photographic Society of Great Britain betont Solomon 1922 generös den großen Nutzen, den die Fotografie für die Malerei habe: there is another aspect of photography which can be of great use to the art student. Photography can quicken his perception of corresponding tone values, which in photography, of course, are simplified to monochrome.120 Der Fotografie sei es unter anderem gelungen, bisher mit bloßem Auge nicht sichtbare Vorgänge in der Natur, wie etwa die schnellen Bewegungen von Tieren, mit der Kamera im Bild festzuhalten, so dass nun auch das Auge – durch Fotos geschult – in der Lage sei, „the secret of that movement in Nature“ 121 zu erkennen. Die Fotografie deckt in diesem Sinne nicht nur Realitäten auf, die für das bloße Auge nicht sichtbar gewesen wären, sondern lehrt das Auge auch, diese – mit dem neu erworbenen Wissen über ihre Existenz – selbst zu erkennen. Denn, so Solomon mit dem schon erwähnten Bezug auf Sir Joshua Reynolds und sein Diktum: das Auge sehe nur, was es wisse.122 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Solomon J. Solomon, The Sixty-Seventh Annual Exhibition. Address by Mr. Solomon J. Solomon, R. A., in: The Photographic Journal, 62 (October 1922), S. 417–421, hier: S. 418. 121 Ebd., S. 417. 122 Vgl. ebd.

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6 „Relative Tone Values“, Legende zur Luftfotografie von Ypern (Abb. 7), Grafik aus: Solomon J. Solomon, Strategic Camouflage, London 1920, S. 6

Die Beobachtung relativer Tonwerte von Oberflächen, die den angehenden Maler*in­ nen in Solomons Unterricht helfen sollte, auf die Lichteigenschaften der von ihnen ge­ zeichneten Objekte zu achten, fand auch Eingang in Solomons Lektüre militärischer Luftfotografien. Hieran lässt sich der Übertragungsvorgang von Maltechniken auf die Lektüre militärischer Luftfotografien nachzeichnen. Im Malunterricht hilft die Fotografie den Schüler*innen Solomons, die optischen Struktureigenschaften ihrer Objekte präzise wahrnehmen und entsprechend zeichnen zu lernen. Für den Camouflage-Schüler gilt es, anhand der auf den Luftfotografien erkennbaren Strukturen die Kriegslandschaft mit all ihren Gegebenheiten zurückzuverfolgen und zu identifizieren. Monochrom ist dabei nicht nur die Fotografie, sondern weitgehend auch die Aufsicht des Piloten, für den aus der Höhe Farben kaum mehr erkennbar sind. An deren Stelle tritt die Struktur, die erst aus der Höhe sichtbar wird. In Strategic Camouflage findet sich dazu eine bemerkenswerte Grafik (Abb. 6), die die „relative tone values“123 verschiedener Strukturen anzeigt, die auf militärischen Luftfoto­ grafien besonders häufig auftauchen, beispielsweise Gras, Felder, Straßen, Bäume, Beton. Dabei ist das durch die vielen dicht beieinander stehenden einzelnen Halme stark struk­ 123 Solomon, Strategic Camouflage, S. 6.

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turierte Gras, das in sich unzählige Schatten wirft, einem dunkleren Ton zugeordnet als der eher glatte Beton. Die kreisrunde Grafik ist wie ein Farbenkreis mit im Uhrzeigersinn graduell dunkler werdenden Tönen angelegt und soll erklärtermaßen zukünftigen readers, also den Analyst*innen von Luftfotografien, mit ihrer Anleitung zum Dechiffrieren der verschiedenen Grauabstufungen zur Orientierung dienen.124 Umgekehrt legt Solomon damit auch den Camoufleur*innen gewissermaßen ihre Farbpalette vor, aus der sie sich bei der Gestaltung der Kriegslandschaft bedienen sol­ len. Die Natur gebe dem „ingenious ground-artist“ eine ganze Farbskala „to play with“125 an die Hand. Die Aufgabe der Camoufleur*innen bestehe darin, mit den Elementen der Umgebung sogenannte „ground pictures“126 zu gestalten. Dazu gibt Solomon folgende Handlungsanweisung: Man entferne innerhalb eines grasbewachsenen Areals das Gras von einer Fläche in der Form des Daches eines Hauses, damit diese auf einem Foto hel­ ler erscheint. Die daran angrenzende Grasfläche färbe man dunkel, um den Eindruck des Schattens eines Hauses hervorzurufen: „it would be possible to make a ground picture of a house casting its shadow on the ground.“127 Solomon muss allerdings einräumen, dass diese Art von bildlicher Gestaltung des Bodens wahrscheinlich lediglich einen unachtsa­ men reader täuschen kann. Das Experiment ist also eher als kunstdidaktische Übung zur anschaulichen Erprobung der Materialeigenschaften zu verstehen. Die Grautöne der Kreisgrafik fassen die Ergebnisse von intensiven Untersuchungen und Vor-Ort-Begehungen schematisch zusammen. Solomon hatte sich die Mühe gemacht, einige Luftaufnahmen gemeinsam mit einer Klasse von Offizieren vor Ort mit den entspre­ chenden aufgenommenen Arealen abzugleichen und die auf der Fotografie erkennbaren Farbtöne in Bezug zu den beobachteten Gegebenheiten zu setzen. Dieses gewissenhafte und aufwendige Vorgehen begründet Solomon mit einer Beobachtung, die er beim Studi­ um einer Luftfotografie des zerstörten Wahrzeichens der belgischen Stadt Ypern, der im 13. Jahrhundert erbauten historischen Tuchhalle, machte (Abb. 7). Das Foto ist in Strategic Camouflage auf derselben Seite direkt oberhalb der Grafik abgedruckt – so kommt dieser die Funktion einer Legende zur kompetenten Lektüre des Fotos zu. Bei der Betrachtung der Luftaufnahme sei ihm eine irreführende Koinzidenz aufgefallen: Eine mit Gras bewach­ sene Fläche stelle sich auf der Fotografie mit exakt demselben dunklen Grauton dar, der auch eine Betonfläche repräsentiere, die im Schatten des noch stehen gebliebenen Turms der Tuchhalle liege. Die Betonfläche müsste von ihrer Oberflächenstruktur her eigent­ lich heller erscheinen als die Rasenfläche – die unterschiedliche Beleuchtung der beiden jedoch gleicht die unterschiedlichen Reflexionsintensitäten aus, mit gleicher Helligkeit als Resultat. Diese Uneindeutigkeit, die die Interpretation des Fotos erschwert, forderte

124 Vgl. ebd. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 7. 127 Ebd., S. 6.

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7 Luftfotografie von Ypern 1915, in: Solomon, Strategic Camouflage, S. 6

Solomons Forschergeist offensichtlich so sehr heraus, dass er sich an den Versuch einer grundlegenden Entschlüsselung der Zuordnung von Tonwerten zu Landschaftselementen machte: […] it should be possible to determine the nature of any particular crop or growth at all times of the year, in any reasonably clear photograph, taken from a height of twelve to fourteen thousand feet.128 Er unternimmt den Versuch, den Farbabstufungen und Formen, die auf der Fotografie zu sehen sind, in der Legende die entsprechenden Gegebenheiten der Landschaft zuzu­ ordnen. Dafür unterteilt er die Oberfläche der Landschaft in „textured, light-absorbent surfaces“ wie Gras, Büsche oder Bäume und „non-light-absorbent surfaces“ (Abb. 6) wie Straßen, Beton, bearbeitete Erde oder Brachflächen. Um die Fotografien und damit die Kriegslandschaft lesbar zu machen, konstruiert Solomon eine möglichst eindeutige, ein­ dimensionale und sehr detaillierte Zeichenbeziehung zwischen den Grautönen des Fotos 128 Ebd.

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und der Materialität der Kriegslandschaft. Auffallend ist hier und bei der Erläuterung der Logik des Schattens der dezidierte Lehrbuchgestus: Ein System von Zeichenverhältnis­ sen wird erklärt und damit etabliert – und dies wiederholt mit dem Hinweis auf weitere Kriege, für die diese Art von Wissen nützlich werden kann. So suggeriert Solomon Über­ sichtlichkeit und Verstehbarkeit für das als beängstigend komplex erfahrene und prin­ zipiell chaotische Kriegsgeschehen. Bemerkenswert ist an seiner Herangehensweise im Umgang mit den Luftfotografien die tatsächliche Ortsbegehung, die zeigt, wie sehr ihm die Erklärungsbedürftigkeit von Fotografien bewusst war. Die im Krieg zunehmend krypti­ sche und bedrohliche Landschaft und ihr Abbild werden so im wahrsten Sinne des Wortes zusammengebracht: Das gemeinschaftliche analysierende Betrachten des Schauplatzes aus geringer Distanz dient dem Prozess des Vergewisserns und Verifizierens. Der Pers­ pektivwechsel weg von der Fotografie, die den Blick von oben einnimmt – hin zu einem ebenerdigen Blickwinkel mitten in den Trümmern der Kriegslandschaft ist notwendig, um dem Bild Bedeutung zu verleihen und sein schwierig deutbares Referenzsystem in der Realität zu verankern. Dabei gilt der Blick von oben doch eigentlich bis zum heutigen Drohnenzeitalter als die privilegierte Perspektive, die mehr zu wissen verspricht als der ebenerdige Standpunkt. Sie zeichne sich dadurch aus, dass sie – wie der französische Philosoph Michel de C ­ erteau 1988 noch über seine Erfahrung des Blickens aus der 110. Etage des New Yorker World Trade Center auf die Stadt unter ihm schreiben konnte – „die Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen lässt“129. Der Blick von oben macht die Stadt in de Certeaus bildlichem Sprachgebrauch nicht nur zu einem sichtbaren Text; er bedient sich auch der Theatermetaphorik, indem sich die Stadt, wie er schreibt, als „Bühne aus Beton, Stahl und Glas“130 dem „Sonnenauge“131 oder „Blick eines Gottes“132 darbiete. Bühnen- ebenso wie Textmetaphorik entsprechen hier der Vision von Erkenntnis durch Distanz. Denn das blickende Subjekt sei in der Höhe „nicht mehr von Straßen umschlungen“133 wie in einem Labyrinth und nicht mehr selbst Teil der bewegli­ chen Strukturen. Doch ist – dies zeigt Solomons Erfahrung im Ersten Weltkrieg – der panop­ tische, als göttlich imaginierte Blick von oben nicht immer so allwissend wie erträumt und häufig idealisierend beschrieben. Auch wenn von oben unbestreitbar Dinge sichtbar wer­ den, die der ebenerdigen Perspektive verborgen bleiben, ist die Luftperspektive zumindest ergänzungs- und erklärungsbedürftig: Denn von oben können die Dinge, wie Solomon mit Blick auf die Luftfotografien feststellen muss, mitunter bis zur Unkenntlichkeit verfremdet aussehen, so dass es gilt, sich wieder in die Niederungen der ebenerdigen Perspektive zu begeben, um zu verstehen und deuten zu können, was die Luftfotografie zu sehen gibt. 129 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 181. 130 Ebd., S. 179. 131 Ebd., S. 180. 132 Ebd. 133 Ebd.

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Dies entspricht Solomons Vorgehen, der die auch von ihm gerne idealisierte Pers­ pektive des „all-seeing, all-recording eye in the sky“134 an Bord des Aufklärungsflugzeugs verlässt, um die Oberflächenstrukturen der abgelichteten Erde genauer in den Blick zu nehmen. Diese Praxis steht in gewisser Weise im Widerspruch zu seiner eigenen Annahme, dass die nackte Landschaft („bare landscape“) keine Geheimnisse vor dem Bick der Luft­ aufklärung verbergen könne.135 Denn wie schon gezeigt hält Solomon doch eine Begehung für notwendig, um die von ihm auf der Luftaufnahme festgestellten Uneindeutigkeiten – sowohl dem Medium der Fotografie als auch der Distanz und der ungewohnten Höhenper­ spektive geschuldet – auszuräumen. Erst im Wechsel von Distanz und Nähe erschließt sich die Fotografie und wird die Landschaft lesbar. Der analysierende Betrachter muss also zumindest temporär die fotografische Perspek­ tive des Überblicks aufgeben. De Certeau bringt den mit dem Abstieg, den er vielsagend als „Sturz des Ikarus“136 bezeichnet, verbundenen Widerwillen zum Ausdruck, indem er im Anschluss an seine Eloge des Blicks auf Manhattan von dem monumentalen Wolkenkrat­ zer aus zunächst scheinbar missmutig fragt:137 „Muß man danach wieder in den finsteren Raum zurückfallen, in dem sich die Massen bewegen, die – sichtbar von oben – dort unten nicht sehen?“138 Mit der Frage schlägt de Certeau sich allerdings nur scheinbar auf die Seite der panoptischen Perspektive. In einem zweiten Schritt dekonstruiert er diese als trügerische „Fiktion des Wissens“ 139, die den „Willen, die Stadt zu sehen“140 begleite, die durch die große Distanz aber dem Tun der Menschen fremd werde. De Certeau richtet sein Interesse auf die Praktiken der Benutzer*innen der Stadt, deren Aktivitäten sich, obwohl sichtbar, dem panoptischen Blick doch in ihrem Kern entziehen. Was die Bewohner*innen der Stadt tun, erschöpft sich nicht in dem sichtbaren Oberflä­ chenbild, das ihr Tun von oben betrachtet abgibt. Sie entwerfen durch das Gehen, das sich nie in völlig geordneten Bahnen vollzieht, eine andere Stadt, die die panoptische Instanz nicht fassen kann. „Die Panorama-Stadt ist ein ‚theoretisches‘ (das heißt visuelles) Trug­ bild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustandekommt.“141 De Certeau postuliert damit in seinem nicht geometrischen Raumver­ ständnis die Existenz von Dimensionen innerhalb des Stadtraums, die über die Sichtbar­ keit hinausgehen und für die lesende Betrachtungsweise eines „Voyeur-Gott[es]“142 nicht 134 Solomon, The Secret of German Camouflage, S. 2. 135 Vgl. ebd. 136 Certeau, Kunst des Handelns, S. 180. 137 Vgl. zur Luftperspektive in der Kunst: Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick der Kunst, Ber­ lin 1997, insbesondere zur Perspektive des Ikarus, S. 9–64. „Die panoramatische Überschau und der Sturzflug des Blicks, die Fernsicht und der Blick aufs Detail, all das verwirrt den perspektivischen Raum mit seinem Zentrum und seinem Horizont.“ S. 17. 138 Certeau, Kunst des Handelns, S. 180. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 181. 141 Ebd. 142 Ebd.

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durchschaubar sind. Er begreift den Raum als charakterisiert durch das Netz alltäglicher Praktiken und Beziehungen zwischen den Menschen, die sich in ihm bewegen. Das Gehen der Fußgänger*innen versteht er als einen autonomen Akt der Aneignung des Raumes, der nicht durch Stadtplanung und Architektur kontrolliert werden kann – und den Raum als ein Beziehungsgeflecht erst realisiert.143 In der kunsthistorischen Forschung hat der Blick von oben, die mit dieser Perspektive verbundene Ästhetik sowie die erkenntnistheoretischen Implikationen dieser machtvol­ len Position des Überblicks vielfache Beachtung gefunden.144 In Solomons militärischer Praxis entsteht aus dem Wechsel von Boden- und Luftperspektive und aus dem Anspruch, die beiden Perspektiven zusammenzuführen, ein neues Bild. Für Solomon ist klar, dass das Durchschreiten der von oben betrachteten Landschaft diese erst eindeutig lesbar macht. Das Auge springt dabei hin und her zwischen dem Foto der Luftperspektive und der aus der Nähe betrachteten Landschaft. Für die camouflierte Kriegslandschaft stellt sich das Problem in besonderer Weise: Luftbilder sind ergänzungs- und erklärungsbedürftig. Dass Solomon der Interpretation von Luftaufnahmen in seinem Buch über Camouflage so viel Platz einräumt, soll hier als ein Beleg dafür gewertet werden, dass die Camouflage als innovative Militärtechnik des Visuellen eine Neubestimmung des Verhältnisses von Luft­ aufnahme und Kriegslandschaft erzwingt. Zum besseren Verständnis des für Solomons Fotolektüre relevanten komplexen Ver­ hältnisses zwischen Luftaufnahme und Oberflächenstrukturen des Kriegsschauplatzes sollen an dieser Stelle die Überlegungen eines Physikers und Zeitgenossen Solomons herangezogen werden. Matthew Luckiesh, der sich als Direktor des Lighting Research Laboratory bei der Firma General Electrics in den USA mit den Funktionsweisen des Sehens beschäftigte, bezeichnet die spezifische Eigenschaft von Materialien, das Licht zu reflektie­ ren, in seiner 1922 erschienenen Monografie über optische Täuschungen als deren „reflecti­ on-factor“145, der besonders aus großer Höhe betrachtet bestimmte Dinge hell und andere dunkel erscheinen lasse. Die während des zweiten Weltkriegs entstandene US-amerikani­ sche Broschüre Precautionary Camouflage, auf die sich die Einleitung des vorliegenden Buches bezieht (Abb. 1, S. 12), macht Luckieshs Erkenntnisse zur Grundlage für Camouflage und übernimmt einige der als Illustrationen von ihm in den 1920er Jahren für sein Buch Visual Illusions. Their Causes, Characteristics, and Applications angefertigten optischen Täuschungen.146 Luckiesh war an einer Erforschung des Sehens interessiert, da er diesem eine große Anfälligkeit für Illusionen attestierte:

143 Vgl. ebd., S. 189. 144 Vgl. u. a. Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick der Kunst; Alpers, The Art of Describing; Asendorf, Super-Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. 145 Matthew Luckiesh, Visual Illusions. Their Causes, Characteristics, and Applications 1922, S. 236. 146 Vgl. U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, S. 55–56.

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In general, we do not see things as they are or as they are related to each other; that is, the intellect does not correctly interpret the deliverances of the visual sense, although sometimes the optical mechanism of the eyes is directly responsible for the illusion. […] Our past experiences, associations, desires, demands, imaginings, and other more or less obscure influences create illusions.147 Analog zur vom Künstler Solomon angefertigten Kreisgrafik, die die Schattierungen unter­ schiedlicher Oberflächenmaterialien bildlich darstellt, liefert der Physiker eine Tabelle mit Angaben zum durchschnittlichen Reflexionsfaktor unterschiedlicher Oberflächen, die empi­ risch ermittelt wurden, und begegnet so mit der Verlässlichkeit physikalischer Erkenntnisse den Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten der Fotolektüre: „From thousands of measurements made by viewing vertically downward during summer and fall from various altitudes.“148 So haben beispielsweise bewaldete Landschaften durch die vielen Schatten der einzel­ nen Bäume einen geringen Reflexionsfaktor und erscheinen daher auf der Luftfotografie besonders dunkel, wogegen unbewirtschaftete trockene Bereiche das Licht stark reflek­ tierten und dadurch als helle Fläche erscheinen.149 Für die Arbeitsweise der Camouflage heißt das, dass auch hier nicht nur zweidimensionale Bemalungen verwendet werden sollten, sondern mit Materialien gearbeitet werden muss, die ein gewisses plastisches Re­ lief erzeugen. Aus demselben Grund kommt Schatten bei der Erkennbarkeit von Objekten auf Luftfotografien eine besondere Rolle zu. Dies betonen sowohl Luckiesh als auch So­ lomon. „The camoufleur worries over shadows more than any aspect generally“150, heißt es in Luckieshs Kapitel zu Camouflage. Solomon bezeichnet Schatten im Zusammenhang mit Camouflage als „tell-tale“151, also verräterisch und daher bei der Konstruktion von Unterständen und anderen größeren Kriegsobjekten von Anfang an zu vermeiden oder in ihrer Form zu verändern. Luckiesh erklärt den Effekt der Struktur auf die lichtreflektierenden Qualitäten eines Stoffes am Beispiel von Samt und betont dabei wie Solomon, dass die Struktur des Mate­ rials für seine Reflexionsqualität ausschlaggebend ist und die Farbe nur sekundär: If a piece of cardboard is dyed with the same black dye as that used to dye the velvet, it will diffusely reflect 2 or 3 per cent of the incident light, but the black velvet will reflect no more than 0.5 per cent. The velvet fibers provide many light traps and cast many shadows which reduce the relative brightness or reflection-factor far below that of the flat cardboard.152 147 Luckiesh, Visual Illusions, S. 1. 148 Ebd., S. 236. 149 Vgl. ebd., S. 236–240. 150 Ebd., S. 215. 151 Solomon, Strategic Camouflage, S. 22. 152 Luckiesh, Visual Illusions, S. 237.

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Der zahlenmäßig ermittelbare Reflexionsfaktor ist Ergebnis von Luckieshs Projekt, das Sehen mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erforschen, sowie Sichtbarkeit und Erkenn­ barkeit messbar zu machen. Fotografie fungiert sowohl in Solomons Herangehensweise als auch in Luckieshs Erläuterungen zur Camouflage als Medium und Hilfsmittel, das in der Lage ist, die relativen Tonwerte anzuzeigen, die Dingen aufgrund ihrer Oberflächen­ strukturen zukommen und die diese Dinge erst als solche erkennbar werden lassen. Beeindruckt zeigt Luckiesh sich beim Blick auf die Erde nicht nur vom Effekt der un­ terschiedlichen Strukturen, die aus der Sicht von einem Flugzeug aus oder auf einer Luft­ fotografie auf der Erdoberfläche erkennbar werden. Es ergibt sich aus dieser Perspektive des übergroßen Abstands, der das Sichtfeld enorm vergrößert, auch eine weitere, eine übergeordnete Struktur: Die einzelnen Landschaftselemente wie Felder, Wiesen, Straßen, Waldstücke oder Gewässer werden in ihrer Gruppierung als aneinander angrenzende Flä­ chen sichtbar. „On looking down upon the earth one is impressed with the definite types of areas such as cultivated fields, woods, barren ground and water.“153 Was normalerweise aus der ebenerdigen Perspektive als Landschaft mit Vorder- und Hintergrund wahrgenom­ men werden kann, erschient aus der in der Fotografie dokumentierten Vogelperspektive als Anordnung nebeneinander liegender und, wie Luckiesh beobachtet, erstaunlich klar voneinander abgegrenzter Areale. Bemerkenswert ist das sprachliche Bild, mit dem Luckiesh den Eindruck von Flachheit umschreibt, der sich aus der Höhe beim Blick auf die Landschaft ergibt: One of the most conspicuous aspects of the earth’s surface is its texture. From great heights it appears flat, that is, rolling land is ironed out and the general contour of the ground is flattened. However, the element of texture always remains. This is the chief reason for the extensive use of netting on which dyed raffia, foliage, pieces of colored cloth, etc., are tied. Such network has concealed many guns, headquarters, ammunition dumps, communication trenches, roadways, etc.154 Luckiesh beschreibt diesen Effekt im Kontext seiner Analyse des Stellenwerts optischer Täuschungen für die Camouflage des Ersten Weltkriegs. Dabei kann seine nüchtern wissen­ schaftliche Sprache eine gewisse Faszination für den ungewöhnlichen Blick auf die Erde von oben kaum verbergen. Nicht zufällig bezieht er sich auf sanft geschwungenes Land („rolling land“), das flach ausgebügelt wird. Im Englischen verleiht das Verb „to iron“ dem Vorgang des Ausbügelns zusätzlich noch eine machtvollere Konnotation als das deutsche „bügeln“, da das Wort „iron“ als Substantiv bekanntlich auch das Metall bezeichnet, das zum Bügeln benutzt wird. Luckiesh evoziert mit dem „rolling land“ eine spezifische Vor­ stellung von Landschaft als räumlich mehrschichtiger Komposition von Erhöhungen und 153 Ebd., S. 236. 154 Ebd., S. 218.

Oberflächenstruktur und Reflexionsfaktor – einen Raum aus Licht und Schatten schaffen

Senken, Vorder- und Hintergrund, die maßgeblich durch die Frontalansichten und schrä­ gen Draufsichten der Landschaftsmalerei geprägt ist. Mit dem Bild des Ausbügelns bringt Luckiesh dem gegenüber umso deutlicher zum Ausdruck, wie drastisch in der von ihm vorgeschlagenen Betrachtungsweise mit dieser malerischen Vorstellung von dem, was eine Landschaft ist, gebrochen wird: Das wohlkomponierte Ensemble des geschwunge­ nen Lands wird mit einem heißen Eisen ausgebügelt und aus der Flugzeugperspektive in ein reines Nebeneinander von Flächen unterschiedlicher Strukturen transformiert, denen der Physiker durchschnittliche Reflexionswerte zuordnen kann. Kein Wunder, dass dieser Paradigmenwechsel im Wechsel der Perspektive auf Landschaften gleichzeitig Faszinati­ on und Befremden auslöste – berührte er doch einen zentralen Aspekt im Verhältnis zur Landschaft überhaupt. Die traditionelle Landschaftsauffassung war von der ebenerdigen Perspektive geprägt. Durch die Landschaftsmalerei kam ihr ein hoher kultureller Stellenwert zu. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen des Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858–1918) aufschlussreich. Simmel stellt 1913 in einem kurzen kulturphilosophischen Aufsatz die Frage, was grundsätzlich eine Landschaft ausmache: In Bezug auf ein „Stück Erdboden“ nämlich könne man nicht unbedingt von einer Landschaft sprechen, solange lediglich „allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden“155. Damit spricht er das Nebeneinander an, das sich für Luckiesh bei der Landschaftsbetrachtung aus der Luftperspektive zwangsläufig ergibt. Aus der Perspektive von Simmels „Philosophie der Landschaft“ scheint der Blick aus dem Militärflugzeug, der dem Auge nichts als aneinander angrenzende Flächen bietet, das Se­ hen und Erkennen einer Landschaft mit ihren kulturellen Implikationen zu verunmögli­ chen. Eine Landschaft sehen wir, so schreibt Simmel, wenn wir die Natur nicht in ihren einzelnen Teilen betrachten, sondern sie als ein Ganzes anschauen: „Unser Bewusstsein muss ein Ganzes, Einheitliches haben, über die Elemente hinweg, an ihre Sonderbedeu­ tungen nicht gebunden und aus ihnen nicht mechanisch zusammengesetzt – das erst ist die Landschaft.“156 Landschaft lässt sich für Simmel über die Landschaftsmalerei verstehen: Eine Malerin wählt einzelne Elemente aus und fügt sie zum Ganzen des Bildes zusammen, ebenso wie es jemand innerlich tut, der in einem Stück Natur eine Landschaft erkennt oder – akti­ vischer formuliert – ein Stück Natur im Modus des Betrachtens zu einer Landschaft zu­ sammenfügt. Landschaft sei nicht mit Natur zu verwechseln, sondern sei „ja selbst schon ein geistiges Gebilde“157, das die Betrachtende in ihrer Wahrnehmung bilde und forme: „sie lebt nur durch die Vereinheitlichungskraft der Seele“158. Dieser Entstehungsvorgang

155 Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 635. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 643. 158 Ebd.

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der Landschaft in den Augen der Betrachtenden, die erst Einheit und einen Sinnzusam­ menhang stifteten, sei eine Vorstufe zur Malerei und entspringe derselben schöpferischen menschlichen Kraft, die auch die Kunst hervorbringe. Eben das, was der Künstler tut: daß er aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit faßt und formt, die nun ihren Sinn in sich selbst findet und die weltverbindenden Fäden abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft hat – eben dies tun wir in niederem, weniger prinzipiellen Maße, in fragmentarischer, grenzunsicherer Art, sobald wir statt einer Wiese und eines Hauses und eines Baches und eines Wolkenzuges nun eine ‚Landschaft‘ schauen.159 Das erkennende Subjekt trennt aus dem „endlosen Zusammenhang der Dinge“160 ein Stück heraus, begrenzt es durch die Setzung seines Wahrnehmungsausschnitts und stif­ tet so einen Zusammenhang. Der Blick des Physikers, der die Lichtwerte einer Landschaft analysiert, um damit ein wissenschaftliches Fundament für die militärische Luftaufklä­ rung ebenso wie für die Camouflage zu schaffen, kann in diesem Sinne keine Landschaft sehen. Denn er verweigert sich gerade der Zusammenhang stiftenden Wahrnehmung, die sich ihm als trügerisch erwiesen hat. Er hat es sich vielmehr explizit zur Aufgabe gemacht, die wahrgenommene Erdoberfläche in ihre Bestandteile zu zerlegen und auf diesem Weg ­etwas über die einzelnen Wirkweisen – die physikalisch-optischen, die militärtaktischen wie die wahrnehmungspsychologischen – zu erfahren, die sich bei der Betrachtung ent­ falten. Es zeichnet sich hier ab, dass die mit dem Krieg verbundene Landschaftslektüre gegen­ sätzlich zu Simmels Konzept vom betrachtenden Blick, der das Stück Erdboden erst zur Landschaft mache, zu verstehen ist. Die Gründe hierfür sind nicht nur in der physischen Zerstörung der Landschaft zu suchen, sondern auch in der militärischen Betrachtungswei­ se, die nicht zusammensetzend das Ganze im Blick hat, sondern interessegeleitet die Situa­ tion analysiert. Suchend und deutend versucht sie, den taktischen Vorteil, die Falle des Geg­ ners oder die nächste Möglichkeit zur Deckung ausfindig zu machen. In der strategischen, der „teleologisch gerichtete[n]“161 Betrachtungsweise kann derselbe Landstrich, aus dem eine Betrachterin zu Friedenszeiten eine Landschaft formt, zum Kriegsschauplatz werden. Die Komplexität der Wahrnehmung der Kriegslandschaft erschließt sich in einem kurzen Artikel des Gestaltpsychologen und Philosophen Kurt Lewin aus dem Jahr 1917.162 Lewin nutzt hier seine persönlichen Erfahrungen als deutscher Feldartillerist im Ersten

159 160 161 162

Ebd., S. 638. Ebd., S. 635. Ebd., S. 641. Vgl. Kurt Lewin, Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 12 (1917), S. 440–447.

Oberflächenstruktur und Reflexionsfaktor – einen Raum aus Licht und Schatten schaffen

Weltkrieg als Grundlage für seine Phänomenologie der Landschaft. Er betont dabei, dass die Vorstellungen, die eine Betrachterin mit einer bestimmten Landschaft verbindet, ihre Wahrnehmung beeinflussen und prägen. Dies zeige sich besonders deutlich am Kontrast zwischen der Wahrnehmung einer Landschaft im Friedens- und im Kriegszustand. Das Erfahren eines Raumes sei – mehr noch als vom visuellen Eindruck – von seiner Nutzung, seiner Strukturierung und seinen sozialen Bedeutungen wie auch vom erlebenden Subjekt selbst abhängig. So gelte für eine Friedenslandschaft: „Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten.“163 Die Landschaft scheine sich über den Horizont hinaus und relativ unab­ hängig von den Gegebenheiten des Geländes ins Unendliche auszudehnen. Für die Kriegs­ landschaft dagegen gälten andere Gesetze. Nähere sich ein Soldat der Frontzone, verän­ dere sich die gewohnte Art der Wahrnehmung – selbst wenn es sich um ein und dieselbe Landschaft handelt. „Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt.“164 In der Nähe der Front, so beschreibt Lewin seine Erfahrungen, nehme man die Landschaft mit militärisch geprägtem Blick als „gerichtet“165 wahr. Die Landschaft definiere sich in der Wahrnehmung des Einzelnen über ihre Funkti­ onen und die sozialen Regeln, die in ihr gelten. In diesem Sinne zwinge der Krieg der Landschaft seine Struktur auf. Dadurch kenne die Frontlandschaft ein Vorn und Hinten, und zwar ein Vorn und Hinten, das nicht auf den Marschierenden bezogen ist, sondern der Gegend selbst fest zukommt. Es handelt sich auch nicht etwa um das Bewusstsein der nach vorn wachsenden Gefährdung und der schließlichen Unzugänglichkeit, sondern um eine Veränderung der Landschaft selbst. Die Gegend scheint da ‚vorne‘ ein Ende zu haben, dem ein ‚Nichts‘ folgt.166 Das „Nichts“ am Ende der Frontlandschaft wird hier bewusst als eine Wahrnehmungs­ kategorie eingeführt: Es existiert auch unabhängig vom realen Nichts des verwüsteten und unzugänglichen Gebietes zwischen den Gräben der beiden Kriegsparteien an der Westfront des Ersten Weltkrieges, dem so genannten Niemandsland. Lewin beschreibt die Verwandlung als veränderten Status der „phänomenologisch wirkliche[n] Landschaft“167, als eine Eigenschaft, die der Landschaft selbst zukommt. Damit ist die Kriegslandschaft kein gegebener, statischer Raum, in dem der Mensch sich bewegt. Vielmehr stellt sich die Kriegslandschaft als ein dynamisches Beziehungsgeflecht dar. Sie ist ein Raum, der sich in der Beziehung zu den ihn Betrachtenden, sich in ihm Bewegenden entfaltet und sich situativ neu konstituiert. Die Kriegshandlungen schreiben sich in die Landschaft ein und erzeugen bei den Beteiligten veränderte Wahrnehmungsweisen. 163 Ebd., S. 441. 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 440.

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Die hier neben Solomon vorgestellten Autoren der Zeit unmittelbar vor und unmittel­ bar nach dem Ersten Weltkrieg, Luckiesh, Simmel und Lewin, haben mit ihren Schriften entscheidend zur Analyse, Definition und Charakterisierung der Begriffe Friedens- und Kriegslandschaft beigetragen. Sie analysieren die medialen Entstehungs- und Erschei­ nungsformen von Landschaften im Gemälde, in der Fotografie oder in der Luftperspektive aus einem Militärflugzeug. Auf jeweils unterschiedliche Art schreiben sie dabei dem Be­ trachten und der Wahrnehmung eine konstituierende Kraft für die Landschaft zu. Solomon stellt die Lektüre als Betrachtungsmodus in den Mittelpunkt und markiert diese als eine spezifische und neuartige militärische Praxis im Umgang mit Luftfotografien. Luckieshs physikalische Analysen und Messungen können als Fortführung dieser Form von deuten­ dem Lesen verstanden werden, die sich in explizitem Bezug zur militärischen Luftfotogra­ fie herausbildet. Für Lewin seinerseits ist die Deutung von Spezifika der Landschaft unter den Bedingungen des Krieges zentral für das Erfahren der Landschaft aus der Perspektive des Feldartilleristen. Das Lesen bildet sich dabei in Abgrenzung zur als einend beschrei­ benden Betrachtung, wie Simmel sie mit dem Landschaftsbegriff verbindet, heraus. Die Verbindungslinien der Lesbarkeit von Kriegslandschaften und militärischen Fotografien zu anderen Traditionen des Lesens werden im folgenden Kapitel anhand von Solomons Überlegungen nachgezeichnet.

Lesbarkeit – die Physiognomik der Kriegslandschaft Die Lesbarkeit der Kriegslandschaft ist ein zentrales Motiv in Solomons Beschäftigung mit Camouflage. Folgende einleitende Worte stellt er seiner Schrift Strategic Camouflage voran: It [Camouflage] was, in fact the only possible reply to the introduction of aerial reconnaissance; for from that moment the battle-field and the landscape for miles behind it, with every incident, every sign of movement or concentration on it, were an open book to that side whose airmen were armed with the all-seeing, all-recording photographic camera. ‚The other side of the hill‘ no longer existed, and Art alone could screen men and intentions where natural cover failed.168 Solomon konstatiert eine radikale und weitreichende Veränderung des Schlachtfeldes durch die technischen Möglichkeiten seiner Wahrnehmung und Repräsentation. Er postu­ liert eine historische Kehrtwende („from that moment“) durch den militärischen Einsatz von mit Kameras ausgestatteten Flugzeugen und beschreibt die Landschaft aus der Pers­ pektive dieser Kameras als „open book“. Damit wird die Kriegslandschaft zu einer lesbaren Botschaft, einem Komplex von Zeichen – sie kann mit der entsprechenden innovativen 168 Solomon, Strategic Camouflage, S. 1.

Lesbarkeit – die Physiognomik der Kriegslandschaft

Ausrüstung aus der Luft wahrgenommen, analysiert und dechiffriert werden. Landschaft stellt sich nun als ein Zeichensystem dar, das durch die neuen technischen Möglichkei­ ten seines „natural cover“ entkleidet wird. Durch den überlegenen Blick von oben werden die Beschränkungen der ebenerdigen Perspektive überwunden, die vormals verhinderten, dass man „[the] other side of the hill“169 sehen und damit auch ‚lesen‘, das heißt die in die Landschaft eingeschriebenen Bedeutungen, die hinter dem Hügel verborgen lagen, entziffern konnte. Die neu erworbene Möglichkeit des Perspektivwechsels ist entscheidend für die Erwei­ terung des Wissens über den Kriegsschauplatz. Mehr noch, die richtige Wahl der Perspek­ tive ermöglicht sogar prognostisches Zukunftswissen, nämlich die Fähigkeit, „intentions“ zu durchschauen und damit Bewegungen der gegnerischen Armee vorherzusehen. „[…] Art alone could screen men and intentions where natural cover failed“170: Das englische Wort „screen“, hier als Verb im Sinne von ‚abschirmen‘, ‚schützen‘, ‚verdecken‘ gebraucht, ist insbesondere als Substantiv doppeldeutig. Denn der screen hat zwei Seiten: Er ist ein Schirm, der mit seiner inneren Seite vor Blicken schützt. Seine äußere Seite bildet eine Projektionsfläche, auf der etwas gezeigt und abgebildet werden kann – wie eine Kinolein­ wand, auf der wir gerade deswegen so klar etwas zu erkennen vermögen, weil wir nicht hinter sie blicken können.171 Erstaunlicherweise ist das englische Wort „Art“ in dem Zitat mitten im Satz großgeschrieben, als handle es sich um einen Eigennamen oder eine res­ pektvolle Anrede. Deutet schon die Großschreibung etwas über Solomons Kunstverständ­ nis an, spricht aus ihr etwas wie die Hochachtung vor der Wirkmacht genialer Werke? Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich kritisierte dreißig Jahre später die normative konservative Kunstauffassung, die er in der Großschreibung verkörpert sah: „There is no such thing as Art. […] For Art with a capital A has come to be something of a bogey and fetish.“172 Gombrichs Kritik kann wohl mit einiger Berechtigung auf Akteure wie Solomon bezogen werden, der als Mitglied der Royal Academy of Arts einen konservativen Begriff von Kunst vertrat, der er durch das große, gewichtige ‚A‘ eine besondere Würde zu verleihen suchte. Die Rolle, die Solomon der Kunst zuschreibt, ist sowohl eine kompensierende („where na­ tural cover failed“173) als auch eine im Sinne des screen verbergend-gestaltende: Wo die Natur versagt und nicht mehr in der Lage ist, den Menschen zu schützen, greift allein die Kunst („Art alone“174) gestaltend in die Landschaft ein. Die Kamera, „all-seeing, all-recor­ ding“175, ­stilisiert Solomon zu einem bedrohlich omnipotenten Wesen mit gottgleichen 169 Ebd. 170 Ebd. 171 In dieser Weise hat Jacques Lacan seinen Begriff des écran expliziert. Vgl. Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten, Freiburg i. Breisgau 1980, S. 97–99. 172 Ernst H. Gombrich, The Story of Art, London 1950, S. 5. 173 Solomon, Strategic Camouflage, S. 1. 174 Ebd. 175 Ebd.

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Fähigkeiten, das alles registriert und nichts von dem vergisst, was auf der Erdoberfläche geschieht. Solomons Beschreibung der „all-seeing“ Kamera mag dramatisierend, beinahe paranoid, klingen. Festzuhalten ist aber das von Grund auf veränderte Landschafts-, Naturund Kunstverständnis, das sich infolge der neuartigen Kombination von Flugzeug- und Ka­ meratechnik formiert hat: Die Landschaft ist eine lesbare, dechiffrierbare Größe geworden. Um die Neuartigkeit dieser verunsichernden Wahrnehmungskonstellation zu verdeut­ lichen, untersucht die Wissenschaftshistorikerin Hanna Rose Shell in ihrer Abhandlung über Camouflage Handbücher der englischen Scouts-Jugendbewegung aus der Zeit un­ mittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Aus diesem Material arbeitet sie eine Landschafts­ wahrnehmung heraus, in deren Kontext vom geübten Scout einzelne Elemente eindeutig verstanden und interpretiert werden können. Ein Beispiel ist das Pfadfinderhandbuch von 1912, in dem es heißt: „[…] the country is like an open book. Information is there in the form of signs. They only need to be read.“176 Landschaft wird hier als Zeichensystem konstruiert, das sich prinzipiell allen problemlos erschließt, die als fleißige Pfadfinder ihre Hausaufga­ ben gemacht und die Spuren und Zeichen zu deuten gelernt haben. Ein solcher Umgang mit der umgebenden Landschaft basiere – so Shell in ihrer Analy­ se – auf einem Verständnis des Zeichensystems, das von der Annahme ausgehe, dass die äußere Form nicht trügt. Das Objekt in der Welt, sein Äußeres als Referent und ein Zeichen, das es repräsentiere, stünden dieser Auffassung nach in einer zuverlässigen und stabilen Beziehung zueinander.177 Oder anders gesagt: Die Umgebung ist für den Scout, der lernt Spuren zu lesen, ein Buch voller indexikalischer Zeichen, deren Bedeutungen erschlossen werden müssen und können. Das Handbuch listet dazu enzyklopädisch in alphabetischer Reihenfolge unterschiedliche Spuren, „signs“, und deren Bedeutungen auf.178 Beispiels­ weise deute ein plötzliches Auffliegen von Vögeln an einer nicht einsehbaren Stelle, so der Eintrag „Birds“, auf die Präsenz von Menschen an dieser Stelle hin.179 Die Geräusche von fröhlichem Singen und Reden lasse auf die gute Moral einer Truppe schließen.180 Rauch in der Ferne sei ein Zeichen für ein Dorf, oder zumindest für Anwesenheit von Menschen, al­ lerdings nur, falls es sich nicht um eine Gegend handle, in der es häufig Waldbrände gebe.181 Dass hier scheinbar Offensichtliches wie ein geheimer Code gelehrt und zum Nach­ schlagen aufbereitet wird, ist sicherlich zunächst der Tatsache geschuldet, dass das Buch sich an eine besonders junge Leserschaft wendet. Es lässt sich darin aber auch ein Be­ wusstsein dafür erkennen, dass es im Rahmen einer (para)militärischen Betrachtungswei­ se der Umgebung wenig Offensichtliches gibt. Denn entscheidend für das Entdecken von Spuren und Zeichen ist die Art und Weise der Betrachtung. Auch wenn sich das Buch an 176 177 178 179 180 181

H. J. McKenney, Scouts’ Handbook and Instructor, Kansas City 1912, S. 13. Vgl. Shell, Hide and seek, S. 85. Vgl. McKenney, Scouts’ Handbook and Instructor, S. 14–22. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 21.

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Jugendliche richtet und zum spielerischen Lernen und Entdecken anregt, ist der Bezug auf militärische und kriegerische Situationen sehr präsent. Der Fokus richtet sich auf das Ent­ decken von Spuren des ‚Feindes‘. Ein beiläufiger Kommentar an anderer Stelle des Buches deutet darauf hin, dass das Entdecken von Zeichen etwas ist, das tatsächlich erst erlernt werden muss und nicht von jedem beherrscht wird. Was in der Umgebung gesehen werden kann, ist keineswegs offensichtlich: „In remote districts, the ignorance of the average far­ mer regarding the surrounding country is astonishing.“182 Der Bauer, der wohl in vielerlei Hinsicht als ausgewiesener Experte für das von ihm bearbeitete Stück Land gelten darf, wird den Scouts als eine unzuverlässige Quelle präsentiert. Sein Wissen unterscheidet sich fundamental von dem, was den Scouts im Sinne einer militärischen Übung beigebracht wird. Die Vögel, der Rauch oder die singenden Truppen, die der Farmer ebenso wie die Scouts sieht und hört, sind für ihn mit gänzlich anderen Bedeutungen verbunden. Wäh­ rend die genannten Zeichen und ihre Deutungen nicht überraschen können, ist der Eintrag unter „Enemy“ umso bemerkenswerter. Hier werden die Scouts angehalten, dem Feind Anerkennung zu zollen, sollten sie keinerlei lesbare Indikatoren finden können: „When no accurate information regarding the intentions of the enemy can be gained, give him credit for having good sense. He will probably show excellent judgment.“183 Es deutet sich hier gewissermaßen eine Lücke im System an: Bei aller Zuverlässigkeit in der Lesbarkeit der entdeckten Zeichen bedeutet die Tatsache, dass keine Spur entdeckt werden kann, nicht zwingend, dass hier kein Feind unterwegs ist. Solomon bringt die allgegenwärtige Möglichkeit, trotz genauen Beobachtens doch etwas Entscheidendes übersehen zu haben, auf die knappe Formel: „No one can know what he has missed.“184 Die Verlässlichkeit des Sichtbaren, die das Handbuch mittels seiner Instruktionen zu etablieren versucht, lässt sich für Solomon im Kontext eines Krieges, der offensiv mit Strategien des Täuschens und Verbergens operiert, noch weniger aufrechterhalten. Der Künstler und Theoretiker Allan Sekula bezeichnet die Tarnung passenderweise als ein „low-level language game“185, das sich in die Einwertigkeit der in indexikalische Zeichen aufgelösten Interpretation der militärischen Luftfotografien einschlich. Solomon postu­ liert zwar eine Landschaft, die aus der Luftperspektive als „open book“186 gelesen werden kann. Zudem versucht er, allen Täuschungen zum Trotz mit systematischen Zuordnun­ gen unterschiedlicher Grautöne zu unterschiedlichen Landschaftselementen ein ähnlich eindeutiges Zeichensystem zu etablieren. Doch muss all dies an der Uneindeutigkeit der Kriegsrealität mit ihren bewusst eingesetzten strategischen Täuschungen immer wieder scheitern.

182 Ebd., S. 23. 183 Ebd., S. 17. 184 Solomon, Strategic Camouflage, S. 33. 185 Sekula, The Instrumental Image, S. 28. 186 Solomon, Strategic Camouflage, S. 1.

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Als gedanklich-theoretische Vorarbeit für Solomons Konzept einer lesbaren Land­ schaft lässt sich seine Auseinandersetzung mit der im 19. Jahrhundert populären Phy­ siognomik verstehen. Von seiner Biografin Olga Somech Phillips wird der Porträtmaler 1933 als Experte auf dem Gebiet der Physiognomik beschrieben.187 Die Physiognomik geht von einem systematisierbaren Zusammenhang zwischen den äußeren Merkmalen eines Menschen, vor allem seines Gesichts, und seinem inneren Wesen, seinem Charakter, seiner Intelligenz oder seiner sozialen Stellung aus. Damit verbunden ist, insbesondere mit dem Aufkommen der Statistik im 19. Jahrhundert, auch der Versuch, anhand der Phy­ siognomie eines Menschen Prognosen über sein Verhalten zu treffen – zum Beispiel, ob dieser zum Verbrecher wird oder nicht. Diese Art von Pseudowissenschaft, die sich auf die Studien von Johann Caspar Lavater bezog, bildet bekanntermaßen eine wichtige ge­ dankliche Grundlage rassistischer Ideologien.188 Die Physiognomik des 19. Jahrhundert etablierte bestimmte Körpernormen, die abweichende Körper definierten und klassifi­ zierten. Sekula beschreibt dies mit Bezug auf den Einsatz der Fotografie bei der Polizei und der Entwicklung von Verbrecherkarteien. Die Gesichtsphysiognomien von bestimm­ ten ‚verdächtigen‘ Personengruppen wurden in der Polizeikartei fotografisch archiviert und zu Untersuchungsgegenständen gemacht. Hierzu wurden, wie Sekula darlegt, Kopf und Gesicht analytisch in einzelne Segmente wie Stirn, Augen, Ohre, Nase und Kinn auf­ geteilt, denen jeweils charakterliche Bedeutungen zugewiesen wurden. Sekula bezeich­ net diese Interpretation, die sich an Typisierungen orientierte, als einen Akt des Lesens des Gesichts.189 In ähnlicher Weise widmet sich Solomon im Kapitel „Characterisation“ seines Lehr­ werks The Practice of Oil Painting190 dem menschlichen Gesicht und seinen Merkmalen. Er beschäftigt sich darin mit der Frage, wie der Maler einem Gesicht ‚Charakter‘ verlei­ hen könne und konstatiert zu Beginn: „[…] the perfectly symmetrical head is lacking in ‚character‘.“191 Dazu gibt er symmetrische Maße und Proportionen eines Gesichtes an: Ein symmetrisches Gesicht bestehe darin, dass die Abstände vom obersten Teil des Kopfes zu den Brauen, von den Brauen zum unteren Teil der Nase und vom unteren Teil der Nase bis zum Kinn von gleicher Länge seien.192 Ein so bemessenes Gesicht verkörpere die Maße der „cold classic figures“, die für das Malereistudium als Übung zwar hilfreich, im echten Leben aber kaum anzutreffen seien.193 In den kleinen, auf den ersten Blick kaum merklichen Abweichungen von diesem Standard und den Asymmetrien drücke sich in einem ‚echten‘

187 Vgl. Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 110–111. 188 Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig u. a. 1775. 189 Vgl. Allan Sekula, The Body and the Archive, in: October, 39 (1986), S. 3–64, hier: S. 11. 190 Vgl. Solomon, Strategic Camouflage, S. 49–54. 191 Ebd., S. 49. 192 Vgl. ebd. 193 Ebd.

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Gesicht der Charakter einer Person aus. In diesem Sinne kann das menschliche Gesicht ‚gelesen‘ werden, ebenso wie das „open book“194 einer Kriegslandschaft. Solomon ordnet als Anleitung zu dieser Lektüre den Abweichungen vom Standard unterschiedlicher Art jeweils bestimmte Charakterzüge zu und regt seine Schüler*innen dazu an, Lavater oder spätere Physiognomen zu studieren, vor allem aber die eigene Beobachtungsfähigkeit zu schulen und an einer persönlichen Typenbildung zu arbeiten. Solomons im Folgenden zitierte detailreiche Gesichtsvermessung gibt einen anschau­ lichen Eindruck von seinen Überzeugungen als Physiognomiker. Somech Phillips sieht in ihr den Ausweis von Solomons hervorragender Expertise auf dem Gebiet der Physiogno­ mik.195 The eyes set wide apart denote breadth of view. When close together they give a mean look to the face; and when deep-set they are contemplative. The ear will be seen set well back in the head in nearly all really intellectually strong men. Great bulk of jaw, when matched with a well-developed forehead, implies imagination and constructive ability; but when not balanced by these signs of mental development it may indicate brutality and animalism. Sweetness of character is to be discovered in the muscles running under the eye and over the cheak-bone; and the mouth, perhaps more than any other part of the face, is indicative of refinement or the reverse.196 Der Charakter eines Menschen, nicht nur sein momentaner emotionaler Zustand, sei in das Gesicht eingeschrieben – man müsse nur die Indizien richtig zu lesen wissen. Die Kenntnis der von ihm postulierten Bedeutungszusammenhänge im menschlichen Ge­ sicht, die „facial indices of character and expression“197 stuft Solomon als besonders für Porträt­maler*innen unverzichtbares Wissen über die menschliche Natur ein. Ist es doch ihre professionelle Aufgabe, Gesichter zu erschaffen, die richtig gelesen, erkannt und ver­ standen werden sollen. Dabei seien es gerade die leicht zu übersehenden Besonderheiten, die winzigen Asymmetrien, die für die Porträtmalerei von Bedeutung seien: The characteristics here instanced are obvious to the least discerning, but it is not only with the obvious that the painter has to deal. There would be little need to draw attention to that which is observed without effort, even though it may be hard enough to reproduce; but there are subtle variations that escape the untrained eye, and others with which the uninitiated have become so familiar as to let them pass unnoticed.198 194 Ebd., S. 1. 195 Vgl. Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 110–111. 196 Solomon, The Practice of Oil Painting, S. 52. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 50.

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Die Aufgabe eines Malers ist Solomons Auffassung nach, diese kleinen Besonderheiten, die normalerweise nicht wahrgenommen werden, zu beobachten und in der Darstellung wiederzugeben. Nichts davon soll seinem Auge entfliehen („escape“) oder unbemerkt durchgehen („pass unnoticed“). Lange bevor Solomon kriegsbedingt ein ausgeklügeltes Konzept für Camouflage ent­ wickelte, ist schon diese in Friedenszeiten verfasste künstlerische Handreichung sprach­ lich vom Widerstreit antagonistischer Kräfte geprägt: Es gilt, etwas aufzudecken und fest­ zuhalten, was fliehen möchte, um nicht als das, was es ist, entdeckt zu werden. Um zu veranschaulichen, wie leicht sich das Auge durch Gewohnheit täuschen lässt, beschreibt Solomon, wie erstaunlich anders ein bekanntes Gesicht aussehen könne, wenn man es im Spiegel betrachte: „It is a revelation to such, when looking in the glass at the same time as another person, to see how dreadfully distorted the apparently regular face of that other becomes in the reflection.“199 Die ungewohnte Erfahrung, das Gesicht spiegelverkehrt zu sehen, lasse die Unregelmäßigkeiten des Gesichts, die sonst aus Gewohnheit nicht wahr­ genommen werden, deutlich hervortreten. Um den Charakter einer Person wahrnehmen und darstellen zu können, müssten Maler*innen ihren Blick gerade für solche Feinhei­ ten schärfen.200 Wenn Solomon das Gesicht der zufällig im Spiegel erblickten Person als „dreadfully distorted“ also ‚fürchterlich entstellt‘ bezeichnet, deutet sich an, dass die unter der Gewohnheit des Alltags unsichtbar verborgene eigentliche Realität in Solomons Au­ gen durchaus furchteinflößende Züge tragen kann – selbst wenn nicht ein verzerrender konkaver oder konvexer, sondern ein ganz gewöhnlicher planer Spiegel, „a […] true one“201, verwendet werde. Gerade der ‚wahre‘ Spiegel kann fratzenhafte Realitäten offenbaren, die dem Auge für gewöhnlich verborgen bleiben. Der physiognomische Blick geht von einer doppelbödigen Realität aus, bei der es durch spezielle Formen des Beobachtens darum geht, die trügerische Oberfläche zu durchschauen. Solomons Gedanken zur Physiognomie des menschlichen Gesichts korrespondieren mit dem Prinzip der buchstäblich entdeckenden Rezeption, des Aufdeckens und Lesens der Landschaft – für Camouflage ebenso konstitutiv wie das gestaltende Verbergen und Verschlüsseln. Bestimmte physische Gegebenheiten werden als Indikatoren gelesen, die – tatsächlich oder vermeintlich – zuverlässige Rückschlüsse zulassen und umgekehrt eine Anleitung zur Gestaltung nach den entsprechenden Prinzipien liefern: Dies gilt beim Um­ gang mit der Physiognomie von Gesichtern ebenso wie bei der Analyse und Interpretation von Luftfotografien sowie bei der manipulierenden Gestaltung der Kriegslandschaft durch die Camouflage. Den Gesichtern von Menschen und Kriegslandschaften ist bei allen Un­ terschieden offensichtlich eines gemeinsam: Sie werden in ähnlicher Weise als potentiell

199 Ebd. 200 Vgl. ebd., S. 51. 201 Ebd., S. 50.

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unverständlich, undurchschaubar und trügerisch erlebt – weswegen ein ausgeklügeltes System von Methoden ihre Dechiffrierbarkeit garantieren soll. Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders hat die engen historischen Ver­ flechtungen von Kartografie und Physiognomik herausgearbeitet. Beide Wissensfelder beschäftigten sich mit Orientierung im Raum.202 Die militärische Luftfotografie erfährt in der Medienwissenschaft eine ähnliche Betrachtungsweise.203 So betrachtet Solomon die Kriegslandschaft und ihre fotografischen Abbildungen mit einem durch seine physiogno­ mische Schulung trainierten Blick wie ein Gesicht, in dem es zu lesen gilt. Er formuliert in Strategic Camouflage: The landscape in modern war is a collection of significant footprints, which lead or mislead. If these footprints are to be covered or disguised, or what is better still obviated, then the camoufleur at the outset should be immediately under the Command, the controller of the whole of his war landscape from the bases to the fronts.204 Der Maler sieht den Camoufleur als Designer der Kriegslandschaft, der alle Zeichen und Deutungsoptionen im Vorhinein und aus der Luftperspektive imaginiert und mitdenkt. Auf der letzten Seite von Strategic Camouflage ist als zentrales Element des Lehrwerks eine Luftfotografie abgebildet, die sich so ausklappen lässt, dass sie während der Lektüre neben dem Buch liegen kann (Abb. 8). Auf diese Weise ist beim Lesen ohne Umblättern eine direkte Verknüpfung von Text und Bild möglich. Doch was lässt sich aus dieser Land­ schaft herauslesen? Wer ungeübt ist, sieht auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht viel mehr als Formationen in Grautönen, die sich als Felder, Wege und Häuser deuten lassen. Solomon analysiert diese Fotografie zu Ausbildungszwecken eingehend, indem er in mehreren Kapiteln auf vergrö­ ßerte Detailansichten eingeht und seine Interpretationen durch eigene Zeichnungen ver­ anschaulicht. Sein Kriegstagebuch gibt Auskunft über den Prozess des Entdeckens, der sein Studium dieser Fotografie kennzeichnete. Er beschreibt darin, wie er sich nach einem frus­ trierenden Gespräch mit militärischen Vorgesetzten, die er von seiner Fotoanalyse nicht überzeugen konnte, die Aufnahme noch einmal zur genauen Betrachtung vornimmt. In die­ ser ­Situation erscheint ihm zu seinem eigenen Erstaunen die Existenz einer Täuschungs­ anlage, die er auf dem Foto vermutet, auf einmal noch klarer und eindeutiger als zuvor: 202 Vgl. Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 2007, S. 133. 203 Bernhard Siegerts betont, dass Luftbilder aufgrund ihrer Aufnahmeverfahren, die die Landschaft aus einer senkrechten Perspektive vermessen, als Messbilder einzustufen seien: „Luftbilder unterscheiden sich von allen anderen Fotografien dadurch, daß sie Meydenbauers Umkehrung des perspektivischen Sehens im­ mer schon sind. Weil im Aufnahmeakt von senkrecht nach unten gerichteten Kameras das mathematische Verfahren zur Wegrechnung der Perspektive gewissermaßen in Echtzeit abläuft, sind derart aufgenommene Luftbilder an sich bereits Meßbilder. Luftbilder tragen daher ihren Namen zu Unrecht: sie sind vielmehr immer schon Karten.“ Siegert, Luftwaffe Fotografie, S. 44. 204 Solomon, Strategic Camouflage, S. 54.

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8 Luftaufnahme von St. Pierre Cappelle, 1917 in: Solomon, Strategic Camouflage, keine Seitennummerierung, nach S. 62

On my return home, depressed by this unsatisfactory interview, I took up the photo of St. Pierre Capelle – and on close examination – the worked fields in that photograph looked astonishingly like undulating hangars. It was an exceptionally fine photograph – and even before now the artificiality of the haystacks standing in these fields had struck my students besides myself – the roads were covered in, the tree shadows all wrong.205 Die demütigende Gesprächssituation und das wiederholte Betrachten der Fotografie ver­ ändern Solomons Wahrnehmung. Die Infragestellung seiner Thesen und die Ablehnung seiner Person durch die Entscheidungsträger verstärken seine eigene Überzeugung. Die Felder erscheinen ihm erstaunlich klar als die gewölbten Dächer von „hangars“206, die 205 Solomon in seinem Tagebuch, zit. nach: Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 185. 206 „hangars“ gebraucht Solomon hier in der älteren Bedeutung von ‚Verschlag‘ oder ‚Unterstand‘; nicht nur für Flugzeuge, wie das Wort heute meist verwendet wird. Vgl. o. V., „Hangar“, in: James A. H. Murray (Hg.), A New English Dictionary on Historical Principles (= V), Oxford 1901, S. 73: „A covered space, shed, or shelter, esp. for carriages“.

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Künstlichkeit der Heuhaufen fällt nicht nur ihm in die Augen, sondern auch den Studieren­ den, mit denen er das Foto untersucht. Aus heutiger Sicht bestehen berechtigte Zweifel an der Richtigkeit von Solomons Analyse. Ein solches Verhalten liegt jedoch zumindest teil­ weise auch im Wesen der Camouflage, gleichsam in ihrem paradoxen epistemologischen Status begründet: Wie lässt sich der Behauptung widersprechen, eine Täuschung sei so perfekt ausgeführt, dass sie nicht als solche erkennbar sei? Die Frage nach der sachlichen Richtigkeit von Solomons Ausführungen ist für den Horizont der vorliegenden Studie zwar von Interesse, um Aussagen über den Status seiner Überlegungen treffen zu können. Eine klare Beantwortung mit richtig oder falsch ist dabei allerdings weniger relevant. Viel auf­ schlussreicher ist stattdessen die Analyse seiner sehr speziellen Landschaftslektüren, der Verbindungslinien zu zeitgenössischen Auseinandersetzungen und der Kompetenzstrei­ tigkeiten um prekär gewordenes militärisches Wissen, die sich darin widerspiegeln. An der Länge der Schatten, die die Heuballen auf der Fotografie von St. Pierre ­Capelle werfen (Abb. 8), will Solomon eindeutig erkennen, dass es sich hierbei um als Felder ge­ tarnte Unterstände handeln muss, denen durch aufgesetzte Heuhaufen-Attrappen ein besonders authentischer Anstrich verliehen worden sei. Die Schatten der Heuballen auf dem einen Feld seien länger als die auf dem anderen, was auf zwei gegenüberliegende abschüssige Flächen mit einer Neigung von mindestens 20° schließen lasse. Derartige Neigungsverhältnisse seien normalerweise auf der Kuppe eines Hügels zu finden – oder eben auf dem Dach eines Gebäudes.207 Selbst die besten der französischen readers, so Solomon, konnten sich nicht vorstellen, dass ein solcher Aufwand betrieben worden wäre und hätten sich dadurch täuschen lassen. Aber Solomon hält dagegen – ausgerechnet mit einem Theatervergleich: The making of a few hundred papier-maché mounds would certainly not deter the manager of Grand Opera or of Drury Lane Theatre from mounting a ballet, in which such decors might be needed for the mise-en-scène, so that it is hardly credible that the German who made up his mind after forty years of preparation to dominate Europe, would hesitate to give these very convincing touches to his work. Their very number helped the illusion.208 Wenn man im Theater den Aufwand nicht scheue, warum sollte dann die Inszenierung des Kriegstheaters auf ein paar hundert Pappmaché-Hügelchen verzichten – wenn doch davon der Erfolg der lange vorbereiteten deutschen Mission, Europa zu beherrschen, ab­ hänge? Solomon argumentiert hier sozusagen mit einer Logik des Exzessiven, die er mit dem künstlerischen Arbeiten eines Theaters identifiziert, gegen die rein rationalistische Effizienzabwägung des militärischen Denkens. Er formuliert damit den Grundsatz, dass 207 Vgl. Solomon, Strategic Camouflage, S. 15. 208 Ebd., S. 15–16.

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9 „Key drawing to the text on analysis of this area“, in: Solomon, Strategic Camouflage, S. 18

die scheinbar maßlose Detailversessenheit, die im Theater mit großer Selbstverständlich­ keit als notwendig angesehen wird, auch für den Erfolg von Camouflage entscheidend ist. Seine Argumentation untermauert er durchgehend mit Skizzen, auf denen er die Landschaft nachzeichnet und mit Buchstaben für Details beschriftet, die er auf der Fo­ tografie zu erkennen meint. Abb. 9 zeigt exemplarisch eine solche in den Text integrierte Zeichnung. Die eingetragenen Buchstaben greift Solomon in den Erläuterungen auf, um seine Leser*innen auf Details aufmerksam zu machen, die er im vergrößerten Ausschnitt (Abb. 10) beobachtet hat. Schon mit der Bezeichnung „key drawing“ (Abb. 9) suggeriert er, dass es hier um Entschlüsselung geht: Mit Hilfe der Erläuterungen des Fachmanns und der Zeichnung, die als „key“ dient, wird die Fotografie lesbar. Die mit Buchstaben gekenn­ zeichneten Flächen und Punkte verweisen auf auffällige Merkmale auf der Fotografie, die Solomons Verdacht geweckt haben und die er als Indizien für die Richtigkeit seiner These der als Felder getarnten Unterstände wertet. In den so den Blicken entzogenen großen, flachen Hallen könnten Truppen unbehelligt Station machen und sich beispielsweise auf ihrem Weg zu einem Einsatz auch tagsüber ungesehen ausruhen.209 209 Ebd., S. 22.

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10 Vergrößerte Detailansicht der Fotografie von St. Piere Capelle, in: Solomon, Strategic ­Camouflage, S. 19

Die flachen Bauten, die Solomon unter den Feldern vermutet, würden dem Prinzip entsprechen, das Solomon am Anfang des Buches als Grundsatz für die Camouflage ein­ führt: Bei allen Erhöhungen müssen Schatten vermieden werden. Im Abschnitt „How cast shadows are avoided“ erklärt er Schritt für Schritt, wie Objekte durch graduelles Abflachen ihren Schatten verlieren (Abb. 11). Denn das leicht erkennbare und schwer zu tarnende kritische Merkmal von Objekten seien deren Schatten. Schon bei der Konstruktion von Kriegsgerät und bei architektonischen Entwürfen müssten die verräterischen Schatten, „tell-tale“210 wie sie auf Fotografien seien, mit berücksichtigt werden. Günstig seien gra­ 210 Ebd.

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11 „How cast shadows are avoided“, in: Solomon, Strategic Camouflage, S. 3

duell abgeflachte Erhebungen – sie werfen keine Schatten, wie Solomon in drei kleinen Zeichnungen anschaulich macht, und seien daher auf Luftfotografien kaum als dreidimen­ sionale Objekte erkennbar. Das Frontispiz von Strategic Camouflage zeigt einen nur flach über die Erde hinausragen­ den Unterstand, auf den sich ein deutscher Soldat zubewegt. Das Foto, das Solomon auf 1914 datiert, gilt ihm als weiterer Beweis für die von langer Hand geplanten Tarnungsmaßnah­ men der Deutschen. Mit seinem nur leicht schrägen Dach folgt die Architektur der Baracke zumindest auf der im Bild sichtbaren Seite dem Prinzip der Schattenvermeidung (Abb. 12). In einer weiteren Zeichnung, die die Luftfotografie in die Perspektive einer schrägen Draufsicht überträgt (Abb. 13), zeigt Solomon die von ihm vermutete räumliche Ausdeh­ nung, die die Felder als getarnte Dächer von Unterständen entlarvt. Die Fotografie aus dem großen Abstand der Flughöhe erschwert das Erkennen von Räumlichkeit und lässt al­ les flach aussehen: „No one thing is sensibly nearer to the lens than the other. Everything is, as it were, in the foreground, and therefore there is no aerial perspective.“211 Zeichnerisch verschiebt Solomon die Perspektive daher so, dass sich der Eindruck von Räumlichkeit leichter rekonstruieren lässt. Mit seiner an physiognomische Prinzipien angelehnten Analyse von Luftfotografien steht Solomon in seiner Zeit nicht allein. Der deutsche Ingenieur Erich Ewald beschäftigte sich in den 1920er Jahren ebenfalls mit Luftfotografien und ging in stark nationalistisch gefärbten Abhandlungen wie beispielsweise Das Gesicht der deutschen Heimat von 1928 der Frage nach, was die Oberfläche einer Landschaft über den Charakter des dort leben­

211 Ebd., S. 55–56.

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12 Frontispiz, in: Solomon, Strategic Camouflage, S. ii

den Volkes aussagt.212 Dabei legt er seiner Analyse ein verblüffend naives Fotografiever­ ständnis zugrunde, wenn er beispielsweise in Deutschland aus der Vogelschau Karte und Luftbild vergleicht: Die Karte gibt in klarer Sonderung die einzelnen Gegenstände, ihrer Darstellungsart wegen muß sie typisieren und andeutende Kennzeichen verwerten, die wir erst in der Phantasie zur plastischen Darstellung umbilden müssen. Das Luftbild aber gibt uns die Wirklichkeit in voller Naturwahrheit und lebendiger Anschaulichkeit.213 Doch obwohl Ewald hier für die Luftfotografie „Naturwahrheit“ reklamiert, erklärt er den­ noch ausführlich, wie man das schwierige ‚Lesen‘ dieser Fotografien erlernen kann. Er ver­ fasst ganze Bücher, die den richtigen Umgang mit Luftbildern erklären. Zudem spricht er sich dafür aus, die für das Verstehen von Luftbildern notwendige Lesekompetenz als Teil 212 Erich Ewald, Das Gesicht der deutschen Heimat. Landschaft und Baukunst, Weimar 1928. 213 Erich Ewald, Deutschland aus der Vogelschau. Landschaft und Siedlung im Luftbild, Berlin 1925, S. 8.

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13 „Isometric Perspective of Hangars“, in: Solomon, Strategic Camouflage, S. 20

der Schulbildung zu lehren und setzt sich mit Verweis auf die Bedeutung dieser Bilder im gerade vergangenen Krieg für deren zivile Nutzung ein.214 Das emphatische Plädoyer für die „Naturwahrheit“ dieser Bilder bei gleichzeitiger detaillierter Leseanleitung kann als Topos beschrieben werden, der die frühe militärische Luftfotografie begleitete.215 Das Problem der Erklärungsbedürftigkeit analysiert auch der amerikanische Fotograf Edward Steichen, der im Ersten Weltkrieg als Leiter der Fotografischen Abteilung der American Expeditionary Forces mit militärischer Luftaufklärung befasst war. In seiner 1919 ver­ fassten Analyse „American Aerial Photography at the Front“ betont er, dass man wissen müsse, wie man die Luftfotografien zu deuten habe, sonst seien sie wertlos. Er berichtet in einer Anekdote, wie ein Oberst der Infanterie ihm gegenüber bemerkte: „They sent me some of that stuff (referring to aerial photography), but I couldn’t make anything out of them.“ Hieraus schließt Steichen in seiner rückblickenden Analyse: 214 Vgl. zum Einsatz von Luftbildern und Photogrammetrie in der Weimarer Republik, sowie Ewalds Rolle darin: Deflef Siegfried, „Kartierung der Welt: Das Luftbild in der Weimarer Republik“, in: Adam Paulsen und Anna Sandberg (Hg.), Natur und Moderne um 1900. Räume – Repräsentationen – Medien, Bielefeld 2014, S. 285–302. 215 Vgl. Saint-Amour, Modernist Reconnaissance, S. 355–356.

Lesbarkeit – die Physiognomik der Kriegslandschaft

The aerial photograph in itself is harmless and valueless. It enters into the category of ‚instruments of war‘ when it has disclosed the information written on the surface of the print. The average vertical aerial photographic print is upon first acquaintance as uninteresting and unimpressive a picture as can be imagined.216 Die in die Luftfotografie eingeschriebenen Informationen müssen erst ausgelesen werden, damit das Foto militärisch relevant werden kann. Die Luftfotografie wird erst durch das Ausbilden eines neuen sehenden Lesens zu einem Kriegsinstrument. Und so bildet sich im Ersten Weltkrieg allseits ein Diskurs um das Lehren und Lernen der richtigen Betrach­ tungsweise der Fotografien heraus. Die Notwendigkeit ausführlicher Anleitungen, ja ganzer Schulen und Lehrbücher steht dabei in paradoxem Widerspruch zu der ebenfalls ständig wiederholten Einstufung der Fo­ tografie als direktes und authentisches Abbild der Natur.217 Ein Ausweis dafür, dass dieses Lesen erst erlernt werden muss, sind neben Solomons eigenwilligem Lehrbuch auch von militärischer Seite herausgegebene Handbücher, die das benötigte fotografische Wissen in standardisierter Form verbreiten sollten. Die US-amerikanische Armee formuliert 1918 in einem Handbuch zur Interpretation von Luftfotografien für ihre Soldaten die Notwen­ digkeit, sich in einem ersten Schritt mit der ungewohnten Perspektive von oben vertraut zu machen. Dies sei die Grundvoraussetzung, um die Luftfotografien verstehen zu können. Before examining a photograph, it is necessary to form an idea of the appearance of objects from above, and to realize that objects will not appear under their usual aspect as seen from the ground. This is due to the fact that only the tops of the objects appear on the photograph.218 Eine frühere Version dieses Textes, ein internes Schriftstück des Army War College aus dem Jahr 1917, warnt dabei vor der suggestiven Kraft, die diese Fotografien offensichtlich auf ihre readers ausübt. Man solle Trugschlüsse vermeiden und nichts in das Bild hinei­ ninterpretieren: „do not allow yourself to read in a photograph what you want to see.“219 Der Hinweis bestätigt die Schwierigkeit der korrekten Interpretation, wie sie sich beim Konflikt um Solomons Lesarten schon zeigte. Die lesende Bildbetrachtung, die eine Fo­ tografie auf der Suche nach feindlichen Spuren betrachtet, scheint in besonderer Weise dazu zu neigen, mit einer Art paranoischem Blick ‚falsche‘ Entdeckungen zu machen. Der Auftrag, in dem Bild verborgene Auffälligkeiten auszumachen, stellt die Interpretierenden vor die Frage: Wie sieht der Normalzustand aus? Was ist eine verdächtige Spur? Was im 216 Steichen, American Aerial Photography at the Front [1919], S. 70. 217 Vgl. Saint-Amour, Modernist Reconnaissance, S. 355–356. 218 Division of Military Aeronautics, United States Army, Notes on the Interpretation of Aeroplane Photographs, Washington 1918, S. 5. 219 Army War College, Notes on the Interpretation of Aeroplane Photographs, S. 8.

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14 General Staff, Illustrations to Accompany Notes on the Interpretation of Aeroplane Photography. Series A, ­Washington 1917, Abbildung 2

oben erwähnten Pfadfinderhandbuch für die Betrachtung der Umgebung galt, gilt auch für die Interpretation der Fotografien: Keine Spur zu erkennen bedeutet nicht, dass da nichts ist.220 Versucht man erst einmal, das Bild zum Sprechen zu bringen, hört es nicht auf, vermeintliche oder tatsächliche doppelte Böden preiszugeben. Aus diesem Grunde bemüht man sich in dem Handbuch der US-amerikanischen Armee, eine visuelle Sprache zu etablieren, die möglichst eindeutig sein soll. Ein Schaubild zeigt, wie Objekte von oben betrachtet aussehen (Abb. 14) und legt dabei einen Fokus auf die Formierung der Schatten, die auf der Luftfotografie besonders stark hervortreten. Durch die Schattenbildung stellt sich die Tiefe oder Dreidimensionalität von Objekten visuell dar. Zur Exemplifizierung sind fünf Objekte gewählt, die alle von oben betrachtet eine kreisrunde Form haben: ein Loch, das durch den Einschlag einer Granate verursacht wurde, ein Hügel, ein Heuhaufen, eine Geschützstellung mit Betonpfeiler und ein Baum mit buschiger Krone. Das Diagramm macht deutlich, dass diese so unterschiedlichen Objekte sich in der kreisrunden Form ihres Umrisses von oben betrachtet nicht unter­ 220 McKenney, Scouts’ Handbook and Instructor, S. 17.

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scheiden – obwohl sie ebenerdig betrachtet kaum Ähnlichkeit miteinander haben und militärisch gesehen von extrem unterschiedlicher Bedeutung sind. Als entscheidend für ihre Erkennbarkeit auf der Fotografie wird die jeweils charakteristische Schattierung her­ vorgehoben. Anhand der Schatten lässt sich, wenn der Sonnenwinkel bekannt ist, auf die Höhe und die Struktur der Objekte schließen. Vertieftes Wissen um die Wirkweisen der Fotografie ist also Grundvoraussetzung für ein korrektes Lesen der Luftbilder. Die Ausein­ andersetzung mit dem Medium der Fotografie und den Grundbedingungen der fotografi­ schen Bilderzeugung wird zur militärischen Tätigkeit. Die Beschäftigung mit Camouflage, wie Solomon sie betreibt, fördert dabei die kritische Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie. Denn während die Fotografie häufig naiv als Wahrheitsmedium angesehen wird, wenn man sie nur zu lesen vermag, erweist sich die Realität selbst als potentiell voller Täuschungen.

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London Solomon spielte insbesondere zu Beginn, bei der Einführung von Camouflagepraktiken in die militärische Struktur, eine bedeutende Rolle. Das geht aus dem dreißigseitigen Bericht der Royal Engineers über den „Camouflage Service“ hervor, der nach der strukturellen Implementierung in die britische Armee in den Bereich der Royal Engineers fiel.221 Nach­ dem innerhalb der französischen Armee 1915 erfolgreich eine Section de Camouflage ge­ gründet worden war,222 wurde Solomon zu deren Hauptwerkstatt nach Amiens ent­sandt, um sich mit der Arbeitsweise vor Ort vertraut zu machen und von den Verbündeten zu lernen.223 Im März 1916 wurde daraufhin ein eigener sogenannter „Special Works Park“ der britischen Armee im französischen Wimereux eingerichtet, der mit einem Team aus Ingenieuren der Royal Engineers, Künstler*innen und zivilem Personal, darunter vie­ len Frauen, Tarnungsobjekte entwickelte und herstellte.224 Solomon wurde zu Beginn zum „technical adviser“225 ernannt und bekam den temporären militärischen Rang ei­ nes Lieutenant-­Colonels mit einem eigenen Team, das er sich selbst zusammenstellen durfte.226 Der relativ hohe Rang wurde ihm auf Bestreben von Feldmarschall Douglas Haig, Oberbefehlshaber an der Westfront, verliehen – der Rang des Lieutenant-Colonel sei „com­ mensurate with the responsibility and importance of his duties“227, wie der Oberbefehls­ haber in einem Brief seine Anordnung begründet.

221 Vgl. Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918. 222 Vgl. zur Etablierung der französischen Section de Camouflage: Coutin, Tromper l’ennemi, S. 59–80. 223 Vgl. Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918, S. 107. 224 Vgl. ebd., S. 108. 225 Ebd. 226 Vgl. Korrespondenz mit dem War Office. In einem Brief vom 24.12.1915 wird Solomon an die Front abberufen, zit. nach Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 129. 227 Douglas Haig, in einem Brief von 31.12.1915, zit. nach Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 129.

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Solomon beschreibt diese militärische Auszeichnung als ein einschneidendes Ereignis in seinem Leben: In seinem Tagebuch stellt er es in eine Reihe mit seiner Geburt, seiner ­Assoziierung an der Royal Academy of Arts und seiner Ernennung zum vollen Akademie­ mitglied. Die richtungsweisenden Ereignisse verbinde, dass ihre jeweilige Jahreszahl die Ziffer sechs enthalte – 1860, 1896, 1906, 1916. „I suppose everyone has his number; mine is six.“228 Das Narrativ macht deutlich, welch hohen identifikatorischen Stellenwert er den prestigeträchtigen Formen der gesellschaftlichen Anerkennung seiner Arbeit beimaß. Umso sensibler registriert Solomon die mannigfaltigen Arten von Ablehnung, die er im Verlauf seiner Kooperation mit dem Militär erfährt. Nach der Veröffentlichung seines Bu­ ches Strategic Camouflage im Jahre 1920 schlägt sie ihm schließlich als offene Zurückwei­ sung entgegen. Dass er mit „Mr. Artist“ angesprochen wird, verunsichert ihn schon in sei­ nen ersten Tagen an der Front, wie er in seinem Tagebuch festhält: „They must have looked down on to little me as some sort of curiosity.“229 Als seine Vorschläge zur Tarnung von Panzern bei seinem zweiten Frontaufenthalt zu Beginn des Jahres 1918 nicht angenommen werden, fühlt Solomon sich in seiner Kompetenz nicht respektiert und anerkannt. Nach einem Gespräch mit Generälen notiert er ernüchtert: „They evidently did not trust me or anyone on that point.“230 Im Vorangegangenen wurde gezeigt, inwiefern sich Solomon für die militärische Nut­ zung spezifisch künstlerischer Kompetenzen engagierte, die er als unabdingbar für die Camou­flage und die Interpretation von Luftbildern proklamierte. Es wurde herausgearbei­ tet, welche Aspekte des künstlerischen Arbeitens er dabei als besonders verwertbar im mili­ tärischen Sinne skizzierte. Vor dem Hintergrund des in seinem Kriegstagebuch festgestell­ ten Narrativs lässt sich auch dieses unermüdliche Argumentieren zumindest teilweise als eine Verteidigungsstrategie in Reaktion auf die in seiner Biografie tief verankerten Ableh­ nungserfahrungen zurückführen. Solomon sah sich sowohl als Jude in einer Gesellschaft mit antisemitischen Strömungen als auch in seiner Rolle als Künstler beim Militär immer wieder in eine marginalisierte Rolle gedrängt. Diese zwang ihn häufig dazu, seine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und abzuwägen, ob die Ablehnung seiner Ideen in deren tatsächlicher Qualität begründet lag oder auf Inkompetenz, mangelndes Vertrauen und Vorurteile seines Gegenübers zurückzuführen war. Die Wahrnehmungsirritation durch die Auseinandersetzung mit Camouflage, bei der alles Gesehene potentiell als trügerisch ein­ zustufen ist, hatte innerhalb dieser verunsichernden Dynamik eine verstärkende Wirkung. Im Zusammenhang mit Solomons Camouflagearbeiten und den Bildern aus der Camou­flage School, die im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein werden, taucht der Baum als Objekt und Motiv mehrfach auf. Bäume werden als Kriegskulisse originalge­ treu nachgebildet, halbzerstörte Bäume gelten als landschaftliches Charakteristikum der

228 Vgl. ebd., S. 130. 229 Zit. nach ebd., S. 135. 230 Ebd., S. 167.

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Frontlandschaft, altehrwürdige Parkbäume bilden den Hintergrund für die Experimental­ anordnungen der Schule für Camouflage in Kensington Gardens. Indem sich die Camou­ fleur*innen in vielfacher Weise mit Bäumen auseinandersetzen, tragen sie dazu bei, dass eine ästhetische Debatte mit langer Tradition zu einer militärischen Problematik wird: Die Frage nach dem umstrittenen Konzept von ‚Natur‘ oder ‚Natürlichkeit‘. Dabei lassen sich die an der Front aufgestellten Camouflagebäume, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gleichzeitig als Objekte zur Analyse der Kriegslandschaft wie als illusionistische Gestal­ tungselemente betrachten. Noch im Dezember 1915 wandte Solomon sich in einem Brief mit einem äußerst unge­ wöhnlichen Anliegen an den königlichen Schatzmeister, den Keeper of the Privy Purse.231 Er berichtet, dass er gerade von den in Frankreich stationierten General Headquarters, dem Hauptquartier der britischen Armee, zurückgekehrt sei, wohin man ihn eingeladen habe, um über die Problematik von „Invisibility in Warfare“232 zu referieren. Dort habe er über die Tarnungsobjekte der Franzosen – „what they call ‚camouflage‘“233 – Bericht erstattet, die er während seines Aufenthalts bei der Section de Camouflage kennengelernt habe. Besonderes Interesse fanden bei den General Officers laut Solomon getarnte und gepanzerte Observie­ rungsposten, da sie für diese auch bei der eigenen Armee einen dringenden Bedarf sahen. Daher beauftragten sie Solomon mit der Spezialanfertigung solcher Beobachtungsposten. An der Front sollten günstige Positionen bestimmt und nach dem Vorbild dort wachsender Bäume originalgetreue Kopien nachgebaut werden. Für das Studium, die experimentelle Entwicklung und Herstellung dieser Bäume, bei denen auch Ingenieure als Unterstützung zur Verfügung stehen sollten, wurden Äste und Rinde vor allem von „pollard willows“, Kopfweiden, benötigt. Um die Geheimhaltung des Projekts nicht zu gefährden, sollten keine Privatpersonen involviert werden – daher an den König persönlich die Bitte, die Ex­ perimente auf einem der königlichen Anwesen durchführen und dafür vor Ort die entspre­ chenden Bäume nutzen zu dürfen. Nur wenige Tage nach seiner Anfrage erhielt Solomon die positive Antwort: „His Majesty was much interested to hear that you had taken up the question of making Artillery Observation Posts invisible. The King will be glad to give you every facility you require either at Windsor or at Sandringham.“234 In den folgenden Tagen arbeitete Solomon gemeinsam mit drei Theatermalern an der Herstellung einer naturge­ treuen Verkleidung für das Stahlgehäuse eines Beobachtungspostens, hergestellt aus Stoff mit aufgeklebten Stücken von Baumrinden. Kurz darauf wurde Solomon mit seinem Team an die Front abberufen, um so schnell wie möglich mit dem Aufbau der dringend benö­ tigten „special observation stations“235 nach dem Vorbild dieses Prototyps zu beginnen. 231 Vgl. Rankin, Churchill’s Wizards, S. 81–82; sowie die Passage in dazu in Solomons Tagebuch, abgedruckt in Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 126–127. 232 Zit. nach Rankin, Churchill’s Wizards, S. 81. 233 Zit. nach ebd. 234 Zit. nach Somech Phillips, Solomon J. Solomon, S. 127. 235 Zit. nach Rankin, Churchill’s Wizards, S. 82.

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Die skrupulöse Gewissenhaftigkeit bei der Materialbeschaffung aus königlichen Län­ dereien zeigt, wie stark Solomon sich für die Gestaltung der Attrappe an einer möglichst exakten Imitation der Natur orientiert. Dabei verzichtet er als Maler auf die gewohnte Modellierung mit Farben und Schattierungen, um eine realistisch aussehende Baumrinde zu gestalten und benutzt stattdessen direkt die echte Rinde. Diese Art von Imitat verwischt die Grenzen theoretischer Kategorien: Wenn die imitierende Repräsentation mit Teilen des realen Objekts erzeugt wird, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Re­ präsentation. „Imitation of nature“ erhebt auch Adrian Cornwell-Clyne236 zum wichtigsten Prinzip von „concealment“.237 Cornwell-Clyne unterrichtete an der Camouflage School in Kensing­ ton Gardens und verfasste später eine Chronik der Schule.238 In einem unveröffentlich­ ten Manuskript, das vermutlich als Unterrichtsmanuskript diente, formuliert er folgende Grundsätze: The great secret of concealment is in the imitation of nature. The ground should appear undisturbed by the hand of man. To obtain this result there are one or two points which must be kept in mind. In the past there has been far too much construction of trenches on geometrical, instead of natural lines. It is of supreme importance to avoid all straight lines and angles. Straight lines and rectangles rarely, if ever, occur in nature. Men who have had a training in military precision and accuracy can only be taught with great difficulty to avoid straight lines and angles.239 Den militärischen geometrischen Formen und geraden Linien stellt Cornwell-Clyne sein Konzept von Natur, von „natural lines“ kontrastierend gegenüber. Gerade Linien verraten die Herkunft von Menschenhand – gerade Menschen mit einer systematischen militäri­ schen Ausbildung seien sie besonders schwer abzugewöhnen. Die Natur definiert sich durch die Abwesenheit oder durch den Eindruck der Abwesenheit von geometrischer menschlicher Gestaltung. Militärische Denkweisen sind mit dem Konzept von Natur, das Cornwell-Clyne seinen Überlegungen zugrunde legt, nicht vereinbar. Dass allerdings der vielbeschworenen Natur ein komplexeres kulturelles Konzept zugrunde liegt, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, zeigt sich in der Arbeit der Camouflage School in Kensington Gardens eindrücklich: Hier mischen sich die militärischen Experimen­ talanordnungen zur Tarnung und die englische Parkarchitektur, die selbst ihrem eigenen Konzept von durch Menschen arrangierter Natürlichkeit folgt. Auf den Einfluss der Archi­ 236 Geboren als Adrian Bernard Klein änderte dieser später seinen Namen in Adrian Cornwell-Clyne, vgl. Tyer and Terry, Notice. Adrian Cornwell-Clyne, in: The London Gazette, 18.10.1940, S. 6091. 237 Adrian Cornwell-Clyne, Concealment applied to trench warfare. Imperial War Museum, Private Papers of A. Cornwell-Clyne, 86/53/1 (1915). 238 Adrian Klein, Development of the Camouflage School. Imperial War Museum, LBY K. 79 / 4229. 239 Cornwell-Clyne, Concealment applied to trench warfare.

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tektur des Festungsbaus auf die sich neu entwickelnde Gartenarchitektur ausgehend von militärtechnischen Umbrüchen ab 1500 ist in der Forschung schon hingewiesen worden.240 Im frühen 20. Jahrhundert aber wird der Garten auf neue Art zum militärischen Schau­ platz. Grundideen der Gartenarchitektur des 18. Jahrhunderts wie Imitation, Illusion oder Täuschung finden ihre Entsprechung in der Camouflage und treten vor dem Hintergrund der Schule in Kensington Gardens besonders deutlich hervor.241 Bevor dieses Setting in den Blick genommen wird, soll jedoch zunächst die Errichtung des ersten Camouflage­ baums thematisiert werden, die sowohl in Solomons emphatischer Darstellung als auch im nüchtern-kritischen Bericht der Royal Engineers einen besonderen Platz einnimmt und die daher gleichsam als Urszene der Camouflage gelten kann. Auf einem Gemälde mit dem Titel „Erecting of the First Camouflage Tree“ hat Solomon die Montage der ersten Baumattrappe an der Front, an der er beteiligt war, als nächtliche Szenerie festgehalten (Tafel VIII , S. 288). Es zeigt mehrere Soldaten, die vor einem nacht­ blauen Himmel einen Baum aufrichten, mitten in der Bewegung. Würde der Titel nicht den Kontext erklären, wäre nicht ersichtlich, dass es sich bei dem vermeintlichen Baum um eine täuschend echt aussehende Nachbildung handelt. Der Baum wirkt sehr schwer, da ihn mindestens sechs Männer in angestrengter Pose gemeinsam in die Vertikale stemmen. Die Silhouette des Baumes und der Soldaten zeichnet sich vor dem Nachthimmel gut sichtbar ab. Denn der Himmel ist trotz ansonsten spärlicher Nachtbeleuchtung zur Mitte des Bildes hin relativ hell und wird nach außen graduell dunkler, so als verdecke der Baum den hinter diesem hell leuchtenden Mond. Der Soldat am unteren Bildrand dagegen, der die Szene beobachtet, verschwindet fast in der Dunkelheit. Das Braun seiner Uniform geht in den Braunton der Erde des Grabens über, in dem er steht und aus dem nur sein Oberkörper herausragt. Von der rechten Seite des Bildes schauen zwei identifizierbare Soldaten der Aufrichtung des Baumes zu: Solomon selbst und sein Künstlerkollege Walter Russell.242 Diese Bildaufteilung in ein gut erkennbares Zentralgeschehen in der Bildmitte und der Andeutung kaum sichtbarer Figuren an den Rändern des Gemäldes scheint geprägt von Solomons intensiver Beschäftigung mit Camouflage. Die Bildkomposition zeugt von einem Bewusstsein für Aspekte von Unsichtbarkeit, von der Beziehung zwischen Figur und Grund. Der Maler führt vor, dass sie kontrastierend gestaltet werden kann – wie bei der Silhouette vor dem leuchtenden Himmel – oder kaum unterscheidbar – wie bei dem Soldaten im Graben. Offensichtlich setzt er sich auf diese Weise mit dem grund­ sätzlichen malerischen Dilemma auseinander, etwas Unsichtbares sichtbar auf einem

240 Vgl. Christof Baier und Ulrich Reinisch, „Schußlinie, Sehstrahl und Augenlust: Zur Herrschaftskultur des Blickens in den Festungen und Gärten des 16. bis 18. Jahrhunderts“, in: H. Bredekamp und P. Schneider (Hg.), Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, München 2006. 241 Sonja Dümpelmann arbeitet die Verbindungen von Landschaftsarchitektur und Camouflage sehr eindrück­ lich und detailliert heraus, vgl. Dümpelmann, Flights of Imagination: Aviation, Landscape, Design, S. 185–187. 242 Diese Information findet sich in der Objektbeschreibung im Onlinekatalog des Imperial War Museum unter https://www.iwm.org.uk/collections/item/object/25022, zuletzt aufgerufen am 15.2.2018.

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Gemälde darzustellen. Durch den Kontrast zwischen dem von hinten beleuchteten Hauptgeschehen in der Bildmitte und dem in der Dunkelheit der erdigen Vertiefung kaum erkennbaren Soldaten, hat Solomon eine Darstellungsweise für die kriegerischen Aspekte der Unsichtbarkeit gefunden. Die Blicke aller Soldaten – der zuschauenden wie derjenigen, die den Baum aufstellen – richten sich in dieser nächtlichen Situation auf den Baum. Damit findet im Bild eine Umkehrung des Blickregimes statt, das für die ge­ plante Nutzung des Baums an der Front gelten wird: Aus seinem verborgenen Inneren heraus soll die Umgebung heimlich beobachtet werden, während der Baum selbst in der Alltäglichkeit seines zum Schein natürlichen Äußeren weder Blicke noch Schüsse auf sich ziehen soll. Das aufschlussreiche Gemälde wurde unmittelbar nach dem Krieg 1919 in einer von Solomon unter dem Titel „Works by Camoufleur Artists“ organisierten Ausstellung in der Royal Academy of Arts gezeigt. Das Ziel der Ausstellung sei es, heißt es im Ausstellungs­ katalog, dem Publikum Kunstwerke zu präsentieren, die Camouflage zum Thema mach­ ten und außerdem zeigten, welch bedeutsame Rolle Künstler*innen während des Krieges gespielt hätten.243 Mit dieser Ausstellung antworteten die Organisatoren auf ein großes Publikumsinteresse am Thema Camouflage, über das während des Krieges aufgrund der gebotenen Geheimhaltung viele Details nicht bekannt gegeben wurden, wie eine Rezensi­ on zu der Ausstellung erhellt: A side of war which much interested the public was the use made of camouflage. But while the struggle continued only partial glimpses of this new art were obtainable. More can be learned of it from an exhibition of works by camoufleur artists and examples of camouflage which occupy three galleries at Burlington House.244 Heute befindet sich das Gemälde im Besitz des Imperial War Museum in London, das ­Solomon in der Gründungsphase des Museums noch während des Krieges um Materi­ al zur C ­ amouflage bat, um dieses für eine spätere Ausstellung zum Thema der „entirely new branch of military tactics“ zu sammeln.245 Selbstverständlich erklärte sich Solomon, stets um eine Verbreitung des Wissens über Camouflage bemüht, nur zu gerne dazu be­ reit.246 Seine Bemühungen jedoch, nach dem Ende des Krieges an Camouflageobjekte der ­Deutschen zu gelangen, blieben wahrscheinlich weitgehend erfolglos. Jedenfalls klingt die 243 Im Archiv der Akademie wird der Katalog zu dieser Ausstellung, der die gezeigten Arbeiten auflistet und in einem kurzen Vorwort den historischen Kontext der Entwicklung der Camouflage skizziert, aufbewahrt: Royal Academy of Arts, Exhibition of Works by Camoufleur Artists with Examples of Camouflage. Royal Aca­ demy of Arts Collections, Exhibition Catalogues (1919), https://www.royalacademy.org.uk/art-artists/exhibi­ tion-catalogue/1919-works-by-camoufleur-artists-with-examples-of-camouflage. 244 o. V., Art of Camouflage. War Secrets Revealed, in: The Times, 7.10.1919, S. 11, hier: S. 11. 245 ffoulkes, Brief an Colonel S. J. Solomon. 246 Vgl. Solomon J. Solomon, Antwort ans Imperial War Museum. Imperial War Museum, Modells Special Works School, EN1/1/MODE/078/3372 (Dezember 1917).

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Antwort, die er auf seine Anfrage im Dezember 1918 erhielt, eher ernüchternd: Man teilt ihm mit, dass der britischen Armee derzeit in Frankreich keine Fahrzeuge mehr zur Ver­ fügung stünden und man sich daher nicht in der Lage sehe, für Solomon nach Überresten der Camouflageeinrichtungen zu suchen.247 Dennoch ist in der heutigen Dauerausstellung des Museums ein von den Deutschen während des Ersten Weltkrieges hergestellter und genutzter Camouflagebaum aus mit Ein­ schusslöchern übersätem Blech zu sehen (Tafel IX , S. 289).248 In der Ausstellung wird der Baum vor dem Hintergrund einer großformativen Fotografie gezeigt, auf der die Überreste von Bäumen, vermutlich auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, erkennbar sind. Das Ausstellungsdesign will offenbar andeuten, dass die auf dem Foto gezeigte Landschaft der Zerstörung der Ort ist, der für den Baum als Einsatzort gedacht war und in den dieser sich als Baumstamm ohne Baumkrone oder Zweige unauffällig einfügen sollte – was al­ lerdings mit der bräunlichen Baumattrappe vor der Schwarzweißfotografie eher schlecht funktioniert. Dennoch wird durch die Anordnung deutlich, dass Camouflage nur in der Umgebung, für die sie konzipiert wurde, optimal funktioniert – sie ist als Teil des beste­ henden Kriegsraumes gedacht und muss sich in diesen einschreiben. Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg und einige Jahre nach Solomons Tod plante das Imperial War Museum den Camouflagebaum und das Gemälde Solomons innerhalb ihrer Aus­ stellung stärker in den Fokus zu rücken. Dazu kontaktierte der zuständige Kurator, Ernest Blaikley, im März 1935 Walter Russell, einen Maler und wie Solomon Royal Academician, der mit dem 1927 Verstorbenen gemeinsam an der Herstellung und dem Aufbau des besag­ ten Baumes beteiligt war.249 Er fragte ihn nach seinen Erinnerungen an das Ereignis und ob er in der Lage sei, die genaue Position des Baumes auf einer Luftfotografie zu markieren. Offensichtlich hatte die von Somech Phillips 1933 publizierte Biografie, in der auch erst­ malig Solomons Kriegstagebuch mit Schilderungen vom Aufbau des ersten Camouflage­ baums veröffentlicht wurde, neuerliches Interesse an dem Thema geweckt. Eine lobende Kritik der Biografie in der Zeitung The Times weist insbesondere auf die offenen Fragen zur Debatte um die Richtigkeit von Solomons Theorien zur Camouflage der Deutschen hin, die sich aus der Lektüre der Biografie ergäben. Wenn auch diese Frage nicht zu entscheiden war, so verdeutlichten Solomons Schilderungen doch den Wert des spezifischen Blicks eines Künstlers auf die Kriegslandschaft: „What the diary does bring out is the value of the artistic eye and habit of mind in all questions of visibility.“250 Entsprechend bekräftigt

247 Vgl. Director General, Brief an Colonel Solomon. Imperial War Museum, First World War Artists Archive, 166/5 Part 2 (30.12.1918). 248 Wie der Camouflagebaum in den Besitz des Museums gelangt ist und ob er auf Solomons Initiative hin aus den ehemaligen Kriegsgebieten nach London transportiert wurde, konnte ich bei meinen Recherchen in den Archiven des Imperial War Museums nicht nachzuvollziehen. 249 Vgl. Ernest Blaikley, Brief an Walter Russell. Imperial War Museum, First World War Artists Archive, Russell 135/4/37/38 (23.3.1935). 250 o. V., Solomon J. Solomon, in: The Times, 12.9.1933, S. 17.

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Blaikley in seinem Brief an Russell die Absicht, den Beitrag der Künstler*innen zum Krieg bekannter machen zu wollen. It seems to me that for students in the future it will be an extraordinary interesting sidelight on the War that two eminent portrait painters should be engaged in this work, and I feel that in justice to artists perhaps this should be more widely known.251 In seiner Antwort bestätigt Russell Solomons Beschreibung des „events“ und räumt ein, sich an diese Zeit nur sehr schlecht erinnern zu können.252 Der ansonsten knappe Bericht der Royal Engineers gibt mit einigen Details Auskunft über die Errichtung des ersten Baumes, die am 11. März 1916 unter der Aufsicht von Solo­ mon in der Nähe des belgischen Ypern durchgeführt wurde – noch bevor am 22. März 1916 der eigentliche „Special Works Park“ der britischen Armee in Wimereux eingerichtet wur­ de. Die realistische Gestaltung des Baumes wird im Bericht lobend hervorgehoben: „The external appearance of the tree was perfect, indistinguishable from the real tree at a few paces.“253 Außer seiner täuschend echten Erscheinung hatte der von Solomon entwickelte Baum zudem den Vorteil, dass er nur halb so schwer war wie das französische Modell und in einer einzigen Nacht aufgebaut werden konnte, während für die Montage des französi­ schen Modells nie weniger als zwei bis drei Nächte zu veranschlagen waren. Dennoch, so hält der Bericht fest, zeugten die Bäume von einiger Unerfahrenheit auf dem Gebiet der militärischen Aufklärung. Der erste Baum war noch zu klein – „too small to admit any but a most determined and enthusiastic man“254. Später wurden Modelle mit einem grö­ ßeren Durchmesser in Auftrag gegeben, von denen mindestens sechzig Stück produziert wurden.255 Ein Konstruktionsplan (Abb. 15) wurde angefertigt, der den Einheiten vor Ort Anleitung zum Aufstellen des Baumes gab. Nach der Beschreibung der erfolgreichen Aspekte dieser Erfindung zieht der Bericht jedoch eine ernüchterte Bilanz: On the whole, it cannot be said that O. P. [Observation Post] trees proved a great success, the chief reason being that the trees selected did not always give observation that was absolutely vital, and which could not be obtained from somewhere else. […] The consequence was that the excellence of observation did not compensate for the comparative discomfort of the observer.256

251 Blaikley, Brief an Walter Russell. 252 Vgl. Walter Russell, Brief an Edward Blaikley, Imperial War Museum. Imperial War Museum, First World War Artists Archive, Russell 135/4/39 (19.4.1935). 253 Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918, S. 122. 254 Ebd. 255 Vgl. ebd. 256 Ebd., S. 123.

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15 Konstruktionsplan für den Aufbau eines als Baum getarnten Beobachtungspostens, 1916, Imperial War Museum: Q 17811

Die aufwendig hergestellten Baumattrappen, denen ein intensives Studium der genutz­ ten Baumarten überhaupt und der einzelnen Bäume vor Ort vorausging, waren, so die abschließende Bilanz, militärisch von eher geringem Nutzen. Ikonografisch betrachtet erscheint diese kriegerische Praxis allerdings gerade in ihrer seltsamen Dysfunktionalität bemerkenswert. Die Bäume schreiben sich auf zweierlei Weisen in die Blickpolitik des Kriegsschauplatzes ein: zum einen hinsichtlich des eigenen Äußeren, das Teil des Kriegs­ schauplatzes wird und zum anderen durch die unbemerkten Blicke, die aus dem Inneren des Baumes auf den Kriegsschauplatz möglich werden. Während die äußere Gestaltung die landschaftlichen Merkmale sehr erfolgreich und überzeugend zu imitieren wusste, erwiesen sich die gewählten Blickpositionen aus dem Inneren des Baumes heraus als militärisch schlecht verwertbar. Zudem wurde durch das Aufstellen gerade von Baum­ imi­taten das Landschaftselement herausgegriffen, das die Verwüstung der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges par excellence verkörperte. Auf der gewaltsam erzeugten Leere be­ stimmten einzelne halbverstümmelten Bäume umso markanter das Bild. Eine Fotografie

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2. Der Maler Solomon J. Solomon als Camoufleur im Ersten Weltkrieg

16 Französischer Camouflagebaum bei Auberive, 1917, Imperial War Museum: Q 78890

vom Februar 1917 (Abb. 16) zeigt eine französische Baumattrappe in der Nähe der Front. Das Foto ähnelt vielen Bildern von Kriegslandschaften des Ersten Weltkrieges, auf denen auf­ geworfene Erde, Gestrüpp, vereinzelte Baumgerippe und der lange Horizont einer flachen Landschaft zu den wiederkehrenden Bildelementen gehören. Diese visuellen Charakteris­ tika der belgisch-französischen Frontlandschaft erweisen sich in der Fotografie des künstli­ chen Baums als wohl inszenierte Komposition. Nicht nur die Baumattrappe ist dabei eine Kopie, sondern die Bildkomposition imitiert die Elemente und die Ästhetik der bekannten Frontfotografie. Der Baum sticht zwar deutlich aus seiner Umgebung hervor – gerade da­ rin aber ist er dort unauffällig, wo einzelne Bäume inmitten eines flachen, aufgewühlten Geländes zum gewohnten Anblick gehören. Die Herstellung der Camouflagebäume und der Diskurs, der sich auf diese bezog, zeigen, dass nicht die Funktionalität alleine oder in erste Linie für die neu entstehenden militärischen Praktiken entscheidend war. Vielmehr entstanden sie in einem Aushandlungsprozess, in dem Konzepte von Naturimitation und vom Kriegsschauplatz als einem strategischen Ort des Blickens ebenso ausschlaggebend waren wie die Erfahrungen des Stellungskriegs.

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

Im Dezember 1916 kehrte Solomon nach London zurück und wurde dort mit dem Auf­ bau eines Ausstellungsgeländes für Camouflageobjekte und einer militärischen Schule für Camouflage beauftragt.257 Man stellte ihm dafür einen kleinen Bereich des Londoner Parks Kensington Gardens zur Verfügung. Die Schule führte er, bis die Leitung einem re­ gulären Offizier übertragen wurde.258 Solomon blieb der Schule als „honorary adviser“259 verbunden. In einer Notiz des „Comptrollers“ des Ministry of Munitions, das darum gebe­ ten wurde, die Schule mit dem nötigen Material zu versorgen, vom 12. März 1917 wird die Entstehungsgeschichte und der Aufgabenbereich der Schule dargelegt: This School has arisen out of the Camouflage Exhibition in Kensington Gardens which was arranged by the War Office in conjunction with this Department. This Exhibition was attended by the King and Queen, the Army Council, &c., and was so successful that is has been decided to retain it as a permanent School.260 Die Schule firmierte zuerst unter dem Namen „Special Works School“ und wurde später in „Camouflage School R. E.“ umbenannt.261 Das Angebot der Camouflage School wurde im Laufe der Jahre 1917 und 1918 immer breiter. Während sie zunächst nur zu Ausstellungs­ zwecken für die Besuche von höheren Militärs diente, gab es später reguläre Kurse für Offiziere, es wurden eigene Experimente durchgeführt und Prototypen entwickelt.262 Im Archiv des Imperial War Museum ist aus der Zeit der Camouflage Schule ein beein­ druckendes Fotoalbum erhalten geblieben. Es zeigt modellhaft arrangierte Kriegsszene­ rien vor dem Hintergrund des königlichen Parks. Eigentlich als Test der Effektivität der gezeigten Tarnungsobjekte und als Dokumentation der Arbeit dieser neuen Institution gedacht, zeichnen sich die Fotografien durch eine eigene Ästhetik starker Kontraste aus: Die Kriegsgeräte und Schützengräben treffen auf die friedliche Umgebung des gepflegten Parks mit seinen jahrhundertealten Bäumen. Der Gegensatz zwischen den kriegerischen Objekten und der unkriegerischen Umgebung unterstreicht den inszenierten Charakter der Fotografien. Auf der ersten Seite des Albums befindet sich eine einleitende Erklärung, handschrift­ lich und in kalligrafischen Lettern: 257 Somech Phillips, Solomon J. Solomon. 258 Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918, S. 112–113. 259 Klein, Development of the Camouflage School. 260 Ministry of Munitions, INVENTIONS AND SUGGESTIONS: Concealment: School of Special Works, Kensington Gardens. National Archives, Kew – Records of the Ministry of Munitions, MUN4/3353 (März–April 1917), hier: S. 8. 261 Das geht aus einer unveröffentlichten Chronologie der Camouflage School, verfasst von Adrian Klein, hervor, die sich im Archiv des Imperial War Museums befindet. Den Hinweis darauf verdanke ich Neil Crafter und Mark Rowlinson von der Alister Mackenzie Society, die mir ihre Forschungsnotizen zu Alister Mackenzies Verbindungen mit der Camouflage School großzügig zugänglich gemacht haben. Klein, Development of the Camouflage School. 262 Vgl. Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918, S. 113.

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The entire contents of this book have been taken or reproduced by the members of the photographic section attached to the CAMOUFLAGE SCHOOL R. E. stationed at Kensington Gardens, London for two years […]. The following photographs may help to convey some idea of the development of aeroplane observation and photography during the late WAR, which created the need for a new science – that of concealment from the air.263 Das erste Foto im Album (Abb. 17), das in der Bildunterschrift als „General view of the ­Camouflage School grounds“ erläutert wird, zeigt auf den ersten Blick einen gewöhnlichen friedlichen Park. Der Krieg, der zu der Zeit auch London bedrohte, scheint in dieser Garten­ anlage fern zu sein. Das Foto lokalisiert als Eröffnungsbild die Schule innerhalb des gezeig­ ten Parks. Darüber hinaus lebt die Dramaturgie des Albums auch vom Spiel mit Kontrasten. Wird eingangs ein dezidiert friedliches Erscheinungsbild präsentiert, stellt sich bei der Betrachtung der folgenden Bilder eine umso größere Überraschung ein. Damit folgt das Album auch der Logik der Camouflage, die lehrt, ein friedliches Äußeres zu hinterfragen, da sie um die trügerische Begrenztheit der ebenerdigen Perspektive weiß. Dies wird schon auf der nächsten Fotografie des Albums (Abb. 18) deutlich, die den­ selben Ort zeigt – jedoch aus der Luftperspektive aufgenommen. Von hier ergibt sich ein anderes, deutlicher militärisch geprägtes Bild: Zu sehen sind in den Boden eingegrabene Linien in unterschiedlichen eckigen und runden Formierungen. Zwei auf die Fotografie aufgezeichnete Pfeile zeigen auf mehrere runde Löcher im Boden. Das kleine Areal ist von baumgesäumten Alleen umgeben, die dem Raum den Eindruck von Geschlossenheit ver­ leihen. Durch die Luftaufnahme sollte offensichtlich getestet und dokumentiert werden, wie unterschiedliche Formierungen am Boden sich aus der Vogelperspektive darstellen. Die Übersichtlichkeit des wohl begrenzten Raumes lässt an die im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegten Konzepte von Kriegstheater und Kriegsschauplatz denken. Während der Krieg längst diese Dimensionen gesprengt hat und die Vorstellungen von einem be­ grenzten Kriegstheater obsolet geworden sind, wurde in Kesington Gardens ein begrenzter Schauplatz geschaffen. In seiner laborhaften Begrenzung ermöglichte dieser Schauplatz ein ungestörtes Experimentieren. Auf einem anderen Foto ist ein „dummy tank“, also eine Panzerattrappe zu sehen (Abb. 19). Die Aufnahme taucht in zwei verschiedenen Alben der Sammlung auf, mit be­ merkenswerten Differenzen in der Bilderläuterung. In einem Album ist das Bild mit der Unterschrift „realistic painting for silhouette dummy tank“264 beschrieben, wobei das Wort „for“ durch gestrichen und durch „of“ ersetzt wurde, so dass sich als Bildbeschreibung „­realistic painting of silhouette dummy tank“ ergibt. Offensichtlich beginnt schon bei der

263 British Army School of Camouflage, Album der Camouflage School in Kensington Gardens. Imperial War ­Museum, British Army School of Camouflage, 7501–13 (1917/18). 264 Fotografie mit der Signatur Q 17698, Imperial War Museum.

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

17 Gelände der Camouflage School in Kensington Gardens, Imperial War Museum: Q 95932

18 Luftfotografie der Camouflage School, Imperial War Museum: Q 95935

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19 Panzerattrappe, Imperial War Museum: Q 17698

Benennung die Schwierigkeit, das fotografierte Objekt eindeutig zu identifizieren. Der viel­ schichtige Realitätsstatus eines derartig maskierten Objektes ist schwer zu beschreiben, die simplifizierende Grammatik gewöhnlicher Bildunterschriften gelangt dabei an ihre Grenzen. Auf den ersten Blick wurde hier ein Panzer fotografiert. Betrachtet man das Bild genauer, stellt man fest, dass es sich nicht um einen echten Panzer, sondern um einen ge­ malten Panzer handelt. In dem anderen Album bezeichnet die Bildunterschrift das fotogra­ fierte Objekt als „flat surface of canvas painted to represent a tank“265. Diese Unterschrift nimmt Bezug auf den nicht so leicht erkennbaren Status des fotografierten Objekts und antizipiert durch den Verweis auf die bemalte flache Oberfläche mögliche Verwirrung. Die konventionellen Grenzen zwischen Repräsentation und realem Objekt vermischen sich in verwirrender Weise. Für gewöhnlich würde man eine bemalte Leinwand dem Bereich der Repräsentation zuordnen. Hier allerdings ist die bemalte Leinwand selbst das Objekt, wenn auch ein fake Objekt und usurpiert so – unterstützt durch die Zweidimensionalität der Fotografie – gleichsam das Hoheitsgebiet der realen Objekte.

265 Fotografie mit der Signatur Q 95940, Imperial War Museum.

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

20 „Tree with sniper in position“, Imperial War Museum: Q 17732

21 „Tree without sniper“, Imperial War Museum: Q 17733

Zwei weitere Fotografien, die auf dem Gelände der Camouflage School aufgenommen wurden, zeugen von einer ähnlichen Verwirrung (Abb. 20 und 21). Folgt man den Beschrif­ tungen des Albums, zeigt das erste Bild (Abb. 20) einen Baum mit einem Scharfschützen in Position und das zweite (Abb. 21) denselben Baum ohne Scharfschützen. Tatsächlich aber lässt sich auch bei näherem Hinsehen auf keinem der beiden Bilder ein Scharfschütze erkennen. Offenbar soll das Bild als Beweis für eine besonders gelungene Tarnung gel­ ten – ein allerdings fragwürdiger Beweis: Je perfekter die Tarnung, desto weniger lässt sie sich auf einem Bild darstellen. Es erweist sich als widersinnig, die Perfektion einer Tarnung mit einem Bild ‚beweisen‘ zu wollen. Eine solche paradoxe Konstellation aus Bild und Text erinnert an den „Verrat der Bilder“ („La trahision des images“), den einige Jah­ re später im Jahre 1929 der surrealistischer Maler René Magritte mit seiner berühmten Pfeife zum Thema machte. Die beiden präsentierten Fotografien führen eher die Rolle der Einbildungskraft bei der Bildbetrachtung vor, die womöglich in der Lage ist, einen Scharfschützen zu erkennen, wenn die Bildunterschrift seine gut getarnte Anwesenheit behauptet. Der Zusammenhang, in dem die beiden Bilder stehen, ähnelt der paranoischen Argumentation Solomons, die zum Konflikt über seine Interpretation der Luftfotografi­ en führte. Denn Solomon begegnete allen Einwänden, die Zweifel äußerten, ob auf den

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22 Getarnter Bunker in Kensington Gardens, 1917/18, Imperial War Museum: Q 17713

Luftfotografien ­tatsächlich – wie von ihm vehement vertreten – groß angelegte deutsche ­Camouflageanlagen abgebildet sind, mit ein und demselben Argument: Diese Camou­ flage sei so perfekt, dass nur ein besonders geschultes und sensibles Auge sie entlarven könne. Abb. 22 zeigt inmitten der Parkanlage einen getarnten Bunker. Davor sitzt ein Soldat, die Ellbogen auf die Knie gestützt, im Graben, der zum Eingang des Bunkers führt. Der Bunker ist in die Wiese eingegraben und ragt mit einem gewölbten Dach leicht über die­ se hinaus. Ein fleckiges Tuch oder Netz ist über das Dach gelegt. Es ist nicht erkennbar, an welcher Stelle der Überwurf aufhört und die Wiese beginnt. Im Hintergrund sind ein eingezäunter Spazierweg und mehrere große Bäume zu sehen, die zu verstehen geben, dass dies kein ‚echtes‘ Kriegsgebiet ist, sondern der Probeschauplatz, auf dem überprüft werden soll, wie sehr die Kriegsarchitektur optisch mit dem Park zu verschmelzen in der Lage ist. Als ein besonders erfolgreiches in Kensington Gardens erprobtes Camouflageobjekt hebt der Bericht der Royal Engineers aus Sperrholz – später aufgrund von Materialknapp­ heit aus Pappkarton – ausgeschnittene und bemalte Figuren hervor, sogenannte „dummy

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

23 Figuren für simulierte Angriffe, hergestellt in Kensington Gardens, Imperial War Museum: Q 17687

silhouette figures“266 (Abb. 23). Diese Figuren oder Figurengruppen konnten mit einem befestigten Draht aufgestellt werden und hatten den Zweck, einen Angriff zu simulieren und das Feuer des Gegners auf sich zu ziehen. Wie auf der Fotografie zu sehen ist, wurden sie als Silhouetten liegender, halb aufrechter und stehender Männer produziert. Nach der Entwicklungsphase in Kensington Gardens wurden diese ‚Pappkameraden‘ in den Werk­ stätten in der Nähe der Front in standardisierter Form von weiblichem Personal hergestellt. Einen Eindruck von dieser Arbeit in der Camouflagewerkstatt gibt Abb. 24. Der Bericht listet vier Zielsetzungen auf, die mit dieser Art von simulierten Angriffen, „chinese attacks“267 wie sie im Text genannt werden, verbunden waren: 1. die Aufmerk­ samkeit von einem echten Angriff ablenken; 2. die Feuerkraft des Gegners testen; 3. den Gegner dazu bringen, seine Waffen- und Verteidigungspositionen zu erkennen zu geben; 4. den Gegner dazu bringen, seine Schützengräben mit Truppen zu besetzen, um diese dann selbst bombardieren zu können. Eine weitere wichtige Funktion, die nicht explizit 266 Addison, Work of the R. E. in the European War 1914–1918, S. 126. 267 Ebd., S. 126–128.

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24 Arbeiterinnen stellen „dummy attack figures“ her, Imperial War Museum: Q 17770

aufgelistet wird, geht aus dem beschreibenden Text hervor: die Verunsicherung der geg­ nerischen Partei. Der Text beschreibt einen Fall, in dem dreihundert Figuren eine halbe Stunde lang das Feuer auf sich zogen und somit wichtige Informationen über den Standort der gegnerischen Waffen gewonnen werden konnten. Nach dem Ende dieser erfolgreichen Operation ließ man die Puppen an Ort und Stelle stehen, um der gegnerischen Truppe zu zeigen, dass sie getäuscht worden war. On this occasion, after the barrage ceased the figures were left standing to show the enemy that he had been fooled, with the idea that on the day of the real attack he would look twice before calling on his artillery to put down a barrage.268 Welchen Sinn hatte es, der gegnerischen Seite vorzuführen, dass sie getäuscht worden war? Zunächst ging es um einen demoralisierenden Effekt. Darüber hinaus sollten grund­ sätzliche Zweifel an der Wahrnehmung geweckt werden – gegebenenfalls mit dem Ziel, die 268 Ebd., S. 127.

Camouflage School der Royal Engineers in Kensington Gardens, London

gegnerische Truppe bei einem echten Angriff, der dann erst auf seine Echtheit geprüft wer­ den würde, verzögert reagieren zu lassen. Die in Kensington Gardens erprobten Camouf­ lagetechniken und hergestellten Objekte entfalteten ihre Wirkung also nicht nur durch direkte Täuschung. Gezielt wurde auch das Narrativ genialer Täuschungen verbreitet, das potentielle Täuschungen erwarten, befürchten und imaginieren ließ.

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3. László Moholy-Nagys New Bauhaus (Chicago) und Camouflage im Zweiten Weltkrieg Ausgangsituation und Quellenlage: New Bauhaus und School of Design in Chicago Im vorangegangenen Kapitel wurde erörtert, welche Aspekte von Solomons künstle­ rischem Arbeiten sich besonders gut auf die Kriegssituation übertragen lassen, welche Konzepte für seine Fotografieinterpretation eine Rolle spielen und welche gesellschafts­ politischen Implikationen seine Vorgehensweisen offenbaren. Die Entwicklung der ers­ ten Camouflagestrategien erwies sich als eng verwoben mit verschiedenen zeitgenössisch virulenten Problemstellungen. Wie viele andere Künstler*innen auch sah Solomon sich als Maler in der Verantwortung, seine Expertise einzubringen, als zu Beginn des Ersten Weltkrieges klar wurde, dass die durch neue Waffen und den Einsatz der Luftfotografie fundamental veränderte Kriegsführung auch innovative bildliche Strategien erforderlich machte. Die Beteiligung von Künstler*innen wie Solomon an der Entwicklung der neu­ en visuellen Kriegsstrategien muss im Zusammenhang einer komplexen Konstellation betrachtet werden. Anhand von Solomons Beiträgen in militärischen Zusammenhängen konnte im Vorangegangenen eine weitreichende Debatte um Kompetenzen herausgear­ beitet werden: Wie lässt sich der Beitrag einer Fotografie zur Wahrheitsfindung verbürgen? Wer ist in der Lage, schwer deutbare Fotografien korrekt zu interpretieren? Die vorliegende Studie konnte sich in weiten Teilen auf didaktische Materialien stüt­ zen. Dazu zählen die beiden von Solomon verfassten Lehrbücher sowie die Dokumenta­ tion der Aktivitäten der Camouflage School, an deren Arbeit er maßgeblich beteiligt war. Der Vorzug dieser didaktischen Zeugnisse für die Analyse lag darin, dass die Prinzipien, Methoden, und Überzeugungen, die der Maler als relevant für seine Praxis verstanden wissen wollte, in ihrer Programmatik explizit gemacht werden. In ihrer spezifischen Inten­ tionalität bieten sie reichlich Material für die inhaltliche Auseinandersetzung, positionie­ ren sich aber darüber hinaus auch als gesellschaftspolitische Diskursbeiträge, markieren Fehlentwicklungen und bieten eigene Ideen als Lösungsvorschläge an. Analog soll es im Folgenden um die spezifischen künstlerischen wie gesellschafts­ politischen Umstände gehen, die gut ein Vierteljahrhundert später den Beitrag des New Bauhaus zur Camouflage im Zweiten Weltkrieg kennzeichnen. Der in der Kriegssituation entwickelte Anwendungsbezug der künstlerischen Arbeit, der bei Solomon angesichts sei­ ner konservativen Überzeugungen überrascht, gehört in der Tradition des Bauhauses von Anfang an ausdrücklich zum programmatischen Konzept. Während der Maler Solomon die künstlerische Ausbildung auf die Schulung des Auges fokussiert, zielt das Curriculum des New Bauhaus auch auf handwerkliche Fertigkeiten, auf den Gebrauch moderner Techno­ logien und auf die Förderung eines sinnlichen Zugangs zu Materialien. Das militärische Engagement des New Bauhaus im Chicago der frühen 1940er Jahre vollzieht sich dabei naturgemäß unter anderen Vorzeichen als Solomons Mitwirkung fast

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3. László Moholy-Nagys New Bauhaus (Chicago) und Camouflage im Zweiten Weltkrieg

drei Jahrzehnte zuvor. Neben der militärischen Camouflage bildete sich zur Zeit des Zwei­ ten Weltkriegs auch der Bereich der industriellen, zivilen Camouflage heraus. Darunter wurden in Abgrenzung zur militärischen Camouflage, mit der man sich auf direkte Kriegs­ handlungen bezog, die Maßnahmen verstanden, die private Unternehmen zur Tarnung der von ihnen genutzten Gebäude, häufig Fabrikanlagen, ergriffen. Aufgrund der technischen Entwicklung, durch die im Zweiten Weltkrieg die Flugzeuge in der Lage waren, Bomben über weite Strecken zu transportieren, war die Möglichkeit eines Angriffs nun potentiell auf dem gesamten Gebiet der kriegsbeteiligten Länder gegeben. Das Wissen um die Not­ wendigkeit von Tarnung entwickelte sich nicht zuletzt durch die Verdunklungsverordnun­ gen für die Bevölkerung von einer kuriosen militärischen Innovation zum weit verbreite­ ten Allgemeinwissen. Der Architekt Konrad Wittmann veröffentlichte 1942 im Rahmen des Pratt Institute, einer renommierten New Yorker Kunsthochschule, das Handbuch „Industri­ al Camouflage Manual“. In ihm arbeitet er heraus, inwiefern die Möglichkeit von Luftangrif­ fen einen entscheidenden Wendepunkt für die Stadtplanung und jegliches Bauvorhaben darstellt. Das Bewusstsein für die Verletzbarkeit durch einen Angriff aus der Luft führe ein neues Kriterium in die Planung ein: „the bird’s-eye view. Until now, we designed a factory with ground-plan and elevation, but it is no longer unimportant how it looks from the sky.”1 Zunächst soll herausgearbeitet werden, worin der Beitrag des New Bauhaus zur ­Camouflage bestand und wie es zur Mitarbeit der Designschule und ihrer prominenten Lehrer*innen kam.2 Die Untersuchung will sich dabei auch hier von der Frage leiten las­ sen, in welcher Beziehung die Camouflageaktivitäten zu den künstlerischen Arbeiten und didaktischen Ansätzen der Schule stehen. Auf welche Weise wird die Beschaffenheit des Kriegsschauplatzes reflektiert und inwiefern wird zu dessen Gestaltung beigetragen? Wo finden sich die Einflüsse der Auseinandersetzung mit der Camouflage und den Blick­ politiken des Krieges in der Arbeit der Schule wieder? Da sich das Thema für die Unter­ suchung von Solomons Schaffen als besonders relevant erwies, soll auch im Folgenden gefragt werden, wie die Künstler*innen des New Bauhaus ihre Rolle im Krieg verstanden und in welche Debatten sie sich durch ihre Beteiligung einschalteten. Nach Umzügen von Weimar nach Dessau (1925) und von Dessau nach Berlin (1932) wurde das Bauhaus 1933 nach nur kurzem Wirken in der Hauptstadt von den Nationalso­ zialist*innen geschlossen. Spätestens in dieser politisch verhängnisvollen Situation, die das Ende des Bauhauses in seiner bisherigen Gestalt markiert, beginnt die weit verzweigte Migrationsgeschichte der Protagonist*innen und Ideen des Bauhauses. Einem Strang die­ ser Migrationsgeschichte, die sich im Zweiten Weltkrieg mit der Militär- und der Kunstge­ schichte der Camouflage verbindet, soll hier nachgegangen werden. Es handelt sich dabei um Wanderungsbewegungen in mehrfachem Sinne: Nicht nur brachten die ehemaligen 1 2

Konrad P. Wittmann, Industrial Camouflage Manual. Prepared for the Industrial Camouflage Program at Pratt Institute, New York 1942, S. 7. Vgl. dazu John R. Blakinger, Un camouflage New Bauhaus. György Kepes et la militarisation de l’image, Paris 2014.

Ausgangsituation und Quellenlage: New Bauhaus und School of Design in Chicago

Mitglieder des Bauhauses ihre Ideen und Erfahrungen in die neuen Bezugsrahmen ihrer Exilorte und in die Gesellschaften ihrer neuen Heimaten ein. Im Kontext der Camouflage wanderten zudem Erkenntnisse und Praktiken aus den Grenzen ihrer Entstehungszusam­ menhänge als avantgardistische Kunst aus und in gänzlich fachfremde Bereiche wie Mi­ litär und Krieg ein, wodurch die alte Heimat der künstlerischen Moderne in einem ganz neuen Licht erscheint. Es überschneiden sich hier, so könnte man sagen, die drei Achsen der physisch-räumlichen Migration der Künstler*innen, der Übertragung der am Bauhaus entwickelten Ideen in andere politische und kulturelle Kontexte und der disziplinären Grenzüberschreitung in den Bereich des Militärischen und der Kriegsführung. Das vorliegende Kapitel untersucht die Camouflageaktivitäten des 1937 in Chicago gegründeten New Bauhaus und seiner unter dem Namen School of Design firmierenden Folge­institution, die vom vormaligen Bauhausmeister László Moholy-Nagy geleitet wur­ den. Zunächst war Walter Gropius von der Chicagoer Association of Arts and Industries für die Leitung der Schule angefragt worden. Da dieser aber gerade seine Tätigkeit als Professor für Architektur an der Harvard University begonnen hatte, empfahl er seinen un­ garischen Kollegen aus Weimarer und Dessauer Zeiten für die Aufgabe der Gründung und des Aufbaus einer Chicagoer Designschule im Geiste des Bauhauses. Das New Bauhaus musste allerdings bereits im Jahr nach seiner Gründung aufgrund von finanziellen Schwie­ rigkeiten schließen. Doch schon 1939 gelang es Moholy-Nagy, sein Projekt einer durch die Prinzipien des Bauhauses geprägten Ausbildung in Chicago unter dem Namen School of Design fortzusetzen, diesmal ohne namentliche Referenz auf das berühmte Original in der Alten Welt. 1944 wurde die School of Design in Institute of Design umbenannt und als solche im Jahr 1947 institutionell an das Illinois Institute of Technology (IIT) angebunden; in diesem organisatorischen Rahmen besteht sie bis heute unter demselben Namen.3 Die Association of Arts and Industries, die die Designschule ins Leben rief, war ein Chicagoer Zusammenschluss von Industriellen, Mäzen*innen, Architekt*innen und Künst­ ler*innen, die sich die Verbesserung der Qualität von Design in der Industrieregion Chi­ cago sowie eine Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Bereichen von Gestaltung und Herstellung industrieller Produkte zum Ziel gesetzt hatten. Mit der Gründung einer Designschule sollten die Konzepte des international renommierten Bauhauses für den Chicagoer Kontext, verstanden als Industriestandort, fruchtbar gemacht werden. Es war außerdem bekannt, dass viele Bauhäusler*innen sich gezwungen sahen, Deutschland zu

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Diese Namenswechsel spiegeln die prekäre finanzielle und institutionell instabile Lage der Schule. Um dieser unübersichtlichen Situation Herr zu werden, bedarf es für den Rahmen dieser Studie einer Sprach­ regelung. Wo es im Folgenden um die grundsätzliche Ausrichtung der Schule geht, werde ich New Bauhaus als Überbegriff für das New Bauhaus und seine Folgeinstitutionen School of Design und Institute of Design für die Zeit bis 1946 benutzen, in der Moholy-Nagy die Leitung inne hatte. Denn die Formen der Institutio­ nalisierung, die die Schule durchlief, sind zwar sehr unstet, die inhaltlich-methodische Ausrichtung unter Moholy-Nagys Leitung von 1937 bis zu seinem Tod 1946 weist jedoch eine große Kontinuität auf. Als New Bauhaus bezeichne ich also die von ihrem Bauhauserbe geprägte Schule wie das mit ihr verbundene didak­ tische Konzept. Geht es konkret um die einzelnen Institutionen verwende ich deren Namen.

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verlassen.4 In einer Broschüre rief die Association of Arts and Industries Industrielle auf, sich an der Finanzierung einer Schule zu beteiligen, für die namhafte Unternehmen und Stiftungen wie die Rockefeller Foundation schon große Summen gespendet hätten. In den USA mangele es an adäquaten Ausbildungsstätten im Bereich des Designs, so der Aufruf, und gerade Chicago als Zentrum industrieller Produktion könne enorm davon profitieren, wenn innovative Designkonzepte, hier als „industrial art“ bezeichnet, vor Ort Verbreitung fänden. So wirbt die Broschüre für ihr Projekt einer „industrial art school“: Real industrial art schools where designers are trained in all the practical stages of the materials they are to work with are very few in this country, real efforts of this sort numbering two or three in contrast to hundreds abroad. It is fitting that the first comprehensive one be established in this great manufacturing center of the Middle West.5 Die Betonung liegt dabei auf dem Training in „all the practical stages of the material“, was den Stellenwert des direkten praktischen Anwendungsbezugs innerhalb der Ausbildung betont und das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten sowie den Umgang mit in der indus­ triellen Produktion verwendeten Maschinen impliziert. In der sich unter dem Nationalso­ zialismus verschärfenden Lage in Deutschland sah die Association ihre Chance, die in der Broschüre gepriesene Expertise auf dem Feld des Designs und der Ausbildung von Desig­ ner*innen nach Chicago zu holen. Die Geschäftsführerin der Association of Arts and Industries Norma Stahle bot Moholy-Nagy die Leitung der Schule an, die im Herbst 1937 eröffnet werden sollte. In einem Brief legt sie diesem die Situation in Chicago und die von der Association identifizierten Bedürfnisse der Region dar. Dabei betont sie dem potentiellen Grün­ dungsdirektor gegenüber die reizvollen Bedingungen, etwas gänzlich Neues zu etablieren: We are starting without any hampering traditions and we think we have a real opportunity in this great manufacturing district in the Middle West to establish a school of the type so needed in the United States. […] We have tried to establish our school in connection with the Museum School but the effort was a failure as you may know it would be […]. […] With our background there is an opportunity to establish much the type of school you had at Dessau and I am wondering whether it would interest you to become the head of the school.6

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Vgl. dazu die Dissertation von Lloyd Engelbrecht, in der er die Beziehungen des New Bauhaus mit der Asso­ ciation of Arts and Industries untersucht: Lloyd Engelbrecht, The Association of Arts and Industries: Back­ ground and Origins of the Bauhaus Movement in Chicago, Dissertation. Chicago 1973. Association of Arts and Industries, Pamphlet für eine Industrial Art School. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 1, Folder 1 ([ca. 1937]). Brief von Norma Stahle an László Moholy Nagy, 29. Mai 1937, abgedruckt in: Sibyl Moholy-Nagy, Moholy-­ Nagy. Experiment in Totality, New York 1950, S. 140.

Ausgangsituation und Quellenlage: New Bauhaus und School of Design in Chicago

Bei ihrer Ablehnung von „hampering traditions“ und ihrer betont kritischen Einstellung zum Museum konnte sie fraglos auf Moholy-Nagys Zustimmung bauen. Der gescheiterte Versuch einer Zusammenarbeit der Association mit der Museumsschule zeigt an, dass hier eine größere und offensichtlich sehr kontroverse Debatte um Kunst und deren Nutz­ barkeit im Zusammenhang mit industrieller Produktion vorangegangen war. Aus Sicht der Association bot das vom Bauhaus entwickelte anwendungsaffine Kunstverständnis zu­ mindest die Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Industrie und der in Chicago bislang dominanten Auffassung von dem, was unter Kunst zu verstehen sei. Kurz nach der Eröffnung der Schule kam es aber auch hier schnell zum Bruch: Die experimentelle Arbeit des New Bauhaus entsprach nicht den Erwartungen der Industriellen bezüglich verwertbarer Designs.7 Die Industriestadt Chicago entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem amerikanischen Zentrum der aus England kommenden Arts and Crafts Bewegung, die die Bedingungen der industriellen Arbeit kritisierte und handwerkliche Arbeitswei­ sen dagegen in Position brachte. Als Zentrum dieser Bewegung war Chicago Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ort, an dem sich Künstler*innen und Architekt*innen intensiv mit dem Verhältnis von Mensch und Maschine auseinandersetzten und über Möglichkeiten debattierten, die industrielle Produktion anders zu gestalten.8 Kurz vor Moholy-Nagys Ankunft im Jahr 1937 ereignete sich das „Memorial Day Massacre“, bei dem im Zuge der staatlichen Bekämpfung eines 64 Tage dauernden Streiks von Stahlarbeiter*innen am 30. Mai in Chicago zehn Streikende von der Polizei getötet wurden.9 In dieser Atmosphäre der Arbeitskämpfe und der Sorge um die Gestaltung industrieller Arbeit gab es ein großes In­ teresse am Bauhaus und seinen Versuchen, Formgestaltung und industrielle Herstellung neu zu denken und zu organisieren. Diese Debatten sind die Vorgeschichte für die Camouflageaktivitäten der School of ­Design  – sozusagen das Diskursgewebe, an das Moholy-Nagy bei seiner Ankunft in Chica­ go seine Ideen anknüpfte. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gab der Kontrover­ se um die Funktionalität von Kunst eine zusätzliche Schärfe. Die politische Ausnahmesi­ tuation sorgte dafür, dass die Frage nach der Kunst im gesellschaftlichen Bewusstsein den Raum der Frage nach der wirtschaftlichen Nutzbarkeit verließ, in dem sie zuvor kontrovers verhandelt worden war, und verstärkt auch unter Aspekten von moralischen, kulturellen, gesellschaftlichen, nationalen oder demokratischen Werten diskutiert wurde. Ab 1941 wurden an der School of Design Kurse in Camouflage angeboten, für die als Leiter des Light and Color Workshops der ungarische Künstler György Kepes verantwortlich war, der

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Vgl. Victor Margolin, The Struggle for Utopia. Rodchenko, Lissitzky, Moholy-Nagy, 1917–1946, Chicago 1997, S. 214–227. Vgl. Emma Stein, László Moholy-Nagy and Chicago’s War Industry. Photographic Pedagogy at the New Bauhaus, in: History of Photography, 38/4 (2014), S. 398–417, hier: S. 400 und Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 537–543. Vgl. Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 437.

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seit 1930 eng mit Moholy-Nagy zusammengearbeitet hatte. Broschüren zur Ankündigung der Veranstaltungen, die im Archiv der Schule zugänglich sind, geben Auskunft über die Argumentationsstrategien der Schule hinsichtlich ihrer besonderen Kompetenz auf dem Feld der Camouflage. Optische Experimente zur Wahrnehmung bezeugen ein gesteigertes künstlerisches Interesse an gestaltpsychologischen Überlegungen. Schulinterne Unterla­ gen wie Entwürfe für das Kursprogramm, von Studierenden angefertigte Kursmitschriften und Hausarbeiten sowie Korrespondenzen mit der zuständigen Behörde des US Office of Civilian Defense geben Aufschluss über die Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden und über die Teilnehmenden. Moholy-Nagy und Kepes wirkten zudem an einer Artikelrei­ he über Camouflage mit, die in Civilian Defense erschien, einer Zeitschrift, die sich an „­Defense Council Directors and Executives for Plant Protection“ richtete und – anders, als der Name vermuten ließe – nach Auskunft des Covers in keiner Verbindung mit dem ­Office of Civilian Defense stand.10 Dieses Material erlaubt es, in den folgenden Kapiteln die Camouflagearbeit der School of Design in der Bauhaustradition zu verorten und in der Tradition ihres ästhetischen und didaktischen Programms wahrzunehmen. Da die Schule sich darüber hinaus mit ihrem Camouflageprojekt auch offensiv an anderen gesellschaft­ lichen Diskursen – militärischen, pädagogischen, gestalterischen – beteiligte, soll im Fol­ genden herausgearbeitet werden, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen sie dies realisierte. Wie wurde die visuelle Kriegsstrategie der Camouflage im Kontext des New Bauhaus begleitet und reflektiert? Wie verstand das New Bauhaus sein militärisches Engagement? Welche Implikationen für die Blick- und Bildpolitiken des Krieges ergaben sich daraus? Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Ausstellung mit dem Titel „War Art“, in der 1942 in einem Museum für zeitgenössische Kunst auf dem Cam­ pus der University of Chicago, der Renaissance Society, Objekte präsentiert wurden, die im Rahmen des Camouflagekurses an der School of Design entstanden waren. Eine nä­ here Betrachtung der Schau, in der Künstler*innen ihre Beiträge zum Krieg zeigten, ist äußerst aufschlussreich für die Beziehung zwischen Kunstwelt und Militär – wenn sie auch kaum Spuren hinterlassen hat und heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Unbestreitbar sind die dort gezeigten Kriegsobjekte ungleich weniger folgenschwer als die vernichtende Kraft der Atombombe, an deren Entwicklung in unmittelbarer Nähe des Museums im metallurgischen Labor der University of Chicago gearbeitet wurde. Ein Denkmal auf dem Campus erinnert daran, dass dort im selben Jahr die erste Kernspaltung durchgeführt wurde. 1942 dagegen fand die Ausstellung – unter anderem von Objekten zur Tarnung – öffentlich statt, während die Kernspaltung unterirdisch und unter strengster Geheimhaltung durchgeführt wurde. Das räumliche Nebeneinander der sichtbaren und 10 Vgl. die dreiteilige Artikelserie: John L. Scott, Civilian Camouflage Goes into Action, in: Civilian Defense, 1/2 (Juni 1942), 7–11; 33–34; John L. Scott, László Moholy-Nagy und Gyorgy Kepes, A Bird’s-Eye View of Camou­ flage, in: Civilian Defense, 1/3 (Juli-August 1942), S. 10; John L. Scott, László Moholy-Nagy und György Kepes, Materials for the Camoufleur, in: Civilian Defense, 1/4 (September 1942), S. 13–16.

Kriegsprogramm der School of Design

unsichtbaren militärischen Forschungen auf dem Campus der University of Chicago steht beispielhaft für die Bedeutung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in diesem Krieg und lässt etwas von der Komplexität der unterschiedlichen fachlichen Verstrickungen erahnen. Wenn von Künstler*innen propagierte Prinzipien der Tarnung nur wenige Monate nach Kriegseintritt des Landes in einem Kunstmuseum öffentlich ausgestellt werden, während gleichzeitig nebenan Physiker*innen unter höchster Geheimhaltung mit der Entwick­ lung einer Atombombe beschäftigt sind, dann ist das eine besonders subtile Form von Camouflage. Ein weiterer Beitrag der School of Design auf dem Gebiet der Camouflage war Mo­ holy-Nagys Mitgliedschaft im Civil Defense Committee der Stadt Chicago unter Leitung des Bürgermeisters Edward J. Kelly, für das er gemeinsam mit Kepes und Nathan Lerner Pläne zur Tarnung Chicagos für den Fall eines Luftangriffes entwarf. Da für diesen Entwurf elektrisches Licht ein zentrales Element war, soll er im Rahmen dieser Arbeit in Bezug zu vorangegangenen Überlegungen und Arbeiten der drei Künstler zu Licht als Ausdrucks­ medium gesetzt werden.

Kriegsprogramm der School of Design Die School of Design steht seit Eintritt der USA in den Krieg unter verstärktem ökonomi­ schen Druck. Die Frage nach dem Sinn einer künstlerischen Ausbildung ist so virulent, dass Moholy-Nagy sie in seiner Ansprache zur Feier der ersten Absolvent*innen von New Bauhaus und School of Design im Sommer 1942 aufgreift: Since the outbreak of the war, students and faculty have been confronted with queries as to whether our work is not a luxury in times of strife. We have been urged to ‘teach something real’ instead of insisting on experimental work with pencil, brush, camera, tool and loom.11 In dieser Atmosphäre ist es eine besondere Herausforderung aufzuzeigen, dass gerade die als Luxus für Friedenszeiten geschmähten experimentellen Arbeiten mit „pencil, brush, camera, tool and loom“ im Krieg einen unverzichtbaren Beitrag leisten können. Die Architekturhistorikerin Sibyl Moholy-Nagy, seit 1928 mit Moholy-Nagy verheiratet, beschreibt 1970 – lange nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 1946 – diese Krisen­ situation in einem autobiografischen Rückblick. Sie erinnert sich, wie in einer Nacht das auf die Situation des Kriegseintritts bezogene Programm der School of Design entwickelt wurde, um die Schließung durch das Gremium der Geldgeber*innen zu verhindern. Kurz nach dem Kriegseintritt der USA habe der Industrielle Walter Paepcke, ein enger Ver­ trauter ihres Mannes und bedeutender Förderer der Schule sowie Inhaber der Pappkar­ 11 Moholy-Nagy, Moholy-Nagy. Experiment in Totality, S. 188.

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tonfirma Container Corporation of America in einem Gespräch sein Bedauern über die Entscheidung des Fördergremiums zum Ausdruck gebracht: „the board had decided to close the school as no longer viable.“12 Daraufhin habe dieser kurzerhand vorgegeben, ein für die Kriegssitutation modifiziertes Programm vorlegen zu können, und dieses noch in derselben Nacht gemeinsam mit Sibyl entwickelt. Sie erinnert sich mit folgenden Wor­ ten an die Szene: „‘I have several programs in my mind’, Moholy hoisted a pure white lie. ‘I have been developing ideas for months. Tell you what, Walter, tomorrow I’ll put it all in writing, and day after tomorrow you can present it to the board.’ “13 Konfrontiert mit der Aussicht, dass im Krieg kein Raum für künstlerische Ausbildung ist, erklärte er seine Form der künstlerischen Ausbildung zur geradezu optimalen Vorbereitung auf den Kriegsein­ satz. Wenn „design for living“14 menschliches Zusammenleben gestalten wollte, dann galt das für Moholy-Nagy auch und gerade im Krieg, der die schon lange konstatierte „present world crisis“15 nur deutlicher spürbar machte und mit Kriegseintritt geografisch näher an das Territorium der USA rückte. Auf diese Weise entstand über Nacht ein „three-point emergency program”, mit dem die School of Design, wie die Autorin ironisch kommentiert, sich für einen amerikanischen Sieg „as essential […] as, say Mrs. Roosevelt’s smile”16 machte. Die Anekdote unterstreicht, dass das Kriegsprogramm der School of Design weniger aus der nationalen militärischen Notlage als aus der Situation der Existenzbedrohung der Schule geboren wurde. Sibyl ­Moholy-Nagy schätzte, zumindest in ihrer anekdotischen Rückschau und mit dem großen zeitlichen Abstand von 1970, den Beitrag der School of Design als für den Ausgang des Krieges kaum relevant ein. Umgekehrt allerdings war die Auseinandersetzung der School of Design mit ihrer möglichen Rolle im Krieg und mit ihrem gesellschaftlichen Potential zentral für das Schulprogramm wie für die daraus entstandenen künstlerischen Arbei­ ten. Die Camouflagekurse und die Ausstellung „War Art“ zeugen davon, dass der Krieg für die Schule die Möglichkeit eröffnete und gleichzeitig die Notwendigkeit schaffte, ihr Profil zu schärfen, ihre Konzepte und pädagogischen Ansätze in einer durch die Dring­ lichkeit des Krieges verdichteten Form zu entwickeln und publik zu machen. Moholy-­ Nagy gelang es in beeindruckender Weise, seine vom Bauhaus geprägten pädagogischen und künstlerischen Ziele argumentativ an die Kriegserfordernisse seiner neuen Heimat anzupassen. Die drei Punkte des Kriegsprogramms führt Sibyl Moholy-Nagy folgendermaßen aus:

12 Sibyl Moholy-Nagy, „Moholy-Nagy: The Chicago Years (1970)“, in: Richard Kostelanetz (Hg.), Moholy-Nagy, New York 1970, S. 22–26, hier: S. 24–25. 13 Moholy-Nagy, Moholy-Nagy: The Chicago Years (1970), S. 24–25. 14 Moholy-Nagy, Lecture “School of Design of Design in Chicago”, S. 2. 15 Ebd., S. 1. 16 Moholy-Nagy, Moholy-Nagy: The Chicago Years (1970), S. 24–25.

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Eight weeks after Pearl Harbor, when the spring semester of 1942 opened, he had found three connecting links between the program of the School of Design and the war effort. The analysis of visual elements, and the psychology of light and color perception, could be applied to camouflage techniques. The creative co-ordination of hand and eye, shaping new forms and exploring new uses for known materials, could serve disabled veterans in occupational therapy; and, thirdly, the knowledge of wood and its infinite adaptability could lead to a replacement of metal parts by wood forms.17 Bei der Entwicklung des Kriegsprogramms für die School of Design handelte es sich um eine bemerkenswerte Übertragungsleistung. Die Formulierung „he had found three connecting links“ macht deutlich, dass aus der Perspektive der bisherigen Arbeit der Schu­ le Verbindungslinien zu möglichen Kriegserfordernissen gezogen wurden. Die durch den Krieg verschärfte finanzielle wie personelle Lage zwang Moholy-Nagy als Direktor dazu, die an seiner Schule vermittelten Kompetenzen neu zu formulieren und potentielle An­ wendungsfelder zu benennen. Der Bürgermeister von Chicago, Edward J. Kelly, berief Moholy-Nagy am 19. Dezember 1942 in das offizielle städtische Komitee des Office of Civilian Defense, das damit beauf­ tragt war, nach Möglichkeiten zur Tarnung Chicagos zu suchen.18 Dazu führte das Komitee Testflüge über der Stadt durch und entwickelte den Plan, die markante Küstenlinie des Lake Michigan, die die Stadt von oben gesehen leicht lokalisierbar machte, durch auf dem Wasser schwimmende Lichter optisch zu verschieben.19 Das schulische Kriegsprogramm bestand zunächst in der Einführung von Camouflagekursen, die unter der Leitung von Kepes standen. Dazu kam ein Rehabilitationsprogramm für verletzte Veteranen, das als kreative Beschäftigungstherapie viel Beachtung fand und von Moholy-Nagy 1943 ausführ­ lich in einem Artikel in der Zeitschrift The Technology Review dargelegt und 1946 nochmals als Sonderausgabe veröffentlicht wurde.20 Des Weiteren stand auf dem Stundenplan Ma­ terialforschung für den „war effort“; angesichts der durch den Krieg verursachten Materi­ alknappheit wurde mit dem Einsatz möglicher Ersatzsubstanzen ­experimentiert. In der Pressefanden vor allem die von der School of Design entwickelten Holzfedern B ­ eachtung, die 1942 in der Frank J. Seng Company in Produktion gingen. 21 Mit dem Ende des Krieges 17 Moholy-Nagy, Moholy-Nagy. Experiment in Totality, S. 183. 18 Vgl. Moholy-Nagy, Moholy-Nagy. Experiment in Totality, S. 183 und Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 612. 19 Meyer Zolotareff, How Chicago May Hide From Bombers! Study ‚Science of Illusion‘, in: Herald American Chicago, 12.1.42, S. 13 und Moholy-Nagy, Moholy-Nagy, S. 183–184. 20 László Moholy-Nagy, Better than Before. Proposal Is Made for a Program of Rehabilitation of Handicapped People by Techniques Involving Efforts to Employ All Capabilities of the Individual, in: The Technology Re­ view, 46/1 (1943), S. 3–8; vgl. zum Rehabilitierungsprogramm auch Robin Schuldenfrei, „Assimilating Un­ ease: Moholy-Nagy and the Wartime/ Postwar Bauhaus in Chicago“, in: dies. (Hg.), Atomic Dwelling. Anxiety, Domesticity, and Postwar Architecture, London, New York 2012, S. 87–126, hier: S. 102–104 und Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 613–616. 21 Robert M. Joder, Are You Contemporary?, in: Saturday Evening Post, 3.7.1943, S. 12.

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wurde die Produktion der hölzernen Bettfedern allerdings wegen ihrer Lautstärke im Ge­ brauch wieder eingestellt.22 Die Schule machte sich durch ihre Entwicklungen auf dem Ge­ biet der Materialforschung einen Namen, so dass Firmen mit Anfragen an sie herantraten, die auf der Suche nach Substituten für dringend benötigte Materialen waren, die wegen des Krieges zeitweise für zivile Zwecke nicht zur Verfügung standen.23 Aufschlussreich für die Positionierung der School of Design während des Krieges ist auch ein Brief Moholy-Nagys an die Wartime Commission des United States Office of Education, in dem er für seine Schule wirbt. Er beruft sich darin explizit auf das renommierte Bauhaus und betont die flexible Einsatzfähigkeit der an seiner Schule vermittelten Fähig­ keiten und Wissensgrundlagen. Continuing the educational work of the Bauhaus, the integration of art, science and technology, we have found that the youth of this country is very receptive to this type of training. It helps to make the individual resourceful and inventive, quick in decisions, courageous in approaching civilian and military tasks.24 Die Kunsthistorikerin Robin Schuldenfrei beobachtet an Moholy-Nagys Sprache in den Chicagoer Jahren, dass er den Begriff „integration“ auffallend häufig verwendet. In der obenstehenden Formulierung aus dem Brief wird so die Verknüpfung von Kunst, Wissen­ schaft und Technik angesprochen. Gleichzeitig korrespondiere seine Vision von Integrati­ on mit seiner eigenen biografischen Situation, die wie die vieler emigrierter Kolleg*innen von der Notwendigkeit geprägt war, sich mit einem finanziell und aufenthaltsrechtlich pre­ kären Status im neuen Land zurechtfinden zu müssen.25 László und Sibyl Moholy-Nagy er­ hielten die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erst mit jahrelanger Verzögerung am 10. April 1946 – vermutlich weil die amerikanischen Behörden aufgrund seines Engagements im Hungarian-American Council for Democracy politische Vorbehalte gegen ihn hatten.26 Moholy-Nagys Engagement in Sachen Camouflage ist also auf mehreren Ebenen von Inte­ gra­tions­bemühungen gekennzeichnet: Zum einen wird am Thema Camouflage deutlich, wie unabdingbar das Zusammenwirken unterschiedlicher Wissensfelder – im konkreten Fall künstlerischer, wahrnehmungspsychologischer und militärischer – ist. Zum anderen

22 Vgl. Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 610. 23 So wandte sich zum Beispiel die Firma J. G. Edelen Co. im Juni 1943 unter Berufung auf einen Zeitungsbericht postalisch an die School of Design, um für die Suche nach möglichen Ersatzmaterialien für die von ihnen be­ nötigten Holzdübel um Rat zu fragen. Der Briefwechsel gibt Einblick in die die Bemühungen und Versuche Moholy-Nagys, der mehrere Experten zurate zog. Die Suche nach dem gewünschten Ersatz blieb allerdings erfolglos. Vgl. J. G. Edelen Co., Letter to L. Moholy-Nagy. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 6, Folder 184 (17.6.1943). 24 László Moholy-Nagy, Brief an Dr. F. J. Kelly, Wartime Commission, U. S. Office of Education, Chicago. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 6, Folder 183 (13.3.1942). 25 Vgl. Schuldenfrei, Assimilating Unease: Moholy-Nagy and the Wartime/ Postwar Bauhaus in Chicago, S. 92. 26 Vgl. Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 685–689.

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stand Moholy-Nagy persönlich unter dem Druck, als Immigrant sein Engagement für die nationalen Belange seiner neuen Heimat unter Beweis stellen zu müssen. Es zeigt sich in dem Brief an das Office of Education außerdem, dass die kriegsbe­ zogenen Aktivitäten der School of Design auch die Zeit nach dem Krieg und eine mögli­ che Aufbau- oder Umstrukturierungsphase mit im Blick hatten. Moholy-Nagy schlägt vor, für die Dauer des Krieges die an seiner Schule praktizierten innovativen Lehrmethoden von „simultaneous class, studio and workshop training“ in die Curricula der „liberal arts education“ an Colleges und Universitäten, an denen bisher nur Vorlesungen gehalten wür­ den, einzuführen. „This would guarantee – with an appropriate program – a badly needed contemporary education with the inclusion of technological matters.“27 Zudem könne die­ ser Ansatz mit der im Krieg gewonnenen Erfahrung auch nach dem Krieg weitergeführt werden.28 Moholy-Nagy verbindet seinen Vorschlag für eine der Komplexität der Kriegssi­ tuation angemessene ganzheitliche und die Kreativität fördernde Ausbildung mit seiner Forderung einer grundsätzlichen Umstrukturierung in der Kunstausbildung. So lässt sich das Engagement für den Krieg als wegweisend für industrielles Design als auch für Inno­ vationen in der Ausbildung an Kunsthochschulen beschreiben.29 Ebenfalls 1942 erschien ein von der Wartime Commission in Auftrag gegebener Be­ richt über das Kunststudium in Kriegszeiten.30 Moholy-Nagy gehört zwar nicht zu den Au­ tor*innen, dennoch wird auch hier in ähnlicher Weise das Kunststudium als von großem gesellschaftlichen Nutzen hinsichtlich der Verbindung von praktischen Fertigkeiten und theoretischem Wissen gepriesen: Above all instruction in art provides a fundamental training in how to make intelligent use of one’s eyes and one’s hands in everyday life. The arts can serve every student by stimulating and developing visual perception and manual skills, usually neglected in the predominantly verbal education of our high schools and colleges. In counteracting this verbal bias the arts promote an alertness and a control which are essential on the production lines and on the fighting lines.31 Die in Moholy-Nagys Konzept selbstverständliche Verbindung von Hand und Auge bei der künstlerischen Ausbildung klingt auch in dem Brief an die Wartime Commission an, in der er die „coordination of hand and brain“32 erwähnt. Ebenso entspricht seiner Auffassung 27 Moholy-Nagy, Brief an Dr. F. J. Kelly, Wartime Commission, U. S. Office of Education. 28 Vgl. ebd. 29 Diese These verfolgt Robin Schuldenfrei in Assimilating Unease: Moholy-Nagy and the Wartime/ Postwar Bauhaus in Chicago. 30 Vgl. Richard M. Bennett, Sumner McK. Crosby, Roberta M. Fansler, Robert J. Goldwater, H. Hayes Bartlett, Henry R. Hope, Joseph Hudnut, Rensselaer W. Lee, Everett V. Meeks, Allardyce Nicoll, James T. Soby und Lewis E. York, The Study of Art in War Time, in: College Art Journal, 2/1 (1942), S. 13–19. 31 Ebd., S. 16. 32 Moholy-Nagy, Brief an Dr. F. J. Kelly, Wartime Commission, U. S. Office of Education.

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der Verweis auf das Defizit der einseitig intellektuellen Bildung zu Lasten von handwerk­ lichen Fähigkeiten und einem Training der Wahrnehmung. Die Kommission allerdings ist deutlicher in der Betonung der direkten Verwertbarkeit der so Gebildeten als Arbeits­ kräfte in den „production lines“ wie den „fighting lines“ – in der Formulierung sind die industrielle Produktion und das Kämpfen im Krieg sprachlich auf eine Ebene gestellt. So sehr der Bericht der Wartime Commission Ähnlichkeiten zum Konzept des New Bauhaus erkennen lässt, so sehr unterscheiden sie sich gerade in der Art der Verwertbarkeit der künstlerischen Ausbildung. Moholy-Nagy hatte mit seinem Programm zur Ausbildung von Designer*innen, die sich durch eine Sensibilität für „fundamental human needs and a uni­ versal outlook“33 auszeichnen, sicherlich keine Arbeit in wie auch immer gearteten „lines“ im Sinn. Sein Ansatz bemüht sich eher um die Auflösung starrer Linien und das Einüben neuer Blicke auf die Strukturen, in die sie eingebettet sind. Die Kommission hält zusammenfassend drei Ziele der künstlerischen Ausbildung fest: first an emphasis of art, past and present, as part of all civilized existence and as a basis for visual recognition of the most significant human achievements; second a development of individual talents that will be of use to the armed forces as well as to civilian defense; and third a specialized training of a very limited number of outstanding young men, who may be particularly fitted to perform some specific task either in military or civilian life.34 Einerseits wird der Kunst die Rolle zugesprochen, zivilisatorische Errungenschaften zu verkörpern. Andererseits vermittelt die künstlerische Ausbildung konkrete Handfertigkei­ ten und fördert Talente, die in unspezifischer Weise auf militärische Aufgaben vorbereiten. Gleichzeitig mahnt die Kommission aber auch, die Ausbildungsprogramme nicht zu stark oder zu spezialisiert auf den Krieg zu fokussieren, sondern bei der Kunst zu bleiben und demokratische Ideale zu vermitteln: The introduction of new ‚war‘ courses or the overemphasis of military problems in art curricula, except in the few instances listed below, can contribute very little to the war effort. In fact such overemphasis runs the danger of losing sight of those enduring human values, which are the especial province of art instruction. ­Teachers of art in this country must never forget their profound responsibility in the preservation of an appreciation and understanding of the cultural significance of our civilization and its democratic ideals.35 33 the new bauhaus, Broschüre des New Bauhaus für das Schuljahr 1937/38. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 53 (1937), hier: S. 4. 34 Bennett, Crosby, Fansler, Goldwater, Bartlett, Hope, Hudnut, Lee, Meeks, Nicoll, Soby, York, The Study of Art in War Time, S. 15. 35 Ebd.

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25 Glenn Foss, Unbreakable wood spring, um 1942, Foto: Milton

Dieses offizielle Statement der eigens für die Belange der Bildung zu Kriegszeiten einge­ setzten Kommission zeugt von dem diskursiven Spagat, den auch die School of Design versuchte: Künstlerische Ausbildung soll einerseits mehr als alle anderen Arten der Aus­ bildung konkrete wie flexibel einsetzbare Fertigkeiten nach Bedarf für „production lines“ oder „fighting lines“ vermitteln; andererseits hat sie die Aufgabe, schlechthin Zivilisation und demokratische Ideale zu verkörpern. Dies ist als patriotisches Statement auf dem Feld der Bildung gegen den Barbarismus des faschistischen Kriegsgegners zu verstehen. Die School of Design entwickelte mehrere Modelle der oben erwähnten Holzfedern, ins­ gesamt mindestens 24.36 Das Bild (Abb. 25) zeigt einen von Glenn Foss, einem Studenten der School of Design, entwickelten Prototyp. Auf der Rückseite des Fotos erklärt eine hand­ schriftliche Erläuterung Moholy-Nagys das dargestellte Objekt als „unbreakable wood spring (for bed, chair, etc.)“. Außerdem gibt die Beschriftung Aufschluss über die Aufnah­ metechnik der „superimposition of two pictures showing the deflection under weight“, die zur Darstellung der Beweglichkeit und Dynamik der Konstruktion im Bild gewählt wurde. Die zwei Aufnahmen der Feder, einmal in aufrechter Position und einmal durch das Ge­ 36 Vgl. Schuldenfrei, Assimilating Unease: Moholy-Nagy and the Wartime/ Postwar Bauhaus in Chicago, S. 96.

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wicht eines dicken Buches zusammengedrückt, erscheinen überblendet auf einem Bild. So drückt das halbdurchsichtige Buch die Feder herunter und wird gleichzeitig selbst von der Holzkonstruktion nach oben gedrückt. Bei der Betrachtung des doppelt belichteten Bildes wechselt das Auge ständig von dem einem zum anderen Stadium. So versetzt gleichsam der betrachtende Blick die Holzfeder in Schwingung. Die Materialbearbeitung des Objektes und die Art seiner fotografischen Darstellung sorgen im Zusammenspiel dafür, dass das Holz eine neue und unerwartete Eigenschaft gewinnt: Es ist nicht das stabile Baumaterial, als das es gemeinhin genutzt wird, sondern wird zur elastischen Sprungfeder, deren Bewe­ gung im Bild sichtbar wird. Auch das schwere, als Gewicht verwendete Buch verändert sich: Es verliert durch die Transparenz der Überblendung seine opake Schwere und erhält einen schwebenden Ausdruck, während das Holzgestell sich gleichzeitig durch es hindurch zu drücken scheint. Die Fotografie hält in dieser Überblendung zwei statt nur einen zeitlich und örtlich bestimmten Zustand fest und öffnet ihre Zeitlichkeit damit zu einer bildlichen Dynamik, die nicht nur die beiden möglichen Zustände der Holzfeder zeigt, sondern auch alle Stadien, die potentiell dazwischen liegen, in einer Bewegung sichtbar werden lässt. Ein anderes der entwickelten Modelle von Holzfedern erhielt aufgrund der Zickzack­ form seiner ineinander verkeilten dünnen Holzstreifen den Namen „V-spring“, wobei in deutlicher Anspielung das „V“ auch als „victory“ verstanden werden kann.37 Schon in sei­ ner Gestalt proklamiert das Ersatzmaterial seinen Anspruch, zum Sieg beizutragen. So wie die Darstellung durch die Doppelbelichtung zwischen zwei Zuständen in der Schwebe bleibt, entzieht sich auch der Status der Holzfedern einer Festlegung. Diese sind einerseits ein Ersatzprodukt, das in Reaktion auf die kriegsbedingte Knappheit von Metall entwi­ ckelt wurde. In dieser Funktion wirkt die Holzfeder als Argument, das Moholy-Nagy für die Notwendigkeit einer künstlerischen Designausbildung ins Feld führen konnte. Mit Verweis auf die Entwicklung von Ersatzmaterial konnte er zeigen, dass seine Form der Ausbildung zur Entwicklung konkreter Lösungsstrategien befähigte. Andererseits – und das wird durch die eingeschränkte tatsächliche Funktionalität der Feder unterstrichen – handelt es sich um eine ästhetische Arbeit, die als Materialstudie unerwartete Aspekte von Holz herausarbeitet, sichtbar zur Anschauung bringt und taktil erfahrbar macht. Durch die Behandlung und Anordnung wird das solide Naturmaterial beweglich und flexibel. Den Studierenden diese Erfahrung des spielerischen Umgangs mit dem Material nahezubrin­ gen, war erklärtes Ziel von Moholy-Nagys pädagogischem Ansatz: When working in wood (blocks, dowels, slabs) such exercises bring amazing results. In many cases cuttings and sawings can be made by which the solidity of wood is changed into rubberlike elasticity. Usually, such woodcuts are potential structural units which can be translated into practical uses.38 37 Vgl. ebd. 38 László Moholy-Nagy, Vision in Motion, Chicago 1947, S. 79.

György Kepes’ Camouflagekurse an der School of Design 1942/43

Durch die Präsentation der Feder gelingt ein veränderter Blick auf das vermeintlich be­ kannte Material. Die fotografische Darstellung unterstützt diese Lesart, indem sie durch das Changieren zwischen zwei Bildern den unwirklich anmutenden Eindruck einer höl­ zernen Beweglichkeit herstellt. Das in kürzester Zeit entwickelte Kriegsprogramm zeugt ohne Zweifel von dem öko­ nomischen und moralischen Rechtfertigungsdruck, unter dem die Schule stand. Dennoch würde es zu kurz greifen, die in diesem Rahmen entstandenen Arbeiten, Schriften und Lehrprogramme auf diese rhetorische Funktion zu reduzieren. Denn die Notlage brachte Arbeiten mit Kriegsbezug hervor, die mehr als eine Demonstration von Nützlichkeit und mehr als eine Werbemaßnahme für die Schule sind: In ihnen lassen sich Spuren des päd­ agogischen Programms ebenso erkennen wie eine Auseinandersetzung mit unterschiedli­ chen Aspekten des Krieges – und nicht zuletzt sind sie in ihrer ästhetischen Dimension fas­ zinierend. Gerade weil die konkrete Nützlichkeit bei vielen Objekten trotz aller bemühten Rhetorik fraglich bleibt, ist ihr Status ambivalent und vielschichtig. Anhand der Arbeiten, die im Rahmen der Camouflagekurse entstanden sind, lässt sich diese Vielschichtigkeit noch deutlicher aufzeigen.

György Kepes’ Camouflagekurse an der School of Design 1942/43 Zu Beginn des Jahres 1942 kündigte die School of Design ihre ersten „National Defense Courses“ an. Ein Flyer informiert darüber, dass aufgrund des „National War effort“ zwei neue Abendkurse eingeführt worden seien – „Camouflage“ und „Visual propaganda in Wartime“, die vom 12. Februar 1942 bis zum 11. Juni wöchentlich einmal stattfinden wür­ den.39 Während diese beiden Kurse explizit auf den Kriegseintritt der USA reagierten und sich inhaltlich darauf ausrichteten, ist der Bezug bei einem auf demselben Flyer ange­ kündigten weiteren Kursangebot, dem „Survey Course on Twentieth Century Arts“ eher überraschend – klingt der Titel doch zunächst nach einer rein kunsthistorisch angelegten Veranstaltung. Doch auch dieser Kurs bezieht sich im Untertitel mit deutlichen Worten auf die Rolle der Kunst im Krieg – „Social Usefulness of Twentieth Century Art and its Relation to a Nation at War“40 – und verspricht, in einer Serie von Vorträgen die durch die industrielle Revolution veränderte gesellschaftliche Rolle der Kunst zu beleuchten. Dabei nimmt sich die Vortragsreihe nichts Geringeres vor als „the task of our generation“ zu er­ läutern, wobei als weitere Themen Wissenschaft, Soziologie, Architektur, Erziehung oder „Industrial Design“ genannt werden. Obwohl der Flyer bezüglich des Programms nur diese Stichworte verrät, lässt sich die hinter dem knappen Kursüberblick stehende Haltung doch erahnen: Der Kunst wird innerhalb der Herausforderungen einer modernen technisierten

39 School of Design in Chicago, Flyer National Defense Courses. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 70 (1942). 40 School of Design in Chicago, Flyer National Defense Courses.

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Welt, deren katastrophale Schattenseiten im Krieg besonders deutlich spürbar werden, eine einigende Schlüsselrolle zugesprochen. Diese Haltung, die in vielen Verlautbarun­ gen der School of Design anklingt, bestimmt auch die Ausrichtung und die Inhalte der Camouflagekurse. An dem noch 1941 verfassten ersten Konzeptentwurf für den Camouflagekurs lässt sich nachvollziehen, auf welche Weise Moholy-Nagy mit dem kriegsbezogenen Programm argumentativ an die bisherige Arbeit anknüpft.41 Die grundlegenden Inhalte über visuelle Wahrnehmung, die in dieser Werkstatt unterrichtet würden und die auf allen Gebieten des Sehens Gültigkeit beanspruchen könnten, seien eine ideale Basis für die Camouflage. So heißt es in einem ersten Konzept für den Kurs: In the Color and Light Workshop of the School the student is led to the understanding of visual fundamentals valid in every field of visual activity. The scope of his interest is not limited to the handling of color, surface treatment (covering, pigmenting, dyeing), photographic recording alone, but all the aspects of vision are coordinated in his studies with all their static and mobile relationships.42 Der erste Flyer der National Defense Courses kündigt für den Camouflagekurs sowohl „re­ search“ als auch „designing“ an und gliedert sich folglich in theoretische und praktische Anteile. Während der Flyer für den theoretischen Teil Inhalte wie „nature and animal ca­ mouflage“, „visual illusions“, „geometrical optics“ und „basic photography course“ aufzählt, stellt der praktische Part das Designen von „portable mass production units with screens, mirrors, color and texture“ in Aussicht.43 Dabei ist es das erklärte Ziel der School of Design, nicht nur gute Camouflageobjekte und Tarnungsstrategien zu entwickeln und versierte Camoufleur*innen auszubilden. Vielmehr soll durch die Beschäftigung mit Camouflage in all ihren Facetten eine neue, kollaborative Form des Forschens entstehen: A research laboratory where, through mutual cooperation all the factors concerning camouflage could be tested in their functioning integration, would result not only in better solutions but simultaneously it could develop a new creative type of research worker […].44

41 Vgl. School of Design in Chicago, Outline of the Camouflage Course at the School of Design in Chicago 1941– 1942, Chicago. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 64 (1941). 42 Ebd. 43 School of Design in Chicago, Flyer National Defense Courses. 44 School of Design in Chicago, Outline of the Camouflage Course at the School of Design in Chicago 1941–1942, S. 1.

György Kepes’ Camouflagekurse an der School of Design 1942/43

26 Faltblatt zum Kurs „Principles of Camouflage“ der School of Design mit Zertifikat durch das Office of Civilian Defense, Washington D. C., 1942/43

Die Broschüre zu einem späteren Camouflagekurs ist ganz der Camouflage gewidmet. In­ zwischen war der Kurs „Principles of Camouflage“ vom Office of Civilian Defense (OCD) in Washington offiziell akkreditiert worden (Abb. 26). Das Zertifikat mit dem offiziellen Logo des OCD, das die School of Design nun an die erfolgreichen Absolvent*innen des Kurses vergeben darf, ist zu Werbezwecken schon im ankündigenden Faltblatt abgedruckt. Das OCD, so heißt es im Faltblatt, fordere „selected professionals“, insbesondere ­Architekt*innen und Ingenieur*innen auf, sich mit dem Kurs für Aufgaben im Bereich der Camouflage zu qualifizieren. They are the ones to whom protective concealment problems will best be referred when such decisions are made by the War Production Board. In our ­Camouflage Course information will be given which will qualify those taking the course to prepare plans, in accordance with principles established by the O. C.D. in Washington, D. C.45 45 School of Design in Chicago, Flyer zum Kurs “Principles of Camouflage”. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 76 ([1942/1943]).

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Im Juni 1942 richtete das OCD den ersten Kurs in ziviler Camouflage an der Army Engineer School in Fort Belvoir aus. Dieser richtete sich an ausgewählte Multiplikator*innen, die meisten davon Dozent*innen an Universitäten und Kunsthochschulen, die mit Abschluss des Lehrgangs autorisiert werden sollten, an ihren Institutionen eigene Camouflagekurse nach den Standards des OCD zu geben.46 Kepes bildete sich vom 22. Juni bis zum 4. Juli 1942 in einem solchen Kurs fort und ermöglichte damit der School of Design die Kurse, die sie schon vorher auf eigene Initiative hin angeboten hatten, nun auch offiziell autori­ siert und mit Zertifikat des OCD in ihr Programm aufzunehmen.47 Auf die Notwendigkeit einer zentralen Ausbildungsstätte für Camoufleur*innen und Lehrende hatte die School of Design in ihrer ersten Skizze für den Camouflageunterricht ihrerseits schon vor der Einrichtung des zentralen Kurses durch das OCD hingewiesen und sich selbst als Camou­ flagezentrum angeboten. Such a camouflage laboratory is needed as a training center for civilian and military camouflage. Such a center should function in two ways: first for teacher education, second for the preparation of volunteers for civilian and military camouflage. The School of Design in Chicago because of its past educational policy readily adapted its program to these requirements.48 Die engagierte Eigeninitiative der School of Design wurde allerdings durchaus kritisch gesehen. Die Einführung der zentralisierten Kurse durch das OCD selbst verdeutlicht dessen Bemühungen, die Deutungshoheit über die Camouflage innerhalb der Strukturen der Armee zu behalten und eigene Standards zu etablieren. Die Debatte betraf sowohl die Terminologie als auch das Personal: Was darf als Camouflage bezeichnet, was muss „obscurement“ genannt werden? Wer ist geeignet als Camoufleur *in?49 Das war unter an­ derem eine Reaktion darauf, dass einige Institutionen Kurse anboten, die sich nicht an den etablierten Standards orientierten – wie aus mahnenden Briefen an die zertifizier­ ten Institutionen hervorgeht.50 Gerade über die Frage, wer als Camoufleur *in ausgebildet werden darf, herrschte Uneinigkeit. Während das OCD nur die genannten „selected pro­ fessionals“ ausbilden und offiziell zertifizieren wollte, bestand offenbar auch bei anderen Bevölkerungsgruppen ein reges Interesse an Kursen in Camouflage, so dass das OCD sich im August 1942 zu folgender Verlautbarung gezwungen sah: 46 Das geht aus den Briefen des OCD an Edward Farmer hervor, der sich in dem Kurs als Dozent für Camouflage qualifiziert hatte. Office of Civilian Defense, Brief an Edward Farmer, 14.8.1942. Hoover Institution Archives, Edward M. Famer Papers, Box 1, folder Camouflage Courses (14.8.1942). 47 Vgl. Schuldenfrei, Assimilating Unease: Moholy-Nagy and the Wartime/ Postwar Bauhaus in Chicago, S. 124. 48 School of Design in Chicago, Outline of the Camouflage Course at the School of Design in Chicago 1941–1942, S. 1. 49 Vgl. Marshall Miller, Brief an Edward Farmer. Hoover Institution Archives, Edward M. Farmer Papers, Box 1, folder Camouflage Courses (10.8.1942). 50 Vgl. Office of Civilian Defense, Brief an Edward Farmer, 14.8.1942.

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It was originally agreed that these courses […] would be held for ‚selected pro­ fessionals‘ and it is for this classification that the certificates are intended. If courses are given to other categories of enrollees, such as plant managers or superintendents, it is suggested that the school give them their own letter or certificate of completion, copies of which should be submitted to […] this Office for approval.51 Im selben Brief wird dazu aufgefordert, den Kursteilnehmenden keine falschen Hoffnungen auf eine spätere Anstellung zu machen. Denn wie hoch der tatsächliche Bedarf an zivilen ­Camoufleur*innen war, blieb ebenso umstritten wie die Frage nach der idealen beruflichen Vorbildung für diese Tätigkeit. Die Unentschiedenheit klingt in den Formulierungen des OCD an. Darin ist zwar von dringend benötigten Fachkräften für Camouflage die Rede, gleichzeitig aber wird in einschränkenden Konjunktivformen – „may“, „should“ – nur hypothetisch auf den eventuellen Ernstfall hingewiesen, in dem erst die zivile Camouflage zum Einsatz käme: The subject matter in the course is organized for the purpose of training urgently needed professional personnel to whom protective concealment problems may be referred, in the event that a changed war or critical material situation should point to increased activity in civilian camouflage.52 An anderer Stelle besteht das OCD in kleinteiliger sprachlicher Differenzierung darauf, dass die Institutionen, die sich mit den Camouflagekursen auf das OCD berufen, in ihrer Kom­ munikation klar machen, dass die Kurse nicht durch das OCD in Auftrag gegeben, sondern lediglich vorgeschlagen worden seien: „It should be made clear in theses [the course out­ lines] that OCD suggested or proposed these courses, but did not request them.“53 Selbst der Status der Camouflage als militärische Strategie an der Army Engineer School in Fort Belvoir ist fragil. Es gibt Stimmen, die grundsätzliche Zweifel am militärischen Nutzen der Tar­ nung äußern. So charakterisiert der Offizier Howard Canan in einem Vortrag im April 1941 ­Camouflage als eine Technik der Schwäche, die fälschlicherweise ein Gefühl von Sicher­heit vermitteln und dadurch den „aggressive spirit“ der Truppe beeinträchtigen könne: No battle has ever been won by camouflage. In fact, its use even has the elements of weakness. It is passive, and when stressed too much, or stressed improperly, it may actually be dangerous. It certainly is, if its use tends to break down the aggressive spirit. It is dangerous if improper use engenders a false sense of security.54 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Office of Civilian Defense, Brief an Edward Farmer, 27.7.1942. Hoover Institution Archives, Edward M. Farmer Papers, Box 1, folder Edward Farmer (27.7.1942). 54 Howard Canan, Vortragsmanuskript „The G-2 Interest in Camouflage Activities“, presentation for assault course, the Engineer School, Fort Belvoir. Hoover Institution Archives, Howard V. Canan Papers, Box 2 (14.4.1941), hier: S. 3.

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Ihren Informationsbroschüren zum Thema Camouflage stellt das OCD eine Warnung vo­ ran, die zu fachgerechter Ausübung mahnt: „No camouflage at all may often be safer than camouflage ill-conceived.“55 Damit sei der politisch-militärische Hintergrund skizziert, vor dem sich die School of Design mit ihren Camouflagekursen positioniert. Die komplexe Gemengelage zeigt, dass Camouflage als Thema an mehreren Ausbildungsinstitutionen in einem Maße prä­ sent war, das Interventionen von behördlicher Seite provozierte. Mit gezielten Interven­ tionen versuchte man das Wissen nicht nur zu bündeln und zu koordinieren, sondern auch zu kontrollieren und Autorität darüber zu behaupten. Gleichzeitig sollte deutlich geworden sein, dass keineswegs Einigkeit darüber herrschte, was unter Camouflage zu verstehen sei und wer zu welchem Zweck und für welche Einsatzbereiche dazu ausge­ bildet werden sollte. Was aber waren die Inhalte, die als Camouflage gelehrt wurden? In welcher konkreten Verbindung standen diese zur künstlerischen Arbeit an der School of Design? Am 16. September 1942 hielt György Kepes an der School of Design seine einführende Vorlesung zu einem der Camouflagekurse, die die Schule ab 1942 sowohl in ihr regulä­ res Lehrprogramm, als auch in ihre „summer sessions“ aufnahm.56 Anhand einer Zusam­ menfassung dieses Vortrags, die sich als Typoskript von vier Seiten bei den archivierten Unterlagen befindet, lassen sich die Inhalte dieser Einführung nachvollziehen.57 Ob Kepes selbst oder jemand unter den Kursteilnehmenden den Text verfasst hat, ist darauf nicht vermerkt. Da sich die Kurzfassung im selben Ordner befindet wie ein Typoskript mit handschriftlichen Anmerkungen, aus dem sich viele Formulierungen in Kepes’ 1944 veröffentlichten Buch Language of Vision. Painting, Photography, Advertising-Design58 wiederfinden, ist davon auszugehen, dass Kepes auch der Verfasser des Summary ist. Zudem legt die gemeinsame Archivierung sowie das Erscheinungsjahr 1944 des Buches nahe, dass Kepes an beiden Projekten, dem Camouflageunterricht und der Veröffentli­ chung über „optical communication“59 in Malerei, Fotografie und Werbedesign, gleich­ zeitig gearbeitet hat. Die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Tätigkeitsfeldern wird im Folgenden zu berücksichtigen sein – denn sie zeigt, auf welche Weise das Nachden­ ken über Camouflage Eingang in Kepes’ künstlerisches und kunsttheoretisches Arbeiten fand.

55 U. S. Office of Civilian Defense, Protective Concealment, Washington D. C. März 1942, IV. 56 Vgl. die Faltblätter aus den Jahren 1942 und 43, die die „war courses“ ankündigen: School of Design in Chi­ cago, Faltblatt „Two Summer Sessions“. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 72 (1942) und School of Design in Chicago, Faltblatt „Summer Sessions“. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 77 (1943). 57 Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes. 58 Kepes, Language of Vision. 59 Ebd., S. 12.

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27 György Kepes, Illustration zum Prinzip „plastic organization“, in: Kepes, Language of Vision, S. 45

Von der gemeinsamen Entstehungsgeschichte zeugt nicht zuletzt der Abschnitt zum Thema „plastic organization“ in seinem Buch, in dem Kepes mit Bezug auf gestaltpsycho­ logische Ansätze Grundprinzipien der Erkennbarkeit von Objekten erläutert.60 Das Erken­ nen von Formen beruhe darauf, dass gewisse optische Zeichen als eine Einheit wahrge­ nommen werden und sich so im Prozess des Sehens als ein Objekt organisieren. Dieses Prinzip mache sich die Natur bei der Zeichnung vieler Tiere zunutze, deren Äußeres so gestaltet ist, dass die optische Einheit ihres Körpers sich auflöst – beispielsweise durch ein fleckiges Muster, wie die Zeichnung der Schlange zeigt (Abb. 27). A snake camouflaged by nature is no longer a snake. It is an aggregation of small units of color-shape. Because kinship of elementary visual qualities is more fundamental to image building than the relations of empirical experience, the patterns on its body are more easily seen together with corresponding patterns in its back­ ground than is its form […].61 60 Vgl. ebd., S. 44–51. 61 Ebd., S. 45.

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Aufschlussreiche Einsichten in den Camouflagekurs bieten zudem Studiennotizen des Studenten Jack Waldheim, die sich auf den gesamten Kurs des Wintersemesters 1942 be­ ziehen.62 Die Lehrveranstaltung ist als Vorlesungsreihe konzipiert, zu der jeweils unter­ schiedliche Expert*innen als Vortragende eingeladen sind. Auch die ausführlichen Kurs­ aufzeichnungen des Teilnehmers M. Seklemian, die durch erstaunlich ausgearbeitete Zeichnungen auffallen und auf diese Weise auch einen visuellen Eindruck von den Übun­ gen vermitteln, unterstützen den Versuch, das Kursprogramm zu rekonstruieren.63 Die Tatsache, dass die Weiterbildungsmaßnahme im Falle Seklemians, der als Art Director bei der Versandhandelsfirma Montgomery Ward & Co. beschäftigt war, von seiner Firma finan­ ziert wurde, erklärt die Sorgfalt dieser Ausarbeitung auch als Teil der Berichtspflicht dem Arbeitgeber gegenüber. Bei der Rekonstruktion der Inhalte, die an der School of Design als relevant für die Ausbildung von Camoufleur*innen eingeschätzt wurden, und der Metho­ den, die die unterschiedlichen Lehrenden dabei anwandten, stützt sich die vorliegende Untersuchung auf diese unveröffentlichten Schriften und Skizzen, die der Forschung in vier unterschiedlichen Archiven in Chicago zur Verfügung stehen.64 In seinem Einführungsvortrag legt Kepes zunächst dar, dass für die Entwicklung ge­ lungener Camouflagestrategien notwendigerweise Expert*innen mit den verschiedensten Qualifikationen kooperieren müssen – und begründet damit gleichzeitig das Kursformat der Vorlesungsreihe mit Lehrenden unterschiedlicher Fachbereiche. Zu den Vortragenden gehören drei Militärangehörige, die über den Luftkrieg, „high altitude flying“ und foto­ grafische Beobachtung referieren. Der Vizepräsident der Firma James H. Rhodes spricht über Camouflage-Material, da sich sein Unternehmen auf die Herstellung von Netzen aus unterschiedlichen Materialien spezialisiert hat. Der Psychologe Larry Freeman von der Northwestern University thematisiert die Psychologie der visuellen Wahrnehmung. Von der School of Design selbst beteiligen sich neben Kepes der Architekt George Keck mit einem Vortrag über „sun orientation“ und die Illustratorin Juliet Kepes mit einem Beitrag zur tierischen Tarnung.65 Das Wissen aus so diversen Bereichen wie Architektur, Ingenieurwesen, Malerei, Bild­ hauerei und grafischer Kunst bedürfe der „synchronization“66. Der Gebrauch des Begriffs verwundert an dieser Stelle zunächst. Denn es erschließt sich aus dem Kontext, dass Kepes damit weniger die Angleichung unterschiedlicher Zeitlichkeiten anspricht, sondern den

62 Vgl. Jack Waldheim, Zusammenfassungen der Vorlesungen des Camouflagekurses 1942. Chicago History Mu­ seum, Jack Waldheim Papers (23.9.-2.12.1942). 63 Vgl. M. Seklemian, A study of the principles of camouflage conducted at the School of Design Chicago. Uni­ versity Archives and Special Collections, Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Institute of Design Records, Acc. No. 1998.31, Box 4, Folder Patrick O’Reilly Bird (1942). 64 Archivalien zum New Bauhaus und zum Institute of Design finden sich in den Archiven des Illinois Institute of Technology, der University of Illinois at Chicago, des Chicago History Museum und des Art Institute of Chicago. 65 Vgl. Waldheim, Zusammenfassungen der Vorlesungen des Camouflagekurses 1942. 66 Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes, S. 1.

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Erfahrungsaustausch und die enge Zusammenarbeit der normalerweise getrennt agieren­ den Fachbereiche meint: „This synchronization may be achieved only through a metho­ dic investigation into the purpose and scope of camouflage, and a mutual exchange of knowledge in each particular field.”67 Die Einleitung zu Kepes’ Buch Language of Vision gibt eingehend Aufschluss darüber, wie der Aspekt der Zeitlichkeit zu verstehen ist, den die von ihm geforderte Form der Kooperation impliziert. Denn die Zusammenarbeit der technischen und wissenschaftlichen Bereiche, in denen aktuell Fortschritte erzielt würden, ist nicht nur unabdingbar für die Entwicklung von Camouflage-Konzepten. In seinem Buch legt er dar, dass sie existentiell wichtig sei, um der Welt, die trotz eminenter technischer Fortschritte in Chaos und Gewalt versinke, eine sinnvolle Struktur zu verleihen. So kons­ tatiert er zu Beginn von Language of Vision: Today we experience chaos. The waste of human and material resources and the canalization of almost all creative effort into blind alleys bear witness to the fact that our common life has lost its coherency.68 Den Grund für diese Situation, die im Totalitarismus ihren radikalsten Ausdruck gefunden habe, sieht Kepes in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Zeitlichkeit. So hätten Wissen­ schaft und Technologie eine neue Dimension geschaffen, die durch überkommene Struktu­ ren – ererbt aus einer kleineren, weniger technisch entwickelten Welt – an der Entfaltung ihres Potentials gehindert würden. Die Synchronisation, von der Kepes in seinem Camou­ flagevortrag spricht, folgt also einem an der Logik des Fortschritts orientierten Zeitkonzept. In diesem Verständnis von Zeitlichkeit können Dinge, obwohl sie nach chronologischer Logik gleichzeitig geschehen, unterschiedlichen Zeitdimensionen angehören – so zum Bei­ spiel technischer Fortschritt in einer überkommenen Gesellschaftsordnung. Nur durch eine Angleichung dieser Zeitlichkeiten könne die Bündelung der Kräfte zum Wohle der Mensch­ heit gelingen. So erklärt Kepes seine Überzeugung zu Beginn von Language of Vision: Instead of allowing both a further haphazard accumulation of scientific discove­ ries and a planless technological expansion, it is our task to establish an organic interconnection of the new frontiers of knowledge.69 Um diese neue Struktur der organischen Verbindungen zwischen den Wissensfeldern zu etablieren, sei es notwendig, dass der Einzelne seine Fähigkeiten nutze und die Strukturen verstehe, die das Leben bestimmten. Nur so sei es möglich, „truly contemporary“70 zu werden.

67 Ebd. 68 Kepes, Language of Vision, S. 12. 69 Ebd. 70 Ebd.

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Für dieses Verständnis von Zeit, Zeitgenossenschaft und Fortschritt, das Kepes seinem gesellschaftsanalytischen Buch zugrunde legt, findet er in der Camouflage ein passendes Anwendungsfeld. Hier findet er auf einem konkreten Feld bestätigt, was er grundsätz­ lich beobachtet: Der technische Fortschritt habe den Menschen insbesondere in seinem aggressiven Zerstörungspotential, wie es sich in Krieg und Totalitarismus zeige, in eine verwirrend komplexe Lage gebracht; daher seien die alten Trennlinien zwischen den Wis­ sensbereichen nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn man effektive Lösungen finden und neue Strukturen aufbauen wolle. Die Komplexität der Camouflage könne nicht innerhalb der von kleinteiligen Spezialisierungen bestimmten fachlichen Grenzen erfasst werden. Entsprechend führt er in seinem Vortrag aus: It is known that in solving camouflage problems in the first world war and at the beginning of the present one much economic waste was caused by the inertia of professional isolation. In camouflage the painter saw only painting problems, the architect only architecture, the engineer only engineering. They were unable to coordinate their expert knowledge with the necessary flexibility which emerges from a mutual grasp of each others problems.71 Der für die Camouflage notwendige Wissensaustausch von üblicherweise getrennt agie­ renden Expert*innen sei nicht nur für den Krieg von Nutzen, betont Kepes in seinem Eröff­ nungsvortrag des Camouflagekurses in Übereinstimmung mit der in Language of Vision geäußerten Überzeugung. Er empfiehlt daher seinen Hörer*innen das Studium von Ca­ mouflage als ein geeignetes Feld, um ganzheitliches Denken zu erlernen und sich mit dem grundlegenden Wissen über die Wahrnehmung auch für viele andere berufliche Bereiche zu qualifizieren. Im Vortrag zählt er verschiedene zivile Felder möglicher Nachkriegsbe­ tätigungen auf, für die der Kurs die Teilnehmenden als „valuable by-product“ auch noch befähige: solutions for site and shelter and an understanding of man-created and natural environment, including the aesthetic and functional consequences of aerial vision (which will become a common experience through extensive aerial ­transportation).72 Nicht zufällig nennt der Künstler hier neben den möglichen Qualifikationen in den Be­ reichen der Gestaltung von Schutzräumen und der Landschaftsgestaltung auch dezidiert ästhetische Aspekte – die Auseinandersetzung mit Camouflage kann auch zur künstleri­ schen Inspirationsquelle werden. In seinem eigenen künstlerischen Werk ist die Luftpers­

71 School of Design in Chicago, Outline of the Camouflage Course at the School of Design in Chicago 1941–1942, S. 1. 72 Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes, S. 1.

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pektive gerade in dieser Zeit von Bedeutung. Das zeigt sich beispielsweise in den Collagen Aerial Photography China und Stalingrad, die beide auf 1942 datieren und die als kleine Abbildungen in sein Buch Language of Vision integriert sind.73 Ziel des Camouflagekurses sei es, die Prinzipien der visuellen Wahrnehmung zu ver­ mitteln, auf denen Camouflage beruhe. Ein Verständnis dieser Wahrnehmungsprinzipien sei der Schlüssel für eine praktische Anwendung auf den Gebieten der industriellen und der militärischen Camouflage. The understanding of the visual nature of deception demands the understanding of the fundamentals of visual perception. Without vision, camouflage would be meaningless, without light, there would be no vision. Consequently it is necessary to equip oneself with fundamental physical, physiological, psychological facts relating to visual perception. These include geometrical optics, laws of refraction and reflection, nature of the human camera (eye), visual acuity, central and peripheral vision, chromatic aberration, stereopsis.74 Kepes verortet die Camouflage als eine auf die visuelle Wahrnehmung zielende Täuschung. Auf diese Weise verbindet er die militärische Strategie in einem deduktiven Dreischritt mit einem der Hauptaspekte seiner künstlerischen Auseinandersetzung: dem Licht. Visuelle Täuschung könne nicht ohne die Kenntnis visueller Wahrnehmungsmechanismen effektiv hergestellt werden – die visuelle Wahrnehmung ihrerseits basiere auf Licht. In Language of Vision konzipiert Kepes visuelle Wahrnehmung als eine Bildwerdung der Realität durch den Sehvorgang. Das Sehen erzeuge in einem kreativen Prozess ein in­ neres Bild. Aus den Lichtreflexionen, die in das Auge fallen – ein ganzer „whirlwind of light qualities“ – formt sich in einem Prozess der Organisation ein Bild, das einen Sinn ergibt: „From this whirling confusion we build unified entities, those forms of experience called visual images.“75 Für diese Bildwerdung ließen sich gewisse Grundprinzipien und Dyna­ miken formulieren, die die visuelle Wahrnehmung bestimmten. Kepes beschreibt anhand einiger aus der Gestaltpsychologie von Kurt Koffka und Wolfgang Köhler übernommener Schaubilder den visuellen Formierungsprozess, der zur Folge hat, dass beispielsweise nah beieinander liegende Elemente als zusammengehörig wahrgenommen werden oder dass fehlende Elemente automatisch ergänzt werden.76 Die Erklärung dieser Grundprinzipien exemplifiziert Kepes zudem durch eine Vielzahl von bildlichen Darstellungen – darunter avantgardistische Gemälde, Collagen, Fotografien und Fotogramme, aber auch einige äl­ tere Gemälde aus verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte, sowie eigene Bilder und

73 Vgl. Kepes, Language of Vision, S. 208–209. 74 Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes, S. 2. 75 Kepes, Language of Vision, S. 15. 76 Vgl. ebd., S. 44–51.

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in seinen Kursen entstandene Studienarbeiten. Er verdeutlicht auf diese Weise, inwiefern in der Kunst Erkenntnisse über visuelle Wahrnehmung aufgenommen, veranschaulicht, gebrochen oder experimentell erforscht werden. Die Kunst sieht er in einer Schlüsselpo­ sition bei der Aufgabe, eine neue, der technisch veränderten Welt angemessene visuelle Sprache zu entwickeln.77 Das Wissen um die Grundprinzipien der bildlich bestimmten Wahrnehmung, das für die visuelle Kommunikation in Malerei, Fotografie und Werbedesign unabdingbar sei, er­ klärt Kepes gleichzeitig zur Grundlage für die Camouflage. Da das Ziel der Camouflage die Formierung eines bestimmten Bildes in der Wahrnehmung des beobachtenden Gegners sei, müsse der Camoufleur die Faktoren der Bilderzeugung kennen und beherrschen. So führt Kepes in seinem Vortrag aus: the target is an image for the observer and in order to be able to interpret it, the camoufleur must know the psychological factors involved in creating an image, as well as the graphic elements of which it is composed – which include point, line, tone, texture, color, shape. He must also be familiar with the laws of linear perspective, motion perspective and their modifications due to visual illusions, contrast effects etc. He must understand the basic principles of organization of the image, enclosure, submergence and psychological filling.78 Mit dem Bild, dem „image for the observer“, ist hier nicht die Luftfotografie gemeint, auf die viele Camouflagestrategien im Ersten Weltkrieg zielten, sondern vielmehr die direkte sinnliche Wahrnehmung des Piloten, die als ein bildlicher Eindruck oder als ein Bild auf der Netzhaut aufgefasst wird. Diese Verschiebung liegt zum einen in einer veränderten Kriegsführung und zum anderen in der von den Hauptschauplätzen der kriegerischen Handlungen entfernten Lage der USA begründet. Die Luftperspektive war im Zweiten Weltkrieg nicht mehr nur die fotografierende Perspektive der Aufklärungsflugzeuge, son­ dern wurde zur Perspektive der Piloten und ihrer Teams an Bord, die in der Lage waren, schwere Bomben über weite Strecken zu transportieren und diese zielgerichtet abzuwer­ fen – derartiges Vorgehen war im Ersten Weltkrieg technisch noch nicht möglich. Kepes formuliert daher die Identifizierung des Ziels mit dem bloßen Auge aus der Perspektive des angreifenden Flugzeugs als den eigentlichen Fokus der Camouflage: „Although the enemy may have accurate maps and photographs, he must rely on visual identification of the target in order to aim and release the bomb.“79 In ähnlicher Argumentationsweise macht auch die Broschüre Precautionary Camouflage, herausgegeben vom Office of Civilian Defense Erkenntnisse über die Wahrnehmung zur

77 Vgl. ebd., S. 67. 78 Kepes, Summary of the introductory lecture for the camouflage course by George Kepes, S. 2. 79 Ebd.

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28 U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, September 1943, S. 4 und S. 6

Grundlage ihrer Camouflageinstruktionen. Die Schrift, die mit ihrem Bildgebrauch schon für die Einleitung dieses Buches zentral war, kann als ein Beispiel für die Übertragung von gestaltpsychologischen Erkenntnissen auf Camouflage gelten. Das zeigt sich insbesondere an Schaubildern, die den Text illustrieren.80 Das amtliche Heft führt anhand von Beispielzeichnungen vor, wie unterschiedliche geometrische Formen und deren Anordnung auf das Auge wirken. Unter einer der Zeich­ nungen (Abb. 28) heißt es: „Massiveness of shape catches and holds the eye.“81 Die Zeich­ nung zeigt eine unregelmäßige Anordnung kleinerer Rechtecke in deren Mitte ein größeres Rechteck optisch hervorsticht. Auch die anderen Zeichnungen demonstrieren, welche Ar­ ten von Formierungen das Auge ‚festhalten‘ und wie sich der ungewünschte Effekt, optisch Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu ziehen, zerstreuen lässt. Das Zitat und die schemati­ schen Zeichnungen scheinen von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie und der in dieser seit den 1910er Jahren entwickelten Wahrnehmungstheorie inspiriert zu sein.82 Die 80 U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, S. 4–6. 81 Ebd., S. 4. 82 Die Auswanderung ihrer wichtigsten Vertreter in die USA und deren wissenschaftliche Tätigkeit an ameri­ kanischen Universitäten trug dazu bei, dass die Gestalttheorie dort stark rezipiert wurde. Ähnliche Zeich­ nungen wie in Abb. 28 finden sich beispielsweise in den englischsprachigen Veröffentlichungen von Kurt Koffka und Wolfgang Köhler: Kurt Koffka, Principles of Gestalt Psychology, New York 1935, in den Kapiteln IV und V; Wolfgang Köhler, „Human Perception [1930]“, in: Mary Henle (Hg.), Selected Papers, New York 1971, S. 142–167 oder bei Wolfgang Metzger, Gesetze des Sehens, Frankfurt am Main 1936 hier vor allem im Kapitel „Sichtbare und unsichtbare Formen“, S. 13–24.

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Veröffentlichung überträgt gestalttheoretische Erkenntnisse auf die visuellen Erfordernis­ se des Krieges. Text und Bild erklären auf dieser Grundlage, dass in Planungs- und Bau­ prozessen von Gebäuden eine Aufteilung in kleinere Komplexe es der gegnerischen Partei erschwert, bei einem Luftangriff zentrale Ziele aus dem Flugzeug heraus zu erkennen und mit einem Schlag zu treffen. Auch in der Ausrichtung auf das Auge folgt Kepes den Grundlagen des Office of C ­ ivilian Defense. Die 1943 herausgegebene Broschüre Precautionary Camouflage des OCD erklärt im Abschnitt „What the Enemy Sees“, dass ein wiederholtes Fotografieren sensibler ame­ rikanischer Anlagen zu diesem Zeitpunkt nicht wahrscheinlich sei. Von den wichtigsten Zielen wie beispielsweise Fabrikanlagen, Elektrizitätswerken oder Dämmen existierten mit Sicherheit schon Fotografien, auf die sich die gegnerische Partei bei der Planung eines Angriffs stützen könnte. Beim Angriff selbst aber müsse sich der „bombardier“ auf seine Augen verlassen und daher gelte es, die Camouflage auf diesen Wahrnehmungsmoment hin auszurichten, in dem das Personal an Bord des Flugzeugs entscheide, die Bombe ab­ zuwerfen: Notwithstanding, whatever the bombardier […] may know, in advance, concer­ ning the whereabouts of our important installation, and however well he has them pinpointed on his maps, he must see with his own eyes that which he wishes to deal with. It is along the oblique angle, at changing degrees, as he approaches, by which he first seeks, then discovers, then attempts to destroy his objective. Even at the instant of bomb release, he must be considerably in front of his target.83 Der hier betonte und durch die Illustration (Abb. 29) in derselben Broschüre dargestellte Blickwinkel der Luftperspektive wird als „oblique“ spezifiziert. Im Unterschied zur vertika­ len Perspektive der Luftfotografie ist hier also die schräge Draufsicht die Perspektive, aus der das zu bombardierende Ziel erkannt werden muss. Insofern ist die Aufgabe der Ca­ mouflage nicht, die Dinge optisch komplett verschwinden zu lassen. Eine perfekte Tarnung ist nach Ansicht des Office of Civilian Defense kaum möglich, zu gut seien die technischen Möglichkeiten der Aufklärungsfotografie und ihrer gründlichen Interpretation mit allen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln. Vielmehr solle Camouflage darauf abzielen, die Sicht des Piloten zu irritieren oder abzulenken – und sei es nur für einen kleinen Moment, der zu einer Verzögerung des Bombenabwurfs und damit zu einem geringeren Schaden an dem beabsichtigten Ziel führe.84 Seklemians Kursaufzeichnungen geben Einblick in die zeichnerischen Übungen, die zur Perspektive von schräg oben durchgeführt wurden (Abb. 30). Die Grafik zeigt vier geo­ metrisch gezeichnete Quader in einer schrägen Draufsicht. Die verlängerten Linien der 83 U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, S. 2–3. 84 Ebd., S. 3.

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29 Illustrierung des Blickwinkels aus angreifendem Flugzeug, in: U. S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, S. 2

30 Illustration des Betrachtungswinkels, in: Seklemian, A Study of the Principles of Camouflage Conducted at the School of Design Chicago, 1942

Seiten der Quader laufen in einem Auge zusammen, das rechts oben in der Zeichnung plat­ ziert ist. Damit ist dargestellt, dass das Auge aus der Position, an der es sich befindet, die hintere Seite der Objekte sieht – also genau die Seite, die aufgrund der perspektivischen Ausrichtung des Bildes für die Bildbetrachterin verdeckt ist. Die Erklärung im Bild gibt zu verstehen, dass hier eine für die Camouflage bedeutsame visuelle Übersetzungsleistung dargestellt ist. Der gegnerische Angreifer aus der Luft, der die Dinge in der Bewegung sei­ nes Flugzeuges von schräg oben sieht, muss sich vorstellen können, wie die beobachteten Merkmale aus der gewohnten ebenerdigen Perspektive aussehen, um sich zu orientieren und sein Ziel zu identifizieren. Aufgabe des Camoufleurs sei es dabei, die Logik der pers­ pektivischen Vorstellung zu stören.85 Aufgrund dieser Bedeutung des perspektivischen Sehens erläutert Kepes im Camou­ flageunterricht dieselben Prinzipien der Raumwahrnehmung, die er auch in Language of Vision zur Grundlage für die Bildgestaltung erklärt. Hier liegt jedoch der Fokus darauf, sich diese Prinzipien für Täuschungen zunutze zu machen. Wenn das Sehen als kreativer Akt eine Interpretation der in das Auge fallenden Lichteindrücke ist, gilt es bei der Camouflage, in diesen Prozess der Interpretation zu intervenieren. Jack Waldheim notiert in diesem Zu­ sammhang aus Kepes’ Camouflagevorlesung über Form- und Raumwahrnehmung folgen­ 85 Vgl. Seklemian, A study of the principles of camouflage conducted at the School of Design Chicago.

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de Definition von Camouflage „camouflage is essentially the creation of visible conditions which lead to misinterpretation of the spatial facts underlying the retinal stimulations.“86 Seklemians Zeichnung zeigt, wie das funktionieren kann (Abb. 31). Das Auge interpretiert es als räumliche Tiefe, wenn Elemente sich überlappen, wie in der oberen Skizze gezeigt. Die Formen scheinen dadurch, dass sie einander überlappen, hintereinander angeordnet zu sein. So entsteht der Eindruck von räumlicher Tiefe. Oder wie Kepes eines der Grundprinzipien der räumlichen Gestaltung im Bild erklärt: Wenn eine Form die andere teilweise verdeckt, gehen wir nicht davon aus, dass der verdeckte Teil nicht existiert, sondern dass er sich unsichtbar dahinter befindet.87 Indem, wie in der unte­ ren Skizze (Abb. 31) vorgeführt, weiter hinten platzierte Formen so bemalt werden, dass es aussieht, als könnte man sie komplett sehen, werden sie als weiter vorne befindlich wahr­ genommen. Auf diese Weise wird die räumliche Orientierung irritiert. Die Wahrnehmung der räumlichen Tiefe, die in der oberen Skizze eindeutig erscheint, erweist sich in der nur leicht modifizierten unteren Darstellung als ambivalent. Zum bestehenden Raum­eindruck wird eine weitere, dem ersten Raumeindruck widersprechende Interpretation der Formen­ konstellation nahegelegt – „the introduction of contradictory perspective into the scene prevents the observer from reading the real perspectice“88, wie Seklemian notiert. Auf dem Papier funktioniert das eindeutig: Der Kreis hat sich in der unteren Skizze vor die bei­ den Quadrate geschoben, die ihn in der oberen Skizze verdecken. Wie diese Bemalungen in der Realität allerdings die Zielobjekte, die ein Bomberpilot vor sich sieht – immerhin dreidimensional und in komplexe Umgebungen eingebettet, optisch verschieben sollen, bleibt an dieser Stelle unbeantwortet. Es werden hier zunächst lediglich die Grundlagen unterrichtet, die die visuelle Wahrnehmung bestimmen. In diesem Sinne warnt auch Witt­ mann in seinem Industrial Camouflage Manual davor, zu sehr auf aufgemalte Formen zu vertrauen. Diese Form der Camouflage funktioniere häufig im Modell, aufgemalt auf große Gebäude allerdings sei die Effektivität nur auf eine bestimmte Perspektive und einen be­ stimmten Sonneneinfall beschränkt und der Trick falle leicht auf.89 Der 1944 von Moholy-Nagy produzierte 38-minütige farbige Stummfilm Design Workshops präsentiert dokumentarisch die Studienarbeiten und Prototypen, die an der School of Design hergestellt wurden.90 Man sieht Studierende und Lehrende der School of Design bei der Arbeit: Sie biegen Plexiglas, schleifen Holz oder machen es sich auf einem im De­ sign Workshop hergestellten Stuhl gemütlich. Farbe verläuft, eine Frau posiert in einer Drahtspirale. Der Film dokumentiert bei einigen Arbeiten den Entstehungsprozess und führt andere als fertige Objekte vor. Drei Minuten des Films, der 2008 von der Moholy-­ 86 Jack Waldheim, Summary of Lecture on Form and Space Perception in Camouflage by George Kepes. Chicago History Museum, Jack Waldheim Papers (21.10.1942), hier: S. 1. 87 Vgl. Kepes, Language of Vision, S. 76. 88 Seklemian, A study of the principles of camouflage conducted at the School of Design Chicago. 89 Vgl. Wittmann, Industrial Camouflage Manual, S. 49. 90 László Moholy-Nagy, Design Workshops 1944/2008.

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31 Diagramm erläutert das räumliche Sehen, in: ­Seklemian, A Study of the Principles of ­Camouflage Conducted at the School of Design Chicago

Nagy Foundation auf DVD wiederveröffentlicht wurde, widmen sich den skurril anmu­ tenden Objekten, die innerhalb des Camouflagekurses entstanden sind. Zwei Filmstills (­Tafel X und XI , S. 290) geben einen Eindruck davon, wie das erläuterte Prinzip der visuel­ len Wahrnehmung durch die Bemalung von Objekten erprobt wurde. Die Kamera umkreist beide Objekte jeweils langsam, um die Bemalung rundherum sichtbar werden zu lassen. Auch wenn die hier gezeigte zylinderartige Figur und die Kugel nicht das oben erläuterte Prinzip einer irritierenden Überlappung verkörpern, so folgt ihre Bemalung doch einer ähnlichen Idee: Die Zusammenstellung aus Farben und Formen soll, aufgemalt auf das Objekt, eine räumliche Fehlinterpretation des Gesehenen nahelegen. Indem sich optisch neue Formenzugehörigkeiten bilden, die nicht den tatsächlichen Ob­ jekten entsprechen, soll Verunsicherung über die räumliche Anordnung erzeugt werden. Der orangefarbene Hintergrund im Filmstill (Tafel X) zeigt allerdings, dass diese Strate­ gie nicht unabhängig vom Hintergrund des Objekts funktioniert. Die Bemalung, die die Zylinderform optisch in zwei diffus erscheinende nicht geometrische Formen teilen soll, kann ihren Zweck nur schwerlich erfüllen, wenn die Umgebung keine Motive für mögliche alternative optische Formenzugehörigkeiten bietet. Die Kugel (Tafel XI) reagiert auf diese Notwendigkeit, indem auch der Untergrund mit einem ähnlich fleckigen unregelmäßigen Muster gestaltet ist wie die Kugel selbst. Auf diese Weise gelingt es besser, die Kontur der Kugel optisch aufzulösen, weil die aufgemalten Muster sich mit denen des Untergrunds zu neuen Formen verbinden.

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32 Clifford Eitel, Study of ­Transparency, in: Kepes, Language of Vision, S. 77

Die räumlichen Überlappungen, von denen Kepes im Unterricht das der Camouflage zugrundeliegende Wahrnehmungsprinzip ableitet, werden in Language of Vision in ihrer ästhetischen Bedeutung gewürdigt: „If one sees two or more figures party overlapping one another, and each of them claims for itself the common overlapped part, then one is confronted with a contradiction of spatial dimensions.”91 Kepes beschreibt bildliche Figurenkonstellationen, die durch die Transparenz der Formen nicht eindeutig als eine bestimmte räumliche Anordnung interpretiert werden können. Die Figuren schieben sich in solchen Darstellungen kontinuierlich dynamisch vor- und hintereinander. Kepes betont, dass diese Art von Transparenz in der bildlichen Darstellung mehr ist als eine optische Ku­ riosität. Transparenz mache vielmehr die gleichzeitige Wahrnehmung unterschiedlicher und sich gegenseitig ausschließender räumlicher Verortungen erlebbar. Als Beispiele für die Gleichzeitigkeit einander überlagernder Raumeindrücke integriert er unter anderen Bildern auch zwei studentische Arbeiten in diese Passage.

91 Kepes, Language of Vision, S. 77.

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33 Jack Waldheim, „Superimposed Photography“, 1943, in: Kepes, Language of Vision, S. 81

Die Arbeit von Clifford Eitel (Abb. 32), die als Studienarbeit in Kepes’ Kurs „Visual Fun­ damentals“ an der School of Design entstanden ist, zeigt abstrakte Formen, die einander in einem breit geschwungenen Knoten durchdringen und umschlingen. Die Transparenz der Formen lässt dabei offen, welcher Teil sich vor welchen legt, so dass der Knoten eine innere Dynamik hat, die gleichzeitig mehrere räumliche Konstellationen als Interpretation zulässt. Bei der Studienarbeit mit dem Titel „Superimposed Photography“ handelt es sich um eine Fotografie von Jack Waldheim (Abb. 33), Student der School of Design, dessen ausführ­ liche Mitschriften oben schon erwähnt wurden. In seinem Bild überlagern sich das Porträt einer Frau und die Aderstruktur eines Blattes. Es sieht auf den ersten Blick wie eine dop­ pelt belichtete Fotografie aus, die durch die zweifache Belichtung desselben lichtempfind­ lichen Materials die beiden Bilder transparent übereinanderlegt – eine am New Bauhaus und der School of Design vielfach erprobte Technik. Da das Profil des Gesichts aber links im Bild noch einmal leicht verzerrt als Schatten auftaucht, liegt die Vermutung nahe, dass die Überblendung der beiden Motive hier nicht durch doppelte Belichtung auf lichtempfindli­ chem Material erreicht wurde, sondern durch eine Lichtprojektion eines Bildes des Blattes

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auf das Gesicht der porträtierten Frau. Kepes beschreibt sowohl mehrfach belichtete Foto­ grafien als auch durch Licht projizierte Bilder als Beispiele für künstlerische Formen, die einen intensivierten mehrfachen und ambivalenten Raumeindruck vermitteln können.92 Das Thema der Überlagerung, das Waldheim hier in seiner Arbeit von 1943 mit künstle­ rischen Mitteln erprobt, taucht auch in seinen Notizen zu Kepes’ Camouflagevorlesung vom 21.10.1942 auf. Waldheim hält unter dem Titel „overlapping or superimposition“ fest: If an image of an object appears to intercept the image of another object, the first will appear closer to the observer. (Creating painted interception on one plane the actual spatial position can be confused.)93 Diese Formulierung deckt sich mit den in Seklemians Skizzen (Abb. 31 , S. 211) dargestellten Prinzipien der bildlichen Raumgestaltung. Was als militärische Strategie in dieser grund­ sätzlichen Formulierung zu vage sein mag, findet in der künstlerischen Auseinanderset­ zung einen umso überzeugenderen Ausdruck. Den beiden Studienarbeiten von Eitel und Waldheim gelingt es, mehrere unterschiedliche Eindrücke von Räumlichkeit in einem einzigen Bild darzustellen und die Raumebenen dynamisch miteinander zu verschränken. Bemalungen können also die räumliche Orientierung empfindlich irritieren und sind deshalb unverzichtbarer Unterrichtsstoff im Camouflagekurs; nicht weniger wichtig er­ scheint den Lehrenden offensichtlich eine genaue Untersuchung von Schatten als wesent­ licher Erkennungsmerkmale von Objekten zu sein. Zwei Aspekte von Schatten werden dabei als besonders beachtenswert hervorgehoben. Zum einen die Tatsache, dass die Schatten, die Objekte im Sonnenlicht werfen, etwas über ihre Form, also die Gestalt ihrer räumlichen Ausdehnung verraten. Die andere Dimension von Schatten betrifft die Schat­ tierungen und Reflektionen der Oberflächen, an denen sich besonders aus großer Höhe Oberflächenstrukturen erkennen lassen. Dabei werden die spezifischen Schattenwürfe als bedeutsamer für die Erkennbarkeit eines Objekts eingestuft als das Objekt mit den ihm eigenen Schattierungen selbst. „Frequently it is easier to distinguish the form and height of a target from its cast shadow than from light and shadow of the form itself.“94 Seklemians Skizzen entwerfen eine Übersicht über Gebäudestrukturen und die mit diesen verbundenen typischen Schattenwürfe (Abb. 34). Dabei erweist sich vor allem die Form des Daches als ausschlaggebend für den Schattenwurf, wie die Zeichnungen unter­ schiedlicher Gebäude mit Spitzdach, Flachdach, Sheddach und Mansarddach verdeutli­ chen. „The student of the aerial photograph learns to recognize standard constructions by a series of unmistakable signs augmented by his own knowledge of objects in nature.”95

92 Vgl. ebd., S. 80. 93 Waldheim, Summary of Lecture on Form and Space Perception in Camouflage by George Kepes, S. 1. 94 Waldheim, Summary of Lecture on Form and Space Perception in Camouflage by George Kepes, S. 2. 95 Seklemian, A study of the principles of camouflage conducted at the School of Design Chicago.

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34 Schattenwürfe von Gebäuden, in: Seklemian, A Study of the Principles of Camouflage Conducted at the School of Design Chicago

An dieser vermeintlichen Verlässlichkeit der „unmistakable signs“ setzt die Camouflage an und versucht markante Charakteristika von Gebäuden so zu modifizieren, dass die bekannte Form durch andere Eindrücke überlagert wird. Das Schaubild in Abb. 35 schlägt Bemalungen für ein gebogenes Dach vor, welche von oben betrachtet die Schattierung des Daches, die die Form verraten würde, durch farblich aufgemalte gegenläufige Schattierun­ gen oder Muster verdeckt. Die Effektivität dieser Form von Camouflage wird allerdings in Seklemians Notizen sogleich angezweifelt, weil der Schattenwurf des Gebäudes selbst mit bemaltem Dach verräterisch bleibe. Aus diesem Grund wird ein anderer Vorschlag hervorgehoben – nämlich die Form des Schattens, den das Gebäude wirft, durch zusätzli­ che Strukturelemente oder Bepflanzung zu verändern. Die entsprechenden Skizzen sind in der Abb. 36 zu sehen. Diese zeigt in der linken Bildhälfte ein lang gestrecktes Gebäude mit einem spitzen Dach, das Teil einer Fabrikanlage sein könnte, und ein zylinderförmiges Objekt, das einem stilisierten Silo ähnelt. Beide Objekte werfen markant umrissene Schatten. Anders die modifizierten Objekte in der rechten Bildhälfte: Auf dem Dach des länglichen Gebäudes befinden sich flache Schirme, die wolkenähnlich unregelmäßig geformt sind. Sie reichen über den Rand des Gebäudes hinaus, sodass sie von oben betrachtet dessen Kontur be­ stimmen. Entsprechend ist auch der Schattenwurf verändert: Neben dem Gebäude sind als Schatten gewellte ovale Formen zu sehen, die an die Schatten von Bäumen denken lassen. Ähnliche Schirmkonstruktionen befinden sich an der modifizierten Zylinderform – nur

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35 Bemalungen für ein Bogendach, in: Seklemian, A Study of the Principles of Camouflage ­Conducted at the School of Design Chicago

dass diese rund um das Objekt herum an den Außenwänden in jeweils unterschiedlicher Höhe angebracht sind. Auch der nicht typisierbare Schattenwurf dieses unsymmetrischen Gebildes lässt sich kaum mit der ursprünglichen Form in Verbindung bringen. Eine ganze Reihe von in den Kursen hergestellten Objekten erproben und demonstrie­ ren dieses Prinzip der veränderten Silhouetten und Schatten. Der Film Design Workshops zeigt die Modelle mit einer die Bewegung der Sonne imitierenden wandernden Beleuch­ tung, die bewirkt, dass die Schatten sich in unterschiedliche Richtungen bewegen und unterschiedliche Verzerrungen annehmen. Teilweise sind die über den Objekten und an ihren Seiten angebauten Konstruktionen zusätzlich noch bemalt, um auf diese Weise den Eindruck einer zusammengehörigen Form zu stören, wie beispielsweise die schwarz-weiße Musterung des Dachs, das im Filmstill zu sehen ist (Tafel XII , S. 290). Das andere runde Ge­ bäude im selben Filmstill hat grüne gefächert-flügelartige Auswüchse, die teils wie ein Vor­ dach im unteren Bereich zur Seite gerichtet sind und sich teils wie ein Trichter formiert nach schräg oben orientieren. Tafel XIII (S. 290) zeigt ein Objekt, das gänzlich von einem flachen grünen Schirm bedeckt ist. Dieser erinnert in Form, Farbe und löchriger Struktur an eine Baumkrone, ebenso wie der wegen der Löcher nicht durchgängige Schatten, den dieser wirft. Ein weiteres Filmstill zeigt ein auf den ersten Blick rätselhaftes Szenario (Tafel XIV, S. 290). Im Modell sind eine Kirche und ein Haus zu sehen, sowie einige stilisierte Bäume, deren Baumkronen jeweils aus einem flachen Schirm bestehen, der auf einem dünnen

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36 Seklemian, Veränderung der geometrischen ­Schattenform, in: Seklemian, A Study of the Principles of Camouflage Conducted at the School of Design Chicago

Stiel befestigt ist. Während die weiße Kirche mit dem rötlichen Dach sich auf ebener Fläche befindet, steht das ebenso weiß und rötlich bemalte Haus auf einer erhöhten Ebene und ist dort von mehreren der stilisierten Bäume umgeben. Bei genauerem Hinsehen lässt sich feststellen, dass die erhöhte Ebene auf dem Dach eines braun und grün bemalten Gebäudes befestigt ist, das um ein Vielfaches größer ist als die Kirche und das Haus. An den Seitenwänden des großen Gebäudes sind rundherum mehrere dunkelgrüne Schirme angebracht, die an Baumkronen erinnern. Dem in Seklemians Notizen erläuterten Schema entsprechend (Abb. 36) verändern sie die Silhouette und Schattenform des Hauses bis zur Unkenntlichkeit. Das große Gebäude ist auf den ersten Blick kaum erkennbar – vor allem deswegen, weil unter dem exponiert platzierten kleinen Haus kein weiteres Ge­ bäude vermutet wird. Die Vorstellung des von oben auf das Ensemble Blickenden soll in die Annahme eines bewachsenen Hügels gelenkt werden. Verwirrung stiften dabei insbesondere die Größenverhältnisse. Offensichtlich schlägt das Modell vor, zur Tarnung

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eines Gebäudes die Attrappe eines Miniaturhauses auf dem Dach zu befestigen und, um die Illusion zu komplettieren, eine ebenso kleine Miniaturkirche gut sichtbar aufzustel­ len. Da in den Unterrichtsnotizen keine Angaben zu derartigen Miniaturen zu finden sind, lässt sich nur vermuten, dass diese Form der Camouflage darauf setzt, dass aus großer Höhe die Piloten der gegnerischen Flugzeuge Größenverhältnisse mangels Vergleichs­ größen in der Umgebung nicht richtig einschätzen und die kleinen Attrappen für echte Gebäude halten würden. Vielleicht war hier aber auch die verblüffende Erfahrung, dass aus großer Höhe betrachtet die bekannten Alltagsgegenstände – Häuser, Straßen, Bäu­ me – aussehen wie Spielzeug oder Miniaturmodelle, Inspiration für das illusionistische Miniaturenarrangement. Bei allen Zweifeln an ihrer Effektivität und konkreten Umsetzbarkeit konstruie­ ren diese Modelle Szenarien, die zumindest die Tarnung von realen Objekten im Blick haben könnten. Dies trifft auf eine weitere Serie von Modellen, die der Film Design Workshops unter den Arbeiten aus dem Camouflagekurs zeigt, nicht zu. In einer lang­ samen Bewegung zeigt die Kamera mehrere nebeneinander liegende Arbeiten, bei de­ nen sich jeweils auf einem Untergrund mit unterschiedlichen schwarz-weißen Mus­ terungen kleine geometrische Objekte, Kegel, Würfel oder Scheiben auf Klötzchen befinden. Tafel XV (S. 290) zeigt als Filmstill einen Ausschnitt dieser Modelllandschaft aus op­ tischen Experimenten. Offensichtlich wurden hier Modelle mit dem Zweck gebaut, die Funktionsweisen optischer Raumwirkungen und optischer Täuschungen vorzuführen. Im linken oberen Bereich des Filmstills beispielsweise bewirken die geschwungenen Linien auf der Fläche einen dreidimensionalen Eindruck: Es sieht so aus, als vertiefe sich die Flä­ che auf der linken Hälfte in eine Senkung und wölbe sich auf der rechten Seite nach oben. Die Modelle ähneln von ihrem Prinzip her den Skizzen, mit denen Kepes in Language of Vision die Erzeugung räumlicher Eindrücke und Dynamiken durch strategisch überlegte Anordnungen von Formen vorführt (Abb. 37). Im Buch erklärt er das Ziel, das er in seinem Unterricht mit solch abstrakten Übungen verfolgt: Before one begins to use the visual language for the communication of a concrete message, he should learn the greatest possible variety of spatial sensations inherent in the relationships of the forces acting on the picture-surface. The storing up of such varied experience is the most important training for visual expression.96 Hier offenbart sich Kepes’ didaktischer Ansatz, der auch einen Erklärungszusammen­ hang für die obskuren schwarz-weißen Modelle bietet: Es geht darum, den Studierenden visuelle Erfahrungen zu ermöglichen. Auch wenn der direkte Nutzen der schwarz-weiß bemalten Arrangements für die Tarnung fraglich ist, vermitteln sie doch ohne Zweifel in 96 Kepes, Language of Vision, S. 23.

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37 Skizze zur Illustration optischer Raumwirkungen unterschiedlicher Formenkonstellationen in: Kepes, Language of Vision, S. 24

ihren kontrastierenden Musterungen und der Dreidimensionalität besondere visuelle Eindrücke. Die andere Serie von Modellen (Tafeln XII bis XIV), die die äußere Form unter­ schiedlicher Gebäude durch Über- und Anbauten abwandelt, weist dagegen einen direk­ ten Bezug zu potentiellen Tarnungsszenarien auf. Dennoch drängt sich auch hier der Ein­ druck auf, dass in Übereinstimmung mit dem didaktischen Konzept der School of Design der Aspekt der experimentellen Erprobung ungewöhnlicher visueller Konstellationen im Vordergrund steht. Die gezeigten Übungen und Experimente zur Camouflage lassen sich als Teil von Kepes’ übergeordnetem Projekt der Entwicklung einer visuellen Sprache verstehen, die aus den dargelegten visuellen Grundprinzipien heraus und mit Bezug zu den technisch veränderten Wahrnehmungsbedingungen der Moderne gestaltet werden müsse.

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Just as the letters of the alphabet can be put together in innumerable ways to form words which convey meaning, so the optical measures and qualities can be brought together in innumerable ways and each particular relationship generates a different sensation of space.97 Camouflage kann in diesem Zusammenhang als eine sehr spezifische Form verstanden werden, gezielt visuelle Botschaften hervorzubringen. In diesem Sinne bot Camouflage für Kepes ein Experimentierfeld, in dem seine Überlegungen zu visuellen Neuordnungen einen konkreten Rahmen fanden. Umgekehrt brachten die interdisziplinären Camoufla­ gestudien mit ihren Überlegungen zur dynamischen Perspektive aus einem angreifenden Flugzeug, zur Gestaltung von Gebäuden und Landschaften im Hinblick auf ihren Anblick von oben und zu Licht- und Schattenwirkungen in Architektur und Landschaft wichtiges Material für die Reflektion zeitgenössischer Visualität. Eine weiteres Format zur Erprobung von Ausdrucksformen der visuellen Sprache sah Kepes im Werbedesign. Das mag angesichts seiner eingangs vorgestellten umfassenden Ambitionen überraschen – strebte er doch nicht weniger als eine visuelle Neuordnung der als chaotisch und gewaltvoll erlebten modernen Welt an. Für Kepes war das Werbedesign jedoch deswegen mit so großen Hoffnungen verbunden, weil es sich um eine neue Bild­ gattung handelte – frei von Traditionen, die einer ungezwungenen Entwicklung im Wege stehen könnten. If social conditions allow advertising to serve messages that are justified in the deepest and broadest sense, advertising art could contribute effectively in preparing the way for a positive popular art, and art reaching everybody and understood by everyone.98 Mögliche ästhetische Beschränkungen durch den kommerziellen Charakter dieses Gen­ res spielen in seinen Überlegungen keine Rolle. Kepes selbst war während des Krieges und auch danach als Werbedesigner tätig und gestaltete unter anderem Broschüren und Plakate für die Container Corporation of America, die zu den Hauptförderern der School of Design gehörte. Für ein Werbedesign-Magazin, das ihn und seine Arbeit porträtiert, gestaltete er eine Grafik, die seine Idee der visuellen Botschaft illustriert (Abb. 38). Unter der Überschrift „Entering the eye” geht der Artikel über Kepes folgender Frage nach: „How can I organize my message so that it will enter the eye most rapidly, easily, and accurately?“99 Kepes wird als ein Experte ausgewiesen, der an der School of Design in vielen Experimenten die Fähig­ 97 Ebd. 98 Ebd., S. 223. 99 Collins Miller & Hutchings Inc., Broschüre „Illustration“. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 6, Folder 172 (Februar 1941).

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38 Kepes, „Illustration“, in: Collins Miller & Hutchings Inc., Illustration, Februar 1941, S. 1–2

keit des Auges, Eindrücke zu empfangen, erforscht habe. Dennoch stehe die Forschung, die sich damit beschäftigt, visuelles Material so anzuordnen, dass es den optischen Eigenhei­ ten des Auges gerecht werde, angesichts der Komplexität der Funktionsweise des Auges noch am Anfang. Die Illustration suggeriert, dass jede Botschaft, in der richtigen Form visuell ausgedrückt, vom Auge empfangen werden kann. Im Vergleich zu Kepes’ in Language of Vision dargelegter Theorie ist dies eine starke Simplifizierung, die das Auge als lediglich rezipierend konzeptioniert. Der kreative Aspekt eines formenden Sehens vielschichtiger Realitäten, zentral für die in Language of Vision entwickelten Vorstellungen, wird in dieser Auffassung ausgeklammert. Stattdessen wird der Wert und Nutzen von visuell gestalteter Werbung an sich propagiert. Ein Element in der Illustration allerdings widersetzt sich dieser Simplifizierung: Fünf Bilder bewegen sich entlang der gezeichneten Strahlen auf ein Auge zu. Sie zeigen unterschiedliche Anordnun­ gen grafischer Elemente, wie Punkte, Striche oder Vierecke. Es ist schwer vorstellbar, dass derartig deutungsoffene bildliche Darstellungen eindeutige Botschaften ins Auge projizie­ ren könnten. Auf diese Weise vermittelt die bildliche Ebene durchaus die Komplexität und Ambivalenz visueller Wahrnehmungen und Eindrücke, die der Text ausblendet.

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Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago Militärische Objekte im Kunstmuseum

Am 12. April 1942 eröffnete in der Renaissance Society, einem Museum für moderne Kunst auf dem Campus der University of Chicago, eine Ausstellung mit dem Titel „War Art“. Das Cover des Ausstellungskatalogs (Tafel XVI , S. 291), ein kleines Heft von wenigen Seiten, zeigt einen großen dunklen Adler mit weit geöffnetem spitzem Schnabel und aggressivem Blick. Er nimmt den größten Teil der Bildfläche ein. Eine Gruppe im Vergleich zu dem Vogel winziger Flugzeuge in goldgelber Farbe kreuzt die Adlerdarstellung. Die leuchtende Farbe hebt sich vor dem dunkelbraunen Tier besonders gut ab und korrespondiert mit der als hellem Fleck angedeuteten Sonne im linken oberen Bildbereich, die ihrerseits den Hintergrund für den Schriftzug „WAR ART“ bildet. Die kleinen Flugzeuge erinnern in ihrer Form mit dem schmalen Körper und den breiten Tragflächen und der Leichtigkeit ihres Fluges an L ­ ibellen. Das V mit der nach oben zeigenden Spitze, zu dem sie angeordnet sind, umschließt den Adler von vorne und von hinten und keilt ihn dadurch zwischen Hals und Flügel ein. Es liegt im historischen Kontext und angesichts des Kriegsbezugs der Ausstellung nahe, dass der Adler für den Kriegsgegner, das nationalsozialistische Deutschland, und die leuchtenden Flugzeuge entsprechend für den Zusammenschluss der Alliierten stehen. Diese sind dem aggressiven Raubvogel in der bildlichen Darstellung weniger durch Kraft und Größe, als durch ihr geschicktes Zusammenspiel überlegen. Die Maschinen fliegen in dem V-förmigen Winkelflug, in dem sich auch Vogelschwärme organisieren, um in der Gruppe kräftesparend den Luftauftrieb und den Windschatten des jeweils vorausfliegen­ den Tiers auszunutzen. Die im militärischen Kontext sowohl für den Kampf als auch für ze­ remonielle Flugschauen bis heute gebräuchliche Flugformation der sogenannten Vic formation erfüllt denselben Zweck der aerodynamisch vorteilhaften Gruppierung. Außerdem ermöglicht diese Formation es den Piloten, einander zu sehen und erleichtert dadurch im Flug das Zusammenbleiben als Gruppe. Nicht weniger relevant für die Flugformation ebenso wie für ihre Abbildung ist aber auch die Symbolbedeutung des Buchstaben V, der für victory steht, und die spitze Form der Flugeinheit, die an eine fliegende Lanzenspitze erinnert und somit einen kämpferischen Eindruck vermittelt. Auf dem Bild unterliegt der finstere Vogel trotz seiner überlegenen Größe und offensichtlichen Aggressivität der kol­ lektiven Flugtechnik. Anders, als das Bild möglicherweise vermuten lässt, ging es bei der Ausstellung „War Art“ nicht um symbolische Darstellungen des Krieges, in den die USA am 8. Dezember 1941 eingetreten waren. Vielmehr präsentierte die Ausstellung künstlerische Experimente, die in Hinblick auf mögliche kriegerische Anwendungen entwickelt worden waren. Die Pres­ semitteilung der Renaissance Society kündigt das Ausstellungskonzept folgendermaßen an: „This will be a demonstration of new developments in art in their application to war

Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago

activities.“100 Gezeigt wurden Arbeiten von Studierenden der School of Design gemeinsam mit Arbeiten, die im Kontext des Federal Art Project entstanden waren. Im Rahmen des New Deal war dieses Programm ins Leben gerufen worden, um während der wirtschaftli­ chen Depression der 1930er Jahre Künstler*innen durch staatliche Auftragsarbeiten finan­ zielle Unterstützung zu bieten. Beide Institutionen zeichneten sich laut Pressemitteilung des Museums dadurch aus, dass sie ihre künstlerischen Aktivitäten auf die „actual war needs“101 richteten. Gemeint sind damit eine Vielzahl von künstlerischen Experimenten und Objekten, die mit Blick auf eine militärische Nutzung hin entwickelt wurden. Der Ka­ talog listet die Beiträge beider Institutionen auf. Darunter sind Camouflagemodelle, Tafeln zur Demonstration unterschiedlicher Eigenschaften von Farbpigmenten und deren Ober­ flächenstrukturen, Schaubilder mit Designentwürfen für Landebahnen, Schutzbunker, Stacheldraht, Helme, ein „wire cloth“ mit Anti-Schockwirkung für Helme und Fallschirm­ springerbekleidung, ein Infrarotofen, eine Plakette für den Marine-Nachrichtendienst, Marineposter und Entwürfe für Wandbilder, die die Scott Field Air Force Base Illinois schmücken sollten. Außerdem finden sich unter den Objekten auch einige mit nicht ohne Weiteres verständlichen Bezeichnungen wie „texture wheel“ oder „light boxes“.102 Ein Teil der Exponate wird erst im Kontext des Bildungsprogramms der School of Design verständ­ lich, da sie charakteristisch für ihren speziellen pädagogischen Ansatz sind. Eine andere Liste im Katalog gibt gesondert Auskunft über die Arbeiten, die aufgrund ihrer besonderen militärischen Relevanz aus Geheimhaltungsgründen nicht gezeigt wer­ den, darunter beispielsweise maßstabgerechte Modelle verschiedener militärischer Ope­ rationen, Schautafeln für Camouflagetraining oder Konstruktionsdiagramme von Moto­ ren und Waffen. Schon die ankündigende Pressemitteilung der Ausstellung weist explizit darauf hin, dass technische Arbeiten, die nun in Nutzung der Armee sind, zensurbedingt nicht gezeigt werden können. Die explizite Erwähnung der nicht gezeigten Arbeiten ent­ springt weniger dem Bedürfnis, Bedauern über diese Beschränkung auszudrücken. Ganz im Gegenteil wird der Hinweis auf die Zensur hier werbend eingesetzt, da er als Ausweis für die Relevanz des gesamten Projekts gelten kann – immerhin befinden sich die zen­ sierten Objekte tatsächlich im militärischen Einsatz. Die eingesetzte Rhetorik, die nicht präsente Objekte auf verbergende Weise präsentiert, steht beispielhaft für den verteidi­ genden, die eigene Relevanz vehement betonenden Gestus, der im Zusammenhang mit „War Art“ als wiederkehrendes Motiv zu beobachten ist. Und was könnte die Wichtigkeit der künstlerischen Arbeit glaubwürdiger verbürgen als die Tatsache, dass sie aufgrund ihrer militärischen Bedeutung zum Staatsgeheimnis geworden ist und deshalb nicht ausgestellt werden darf? In der apologetischen Betonung deutet sich schon an, dass die Frage nach 100 The Renaissance Society, Exhibition War Art Press Release. Archives of American Art, Smithonian Institution, 2402 0000 0085 1942 (1942). 101 Ebd. 102 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 84 (1942).

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39 „War Art“ 1942, Ansicht Ausstellungsraum

der Relevanz der künstlerischen Beiträge zum Krieg zu diesem Zeitpunkt keineswegs be­ antwortet ist. Vielmehr entbrennt im Krieg die Debatte um die gesellschaftliche Funktion von Kunst mit erhöhter Dringlichkeit. Einen Eindruck von den in der Ausstellung gezeigten Bildern und Objekten kann ein Foto des Ausstellungsraumes geben (Abb. 39). Die Aufnahme des Ausstellungsraums mit Bildern und Schautafeln an den Wänden und ein paar kleineren Objekten rechts unten lässt erkennen, dass im Rahmen der Ausstellung einige der im vorangegangenen Kapitel darge­ legten Studienobjekte des Camouflagekurses gezeigt wurden. Zu sehen sind links Schauta­ feln, die Prinzipien der visuellen Wahrnehmung und optischer Täuschungen veranschau­ lichen. Einige der kleinen Objekte rechts unten im Bild sind als die im Rahmen des Kurses hergestellten Schattenobjekte erkennbar. Aus der abgebildeten Ansicht lässt sich schließen, dass der Schwerpunkt auf der Erprobung und Erklärung von Prinzipien des Visuellen liegt, wie sie in den Kursen der School of Design etabliert wurden. Im Vordergrund stehen Bilder und Objekte, die den Prozess des Lehrens und Lernens nicht nur nachvollziehbar machen, sondern die Camouflage innerhalb eines künstlerisch relevanten Felds des Visuellen veror­ ten. Damit gibt die Ausstellung auch einen Einblick in die Arbeitsweise der Schule. Sie zeigt, wie die Studierenden sich dem Problem der Camouflage gestellt haben und für das Thema der täuschbaren menschlichen Wahrnehmung Umsetzungen im Bild gefunden haben. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass bei der Ausstellung „War Art“ an­ wendungsbezogene Kunst im Mittelpunkt steht – wenn in diesem Fall auch nicht nur in Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit der Industrie, sondern mit einem erweiterten Be­ griff der „urgent needs of today“, auf die die Künstler*innen reagierten. So heißt es ab­ schließend in der schon zitierten Pressemitteilung zur Ausstellung: „The exhibition, as a whole will serve to acquaint us with the contribution of the creative artist and the crafts­

Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago

man as he adapts himself to the urgent needs of today.“103 Mit den „urgent needs“ sind fraglos die Herausforderungen bezeichnet, vor die der Zweite Weltkrieg das Land stellt. Die Formulierungen sowohl des Ankündigungstextes als auch des Katalogs lassen aller­ dings auch erkennen, dass es hier um mehr als nur anwendungsbezogene Kunst und deren neuste Entwicklungen gehen soll. Zur Debatte steht einmal mehr die grundlegende Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung und Rolle von Kunst und Künstler*innen.104 The creative and inventive mind of the artist has always been alert to human needs. So today, the arts, the applied or practical arts in particular, are serving to meet the urgent needs of the present, and new techniques and developments are utilized to aid in the national effort.105 Diese Passage offenbart zentrale programmatische Voraussetzungen, die es ermöglichen, die Ausstellung in ihrem diskursiven Feld angemessen einzuordnen. Der Katalogtext ruft das Bild eines Künstlers auf, der sein Schaffen in besonderer Weise auf die menschlichen Bedürfnisse seiner Zeit ausrichtet. Zudem behauptet der Beitrag dieses Rollenverständnis als von historischen Umständen unabhängige zeitübergreifende Konstante – „[…] has al­ ways been alert to human needs“. Der Krieg wird hier als „national effort” gedeutet, als eine Situation, in der die „needs of the present” vehement hervortreten. In dieser Darstellung ist es die besondere weltpolitische und militärische Lage, die zur Suche nach unkonventio­ nellen Problemlösungsstrategien auffordert und diese stärker als sonst erforderlich macht. „War Art“, so die Botschaft hier, ist keine schöne Kunst im schlechten Sinne, sondern stellt einen innovativen und ganzheitlichen Zugang zu den jeweils drängendsten gesellschaftli­ chen Problemstellungen dar. Die Ausstellung bot für die School of Design die Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen. Die Ausstellung „War Art“ ist in der Debatte um die gesellschaftliche Aufgabe von Kunst eine wichtige Akteurin, zumal sie im sonstigen Programmspektrum der Renaissance Society, die fast ausschließlich zeitgenössische Malerei, Zeichnungen oder Skulp­ turen zeigt, eher eine Außenseiterin ist. Die Korrespondenz der Renaissance Society gibt Aufschluss darüber, dass die Initiative zur Ausstellung vom Museum ausging, das sich an die School of Design und an das W. P.A. Arts and Craft Project mit der Idee einer Aus­ stellung zum Thema „new developments in art in their application to war activities“106 wandte. Dies deutet darauf hin, dass sich Akteur*innen im Bereich der Kunst angesichts

103 The Renaissance Society, Exhibition War Art Press Release. 104 Vgl. hierzu den sehr aufschlussreichen Aufsatz von Emma Stein, in dem sie die Auswirkungen des Krieges auf das pädagogische Programm des New Bauhaus herausarbeitet, Stein, László Moholy-Nagy and Chicago’s War Industry. 105 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue. 106 The Renaissance Society, Briefentwurf an die School of Design und das WPA Illinois Art Project, Chicago. Smithonian Institution, 2402 000 0086 1942 War Art correspondence (1942).

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der Kriegs­situation verstärkt zu einer Positionierung gedrängt sahen. Nun ging es um eine öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit möglichen gesellschaftlichen Funktio­ nen und direkten praktischen Anwendungsbereichen für Kunst und künstlerisches Expe­ rimentieren. Aus der patriotischen Wortwahl der Einladungskarte zur Ausstellungseröff­ nung, adressiert an „members and friends“ der Renaissance Society, geht hervor, dass das Museum seine Gäste zu einem Teeempfang einlud, der einer besonderen Zusammenkunft und einem bemerkenswerten Zweck gewidmet war: „to honor officers of the Army, Navy, Air, and Marine Corps and Civilian Defense Officials“.107 Das Museum positioniert sich auf diese Weise als Ort, an dem weitreichende gesellschaftliche Fragen diskutiert werden und Verantwortliche hohen Ranges zusammenkommen. Allerdings geht aus der archivierten Korrespondenz auch hervor, dass viele der eingeladenen Militäroffiziellen ihre Teilnahme an der Ausstellungseröffnung absagten, so dass fraglich ist, wie viele von ihnen überhaupt an der zu ihren Ehren geplanten Veranstaltung teilnahmen.108 Der Wunsch nach interdisziplinärer Öffnung und Annäherung beruhte offensichtlich nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit. Möglicherweise drückte sich in der großen Zahl an Absagen eine grundsätzliche Skepsis auf militärischer Seite künstlerischen Beiträgen zum Krieg gegenüber aus. Dazu passt auch die Praxis des U. S. Office of Civilian Defense (OCD) die von ihm autorisierten Camouflagelehrer*innen zu ermahnen, dass die Kurse mit dem geplanten Lehrprogramm im Vorfeld vom OCD genehmigt werden müssten, da diese sonst nicht anerkannt würden.109 Der misstrauische, ja scharfe Ton ist nicht zu überhören: „This Office does not favor general courses or ‚glamour courses‘ to the public“110. Das OCD fürch­ tete offensichtlich um seine Seriosität, die, wie humoristische Darstellungen der Camou­ flage als „glamour girl of civilian defense“111 zeigen, in der Öffentlichkeit schon in Zweifel gezogen wurde. Zudem sei das Wort „expert“ in Publikationen und Informationsmaterial zu den Kursen zu vermeiden – „because of the connotation attached thereto“.112 Welche Konnotationen damit gemeint sind, wird nicht näher ausgeführt. Klar wird jedoch, dass im Bereich der Camouflage und anderer Kriegsbereiche mit künstlerischer Beteiligung Gra­ benkämpfe darum geführt werden, wer sich Expert*in nennen darf und was in diesen Zu­ sammenhängen als Expertise zu bezeichnen sei. Das Office of Civilian Defense reklamiert per Verlautbarung seine Deutungshoheit, während die Ausstellung „War Art“ das, was in 107 The Renaissance Society, Announcement Exhibition War Art. Archives of American Art, Smithonian Institu­ tion, 2402 0000 0084 1942 (1942). 108 Das geht aus der Korrespondenz der Renaissance Society hervor, es finden sich hier mindestens neun Absa­ geschreiben von geladenen Militärpersonen: Archives of American Art, Smithonian Institution, The Renaissance Society, War Art correspondence 2402 0001 0102 – 0110 (1942). 109 Office of Civilian Defense, Brief an Edward Farmer, 14.8.1942. 110 Ebd. 111 Ein Artikelentwurf, der sich im Nachlass Edward Farmers befindet, macht sich über Camouflage lustig, auch das Office of Civilian Defense ist indirekt benannt – „Camouflage is the glamor girl of civilian defense“ – und warnt vor selbst ernannten Experten. Corwin, Entwurf für Zeitschriftenartikel, Titel „Tangled Web“, wahr­ scheinlich für The Architectural Forum 1942. 112 Vgl. Office of Civilian Defense, Brief an Edward Farmer, 27.7.1942.

Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago

den Arbeiten von Künstler*innen und Kunstinstitutionen zum Ausdruck kommt, als eige­ ne Expertise behauptet, die ihren spezifischen patriotischen Beitrag zum Krieg zu leistet. Das im Zusammenhang mit „War Art“ propagierte Künstlerbild war für die Arbeit der School of Design seit ihrer Gründung im Geiste des Bauhauses bestimmend. In einem Vortrag über seine Designschule, der im August 1940 in einer ganz der School of Design gewidmeten Zeitschriftausgabe113 abgedruckt wurde, entwirft Moholy-Nagy das Ideal des Künstlertypus, der seine Arbeit den Problemen der Zeit widmet und sie in den Dienst eines gesellschaftlichen Fortschritts stellt, den er als „better culture“ bezeichnet.114 Für die Ausbil­ dung dieses Typus seien die traditionellen Universitäten mit ihrer zu einseitigen Speziali­ sierung nicht der richtige Ort. Es brauche eine neue und ganzheitliche Form der Bildung, um der Komplexität der Problemstellungen in der aktuellen „world crisis“ gerecht zu werden. We need in large numbers a new type of person -- one who sees the periphery as well as the immediate, and who can integrate his special job with the great whole in which it is a small part. This ability is a matter of every-day efficiency. It will also contribute to building a better culture. […] the School of Design in Chicago is a small center which looks at the city and the world as a great interrelated complex. We see what we do, not as isolated projects, but as combined with and related to the needs of our surroundings and our time.115 Design, so erklärt er in dem Vortrag, betreffe nicht nur die Oberfläche, die Form von Objek­ ten sei also explizit „not a matter of facade“116. Die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der inhaltsleeren Fassadenhaftigkeit, gegen den Moholy-Nagy sich hier so deutlich ver­ wahrt, kommt im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Camouflage in besonders kontroverser Weise zum Tragen – geht es doch bei der Camouflage gerade um Oberflächen­ erscheinungen und Maskierungen. Seinem Verständnis nach beschränke Design sich auch nicht auf die Optimierung von Produktionsprozessen, führt er in seinem Vortrag weiter aus. Das von ihm vertretene „design for living“ widme sich vielmehr „all problems of living and working together“117. Design – verstanden im Sinne der Bauhaustradition – tangiere alle Formen menschlichen Zusammenlebens. Darunter falle die Gestaltung des Familien­ lebens und der Arbeitswelt ebenso wie die Stadtplanung, die immer wichtiger werde, da immer mehr Menschen in Städten lebten: „Great cities dominate the culture of our time. They have grown chaotically. These cities are in desperate need of ­reorganization.“118 All

113 László Moholy-Nagy, Relating the Parts to the Whole, in: Millar’s Chicago Letter, 2/23 (Aug. 5, 1940), S. 6–7. 114 Ebenso in: László Moholy-Nagy, „The Contribution of the Arts to Social Reconstruction [1943]“, in: Richard Kostelanetz (Hg.), Moholy-Nagy, New York 1970, S. 19–21. 115 Moholy-Nagy, Lecture ”School of Design of Design in Chicago“, S. 1–2. 116 Ebd., S. 2. 117 Ebd. 118 Ebd.

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40 Broschüre New Bauhaus 1937, grafische Darstellung des Curriculums, S. 4

das könne nicht in kleinteiligen Betrachtungsweisen analysiert und bearbeitet werden, sondern benötige eine umfassende Gestaltung, ein Design, das Erkenntnisse aus den Be­ reichen der Soziologie, Psychologie, Technik, Architektur, Ästhetik, Biologie – um nur eini­ ge wichtige zu nennen – berücksichtige und integriere. Der erste Katalog des New Bauhaus, der die Bauhausprinzipien der US-amerikanischen Öffentlichkeit nahe bringt, zeigt dazu eine Graphik (Abb. 40) und führt aus: We have in the past given the function of art a formal importance, which segregates it from our daily existence, whereas art is always present where healthy and unaffected people live. Our task is, therefore, to contrive a new system of education which, along with a specialized training in science and technique leads to a ­thorough awareness of the fundamental human needs and a universal outlook. Thus, our concern is to develop a new type of designer […].119 In einem kurzem Essay-Beitrag zum Ausstellungskatalog von „War Art“ formuliert ­Moholy-Nagy diesen Ansatz erneut und nutzt ihn, um seine Schule als Ausbildungs­ stätte für ganzheitliche disziplinenübergreifende Problemlösungsstrategien zu bewerben. 119 the new bauhaus, Broschüre des New Bauhaus für das Schuljahr 1937/38, S. 4.

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Nur ein Ansatz mit dem Blick für das große Ganze könne der Komplexität der aktuellen Probleme gerecht werden. Die Ausstellung bietet ihm die Gelegenheit, seine pädagogi­ schen Überzeugungen und seine Auffassung vom Potential des Designs nicht nur in den konkreten Objekten der Ausstellung anschaulich zu machen, sondern auch in dem als nationale und internationale Notlage gedeuteten Krieg unter Beweis zu stellen: In a country at war education and vocational training are faced with the problem of achieving maximum results in minimum time without sacrificing the ­objectives of general education. The School of Design in Chicago – because of its past educational policy – has readily adapted its program to the present emergency. Its class room and workshop training, the coordination of hand and brain, helps to make the individual resourceful and inventive. He knows from direct experience how to handle the tools of the craftsman, the basic machines of industry and the problems of contemporary science and art. With such an integrated training of art, science and technology the students of the school were able to attack civilian and ­military tasks with courage, achieving surprising results, many of which have good ­possibilities.120 Die Dringlichkeit der Debatte um die gesellschaftliche Rolle der Kunst in der Kriegssitu­ ation zeigt sich in verdichteter Form an Moholy-Nagys Argumentationsstrategien für die School of Design und an deren Arbeit. Paradoxerweise werden dabei die progressiven und konstruktiven Prinzipien einer ganzheitlichen Ausbildung mit einem hohen praktischen Anteil, die die Schule in der Bauhaustradition verfolgte, zur idealen Ausbildung für den Krieg und der Krieg mit seiner Zerstörungskraft wird umgekehrt zum Testfall für die Qua­ lität der Ausbildung. Im Folgenden sollen zwei in der Ausstellung „War Art“ präsentierte Objekte der School of Design näher beleuchtet werden: das texture wheel und die light box. Die beiden Expo­ nate sollen in ihren teils bis in die Weimarer und Dessauer Bauhauszeit zurückreichenden didaktischen und ästhetischen Entstehungskontexten verortet werden. Auf diese Weise lässt sich nachvollziehen, welche künstlerischen Arbeiten, Experimente und Visionen sich in „War Art“ mit der Vision eines militärischen Einsatzes verbinden. Texture wheel – Materialerforschung zum Anfassen

Die Ausstellungsbroschüre von „War Art“ listet unter den präsentierten Exponaten auch ein „texture wheel“121 auf – ein Objekt, dessen Bedeutung sich bei der Beschäfti­ gung mit den am New Bauhaus praktizierten Übungen und Studienarbeiten erschließt. Wie schon bei der Rekonstruktion der in den Camouflagekurse durchgeführten Übun­ 120 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue. 121 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue.

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gen gibt auch im Kontext des texture wheel Moholy-Nagys Film Design Workshops Auf­ schluss über die konkrete Praxis. Denn der Film zeigt ein Objekt, auf das die Bezeich­ nung texture wheel – also ein Textur- oder Oberflächenstrukturenrad – zutreffen kann (Tafel XVII , S. 292). Die Oberfläche des Rades besteht aus aneinander angrenzenden unterschiedlich bearbeiteten Abschnitten, die sich durch ihre Oberflächenbeschaffenheiten auszeich­ nen: Es erscheinen je nach Umdrehung gewickelte Bänder, Holz mit eingeschnitztem Muster, nebeneinander befestigte Holzstäbe, eine schmirgelpapierähnliche Oberfläche, Lederbänder, mit Draht umwickelte Holzstäbe. Im Film streicht jemand mit einer Hand über die Oberflächen, während er mit der anderen das Rad dreht, das sich beim Loslas­ sen wie durch ein Federsystem von alleine in die andere Richtung zurückdreht. Der Film präsentiert das Rad zusammen mit anderen Objekten, die von tastenden Händen befühlt werden. Ein expliziter Kriegsbezug wird darin nicht hergestellt und das Rad taucht im Film auch nicht im Zusammenhang mit den anderen militärischen Arbeiten auf. Es stellt sich also die Frage, worin die Kuratoren von „War Art“ den Bezug zum Ausstellungsthe­ ma oder zu einem möglichen militärischen Einsatz sahen. Denkbar ist der Einsatz zur grundsätzlichen Sensibilisierung für die Qualitäten unterschiedlicher Materialien. Durf­ ten die Ausstellungsbesucher*innen das Objekt anfassen und selbst die Materialien und deren Oberflächenstrukturen erkunden? Auf jeden Fall war die Auseinandersetzung mit Materialien und deren Texturen Teil der Camouflagekurse und wurde als wichtige Sensi­ bilisierung im Hinblick auf die Entwicklung geeigneter Tarnmaterialien angesehen. Zum Thema der Oberflächentextur im Zusammenhang mit Camouflage führt Kepes in seiner Vorlesung aus: Texture is further visual data important in deciphering forms and spatial position. Texture is the general visual aspect of a mass of very small forms. A comparison of a close-up of a texture photograph with an aerial photograph will make it clear that there exists only quantitative differences between them.122 Diese Einschätzung der Bedeutung von Textur und der Vergleichbarkeit zwischen Makround Mikrostrukturen bietet eine plausible Erklärung für die Präsentation des Rads in der Ausstellung. Materialstudien und -experimente waren schon vor dem Kriegsprogramm zentrales Element des Lehrplans der School of Design, als Teil von Moholy-Nagys pädagogischen Grundsatz, dass die Studierenden ihre Kreativität weniger durch das Nachahmen als durch eigene Entdeckungen entfalten.

122 Waldheim, Summary of Lecture on Form and Space Perception in Camouflage by George Kepes, S. 2.

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The policy is, first, not to dominate the student […]. […] The student must use his imagination and wit, he must debate and contemplate, he must make independent findings. Since he is not allowed to imitate past solutions, he soon finds the power to face new situations fearlessly, to develop new habits of imagination.123 Hierzu entwickelte er Übungen, die Teil der basic oder foundational courses des ersten Studienjahres waren. Diese waren eine Weiterentwicklung des ursprünglich von Johannes Itten am Bauhaus in Weimar und in dessen Nachfolge dort und in Dessau von Moholy-­ Nagy fortgeführten pädagogischen Programms des sogenannten „Vorkurses“: Im ersten Studienjahr durchliefen die Studierenden unabhängig von einer späteren Spezialisierung alle Werkstätten des Bauhauses.124 Nathan Lerner, Student des ersten Jahrgangs am New Bauhaus, erinnert sich Jahrzehnte später, wie der unkonventionelle Unterrichtsstil damals auf ihn wirkte: We were given strange exercises: picking up objects feeling them, then drawing them; cutting and folding paper; shaping blocks of wood until we liked how it felt. This was all very mysterious and confusing until we realized objects and images we made were not judged by faculty but were meant to reveal what was happening to us […].125 Die methodischen Grundlagen und Ziele der hier aus der Sicht des zunächst irritierten Studenten beschriebenen Übungen legt Moholy-Nagy ausführlich und mit vielen Fotogra­ fien von studentischen Arbeiten bebildert in seinem posthum erschienen Buch Vision in ­Motion dar. Die Materialübungen hebt er darin als wichtige Vorübungen beispielsweise für die Entwicklung der schon erwähnten Holzfedern hervor.126 Eine dieser Übungen be­ traf das Herstellen und Fotografieren von sogenannten tactile charts (Abb. 41). Das texture wheel kann als eine Abwandlung dieser tactile charts gelten, die in der Fläche ähnlich funk­ tionieren wie das Rad mit seinen zusätzlichen Bewegungseffekten. Tactile charts waren flache, tafelartige Skulpturen, bei denen auf einem Holzbrett kleine Flächen unterschied­ licher Materialien befestigt waren. Moholy-Nagy beschreibt sein mit den tactile charts verbundenes Lernziel folgender­ maßen: „To articulate and combine materials for their peculiar qualities of touch ­sensation,

123 Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 65. 124 Vgl. zur Fortführung der Bauhauspädagogik durch Moholy-Nagy im Chicagoer Kontext: Maggie Taft, „Better Than Before: László Moholy-Nagy and the New Bauhaus in Chicago“, in: Mary Jane Jacob und Jacquelyn Baas (Hg.), Chicago makes modern. How creative minds changed society, Chicago 2012, S. 31–43, hier: S. 38–39. 125 Nathan Lerner, „Memories of Moholy-Nagy and the New Bauhaus“, in: Terry Suhre (Hg.), Moholy-Nagy. A New Vision for Chicago, Chicago, Springfield 1990, S. 12–15, hier: S. 13. 126 Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 79, die hier gebrauchte Formulierung suggeriert allerdings, die Holz­ federn seien tatsächlich in Produktion gegangen: „These exercises were the preliminaries to two dozen or more wood spring inventions, used as metal-spring substitutes during the war when priorities on metals prohibited the production of steel springs.“

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41 Alex Corrazzo, Tactile Chart aus dem Basic Workshop, New Bauhaus, 1937

vibration, pressure, pricking, pain and temperature. “127 Das tactile chart fungiere in die­ sem Sinne als ein Wörterbuch für Sensorisches, das unterschiedliche taktile Qualitäten verzeichnet, an einem Ort versammelt und nebeneinander, in ihren Kontrasten wie Ähn­ lichkeiten spürbar macht.128 Nicht zufällig liegt die Aufmerksamkeit hier gerade auf dem Tastsinn. Denn Zweck der Übung war es ja, die Studierenden für ihre vernachlässigten und unbeachteten Sinneseindrücke zu sensibilisieren.129 Es ging dabei um ein neues Se­ hen, eine Verfeinerung der Wahrnehmungsfähigkeit mit allen Sinnen, und gleichzeitig um eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten: „[T]he student cannot be transformed into an ‚artist‘ with such ‚exercises,‘ but they can open for him the doors of expression and ­condition him to a new vision.”130 Die Kunsthistorikerin Maggie Taft hebt die Art und Weise hervor, in der die studenti­ schen Arbeiten, insbesondere die tactile charts, in den regelmäßigen Schulausstellungen präsentiert wurden: nicht hinter Glas, sondern offen auf Tischen ausliegend. So seien sie als Einladung an das Ausstellungspublikum zu verstehen, die Oberflächenqualitäten der 127 László Moholy-Nagy, Manuscript for exhibition “Works from the Preliminary Course”, 1937–1938, New Bauhaus. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 56 ([1938]), hier: S. 1. 128 Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 68. 129 Vgl. ebd., S. 65. 130 Ebd., S. 66.

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Skulpturen nicht nur mit dem Auge nachzuempfinden, sondern durch Berührung selbst zu erfahren.131 Diese Berührungslexika fungieren also sowohl als experimentelle Objekte eines Lernprozesses der Studierenden, die beim Herstellen der tactile charts ihre Sensibi­ lität für den Charakter von Oberflächen schärfen und ihre Geschicklichkeit im Erzeugen der gewünschten Effekte trainieren, als auch als interaktive Objekte, die den Ausstellungs­ besucher*innen das Erfahren taktiler Eindrücke ermöglichen. Moholy-Nagy will die tactile charts nicht nur als Materialstudien mit Blick auf die Nutzung, sondern insbesondere als psychologische Studien des Materials verstanden wissen. Auf diese Weise sollen innerhalb seines holistischen Ansatzes die wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse um Untersuchungen auf dem Feld psychologischer Wirkungen ergänzt werden.132 Es gab seit der Eröffnung des New Bauhaus 1937 für jedes Schuljahr mindestens einen Katalog, der das Lehrangebot, die pädagogischen Prinzipien und Lehrinhalte der School of Design erklärte und großformatige Abbildungen vor allem von studentischen Arbeiten enthielt, die aus den Übungen entstanden waren und den speziellen Stil der Schule ver­ anschaulichen sollten. Eine mit mehreren Fotografien grafisch gestaltete Seite im Katalog für das Schuljahr 1941/42 stellt in Bild und Text den spezifischen Umgang der School of Design mit Materialien dar. Unter der Überschrift „Materials Play…“ soll veranschaulicht werden, welche überraschenden Qualitäten unterschiedliche Materialien offenbaren kön­ nen (Abb. 42). Damit wird sowohl auf ein pädagogisches Konzept als auch auf die philo­ sophische Annahme über verborgene Strukturen rekurriert, die den Materialien inhärent seien. Das Prinzip des Spiels, das hier als Teil des pädagogischen Programms hervorgeho­ ben wird, wird von Moholy-Nagy auch später noch in Vision in Motion als grundlegende kreative Kraft dargestellt. Das Spiel sei auf der einen Seite freies Ausprobieren, dezidiert „artless“, also nicht gleich auf die Produktion von Kunstwerken und die damit verbunde­ nen hohen Ambitionen gerichtet. In Zusammenarbeit mit guten Lehrenden aber, die im freien Spiel der Schüler*innen die signifikanten Qualitäten erkennen, könne dieses Spiel zu „purposeful results“ gebracht werden.133 In der weißen Textbox, die als grafisches Element in die Katalogseite eingebunden ist, wird beschrieben, wie aufschlussreich das Spiel mit Materialien sein kann: „As a sheet of paper becomes a column, as wood is revitalized into rubber-like elasticity, and wire is made into a skeletal unit, the enduring conviction of elemental structure emerges.”134 Die drei erwähnten Materialien, Papier, Holz und Draht, finden sich in der querformati­ gen Gestaltung der Seite wieder: Zwei Hände führen die Beweglichkeit des speziell ge­ schnittenen und aufgefächerten Holzes vor. Die in sich gedrehte Säule aus gestapeltem Papier wirft links unten einen langen Schatten, der wie eine nach oben führende Treppe 131 132 133 134

Vgl. Taft, Better Than Before, S. 34. László Moholy-Nagy, The New Vision. Abstract of an Artist, New York 1947, S. 25. Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 66. School of Design in Chicago, Catalogue School of Design 1941–1942. University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection, Box 3, Folder 63 (1941).

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42 Katalog School of Design 1941/1942, o. Seitenangabe

aussieht. Das Gebilde aus rund gebogenem Draht, das als rechteckiges Foto eingefügt ist, scheint mitsamt seiner bildlichen Rahmung an einem Faden vom oberen Rand herunter­ zuhängen und wirkt dadurch schwerelos. Die den Materialien eigentlich aller Erfahrung nach verbundenen Eigenschaften wie Elastizität, Schwere, Massivität oder Durchlässig­ keit werden hier infrage gestellt und außer Kraft gesetzt. Durch Bearbeitung des Materials entwickeln sich unerwartete Eigenschaften, die durch die Fotografien und die grafische Zusammenstellung verstärkt zur Geltung gebracht werden. Das Bild suggeriert grenzen­ lose Möglichkeiten der Materialnutzung, wenn man nur spielerisch mit Bearbeitungswei­ sen experimentiere. Im Widerspruch zu der suggerierten Offenheit der Nutzungsweisen steht allerdings der letzte Halbsatz in der Textbox, der auf das Resultat der spielerischen Veränderungen der Materialqualitäten eingeht: „[T]he enduring conviction of elemental structure emerges“135. Wird damit davon ausgegangen, dass den Materialien Elemen­ tarstrukturen zugrunde liegen, die durch experimentelle Behandlung herausgearbeitet würden? Taft bezieht sich in ihrer Analyse der Materialübungen an der School of Design auf die schon erwähnten konzeptuellen Vorgänger in den Vorkursen des Bauhauses. Sie grenzt als Ergebnis ihres Vergleiches Moholy-Nagys Ansatz gerade in dem Punkt von der 135 School of Design in Chicago, Catalogue School of Design 1941–1942.

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früheren Bauhauspraxis mit den sogenannten Tasttafeln ab, deren Ziel es laut Josef Albers gewesen sei, inhärente Charakteristiken und grundlegende Eigenheiten der Materialien zu erforschen, „to develop an understanding of the fundamental properties of materials.“136 Bei Moholy-Nagy stünden dagegen das Training der Wahrnehmung, die Förderung des kreativen Umgangs mit dem Material und das darin liegende schöpferische Potential im Fokus des Interesses. In diesem Sinne akzentuiert Taft die Materialstudien des New Bauhaus im Kontrast zu denen der Vorkurse: „form was not to be found but instead generated from the designer’s hand.“137 In der grafischen Darstellung im Katalog gibt der bildliche Teil der Darstellung dieser Interpretation recht. Hier entsteht der Eindruck, dass im Spiel mit den Materialen unendliche Möglichkeiten generiert werden und Materialstrukturen in der Bearbeitung fundamental neu geformt werden können. Der Text widerspricht dieser visuell vermittelten Botschaft, indem er die Existenz von dem Material inhärenten inneren Strukturen behauptet, die durch eine entsprechende Bearbeitung ans Licht gebracht wer­ den könnten. Die Praxis der hergestellten Arbeiten und der Diskurs klaffen an dieser Stelle auseinander. Dieser Widerspruch mag sich zum Teil durch den Entstehungsprozess der Broschüre erklären lassen, die als Gemeinschaftsprojekt von den Studierenden der Schule als „picture reportage“ gestaltet wurde, wie auf der ersten Seite erklärt wird.138 Er zeugt aber gewiss auch von dem Transformationsprozess der Bauhaustradition in Reaktion auf das neue Umfeld, in dem sie sich zu bewähren hatte. Nathan Lerners light box – Licht und seine Wirkungen erforschen

Teil der für „War Art“ aufgelisteten Beiträge der School of Design sind zwei sogenannte „light boxes“. „Camouflage demonstration: two light boxes showing the use of light and shadow to conceal the character of forms.“139 Erläuterungen über dieses Objekt, seine Ent­ stehungsgeschichte und seine Einsatzmöglichkeiten sowie mehrere Bilder finden sich in zwei Publikationen von Moholy-Nagy: in der überarbeiteten Auflage des ursprünglich 1928 erschienen Textes The New Vision140 und dem 1947 posthum erschienenen Buch Vision in Motion. In Vision in Motion erscheint die light box im Zusammenhang mit sogenannten „light modulators“, die das Curriculum des New Bauhaus als Studienobjekte für den an der Schule praktizierten Fotografieunterricht vorsieht. Bei den light modulators handelt es sich, ähnlich wie bei den tactile charts (Abb. 41 , S. 232), um von Studierenden hergestellte Skulpturen, die in Hinblick auf ihre Licht reflektierenden Eigenschaften und ihre interes­ santen Schattenwürfe konzipiert wurden. Diese Licht modulierende Funktion könnten, so

136 Josef Albers, „Preliminary Course“, in: Walter Gropius, Ise Gropius und Herbert Bayer (Hg.), Bauhaus 1919– 1928, New York 1938, S. 91. 137 Taft, Better Than Before, S. 37. 138 Vgl. School of Design in Chicago, Catalogue School of Design 1941–1942. 139 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue. 140 Moholy-Nagy, The New Vision.

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43 Jean Kendall, „­Dictionary of the light modulator“, 1946, in: ­Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 202–203

­ oholy-Nagy, die einfachsten Materialien wie beispielsweise gefaltetes, gebogenes, zer­ M schnittenes oder zerknülltes Papier erfüllen. Diese Idee illustriert eine sieben Aufnahmen umfassende Fotoserie von Jean Kendall mit dem Titel „dictionary of the light modulator“, die mittels einer dazugehörigen schritt­ weisen Anleitung in sieben Punkten erklärt, wie mit Papier und Schere durch die Formen, die das Papier annimmt, auf der Fotografie verschiedene Grautöne erzeugt werden können (Abb. 43).141 Auch hier, wie schon im Zusammenhang mit den tactile charts für die taktilen Erfah­ rungen, suggeriert die Metapher des Wörterbuchs eine Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten des Lichts, die mithilfe eines dafür geeigneten „Modulators“ in systematisierter Art und Weise sichtbar gemacht werden kann. Den Begriff „dictionary“ verwendet Moholy-Nagy im selben Buch auch, wenn er eine Serie von Fotogrammen, die in der Wanderausstellung

141 Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 202–203.

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„Light As a Means of Expression“ (1941–1947) des Museum of Modern Art gezeigt wurde,142 als „dictionary of the photogram“143 betitelt. Die Verwendung des Wortes in diesen Kon­ texten mag eine Spielerei mit wissenschaftlicher Terminologie sein. Gleichzeitig steht sie aber auch paradigmatisch für Moholy-Nagys pädagogisches Programm, das unterschiedli­ che Wissensgebiete methodisch und inhaltlich in die künstlerische Ausbildung integriert. Durch die Verwendung der Metapher stellt er selbstbewusst die Behauptung auf, dass sei­ ne Art des künstlerischen Arbeitens und Unterrichtens Wissen generiert und die von ihm entwickelten Übungsobjekte eine ebenso fundierte, bedeutsame und hilfreiche Grundlage für kreatives Arbeiten bieten wie ein Wörterbuch für den Umgang mit Sprache. Besonders interessant für Übungen mit Lichtmodulatoren seien gebogene oder gefal­ tete Oberflächenstrukturen, die das Licht in unterschiedlichen Intensitäten und Richtun­ gen reflektierten und damit „modulierten“, wie Moholy-Nagy betont: The function of the light modulator is to catch, reflect and modulate light. A flat surface does not modulate, it only reflects light. But any object with combined concave-convex or wrinkled surfaces may be considered a light modulator since it reflects light with varied intensity depending upon its substance and the way its surfaces are turned towards the light source.144 In diesem Sinne könne grundsätzlich jedes Objekt zum Lichtmodulator werden. Denn jedes Objekt, auf das Licht trifft, bewirkt durch seine Form und die Strukturen seiner Oberfläche spezifische Lichtbrechungen. Als besonders komplexen Lichtmodulator hebt Moholy-Nagy das menschliche Gesicht hervor – mit seiner mehrfach konkav-konvex gebo­ genen Struktur, seiner Oberfläche, die glatt, faltig oder behaart sein kann, mit dem Licht­ spiel der glänzenden Augen und den verschlungenen Schatten der Ohrmuscheln. Porträt­ fotografie sei aufgrund dieser Komplexität des Gesichts für Anfänger*innen zu schwierig. Die am New Bauhaus praktizierten Übungen mit den Lichtmodulatoren, bei denen ein­ zelne Effekte herausgearbeitet, im Detail studiert, sowie sukzessive durch Hinzufügen weiterer Elemente erweitert werden konnten, verstand Moholy-Nagy als Vorbereitung für komplexere, weniger isolierbare und berechenbare Phänomene. Die Arbeiten mit den selbst hergestellten Objekten seien dabei als Studien zu verstehen, die das Verhalten von Licht und die Formen, die es erzeugen könne, erprobten und seine in der konventionel­ len, auf realistische Abbildung bedachten Fotografie wenig beachteten ungewöhnlichen Erscheinungsformen bildlich festhielten. Denn nur durch genaues Studium der Lichtef­ fekte könne, laut Moholy-Nagy, ein Fotograf seiner eigentlichen Aufgabe gerecht werden:

142 Vgl. Engelbrecht, Moholy-Nagy, S. 591–592. Konzipiert wurde die Ausstellung von Moholy-Nagy, Kepes und Nathan Lerner. 143 Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 197. 144 Ebd., S. 198.

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die wahre Form des Objekt zu vermitteln, „the true shape and nature of his object“145, mit allen möglichen perspektivischen Verzerrungen oder Lichtreflektionen, die ansonsten zu­ gunsten der realistischen Darstellung vermieden würden. Der Fokus liegt dabei auf dem Entdecken und Modulieren überraschender Effekte, die sich in der Fotografie zeigen, aber bei der Betrachtung mit dem bloßen Auge meist übersehen oder ausgeblendet werden – wie zum Beispiel vergrößernde Nahaufnahmen oder ungewöhnliche, verzerrende Perspek­ tiven von unten oder oben. Dabei geht es nicht nur um das Herstellen unkonventioneller Bilder. Vielmehr solle die Exaktheit und Objektivität der Kamera, ihre Unbestechlichkeit und „unerring accuracy“146, die nicht wie die Wahrnehmung mit dem bloßen Auge von Ge­ wohnheit und Erwartungen geprägt, ja entstellt sei, eine neue, „objektive“ Art des Sehens lehren. In einem Aufsatz von 1932 mit dem Titel „fotografie, die objektive sehform unserer zeit“147 hebt Moholy-Nagy hervor, in welch starkem Maße die Fotografie die kollektive Sehweise der Gegenwart und die herrschenden Vorstellungen von Wirklichkeit präge. Während es zu früheren Zeiten Maler*innen gewesen seien, die die „sehform“ ihrer Zeit und insbesondere die Wahrnehmung der Landschaft prägten148, schafften die technischen Möglichkeiten der Fotografie heute neue Bilder: Luftaufnahmen zeigen die Landschaft in ganz anderen Formationen, vergrößerte Nahaufnahmen geben die Struktur eines Gewebes zu erkennen, Röntgenbilder offenbaren das Innere von Körpern.149 Es sind diese Möglich­ keiten, die eine neue Sichtweise auf die Wirklichkeit erzeugen können und Gewohntes infrage stellen. A creative photographer must try to enlarge the habitual scope of vision; create new relationships between known elements; utilize the expressive power of surprise growing out of the potentialities of the photographic means.150 Die Lichtmodulatoren stellen zu diesem Zweck gewissermaßen die Laborsituation her, den überschaubaren, kontrollierbaren Raum. In ihm treten die natürlichen Effekte und Phänomene klarer hervor und können voneinander isoliert erfasst werden. Schon in den 1920er Jahren, während seiner Zeit als Lehrer am Weimarer Bauhaus, suchte Moholy-Nagy nach Wegen, naturwissenschaftliche und technische Neuerungen in sein Wirken als Maler und Fotograf zu integrieren. In einem Zeitschriftenartikel tritt er für das Projekt einer Art Grundlagenforschung in der Malerei und der Fotografie ein, die 145 Ebd. 146 Ebd., S. 206. 147 László Moholy-Nagy, „fotografie, die objektive sehform unserer zeit [1932]“, in: Fr. Kalivoda (Hg.), l. moholy-nagy, Brno 1936, S. 120–122. 148 Die These, dass die Landschaft durch die Landschaftsmalerei erschaffen wurde, vertritt später prominent auch Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster 1963. 149 Vgl. Moholy-Nagy, fotografie, die objektive sehform unserer zeit [1932], S. 122. 150 Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 198.

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sich methodisch an einem naturwissenschaftlichen Laboratorium orientieren sollte.151 In dem Artikel „vom pigment zum licht“ listet er einen ganzen Fragenkatalog mit technischen, biologischen und chemischen Problemstellungen auf, die auch für die Malerei von großer Bedeutung seien und dennoch bisher zu wenig Beachtung gefunden hätten. Der Text ist ein Appell an die Kunst, diesen Fragen mit eigenen Antworten zu begegnen, um sich nicht von den rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik abzukoppeln, sondern dem gängigen Umgang eigene Bearbeitungsweisen mit den Mitteln der Kunst entgegenzuset­ zen. Dabei solle insbesondere die emotionale Dimension, die von Licht allgemein und von den verschiedenen Arten künstlichen Lichts ausgeht, stärker berücksichtigt, erprobt und erfahrbar gemacht werden. Moholy-Nagy spricht sich, wie der Titel des Aufsatzes program­ matisch zu verstehen gibt, für künstlerische Experimente aus, die Licht- und Farbenwir­ kungen nicht nur, wie in der Malerei, durch die Lichtreflektionen der in die Farbe gemisch­ ten Pigmente bewirken. Durch Arbeiten mit direktem Einsatz von Licht sollen ästhetische Wirkungen gestaltet werden, wie beispielsweise bei Skulpturen mit elektrischem Licht, Glasarbeiten oder Fotografie und Film. Diese Forderung gründet auf der Erkenntnis, dass Farbeindrücke im Auge durch die jeweils spezifischen reflektierenden Eigenschaften der Pigmente entstehen. In der Malerei werden mit Hilfe der Reflektion der Farbpigmente auf indirekte Weise Lichteffekte im Auge hervorgerufen. Dieses Wissen über die Entstehung von Farbeindrücken im Auge wandelt Moholy-Nagy in ein ästhetisches Programm zum Umgang mit Licht. Die kommende Lichtkunst soll physikalisches Wissen und technische Fertigkeiten mit Phantasie und emotionaler Ausdruckskraft verbinden.152 unzählige grundsätzliche fragen warten auch seitens der maler auf laboratorische durcharbeitung: / was ist licht und schatten? / was ist hell – dunkel? / was sind lichtwerte? / was sind zeit und maß? / neue messungsarten? / bewegung des lichts? / was sind lichtbrechungen? / was ist farbe (pigment)? / was sind die zwischen­medien, durch die die farbe leben gewinnt? / was ist farbeninten­ sität? / chemie der farbe und der lichtwirksamkeit? / bedingtheit der form durch farbe? durch ihre lage? durch ihre flächenquantität? / biologische funktionen? / ­fysiologische reaktionen? […] die erforschung dieser zusammhänge, der ­fysiologischen –­psychologischen zusammenhänge und gestaltungsmittel sind noch weit zurück, verglichen mit den fysikalischen forschungen. eine praxis des mechanisch-­maschinellen farben- (licht-) ausdrucks existiert noch kaum.153

151 László Moholy-Nagy, „vom pigment zum licht [1923–1926]“, in: Fr. Kalivoda (Hg.), l. moholy-nagy, Brno 1936, S. 118–120. 152 Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 168. 153 Moholy-Nagy, vom pigment zum licht [1923–1926], S. 119.

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In den zahlreichen Fragen, die er aneinanderreiht, spricht er sowohl technisch-physikali­ sche Probleme von Messungsverfahren an als auch die ästhetische Suche nach affektiver Wirksamkeit („was sind die zwischenmedien, durch die die farbe leben gewinnt? / was ist farbenintensität?“). Die abschließende Kommentierung der Fragen macht deutlich, dass den erweiterten technischen und physikalischen Erkenntnissen von künstlerischer Seite eine Erforschung der Ausdrucksqualitäten zur Seite gestellt werden müsse. Den Künst­ ler*innen spricht Moholy-Nagy hier eine integrierende Rolle bei der Vernetzung der verein­ zelten Forschungsgebiete zu: Ihnen falle die Aufgabe zu, die physikalischen Erkenntnisse über die Brechung des Lichts, das biologische Wissen über die Funktionsweisen des Auges und die technischen Möglichkeiten der Lichterzeugung für die Erkundung der damit ver­ bundenen Ausdruckspotentiale gezielt zu nutzen. Moholy-Nagy schwebt eine Lichtkunst vor, die sich das vorhandene Wissen um die physiologischen und psychologischen Wirk­ weisen von Licht aneignet und zunutze macht, um es in eine künstlerische Praxis zu über­ führen, die „die stärkste erschütterung vermittel[t]“154. Ein zentrales Forschungsprojekt Moholy-Nagys in diesem Sinne war sein ganz eigener Lichtmodulator – ein Projekt, das er über viele Jahre und mehrere Umzüge hinweg verfolg­ te.155 Seit 1922 arbeitete er an einem „Licht-Raum-Modulator“, der aus einer auf einer elek­ trisch betriebenen rotierenden Platte befestigten Skulptur mit mehreren beweglichen in unterschiedlicher Weise transparenten Elementen aus Metall und Glas bestand. Sie wurde mit weißem und farbigem Licht bestrahlt, wodurch sie auf die umliegenden Wände sich be­ wegende, einander überlappende, farbige Schatten und Spiegelungen projizierte (Abb. 44). Zu diesem auch als „Lichtrequisit“ oder auf Englisch als „light display machine“ bezeich­ neten Apparat gehörte außerdem ein kubischer Kasten mit einer kreisrunden Öffnung auf der Vorderseite, wie er auf Abb. 45 zu erkennen ist – einer Fotografie, die Moholy-Nagys Erläuterungstext in der Zeitschrift „Die Form“ illustriert.156 Der den Apparat umschlie­ ßende Kasten ermöglichte eine isolierte Betrachtung der Bewegungs- und Lichteffekte der Skulptur. Sie konnte auch frei stehend präsentiert werden, wenn dafür ein abgedunkelter Raum die konzentrierte Betrachtung der Farb- und Schattenprojektionen auf den Wänden erlaubte.157 Den Studiencharakter, den Moholy-Nagy später für die Übungen mit Lichtmo­ dulatoren am New Bauhaus postuliert, betont er auch explizit für die Verwendungswei­ se des „Licht-Raum-Modulators“, der als „ein Apparat zur Demonstration von Licht- und Bewegungserscheinungen“ zu verstehen sei: „Das Lichtrequisit könnte zu zahlreichen 154 Ebd., S. 120. 155 Sibyl Moholy-Nagy erinnert das Lichtrequisit als „problem child of my household”, weil es bei ihren zahlrei­ chen Einreisen in unterschiedliche Länder nur unter größten Mühen und mit kreativen Deklarationen durch die Zollschranken zu bekommen gewesen sei: „When it finally came to rest in Chicago it had been declared a mixing machine, a fountain, a display rack for various metal alloys and a robot, and it had caused me more trouble than a dozen children.” Moholy-Nagy, Moholy-Nagy. Experiment in Totality, S. 67. 156 Vgl. László Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Ar­ beit, 5/11/12 (1930), S. 297–299. 157 Vgl. Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, S. 297.

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44 Moholy-Nagy, Detail der „light display machine“, 1922/30, in: Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 239

­ ptischen Feststellungen ausgewertet werden, und es scheint mir richtig, diese Versuche o planmäßig weiterzuführen als Weg zur Licht- und Bewegungsgestaltung.“158 So kann der „Licht-Raum-Modulator“ als früher Beitrag zu der geforderten „laboratorische[n] durchar­ beitung“159 der Wirkungsweisen von Licht und Bewegung im Zusammenspiel gewertet werden. Am New Bauhaus in Chicago wurden die Forschungen als Teil der künstlerischen Ausbildung weitergeführt, intensiviert und im Curriculum der Schule institutionalisiert. Die dort eingerichtete fotografische Werkstatt für Licht und Farben tritt dabei vorerst an die Stelle einer eigenen „school of light and colour“160, von der Moholy-Nagy 1939 träumt. Denn die umfassende Präsenz des elektrischen Lichts in seinen verschiedenen Formen, ohne die kein städtisches Leben mehr vorstellbar sei, erfordere eine umfassende künstle­ rische Auseinandersetzung mit diesem Material. 158 Ebd., S. 298. 159 Moholy-Nagy, vom pigment zum licht [1923–1926], S. 119. 160 László Moholy-Nagy, Painting with Light. A New Medium of Expression, in: Penrose Annual, 41 (1939), S. 21–35, hier: S. 30.

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45 Moholy-Nagy, „Lichtrequisit einer elektrischen Bühne“, 1922/30, in: ­Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, S. 297

Als interessanten Beitrag zu der geforderten künstlerischen Erforschung des Lichts würdigt Moholy-Nagy in The New Vision eine Fotografie mit dem Titel „Light volu­ me ­study“ (Abb. 46) von Nathan Lerner, die mithilfe einer light box hergestellt wur­ de.161 ­Lerner gilt als Erfinder dieses Lichtinstruments, das für den Unterricht am New 161 Vgl. Moholy-Nagy, The New Vision, S. 50.

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46 Nathan Lerner, „Light volume study“, 1937, in: Moholy-Nagy, The New Vision, S. 50

­Bauhaus eine ­wichtige Rolle spielte.162 Der Fotograf gehörte zu den ersten Studieren­ den des New Bauhaus; später unterrichtete er zunächst als Assistent von György Kepes im „­Color and Light Workshop“ der School of Design, den er dann selbst leitete. Moholy-­ Nagy führt Arbeiten mit der light box als positive Umsetzungen seiner Vorstellungen an: Sie entsprechen seinen Forderungen sowohl nach einem intensiven Studium von Licht als Medium, wie er es für eine „school of light“ im Sinn hatte, als auch nach einer künstlerischen und kreativen Nutzung dieses Mediums. Dabei vertrat er emphatisch die visionäre Idee, das Licht aus seiner rein vermittelnden Rolle als „auxiliary medium to indicate material existence“ zu befreien und eine neue Periode einzuleiten, „where light will be used as a genuine means of expression because of its own qualities, own cha­ racterstics“163, wie Moholy-Nagy Lerner in der Bildunterschrift zu „Light volume study“ zitiert.

162 Moholy-Nagy, Vision in Motion; Moholy-Nagy, The New Vision; Elizabeth Siegel, „Institute of Design“, in: L. Warren (Hg.), Encyclopedia of Twentieth-Century Photography, London 2005, S. 793–799. 163 Lerner, zit. nach: Moholy-Nagy, The New Vision, S. 50.

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In der Mitte der Fotografie „Light volume study“ (Abb. 46) befindet sich ein zylinderför­ miger Gegenstand, ein schmales Rohr, das in einem schwer zu definierenden Raum zu schweben scheint. Seitlich wird das Objekt von zwei dünnen schwarzen Fäden gehalten, die nach rechts und nach unten über die Bildkante hinaus verlaufen. Das unterstützt den Eindruck des Schwebens: Die Befestigung, die nicht oben als Hängung, sondern nur seit­ lich verankert ist, erweckt den Eindruck, das Rohr könnte womöglich nach links davon­ schweben, würde es nicht von den Fäden gehalten. Das von links hereinfallende Licht ist in regelmäßigen Abständen durchbrochen, so dass sich auf dem Rohr und auf der Fläche unter und rechts neben dem Rohr Schatten in langen schwarzen Streifen bilden. Die Kurve, die die Schatten in einer Wölbung von rechts unten nach rechts oben bilden, evoziert einen rund oder oval gewölbten Raum. Das mittige Rohr verliert durch die schwarzen Auslassun­ gen etwas von seiner Erscheinung als durchgehender massiver Körper, was durch seine schwebende Position im Raum noch verstärkt wird. Es lässt sich auch als ein aus meh­ reren verbundenen Gliedern zusammengesetztes Objekt sehen, das man sich beweglich vorstellen kann. Die starken Kontraste von Licht und Schatten bestimmen die Wirkung dieser Fotografie, sowohl im Hinblick auf den Raumeindruck als auch auf die ambivalente Körperlichkeit der platzierten Objekte, die durch ihre Licht reflektierenden und absorbie­ renden Eigenschaften konturiert werden. Die arrangierte Szene lässt sich schwer deuten: Die Objekte und ihr Zusammenspiel lassen sich nicht verorten, wodurch zusammen mit dem Rohr auch die Größenverhältnisse in der Schwebe bleiben. Der Fotograf Lerner selbst hebt in einem Kommentar zu seiner Lichtkastenstudie den raumbildenden Aspekt gerade der, wie er sie nennt, „negative patterns“ hervor, die das Licht bilden kann. Gemeint sind damit Dunkelheit und Schatten, also die Abwesenheit von Licht, die für das Sehen und Erkennen ebenso essentiell ist wie das Licht selbst. Er macht es sich zum Ziel, diese sonst wenig wahrgenommene Formierung von Licht zu „negative patterns“ in den Mittelpunkt seiner Studie zu stellen: This photographic experiment reveals the fluid plasticity of light, its ability to radiate, pass, infiltrate, encircle. Also it reveals that through these actions light is able to create negative patterns, lightless volumes which may be, in time to come, as important as its universally appreciated opposite: light reflection.164 Moholy-Nagy beschreibt die light box in Vision in Motion als einen leicht herstellbaren Lichtmodulator, als Studienobjekt und Forschungsinstrument, mit dem Lichteffekte im Einzelnen betrachtet werden können. Im Unterschied zu den schon beschriebenen Übun­ gen mit Lichtmodulatoren, die als Objekte untersucht wurden, stellt die light box in ihrem Inneren einen kleinen isolierbaren Studienraum her:

164 Lerner, zit. nach ebd.

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A good instrument for this is the ‚lightbox‘ made from a carton, two sides of which are perforated so that spotlights, some of them fitted with filters can be placed at the holes. Objects can be hung on strings stretched within the box. The spotlights can then be arranged to strike the strings and objects in any manner desired. The light box is thus a particularly effective ‘laboratory’ for the study of receding and advancing values of the lit surfaces.165 In der light box findet sich die bewährte Struktur eines Kastens mit gezielten Öffnungen zur Beleuchtung und Beobachtung wieder, in dem wie bei Moholy-Nagys „Licht-Raum-Mo­ dulator“ (Abb. 44 und 45) eine besondere Lichtsituation geschaffen wird. Dabei ist es die Umgrenzung und Umschließung, die das Licht in den beabsichtigten Modulationen her­ vortreten lässt. Die von seinem Schüler entwickelte light box nimmt also Elemente von Moholy-Nagys „Licht-Raum-Modulator“ auf und wandelt diesen in einen mit einfachen Mitteln aus Pappe oder Holzplatten herstellbaren Versuchsraum, der besser zu überschauen ist – eine Art mobiles Labor oder Fotostudio, das ohne ausgefeilte elektrische Bewegungs- und Beleuch­ tungsapparatur auskommt. Während beim „Licht-Raum-Modulator“ die Lichteffekte in ih­ rer Bewegung und den daraus sich ergebenden vielschichtigen Überlagerungen im Fokus stehen, stellt die Box ein unbewegtes Arrangement dar und erleichtert auf diese Weise ein konzentriertes Detailstudium der Lichteffekte an den in der Box platzierten Objekten. Die light box ist also deutlich geprägt von ihrem Entstehungszusammenhang: Sie diente als Unterrichts- und Übungsobjekt gemäß der spezifischen Pädagogik des New Bauhaus mit Schwerpunkt auf den kreativen Suchbewegungen und eigenen Entdeckungen der Studie­ renden. Gleichzeitig knüpft sie an die noch in Europa entstandene Skulptur Moholy-Nagys an und lässt sich als Fortführung seines mit langem Atem verfolgten Projektes unter den neuen Vorzeichen der Chicagoer Schule begreifen. Auf die komplexe, minutiös choreo­ grafierte elektrisch betriebene Bewegung, die den „Licht-Raum-Modulator“ auszeichnete, wird in der light box verzichtet. Bei diesem Produkt und Gegenstand des experimentellen Unterrichts geht es um einfache Handhabung des Materials und didaktische Reduktion durch das statische Arrangement. Während der „Licht-Raum-Modulator“ die mechanisch ablaufenden Bewegungen und Lichteffekte in Szene setzt und dabei deren Ästhetik in den Mittelpunkt stellt, besteht der Charakter der light box in der Reduktion komplexer Lichtverhältnisse und es gelingt ihr auf diese Weise, die Materialität des Lichtes, „its own qualities, own characteristics“166 auszustellen. Das Diagramm (Abb. 47) zeigt den beschriebenen Aufbau der Box, wobei die Buch­ staben A, B und C für mögliche Objekte stehen, die an den quer in der Box gespannten Schnüren befestigt werden können. Die Beleuchtung wird durch die zu beiden Seiten auf­ 165 Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 198. 166 Lerner, zit. nach Moholy-Nagy, The New Vision, S. 50.

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47 Nathan Lerner, Diagramm einer „light box“, 1938, in: Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 200

gestellten Scheinwerfer gewährleistet, deren Licht durch die Löcher in den beiden Seiten­ wänden der Box kontrolliert und punktuell eingelassen wird. Die Gegenstände, die in der Schachtel platziert werden können, gleichen „Miniaturkulissen in einem geschlossenen Bühnenraum“167 und können, wie Requisiten auf einer Bühne, punktuell beleuchtet und auf diese Weise exponiert werden. Die light box wird in Moholy-Nagys beschreibendem Text als Instrument für physikalisch-ästhetische Untersuchungen des Lichts und dessen optischer Effekte bei der Reflektion durch die verschiedenen Oberflächen der Objekte beschrieben. Der Status des Kastens ist bei den fotografischen Arbeiten ambivalent: Bei Fotografien, die das Innere der beleuchteten Schachtel zeigen, lässt sich nicht trennscharf unterscheiden, ob die light box Bildmotiv oder Instrument zur Bildherstellung ist. Es über­ lagern sich mehrere einander bedingende Funktionen, zwischen denen die Wirkung der Box je nach Betrachtungsfokus changiert. Sie wird Forschungsobjekt, anhand dessen na­ türliche Prozesse untersucht werden, sie fungiert aber auch als das Instrument, mit dem diese Prozesse hervorgerufen werden, und tritt gleichzeitig als Bildmotiv der auf diese Weise erzeugten Fotografien in Erscheinung. Zur Entwicklung seiner light box äußert sich Lerner selbst in einem kurzen State­ment.168 Er betont, dass Licht mehr ist als eine notwendige Voraussetzung der menschlichen visu­ ellen Wahrnehmung. Es wirke mit enormer psychologischer Kraft auf unser Unterbewuss­ tes ein, da es mit der menschlichen Raumerfahrung untrennbar verbunden sei, ja nahezu mit ihr in eins falle. Wolle man mit Licht arbeiten und es als kreatives Medium nutzen, so müsse man einen Weg finden, die zufälligen Lichtqualitäten von den erwünschten zu trennen. Denn die aktive Beherrschung und Formung erst mache den Umgang mit diesem ubiquitären Element kreativ. Da Licht die Bedingung für die optische Wahrnehmung durch 167 Jeannine Fiedler, „Bemerkungen zu den Bildtafeln“, in: Jeannine Fiedler und Hattula Moholy-Nagy (Hg.), László Moholy-Nagy. Color in transparency: photographic experiments in color 1934–1946 – Fotografische Experimente in Farbe 1934–1946, Göttingen, Berlin 2006, S. 46–192, hier: S. 74. 168 Moholy-Nagy zitiert Lerner zu seinem Konzept der light box auf einer vollen Seite mit einem Statement, die folgenden Zitate sind dieser Passage entnommen: Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 200.

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das Auge überhaupt sei, trete es selbst in den Hintergrund, werde gleichsam unsichtbar. Es brauche erst das besondere Setting, damit das Licht als Licht – und nicht als Beleuchtung von etwas – zu sich kommen und in Erscheinung treten könne. „[M]ake it reveal itself“, so formuliert Lerner die Absicht, die ihn zur Herstellung seiner light box führte. Erst die von Lerner angestrebte aktive Beeinflussung und Gestaltung lässt das Licht zu einem potenti­ ellen Medium für künstlerische Gestaltung werden, während es vorher einfach da ist. Dies habe ihn auf die Idee der light box gebracht: „I felt that if I could create a virtual world of darkness, which I could then develop into a disciplined world of light, I would be approa­ ching the solution of the problem of controlled selection.“ Ergänzend beschreibt er weitere mögliche Forschungssettings für den Einsatz der light box. So könne man beispielsweise vor den Löchern in den Seiten der Schachtel, durch die das Licht in die Dunkelheit im Inneren eintritt, ein Drahtsieb befestigen und dadurch Projektionen auf den im Inneren der Box befindlichen Objekten erzeugen. Eine andere Variante wäre es, die vordere, eigentlich offene Seite mit Glas zu verschließen, so dass es möglich sei, die Box mit Rauch oder Gas zu befüllen. „This would enable one to study and photograph light in a purer form, as a beam, solid and beautiful, apart from its bondage to objects.“ Dies sei aber nicht nur in Hinblick auf den damit ermöglichten Umgang mit Licht als kontrolliert einsatzbarem Medium und die auf diese Weise produzierten Bilder relevant. Da Licht alles Visuelle betreffe, sei die Box potentiell auch für alle im Feld des Visuellen arbeitenden Künstler*innen von Belang. Denn Licht bedeute in fundamentaler Weise den Zugang der sehenden Menschen zur Welt: For light is one element; material object another, and the relationship of one to the other makes up our visual world. In the light box they become easily understood elements of visual communication. The light box, therefore, has significance for any artist. Working with it can give him a deeper insight into the visual-psychological elements that play an important role in making any picture exciting and meaningful. Das Wissen um die Wirkung von Licht verhilft zur Produktion bedeutsamer und verhei­ ßungsvoller Bilder. Zwei weitere Fotografien von Lerner aus den Jahren 1938 und 1939 präsentieren Studien der Raumeindrücke, die sich durch die Lichtverhältnisse innerhalb der light box herstellen (Abb. 48 und 49). Auf beiden Bildern durchkreuzen Fäden, die im Licht hell leuchten, den Raum unregelmäßig in allen Richtungen. Während „Paper on String“ zeigt, wie sich zwei weiße Papierstreifen locker über die Fäden legen und um diese herumschlingen (Abb. 48), verweist die Fotomontage „Eye and Strings“ (Abb. 49) auf das eigentliche Objekt dieser Studien: das Auge. Vor dem Hintergrund der ausführlich untersuchten Intention der Ausstellung „War Art“ stellt sich an dieser Stelle die Frage, inwiefern auch die hier dargelegten Überlegungen zur Erforschung des Lichts im Hinblick auf eine Anwendbarkeit in militärischen Zusammen­

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48 Nathan Lerner, Paper on String, 1938

hängen weitergedacht werden können. Die light box macht die Raum- und Volumeneffekte, die durch Licht produziert werden, zum Gegenstand. Darin lässt sich eine Parallele zur Camouflage feststellen, die auf einer gründlichen Analyse der visuellen Raumeindrücke basiert. Dies darf auch als Grund dafür angenommen werden, dass zwei der light boxes im Rahmen von „War Art“ dem Anspruch der Ausstellung gemäß, als „demonstration of new developments in art in their application to war activities“169 präsentiert wurden. Die School of Design verstand ihren künstlerischen Beitrag auf diesem Feld – mit der deutli­ chen Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden – als Grundla­ genforschung. Der kriegerische Nutzen der schwarzen Schachtel erschließt sich nicht un­ mittelbar, weshalb die skeptische Bewertung von Seiten des Militärs, die auch im Boykott der Ausstellungseröffnung ihren Ausdruck findet, kaum verwundern kann. Erst über den Umweg einer Betrachtung der Prämissen des New Bauhaus wird das Objekt und werden die mit ihm verbundenen Überlegungen in ihrer Relevanz verständlich.

169 The Renaissance Society, Announcement Exhibition War Art.

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49 Nathan Lerner, Eye and Strings, 1939

Aus der Sicht von Moholy-Nagy, Kepes und Lerner spielte die light box dabei eine so zentrale Rolle, dass sie auch in einem gemeinsam mit John Scott verfassten Artikel für Camoufleur*innen auf die Lichteffekte verweisen, die in dem beleuchtbaren Kasten deut­ lich werden.170 In einem Schaubild, das den Artikel begleitet, wird mittels einer light box die Schattenwirkung von zwei Lichtquellen an den gegenüberliegenden Seiten der Box vorgeführt (Abb. 50). Die obere Darstellung zeigt eine light box, in der sich unterschiedliche geometrische Objekte befinden und in die das Licht nur durch das Loch auf der linken Seite einfällt. Durch die so erzeugten Schattierungen sind die Objekte klar konturiert. In der unteren Darstellung werden dieselben Objekte zusätzlich durch die Öffnung der Box auf der rechten Seite beleuchtet. Da den Objekten nun die Schattenseiten fehlen, die in der oberen Darstellung für ihre klare Erkennbarkeit sorgen, sind sie weniger sichtbar. Die Bild­ unterschrift erklärt dazu: „[A]nother opposing source of light completely counteracts the first, making the objects invisible by blending them into their immediate surroundings.“171 170 Scott, Moholy-Nagy, Kepes, Materials for the Camoufleur. 171 Ebd., S. 15.

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50 John Scott, Moholy-Nagy, Kepes, „Materials for the Camoufleur“, in: Civilian Camouflage, September 1942, S. 13–16, hier: 15

Der Artikel selbst räumt dabei ein, dass eine mehrfache Beleuchtung von Objekten z. B. durch das Anbringen von Spiegeln teuer und nicht praktikabel sei: „As illustrated […], light reflection is an important factor in camouflaging. Mirrors, of course, are ideal for the purpose, but far too expensive.”172 Die Box führt hier also nicht zur Planung praktikabler strategischer Maßnahmen, hat aber den Zweck, Grundlagen der visuellen Wahrnehmung und der Formung durch Licht und Schatten zu demonstrieren. Die Grundlagenforschung an den Effekten von Licht und Schatten, die Moholy-­Nagy bereits in den 1920er Jahren173 so vehement einforderte und an seiner Schule praktizierte, ließ sich wie gezeigt auf die Erfordernisse von Camouflage umkonzipieren. Denn Camou­ flage ist als visuell-optische Strategie ganz prinzipiell mit Licht, seinen Schatten und Reflektionen, seinen Effekten auf Linsen, menschliche Augen und lichtsensibles Papier untrennbar verbunden. War es das ursprüngliche Anliegen der Übungen mit den verschie­ denen Lichtmodulatoren gewesen, die wahre Form der studierten Objekte – „the true sha­ 172 Ebd., S. 14. 173 Moholy-Nagy, vom pigment zum licht [1923–1926].

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pe and nature of his object“174 – sehen zu lernen und in Fotografien herauszuarbeiten, wurden die light boxes im Rahmen der „War Art“ Ausstellung mit großer Selbstverständ­ lichkeit als Instrumente für einen konträren Umgang mit Licht und Schatten präsentiert – nämlich: „to conceal the character of forms”175, wie es im Ausstellungskatalog heißt. Gemeinsam mit Kepes veröffentlichte Lerner den Eintrag „Light as a creative medium” in der 1946 in New York erschienenen Encyclopedia of the Arts.176 Die im Zusammenhang mit der light box dargelegten theoretischen Überlegungen finden hier in ähnlicher Weise Eingang. Auch in dem Enzyklopädie-Artikel wird die durch das Licht vermittelte visuelle Raumerfahrung zum Ausgangspunkt der Überlegungen, die in den Appell münden, Licht verstärkt und bewusster als Ausdrucksmedium zu nutzen und zum Material künstleri­ scher Arbeiten zu machen.177 Der Text betont die große Bedeutung der visuellen Wahr­ nehmung durch das menschliche Auge für die Orientierung im Raum und für das Erleben von Raum in einem für die Menschen als Gattung ganz grundsätzlichen Sinne. Dem Licht kommt im Überlebenskampf der Menschheit eine elementare Rolle zu: Everything in the outside world presents a possible threat to man’s existence. With­ out complete knowledge of the position and arrangement of the object world in relationship to himself, man could not hope to survive. He must be able to measure distances and determine the size of objects and the speed of their movements. This necessity develops in him an acute consciousness of space. […] Without light or capacity for perceiving and measuring, space would be almost negligible.178 Wenn in einem 1946 erschienen Text die visuelle Wahrnehmung als Überlebenskampf be­ schrieben wird, liegt der Bezug zum gerade erst beendeten Krieg nahe. Auch das Vorwort der Enzyklopädie bezieht sich auf den Krieg, indem es die durch den Krieg in die Länge gezogene Entstehungszeit des Projekts betont.179 Die Betonung der überlebenswichtigen Funktion der Orientierung im Raum, des Wissens um die Position, Größe, Geschwindigkeit des anderen weckt Assoziationen an militärische Operationen. Dieser Zugang zum Sehen sollte in einer Encyclodedia of the Arts überraschen. Angesichts von Kepes’ und Lerners Beschäftigung mit der Camouflage aus ihrer Perspektive als Künstler verwundert dieser Schwerpunkt ihres Textes allerdings nicht. Er zeigt vielmehr, wie stark die Auseinander­ setzung mit den militärischen Wahrnehmungsstrategien das künstlerische Arbeiten und Denken an der School of Design geprägt hat. Der Lexikonartikel beschäftigt sich außerdem 174 Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 198. 175 The Renaissance Society, War Art Exhibition Catalogue. 176 Vgl. György Kepes und Nathan Lerner, „Creative Use of Light“, in: Dagobert D. Runes und Harry G. Schrickel (Hg.), Encyclopedia of the Arts, New York 1946, S. 558–562. 177 Vgl. ebd., S. 558. 178 Ebd. 179 Vgl. Harry G. Schrickel und Dagobert D. Runes, „Preface“, in: Dagobert D. Runes und Harry G. Schrickel (Hg.), Encyclopedia of the Arts, New York 1946, ohne Seitenangabe, vor Seite 1.

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mit der Möglichkeit, etwas nicht wahrzunehmen. In dem Text geht es zwar erklärtermaßen um Kunst, um „the use of light in the visual arts“180. Doch die Möglichkeit zu Tarnung und Täuschung in einem auf andere Lebensbereiche übertragenen allgemeinen Sinne, die aus den dargelegten Voraussetzungen der Wahrnehmung gefolgert werden kann, klingt zumin­ dest an, wenn Lerner und Kepes schreiben: Without light or capacity for perceiving and measuring, space would be almost negligible. In this sense, space, and the light by which we know it, become one. And as the principal vehicle for space experience, light acquires the power to produce the same emotional response as space.181 Licht ist das Vehikel, mit dem der Mensch, vermittelt durch das Auge, sich eine Vorstel­ lung von dem ihn umgebenden Raum machen kann. Es ist die Reflektion der Wirklich­ keit, die aufs Auge trifft und dort für den Menschen bedeutungsvoll wird. Die hier zitierte Formulierung deutet aber auch an, dass in dieser Privilegierung des Lichts als sinnlichen Zugangs zum Raum auch Täuschungsmöglichkeiten verborgen liegen: „[L]ight acquires the power to produce the same emotional response as space“. Diese „power“ ist die Kraft der Illusion. Durch Manipulation des Lichts lassen sich Eindrücke herstellen, die denen zum Verwechseln ähnlich sind, die wir als Lichtreflektionen von Objekten gewohnt sind. In dieser sehr grundsätzlichen Betrachtungsweise der Funktion von Licht nicht nur für die visuelle Wahrnehmung, sondern im Grunde für die Evolution des Menschen und seine Existenz überhaupt, kann alles zum Lichtmodulator werden. In a sense, the world can be conceived as being composed of innumerable light modulating surfaces or substances. Man, desiring to express himself and communicate his experiences to his fellow man, recognized and progressively controlled the light articulating properties of the materials in his reach.182 Die von Kepes und Lerner geäußerte Auffassung von Licht als Ausdrucksmedium greift zwanzig Jahre später prominent der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan wie­ der auf. Elektrisches Licht gilt ihm als Paradebeispiel, auf das er in seiner Medientheorie immer wieder zurückkommt, um grundsätzliche Eigenschaften von Medien herauszuar­ beiten und zu veranschaulichen.183 Denn das Licht werde meist selbst nicht wahrgenom­ men, weil man an ihm keine eigenen Inhalte ausmachen könne und es unabhängig von den erhellten Objekten in der Lage sei, alles Mögliche zu beleuchten.184 „This fact under­ 180 Kepes, Lerner, Creative Use of Light, S. 558. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 559. 183 Marshall McLuhan, Understanding media. The extensions of man, London 2001, S. 8. 184 Vgl. McLuhan, Understanding media, S. 9.

Ausstellung „War Art“ 1942, Renaissance Society, Chicago

lines the point that ‚the medium is the message‘ because it is the medium that shapes and controls the scale and form of human association and action.“185 McLuhan betont die Kraft des Lichts, Raum zu schaffen und bringt dies auf die Formel: „The electric light: space without walls“186. Nicht zufällig bezieht sich McLuhan in seinem Buch Understanding Media auf Kepes’ künstlerischen Umgang mit Licht. Dabei hebt er die Arbeiten hervor, die sich mit der Luft­ perspektive auf die nächtlichen Lichteffekte der Stadt auseinandersetzen. Darin zeige sich, wie das vermeintliche Chaos städtischer Lichter von oben gesehen Muster offenbare, die wie eine filigrane Stickerei auf einem dunklen Samtgrund aussähen.187 Er findet für Kepes’ „new art form“ die Formulierung „‘landscape by light through’ rather than ‘light on’ “. Gemeint ist damit, dass die nächtlichen Bilder der Stadt die städtische Landschaft nicht beleuchten, sondern dass das Licht selbst das Bild der Stadt formt. Das Licht muss nicht angemacht werden, damit die Stadt in der Nacht sichtbar ist, sondern die nächtliche Stadt schafft durch die Effekte ihrer Beleuchtungen ihr eigenes Bild. So wird das Licht selbst zum eigenständigen, selbstreferentiellen Medium, das – in Anlehnung an McLuhans be­ rühmtes Diktum – seine eigene Botschaft ist. Light is information without ‚content‘, much as the missile is a vehicle without the additions of wheel or highway. As the missile is a self-contained transportation system that consumes not only its fuel but its engine, so light is a self-contained communication system in which the medium is the message.188 Der Vergleich mit dem tödlichen Geschoss irritiert an dieser Stelle, hat das Licht doch eher diffuse Qualität und ist, wie McLuhan selbst an anderer Stelle schreibt, „pervasive“ und „decentralized“189. Aber der martialische Vergleich mit dem militärischen Gerät ist wohl nicht zuletzt den Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen geschuldet, in denen, vermittelt durch die Fotografie, Licht zum bedeutsamen Teil des Kriegsapparats wurde. Somit lässt sich sagen, dass das Wahrnehmen und Erproben von Licht als Ausdrucksmedium durch Künstler wie Kepes und Lerner die – oder jedenfalls eine – Grundlage für einen neuen Blick auf moderne Medien und damit moderne Lebensbedingungen überhaupt schuf.190 185 Ebd. 186 Ebd., S. 309. 187 Vgl. ebd., S. 140. 188 Ebd., S. 139. 189 Ebd., S. 9. 190 Eine konstatierte verwandtschaftliche Beziehung zwischen Moholy-Nagys Auffassung von Medien und Wahrnehmung in Vision in Motion und McLuhans Medientheorie ist Ausgangspunkt einer Collage, die die Grundgedanken beider gegenüberstellt: vgl. Jeannine Fiedler und Ben Buschfeld, „Von der Virtualität der Wahrnehmung im 20. Jahrhundert: Ein Gespräch zwischen László Moholy-Nagy und Marshall McLuhan“, in: Gottfried Jäger und Gudrun Wessing (Hg.), Über Moholy-Nagy. Ergebnisse aus dem Internationalen László Moholy-Nagy Symposium, Bielefeld 1995, zum 100. Geburtstag des Künstlers und Bauhauslehrers, Bielefeld 1997, S. 181–188.

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Stadtlichter: Chicago tarnen Im Januar 1942 erscheint in der Chicagoer Boulevardzeitung Herald American ein Artikel, der unter der großformatig über die Doppelseite gedruckten Schlagzeile „How Chicago May Hide from Bombers“ von Plänen und Experimenten zur Tarnung der Stadt berichtet. Diese Versuche würden an der School of Design durchgeführt (Abb. 51).191 Im Mittelpunkt des Berichts steht der Camouflageunterricht von Kepes, in dem Ideen zur Tarnung der Stadt entwickelt und an Modellen erprobt würden. „Learning how to conceal Chicago’s roofs from possible attack by enemy bombers, a hundred art students are perfecting the art of camouflage by experimenting daily with light, shadows and color mixing.“192 In den Plänen zur Tarnung Chicagos für den Fall eines Luftangriffs auf die Stadt, die mit einigem, auch überregionalem, Medienecho an der School of Design entwickelt wurden, finden Moholy-Nagys und Kepes’ ästhetische Überlegungen zu den flirrenden Lichtver­ hältnissen in modernen Städten ein konkretes Anwendungsfeld. Die Kriegssituation sorgt dabei für die politisch-gesellschaftliche Bereitschaft zu den großangelegten städtebauli­ chen Veränderungen, die die beiden Künstler schon länger aus anderen Gründen für not­ wendig halten. Die ästhetischen Visionen für den Umgang mit den Lichtern der Stadt, die bei den Tarnungsplänen für Chicago virulent werden, lassen sich – dies wird im Folgenden zu zeigen sein – bis in die Zeit des Bauhauses zurückverfolgen. Der Zeitungsartikel über die Tarnungspläne beruft sich auf Kepes, wenn er erklärt, es sei möglich, die Luftansicht zentraler Orte Chicagos so zu verändern, dass diese nicht erkannt werden könnten. Als besonders bedeutsam sei nach Kepes’ Ansicht das Studium von Licht. Um das zu veranschaulichen, stellt der Artikel ein Objekt vor, mit dem sich Licht- und Schatteneffekte zum Zweck der Analyse simulieren lassen. Dieser Gegenstand wird folgendermaßen beschrieben: Kepes produced a device constructed for the examination of the characteristics of light and shadows and the effect of light on textures. He explained that the mobility of the device provides great flexibility, and that by manipulating the forms on the device which appear as airplanes, it will be possible to change the aspect to the flying observer.193 Ein Foto oberhalb des Textes zeigt, wie Nathan Lerner mithilfe des beschriebenen Instru­ ments Schattenwirkungen auf einer Tischfläche erzeugt (Abb. 52). Auf dem Tisch, über den er sich beugt, befindet sich ein Objekt, bestehend aus mehreren flachen Holzscheiben, in die unregelmäßig geformte Löcher hineingesägt wurden. Entsprechend durchbrochen und

191 Zolotareff, How Chicago May Hide From Bombers! 192 Ebd., S. 13. 193 Ebd.

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51 Zolotareff, „How Chicago May Hide From Bombers!“, in Herald American, 12 January 1942, afternoon edition

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52 „Wooden Planes!“, Detailansicht des Zeitungsartikels von Zolotareff, „How Chicago May Hide From Bombers!“

unregelmäßig zeichnen sich auch die Schatten dieser Konstruktion auf der Tischplatte ab. Die Bildunterschrift erläutert, dass es sich bei der Holzkonstruktion um eine Flugzeugat­ trappe handele. Hoffnungsvoll wird die Aussicht beschworen, nun jedem beliebigen Feld den Anschein eines belebten Flughafens geben zu können: Camouflage Instructor N. B. Lerner (left) demonstrates how scale model ‚dummy‘ planes are made to fool enemy bombers. By skillful use of lights and shadows any field may be converted into a bustling ‚airport‘. But all bombs dropped will be wasted on mere kindling wood.194 Tatsächlich aber erinnern die durchbrochenen Holzplatten, die auf dem Foto zu sehen sind, kaum an Flugzeuge, schon gar nicht an maßstabsgetreue Nachbildungen – ebenso wenig die bizarren Schattenformationen, die sie durch die starke Beleuchtung werfen. Dafür äh­ nelt das Modell auffallend einer Arbeit von Lerner, die auf einem Foto in Moholy Nagy’s Buch Vision in Motion zu sehen ist (Abb. 53). Die Skulptur aus Sperrholzplatten, bei Moholy-Nagy als „model of a colored light fres­ coe“ betitelt, wird darin auf das Jahr 1941 datiert. Moholy-Nagy stellt das Holzmodell nicht 194 Ebd.

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53 Nathan Lerner, „Modell of a colored light frescoe“, 1941, in: Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 163

in einen Zusammenhang mit Camouflage. Auch das Entstehungsjahr 1941 deutet darauf hin, dass die Tarnung Chicagos nicht der ursprüngliche Hintergrund der Herstellung des Modells ist – die Camouflagekurse an der School of Design begannen erst im Januar 1942. Vielmehr beschreibt Moholy-Nagy es als eine bewegliche Skulptur, die – mit farbigen Scheinwerfern beleuchtet – ein faszinierendes Licht- und Farbenspiel erzeuge. Sowohl die ganze Scheibe als auch die drei darauf befindlichen Konstruktionen seien jeweils in der Lage, um ihre eigene Achse zu rotieren.195 Auch im Film Design Workshops, in dem das Objekt in Bewegung präsentiert wird, erscheint es nicht in der zuvor schon vorgestellten Passage mit den Camouflageobjekten (Tafeln X–XV, S. 290), sondern gemeinsam mit ande­ ren beweglichen Skulpturen aus der Klasse „kinetic sculptures“, die Lerner unterrichtete. Dies geht aus dem Kommentar von Moholy-Nagys Tochter Hattula (geboren 1933) hervor, die als Voice-Over in der 2008 als DVD erschienen Neuauflage des Stummfilms von 1944 zu hören ist.196 Es verwundert, dass der Verfasser des Zeitungsartikels dieser einfachen Konstruktion aus umeinander rotierenden Sperrholzplatten, die zur Erzeugung besonderer, bewegter Licht- und Schatteneffekte entwickelt wurde, ein derartig starkes illusionistisches Wir­ 195 Vgl. Moholy-Nagy, Vision in Motion, S. 163. 196 Vgl. den Voice-Over Kommentar ab ca. Minute 22 in: Moholy-Nagy, Design Workshops.

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kungspotential zutraut, dass sich ein gegnerischer Bomberpilot in seinem Cockpit davon täuschen ließe. Sicherlich ist ein Teil dieser maßlosen Überschätzung dem plakativen Nachrichtenstil der Boulevardzeitung geschuldet, der sich auch in der reißerischen Bild­ unterschrift unter dem breitformatigen Foto dokumentiert, das unmittelbar unter der Ar­ tikelüberschrift mit den dunklen Silhouetten von drei Flugzeugen vor einem bedrohlich düsteren Himmel den potentiellen Angriff visualisiert: If they ever fly over Chicago, pilots of German-built Jap bombers like these may find themselves ‚lost in the woods!’ For, if camouflaging experts now feverishly at work have their way, no invading air armada will be able to detect our loop’s great skyscrapers.197 Als „loop“ wird in Chicago das Geschäftsviertel bezeichnet, in dem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die einst ersten und höchsten Hochhäuser der Welt errichtet wurden – markante Wahrzeichen, auf die die Stadt mit Stolz blickt. Trotz der genrebedingten Über­ treibungen lässt sich festhalten, dass es offenbar eine fortschrittsoptimistische, aber realitätsferne Bereitschaft gab, an die wundersamen Wirkungen genialer Camouflage­ maßnahmen zu glauben. Darauf deuten auch diverse Warnungen, die auszusprechen militärische Camouflageexperten offensichtlich für notwendig hielten, wenn sie auf ein durch die Camouflage verursachtes falsches Gefühl von Sicherheit oder auf die negati­ ven Auswirkungen nicht sachgemäß ausgeführter Camouflage hinwiesen.198 Lerner und Kepes jedenfalls konnten den Reporter erkennbar überzeugen; er referiert Kepes’ Ansich­ ten zum Studium von Licht in seinem Artikel ausführlich. Es gelingt den beiden Künstlern auf erstaunliche Art und Weise, eine Verbindung zwischen ihrer künstlerischen Arbeit, für die das Erproben von Lichtwirkungen zentral ist, und dem Studium der Lichteffekte ihrer Stadt aus der Perspektive angreifender Flugzeuge, herzustellen. Der Artikel zitiert Kepes außerdem mit einer konkreten Idee zur Tarnung der Stadt, die über die abstrakten Schattenstudien mit der beweglichen Skulptur hinausgeht: We are concentrating on the art of camouflaging roads. They are of great impor­ tance because they are usually the best landmarks. Our idea is to build in many spots of the road’s light framework with strips of material which will cast irregular shadows, thus breaking up the visual symmetry the road usually presents. The framework will not interfere with transportation.199

197 Zolotareff, How Chicago May Hide From Bombers! 198 Vgl. Canan, Vortragsmanuskript „The G-2 Interest in Camouflage Activities“, presentation for assault course, the Engineer School, Fort Belvoir und U. S. Office of Civilian Defense, Protective Concealment, S. iv. 199 Kepes in: Zolotareff, How Chicago May Hide From Bombers!, S. 13.

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Kepes identifiziert die Straßen und deren Beleuchtungssystem als zentrale Charakteris­ tika für das Aussehen der Stadt von oben, die dem Gegner auf fatale Weise Orientierung bieten könnten. Daher schlägt er vor, die Lichtformation der in schachbrettartiger Regel­ mäßigkeit angeordneten Chicagoer Straßen durch um die Beleuchtung herum gebaute Konstruktionen zu verändern. Schon lange vorher markierte Moholy-Nagy in seiner 1929 erschienen Studie von material zu architektur – damals ohne Bezug zur Tarnung, sondern unter den Vorzeichen architektonischer Stadtgestaltung – Straßenzüge und Hausdächer als Erkennungsmerk­ male der städtischen Landschaft. In erstaunlicher Übereinstimmung mit Kepes’ Analyse der Straßen Chicagos als „the best landmarks“ für ein angreifendes Flugzeug kommentiert Moholy-Nagy ohne jeglichen Bezug auf Kriegsszenarien die Fotografie einer New Yorker Straßenkreuzung mit folgenden Worten: „für den flugzeugführer ist heute die vogelper­ spektive der landschaft eine orientierungsmöglichkeit. in der nächsten zukunft werden die sichten von oben in darstellung und natur einem jeden geläufig sein müssen.“200 Die Dächer hätten mit der zunehmenden Präsenz der Flugzeugperspektive eine ähnliche Funk­ tion wie bisher die Hausfassaden, die entsprechend optisch zu gestalten seien, beispiels­ weise mit Dachgärten.201 Sogar die Idee des Dachgartens findet sich unter anderen Vorzeichen in den im Zei­ tungsartikel dargelegten Überlegungen zur Tarnung wieder. Mit mehreren Bildern wird darin vorgeführt, wie Chicagos Großhandelsgebäude, der Merchandise Mart – „the wor­ ld’s largest building“202 – durch einen auf das Dach aufgemalten Garten vor Angriffen geschützt würde (rechte Zeichnungen, Abb. 51): „Just a few daubs of paint – that’s all it takes to create this phenomenal illusion.“203 Ein Bild zeigt die imaginierte Perspektive ei­ nes Piloten aus der Höhe von 20.000 Fuß zusammen mit dem begeisterten Kommentar: „just a forest! Streets and bridges can be camouflaged to resemble rivers.“ Für Moholy-Na­ gy gehört die Gestaltung der Städte unter Berücksichtigung der für den Menschen noch neuen und ungewohnten Vogelperspektive zum architekturästhetischen Programm, um „alle gestrige architekturvorstellung“ so zu verändern, dass sie dem „vollere[n] raumerleb­ nis“ der Flugzeugperspektive gerecht wird.204 Im Zweiten Weltkrieg wird zusammen mit dem von Moholy-Nagy noch als Fortschritt begrüßten, nun bedrohlich erlebten Blick vom Flugzeug auf die Städte auch die militärisch-strategische Gestaltung des Stadtraums an­ gesichts dieser Perspektive bedeutsam. Für Kepes ist die visuelle Betrachtungsweise nächtlichen städtischen Lebens, die im Zeitungsartikel aufgenommen wird, mehr als eine für die akute Kriegssituation ent­ wickelte Idee. Die großstädtische Beleuchtungssituation nimmt auch in seiner Theorie 200 László Moholy-Nagy, von material zu architektur, München 1929, S. 223. 201 Vgl. ebd., S. 224. 202 Zolotareff, How Chicago May Hide From Bombers! 203 Ebd. 204 Moholy-Nagy, von material zu architektur, S. 222.

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der visuellen Kommunikation einen wichtigen Platz ein. Es finden sich in Language of Vision Überlegungen wieder, die mit dem lichtbasierten Tarnungsvorschlag der oben beschriebenen Veränderung der Straßenbeleuchtung in Verbindung stehen. In seinem Buch wählt Kepes die Lichteffekte der Stadt zum Ausgangspunkt, um künstlerisches Schaffen generell zu überdenken. In der alltäglichen Erfahrung dynamischer und far­ benreicher Lichtspiele der Ampeln, Straßenbeleuchtungen, Fahrzeuge und Leuchtre­ klamen sieht Kepes eine Aufforderung, gar einen Zwang, das künstlerische Potential des elektrischen Lichts zu erproben und dieses Medium für die Kunst nicht länger un­ genutzt zu lassen. Zudem sei eine Erforschung der visuellen Auswirkungen des künstli­ chen Lichts in den Städten notwendig. Kepes beschreibt die Lichteffekte der Großstadt folgendermaßen: Contemporary man lives in a city environment which offers through each artificial light source an optical scene at night incomparable to any previous visual experience. Buildings that were modelled under the sun into a clear sculptural form, under the simultaneously acting artificial light-sources lose their three-dimensional quality. Contours are obscured. The light spots, coming from inside and outside simultaneously, and the fusion of luminosity and chiaroscuro, break up the solid form as the measuring unit of space. The fluctuating, vibrating light-patterns cannot be fitted together into an optically modelled form. Brightness differences, the sharp or the blurred definitions, the texture of light span the space by their intrinsic advancing – or receding – values. Here also was a strong environmental influence forcing the painter to reconsider and discard his old habit of modelling by shading.205 An dieser Beschreibung fällt auf, dass die hier aufgezählten neuen optischen Effekte einer Stadt, die mit elektrischem Licht aus unterschiedlichsten und nicht miteinander koordi­ nierten Quellen beleuchtet ist, stark an einige der Tarnungskonzepte erinnern, die Kepes in seinem Camouflagekurs lehrt: Simultane Beleuchtung aus verschiedenen Richtungen löse den Eindruck der Dreidimensionalität auf, Beleuchtung der Gebäude von innen und außen weiche den Eindruck der Festigkeit auf, die Beweglichkeit der Lichtquellen erzeuge fließende, vibrierende Lichtmuster, die sich nicht fixieren ließen. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung als Camoufleur wird für Kepes die Stadt schon im nächtlichen Normalzu­ stand zu einer wahrnehmungstechnischen Herausforderung. Die alltägliche Wahrneh­ mung großstädtischen Lebens ist seiner Beschreibung zufolge konfrontiert mit zahlrei­ chen optischen Verwirrungen, Doppeldeutigkeiten und einer sich ständig verändernden Dynamik. Auf diese neuen Wahrnehmungsweisen müsse die bildende Kunst reagieren und ebenfalls mit multiplen Lichtquellen arbeiten – und nicht mit der altbekannten Mal­ 205 Kepes, Language of Vision, S. 154.

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methode einfacher Helldunkelschattierungen. Denn die Aufgabe künstlerischen Schaffens sei „to retrain us to a better understanding of the shaping of our physical environment“206. Die Zielsetzung der Camouflage ist dem diametral entgegengesetzt: Anstelle eines besse­ ren Verständnisses neuer visueller Komplexitäten, die für das Leben in der Großstadt spe­ zifisch sind, wird die visuelle Verwirrung angestrebt, und zwar durch Nutzung der Kom­ plexität des Stadtbilds. Dies kann nur auf der Grundlage eines vertieften Verständnisses dafür, wie die moderne Stadt visuell strukturiert ist, umgesetzt werden. Während in der zitierten Beschreibung der nächtlichen Lichteffekte der Stadt die ir­ ritierende Dimension der Lichterfülle dominiert, offenbart sich Kepes in einem späteren Text ohne Vorbehalte als großer Bewunderer der Schönheit der Lichtspiele, die modernes städtisches Leben Nacht für Nacht erzeugten. Obwohl die Lichteffekte eher zufällig, „by accident“, als „by-product“ aus anderen Zweckmäßigkeiten entstünden, erinnerten sie in ihrer Großartigkeit gar an die Pracht der bunten Glasfenster von Kathedralen des 13. Jahr­ hunderts: Points, lines, plane figures, and volumes of lights – steady and winking, moving and still, white and colored – from windows, signs, spectaculars, headlights, traffic lights and street lights compose a fluid, luminous wonder, one of the grand sights of our age.207 Das Wandbild aus farbigen elektrischen Lichtern, das Kepes später, im Jahr 1959, für die New Yorker Niederlassung der Fluggesellschaft KLM gestaltete, zeugt davon, dass seine Faszination für die Lichtmuster einer Großstadt, die sich dem Blick aus der Luft darbieten (Tafel XVIII , S. 292), anhält und Quelle der Inspiration für seine Lichtkunst ist. Wie groß der Stellenwert der Stadt als Raum, der sich durch besondere Lichteffekte auszeichnet, für die künstlerische Auseinandersetzung an der School of Design war, sollen hier beispielhaft zwei weitere Arbeiten verdeutlichen. Tafel XIX (S. 293) zeigt eine Aufnah­ me aus einer Serie von Farbfotografien, die Moholy-Nagy während seiner Chicagoer Zeit produzierte. Seine Tochter erinnert sich in einem Interview, dass ihr Vater sich für diese langzeitbelichteten Aufnahmen von Straßenlichtern, Ampeln und Autoscheinwerfern nachts mitten im Verkehr auf eine große Kreuzung stellte, um möglichst dynamische Bil­ der zu schaffen – auch von der Polizei habe er sich von seinem gefährlichen Unterfangen nicht abbringen lassen.208 Die Bilder mit den farbigen Lichtspuren in rot und pink sind Moholy-Nagys künstlerische Umsetzung des Lichtspektakels, von dem das Bild der Stadt bei Nacht bestimmt wird.

206 Ebd., S. 161. 207 György Kepes, Creating With Light, in: Art in America, 48 (Winter 1960), S. 80–83, hier: S. 81. 208 Vgl. Hattula Moholy-Nagy, zit. nach Fiedler, Bemerkungen zu den Bildtafeln, S. 154.

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Mit seiner Schwarzweißfotografie „City Light Box Study“ (Abb. 54) greift Lerner seine als Student des New Bauhaus begonnenen Studien mit dem Lichtkasten augenzwinkernd auf. Das Bild zeigt über einen engen Hof gespannte Seile, die zwischen zwei Hauswänden befestigt sind. An einigen von ihnen hängen Wäschestücke, säuberlich aneinandergereiht. Der Blick richtet sich dabei von oben aus einem Fenster oder von einem Balkon aus leicht schräg in die Tiefe. Wäsche und Leinen, die den Raum kreuzen, leuchten weiß im Kontrast zum Rest des umgebenden Raums, der vorwiegend im Dunkeln bleibt. Es zeigt sich bei aller Ironie, die sich aus dem Vergleich von Stadt und light box ergibt, dass die experi­ mentellen Lichtstudien mit der durchlöcherten Schachtel einen nachhaltig veränderten Blick auf die Stadt provoziert haben. Im Hof eines Mietshauses sind es banale Alltagsge­ genstände wie Wäscheleinen, über mehrere Ebenen gespannt, die die Dreidimensiona­ lität des Raumes strukturieren, und das leuchtende Weiß der Wäsche, das Lichteffekte erzeugt. Während die im Artikel des Herald American vorgestellten Camouflagestudien sich mit der Tarnung und Zerstreuung der Lichtquellen befassen, die einem Blick von oben Orientierung in der Stadt bieten würden, berichtet die Presse wenige Monate später im Mai 1942 von Maßnahmen und Tests, die der Stadt mit eigens kreierten Lichteffekten ein neues Aussehen zu verleihen versuchen.209 In einem Artikel der Chicago Daily News wird von einem Testflug berichtet, an dem der Bürgermeister der Stadt zusammen mit zwei seiner „defense assistants“, Delegierten des Office of Civilian Defense sowie mehreren Mi­ litärangehörigen teilnahm, um sich ein Bild vom Aussehen der Stadt und der Sichtbarkeit zentraler Orte aus dieser Perspektive zu machen. Es muss sich um einen der Flüge handeln, bei denen auch Moholy-Nagy mehrfach und unter verschiedenen Wetterbedingungen – „[d]uring blizzards and rainstorms, in fog and in brilliant sunlight“210 – mitflog. Am 19. Dezember 1941 war er nämlich in das Camouflage Komitee des Bürgermeisters berufen worden, wie sich seine Frau in ihrer 1950 erschienen Biografie erinnert. Auch Kepes war Mitglied des städtischen Komitees und in dieser Funktion bei Testflügen dabei. Noch Jahre später beschreibt er das Erlebnis des Blicks auf die nächtliche Metropole als beeindrucken­ de Erfahrung.211 Bei dem Flug, über den der Zeitungsartikel berichtet, steht zunächst Überzeugungs­ arbeit im Vordergrund: „Today’s inspection trip is designed to show Army officers the city’s need for a giant camouflage project.“212 Das Verteidigungskomitee der Stadt muss die Armeeangehörigen davon überzeugen, dass Chicago in besonderer Weise einem möglichen Angriff ausgesetzt sein könnte und daher berechtigt ist, Mittel aus dem Ver­ 209 o. V., Kelly and Army Plan Hiding of City from Foe, in: The Chicago Daily News, 8.5.1942, S. 12. 210 Moholy-Nagy, Moholy-Nagy, S. 183–184. 211 Vgl. Blakinger, Un camouflage New Bauhaus, S. 16, Blakinger zitiert dazu Kepes, der sich in einem Interview mit Katherine Kuh 1975 an den Blick auf Chicago in seiner Funktion als Mitglied des städtischen Civilian Defense Committees erinnert: Katherine Kuh, On Public Art, in: Saturday Review, 3/2 (18.10.1975), S. 63. 212 o. V., Kelly and Army Plan Hiding of City from Foe.

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54 Nathan Lerner, City Light Box Study, New York 1944

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teidigungsbudget des Bundesstaates für ein größeres Camouflageprojekt in Anspruch zu nehmen. ­Planungen dafür seien bereits in vollem Gange. In flapsigem Ton stellt der Artikel die Arbeit der School of Design vor, in der seit Januar an der Entwicklung von Tar­ nungsmaßnahmen für die Stadt gearbeitet werde: „Chicago, although it doesn’t know it, has already undergone some major facelifting operations on the near North Side to hide its beauty spots and its industrial and defense areas from possible air attack.“213 Um die „facelifting operations“ auszuführen, zitiert der Artikel Moholy-Nagy, der als Leiter der für die Pläne verantwortlichen School of Design und als „member of the camouflage di­ vision of the city’s defense committee“214 eingeführt wird. Moholy-Nagy verweist darin auf den Lake Michigan als spezielle Herausforderung für diejenigen, die Tarnungsmaß­ nahmen planen, da dieser von oben betrachtet besonders gut sichtbar sei und direkt auf die Stadt und ihre Stahlindustrie zeige. Außerdem gebe es den Fluss, der – „like a road sign“215 – für den feindlichen Blick von oben Orientierung biete. Seine Idee ist es daher, gerade die sichtbare Kontur des Sees für die Camouflage zu nutzen: Durch Gebäudeat­ trappen auf Schiffen im See könnte die optische Kontur der Stadt so verschoben werden, dass das eigentlich am Seeufer gelegene Stadtzentrum eine oder zwei Meilen im Wasser erscheinen würde. So wahnwitzig der Plan auch klingt, die Stadt mit Attrappen und Lichteffekten optisch in den See zu verschieben: Es wurde tatsächlich noch im selben Jahr ein Test durchgeführt, bei dem der Effekt von verwirrenden Lichtformationen ausprobiert wurde, wie ein anderer Zeitungsartikel ankündigt.216 Dazu würden die Lichter einzelner Straßen ausgeschaltet, um zu testen, welche neuen Muster sich daraus ergäben. Der ankündigende Artikel er­ wähnt zwar nur die partielle Verdunkelung. Kepes aber erinnert sich in einem Interview daran, dass zusätzlich zu der Verdunkelung belebter Gegenden andere Orte der Stadt er­ leuchtet wurden, nämlich der See und die großen Parks, die normalerweise als dunkle Flecken im Stadtbild auffielen.217 Die Idee aus Chicago, helle Gegenden zu verdunkeln und dunkle künstlich zu beleuchten, also die gewohnte Lichtsituation der Metropole um­ zukehren, fand überregional Anerkennung. Ein Manuskript der Organisation „Association of Belvoir Citizens“, die vermutlich in Verbindung mit der militärischen Ausbildungsstätte für Camoufleur*innen in Fort Belvoir stand, erwähnt die Aktivitäten des Chicagoer Vertei­ digungskomitees lobend. Das Manuskript beschreibt das Prinzip des „Camouflage Lighting in Motion“ als Umkehrung der nächtlichen Lichtmuster: „the illuminated streets and the darkened park patterns were shifted at night and then planes were sent over to try to locate

213 Ebd. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 o. V., Light Patterns to Confuse Foe Get Test Oct. 7. Camouflage of City at Night Is Aim, in: Chicago Daily Tri­ bune, 26.9.1942, S. 22. 217 Kepes im Interview mit Douglas Davis, vgl. Douglas Davis, Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie, Köln 1975, S. 141.

Stadtlichter: Chicago tarnen

specific targets.“218 Ein anderer Bericht bezeichnet die Chicagoer Methode als „Camouflage in Motion“219 – eine Bezeichnung, die nicht umsonst an den Titel von Moholy-Nagys Buch Vision in Motion erinnert. Der Test zur Verwandlung der Lichtmuster war dabei nur eine von verschiedenen Übungen, die Chicago in den Jahren 1942 und 1943 auf den Fall eines Luftangriffs vorbe­ reiten sollten. In Blackouts wurde geprobt, ob und wie schnell sich komplette Dunkelheit herstellen ließe.220 Bei einem Testbombenangriff im Mai 1943, einem sogenannten „Mock Bomb and Air Raid Drill“, mit 208 ‚angreifenden‘ Flugzeugen und 210.000 Papierbomben übten 200.000 Freiwillige für den Ernstfall.221 Moholy-Nagy beschäftigte sich schon in der 1930er Jahren mit den Möglichkeiten und Grenzen groß angelegter Lichtkunstinstallationen: „hast du schon einmal eine große, wild zuckende scheinwerferparade mit ihren weiter und immer weiter jagenden fangarmen gesehen?“222 fragt er 1934 seinen Freund, den tschechischen Künstler František Kalivoda in einem veröffentlichten Brief, in dem er diesem seine Ideen für mögliche Formen der Lichtkunst darlegt. Moholy-Nagy hat eine Lichtsymphonie oder eine Lichtarchitektur vor Augen, ein „städte-lichtspiel“ von gigantischem Ausmaß, das gleichzeitig Massenspektakel ist und durch Lichtformationen den Raum für ein Gemeinschaftserleben bildet. als zukunftsform das städte-lichtspiel, das man von luftschiffen, flugzeugen in der riesigen ausdehnung des lichtnetzes, der verschiebung und veränderung von lichtflächen erleben wird, und das sicherlich zu einer neuen, gesteigerten form von gemeinschaftsfesten führen kann.223 Seine in Friedenszeiten entwickelte Vision eines Städtelichtspiels wird in Chicago zur Grundlage für von ihm gemeinsam mit dem Office of Civilian Defense entwickelte Pläne zur Tarnung der Stadt durch die beschriebene aufwendige Lichtinstallation. Mit diesen Plänen zu einer ganz realen und politisch gewünschten Lichtarchitektur hätte sich bei­ nahe Moholy-Nagys Wunsch nach einer Umsetzung seiner Vision eines künstlerischen Einsatzes von Licht erfüllt. Diesem Wunsch stünden, so seine 1934 geäußerte Vermutung, 218 Association of Belvoir Citizens, Manuskript “Garnishings”, Boston. Hoover Institution Archives, Edward M. Farmer Papers, Box 1 (1943). 219 Chicago Park District, Seventh Annual Report for the year ending december 31, 1941, Chicago, Illinois 1942, S. 161. 220 o. V., 12.000.000 Blacked Out in Chicago and Midwest Test, in: Civilian Defense, 1/4 (September 1942), S. 34. 221 Vgl. die Ankündigung der Maßnahme: o. V., 135 Planes Will „Bomb“ Chicago, Sunday May 23 und die Berichte über die Übung: Ralph H. Burke, The ‚Bombing‘ of Chicago, in: Civilian Defense, 1/10 (Juni 1943), S. 5–7; o. V., OCD Wardens Prevent Heavy Losses AS CAP Unloads 250,000 ‘Bombs’ In Chicago’s First Mock Air Raid, in: Civilian Defense Alert. Official Publication of the Chicago Metropolitan Area, II/25 (May 28, 1943), 1–4. 222 László Moholy-Nagy, „Light Architecture (1936)“, in: Richard Kostelanetz (Hg.), Moholy-Nagy, New York 1970, S. 156–158, hier: S. 156. 223 László Moholy-Nagy, „[Brief an Kalivoda, Juni 1934]“, in: Fr. Kalivoda (Hg.), l. moholy-nagy, Brno 1936, S. 115– 118, hier: S. 116.

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3. László Moholy-Nagys New Bauhaus (Chicago) und Camouflage im Zweiten Weltkrieg

unter gewöhnlichen Umständen vor allem materielle und strukturelle Gründe im Wege: „die materielle abhängigkeit von kapital, industrie und werkstatt ist für eine lichtarchi­ tektur, die vorläufig keine praktische verwendbarkeit verspricht, nur räumlich-farbige emotionen hervorbringt, unerträgliches hemmnis“224. Da das US-amerikanische Festland im Zweiten Weltkrieg den befürchteten Luftangriff nicht erlitt, blieb auch die Tarnung Chicagos mittels ausgeklügelter Lichtillusionen eine Phantasie von der Projektion einer Stadt aus Licht und Dunkelheit.

224 Ebd.

Schluss Camouflage als angewandte Kunst Das vorliegende Buch hat es sich zu Aufgabe gemacht, die militärische Camouflage als interdisziplinäres Projekt zu beschreiben, bei dem sich militärische und künstlerische Wis­ sensgebiete auf komplexe Weise miteinander verschränken. Ich habe deutlich gemacht, dass die Aushandlung von militärisch-strategischen Fragestellungen keineswegs losge­ löst von gesellschaftlich-kulturellen Vorstellungen zu verstehen ist. Im Gegenteil lässt die Dringlichkeit des Krieges und der als existentiell bedrohlich erlebten Ausnahmesituation in verdichteter Form gesellschaftliche Problemlagen und kulturelle Imaginationen her­ vortreten. Um das vielschichtige Phänomen Camouflage und die Themenkomplexe, mit denen Camouflage in Verbindung steht, zu entfalten, hat diese Studie Quellen unterschiedlichs­ ter Art zum Forschungsgegenstand gemacht. Bildliche und literarische Imaginationen des räumlich veränderten Kriegstheaters oder militärische Überlegungen zu Unsichtbarkeit im Krieg wurden ebenso berücksichtigt wie die zum großen Teil unveröffentlichten Foto­ grafien, Unterrichtsskizzen, Ausstellungskataloge und Zeichnungen, die im Zusammen­ hang der Camouflageaktivitäten von Künstler*innen in den beiden untersuchten Fällen entstanden sind. Um der Vielfalt der Quellen gerecht zu werden, wurden Analysemetho­ den und Forschungsansätze aus unterschiedlichen Fachkulturen angewandt und verbun­ den. Ein begriffsgeschichtliches und literaturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium ermöglichte es zu zeigen, auf welche Weise Theater durch metaphorische Ausdruckswei­ sen wie „Kriegstheater“ spätestens seit dem Barock das Sprechen und Nachdenken über Krieg prägt. Neben der Metaphorizität spielten für die Fallstudien vor allem konkrete Ob­ jekte, Materialien und Praktiken eine Rolle. Die beiden dargelegten Fallstudien machen deutlich, dass die ungewöhnliche Form der Kooperation zwischen Militär und Künstler*innen keineswegs reibungslos vonstat­ tenging. Vielmehr musste erst ausgehandelt werden, was im Bereich von Camouflage als Expertise gelten durfte, wem die Deutungshoheit über die Tarnung zukam und inwiefern die Camouflagestrategien als erfolgreich zu bewerten waren. Die Kämpfe, die Solomon und später die Künstler*innen des New Bauhaus bzw. der School of Design um die Aner­ kennung ihrer Beiträge ausfochten, wiesen weit über rein sachliche Problemstellungen auf dem Feld militärischer oder ziviler Tarnung hinaus. Vielmehr warf die militärische Beteiligung der Künstler*innen im zeitgenössischen Diskurs verstärkt die Frage auf, wel­ che gesellschaftspolitische Funktion Kunst und künstlerische Ausbildungen überhaupt einnehmen können und dürfen. Die Debatte nahm dabei bestehende Diskurse auf. Denn um die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst wurde mit dem Aufkommen der Avantgar­ de-Bewegungen schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit neuer Schärfe gestritten.

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Schluss

Die künstlerischen Avantgarden stellten die Tradition mit großer Radikalität infrage. Diese intensiven Konfrontationen ließen auch konservative Maler*innen wie den hier vor­ gestellten Solomon, der den neuen Bewegungen ablehnend gegenüberstand, nicht unbe­ rührt. Allerdings zeugt sein im engen Sinne künstlerisches Werk, bestehend aus Porträts sowie biblischen und mythologischen Darstellungen, kaum davon. Erst ein Blick auf sein Engagement für die Camouflage lässt eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen erkennen. An Solomons Argumentationsweise wird auch und gerade in seiner de­ zidierten Ablehnung neuer Kunstauffassungen deutlich, dass die Infragestellung seiner Form von Malerei ihn zu einer Positionierung zwang. Seine Fotolektüren, seine Briefe an Zeitungen und militärische Autoritäten, seine Baumskulpturen, sein Herausarbeiten ge­ nuin künstlerischer Skills lassen sich als eigenwillige Antwort auf ins Wanken geratene künstlerische Selbstverständlichkeiten begreifen. Seine Beteiligung an der Entwicklung der Camouflage im Ersten Weltkrieg war geprägt durch die notwendig gewordene Neube­ stimmung seiner eigenen Rolle als Künstler innerhalb einer Gesellschaft, die sich durch den technisierten Krieg mit nie da gewesenen Erschütterungen konfrontiert sah. Durch die Entwicklung von Camouflagestrategien wurden die Debatten, die bis dato im Bereich der Kunst geführt wurden, in militärischen Kontexten aufgenommen und fortgeführt. Wie das Beispiel Solomons zeigt, musste man dabei kein erklärter Avantgardist sein, um sich avantgardistische Debatten zu eigen zu machen und sich an ihnen zu beteiligen. Der von den Avantgarden geforderte weit gefasste Kunstbegriff wurde weit über die Grenzen des künstlerischen Bereichs hinaus wirksam. Beide Fallstudien verdeutlichen, wie die Kriegssituation das Bemühen der Künst­ ler*innen verstärkte, die Anwendbarkeit ihrer didaktischen und künstlerischen Arbeit unter Beweis zu stellen. Aus diesem Blickwinkel lässt sich Camouflage als angewandte Kunst begreifen. Die Beteiligung der Künstler*innen im Zusammenhang mit Camouflage eröffnete auf unterschiedlichen Ebenen Möglichkeiten, Anwendungsbezüge herzustellen. Anwendung spielt dabei auf der Theorie- und Begriffsebene, auf der Ebene konkreter Be­ rufspraktiken, sowie im Bereich des Imaginären eine Rolle. Während die Hinwendung zur Anwendbarkeit seiner Kompetenz als Künstler bei So­ lomon angesichts seiner sonstigen konservativen Kunstauffassung überrascht, war der Anwendungsbezug im Fall der School of Design von Anfang an explizit Programm der künstlerischen Ausbildung, die auf den am Bauhaus entwickelten Methoden aufbaute. Narrative vom radikalen Bruch der Kunst der Moderne greifen in diesem Kontext nicht. Der klassisch ausgebildete Akademiemaler war ebenso wie die Bauhauskünstler*innen daran interessiert, für die Anwendbarkeit der Kunst zu argumentieren und diese praktisch unter Beweis zu stellen. Beide formulierten auf je unterschiedliche Weise das Sehenlernen und Hinterfragen der alltäglichen Wahrnehmung als Quintessenz ihrer Arbeit. Betrachtet man allein das künstlerische Werk, bleiben die Verbindungslinien, die im Zusammenhang mit den Camouflageaktivitäten erkennbar werden, unbeachtet. Der Blick auf die militäri­ schen Aktivitäten, öffentlichen Auseinandersetzungen und institutionellen Streitigkeiten,

Camouflage als angewandte Kunst

auf die Arbeit am Begriff der Camouflage und auf die aktive Gestaltung des Narrativs erst erlaubt es, die Arbeiten im Zusammenhang der Frage nach der Anwendbarkeit von Kunst zu verorten. Die Studie analysiert die Bemühungen der School of Design vor dem spezifischen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund als Bedingung der Arbeit der Schule. Zu die­ sem Zweck wurde bisher kaum beachtetes Archivmaterial für die Forschung erschlossen. ­Moholy-Nagys neu eröffnetes Institut sah sich durch finanzielle Not und zudem durch den prekären Aufenthaltsstatus der vielen erst unlängst in die USA immigrierten Lehren­ den gezwungen, die Nützlichkeit der unkonventionellen Form der an der School of Design praktizierten künstlerischen Designausbildung unter Beweis zu stellen. Die Möglichkeit, im Rahmen der Arbeit der Schule einen relevanten Beitrag zum Krieg liefern zu können, kam daher wie gerufen. Die Untersuchung arbeitet die argumentativen Strategien heraus, mit denen Moholy-Nagy das didaktische Programm und die künstlerische Praxis der Schu­ le auf die Erfordernisse des Krieges übertrug. Dabei lässt sich die Kriegsbeteiligung der School of Design in einem ambivalenten Spannungsverhältnis verorten: Einerseits handel­ te es sich um eine bemerkenswerte rhetorische und konzeptionelle Übertragungsleistung, das Programm der Schule so zu deuten, dass die künstlerische Ausbildung mit ihren spie­ lerischen light modulators und ertastbaren texture charts sich als optimales Kriegstraining empfehlen konnte. Andererseits steckt in den an der School of Design praktizierten Ca­ mouflageübungen mehr als bloße Rhetorik, die die Finanzierung und das Weiterbestehen der Schule gewährleisten sollte. Bei der genauen Analyse der Lehrinhalte erweisen sich die von Kepes angeleiteten Camouflageexperimente in erster Linie als elementare Wahrnehmungsstudien. In den Kursen wurden weniger unmittelbar einsetzbare Objekte hergestellt, wohl aber Grund­ prinzipien der visuellen Wahrnehmung vermittelt, die für die Fragwürdigkeit und Fragi­ lität der Wahrnehmung sensibilisieren sollten. Die hergestellten Modelle funktionierten als interaktive Lernobjekte. Indem in den Vorträgen die Funktionsweisen optischer Tar­ nungsmaßnahmen erklärt wurden, fand gleichzeitig auch eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung statt. Im Unterricht wurde dabei betont, dass die erlernten Fähigkeiten nicht nur für die Anwendung auf dem Feld der Camouflage von Bedeutung seien. Vielmehr werde ein grundsätzliches Verständnis für die visuellen Aspekte von Städten und Landschaften vermittelt, das die Kursteilnehmer*innen auch im Hinblick auf andere berufliche Anwendungsbereiche qualifiziere. Es lässt sich also festhal­ ten, dass in den Kursen zur Ausbildung von Camoufleur*innen mit den experimentellen Methoden der School of Design Grundlagen der visuellen Wahrnehmung gelehrt wurden. Eine direkte militärische Nutzbarkeit dieses Wissens erscheint dagegen fragwürdig. Diesen Schluss legt auch die Analyse der nach diesen Prinzipien hergestellten und in Ausstellungen präsentierten Arbeiten von Teilnehmenden der Camouflagekurse nahe. Die bizarren Modelle von Gebäuden mit angebauten durchlöcherten Schirmen erweisen sich als ästhetisch faszinierende Studienarbeiten (Tafel XII–XIV). Die Objekte lassen Einflüsse

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von Übungsformaten des Bauhauses erkennen – auf der Hand liegen beispielsweise Be­ züge zu den sogenannten Tasttafeln, mit denen in den Vorkursen am Bauhaus gearbeitet wurde. Außerdem lässt sich, vor allem in der bewegten filmischen Präsentation der Stu­ dienobjekte in Moholy-Nagys Film Design Workshops (1944), eine ästhetische Verbindung zu seiner elektrisch betriebenen beweglichen Lichtskulptur „Licht-Raum-Modulator“ fest­ stellen (Abb. 44 und 45, S. 241 und 242). Sowohl die Studienobjekte als auch die kinetische Skulptur, an der Moholy-Nagy seit 1922 arbeitete, erzeugen durch ihre Schattenwürfe be­ wegliche Lichtformationen. Die Auseinandersetzung mit Camouflage stellte für die School of Design eine Weiterentwicklung bisher erprobter künstlerischer Praktiken dar. Durch den Kriegsbezug kam eine dringlich gewordene Auseinandersetzung mit der visuellen Wahr­ nehmung und ihrer Täuschungsanfälligkeit hinzu, erweitert durch die besonderen Aspek­ te der Luftperspektive und die ungewohnten Formationen aus Licht und Schatten, die sich aus dieser Perspektive ergeben. Indem die Untersuchung die didaktischen und ästhetischen Schriften von Moholy-­ Nagy und Kepes einer Relektüre unterzieht, offenbaren sich implizite Bezüge zu ihrer Arbeit mit Camouflage. Bemerkenswert ist dabei, dass sich in der Auseinandersetzung mit ­Camouflage für beide Künstler eine Überzeugung bestätigte, die sie in anderen Zu­ sammenhängen und unterschiedlichen Schriften längst formuliert hatten: Das Erschei­ nungsbild der modernen technisierten Welt müsse hinsichtlich seiner Ästhetik erforscht werden – in diesem Zusammenhang sei es die Aufgabe der Künstler*innen, im Rahmen der technisch bestimmten Realität optimierte Gestaltungen zu entwickeln. Umgekehrt ist offensichtlich, dass Kepes’ einflussreiche Schrift Language of Vision sowie sein künstleri­ sches Schaffen in und nach dem Krieg maßgeblich und nachhaltig von der Auseinander­ setzung mit Camouflage geprägt ist. Die Notwendigkeit der Tarnung der Stadt Chicago führte die Bedeutung der visuel­ len Gestaltung vor Augen, ja erhob das bis dahin wenig beachtete Erscheinungsbild der Metropole aus der Sicht von oben in den Stand einer existentiellen Frage. Die vorgestell­ ten Tarnungspläne für Chicago lassen erkennen, dass in Reaktion auf den imaginierten Angriff aus der Luft detaillierte Raumanalysen durchgeführt wurden. Moholy-Nagy und Kepes betonten in ihrer Analyse der Metropole aus der Luftperspektive die entscheiden­ de Prägung der Wahrnehmung des städtischen Raums durch Lichteffekte. Der offizielle Rahmen, der dieser Analyse durch das Office of Civilian Defense geboten wurde, eröffnete für die Künstler die Möglichkeit, ihre Visionen einer gestaltend in den städtischen Raum eingreifenden Lichtkunst im Detail auszuarbeiten und auf Testflügen mit dem Bürger­ meister und anderen Amtsträger*innen zu erproben. Das Testszenario eines nächtlichen Angriffs auf C ­ hicago machte für die gesamte Bevölkerung spürbar und sichtbar, was die in der Einleitung zur Studie beschriebene Grafik (Abb. 1, S. 12) in propagandistischer Absicht nahelegte: Die bloße Existenz feindlicher Flugzeuge macht die Stadt zum potentiellen Kriegsschauplatz.

Camouflage als angewandte Kunst

Solomon dagegen rang um die Anerkennung seiner Interpretation der Luftbilder, für die er mit Verweis auf sein durch künstlerische Ausbildung sensibilisiertes und geschultes Auge Kompetenz und Autorität reklamierte. Er beklagte fatale Fehler bei der Luftbildinter­ pretation und der Ausbildung der ‚Leser*innen‘, die sich aus der Missachtung des visuellen Wissens ergaben, das Künstler*innen in die kriegerischen Anstrengungen hätten einbrin­ gen können. Schon zu Beginn des Krieges meinte Solomon auch für seine Kolleg*innen zu sprechen, wenn er in einem Leserbrief die Hilfe der Künstler*innen bei der Gestaltung der Uniformen nach Kriterien der Sichtbarkeit anbot. Mit Bedauern stellte er in dem Brief an die Zeitung The Times noch Anfang des Jahres 1915 die fehlende Zusammenarbeit der „makers of the arts of peace“ und der „designers of the munitions of war“ fest.1 Kurz darauf erfüllte sich sein Wunsch nach Kooperation in militärischen Zusammenhängen: Solomon wurde für die Gestaltung von Camouflage zum Kriegsdienst einberufen. Die Frage danach, als wie kriegsrelevant seine Expertise tatsächlich eingeschätzt wurde, bleib allerdings ein ständiger Streitpunkt. Die Kontroverse spielte sich dabei keineswegs nur auf der Ebene rein persönlicher Auseinandersetzungen ab, sondern zog durch Zeitungsartikel in unter­ schiedlichen Medien weite Kreise in der Öffentlichkeit. Somit stieß die öffentliche Aus­ einandersetzung mit Camouflage und mit der Interpretation von militärischen Luftfoto­ grafien eine Debatte um die Bedeutung des Beitrags der Künstler*innen zum Krieg an. In diesem Zusammenhang lautete Solomons vermeintlich unwiderlegbare Argumentation: Die Tarnung, die er auf den Fotografien auszumachen glaubte, sei so perfekt, dass sie für ein ungeübtes Auge nicht erkennbar sei. Diese gegen Einwände immunisierte Argumen­ tationsweise verweist auf das grundsätzlich ambivalente Verhältnis bildlicher Darstel­ lungen zum Unsichtbaren. Am Beispiel von Solomons regelrecht obsessivem Umgang mit den Luftfotografien wird deutlich, dass von der verdachtsgeleiteten Wahrnehmung, vom ‚Lesen‘ der Kriegslandschaft offenbar eine geradezu existentiell verunsichernde Kraft ausgeht. Denn nach der Logik der Camouflage bedeutet das Fehlen von Hinweisen und Spuren nicht, dass keine Gefahr lauert. Es muss stets von einer perfekten Tarnung ausge­ gangen werden, die die Prinzipien von Wahrnehmen, Sehen und Erkennen zielsicher und in feindlicher Absicht unterläuft. Eine ähnliche Problematik lässt sich auch an der vorgestellten Fotoserie der Camou­ flage School in Kensington Gardens beobachten: Die im Park aufgenommenen Fotografien, die gelungene Camouflagegestaltungen präsentieren sollen, sind paradoxerweise in ihrer Beweiskraft gerade dadurch fragwürdig, dass auf ihnen nichts zu erkennen ist. Dies wird auf zwei Fotografien besonders deutlich: Laut Bildunterschrift soll das eine Foto einen Baum mit einem versteckten Scharfschützen, das andere denselben Baum ohne Scharf­ schützen zeigen (Abb. 20 und 21, S. 175). Tatsächlich aber lässt sich auch bei genauem Hin­ sehen auf keinem der Bilder eine getarnte Person ausmachen. In ihrer Modellfunktion versagen die Fotografien also. Auf performativer Ebene hingegen gelingt es ihnen, den 1 Solomon, Uniform and Colour, S. 9.

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prekären Status der enttarnenden Wahrnehmung zu evozieren, die sich auf der Suche nach feindlichen Tarnungen niemals sicher sein kann, etwas übersehen zu haben. Der Untersuchung ist es in diesem Zusammenhang gelungen, eine Verschiebung im Status des fotografischen Bildes aufzuzeigen: Der Wahrheitsanspruch und die vermeintlich evi­ dente Beweiskraft fotografischer Darstellungen werden da ad absurdum geführt, wo die Realität nach den Prinzipien optischer Täuschungen gestaltet ist – und so die fotografische Wahrnehmung vorwegnimmt. Indem Solomon für die spezifischen künstlerischen Kompetenzen im Bereich der Bil­ dinterpretation und der Illusionsgestaltung warb, knüpfte er trotz seiner konservativen Akademiemitgliedschaft an Positionen wie die der Arts and Crafts Bewegung an, die sich schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für eine stärkere Anerkennung der angewandten Künste einsetzte. Solomon richtete den Fokus seiner Argumentation vor allem auf das Auge und das Sehen: Diese erführen durch eine künstlerische Tätigkeit die besondere Schulung, die die Künstler*innen für die Ausübung der sich neu formierenden militärischen Tätigkei­ ten prädestiniert. Einige Arbeiten Solomons zeugen als militärisch nutzbare Skulpturen von seinem gestalterisch unkonventionellen Umgang mit der Kriegslandschaft – so bei­ spielsweise sein Camouflagebaum, der sich imitierend in die landschaftlichen Gegeben­ heiten an der belgisch-französischen Westfront einpassen sollte. Seine dort geübte Praxis steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu den künstlerischen Überzeugungen, die er in seinen didaktischen Schriften äußert. Während er als Lehrer das exakte Modellieren eines räumlichen Eindrucks auf der Malfläche mit Hell-Dunkel-Schattierungen propagierte, griff er für die Herstellung des Baumes in experimenteller Weise auf echte Baumrinde zurück, die er mit einigem Aufwand aus den königlichen Gärten bezog. Den Baum machte Solomon 1916 darüber hinaus auch zum Sujet eines Aquarells (­Tafel XIII , S. 288), das sich heute im Besitz des Imperial War Museums befindet. Es zeigt eine Gruppe von Soldaten, die vor einem dunkelblauen Nachthimmel einen Baum in die Senkrechte stemmen. Der Titel „Erecting the First Camouflage Tree“ weist die Szenerie als Darstellung eines militärhistorischen Ereignisses aus. Mit seinem Bild nahm Solomon als Antwort auf die vielbeklagte Undarstellbarkeit des technisierten Krieges die von ihm mit­ entwickelte militärtechnische Innovation in das traditionelle Genre der Kriegsmalerei auf. Der Camoufleur Solomon beanspruchte damit für sich unterschiedliche Rollen: Einerseits war er praktisch und konzeptionell in die Entwicklung von Camouflagestrategien invol­ viert. Andererseits arbeitete er mit der Darstellung des Camouflagebaums im beschrie­ benen Aquarell und mit seinen Überlegungen zu Camouflage in seinem Buch Strategic Camouflage auch an der Historiografie von Camouflage als militärhistorischer Innovation. Es ging ihm um Prägung des Narrativs, das Camouflage als kuriosen wie genialen Beitrag der Künstler*innen zum modernen Krieg erzählt. Der Entwicklungsprozess der Camouflage mit ihren neuen Blickpolitiken auf dem fun­ damental veränderten Kriegsschauplatz erschütterte auch die bisher kulturell wirksamen Vorstellungen von soldatischen Tugenden. Solomon fühlte sich offenbar zur Auseinan­

Camouflage als angewandte Kunst

dersetzung mit dem Vorwurf gedrängt, Camouflage sei „unchivalrous“, also „unritterlich“.2 Solomons Argumentation, dass Tarnung angesichts der neuen Waffen und der Luftfoto­ grafie nicht etwa feige, sondern dringend notwendig sei, zeigt, welche tiefgreifenden mo­ ralischen Implikationen die veränderte räumliche und visuelle Struktur des Kriegsschau­ platzes mit sich brachte. Tatsächlich stehen Strategien des Verkleidens, Versteckens und Verbergens im Widerspruch zu weit verbreiteten kulturellen Vorstellungen von soldati­ schen Tugenden wie Mut und Stärke. Die Veränderungen des Kriegsschauplatzes durch die neuen Waffen-, Kommunikations- und Flugtechnologien ließen diese hergebrachten Vorstellungen im Ersten Weltkrieg weitgehend ins Leere laufen. Der neue Kriegsschau­ platz, auf dem es aus ebenerdiger Perspektive wenig zu sehen gab, hielt kaum Gelegenhei­ ten bereit, soldatischen Mut zu beweisen. Er erzeugte vielmehr massenhaft Situationen, in denen die Beteiligten unvorhersehbaren Angriffen aus der Luft oder von weit entfernten Waffen ohnmächtig ausgeliefert waren. Folglich verwundert es nicht, dass sich die Neu­ verhandlung soldatischer Tugenden gerade an der Camouflage entzündete, die auf der Basis einer Analyse der neuen Blickstrukturen des Kriegsschauplatzes funktionierte, diese regelrecht verkörperte. Spott und Angriffe, mit denen sich Camoufleur*innen in beiden Weltkriegen konfrontiert sahen, lassen sich nicht nur damit erklären, dass Künstler*innen aufgrund von Zuschreibungen ihres Berufsstandes im militärischen Feld als Außensei­ ter*innen behandelt wurden. Camouflage-Praktiken boten sich stellvertretend für die nur schwer adressierbaren Traumata und Kränkungen des maschinisierten Krieges als Ziel­ scheibe von spöttelnder Kritik an – so z. B. das Bemalen von Gesichtern und Uniformen in erdigen Farbtönen, die das Bild des männlichen Kriegshelden im wahrsten Sinne des Wortes beschmutzten. Moralische Bewertungen der komplexen Beziehungen zwischen sichtbarem Äußeren und einem angenommenen inneren ‚Eigentlichen‘ können kulturgeschichtlich weit zu­ rückverfolgt werden. Dies wurde am Beispiel des Chamäleons deutlich, dessen wandel­ bare Haut Forscher*innen seit Jahrhunderten immer wieder irritierte und zu unterschied­ lichen Zeiten zu divergierenden moralischen Einschätzungen des Verhaltensrepertoires des Tieres führte. Das Tier konnte ebenso dafür verurteilt werden, dass es durch die Wan­ delbarkeit seiner Haut trügerisch und unehrlich sei, wie es andererseits dafür bemitleidet wurde, dass sein Innenleben sich farblich allzu offensichtlich an der Färbung seiner Haut mitteile. Wie die moralische Bewertung auch ausfiel – deutlich wurde, dass das Äußere eines Körpers und seine Erkennbarkeit in seiner Umwelt auch für das Zusammenleben der Menschen einen besonderen Status haben. Die Ideologie der Physiognomik kann als eine Reaktion auf die Erfahrung der Unzuverlässigkeit des äußeren Eindrucks verstanden werden, der häufig zu wandelbar und überraschend ist, um belastbare Rückschlüsse auf Eigenschaften des Inneren zuzulassen. Indem die Camoufleur*innen das Chamäleon im Ersten Weltkrieg zu ihrem Emblem machten, bezogen sie angesichts der auf dem gewan­ 2 Solomon, Strategic Camouflage, S. 51–52.

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delten Kriegsschauplatz in Wanken geratenen moralischen Ordnung neu Position: Ein bis dato gänzlich unkriegerisches und moralisch fragwürdiges Tier erhielt auf der Suche nach passenden Symbolen für eine neue Realität – halb ironisch, halb ernsthaft ins Spiel ge­ bracht – den Status eines militärischen Emblems.

Künstler*in: ein umkämpftes Berufsfeld Mit Blick auf beide Fallstudien lässt sich eine Parallele beobachten, die über die individu­ elle Auseinandersetzung der jeweils Beteiligten mit Camouflage hinausweist. Angesichts ihres militärischen Einsatzes steht für die beteiligten Camoufleur*innen nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen Rolle als Künstler*innen zur Debat­ te. Die Camouflage wirft die Frage nach konkreten Berufspraktiken als Anwendungsfeld der Kunst auf. Die Frage nach der Funktion der Kunst und der gesellschaftlichen Rolle der Künstler*innen wird neu gestellt – mit besonderem Nachdruck von einem kritisch bis ab­ lehnend eingestellten Umfeld, aber auch selbstkritisch von den Camoufleur*innen selbst. Auch wenn diese Diskurse in den analysierten Texten nicht immer explizit adressiert werden – die eigenwilligen Antworten der in den Blick genommenen Camoufleure lassen die Dringlichkeit der Debatten um gesellschaftliche Relevanz, Autorität und Kompetenz erahnen, auf die sie implizit, aber dennoch mit großer Emphase Bezug nehmen. In beiden skizzierten Fällen verraten die rhetorischen Strategien, dass weit mehr auf dem Spiel steht als die Frage nach effektiver Tarnung. Vielmehr sind die Beiträge als Selbstpositionierun­ gen der vorgestellten Protagonisten in als prekär erlebten und von historischen Umbrü­ chen gezeichneten Zeiten zu verstehen. Wie definieren andere und wie wollen sie selbst ihre spezifischen Kompetenzen, Aufgaben, Betätigungsfelder und Arbeitsmittel angesichts der fortschreitenden Technisierung und räumlicher Entgrenzungen verstanden wissen? Dabei bewegen sich nicht nur die Künstler*innen, die in militärischen Zusammenhängen arbeiten, auf fremdem Terrain. Vielmehr erobert der Krieg, indem seine bildlichen Darstel­ lungen und sein äußeres Erscheinungsbild auf neue Art strategisch relevant werden, einen Bereich, den die Künstler*innen traditionell für sich reklamieren: die Bildgestaltung, das Arrangieren von Licht und Schatten und die Inszenierung räumlicher Wirkungen. Camoufleur*innen sehen sich bei ihrer Tätigkeit regelmäßig mit verunsichernden Fra­ gen konfrontiert, die die visuelle Orientierung in der modernen Welt überhaupt betreffen: In welchem Verhältnis steht das äußere Erscheinungsbild von Menschen, Dingen und Or­ ten zu ihrem Inneren? Was gibt das Aussehen preis über das eigentliche Wesen und die Absichten von Menschen, über die Funktionen von Dingen, über die Eigenschaften von Orten oder über die Effekte von Handlungen? Durch die Auseinandersetzung mit Camou­ flage wird vor Augen geführt, dass die technischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der visuellen Ordnungen irritierend neue Verhältnisse geschaffen haben. Die Arbeit der Camoufleur*innen verweist darüber hinaus auch auf das Verhältnis, in dem Kunst und künstlerische Ausbildungsinstitutionen zu dem stehen, was in den USA

Künstler*in: ein umkämpftes Berufsfeld

schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Begriff „industrial design“ firmiert. Der Bedarf an Industriedesigner*innen in der Region Chicago hatte 1937 auf Initiative der Industriellenvereinigung Association of Arts and Industries zur Gründung des New Bauhaus geführt. Insofern ist die Geschichte der Entwicklung von Camouflage durch bildende Künstler*innen eingebunden in komplexe Aushandlungsprozesse um das sich neu etab­ lierende Berufs- und Wissensfeld Design. In den untersuchten didaktischen Kontexten werden die zur Entwicklung und Herstellung von Camouflagemaßnahmen notwendigen Fähigkeiten herausgestellt, die die jeweilige, an der bildenden Kunst orientierte Unter­ richtsform vermitteln könne. In beiden untersuchten Fällen kommen experimentelle di­ daktische Methoden zur Anwendung, werden Grundlagen des Visuellen vermittelt und die Anwendbarkeit der Lehrinhalte in Militär und Industrie betont. Dabei argumentieren die Beteiligten jeweils unterschiedlich, in welcher Beziehung diese Form der Vermittlung zu ihrer bisherigen künstlerischen und kunstdidaktischen Arbeit steht. Moholy-Nagy bewirbt den Nutzen seines Lehrprogramms folgendermaßen: „It ­helps to make the individual resourceful and inventive, quick in decisions, courageous in approa­ ching civilian and military tasks.“3 Er verspricht damit eine nicht spezialisierte Form der Ausbildung, die allgemein einsetzbare Fähigkeiten und Kompetenzen vermittle. Was Mo­ holy-Nagy hier als Ausbildungsziel anvisiert, wird in ab den 1950er Jahren in den Sozi­ al- und Wirtschaftswissenschaften verstärkt geführten Diskussionen um „Humankapital“4 und veränderte Arbeitsmärkte mit Begriffen wie „Schlüsselqualifikation“5 oder „extra­ funktionale Fertigkeiten“6 beschrieben. Das Nachdenken über in verschiedenen Feldern anwendbare Kompetenzen ist abgesehen von den erwähnten Überlebensstrategien und Autoritätsstreitigkeiten der beteiligten Camoufleur*innen auch Teil einer allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Debatte. Es bieten sich berufliche Möglichkeiten für Künstler*innen außerhalb des Kunstmarktes. Dadurch ändert sich die Rolle von künstlerischen Ausbildungsstätten, die sich zunehmend auch dafür zuständig fühlen, ihren Absolvent*innen Karrierewege außerhalb von Kunstinstitutionen aufzuzei­ gen. In den USA und in Europa spielten zwar die bildenden Künste schon spätestens seit der Jahrhundertwende eine wichtige Rolle für Grafik-, Werbe- und Produktdesign. Mit dem wirtschaftlichen Boom der Nachkriegsjahre aber erhöhte sich auch der Bedarf an visuell geschultem Personal. Die Camoufleur*innen, so betonen sie selbst immer wieder, können in diesen Feldern kompetent eingesetzt werden.

3 Moholy-Nagy, Brief an Dr. F. J. Kelly, Wartime Commission, U. S. Office of Education. 4 Gary Becker, Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, New York 1964. 5 Dieter Mertens, Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 7 (1974), S. 36–43. 6 Ralf Dahrendorf, Industrielle Fertigkeiten und soziale Schichtung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 8 (1956), S. 540–568, hier: S. 554.

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Neben ihrer industriellen Verwertbarkeit erweisen sich die in den Camouflage-Kon­ texten beschriebenen künstlerischen Skills auch in der Nachkriegszeit weiterhin und zunehmend als militarisierbar. In den USA wurden in Thinktanks wie der berühmten RAND Corporation neuartige Formen zivil-militärischer Zusammenarbeit etabliert und ausgebaut. Hatte sich schon während des Ersten Weltkriegs ein Kunstkritiker wie Richard Hamann darüber beschwert, dass der Krieg nicht mehr wie Krieg aussieht,7 so ist diesen Arbeitsformen ihr kriegerischer Kontext erst recht nicht mehr anzusehen.

Imaginierter Kriegsschauplatz Es bleibt festzuhalten: Die berücksichtigten konkreten Camouflage-Beiträge der unter­ schiedlichen Künstler*innen erwiesen sich vielfach als militärisch nicht direkt umsetzbar oder waren in der Nutzung wenig erfolgreich. Die mit Camouflage verbundenen Imagina­ tionen dagegen entfalteten eine in verschiedenen Bereichen mitunter äußert wirksame und folgenreiche Kraft. So wurden beispielsweise die Camouflagebäume zwar selten enttarnt, lieferten jedoch durch ihre fixierte Position auch kaum brauchbare Informationen. Über die Belastbarkeit von Solomons Fotografie-Lektüren wurde noch nach dem Krieg gestritten. Die Pläne zur Tarnung von Städten und Fabrikanlagen in den USA blieben rein hypothetisch und kamen während des Zweiten Weltkrieges nicht zum Einsatz, da nach dem Angriff auf Pearl Har­ bor keine weitere Bombardierung der USA mehr erfolgte. Zudem machte die Praxis der Flächenbombardements von Städten ohnehin das Erkennen einzelner Ziele überflüssig und somit die Tarnung sensibler Anlagen wirkungslos. Ein Bericht, den ehemalige hoch­ rangige deutsche Offiziere der Wehrmacht nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Auftrag der Sektion für Geschichtsschreibung der US-Armee, der Historical Division, anfertigten, deutet darauf, dass die mit großem Aufwand betriebenen Tarnungsmaßnahmen ihren Zweck häufig nicht erfüllen konnten.8 Die ausführlichen Berichte mehrerer Offiziere, die innerhalb der Historical Division der Auswertung von Camouflage gewidmet sind, konnten im Rahmen dieser Studie nicht näher untersucht werden, lag doch der Fokus auf den Kontexten künstlerischer Beteili­ gung an der Entwicklung von Tarnungsmaßahmen. Dabei bieten die Berichte, die einge­ fügten, handgemalten Proben unterschiedlicher Tarnungsmuster, die Fotografien und die unzähligen Situationsbeschreibungen auf mehreren hundert Manuskriptseiten auf­ schlussreiches Material für die Frage nach der militärischen Einschätzung des Erfolgs der Tarnungsstrategien. Auch mit Blick auf diese Dokumente stellt sich die Entwicklung von Camouflage als ein ambivalentes Unterfangen dar, das sich nicht nur mit Blick auf seine

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Vgl. Hamann, Krieg und Kunst, S. 13. Vgl. Wilhelm Willemer, Historical Division European Command, „MS # P-130“ Camouflage. Hoover Instituti­ on Archives, U. S. Army European Command Historical Division, Box 50 (1950), hier: S. 240.

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Funktionalität oder militärische Effektivität erklären lässt. Vielmehr deuten sich auch in diesen Abhandlungen moralische Bewertungen von Camouflage an, die von nationalsozi­ alistischer Ideologie geprägt sind. So wird Tarnung mit „Naturverbundenheit“ assoziiert, die Angehörigen von „Kulturvoelker[n]“ im Gegensatz zu „im hohen Grade naturverbunde­ nen“ „Voelker[n] des Ostblocks“ nur schwer antrainiert werden könne.9 Für eine Untersu­ chung dieser stark ideologisierten Konstellation im Kontext des Zweiten Weltkrieges war im Zuschnitt der vorliegenden Studie kein Platz. Die Evaluation im Auftrag der US-Armee böte einer kulturgeschichtlichen Erforschung jedoch einen zweifellos vielversprechenden Untersuchungsgegenstand. Die einleitenden Formulierungen zu den Berichten machen das Anliegen der US-Armee hinsichtlich der Camouflageaktivitäten deutlich. Es herrsche Einigkeit über den Wert von Camouflage für „field installations“. Ob Camouflage aber auch für zivile Angriffsziele wie Städte und Fabrikanlagen empfohlen werden könne, sei dage­ gen umstritten – daher sei man an den Erfahrungen der Deutschen interessiert, so die Auftraggeber*innen der Studie.10 Politisch sind die Dokumente bedeutsam, da sie schon von der sich abzeichnenden Konstellation des Kalten Krieges geprägt sind. Angesichts der Sowjetunion als eines gemeinsamen politischen Gegners finden die ehemaligen Kriegs­ gegner USA und Deutschland im Anti-Kommunismus neue gemeinsame politisch-ideolo­ gische Schnittmengen. Obwohl sich also Erfolg der Bemühungen nicht absehen ließ, wurde dessen ungeachtet viel Geld und Energie für die Entwicklung und Herstellung von Tarnungsmaßnahmen auf­ gewendet. Die in dieser Arbeit vorgestellten Camouflageaktivitäten ließen sich mit einiger Berechtigung als gescheitert oder als historische Sackgasse werten – gerade auch ange­ sichts der Einführung von Technologien wie Radar, Sonar oder Wärmebildkameras, durch die die Wirkung von rein optisch funktionierenden Tarnungen noch stärker beschränkt wurde. Dennoch sind bis heute Camouflagemuster bei allen Armeen der Welt in Gebrauch. Sie haben jedoch neben der Verhinderung von Sichtbarkeit paradoxerweise auch geradezu die entgegengesetzte Funktion angenommen: In der Regel handelt es sich um patentierte Muster, die somit als Erkennungszeichen dafür sorgen, dass die Uniformierten der Armee eines Landes zugeordnet werden können. Die Bedeutung der Camouflagemuster als Un­ terscheidungsmerkmal unterstreicht ein Streit zwischen Finnland und Russland im Jahr 2008, in dem Finnland der russischen Armee vorwarf, finnische Camouflagemuster kopiert zu haben.11 Die Schlussfolgerung, dass die im Vorangegangenen analysierten visuellen Camou­ flageexperimente aus militärischer Perspektive als gescheitert gelten müssen, greift aber auch aus anderen Gründen zu kurz: Sie verkennt die Wirkmächtigkeit, die die phantasie­ 9 Vgl. ebd., S. 218–219. 10 Vgl. Alfred Toppe, Historical Division European Command, Camouflage Project. Deutsche Erfahrung auf dem Gebite der Tarnung ziviler Einrichtungen im rueckwärtigen Gebiet, Königstein/Ts. Hoover Institution Archives, U. S. Army European Command Historical Division, Box 36 (27.9.1950), hier: S. 8. 11 Vgl. Ellen Barry, Finland wonders if Russia stole its camouflage design, in: The New York Times, 20.11.2008.

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Schluss

reich imaginierte feindliche Perspektive auf eigene Territorien und die prognostizierten Angriffe entfalten. Das äußert sich nicht nur in literarischen Szenarien der Angst, wie in Scheerbarts düsteren Luftkriegsphantasien. Der untersuchte Chicagoer Kontext zeigt, wie eine Stadt, die faktisch nicht zum Ziel eines Angriffs wurde, durch die Möglichkeit der Bombardierung aus der Luft als Kriegsschauplatz gedacht wird. Die beschriebenen Test­ bombardierungen mit farbigen Papierkugeln und nächtlichen Beleuchtungsexperimente sind nur zwei Beispiele für die absurd konkreten Formen, die die Präsenz des Zweiten Weltkrieges in Chicago annehmen konnte. Diese Erkenntnis ergibt sich auch aus der Ana­ lyse des Begriffs des Kriegstheaters, das sich als Raumkonzept für die Vorstellungen von Krieg als prägend erweist. Die Art und Weise, wie die Kriegsräume konzipiert, gedacht oder imaginiert werden, trägt entscheidend zur Formierung dieser Räume bei. Auch dafür sei noch einmal auf die Grafik am Anfang der Studie verwiesen: Während sie den Fortschritt in der Entwicklung von Fortbewegungstechnologien skizziert, etabliert sie gleichzeitig ei­ nen transatlantischen Kriegsraum als Bedrohungsszenario. Zudem dient die Analyse der historischen Kriegsräume mit den spezifischen visuellen Konstellationen auch dem Verständnis neuerer Entwicklungen. Ferdinand Friedensburg leitete 1944 aus den räumlichen Verschiebungen und Überlagerungen des Kriegsschau­ platzes eine bemerkenswerte juristische Problemstellung ab: Ist der Krieg nicht räumlich begrenzt, so lässt sich nicht bestimmen, wann und wo Kriegs- bzw. Friedensrecht gilt.12 Die von ihm beobachtete räumliche Ausdehnung mit den völkerrechtlichen Implikationen hat sich durch neueste technische Möglichkeiten erheblich verschärft. Der Philosoph Grégoire Chamayou beschreibt in seiner „Theorie der Drohne“ die fortgeführte Dynamisierung des Kriegstheaters. Als Beispiel dafür führt er das vom US-Militär beim Einsatz von ferngesteu­ erten Drohnen angewandte Konzept der Kill Box an.13 Der Begriff bezeichnet eine temporär markierte, würfelförmige Zone, innerhalb derer dem Drohnenführer die Erlaubnis erteilt wird, auf Menschen zu schießen. Der auf diese Weise virtuell markierte Kriegsraum ist zwar durch Linien auf dem Bildschirm des Drohnenoperateurs begrenzt. Aber die Tatsa­ che, dass die Kill Box jederzeit und überall etabliert werden kann, macht den Krieg ubiqui­ tär und ermöglicht es, extralegale Erschießungen für legitim zu erklären, indem diese als vom Kriegsrecht legitimierte Kriegshandlungen behauptet werden. Auch die Sichtbarkeitsstrukturen, in die die Camouflagearbeit der School of Design eingebettet war, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Die Arbeit der Schule wurde in der Stadtgesellschaft interessiert wahrgenommen, in der Presse ausführlich gewürdigt und in der Ausstellung „War Art“ präsentiert. Auch das Office of Civilian Defense, mit dem die Schule zusammenarbeitete, betrieb Öffentlichkeitsarbeit zur Verbreitung des Wissens über Camouflage. Während Camouflage auf diese Weise öffentlich präsent und viel disku­ tiert war, gab es gleichzeitig und in unmittelbarer Nähe höchst bedeutende und folgenrei­ 12 Vgl. Friedensburg, Der Kriegsschauplatz insbesondere als Ausdruck rechtlicher Raumfassung. 13 Vgl. Grégoire Chamayou, Ferngesteuerte Gewalt. Eine Theorie der Drohne, Wien 2014, S. 65–66.

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che Formen militärischer Forschung, die sich unter großer Geheimhaltung vollzogen. Auf dem Campus der University of Chicago kamen diese paradoxen Sichtbarkeitsstrukturen auf engstem Raum zusammen: Während die Ausstellung „War Art“ öffentlich präsentier­ te, welche Tarnungsmaßnahmen die Künstler*innen entworfen hatten, gelang im selben Jahr unterirdisch in einem geheimen militärischen Labor die erste Kernspaltung, Voraus­ setzung für die Herstellung der Atombombe. Davon durfte die Zivilbevölkerung nichts erfahren, während sie in die Auseinandersetzung um die Frage der Unsichtbarkeit im Krieg dagegen intensiv einbezogen wurde. Ebenso war auch die vorgestellte Camouflage School in Kensington Gardens alles an­ dere als ein Ort geheimer Forschung. Sie entstand sogar zunächst als Ausstellungsgelände zur Information hoher Gäste aus Militär, Politik und Gesellschaft und wurde erst dann auch für den Schulbetrieb und zur Forschung für die Entwicklung von Prototypen genutzt. Die Schule trug damit zur Bekanntheit und Popularität der neuen Kriegsstrategie bei und verbreitete zudem das französische Lehnwort ‚Camouflage‘, das – wie an einem Tagebuch­ eintrag des englischen Königs deutlich wurde14 – zu Beginn noch ein nur wenigen geläufi­ ges Fremdwort war. Auch die Anfragen des durch die Regierung neu ins Leben gerufenen Imperial War Museum an Solomon noch während des Krieges lassen auf den propagan­ distischen Wert schließen, der der Camouflage zugemessen wurde. Denn im Gegensatz zu der beispiellosen Gewalt, die beide Weltkriege entfesselten, erschienen die skurrilen Tarnungsmaßnahmen und ihre bemerkenswert unmilitärischen Entwickler*innen als eine interessante, gar unterhaltsame Facette des Krieges. Indem Camouflage und der unkon­ ventionelle Beitrag der Künstler*innen zum Thema von öffentlichem Interesse gemacht wurden, konnte der Bevölkerung zudem eine durchaus opportune Botschaft vermittelt werden: In der Situation des Krieges tun auch die Künstler*innen, deren Arbeit man im Allgemeinen nicht für kriegsrelevant hält, ihre patriotische Pflicht, indem sie ihre spezifi­ sche Expertise einbringen. Angesichts der Bedrohung durch Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg lassen sich die staatlich koordinierten und geförderten Bemühungen um Camouflage auch als propagandistisches Ablenkungsmanöver von der schwer zu ertra­ genden Vorstellung verstehen, im Falle eines Angriffs machtlos und hilflos der Aggression ausgeliefert zu sein.

14 Vgl. King George V., zit nach: Nicholas Rankin, Churchill’s Wizards, S.113.

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I

Studienarbeit aus dem Camouflagekurs, Filmstill aus Moholy-Nagy, Design Workshops

II Armbinde der französischen Camouflage-Einheiten im Ersten Weltkrieg

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III Einband des Buches Solomon J. Solomon, Strategic Camouflage, London 1920

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IV Skizze aus Solomon J. Solomon, Visual Deception in Warfare. National Archives, Kew – Air Ministry and Royal Air Force records, AIR/1/530/16/12/89 (April 1916), ohne Nummerierung

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V Skizze aus Solomon, Visual Deception in Warfare, April 1916, ohne Nummerierung

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VI „Elastic bands around the peak of cap“, in: Solomon, Visual Deception in Warfare, S. 15

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VII „Foliage and grass held in elastic bands“, in: Solomon, Visual Deception in Warfare, S. 16

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VIII Solomon, Erecting of the First Camouflage Tree, 1916, Bildmaße: 61,5 cm × 46,9 cm, Imperial War Museum: Art. IWM ART 6476

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IX „German Camouflage Tree“ in der Ausstellung des Imperial War Museum: FEQ854

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X–XV Studienarbeiten aus dem Camouflagekurs, Filmstills aus Moholy-Nagy, Design Workshops, 1944

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XVI Ralph Graham (zugeschrieben), Cover Katalog der Ausstellung „War Art“, Renaissance Society, Chicago 1942

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XVII Texture Wheel, Filmstills aus Moholy-Nagy, Design Workshops, 1944

XVIII Kepes, Light Mural for KLM, New York 1959, Detailansicht

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XIX Moholy-Nagy, Night-time traffic (Pink and red traffic stream with white sparks), Chicago 1937–1946

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Bildnachweise U.S. Office of Civilian Defense, Precautionary Camouflage, September 1943: Abb. 1, 28, 29 © IWM: Buchcover, Abb. 2–4, Abb. 15–24, Tafeln VIII und IX Berlinische Galerie: Abb. 5 Solomon J. Solomon, Strategic Camouflage, London 1920: Abb. 6–13, Tafel III General Staff, Illustrations to Accompany Notes on the Interpretation of Aeroplane Photography. Series A, Washington 1917: Abb. 14 University Archives and Special Collections, Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Institute of Design Records: Abb. 25 (Box 8, Folder 5); Abb. 30, 31, 34–36 (Acc. No. 1998.31, Box 4, Folder Patrick O’Reilly Bird) University of Illinois at Chicago, Richard J. Daley Library, Institute of Design Collection: Abb. 26 (Box 3, Folder 76), Abb. 38 (Box 6, Folder 172), Abb. 39 (Box 3, Folder 84), Abb. 40 (Box 3, Folder 53), Abb. 41 (Box 9, Folder 269), Abb. 42 (Box 3, Folder 63), Tafel XVI (Box 3, Folder 84) György Kepes, Language of Vision. Painting, Photography, Advertising Design, Chicago 1944: Abb. 27, 32, 33, 37 László Moholy-Nagy, Vision in Motion, Chicago 1947: Abb. 43, 44, 47, 53 László Moholy-Nagy, The New Vision and Abstract of an Artist, New York 1947: Abb. 46 László Moholy-Nagy, „Lichtrequisit einer elektrischen Bühne“, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 5 (11/12) 1930, S. 297–299, hier: 297: Abb. 45 mit freundlicher Genehmigung von Kiyoko Lerner: Abb. 48, 49, 54 John Scott, László Moholy-Nagy, György Kepes, „Materials for the Camoufleur“, in: Civilian Camouflage, September 1942, S. 13–16: Abb. 50 Lloyd C. Engelbrecht, „Moholy à Chicago“, in: Centre National d'Art et de Culture Georges Pompidou (Hg.), Laszlo Moholy-Nagy, Paris 1976, S. 144–160, hier: S. 157: Abb. 51 und 52 mit freundlicher Genehmigung von Hattula Moholy-Nagy: Tafeln I, X-XV, XVII Hardy Blechman und Alex Newman, DPM. Disruptive pattern material, London 2004, S. 42: Tafel II Solomon J. Solomon, „Visual Deception in Warfare“, April 1916, National Archives, Kew – Air Ministry and Royal Air Force records, AIR/1/530/16/12/89: Tafeln IV–VII © Massachusetts Institute of Technology: Tafel XVIII Jeannine Fiedler und Hattula Moholy-Nagy (Hg.), László Moholy-Nagy. Color in Transparency: Photographic Experiments in Color 1934–1946 – Fotografische Experimente in Farbe 1934–1946, Göttingen, Berlin 2006, S. 151: Tafel IXI

Register Antisemitismus  109, 112, 162 Arts and Crafts  129, 185, 272 Association of Arts and Industries, Chicago  183–184, 275 Atombombe  186–187, 279 Avantgarde  24, 89, 94, 117, 128, 267–268 Bates, Henry Walter  53–54 Benjamin, Walter  64–67, 70, 82, 85–86, 118 Biologie  50, 59–60 Blériot, Luis  94–96 Camouflagebaum / Baumimitation / Baumattrappe  24–25, 163–170, 271–272, 276 Carlier, André  46, 115 Certeau, Michel de  136–137 Clausewitz, Carl von  16, 37–57, 107, 129 Container Corporation of America  188, 220 Cornwell-Clyne, Adrian  164 Darwin, Charles  53–56 Dreidimensionalität  19, 120, 126, 156, 160, 210, 218– 219, 260, 262 Drohne  136, 278 Dynamit / Dynamitkrieg  85–86, 91–92, 95 Evolution  55, 58, 61–63, 252 Ewald, Erich  156–158 Feldherrnhügel  75–76, 80, 98 Festung  38, 91, 95, 165 Figur und Grund  24, 123, 165 Friedensburg, Ferdinand  16–17, 82–84, 102, 278 Friedenslandschaft  108, 143 Gasmaske 70–72 Geheimhaltung / Geheimnis  105, 108, 137, 163, 166, 186–187, 223, 279 Gesicht  19–20, 71, 107, 129–130, 148–151, 213–214, 237 Gestaltpsychologie  21–22, 142, 186, 201, 205, 207 Giftgas  58, 70, 85, 101 Glasarchitektur  89–90, 94 Hamann, Richard  64, 77–80, 276 Hegung 83–84 Hell-Dunkel  124, 126–127, 272 Imperial War Museum  25, 71, 107–108, 166–168, 171, 272, 279 Industrial Art  184 Judentum 109–112 Kamera  25, 28, 36, 86, 102, 129, 131–132, 144–146, 211, 218, 238 Kartografie  32, 39–40, 70, 151 Kontur  24, 26, 123, 130, 211, 215, 249, 264 Kriegsikonografie  77, 79, 108 Kriegsmalerei  64, 68, 272 Kulisse  17, 24, 33, 69, 87, 93, 162, 246 Lavater, Johann Caspar  19, 107, 148–149 Lerner, Nathan  187, 231, 235–266 Lewin, Kurt  142–144 Lichtarchitektur 265–266 Lichtkunst  21, 239–240, 261, 265, 270 Lichtmodulator  237–240, 244, 250, 252 Luckiesh, Matthew  138–141, 144

Luftkrieg  11, 83–84, 89, 92, 202, 278 Luftschiff  75, 88, 91–92, 96, 265 Männlichkeit  57, 107, 114, 273 McLuhan, Marshall  252–253 Meer  82, 84, 88–89 Napoleon  75, 94–98 Office of Civilian Defense (OCD) 11, 21, 85, 186, 189, 197–200, 206, 208, 226, 262, 265, 270, 278 Paepcke, Walter  187–188 Paranoia  20, 28, 30, 94, 146, 159, 175 Parkarchitektur  108, 164 Penrose, Roland  115 Pfadfinder / Scouts  146–147, 160 Physiognomik  19, 52, 107, 148–151, 273 Picasso, Pablo  24 Pilot  57–58, 85, 133, 206, 208, 210, 218, 222, 258–259 Portmann, Adolf  58–63 Porträtmalerei  17, 19, 107, 109–111, 118, 129–130, 148–149 Reader (für die Analyse von Luftfotografien) 107, 134, 153, 159 Ritterlichkeit  57, 114–115, 273 Royal Academy of Arts  109–111, 117, 119, 121, 128– 129, 145, 162, 166 Scheinwerfer  92, 246, 257, 261, 265 Schlachtenmalerei  39, 67–69, 75–78, 80, 98 Schlachtfeld  16, 28, 32, 40, 49, 75–78, 98, 144, 167, 169 Schlieffen, Alfred von  74–76, 79, 98 Schmitt, Carl  16, 82–84 School of Light  241, 243 Schützengraben  56–58, 77, 171, 177 Sekula, Allan  23, 30, 147–148 Simmel, Georg  65–66, 141–144 Sizeranne, Robert de la  64, 67–79 Stadtplanung  11, 138, 182, 227 Steichen, Edward  158–159 Stellungskrieg  23, 28, 65, 170 Straßenbeleuchtung 260 Stümcke, Heinrich  64, 67, 80 Tasttafel  235, 270 Telefon  74–75, 79 Terrain  39, 42, 66 Trick  54–56, 113, 126, 129 University of Chicago  186–187, 222, 27 Utopie  90, 93–94 Vierte Wand  89 Virilio, Paul  15, 23, 75 Vismann, Cornelia  66, Vorkurs (Bauhaus) 22, 231, 234–235, 270 Waldheim, Jack  202, 209–210, 213–214 Wartime Commission, United States Office of Education  190–192, 275 Weiblichkeit 114 Wells, H. G.  94–95 Werbedesign  200, 206, 220 Zuschauer*in  31, 36–37, 39, 59, 62, 83, 86, 89