Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit: Zur Methode und Dogmatik der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte [1 ed.] 9783428542550, 9783428142552

Vor dem Hintergrund der historischen Methodendiskussion in der deutschen Staatsrechtswissenschaft betrachtet die Arbeit

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German Pages 543 Year 2016

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Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit: Zur Methode und Dogmatik der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte [1 ed.]
 9783428542550, 9783428142552

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1308

Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit Zur Methode und Dogmatik der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Von

Michael Wrase

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAEL WRASE

Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1308

Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit Zur Methode und Dogmatik der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Von

Michael Wrase

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14255-2 (Print) ISBN 978-3-428-54255-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84255-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Monografie stellt eine überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit dar, die im September 2012 an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht wurde. Rechtsprechung und Literatur wurden ergänzt und aktualisiert, soweit sich wesentliche Änderungen ergeben haben. Mein besonderer Dank gilt zuerst der Betreuerin der Arbeit, Frau Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Dr. h. c. Susanne Baer, LL.M. Die Jahre an ihrem Lehrstuhl haben mein wissenschaftliches Denken und Interesse maßgeblich beeinflusst. Ebenso danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Grimm, LL.M. für seine umfassende Zweitbegutachtung. Seine sozialhistorische Analyse der Grundrechtsentwicklung sowie Verbindung zur Methodik, besonders mit Blick auf die Bedeutung von Wirklichkeitsbezügen, waren für meine Untersuchung wegweisend. Darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Brun-Otto Bryde für die Möglichkeiten und Einsichten, die er mir im Rahmen meiner Referendarstation am Bundesverfassungsgericht eröffnet hat. Die rechtssoziologische und politikwissenschaftliche Perspektive auf das Gericht, die dem Buch zugrunde liegt, hat wesentlich von ihm profitiert. Dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und insbesondere seiner Präsidentin, Frau Prof. Jutta Allmendinger, Ph.D., habe ich nicht nur für die Übernahme der Druckkosten für dieses Buch, sondern für die Unterstützung zu danken, die ich in den vergangenen zweieinhalb Jahren erhalten habe. Den Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich über die Jahre einzelne Aspekte und Teile der Arbeit diskutiert habe, sei herzlich gedankt in der Hoffnung, die Kontakte und Gespräche in Zukunft fortzuführen. Ein besonderes Forum für diese Gespräche war und ist der Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit (BAR). Aus diesem Kreis möchte ich besonders Dr. Christian Boulanger hervorheben, der sich ausführlich mit einer frühen Fassung dieser Arbeit auseinandergesetzt hat. Ohne seine Ideen und sein Engagement für die Forschung zu Recht und Gesellschaft sähe die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum heute anders aus. Dipl. Pol. Anna Schulze hat mehrere Fassungen dieser Arbeit nicht nur ausführlich gelesen und lektoriert. Ihre inhaltlichen und stilistischen Hinweise waren auch eine unschätzbare Grundlage für die Überarbeitung.

6 Vorwort

Meine Partnerin und Ehefrau Frauke Jakobs hat in den Jahren, in denen diese Arbeit (und einiges Andere) entstanden ist, auch schwierige Phasen mit durchgemacht. Ihre Liebe und Unterstützung haben in mir immer die Zuversicht erhalten, die „Diss“ schließlich zu einem guten Abschluss zu bringen. Das Buch ist meinen Eltern und meinem Bruder gewidmet. Oxford im Juni 2015

Michael Wrase

Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘: Juristische Methodenlehre und gericht­ liche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 B. Vom staatsrechtlichen Positivismus zur methodischen Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Die Entstehung der juristischen Methode und ihre Übertragung auf das Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Die Ursprünge der juristischen Methode im Privatrecht des 19. Jahrhunderts bei Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Die Übertragung der juristischen Methode auf das Öffentliche Recht durch Gerber und Laband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 c) ‚Aufbruch‘ in der Methodenlehre am Anfang des 20. Jahrhunderts: Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz . . . . . . . . . . . . 57 d) Zwischenfazit: Positivismus und Leerlauf der Grundrechte . . . . . 60 2. Wandel des staatsrechtlichen Methodenverständnisses in Weimar . . . 61 a) Die positivistische und die antipositivistische Strömung im sogenannten Methodenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 aa) Die positivistische Richtung, insbesondere die Rechtslehre Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Die antipositivistische Richtung, am Beispiel von Kaufmann und Heller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 cc) Zwischenfazit: Die methodische Öffnung im Denken der Weimarer Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Ansätze für eine Aktualisierung der Grundrechtsbindung – Die Grundrechte bei Schmitt und Smend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 aa) Die Grundrechte bei Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 bb) Die Grundrechte in der Integrationslehre Smends . . . . . . . . . . 81 c) Richterliches Prüfungsrecht und Grundrechtsbindung des Gesetzgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 d) Zwischenfazit: Die Ablösung des Positivismus und das ‚Rätsel‘ der Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Der Bruch mit dem Positivismus und die Entwicklung einer Methode aus dem Selbstverständnis des Bonner Grundgesetzes und seines ‚Hüters‘, des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

8 Inhalt 1. Der Bruch mit dem methodischen Positivismus unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Der grundrechtstheoretische Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Das fortbestehende ‚Rätsel‘ der Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . 94 2. Die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts: Ungewissheit über Status und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Die Entscheidungen des Parlamentarischen Rats und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Die Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . . . . . . . . 102 c) Das methodologische Vorverständnis der ersten Richtergeneration. 107 3. Die Begründung von Autorität und Deutungsmacht . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Deutungsmacht und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Kämpfe um Autorität gegenüber der Regierung . . . . . . . . . . . . . . 120 aa) Auseinandersetzung um den Status des Bundesverfassungs­ gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 bb) Der Streit um die Wiederbewaffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Kämpfe um Deutungsmacht gegenüber den Bundesgerichten, speziell dem Bundesgerichtshof: Der Gutachtenstreit . . . . . . . . . . . . . 126 4. Weichenstellungen der Grundrechtsdogmatik durch den Ersten Senat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Die Verfassungsbeschwerde als prozessualer ‚Entwicklungsmotor‘ der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Die Elfes-Entscheidung vom 16. Januar 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) Das wertbezogene Grundrechtsverständnis bei Wintrich und Dürig  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Das Elfes-Urteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Der Beschluss zur steuerlichen Zusammenveranlagung von Eheleuten vom 7. Mai 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 d) Das Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Sich zuspitzende Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Die Grundlinien des Lüth-Urteils  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 e) Das Apotheken-Urteil vom 11. Juni 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5. Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Die Neuformierung der Staatsrechtslehre in der Nachkriegszeit . . . . 160 a) Die Staatsrechtslehre und die Bewältigung der NS-Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Die Diskussion um die „Methoden der Verfassungsinterpretation“ und die Bedeutung der Smend- und der Schmitt-Schule . . . . . . . . . . 165 a) Die Smend-Schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) Die Schmitt-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Der Beitrag Forsthoffs zur „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Inhalt9 3. Der topische Ansatz in der verfassungsrechtlichen Methodendiskus­ sion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Die Topik nach Viehweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Die „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ von Ehmke  . . . . 181 4. Praktisch-hermeneutische Interpretationskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Einfluss der Neuen Hermeneutik in der juristischen Methodik . . 184 aa) „Normstruktur und Normativität“ von F. Müller . . . . . . . . . . . 190 bb) Fortentwicklung des Normbereichskonzepts in den „Grundzügen des Verfassungsrechts“ von Hesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ von Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 aa) Die institutionelle Grundrechtstheorie nach Häberle . . . . . . . . 198 bb) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . 200 cc) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5. „Bestandsaufnahme und Kritik“ zur Methodendiskussion  . . . . . . . . . 207 6. Zwischenfazit: Neuorientierung in der verfassungsrechtlichen Methodendebatte unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 C. Konkretisierung der Grundrechte durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Historische Interpretation im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4. Systematik, insbesondere Einheit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Wertsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Einheit der Verfassung als zentrales Auslegungsprinzip . . . . . . . . 232 c) Systematik der Grundrechtsvorbehalte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 d) Grundrechtsbeschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht . 236 5. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6. Zwischenfazit: Leistungsfähigkeit der herkömmlichen Interpretations­ methoden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation . . . . . . . 240 1. Normkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3. Verwendungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4. Juristischer Diskurs und Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5. Zwischenfazit: Grundrechtsinterpretation ist schöpferische Konkretisierung in institutionellen Kontexten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung . . . . 255 1. Zum Begriff der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Funktionen der (Grund-)Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Stabilisierungs- und Rationalisierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . 259

10 Inhalt b) Entlastungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 c) Systematisierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 d) Wertungs- und Steuerungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 e) Kritik- und Fortbildungsfunktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Dogmatik und ‚System‘ – am Beispiel des staatlichen Informationshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation durch eine übergreifende Grundrechtstheorie des Grundgesetzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Die ‚Suche‘ nach einer Grundrechtstheorie des Grundgesetzes . . . . . 273 a) Das Petitum Böckenfördes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Systematisierung auf der Grundlage einer einheitlichen Grundrechtstheorie?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Die Abwehrrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 a) Die Abwehrfunktion als ‚klassische‘ Grundrechtsfunktion? . . . . . 276 b) Abwehrfunktion als Hauptfunktion des Grundrechtsschutzes . . . . 279 c) Rückkehr zum abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis? Die Position Böckenfördes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 d) ‚Rekonstruktion‘ des Abwehrrechts? Der dogmatische Ansatz bei Schlink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 e) Erweiterung des Eingriffsbegriffs und reflexives Grundrechtsverständnis, insbesondere mit Blick auf Privatrechtskonstellationen . 291 f) Abwehrrechtliches Grundrechtsverständnis und soziale Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Grundrechte als Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 a) Prinzipien als Optimierungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 b) Freiheitsbegriff und weite Tatbestandslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 4. Zwischenfazit: Von den Problemen einer übergreifenden Grundrechtstheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte und ihre funktionell-rechtlichen Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Multifunktionalität des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 a) Multifunktionalität des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 b) Gefahr der Ubiquität des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Die subjektive und die objektive Dimension der Grundrechte . . . . . . 314 a) Objektive Normgehalte und subjektive Rechtsposition(en) . . . . . . 315 b) Grundrechte als Sicherung grundlegender subjektiver Belange durch objektive Ausgestaltungsaufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 c) Speziell: Rundfunk-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . 320 3. Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Abwehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 b) Ausstrahlungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Inhalt11 c) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 d) Leistungs- und Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 e) Einrichtung und Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 f) Organisation und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 g) Allgemeiner Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote . . . . . . 356 4. Zwischenfazit: Multifunktionalität als Ausdruck eines materialen Grundrechtsverständnisses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 II. Gewährleistungsgehalt und funktionale Grenzen der verfassungsrechtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 1. Gewährleistungsgehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 a) Weites Tatbestandsmodell und allgemeine Abwägungsregel . . . . . 366 b) Enges Tatbestandsmodell und generelle Vorrangsregel . . . . . . . . . 370 c) Abwägung: Rationalität der Kontrolle durch Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 aa) Legitimer Zweck und Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 cc) Erforderlichkeitskontrolle bei Einschätzungs- und Prognoseentscheidungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 dd) Überprüfungs- und Kontrollaufträge – am Beispiel der Rechtsprechung zur gemeinsamen elterlichen Sorge bei nichtehelichen Kindern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 ee) Zwischenfazit: Rationale Kontrolle durch Prüfung von gesetzgeberischen Wirklichkeitsannahmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 2. Funktionell-rechtliche Grenzen der verfassungsrechtlichen Kontrolle  . 393 a) Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers  . . . . 395 b) Verfassungskonforme Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 c) Folgenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 d) Prüfung spezifischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 3. Zwischenfazit: Funktionelle Aufgabenverteilung und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 E. Grundrechtsinterpretation als Konkretisierung zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 I. Normkonkretisierung und Steuerung durch problembezogene Entwicklung von Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 1. Steuerung in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 a) Steuerung der Rechtsordnung als Mittel der Sozialsteuerung . . . . 405 b) Steuerung der fachgerichtlichen Rechtsprechung und (mittelbar) der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 aa) Steuerung der Verwaltung über die Steuerung der Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 bb) Steuerung der Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

12 Inhalt c) Dogmatische Maßstäbebildung als Mittel der problemorientierten Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 aa) Dogmatische Maßstabsbildung im Rahmen spezifischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 bb) Problembezogene Entwicklung von dogmatischen Maßstäben am Beispiel der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit . . . . . . 413 cc) Verfassungsgerichtliche Interventionen und ihre Fortentwicklung in der fachgerichtlichen Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . 418 dd) ‚Nachfassen‘ bei Nichtumsetzung durch die Fachgerichte . . . 420 d) Direkte Steuerung der Gesetzgebung über Normenkontrolle . . . . 422 aa) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 bb) Konkrete Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 cc) Unmittelbare und mittelbare Überprüfung von Gesetzen im Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 dd) Praxis der Steuerung durch verfassungsgerichtliche Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 e) Weitergehende Steuerung: Gesetzgebungsaufträge und Vorwirkungen im parlamentarischen Verfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 aa) Primär- und Sekundäradressaten von Gesetzgebungsaufträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 bb) Vorwirkungen im politischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 f) Zwischenfazit: Die spezifische Steuerungsfunktion gegenüber Fachgerichten und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2. Normkonkretisierung als Vermittlungsaufgabe zwischen Normdeutung und dogmatischer Steuerung – am Beispiel der Rechtsprechung zur Privatautonomie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 a) Semantische Kämpfe um das ‚richtige Verständnis‘ der Privatautonomie in der Zivilrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 b) Die Handelsvertreter-Entscheidung vom 7. Februar 1990 . . . . . . . 439 c) Die Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 . . . . . . . . . . 444 d) Die Unterhaltsverzichtsentscheidung vom 6. Februar 2001 . . . . . 451 e) Zwischenfazit: Problembezogene (Fort-)Entwicklung der Rechtsprechung zur Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 II. Grundrechtsinterpretation als problembezogene Konkretisierung unter Einbeziehung des sozialen Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 1. Die Einbeziehung von Sozialwirkungen in die Interpretation: Theoretische (Re-)Konstruktion des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2. Juristische Mediatisierung grundrechtlicher Problemlagen . . . . . . . . . 463 a) Transformation in einfach-rechtliche Rechtskonflikte  . . . . . . . . . 464 b) Mediatisierung und sozialer Bezug der Grundrechte . . . . . . . . . . . 465 c) Problembezogene Entwicklung des Gewährleistungsbereichs – am Beispiel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . 468

Inhalt13 3. Soziologische Verfassungsrechtswissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 a) Problembezogene Grundrechtsinterpretation und soziale Wirkungsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 b) Zum Vergleich: Die sozialwissenschaftliche und interdisziplinäre Öffnung der Rechtswissenschaften in den Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 c) Arbeitsteiliger und integrativer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 d) Sollen und Sein in der Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . . . . . . 484 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

a. F.

alte Fassung

AcP

Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift)

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AfP

Archiv für Presserecht (Zeitschrift)

AöR

Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift)

ApothG Apothekengesetz ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zeitschrift)

Atw

Internationale Zeitschrift für Kernenergie

Aufl. unveränd. Auflage unverändert BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BayVwBl

Bayerische Verwaltungsblätter

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH Bundesgerichtshof BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BKR

Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht

BT-Drucks.

Bundestag-Drucksache

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerfG-K

Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)

ebd.

ebenda

EStG Einkommenssteuergesetz EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EUV

Vertrag über die Europäische Union

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

Fn. Fußnote GG Grundgesetz

Abkürzungsverzeichnis15 grdl.

grundlegend

h. L.

herrschende Lehre

Herv. i. O.

Hervorhebung im Original

Herv. v. Verf.

Hervorhebung vom Verfasser

HFR

Humboldt Forum Recht (Zeitschrift)

HGB Handelsgesetzbuch i. S. d.

im Sinne des

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)

JBl.

Juristische Blätter (Zeitschrift)

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Zeitschrift)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JZ

JuristenZeitung (Zeitschrift)

KJ

Kritische Justiz (Zeitschrift)

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift)

Lfg.

Lieferung

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NZS

Neue Zeitschrift für Sozialrecht

RdJB

Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift)

Rn. Randnummer Rspr.

Rechtsprechung

S. Seite SGB Sozialgesetzbuch st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

stellv.

stellvertretend

u. a.

und andere

usf.

und so fort

VerwArch

Verwaltungsarchiv (Zeitschrift)

VfGH Verfassungsgerichtshof vgl.

vergleiche

Verf.

Verfasser

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatrechtslehrer

WM

Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht

WRV

Weimarer Reichsverfassung

16 Abkürzungsverzeichnis ZfRSoz

Zeitschrift für Rechtssoziologie

Ziff. Ziffer zit. n.

zitiert nach

ZNR

Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte

ZÖR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZParl

Zeitschrift für Parlamentsfragen

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZTR

Zeitschrift für Tarifrecht

ZVglRWiss

Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

Vorbemerkungen zur Zitierweise und Namensnennung Direkte Zitate aus fremden Werken sind mit Zitationszeichen gekennzeichnet. Bei unmittelbar aufeinander folgenden Zitaten aus derselben Quelle findet sich die Quellenangabe nach dem letzten Zitat. Längere Zitate beziehungsweise solche, die vom Verf. besonders hervorgehoben werden, sind eingerückt. Soweit im Zitat der Neudruck eines Werkes angegeben ist, wird aus dem unveränderten Neudruck zitiert. Halbe Anführungszeichen werden für einfache Hervorhebung und Betonung sowie Zitate im Zitat verwendet, Kursivdruck für besondere Hervorhebung und fremdsprachliche (Fach-)Begriffe. Namensnennungen im Text sind kursiv gedruckt. In der Regel wird nur der Nachname aufgeführt. Der Vorname ist (ausgeschrieben oder abgekürzt) nur zur Hervorhebung bei besonders bedeutenden Personen oder bei ansonsten bestehender Möglichkeit von Verwechslungen aufgeführt.

A. Einleitung I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch Betrachtet man den Literaturstand zum Thema Verfassungsinterpretation, so bietet sich mittlerweile eine große Fülle an unterschiedlichen theoretischen Ansätzen.1 Ähnliches gilt für die Grundrechtstheorie.2 Anliegen der verschiedenen Ansätze einer theoretisch-dogmatischen Durchformung ist es, eine Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation zu ermöglichen. Die Gewährleistung von Rationalität der Grundrechtsauslegung und -anwendung bezeichnet Hoffmann-Riem als ein Anliegen, das „wohl alle Verfassungsrechtler“ umtreibt.3 Grundrechtsauslegung ziele darauf, auf möglichst anerkannte Weise in der Gemeinschaft der Grundrechtsinterpreten anerkennungsfähige Ergebnisse zu gewinnen.4 Doch auf welche Weise kann Rationalität in diesem Sinne erzeugt werden? Kommers, der sich schon früh mit dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik und dem Bundesverfassungs­ gericht aus einer sozialwissenschaftlich-komparativen Perspektive befasst hat,5 gelangt mit Blick auf die Methodik der Grundrechtsinterpretation in Deutschland zu einer durchaus streitbaren, aber für die Thematik dieser Arbeit sehr interessanten Einschätzung: German legal theorists have commonly assumed that law and justice would thrive solely within the bosom of that perfect society known as the state. The Basic Law represents a major break from this tradition. It does not regard the state as the source of fundamental rights. The core of individual freedom, like human dignity 1  Überblicksbeiträge von Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpreta­ tion – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976; Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011; Riedel, Methoden der Verfassungsinterpretation im Wandel, 1990. 2  Etwa Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974; wiederabgedruckt in Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115 ff.; von Münch, in: Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2000, Vorb. Art. 1–19, Rn.  16 ff. 3  Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, 2004, S. 204; für das Verwaltungsrecht auch – statt vieler – Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 78. 4  Hoffmann-Riem, ebd., S. 207, unter Verweis auf Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen, 1986; zur Rationalität von rechtlichen Begründungen siehe auch Garrn, Zur Rationalität rechtlicher Entscheidungen, 1986. 5  Grdl. Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976.

18

A. Einleitung

itself, is anterior to the state. Thus, law and justice, as we have seen now, measure the validity of governmental actions, including judicial decisions. Inalienable rights, justice, values, and other such notions arguably present in the Basic Law militate against the methodology of legal positivism. And yet, for all that, and of immediate interest to us, the approach to judicial reasoning in Begriffsjurisprudenz has outlasted positivism and has had a lasting influence throughout Europe, including Germany. As we shall see, German constitutional scholars […] have made significant attempts to build a theory of judicial decision based on reason and logic.6

Diese Aussage ließe sich auf den ersten Blick möglicherweise dahin verstehen, Kommers würde Teilen der bundesdeutschen Verfassungsrechtswissenschaft vorwerfen, diese seien – zumindest aus einer historischen Perspektive betrachtet – dem begriffsjuristischen Denken Puchtaʼscher Prägung7 oder ganz allgemein Residuen eines positivistischen Methodenverständnisses8 verhaftet. Das wäre ganz sicher eine Einschätzung, die sich mit Blick auf die Entwicklung der Methodenlehre und die vielfältigen Ansätze in der Verfassungs- und Grundrechtstheorie als nicht haltbar erweisen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Bleiben wir aber nicht bei dieser Deutung stehen, sondern fragen uns, was Kommers stattdessen meinen könnte, wenn er im Zusammenhang mit der methodischen Behandlung der Grundrechte von einem Einfluss der Begriffsjurisprudenz spricht, dann kommen wir dem Kern der Sache näher. Es scheint, als wolle er – als Komparatist, dessen Blick sich von der stark rechtsrealistisch geprägten angloamerikanischen Rechtskultur nach Kontinentaleuropa und speziell Deutschland wendet9 – eine bestimmte Art des wissenschaftlichen Denkens und Handelns über das Verfassungsrecht, eine Methodik10, beschreiben, die 6  Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 1997, S. 41; vgl auch Stone Sweet, Governing with Judges – Constitutional ­Politics in Europe, 2000, S. 146 ff. 7  Eine umfassende und differenzierte Darstellung findet sich bei Haferkamp, ­Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004. 8  So betrachtete Max Weber das formal-abstrakte Recht als höchsten Grad der Rationalisierung, erkannte aber zugleich bereits notwendige Tendenzen der modernen Rechtsentwicklung zu einer zunehmenden Auflösung des Rechtsformalismus zugunsten materieller Kriterien, Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 / 22 (Neudruck 1972), insbesondere S. 331 ff., 468 ff., 504 ff., dazu Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 2007, S. 96 ff., und Uecker, Die Rationalisierung des Rechts – Max Webers Rechtssoziologie, 2005. 9  Zu den Interpretationsweisen in unterschiedlichen Rechtskulturen auch Dorsen et al., Comparative Constitutionalism, 2003, S. 138 ff., sowie Goldsworthy, Constitutional Interpretation, 2012. 10  Unter Methodik wird gewöhnlich zum einen die Lehre von der planmäßigen, das heißt methodischen Vorgehensweise verstanden und zum anderen die Wissenschaft von den Verfahrensweisen oder den Lehr- und Unterrichtsmethoden einer Wissenschaft, vgl. die Einträge in Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Du-



I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch19

darin liegt, rechtliche Rationalität in begrifflich-systematischen Abstraktionen zu suchen11 und dabei eine Grenze zwischen dem Recht und außerrechtlichen Kontexten zu ziehen.12 Gemeint ist dann das, was Schlink in der Tradition Labands als „Konstruktionsjurisprudenz“ bezeichnet.13 Es ist die „Tradition dogmatischer Rechtsprechung, die mit der Tradition dogmatischer Rechtswissenschaft entstand“.14 Juristische Entscheidungen sind danach an einem konstruktiven System auszurichten, das von der Rechtswissenschaft entwickelt und in der Rechtsprechungspraxis fortgeschrieben wird.15 In diesem Modell bringt die Rechtswissenschaft „Entscheidungen, die von den Gerichten verwendeten und die in der Rechtswissenschaft selbst entwickelten Gesetzesauslegungen und -anwendungen in ein System, und die Gerichte treffen ihre Entscheidungen aus dem System und auf es hin“.16 Als ein solches begrifflich-systematisches Vorgehen der Grundrechtsinterpretation zu verstehen wäre beiden – Deutsches Universalwörterbuch, 2007, S. 1140, Wahrig / Wahrig-Burfeind, Deutsches Wörterbuch, 2009, S. 870. Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode, 2004, S. 139, begreift „juristische Methodik“ im Anschluss an Friedrich Müller als die „systematisch reflektierende Gesamtkonzeption […] juristischer Arbeitsweise“. Hier und im Folgenden wird der Begriff verwendet im Sinne eines übergreifenden praktischen Denk- und Arbeitsstils, der das methodische Vorgehen anleitet; zum „Denkstil“ aus wissenssoziologischer Perspektive grdl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935 (Neudruck 1985); auch Knoblauch, Wissenssoziologie, 2005, S. 237 ff.; siehe auch unter A. II. 11  Vgl. Haverkate, Jurisprudenz: Wissenschaft und Politik – Dogmatische Rechtswissenschaft und „richtiges Recht“, 1975, S. 296 f.; dezidiert für ein „nach-positivistisches“ Methodendenken Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 9 ff. 12  Kritisch etwa Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 147: „In Europe, the social power of public law scholars has depended critically on their capacity to insulate the law from the social world, and especially from ‚politics‘: the world of political parties, ideologies, interests, and ‚non-legal‘ values. This way of doing things – the maintenance of the law / politics distinction as an article of disciplinary faith – has reproduced itself over many generations. That Continental legal scholarship is highly formalist, relatively immune to critical perspectives on the law, largely disinterested in questions of legal interpretation, but none the less committed to enhancing the prestige and legitimacy of doctrinal and judicial power are tendencies that have been widely commented upon.“ 13  Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, 1989, S. 165 ff. 14  Schlink, Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungswissenschaft im Wandel, 2007, S. 160; vgl. auch Bourdieu, La force du droit, 1986. 15  Zur zivilrechtlichen Tradition im deutschen Recht sowie der Juristenausbildung und „legal scholarship“ und deren Einfluss auf die Verfassungsauslegung Kommers, Germany: Balancing Rights and Duties, 2006, S. 207 ff. 16  Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007, S. 160.

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A. Einleitung

spielsweise der Versuch, nach einer systematischen Grundrechtstheorie des Grundgesetzes zu suchen, die unterschiedliche übergreifende Figuren der Grundrechtsdogmatik wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder die Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht erklären und einordnen kann, oder eine kohärente Systematik der Grundrechtsschranken zu entwickeln beziehungsweise die grundrechtlichen Gewährleistungen weitgehend auf ein einziges dogmatisches Grundverständnis – etwa das von Abwehrrechten – zurückzuführen. Im Folgenden soll die genannte methodische Art, über Grundrechte und Grundrechtsinterpretation nachzudenken und diese wissenschaftlich zu behandeln, als eine Denkweise vom System her17 bezeichnet und idealtypisch mit einer stärker material-problembezogenen Methodik der Grundrechtsinterpretation kontrastiert werden. Was ist damit gemeint? Grob skizziert lässt sich sagen: Das Gerechtigkeitsproblem liegt einer normativen Betrachtung der Grundrechte voraus. Es stellt an diese die Frage seiner adäquaten Adressierung, die erst anschließend im Wege der dogmatischen Konkretisierung der jeweiligen Gewährleistungsbereiche zu leisten ist. Hierzu folgendes Beispiel: Haben Rechtssuchende aufgrund ihrer Vermögens- und Einkommensverhältnisse faktisch keine Möglichkeit, zur Durchsetzung ihrer Ansprüche gleichberechtigten Zugang zu den Gerichten zu erhalten, so ist dies praktisch betrachtet ein Problem des effektiven Rechtszugangs. Die verfassungsrechtliche Dogmatik hat auf dieses Problem durch eine Erweiterung des Justizgewährleistungsanspruchs über Art. 3 Abs. 1 GG in Zusammenspiel mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG reagiert.18 Dahinter steht eine grundsätzliche Überlegung: Ein zentraler Aspekt von Rechtsstaatlichkeit ist es, die eigenmächtig gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zu verhindern und die Parteien auf den Weg vor die Gerichte zu verweisen. Das bedingt, dass der Staat Gerichte einrichtet und jedem einen auch tatsächlich gleichen Zugang zu den Justizorganen ermöglicht (Justizgewährleistungsanspruch). Daraus wiederum folgt die Pflicht von Gesetz­ gebung und rechtsanwendenden Organen, Vorkehrungen zu treffen, um die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes anzugleichen.19 Ein solcher Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit lässt sich konstruktiv nur unter erheblichen Schwierigkeiten auf die überkommene Systematik des Art. 3 Abs. 1 GG stützen, da der Gleichheitssatz den Ausgleich sozialer Ungleichheiten normalerweise gerade nicht 17  Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, S.  16 ff. 18  Grdl. BVerfGE 81, 347 (356 f.). 19  So bereits BVerfGE 9, 124 (131), dort allerdings noch auf Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gestützt; siehe des Weiteren aus der st. Rspr. unter anderem BVerfGE 22, 83 (87); 63, 380 (394); 78, 104 (117 f.).



I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch21

gebieten soll.20 Aus einem Verständnis heraus, das sich an den materialen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips mit Blick auf das Problem der fehlenden Eigenmittel von Prozessführenden orientiert, erscheint die Konstruktion mithin zwar systematisch nicht als zwingend, normativ-inhaltlich betrachtet erscheint sie jedoch als einzig richtige. Im vorliegenden Verständnis werden System und Problem nicht als unversöhnliche Gegensätze begriffen; vielmehr wird das systematische Denken der Rechtsdogmatik an die Problemlösungsebene rückgekoppelt. Das Problem ist hierbei jedoch nicht einfach mit dem jeweils zu entscheidenden Fall gleichzusetzen. Das Gegenteil wird von Kritikern des problemorientierten Methodenansatzes oft behauptet um damit den Vorwurf einer kasuistischen Rechtsfindung zu untermauern in dem Sinne: was sich nicht an einem vorgegebenen System orientiert, ist kasuistisch.21 Vielmehr wird dem traditionellen Denken zwischen System und Fall eine Zwischenstufe hinzugefügt, die mit dem Begriff des Problems näher bezeichnet wird und die für das methodische Verständnis der Grundrechtsdogmatik, wie sie in der judikativen Praxis entwickelt wurde, hilfreich ist. Um das obige Beispiel aufzugreifen, läge – jenseits der konkreten Umstände des Falls – das grundrechtliche Problem in der Frage nach einer staatlichen Leistungspflicht für alle Fälle, in denen Rechtsschutzsuchende nicht über die erforderlichen Mittel für die Rechtsverfolgung verfügen. Ausgangspunkt bildet dabei ein materiales, das heißt über das negative Freiheitsdenken der liberalen Abwehrdoktrin hinausgehendes Grundrechtsverständnis,22 das die Einbeziehung der sozialen Voraussetzungen und Bedingtheit der Freiheitsverwirklichung in die Grundrechtsinterpretation verlangt, nach dem Bundesverfassungsgericht – wie wir sehen werden – sogar mit der Maßgabe höchstmöglicher rechtspraktischer Wirksamkeit.23 Unter Materialisierung wird damit ein in Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen Formalrecht entwickeltes inhaltlich fundiertes Freiheitsdenken gefasst, das in seiner Konsequenz die Öffnung der juristischen Argumentation gegenüber Gerechtigkeits- und Zielsetzungsargumenten in realen gesellschaftlichen Kontexten notwendig macht.24 In ähnlicher 20  Ausführlich zur Problematik Huster, Rechte und Ziele – Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 419 ff. 21  Stellvertretend die Kritik von Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007, S. 160: „reaktive, situative Kasuistik“. 22  So auch Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 3, 66 ff., der ausgehend von der vorrangigen Abwehrrechtsfunktion unterschiedliche weitere Grundrechtsfunktionen (Schutz, Leistung, Organisation und Verfahren) begründet. 23  Siehe unter B. II. 4. c). 24  Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1994, S. 300 ff. Vor dem Hintergrund seiner Kritik am überkommenen bürgerlich-liberalen und am wertorientierten sozial-

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A. Einleitung

Weise, wenn auch nicht unmittelbar mit Bezug auf soziale Verhältnisse, charakterisiert Volkmann das Grundgesetz als eine materiell aufgeladene Verfassung. Durch Begriffe wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Sozialstaat würden praktische Gerechtigkeitsansprüche erhoben, die den Einzug moralischer Vorstellungen in das Verfassungsrecht und seine Auslegung implizierten.25 Das Problem der Konkretisierung von materialen Grundrechtsgehalten hat das Bundesverfassungsgericht schon zu Beginn seiner Rechtsprechung mit dem Topos der ‚objektiven Wertentscheidung‘ adressiert; auf die dahinter stehende Entwicklung soll später genauer eingegangen werden.26 In diesem Zusammenhang ist auf eine kleinere Differenzierung im Wortgebrauch hinzuweisen, die in der Arbeit an verschiedenen Stellen bewusst eingesetzt wird. Soweit allgemein auf ein an inhaltlichen (nicht rein formalen) Gerechtigkeitsansprüchen orientiertes Normverständnis Bezug genommen wird, soll von materiellen Gehalten gesprochen werden. Der Begriff material hingegen wird gebraucht, um die Einbeziehung der auf die soziale Wirklichkeit bezogenen Gerechtigkeitsansprüche hervorzuheben. Es wird in der vorliegenden Studie keine neue Methodik oder Theorie der Grundrechtsinterpretation entwickelt. Die Leserin wird im Folgenden auch keinen Versuch einer Definition finden, mit der die Kategorie des Problems in die gängigen Schemata rechtsmethodischer Auslegungsmaximen eingeordnet wird. Vielmehr soll die Problemorientierung verfassungsjuristischen Denkens anhand der sie in der Praxis charakterisierenden Elemente dargestellt werden, von denen drei der wesentlichsten wie folgt umschrieben seien: (1) Konkretisierung,27 (2) Steuerung28 und (3) Kontextualisierung29. Konkretisierung meint dabei allgemein gesprochen den Prozess der Sinn­ ermittlung beziehungsweise Sinngebung,30 durch den die abstrakten Be­ griffe des Grundrechtsteils der Verfassung in einer Weise in dogmatischen Figuren und Sätzen ausdifferenziert werden, dass sie für einzelne Anwendungsfälle verständlich sind und den Rechtsanwendenden in konkreten Sistaatlichen Modell entwickelt Habermas ein prozeduralistisches Verfassungsverständnis, welches die Rationalität des Rechtsfindungsprozesses in den Bereich der Kontrolle von Teilhabe- und Verfahrensbedingungen verlagert. 25  Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S.  45 ff. 26  Siehe unter B. II. 4. 27  Siehe unter C. II. 1. 28  Dazu unter E. I. 1. 29  Dazu unter E. I. 30  Zu den sprachwissenschaftlichen Einsichten über Interpretation als aktiver Deutungs- und Sinngebungsprozess ausführlich unter C. II.



I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch23

tuationen handlungsleitende Vorgaben machen (können). Die Konkretisierung geschieht also durch die Entwicklung und Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik.31 Eng damit verbunden ist der Steuerungszweck: Durch die dogmatischen Maßstäbe, die abstrakt formuliert sind und damit über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgehen, werden für die Gesetzgebung beziehungsweise die rechtsanwendenden Instanzen generelle Handlungs- und Entscheidungsvorgaben formuliert, die auch in zukünftigen Fällen zu beachten und umzusetzen sind. Eine solche Bildung von dogmatischen Maßstäben geht dabei vom Normzweck aus und erfolgt mit Blick auf den gesetzgeberischen, einfach-rechtlichen sowie den zu regelnden sozialen Kontext, auf den die Rechtssetzung oder -anwendung einwirkt, der aber umgekehrt auch die Maßstabsbildung beeinflusst. Es geht mit anderen Worten um die Einbeziehung von Sozialwirkungen in die interpretationsgeleitete Konkretisierung von materialen Grundrechtsgehalten. Unter diesen Gesichtspunkten ist die jeweilige Ebene der dogmatischen Maßstabsbildung abstrahierend, das heißt über den Einzelfall hinausgehend, zu bestimmen. Die Behandlung des Problems erfolgt im Sinne ihres spezifischen Konkretisierungs- und Steuerungszwecks in den jeweils betroffenen Kontexten, mit denen „unterschiedliche Prozesse der Regulierung“, etwa im Bereich des Medien-, des Versammlungs- oder Ausländerrechts, gezielt beeinflusst werden sollen.32 Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Sinn als Beitrag zu einer Wissenschaft des öffentlichen Rechts als „problemlösungsorientierter Entscheidungswissenschaft“33. Eine solche ist durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet: Konstituierend sind die steuerungstheoretische Perspektive auf das Recht34 sowie die Einbeziehung der Wirkungsebene in die rechtliche Betrachtung.35 Entscheidendes Augenmerk liegt zugleich auf der historischen Entwicklung, besonders in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts, und ihren verschiedenen Pfadabhängigkeiten, die verfassungsrechtliches Denken und seine Methoden geprägt haben und fortlaufend prägen, 31  Zu

den Funktionen der (Grund-)Rechtsdogmatik siehe unter C. III. 2. den Ebenen, Modi und Dynamiken der Regulierung durch Recht (und seine Anwendung) Baer, Rechtssoziologie – Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, 2011, S. 187 ff. 33  Hoffmann-Riem, Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation – zur Einführung, 2011, S. 10; Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2006, Rn. 15. 34  Grdl. für die „neue“ Verwaltungsrechtswissenschaft Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, 1993; kritisch, wenn auch der Richtung grundsätzlich zustimmend Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine „Revolution auf dem Papier“?, 2007. 35  Vgl. Hoffmann-Riem, Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation, 2011, S.  10 f. 32  Zu

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sowie dem sozialen Kontext der Verfassungsdogmatik.36 Wie Voßkuhle mit Blick auf die Verwaltungsrechtswissenschaft hervorhebt, liegt gerade in der Rationalisierung nicht normativer Entscheidungsfaktoren das „zentrale Anliegen“37 einer zeitgemäßen (rechts)wissenschaftlichen Betrachtung; dies kann für die heutige Verfassungsrechtswissenschaft nicht minder gelten. Sie verlangt nach einer partiellen Verknüpfung der juristischen Binnen- mit der interdisziplinären Außenperspektive.38 Die zentralen Akteure, die Grundrechtsinterpretation ‚lebendig‘ werden lassen, sind Verfassungsgerichte. Vor dem Hintergrund, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen „weltweiten Siegeszug“ erlebt hat, der maßgeblich auch durch die bundesdeutsche Verfassungspraxis inspiriert und beeinflusst worden ist,39 wird das demokratietheoretische Problem einer zunehmenden Justizialisierung (judicialization) politischer Entscheidungsprozesse intensiv diskutiert.40 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein enger Zusammenhang zwischen einer extensiven Interpretation verfassungsrechtlicher Bestimmungen und einer zunehmenden Verrechtlichung politischer Entscheidungsprozesse besteht und dies besonders für die bundesdeutsche Grundrechtsdogmatik eine ständige Herausforderung darstellt.41 Für die Bundesrepublik, anders als für Staaten mit einer relativ jungen Verfassungsgerichtsbarkeit, liegt darin allerdings keine Neuheit. Vielmehr hat gerade das Bundesverfassungsgericht von Anfang an eine überaus machtvolle Stellung im bundesdeutschen Verfassungsgefüge für sich beansprucht und – gegen anfänglichen Widerstand – durchgesetzt.42 Dass hiervon auch die Methodik der Grundrechtsinterpretation, etwa das Verständnis der Grundrechte nicht nur als subjektive Rechte der Einzelnen, 36  Für eine stärkere Kontextualisierung in diesem Sinne auch Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 256 f. 37  Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2006, Rn. 15 a. E. 38  Vgl. Vesting, Nachbarwissenschaftlich informierte und reflektierte Verwaltungsrechtswissenschaft – „Verkehrsregeln“ und „Verkehrsströme“, 2004. 39  von Steinsdorff, Verfassungsgerichte als Demokratie-Versicherung? Ursachen und Grenzen der wachsenden Bedeutung juristischer Politikkontrolle, 2010. 40  Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, der die Verrechtlichung politischer und sozialer Konflikte als einen triadischen Prozess auffasst; sehr kritisch Hirschl, Towards Juristocracy – The Origins and Consequences of the New Constitutionalism, 2004, der die Ausweitung von judicial review als ein hegemoniales Projekt begreift mit dem Ziel, bestimmte politische Fragen dem Druck der öffentlichen Auseinandersetzung zu entziehen, ohne sich allerdings näher mit den möglichen Gefahren und Defiziten des demokratischen Mehrheitsprozesses (etwa bei der Sicherung von Minderheitenrechten) auseinanderzusetzen. Auf die Debatte kann hier nur hingewiesen werden. 41  So auch Goldsworthy, Introduction, 2006. 42  Dazu unter B. II. 3.



I. Grundrechtsinterpretation unter Rationalitätsanspruch25

sondern als objektive wertsetzende Normen,43 mit beeinflusst worden ist, soll in der Arbeit genauer dargelegt werden.44 Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ in Würde, Selbstbestimmung und Gleichheit, wie sie das Grundgesetz gleich am Anfang seines Grundrechtskatalogs postuliert, lässt sich – in ihrer feierlichen Offenheit – als Leitbild für durchaus unterschiedliche gesellschaftspolitische Programme und grundrechtstheoretische Richtungen reklamieren.45 Ihre (verfassungs)richterliche Interpretation aber muss sich als gegenüber unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzungsfähig erweisen. An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, dass in der gegenwärtigen politikwissenschaftlichen Analyse vor allem auch die demokratiefördernden Effekte einer anti-majoritären Kontrolle von parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen durch Verfassungsgerichte hervorgehoben werden,46 und die zentrale Stellung des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik – angesichts eines überaus hohen Institutionenvertrauens und internationaler Vorbildfunktion47 – kaum bestritten ist. Darin liegt aber zugleich die Herausforderung, die methodische Praxis des Gerichts zu reflektieren und nicht hinter dem Schleier rein dogmatischer Rationalität zu verbergen.48 Gerade die jüngere politikwissenschaftliche Forschung zur 43  Zur Besonderheit dieses (Grundrechts-)Verständnisses im internationalen Vergleich Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004. 44  Die nicht leicht zu beantwortende Frage, inwiefern der Einfluss des Verfassungsgerichts auf den politischen Prozess auch dysfunktionale Effekte für die Demokratie haben kann, ist hingegen nicht Gegenstand der vorliegenden methodologischen Betrachtung, spielt allerdings im Rahmen etwa der funktionell-rechtlichen Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle eine wichtige Rolle. Grundrechtsschutz durch Verfassungsgerichte darf nicht ubiquitär werden und zentrale politische Entscheidungsfragen primär in die Hände von Richterinnen und Richtern legen, soll der parlamentarische Entscheidungsprozess nicht Schaden nehmen. Vgl. unter D. I. 1. b). 45  Das Spektrum bewegt sich klassischerweise zwischen Paradigmen des bürgerlichen Formalrechts und des sozialstaatlich materialisierten Rechts; vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 239; die wohl bekannteste idealtypische Auflistung verschiedener Grundrechtstheorien findet sich bei Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974 ff. 46  Etwa Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure – Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie, 2009, S.  308 ff. 47  Vgl. von Steinsdorff, Verfassungsgerichte als Demokratieversicherung?, 2010: „Die Errichtung von Verfassungsgerichten nach westeuropäischem Muster erwies sich in allen post-sozialistischen Transformationsländern als ‚Exportschlager‘ der Demokratisierung […] Ähnliches gilt für die (Re-)Demokratisierungsprozesse in Südafrika und mehreren lateinamerikanischen Ländern“. 48  Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 46: „Reflexive Rechtswissenschaft […] nimmt Recht nicht einfach als gegeben hin und arbeitet mit einer Geltungsvermutung. Viel-

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Arbeit von (Verfassungs-)Gerichten hat in diesem Sinne empirische Einsichten ermöglicht und auch theoretische Ansätze (weiter)entwickelt, auf die an verschiedenen Stellen der Arbeit Bezug genommen wird.49

II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘: Juristische Methodenlehre und gerichtliche Praxis Unter Methode versteht man allgemein ein planmäßiges Vorgehen zur Erlangung bestimmter Ergebnisse. Juristische Methoden zielen in diesem Sinn auf rechtsverbindliche Entscheidungen und deren Begründung. Es geht somit um eine praktische Tätigkeit. Juristische Methodik kann vor diesem Hintergrund im Anschluss an Müller und Christensen als eine „systematisch reflektierende Gesamtkonzeption (verfassungs)juristischer Arbeitsweisen“ verstanden werden.50 Methodik verbindet damit Praxis und Theorie in der Weise, dass sie sich mit einer praktischen Argumentations- und Begründungstätigkeit befasst, die sich an theoretischen Überlegungen orientiert, letztere aber zugleich auch durch ihre Praxis hervorbringt und erneuert. Die methodologische Perspektive muss sich folglich gerade dieser Verbindung zwischen Praxis und Theorie zuwenden. Neuere Studien, die der Rechtsforschung im weiteren Sinne zuzuordnen sind,51 nehmen die sprachlichen, rhetorischen und diskursiven Praktiken der Rechtsakteure in den Blick und machen auch die semantischen Auseinandersetzungen oder Bedeutungskämpfe sichtbar, die in juristischen Diskursen ausgetragen werden.52 Damit ist der Weg eröffnet, der in der vorliegenden mehr stellt sie reflexiv die Frage, warum es wo welches Recht gibt, was das be­ deutet und was es bewirkt, wie es entsteht und sich verändert, welche Akteure es prägen.“ 49  So analysiert Rehder, Rechtsprechung als Politik – Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, 2011, die Entwicklung von Rechtsprechung aus einer Perspektive des akteurszentrierten Institutionalismus; vgl. auch Lhotta, Die konstitutive Wirkung des Rechts und seiner Sprache: Judizielle Governance als diskursiver Wettbewerb um Deutungshoheit, 2012; zur Autorität und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts siehe Lembcke, Hüter der Verfassung – Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses – Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, 2010. 50  Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 – Grundlagen, Öffentliches Recht, 2004, Rn. 7. 51  Zu dem erweiternden Verständnis im Sinne einer interdisziplinären Rechtsforschung siehe Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 50 ff. 52  So beschreiben etwa Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 176 ff., den Bedeutungskonflikt als Gegenstand juristischer Entscheidung



II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘27

Arbeit beschritten wird, nämlich die richterliche Praxis – Hassemer spricht von „Pragmatik“53 – zum Ausgangspunkt eines realistischen Methodenverständnisses zu machen und damit die Ebene der praktischen Rechtsproduktion in die wissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen. Darin liegt kein „Rückfall hinter Kant und Kelsen“54 und keine Ableitung eines Sollens aus einem Sein55. Vielmehr eröffnet erst ein praxisorientiertes Methodenverständnis nach dem hier vertretenen Auffassung die Möglichkeit zur rechtstheoretischen Reflektion und Kritik tatsächlicher Rechts(herstellungs)prozesse und ermöglicht deren methodische Anleitung.56 Es erlaubt zugleich, juristisches Entscheidungs- und Begründungshandeln interdisziplinär und in seinen verschiedenen Facetten, das heißt wissenschaftlich mehrdimensional zu verstehen und zu analysieren.57 In der verfassungsrechtlichen Methodendebatte ist über die These nachgedacht worden, ob sich Verfassungsinterpretation von der methodischen Herangehensweise her grundsätzlich von der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts unterscheidet.58 Dass am methodischen Gleichlauf von Verfassungs- und Gesetzesauslegung Zweifel bestehen, hat einerseits mit dem Wesen der Verfassung als normativer Grundordnung des Staates als auch mit der sprachlichen Offenheit vieler Verfassungsbegriffe zu tun, wie wir sie vor allem in den Grundrechten, aber etwa auch bei den Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes finden. Andererseits ist offenkundig, dass auch einzelne Verfassungsnormen sprachlich so bestimmt sein können, dass sie sich von einem einfachen Verwaltungsgesetz kaum unterscheiden.59 Bei der Interpretation von einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Normen und zeigen die Verknüpfung von diskursiver und sozialer (Entscheidungs-)Praxis auf; ausführlich auch Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richter­ lichen Urteilens, 1999; ausführlich unter C. II. 53  Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2007, S. 249 ff. 54  Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit – Zum Problem eines interdisziplinären Grundrechtsverständnisses, 1982, S. 44. 55  Dazu ausführlich unter E. II. 3. d). 56  Vgl. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2007, S. 252: „Meine Hypothese ist derzeit eine dreifache: • Die Vernünftigkeit der Methodenlehre steht außer Frage; • ihre Komplexität aber erreicht bei weitem nicht die Komplexität des von ihr geregelten Feldes richterlicher Pragmatik; • will sie regulierend wirken, so muß sie sich dieses Feldes systematisch vergewissern und ihre Regeln auf diesen Gegenstand einstellen.“ 57  Vgl. Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 60 ff. 58  Jüngst etwa Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht – Was das Gericht zu dem macht, was es ist, 2011, S. 141 ff.; klassisch die Überlegungen bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 360 ff. 59  Vgl. etwa Art. 13 Abs. 3 GG, der sich von anderen Eingriffsnormen der Strafprozessordnung kaum unterscheidet.

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handelt es sich vielmehr um „strukturell gleichartige Vorgänge“.60 Folglich erscheint es nicht überzeugend, allein aus der sprachlichen Offenheit vieler Begriffe auf einen für die Methodik der Verfassungsauslegung relevanten Wesensunterschied der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetz zu schließen. Schließlich bekennt sich das Bundesverfassungsgericht, wie noch genauer dargelegt wird, ausdrücklich zu den herkömmlichen Methoden der Gesetzesauslegung.61 Wenn man vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass Verfassungs- und Gesetzesinterpretation im Ausgangspunkt denselben methodischen Anforderungen folgen,62 ist damit aber noch nicht alles ­gewonnen. Denn auch über die methodischen Prämissen der Gesetzesaus­ legung besteht heute keine uneingeschränkte Einigkeit. Vielmehr finden sich im wissenschaftlichen Feld der Juristischen Methodenlehre heute eine Vielzahl höchst unterschiedlicher theoretischer Ansätze, die von analytischen Argumentations-63 und Begründungstheorien64, rhetorischen Ansätzen65 bis hin zur sprachwissenschaftlich und philosophischen Hermeneutik66 reichen – und damit ist nur ein Ausschnitt aus einem breiten Theorienspektrum benannt.67 Für die vorliegende Arbeit soll es genügen, einige grundsätzliche Überlegungen vorwegzuschicken, die zugleich einen gewissen methodologischen Basisbestand und damit den rechtstheoretischen Ausgangspunkt der folgenden Darstellung markieren. Die Debatte ist dabei in vollem Gang. So zweifeln Rechtsmethodiker mit postmoderner Ausrichtung den Wert der traditionellen Methodenlehre für die wissenschaftliche Einschätzung und Anleitung der praktischen juristischen Interpretationsarbeit an.68 Diesen stehen Vertei60  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 565; Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 298 f. 61  Siehe unter C. I. 62  So etwa Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 183. 63  Insbesondere Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991. 64  Vgl. Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982. 65  Prominent Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004; zum Einfluss der Neuen Hermeneutik instruktiv Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, 2011; ausführlich unter B. III. 4. a). 66  Vgl. Sobota, Sachlichkeit, Rhetorische Kunst der Juristen, 1990; zur Topik unter B. III. 3. 67  Vgl. die hilfreiche Zusammenstellung und Erläuterung neuerer Rechtstheorien bei Buckel / Christensen / Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, 2008. 68  Vgl. Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, 2008, S. 4 ff.; Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 6 ff.; Ogorek, Gibt es eine Methode der Rechtsanwendung?, 2008; Hoffmann-Riem, Innovation, Recht und öffentliche Kommunikation, 2011, S. 10: (Zumindest teilweise) Überwindung einer vorrangig text- und auslegungsorientierten Rechtswissenschaft.



II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘29

diger traditioneller Konzepte gegenüber,69 die, K. F. Röhl folgend, als Vertreter einer semantischen oder positivistischen Schule bezeichnet werden können.70 Ohne auf die mittlerweile überaus umfangreiche Literatur zur Methodenlehre im Einzelnen einzugehen,71 lassen sich die Grundlinien und -argumente in dieser Auseinandersetzung an einer rechtstheoretischen Kontroverse festmachen, die in der Fachwelt für Aufsehen sorgte. Der Streit entzündete sich an Bemerkungen des damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Hirsch, der die Tätigkeit der Richterin im Verhältnis zum Gesetzgeber heute nicht (mehr) mit dem von Heck stammenden Leitbild vom „Diener des Gesetzes“ beschreiben wollte, sondern das Bild eines Pianisten wählte:72 Sucht man ein Bild, so passt meines Erachtens am ehesten das des Pianisten und Komponisten für das Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber. Er interpretiert die Vorgaben, mehr oder weniger virtuos, er hat Spielräume, darf aber das Stück nicht verfälschen.73

Im Kern geht es in der Debatte um zwei grundlegende Aspekte: Zum einen werden das Postulat der Gesetzesbindung und die Frage, ob die Ratio­ nalität der Gesetzesauslegung und -anwendung durch Vorgaben der juristischen Methodenlehre tatsächlich gewährleistet werden kann, diskutiert. Zum anderen geht es um das Selbstverständnis der Gerichte, oder genauer: der Richterinnen und Richter, bei der Ausübung ihrer Tätigkeit. Sehen sie sich strikt an den ‚Willen des Gesetzgebers‘ – was auch immer dann darunter verstanden werden soll, sei es der Normtext, die Erläuterungen in den Gesetzgebungsmaterialien, die Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren usf. – gebunden oder begreifen sie sich auch als Rechtsgestalter mit eigener 69  Traditionell etwa Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 83 ff.: Interpretation als „Ringen“ um ein „reines geisteswissenschaftliches Verstehen“, ebd., S. 105; Larenz / Canaris, Methodenlehre, 1995, S. 25 ff.: es geht um das Verstehen sprachlicher Äußerungen; Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 25 ff.: Sinnermittlung mithilfe der „klassischen Interpretationselemente“; Schapp, Die juristische Methode als der Weg zum Verstehen und Anwenden des Rechts, 2001: „Die Methode beschreibt […] den Weg zur Kenntnis des Rechts und dann auch zur praktischen Anwendung im Beruf“; ausführlich Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991; für das Verfassungsrecht etwa Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz – Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999. 70  Röhl, Postmoderne Methodenlehre I, 2012. 71  Zur Entwicklung der juristischen Methodenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft siehe Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2000, Rn.  5 ff. m. w. N. 72  So zunächst auf einem Vortrag 2003 an der Buccerius Law School in Hamburg, zitiert nach Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, 2006, S. 57. 73  Hirsch, Zwischenruf: Der Richter wirdʼs schon richten, 2006.

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interpretatorischer Entscheidungsmacht?74 Beide Aspekte greifen ineinander: Juristische Methodenfragen sind als primär wissenschaftliche Selbstreflek­ tion der Disziplin immer zugleich Fragen des (rechts)wissenschaftlichen beziehungsweise, wenn sie sich auf die juristische Praxis beziehen,75 des professionellen Selbstverständnisses der rechtsanwendenden Personen und Organe.76 Solange es der Methodenlehre allerdings nicht gelingt, Kriterien der praktischen Rechtsanwendung zu entwickeln, die im juristischen Diskurs allgemein Anerkennung finden,77 wird die Praxis bei der Gesetzesanwendung ihren eigenen Regeln oder Regelhaftigkeiten folgen, soweit sie damit erfolgreich arbeiten kann.78 Genau diesen Zustand beklagt – unter Bezugnahme auf die Äußerungen Hirschs – Rüthers. Seine Position ist dadurch gekennzeichnet, dass er die gängige Praxis der Gesetzesauslegung durch die obersten Bundesgerichte und das Bundesverfassungsgericht unter methodologischen Gesichtspunkten für geradezu beliebig erachtet.79 Im Fokus seiner Kritik steht vor allem die objektive Auslegung, die die Rechtsanwendung für unterschiedliche Inter74  Aus soziologisch-empirischer Sicht zu den richterlichen Selbstbildern Berndt, Richterbilder – Dimensionen richterlicher Selbsttypisierungen, 2010; zur ordentlichen und Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. auch Hellmig, Recht als Verantwortungsinstanz – Ein empirischer Beitrag zu den Funktionen des Rechts, 2010, mit einer kleineren Studie zur Arbeitsgerichtsbarkeit; grdl. zum Bundesverfassungsgericht Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. 75  Zur Bedeutung der Jurisprudenz für die Rechtspraxis siehe Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 234 ff. 76  Für die Diskussion in der Bundesrepublik Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975; historisch für das 19. Jahrhundert Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986. Es nimmt nicht Wunder, dass die Forderungen nach einer Demokratisierung der Justiz, die in der jungen Bundesrepublik vor allem von sozialdemokratischer Seite erhoben wurde, mit einer Neuausrichtung des Richterbildes verbunden war; siehe bereits Arndt, Das Bild des Richters, 1956; zum zeitgeschichtlichen Hintergrund Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz – Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, 2008. 77  Vgl. Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 29 ff.; vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 277: „die Richtigkeit normativer Urteile […] bedeutet rationale, durch gute Gründe gestützte Akzeptabilität“. 78  Zur Regelhaftigkeit von sozialen Praktiken Bourdieu, Rede und Antwort, 1992, S.  85 f.; zusammenfassend Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, 2006, S. 98 ff.; zum richterlichen Handeln aus wissenschaftssoziologisch-ethnografischer Perspektive Stegmaier, Wissen, was Recht ist, 2009. 79  Insbesondere Rüthers, Geleugneter Rechtsstaat und vernebelte Richtermacht, 2005; Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, 2006; Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen?, 2009; Rüthers, Rechtswissenschaft ohne ­ Recht?, 2011.



II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘31

pretationsmethoden bis hin zu Folgenabwägungen öffnet.80 Sie will den Inhalt eines Gesetzes nicht aus seiner subjektiv-historischen Genese, also dem ‚Willen des historischen Gesetzgebers‘, sondern aus einem ‚objektiven Sinn‘ des Gesetzes – vor allem unter Bezugnahme auf teleologische und Wertungsargumente – (re)konstruieren. Dahinter steht die alte rechtstheoretische Kontroverse zwischen subjektiver und objektiver Theorie.81 Die objektive Methode, zu der sich das Bundesverfassungsgericht und alle obersten Bundesgerichte seit langem bekennen, eröffnet nach Rüthers den jeweiligen Spruchkörpern die Möglichkeit, ihre je eigenen Regelungsvorstellungen durch beliebige Interpretation des Gesetzes umzusetzen. Die Vertreter der sogenannten objektiven Methode wendeten die Gesetze nicht an, vielmehr würden sie unter dem Etikett der ‚Auslegung‘ eigenes Recht schaffen, wie Rüthers meint: „Wer angeblich ‚objektiv auslegt‘, legt nicht aus, sondern ein.“82 Es werde von den Gerichten bei der Gesetzesauslegung zielbewusst auf eine „objektiv vernünftige“ beziehungsweise „praktisch angemessene“ Lösung zugesteuert. Die Methodenwahl der Gerichte ziele darauf, diesen eine immer größere Normsetzungsmacht, insbesondere gegenüber der Gesetzgebung zu verschaffen. Denn die Methodenwahl sei auch eine Machtfrage83 im gewaltenteiligen Staat: Dieser wandle sich so von einem Rechtsstaat in einen Richterstaat.84 Auslegung sei aber in erster Linie eine Forschungsaufgabe nach dem „historischen Normzweck“.85 Simon und Hassemer haben Rüthers in verschiedenen Beiträgen widersprochen und sich dabei mehr oder weniger dem Richterbild, das Hirsch mit seinem Pianisten-Vergleich gezeichnet hat, angeschlossen.86 So gehen beide Autoren davon aus, dass Rüthers die Leistungskraft der klassischen juristischen Methodenlehre überschätzt, auch (und gerade) wenn sie auf den historischen ‚Willen‘ des Gesetzgebers rekurriert. Denn Sinn und Bedeutung des Gesetzes könnten nicht durch methodische Anstrengungen abschließend bestimmt werden.87 Einer Gesetzesbindung in diesem Sinn anzuhängen sei 80  Vgl. Rüthers, ebd., S. 54; Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen?, 2009, 273 ff. 81  Zur historischen Kontroverse Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S.  112 ff. 82  Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, 2006, S. 57. 83  Hierzu Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987. 84  Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, 2006, S. 58 ff. 85  Ebd., S. 58. 86  Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, 2008; Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008. 87  Dies hatte bereits Hans Kelsen – einer der prominentesten Vertreter des modernen Rechtspositivismus – erkannt und daraus den Schluss gezogen, dass die Gesetzesinterpretation nur die Feststellung „eines Rahmens“ ermögliche und inner-

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A. Einleitung

nicht mehr als ein unerfüllbarer „Traum“88 beziehungsweise ein Paradigma, das von einer modernen, sprachwissenschaftlich aufgeklärten Methodologie und Rechtstheorie als überholt und nicht mehr vertretbar angesehen werden müsse. Die (Gesetzes-)Sprache entziehe sich jeder in das Gesetz „eingelegten“ Sinndetermination.89 So resümiert Simon: Der ständig radikaler und grundsätzlicher gewordenen Kritik waren alle […] Mühen [der klassischen Methodenlehre, der Verf.] am Ende doch nicht gewachsen. Gleichgültig ob sie sich heute auf Niklas Luhmann, auf Friedrich Müller, die postmodernen Franzosen oder die neopragmatischen Angelsachsen berufen: Die Formel, dass der Richter mit dem beunruhigenden Paradoxon zu leben habe, dass er erst jene Bindung herstellt, an die gebunden zu sein er anschließend erklärt, gehört heute zur Grundausstattung aller jüngeren Methodologen.90

Hassemer wiederum nimmt die gängigen Auslegungsmethoden der juristischen Methodenlehre unter die Lupe und stellt fest, dass es an einem klaren Regelwerk ihrer Anwendung bis heute fehlt. Dies führt nach seiner Feststellung letztendlich zu einer Freiheit der Methodenwahl. Und mit der Wahl einer bestimmten Auslegungsmethode sei typischerweise auch ein bestimmtes Ergebnis gewählt und ein anderes abgewiesen; „und wer sein Fach beherrscht, kann dies voraussehen und strategisch einsetzen“.91 Denn alle Versuche, eine Hierarchie der Auslegungsmethoden verbindlich zu machen,92 so stellen Simon und Hassemer übereinstimmend fest, seien letztendlich gescheitert – man kann auch sagen: zum Scheitern verurteilt.93 Dass die Methodenlehre keine allgemein akzeptierten Vorgaben für eine ‚exakte‘ oder ‚richtige‘ Gesetzesanwendung liefert,94 sondern lediglich halb dieses Rahmens für den Richter mehrere Möglichkeiten des Entscheidens offenstünden; ausführlich dazu unter B. I. 2. a) aa). 88  Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 6; ausführlich Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2007, 237 ff.: „Aus der Traum“. 89  Ausführlich zur sprachwissenschaftlichen Begründung unter C. II. 90  Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, 2008, S. 6. 91  Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 12. 92  Einer der jüngsten Versuche im Rahmen einer „Begründungslehre“ stammt von Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 176 ff., unter Bezugnahme auf „staatstheoretische Überlegungen“. 93  Eine Kritik des deduktiv-hierarchischen Rechtsanwendungsmodells aus einer rechtstheoretischen Perspektive findet sich bei Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie – eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, 2002, S. 82 ff. 94  Zur Theorie der „einzigen richtigen Entscheidung“, die in der modernen Rechtstheorie prominent von Ronald Dworkin – allerdings mit spezifischem Blick auf das angloamerikanische Fallrecht – vertreten wird, Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2011, S. 28 ff. Allerdings ist die Frage von Neumann



II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘33

I­nstrumente bereitstellt, Entscheidungen in juristisch anerkennungsfähiger Weise zu begründen, und mittlerweile eine Vielzahl an Auslegungsargumenten im juristischen Diskurs gebräuchlich sind – bis hin zu Folgenargumenten im Rahmen teleologischer Norminterpretation –95, wird von methodologisch aufgeklärten Juristinnen und Juristen, aber auch den meisten Rechtspraktikern kaum bestritten.96 Die Methodenlehre geht mittlerweile, wie Vesting zusammenfasst, „mehrheitlich davon aus, dass die (richterliche) Interpretation selbst produktiv ist; nur noch vereinzelt wird heute noch an einer strikt deduktiven Vorstellung von Rechtsanwendung festgehalten“.97 Um die schöpferische Qualität des Interpretations- und Anwendungsvorgangs zu verdeutlichen, wird daher anstelle von ‚Auslegung‘ und ‚Subsumtion‘ auch von ‚Konkretisierung‘ gesprochen.98 Vielleicht mag der schwindende Glaube an eine formale Rationalisierbarkeit juristischer Entscheidungstätigkeit, die noch immer primär durch Vorgaben einer wie auch immer ausgestalteten methodischen Exaktheit bis hin zum Gebrauch von Logik gewährleistet werden soll, auch zu dem oft benicht unberechtigt, wie Juristen um ein höheres Maß an Zustimmung werben können, wenn ihnen durch eine sprachwissenschaftlich und soziologisch ‚aufgeklärte‘ Rechtstheorie die Möglichkeit der Behauptung entzogen wird, ihre jeweilige Auffassung „sei eben die richtige, aber jedenfalls die richtigere, die besser begründete etc.“, Neumann, Wahrheit statt Autorität – Möglichkeiten und Grenzen einer Legitimation durch Begründung im Recht, 2005, S. 383. Dagegen weist Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, 2006, S. 14, darauf hin, dass vom Verfassungsgericht ein Postulat der „einzigen richtigen Entscheidung“ ohnehin nicht erhoben wird. Die Möglichkeit der Veröffentlichung von abweichenden Meinungen sowie Offenlegung des Abstimmungsergebnisses in den Entscheidungsgründen könne bewusst „Anstoß für die journalistische oder wissenschaftliche Kritik und Diskussion sein“ und damit die Suche nach besseren Problemlösungen befördern. 95  Siehe nur Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe – Zur Argumenta­ tionspraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts, 1995 m. w. N. 96  Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, 2011, S. 210 ff.; Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, 2004, S. 346 f., erwähnt, „dass die in einer Rechtskultur tatsächlich anerkannten Argumentationsstandards in hohem Maße einem politischgesellschaftlichen Konsens verpflichtet sind“ und betont die Bedeutung von ideologiekritischen Analysen ebenso wie Vergleichen unterschiedlicher Rechtskulturen insbesondere im zusammenwachsenden europäischen Rechtsraum. 97  Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 195; vgl. auch Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, 2011, S. 286: „Die Anwendung eines Gesetzes auf den Einzelfall kann nicht nur als Textauslegung gedacht werden. Die zunehmende Berücksichtigung von Auslegungsfolgen weist bereits darauf hin, dass Normkonkretisierung nicht nur Auslegung ist.“ 98  Vgl. Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, speziell zur Verfassungsinterpretation, S. 59 ff.; kritisch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S.  156 ff.

34

A. Einleitung

klagten99 ‚Schattendasein‘ der Methodenlehre in der Rechtswissenschaft und der juristischen Ausbildung beigetragen haben.100 Wie juristische Gutachten zu erstellen und Gerichtsentscheidungen lege artis zu begründen sind, lernen (angehende) Juristinnen und Juristen durch praktische argumentative Übung und Anleitung, die ihnen ein Set an akzeptierten Auslegungsund Argumentationsmethoden an die Hand geben,101 nicht jedoch anhand eines kanonisierten Methodenstudiums in der akademischen ‚Studierstube‘.102 Insoweit ist die zu beobachtende institutionelle Verschiebung von einer auf traditionellen Konzeptionen beruhenden juristischen Methodenlehre hin zur Rechtstheorie als einer Reflexionsdisziplin der Rechtswissenschaft103 oder auch einer rechtstheoretisch modernisierten und an der Praxis juristischer Tätigkeit ausgerichteten Methodenlehre neuer Prägung nur folgerichtig. Sie eröffnet einerseits die Möglichkeit, juristisches Argumentieren und Begründen adäquat zu erfassen, theoretisch zu analysieren und zu hinterfragen, andererseits lässt sie der Kritik und ständigen Neujustierung rechtswissenschaftlichen Denkens in Theorie und Praxis Raum und kann damit auch 99  Vgl. Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der juristischen Argumentation, 2001: „[D]ie klassische juristische Methodenlehre ist tot. Wenn diese Diagnose zutrifft, dann schließen sich zwei Fragen an. Die erste Frage: woran ist die juristische Methodenlehre gestorben? Die zweite: wer wird, wer soll die juristische Methodenlehre beerben?“ 100  Vgl. nur Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, 2006, S. 53 f. 101  Vgl. Sobota, Reflexion und Imitation in der Rechtsmethodik, 1990; von Schlieffen, Rhetorik und rechtsmethodologische Aufklärung, 2001, S. 178: praktische Argumentationstechnik, die von Juristen größtenteils durch „unbewusstes Imitationsverhalten eingeübt“ wird; vgl. auch Pawlowski, Juristische Methodenlehre, 2000, § 1, Rn. 5. 102  Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 14. 103  Vgl. Krawietz, Juristische Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen, 1972; systemtheoretisch formuliert Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn.  11: „Rechtstheorie ist wie alle Selbstbeschreibung im Rechtssystem auf einer sekundä­ ren Beobachtungsebene, einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, angesiedelt. […] ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ beruht auf der reflektierten Handhabung von Unterscheidungen […]“; vgl. auch Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 3: „Zur Rechtstheorie i. w. S. gehören die Theorien des Rechts, nämlich Theorien, die die Entstehung des Rechts, seine Funktion für die Gesellschaft und den Umgang der Juristen mit dem Recht beschreiben.“ Eine enge Verbindung zur Rechtspraxis stellen Buckel / Christensen / Fischer-Lescano, Einleitung: Neue Theoriepraxis des Rechts, 2008, her: „Theorie im Recht thront nicht über der Rechtspraxis, sondern steckt mitten drin“; sehr eng bei der Rechtsphilosophie hingegen verortet wird die Rechtstheorie bei Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010, Einleitung, Rn. 7: „[…] grundsätzliche Reflexion von Recht mit analytischem, aber auch normativen Interesse.“ Richtigerweise nimmt die Rechtstheorie eine Zwischenstellung zwischen Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und reflektierender Methodenlehre ein und ist im besten Sinne interdisziplinär, dazu Baer, Rechtssoziologie, 2011, S.  35 ff.



II. Von ‚Dienern‘ und ‚Pianisten‘35

die Methodendiskussion neu beleben.104 Ausgangspunkt hierfür kann auch die grundlegende Kritik von Habermas an dem in der Rechtstheorie vielfach noch vertretenen „monologischen“ Ansatz sein.105 Aus der Einsicht, dass Gesetzesauslegung nicht lediglich ein geistiges ‚Verstehen‘ im Sinne hermeneutischer Interpretationskunst sein kann, sondern als ein in einen sozialen Kontext eingebettetes schöpferisches ‚Konkretisieren‘ im Sinne des Herstellens eines Normsinns mit Blick auf den zu entscheidenden Fall zu begreifen ist, lassen sich verschiedene Folgerungen ziehen. In rechtstheoretischer Hinsicht kann einerseits die Forderung, streng zwischen Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung zu unterscheiden, nicht aufrecht erhalten werden; die Rede vom ‚Richterrecht‘ ist jedenfalls in diesem Zusammenhang obsolet, denn alles angewandte, in Entscheidungen zu ‚findende‘ Recht wird von Richterinnen und Richtern gemacht.106 Das ist allerdings auch nichts wirklich Neues, sondern wurde schon in der überkommenen Methodenlehre kontrovers behandelt.107 Und auch das Verfassungsrecht verlangt eine strikte Trennung zwischen Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung nicht. So hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf Art. 20 Abs. 3 GG („Gesetz und Recht“) schon früh in seiner Judikatur einen engen Gesetzespositivismus abgelehnt108 und einen erheblichen Spielraum auch für die schöpferische Tätigkeit der Gerichte eröffnet, soweit diese erkennbar am Normzweck orientiert bleibt.109 104  In diesem Zusammenhang zu sehen sind auch zwei Fachtagungen der VWStiftung zum Thema „Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen… Neue Akzente für die Juristenausbildung“ am 6. / 7.  Dezember 2011 in Celle und 23. / 24. Februar 2012 in Berlin. Ziel der Initiative, die im Zusammenhang mit Beratungen des Wissenschaftsrates stand, ist es, Grundlagenforschung verstärkt (wieder) in die juristische Ausbildung zu integrieren. Angestrebt wird explizit auch eine „Neuorientierung der Methodenlehre“; siehe Hof / Olenhusen, Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen … Neue Akzente für die Juristenausbildung, 2012. 105  Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 238 ff. 106  Vgl. Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, 2008, S. 6: „Wenn eine Rechtsnorm […] vor ihrer Formulierung durch den Richter überhaupt noch nicht existiert, sondern erst durch die richterliche Arbeit (z. B. mit Hilfe des Normtextes) ermittelt wird, dann ist es wenig förderlich von ‚Richterrecht‘ als Alternative zum ‚Gesetzesrecht‘ zu sprechen.“ 107  Zum ‚fließenden‘ Übergang von der Auslegung zum Rechtsfortbildung bereits Larenz / Canaris, Methodenlehre, 1995, S. 188; vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 136: „Aber die Gesetze sind heute auf allen Rechtsgebieten so gebaut, daß die Richter und Verwaltungsbeamten […] aufgerufen sind, selbständig zu werten, mitunter gesetzgebergleich zu entscheiden und zu verfügen.“ 108  Grdl. BVerfGE 34, 269 (286) – Soraya. 109  Aus der Entscheidung BVerfGE 122, 248 zur Rügeverkümmerung und speziell dem Sondervotum der Richterin Osterloh und der Richter Voßkuhle und Di Fabio

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A. Einleitung

Viel bedeutsamer ist hier eine zweite grundlegende Konsequenz, die den Blick auf das rechtswissenschaftliche Personal und seine institutionellen Bindungen lenkt, also die Akteure des juristischen Diskurses. So muss die wissenschaftliche Betrachtung des Rechts weit mehr als bisher die justiziellen Entscheidungsbedingungen unter theoretischen und methodischen Aspekten reflektieren und darf sich nicht damit begnügen, gerichtliche Entscheidungen unter dogmatischen Gesichtspunkten zu analysieren. Die Praxis hingegen ist aufgerufen, bei ihrer Urteilstätigkeit in verstärktem Maße die Prämissen ihres Handels mit zu reflektieren und eingespielte Abläufe zu überdenken.110

III. Gang der Untersuchung Teil B. der Arbeit folgt einer historischen Genealogie. Die Untersuchung beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die Zeit der Entstehung der juristischen Methode in der Zivilrechtswissenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts und ihrer Übertragung auf das öffentliche Recht während des Spätkonstitutionalismus.111 Es soll gezeigt werden, dass die damaligen methodologischen Anstrengungen von Teilen der Rechtswissenschaft vor allem dazu geführt haben, die juristische Behandlung von Problemen gegen andere disziplinäre Zugänge, etwa der Philosophie, der Ökonomie, später auch der Soziologie und anderer Staats- und Gesellschaftswissenschaften, abzugrenzen. Die Übertragung des positivistischen Methodenansatzes auf das Staatsrecht führte unter anderem dazu, dass die (in verschiedenen Landesverfassungen ergibt sich – entgegen Rüthers – nichts anderes. Das Sondervotum plädiert dafür, dass eine klare gesetzliche Entscheidung nicht durch eine judikative Lösung konterkariert werden darf, die so im Parlament nicht durchsetzbar gewesen wäre (ebd., 283). Dabei wird ausdrücklich anerkannt, dass neben Gesetzesmaterialien und Systematik dem „Verständnis der Vorschrift in der Praxis“ eine wesentliche Bedeutung zukommt. In eine andere Richtung scheint jetzt aber ein Beschluss des Ersten Senats zu weisen. So darf die zivilgerichtliche Rechtsprechung nach BVerfGE 128, 193 (210 f.) – Dreiteilungsmethode nicht so weit gehen, die gesetzgeberische Grundentscheidung für ein bestimmtes Konzept zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts durch ein eigenes Modell zu ersetzen. Ob diese Entscheidung jedoch eine ‚Wende‘ zugunsten der subjektiven Methode markiert, erscheint fraglich. Sie müsste vor dem Hintergrund der eigenen methodischen ‚Offenheit‘ des Bundesverfassungsgerichts geradezu als eine ‚Bevormundung‘ der Fachgerichte verstanden werden; aufschlussreich die Besprechung von Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, 2011, der die Besonderheiten der zugrunde liegenden familienrechtlichen Konstellation hervorhebt. 110  Ogorek, Gibt es eine Methode der Rechtsanwendung?, 2008, S. 136 f.; vgl. aus soziologischer Perspektive bereits Rottleuthner, Richterliches Handeln – Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973. 111  B. I. 1.



III. Gang der Untersuchung37

enthaltenen) Grundrechte formal interpretiert und in ihrem effektiven juristischen Gehalt weitgehend auf den Vorbehalt des Gesetzes reduziert wurden. Sodann wird die methodologische Neuorientierung innerhalb der sich formierenden Staatsrechtswissenschaft während der Weimarer Zeit dargestellt, die unter der Bezeichnung Methodenstreit bekannt geworden ist.112 Die mit der antipositivistischen Strömung einsetzende Öffnung gegenüber den Geistes- und Sozialwissenschaften, so soll gezeigt werden, bildete das methodologische Fundament, um in ersten theoretischen Schritten den Grundrechten inhaltliche Gewährleistungen zu entnehmen. Hierbei wird vor allem auf die Bedeutung der Grundrechte bei C. Schmitt und bei Smend eingegangen, da diese Theoretiker über die Rezeption ihrer Werke, aber auch die von ihnen begründeten Schulen, wesentlichen Einfluss auf die Methodendebatte der jungen Bundesrepublik ausübten. Vor diesem Hintergrund wird die eigentliche Zäsur erkennbar, die das Grundgesetz auch in methodischer Hinsicht mit sich brachte. Durch die Statuierung der Grundrechte als größtenteils vorstaatliche Menschenrechte und zugleich unmittelbar geltendes Recht, das alle Staatsgewalt, also auch die Gesetzgebung, binden sollte, wurde ein endgültiger Bruch mit dem staatsrechtlichen Positivismus vollzogen.113 Die Entwicklung juristisch kontrollierbarer inhaltlicher Bindungen aus den Grundrechten erforderte indes ein neues, materiell fundiertes Grundrechtsverständnis. Wesentlichen Anteil an der Umsetzung dieses vom Parlamentarischen Rat nur in den Grundzügen vorgegebenen ‚Programms‘ hatte das neu errichtete Bundesverfassungsgericht in seiner frühen Besetzung, die den Status, das methodische Selbstverständnis sowie die Grundzüge der Entscheidungstechnik und Dogmatik des Gerichts prägte.114 Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf die institutionellen ‚Kämpfe‘ des Bundesverfassungsgerichts um seine Autorität und Deutungsmacht als letztverbindlicher Interpret des Grundgesetzes gelegt, die – so die These – wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der grundrechtlichen Methodik und Dogmatik hatten.115 Sodann werden die Weichenstellungen der Grundrechtsdogmatik in den ersten sieben Jahren der Rechtsprechung anhand der maßgeblichen Entscheidungen des Ersten Senats dargestellt,116 die zu einer Rechtsprechung der Konstitutionalisierung weiter Teile des einfachen Rechts geführt haben.117 112  B. 113  B. 114  B. 115  B. 116  B. 117  B.

I. 2. II. 1. II. 2. II. 3. II. 4. II. 5.

38

A. Einleitung

Die nach einer legalistischen Kritik an dieser Rechtsprechung neu aufkeimende Methodendebatte in der sich neu formierenden Staatsrechtslehre der jungen Bundesrepublik,118 bei der Vertreter der Schmitt- und der SmendSchule tonangebende Protagonisten waren,119 verarbeitete vor allem die mit der Judikatur des Verfassungsgerichts vollzogene Entwicklung methodologisch, setzte aber auch darüber hinausgehende eigene Akzente. In diesem Zusammenhang werden einzelne der damals entwickelten Konzepte mit Blick auf ihre Bedeutung für die weitere Methodendiskussion beleuchtet, insbesondere die problemorientiere Wende im Zuge der Topik-Diskussion120 sowie einflussreiche Ansätze der Neuen Hermeneutik wie das Normbereichskonzept von F. Müller und dessen Fortentwicklung durch Hesse, welches das Methodendenken im Verfassungsrecht maßgeblich gegenüber sozialen Wirklichkeitsannahmen geöffnet hat.121 Ende der 1970er Jahre scheint der Übergang zum Grundgesetz methodologisch verarbeitet, weshalb die Methodendiskussion spürbar abebbt. Vor dieser ‚Folie‘ der historischen Diskursentwicklung wendet sich Teil C. den Zusammenhängen zwischen Methode, Dogmatik und Theorie der Grundrechte zu. Zunächst wird das ‚Bekenntnis‘ des Bundesverfassungsgerichts zur objektiven Methode sowie den klassischen Auslegungsmethoden näher beleuchtet. In diesem Zusammenhang werden die herkömmlichen Auslegungselemente (grammatische, historische, systematische und teleologische Auslegung) mit Blick auf ihre Bedeutung für die Grundrechtsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt und analysiert.122 Es soll gezeigt werden, dass die ‚klassischen‘ Methoden als Ausgangspunkt für die Interpretation ihre Bedeutung auch im Verfassungsrecht behalten, den Vorgang der Konkretisierung von Grundrechtsgehalten in wichtigen Teilen aber nicht zu erfassen vermögen. Erforderlich ist eine genauere theoretische Analyse des methodischen Prozesses der Norminterpretation. In Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlichen Einsichten wird – in Abgrenzung zur überkommenen juristischen Sprachtheorie – der sprachlich-schöpferische Gehalt der Norminterpretation im Sinne eines Konkretisierungsvorgangs herausgearbeitet. Juristische Normkonkretisierung ist danach eingebettet in eine spezifische Sprachpraxis, in Verwendungs- und Anwendungskontexte, die durch Diskurse und Institutionen ‚diszipliniert‘ und damit kontrollierbar werden.123 118  B. 119  B.

120  B. 121  B. 122  C. 123  C.

III. III. III. III. I. II.

1. 2. 3. 4.



III. Gang der Untersuchung39

Damit rückt die Frage nach der Bedeutung von Dogmatik124 als maßgeblichem Instrument und Medium der Konkretisierungsarbeit durch die Rechtsanwendenden in den Vordergrund. Zunächst wird untersucht, durch welche Funktionen sich Rechtsdogmatik im Allgemeinen und Grundrechtsdogmatik im Besonderen auszeichnen,125 um sich anschließend mit den Möglichkeiten und Grenzen der dogmatischen Systembildung im Bereich der Grundrechte auseinanderzusetzen. Anhand der Problematik staatlichen Informationshandelns soll gezeigt werden, dass dogmatische Systematisierung ihren praktischen Zweck nur dann erfüllen kann, wenn sie an die Problemebene rückgekoppelt bleibt.126 Aufgeworfen ist zudem die Frage nach der Rationalisierbarkeit von Grundrechtsinterpretation durch eine dogmatisch operationalisierbare Grundrechtstheorie.127 Hierzu werden zwei Grundrechtstheorien näher betrachtet, die den Anspruch auf eine umfassende rechtstheoretische (Re-)Konstruktion von Grundrechtsgehalten erheben: die Abwehrrechtstheorie und die Prinzipientheorie. Dabei wird zunächst die Rekonstruktion der Grundrechte als Abwehrrechte untersucht.128 Vor allem die Erweiterung des Eingriffsbegriffs und die Ausdehnung des Modells auf Privatrechtskonstellationen werfen hier konstruktive Schwierigkeiten auf. Die Prinzipientheorie hingegen kann zwar das Abwägungsmodell im Sinne eines (potentiell) weiten Grundrechtsschutzes erklären, bleibt aber im Übrigen mit Blick auf ihr Rationalisierungspotential weitgehend allgemein. Dies stellt zwar nicht ihren theoretischen, jedoch ihren praktisch-methodischen Wert in Frage.129 Infolgedessen bleibt erheblicher rechtsmethodologischer Klärungsbedarf. Diesem wendet sich Teil D. der Arbeit zu. Dort wird zunächst der Zusammenhang zwischen einem materialen Freiheitsverständnis und der Entwicklung eines multifunktionalen Grundrechtsschutzes verdeutlicht.130 Die Entwicklung ‚objektiver‘ Grundrechtsgehalte wird auf deren subjektiv-freiheitschützende Funktion zurückgeführt, was anhand der Gewährleistungsgehalte der Rundfunk-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit veranschaulicht wird.131 Anschließend werden die verschiedenen Grundrechtsfunktionen dargestellt,

124  C. 125  C. 126  C. 127  C. 128  C. 129  C.

130  D. 131  D.

III. 1. III. 2. III. 3. IV. 1. IV. 2. IV. 3. I. 1. I. 2.

40

A. Einleitung

die sich in den unterschiedlichen grundrechtlich geschützten Bereichen problemspezifisch ausdifferenziert haben.132 Die Multifunktionalität des Grundrechtsschutzes wird sodann in das Konzept der Gewährleistungsgehalte der Grundrechte eingeordnet. Dabei werden unterschiedliche in der Literatur diskutierte Modelle – das weite und das enge Tatbestandsmodell – gegenübergestellt. Argumentiert wird dabei vor dem Hintergrund eines materialen Grundrechtsverständnisses gegen eine in der Literatur vielfach geforderte enge Tatbestandsdefinition und für ein Modell der funktionalen Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgebung und Bundesverfassungsgericht, wie es in der Rechtsprechung praktiziert wird. Damit verbunden ist die Entscheidung für das Abwägungsmodell, in dessen Rahmen das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine wichtige argumentative Rationalisierungsfunktion erfüllt.133 Da sich im Rahmen des weiten Gewährleistungsmodells der Grundrechte nahezu jedes (gesellschafts)politische Problem mit Grundrechtsbezug als Abwägungsproblem (re)konsturieren lässt und somit die Gefahr einer Ubiquität des Grundrechtsschutzes besteht, bedarf es vor allem funktionell-rechtlicher Erwägungen zur Begrenzung der Verfassungskontrolle.134 Vor diesem Hintergrund befasst sich die Untersuchung genauer mit der problembezogenen Entwicklung von Grundrechtsdogmatik, die im Wesentlichen durch die Elemente der Steuerung, Normkonkretisierung und Kontextualisierung gekennzeichnet ist. Steuerung meint dabei die Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Gesetzgebung durch Maßstäbebildung, mit denen materiale Gewährleistungsgehalte der Grundrechte – vermittelt über die einfache Rechtsordnung beziehungsweise ihre Interpretation und Anwendung – effektuiert werden.135 Grundrechtliche Normkonkretisierung erweist sich, so soll gezeigt werden, in der Praxis als eine beständige ‚Vermittlungsaufgabe‘ zwischen problembezogener Deutung und dogmatischer Steuerung. Wie dies im Einzelnen geschieht, lässt sich am Beispiel der Rechtsprechung zum Verständnis der Privatautonomie und zur Inhaltskontrolle von Verträgen durch die Zivilgerichte nachvollziehen.136 Damit ist das Terrain bereitet, um sich dem Zusammenhang zwischen problembezogener Grundrechtsinterpretation sowie den Einflüssen rechtlicher Umweltbeziehungen zuzuwenden, was in dieser Arbeit allgemein als Kontextualisierung umschrieben wird. Dabei wird zunächst die Problematik 132  D.

I. 3. II. 1. 134  D. II. 2. 135  E. I. 1. 136  E. I. 2. 133  D.



III. Gang der Untersuchung41

einer theoretischen Erfassung des Verhältnisses zwischen Grundrechtsinterpretation und sozialer Wirklichkeit betrachtet, die nicht durch eine wissenschaftstheoretische Ontologisierung des Gegensatzes zwischen Recht und Wirklichkeit gelöst werden kann. Vielmehr muss ein materiales Grundrechtsverständnis Einsichten über soziale Zusammenhänge aufnehmen, um eine adäquate Konkretisierung im Sinne dogmatischer Steuerung vornehmen zu können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass verfassungsrechtliche Steuerung nicht unmittelbar auf soziale Sachverhalte ‚durchgreift‘, sondern über die Rechtsordnung und deren Akteure vermittelt wird. Soziale Konflikte werden durch ihre rechtliche Behandlung juristisch mediatisiert; dabei bleibt ihr außerjuristischer Kontext jedoch relevant. Insofern beeinflussen Vorannahmen über soziale Zusammenhänge bereits die Entwicklung der Grundrechtsgehalte, nicht erst deren ‚Anwendung‘, wie am Beispiel der problembezogenen Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als einer spezifischen Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gezeigt werden soll.137 Anknüpfend hieran wird das Konzept einer soziologischen Verfassungsrechtswissenschaft im Sinne einer soziologischen Jurisprudenz thematisiert, wie es vor allem im US-amerikanischen Raum entwickelt worden ist und dort maßgeblichen Einfluss auf Rechtsprechung und Wissenschaft hatte. Die im staatsrechtlichen Positivismus übersteigerte Gegenüberstellung von Sollen und Sein, so soll gezeigt werden, erweist sich bei näherer Betrachtung als „wissenschaftstheoretisch überholte Grenzziehung“. Eine dynamische Grundrechtsauslegung bedarf vielmehr zwingend der Einbeziehung von außerrechtlichem Kontextwissen, wie es im Rahmen eines arbeitsteiligen und integrativen Ansatzes vertreten wird.138 Damit schließt sich der Kreis zum historischen Ausgangspunkt der Untersuchung, der heute überwundenen methodischen Immunisierung des Rechts gegenüber ‚außerjuristischen‘ Bezügen.

137  E. 138  E.

II. 1. II. 3.

B. Vom staatsrechtlichen Positivismus zur methodischen Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus Betrachtet man die Methodendiskussion in der Staatsrechtswissenschaft der jungen Bundesrepublik, so fällt auf, wie deutlich in ihr die Kontroversen der Weimarer Zeit nachwirken.1 Die Methodenfrage ist dabei eng mit der Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus durch das Bonner Grundgesetz von 1949 verknüpft.2 Unter dem rechtsmethodischen Positivismus3 ist eine methodologische Grundhaltung zu verstehen, die den Sinn von Normen allein aus rechtlichen Faktoren ermitteln will, das heißt „den Rückgriff auf Rechtsideen, Regelungszwecke und Wirklichkeitsbefunde“ und damit auch den Rückgriff auf Wissen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Philosophie und den Staatswissenschaften weitgehend ablehnt.4 Eine solche Be1  Vgl. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, 1980; Koch, Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 120 ff. 2  Eingehend unter B. II.; vgl. auch Günther, Denken vom Staat her – Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, S.  29 ff. 3  Zur Theorie des Positivismus und seiner Methodik ausführlich Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode, 2011. 4  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 349. Es ist in diesem Zusammenhang zwischen dem rechtsphilosophischen und rechtsmethodischen Positivismus zu unterscheiden. Der Grundgedanke des rechtsphilosophischen Positivismus besteht darin, dass es keinen übergeordneten Geltungsgrund für das geschriebene Recht gibt, dass daher derjenige, der das Recht durchzusetzen vermag, das Recht schafft. Er begreift nur das positiv gesetzte Recht als Recht und lässt insbesondere das Naturrecht nicht als Recht gelten; vgl. Kelsen, Was ist juristischer Positivismus?, 1965; siehe auch Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, 2004, S. 73; Dreier, Der Begriff des Rechts, 1986. Rechtsphilosophischer und rechtsmethodischer Positivismus gehen im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings weitgehend Hand in Hand. Dies war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht der Fall: So basierte das begriffliche System des Privatrechts in der Lehre Puchtas auf dem Postulat seiner Vernunftsmäßigkeit und wissenschaftlichen ‚Wahrheit‘ als übergeordneten Geltungsgründen und war damit – wie schon bei Savigny – der willkürlichen Disposition der Gesetzgebung entzogen. Man kann daher von einem wissenschaftlichen Rechtspositivismus sprechen im Gegensatz zum



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 43

handlung des Staats- und Verfassungsrechts wurde im Spätkonstitutionalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur vorherrschenden juristischen Methode und hatte bis in die Weimarer Republik prägende Bedeutung.5 Im Folgenden soll nicht der Versuch einer detailgenauen historischen Rekonstruktion dieser Methodenentwicklung unternommen werden. Hierfür sei auf die einschlägige rechtsgeschichtliche Literatur verwiesen.6 Dennoch erscheint es schon zum Verständnis der grundsätzlichen methodischen Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz sinnvoll, einige der Entwicklungen in der juristischen Methodologie seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit Blick auf die Grundrechte nachzuzeichnen.7 Dabei soll die These leitend sein, dass erst mit der Überwindung des positivistischen Methodendenkens, das zu einem weitgehenden juristischen ‚Leerlaufen‘ des Grundrechtsschutzes geführt hat, die inhaltliche Aktualisierung der Grundrechtsbindung möglich geworden ist. Dies war zugleich die entscheidende Voraussetzung dafür, Einsichten über gesellschaftliche Zusammenhänge – die ‚soziale Wirklichkeit‘ – in die Grundrechtsinterpretation aufzunehmen. 1. Die Entstehung der juristischen Methode und ihre Übertragung auf das Staatsrecht Entstehung und Aufstieg der juristischen Methode lassen sich als ein Prozess der zunehmenden Immunisierung des Rechts gegenüber außerrechtlichen Bezügen und die Wandlung der Rechtswissenschaft zu einer begriffs- und systemorientierten Konstruktionswissenschaft beschreiben. Ihren Ursprung hatte sie in der wissenschaftlichen Entwicklung des Privatrechts Mitte des 19. Jahrhunderts. Zuvor war Gegenstand der Rechtswissenschaft das Natur- beziehungsweise Vernunftrecht, oder, moderner forGesetzespositivismus, der erst nach den großen Kodifikationen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschend wurde. 5  Zusammenfassend speziell in Bezug auf die Gerber-Laband-Schule Koch, Juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 61 f. 6  Vgl. insbesondere Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 – Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, 1992, und Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 – Staats- und Verwaltungswissenschaft in Republik und Literatur 1914–1945, 1999; Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, sowie nachfolgende Literaturverweise Fn.  8 ff. 7  Hierbei wird nicht der Anspruch auf eine einzig ‚richtige Lesart‘ erhoben. Weitgehend gleichlaufend in der Darstellung der historischen Zusammenhänge, aber mit einer anderen, kritischen ‚Färbung‘ etwa Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normstrenge und Abwägung im Funk­ tionswandel, 2011, S. 914 ff., der den Verlust von ‚Normstrenge‘ durch die Öffnung der juristischen Methode beklagt.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

muliert, die Rechtsphilosophie.8 Die Jurisprudenz des positiven Rechts wurde lediglich als Handwerk angesehen, nicht aber als Wissenschaft. Schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde jedoch die Möglichkeit, wissenschaftlich gesicherte normative Erkenntnisse allein aus ‚der Natur‘ oder ‚der Vernunft‘ abzuleiten, in Frage gestellt.9 Der Gegenstand rechtswissenschaftlicher Betrachtung wurde nun vermehrt im positiven Recht gesucht. Während allerdings in Frankreich oder auch in Österreich das Privatrecht in großen Gesetzeswerken kodifiziert worden war und darin nun eine positiv-rechtliche Grundlage fand, fehlte es im (klein)staatlich zersplitterten Deutschland an einem entsprechenden Gesetz, das sich in einem positivistischen Sinn wissenschaftlich untersuchen ließ. Dennoch vollzog sich auch hier eine Abwendung vom Naturrecht und eine Aufwertung des positiven Rechts.10 a) Die Ursprünge der juristischen Methode im Privatrecht des 19. Jahrhunderts bei Savigny Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auch in Deutschland die Stimmen derjenigen lauter, die aus einer bürgerlich-liberalen oder nationalistischen Haltung ein allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für Gesamtdeutschland forderten.11 Berühmt wurde die Abhandlung des Heidelberger Rechtswissenschaftlers Thibaut, der diese Forderung in seiner Schrift Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland untermauerte.12 Thibaut sah in der Einführung eines allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches ein Mittel zur Reform des ständisch-feudalen Rechts und damit der restaurativen Zustände im damaligen Staatswesen schlecht8  Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997, S. 26. 9  Vgl. dazu ebd., S. 26. Ohne eine Anpassung an das aufstrebende Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts hätte die Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin auf längere Sicht einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen; Stühler, Die Diskussionen um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780–1815, 1978, S. 23 f. 10  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 350 f. 11  Zu den Zielen einer bürgerlichen Gesetzgebung gegenüber der feudalistischen Wohlfahrtsstaatsideologie Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 37 ff., hier S. 38: „So verstandene Gesetzgebung, mit deren Hilfe die bürgerliche Gesellschaft ‚so glücklich als möglich‘ gemacht werden sollte, indem sie ‚Sorge für die Rechte aller einzelnen [!] Glieder der Gesellschaft‘ trug, war vor dem Hintergrund der bürgerlichen Erwartungen an die Rechtsordnung auch in dem Fall noch funktional, wenn der Weg zu einer politischen Bürgerbeteiligung am Gesetzgebungsverfahren durch den absoluten Herrschaftsanspruch des Fürsten verstellt blieb.“ 12  Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für Deutschland, 1814.



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 45

hin.13 Seinen Gegenspieler fand er im Berliner Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny. Dieser war ein Anhänger der Monarchie und Gegner einer liberal-bürgerlichen Neuordnung.14 Er lehnte die Ideen des Liberalismus, wie die Lehre vom Gesellschaftsvertrag und der repräsentativen Demokratie, entschieden ab.15 Gleichzeitig erkannte er die Notwendigkeit einer Modernisierung der wissenschaftlichen Bearbeitung des Rechts. Im Rahmen der Historischen Schule forderte Savigny die Hinwendung zum historischen römischen Recht, der Pandektenwissenschaft. Das Recht war für Savigny weder universell vorgegeben noch ein Ausdruck des Staatswillens. Gleich der Sprache sah er es vielmehr als ein Produkt still wirkender gesellschaftlicher Kräfte an, die er als „Volksgeist“ bezeichnete.16 Bekanntermaßen konnte sich Savigny nicht nur in der berühmten Auseinandersetzung mit Thibaut durchsetzen. Vielmehr prägte er die weitere Ausrichtung der Rechtswissenschaft als universitäre Disziplin und damit auch die wissenschaftliche Behandlung des Rechts als ihres Gegenstandes. Mit seinem Programm einer geschichtlichen und systematischen Aufarbeitung des römischen Rechts bewirkte Savigny zweierlei: Zum einen wandte sich die ihm folgende Rechtswissenschaft von den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zuständen und somit auch von allen (rechts)politischen Forderungen ab. Zum anderen verschaffte sich die Historische Schule durch die Aneignung der geschichtlichen Quellen des römischen Rechts einen positiven Rechtsstoff, einen ‚objektiven Gegenstand‘, den sie wissenschaftlich untersuchen und systematisieren konnte – unabhängig von der Gesetzgebung der damaligen Zeit. Das Recht brachte seine Legitimation aus der Geschichte mit. Es ging Savigny nicht zuletzt darum, die Jurisprudenz als eine eigenständige Wissenschaft zu begründen, die ihre Gültigkeitskriterien in sich selbst tragen konnte.17 Die Tätigkeit der Juristen war nach seiner Vorstellung vor 13  Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert – Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958, S. 25 Fn. 30. 14  Die Nähe Savignys zur preußischen Monarchie hatte die Andienung verschiedener bedeutender Ämter zur Folge, bis hin zu seiner Ernennung als Großkanzler und preußischer „Minister für Revision der Gesetzgebung“ im Jahr 1842; vgl. Jochum, Das Erbe Friedrich Carl von Savignys, 2004, S. 569 f.; Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, S. 33 ff. 15  Stühler, Die Diskussionen um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780–1815, 1978, S. 57 m. w. N. 16  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 351. 17  Mazzacane, Jurisprudenz als Wissenschaft, 2004, S. 39; Savigny befürchtete, die Jurisprudenz könnte ihre Wissenschaftlichkeit einbüßen, wenn Rechtsanwendung auf die strikte Befolgung eines vorgegebenen Gesetzes beschränkt würde, vgl. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 143: „nur Schreibersdienst bey dem Gerichtsgebrauch“. Wie Savigny auch Fragen

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allem auf Reproduktion, Systematisierung und damit begrifflich-immanente Fortbildung des überkommenen Rechtsstoffs gerichtet.18 Dessen wissenschaftliche Ausarbeitung und Fortbildung sollte die exklusive Aufgabe des Juristenstandes sein.19 Zur Gesetzesauslegung äußerte sich Savigny im Zusammenhang mit der umfassenden systematischen Darstellung des römischen Rechts. Seine vier Canones umfassten die grammatikalische, die logische, die historische und die systematische Auslegungsweise.20 Gegenüber der zu seiner Zeit üblichen Zweiteilung in grammatikalische und logische Auslegung betonte Savigny das historische und systematische Moment der Auslegung und umschrieb damit programmatisch die Aufgabe der Rechtswissenschaft seiner Zeit, wie er sie auffasste. Sie bedeutete „eine Schwerpunktverlagerung der rechtswissenschaftlichen Arbeit in Richtung einer systematischen Darstellung des überlieferten Rechts, formuliert in einer dem tagespolitischen Streit entrückten Methodenlehre“.21 In der späteren Arbeit Savignys rückte dementsprechend auch die Systematisierung des Rechtsstoffs immer stärker in den Vordergrund; insoweit kann er als Begründer der modernen Rechtsdogmatik in Deutschland angesehen werden.22 Mit der Hinwendung zum historisch-romanischen Rechtsstoff sicherte er die Stellung der Jurisprudenz als einer politisch ‚neutralen‘ der Repräsentation des Fachs an der Universität und seine institutionelle Verankerung beschäftigten, lässt sich an seinen Ausführungen zum Rechtsunterricht an den deutschen Universitäten und in Frankreich ablesen, Savigny, ebd., S.  177 ff. 18  Vgl. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 27: „Mit Hilfe einer ‚streng historischen Methode‘ allein sollten die Rechtsquellen des gemeinen und partikularen Rechts wieder brauchbar zu machen sein, und dies hieß, ‚jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so ein organisches Princip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muss, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört.‘ “; Stühler, Die Diskussionen um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780–1815, 1978, S. 22 ff. 19  Vgl. Schröder, Savignys Spezialistendogma und die „soziologische“ Jurisprudenz, 1976, S. 26. 20  Darunter fasste Savigny allerdings teilweise andere Interpretationsgesichtspunkte als der heutige Gebrauch der Canones, wie er später unter C. I. mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht behandelt wird. Das „logische Element“ Savignys wurde weitgehend verdrängt; hinzugekommen ist vor allem der Zweckgedanke (die „ratio“); zu den Savignyʼschen Canones ausführlich Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, 2003, S. 5 f.; zum heutigen Verständnis siehe auch Kudlich / Christensen, Die Kanones der Auslegung als Hilfsmittel für die Entscheidung von Bedeutungskonflikten, 2004, S. 75 ff. 21  Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S.  23 f. 22  Vgl. Rückert, Friedrich Carl von Savigny, 1984, S. 57 ff.



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Wissenschaft mit eigenem Standesanspruch, dem römischen Recht als wissenschaftlichen Bearbeitungsgegenstand und einer spezifisch juristischen Methodik der Exegese und Systematisierung.23 Der Gesetzgeber sollte sich auf eine zurückhaltende Kodifikation des wissenschaftlich aufbereiteten historischen Rechtsstoffs beschränken. Auch eine ‚Rechtsfortbildung‘ durch die Gerichte wollte Savigny erst dann zulassen, wenn diese durch einen einheitlichen Gerichtshof für das gesamte Rechtsgebiet kontrolliert und gesteuert werden konnte. Allerdings verbarg sich hinter Savignys These von der historischen Kontinuität des Rechts „keine ausschließlich restaurative Position“.24 Er vertrat die Auffassung, dass Recht nicht eine objektive Sittlichkeit durchzusetzen, sondern subjektive Freiheitssphären abzugrenzen habe, und lehnte daher beispielsweise auch die wissenschaftliche Befassung mit dem durch den überkommenen Feudalismus geprägten Allgemeinen Preußischen Landrecht ab. Die subjektive bürgerliche Freiheit sollte allerdings nur im Verhältnis der Privatleute untereinander gelten, nicht von Seiten der Bürger gegenüber dem Staat.25 Dies entsprach der Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker hervortretenden Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht. Die Aufgabe, bürgerliche Freiheitssphären abzugrenzen, konnte am besten durch ein vom Staat isoliertes Privatrecht erfüllt werden, das von der Rechtswissenschaft vornehmlich aus der aufgeklärten Vernunft oder bei Savigny eben aus einem historistischen Geltungsgrund, dem „Volksgeist“, abgeleitet wurde. Universal begründet war das bürgerliche Recht der willkürlichen Disposition des Obrigkeitsstaates entzogen.26 Das öffentliche Recht hingegen wurde dem Privatrecht entgegengesetzt als Recht des staatlichen Eingriffs und Zwangs, das vornehmlich aktuellen Staatszwecken diente.27 Untereinander ließ der obrigkeitliche Staat seine männlichen28 Bürger gewähren, Haverkate, Jurisprudenz: Wissenschaft und Politik, 1975, S. 298. Methode als Machtfaktor, 1987, S. 352; vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung – entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S.  80 f. 25  Grimm, ebd., S. 354. 26  Ausführlich Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, 1987, S. 88 ff. 27  Zum Leitbild des ‚Obrigkeitsstaates‘ Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006, S.  93 f. 28  Das Recht des feudalen, aber auch des aufgeklärt-liberalen 19. Jahrhunderts diente geschlechtsspezifisch ausschließlich männlichen Interessen. „Der Bürger“ des 19. Jahrhunderts wurde als Mann gedacht, die Frau über den ehelichen Kontrakt an diesen gebunden; vgl. Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, 2006, S. 30; siehe auch die Beiträge in Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997; zu den philosophischen Grundlagen des liberalen Gesellschaftsvertrags als „sexual contract“ Pateman, The Sexual Contract, 1988, S. 41. 23  Vgl.

24  Grimm,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

schützte deren Eigentum, Erbrecht, Gewerbefreiheit und Privatautonomie. Das Privatrecht sicherte so vor allem den ökonomischen Liberalismus, während dem Bürgertum elementare Freiheits- und Partizipationsrechte weithin versagt blieben.29 Der Savigny-Schüler Puchta entwickelte das systematische Methodendenken maßgeblich fort. Er fasste die Rechtswissenschaft selbst als Quelle neuen Rechts auf und stellte sie dem Gewohnheitsrecht und dem Gesetzesrecht als gleichwertig zur Seite. Wissenschaftliches Recht sollte als „Produkt einer wissenschaftlichen Deduktion“ entstehen. Die Juristen waren nach seiner Auffassung „die Träger der wissenschaftlichen Wahrheit“.30 Der später als „Begriffsjurisprudenz“31 bekannt gewordene methodische Ansatz Puchtas basierte unter anderem auf der Vorstellung, dass sich aus den vorhanden Rechtssätzen ein System von Begriffen ableiten lasse, aus dem heraus auch Lücken des positiven Rechtsstoffs geschlossen werden könnten.32 Im vorhandenen Rechtsstoff sollte mithin das zugrunde liegende ‚System‘ aufgedeckt werden;33 und genau hierfür sollten die Juristen als Repräsentanten des ‚Volksgeistes‘ verantwortlich zeichnen. Auf diese Weise wurde die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts weitgehend von außerjuristischen Einflüssen abgekoppelt. Der Jurist wurde zum wissenschaftlich-neutralen Begriffsarbeiter. Wie schon bei Savigny angelegt, erübrigte sich nach dem Ansatz Puchtas eine methodologische Überprüfung und Erneuerung des 29  Vgl. Dilcher, Der deutsche Juristenstand zwischen Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft, 1997, S. 180 f. Noch wenig untersucht ist der Zusammenhang zwischen der disziplinären und methodologischen Entwicklung der Rechtswissenschaften an den Universitäten und der Juristenausbildung jener Zeit. Die praktische Arbeit und den Umgang mit dem bestehenden Recht lernten die Juristen nicht an den Universitäten, sondern im Vorbereitungsdienst, der im 18. Jahrhundert in Preußen und später auch in anderen deutschen Ländern eingeführt worden war. In einem juristischen Beruf konnten nur Männer tätig werden, die sich der staatlichen Ausbildung unterworfen hatten; vgl. Lührig, Die Diskussion über die Reform der Juristenausbildung von 1945 bis 1995, 1997, S. 37 f.; Rueschemeyer, Lawyers and their Society – A Comparative Study of the Legal Profession in Germany and in the United States, 1973, S. 150 f. Das preußische Ausbildungsmodell war ein anspruchsvolles Ausleseverfahren, bei dem begüterte männliche Bürgerkinder genauso große Chancen hatten wie Adlige; damit wurde auch die Grundlage zum Juristenmonopol gelegt. 30  Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 77 f. 31  Vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Punchta, 2004, S. 102 ff.; zur polemischen (und sachlich wohl nicht gerechtfertigten) Prägung der als abwertend empfundenen Bezeichnung „Begriffsjurisprudenz“ durch den späten Jhering siehe auch Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 359. 32  Zur ‚Genealogie der Begriffe‘ Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit, 2004, S.  47 ff. 33  Haferkamp, Georg Friedrich Punchta, 2004, S. 220 ff.



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Rechtsstoffs vor dem Hintergrund einer sich wandelnden sozialen und politischen Realität. Das positivistische Rechtsdenken wurde in der Mitte des Jahrhunderts von Gerber in die germanistische und von Jhering in die romanistische Zivilistik übernommen und fortentwickelt. Ihnen ging es um die vollständige Lösung der Rechtswissenschaft von ihren historischen und sozialen Bezügen. Die historische Methode konnte nach Ansicht Gerbers und des frühen34 Jhering nur zum Verständnis eines positiven Rechtsstoffs führen und war dementsprechend rezeptiv. Die eigentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft sollte aber darin liegen, in der Gegenwart selbst produktiv zu werden. Voraussetzung dafür war, dass man „den gegebenen Rohstoff zu Begriffen“ verflüchtigte. Die von allen Bindungen an die Realität freien Begriffe sollten das produktive Element der Rechtswissenschaft darstellen. Am Ende dieses ‚Objektivierungsprozesses‘ beherrschte das Recht selbst die Verhältnisse und war nicht mehr deren Ausdruck.35 Zwar räumte Gerber ein, dass staatliche und soziale Zustände dem Recht eine bestimmte Richtung geben könnten. Doch verwies er sie in den juristisch unerheblichen Bereich der Motive.36 Die begrifflich-systematische und „konstruktive“ Behandlung des Rechtsstoffs durch die Juristen bezeichnete Gerber als die „juristische Methode“.37 Dieses Programm schien, wie Stolleis bemerkt, „nicht nur Abwehrkräfte gegen politische Pressionen sowie Rechtssicherheit zu garantieren, sondern auch ‚Wissenschaftlichkeit‘ und einen entsprechenden sozialen Status der Jurisprudenz“.38 Für den zeitgenössischen Beobachter Max Weber stellte das generalisierende und systematisierende Vorgehen der Jurisprudenz den Endpunkt einer Entwicklung einer formalen Rationalität des Rechts dar; er bescheinigte ihm „den Höchstgrad methodisch-logischer Rationalität“.39 Mitte des 19. Jahrhunderts kam es auch in Deutschland zu schwerwiegenden sozialen Veränderungen im Zuge der industriellen Revolution. Die 34  Zu Jhering als Jurist der „Begriffsjurisprudenz“ und dessen Würdigung Seinecke, Methode und Zivilrecht beim „Begriffsjuristen“ Jhering (1818–1892), 2012. 35  Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 96 ff. 36  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 359. 37  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 332 f. 38  Ebd., S. 331. 39  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 / 22 (Neudruck 1972), S. 397, 468 ff.; ausführlich Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2008. Zu Webers These der ‚Rationalisierung des Rechts‘ Uecker, Die Rationalisierung des Rechts, 2005; insbesondere zur ‚Befangenheit‘ Webers, der in seinem wissenschaft­ lichen Werdegang selbst durch die positivistische Rechtswissenschaft geprägt war, ebd., S. 59 ff.; zusammenfassend Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 2007, S. 96 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Gesellschaft der Warenproduzenten spaltete sich in Unternehmer und Lohnarbeiter auf. Letztere mussten teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und bekamen oft nur so viel Lohn, wie sie zu einem bescheidenen Leben und Überleben brauchten, während sich die Produktionsmittel in der Hand des Unternehmertums vermehrten.40 Das „Fundament annähernder sozialer Gleichheit“, auf dem der ökonomische Liberalismus seine „gerechtigkeitsstiftende Funktion zu erfüllen vermochte, zerbrach“.41 Im Gewand neutraler Begriffsarbeit und Systematisierung rettete ihn die Zivilrechtswissenschaft nun allerdings bis hinein in die große privatrechtliche Kodifikation am Ende des Jahrhunderts.42 Wie Grimm zusammenfasst: Als der Liberalismus um die Jahrhundertmitte seinen Vertretungsanspruch für die Gesamtgesellschaft einbüßte und klassenideologische Züge annahm, fungierte die Begriffsjurisprudenz in ihrer scheinbaren Neutralität, die wie Jhering sich ausdrückte, die Frage nach dem Warum des positiven Rechts nicht aufkommen ließ, als seine wichtige Stützte.43

b) Die Übertragung der juristischen Methode auf das Öffentliche Recht durch Gerber und Laband Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Wissenschaft vom Staatsrecht mit der allgemeinen Staatslehre eng verbunden. Die Staatswissenschaften in ihrer Gesamtheit umfassten damals die Staatsphilosophie, -ökonomie, -geschichte und das Staatsrecht; die Grenzen waren fließend.44 Auch das 40  Eindrücklich zur Situation in England, dem ‚Mutterland‘ der industriellen Revolution, die Studie von Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845. Trotz der politischen Voreingenommenheit Engels und mancher methodischer Ungenauigkeiten handelt es sich um eine Pionierarbeit der empirischen Sozialforschung; vgl. Peter, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 2001. Zur mangelnden Sozial(schutz)gesetzgebung vgl. Wesel, Geschichte des Rechts – Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 2006, Rn. 287. 41  Grimm, Voraussetzungen der Vertragsfreiheit, 1987, S. 189. 42  Vgl. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 142. 43  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 360. Es nimmt insofern wenig Wunder, dass der Marxismus das Bürgerliche Recht als ein (Klassen-)Recht der Bourgeoisie und die nahezu ausschließlich aus dem Bürgertum besetzte Justiz als eine Klassenjustiz wahrnahm. 44  Vgl. etwa die Ausführungen R. von Mohls zur Geschichte der Staatswissenschaften: „Die wünschenswerthe und rechtlich begründete Beschaffenheit des Staates ist nicht etwa nach apriorischen Gedanken feststellbar, sondern sie wird vielmehr von der jeweiligen geistigen, wirthschaftlichen und geschichtlichen Beschaffenheit des betreffenden Volkes vorgeschrieben. Die Wissenschaft vom Staate muss also allen begründeten Forderungen gerecht werden, welche das verschiedene, veränderliche und sich ausdehnende Leben stellt“, Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 1855 (Neudruck 1960), S. 5.



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Staatsrecht blieb weitgehend dem naturrechtlichen Denken der Aufklärung verpflichtet;45 die Staats(rechts)lehre der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht positivistisch.46 In Teilen suchte sie vom Standpunkt eines bürgerlichen Liberalismus aus nach einem Weg der Mitte und politischen Vernunft.47 Man hoffte auf eine Reform des Staatswesens und die Bildung eines Nationalstaates über eine Konstitutionalisierung der monarchischen Herrschaft und eine parlamentarischen Mitherrschaft des Bürgertums. Die Grundrechte, wie sie vom Bürgertum gefordert, von der monarchischen Herrschern im Zuge der Konstitutionalisierung jedoch nur stückchenweise zugestanden wurden,48 fungierten dabei noch als elementare Stütze der Forderung nach bürgerlicher Freiheit und hatten insoweit einen primär programmatischen Gehalt.49 Nachdem die ‚Deutsche Revolution‘ gescheitert war, war auch der Idealismus der bürgerlichen Bewegung zerstört.50 Die auf Ausweitung der bür45  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 49: Neben der Behandlung des Reichsrechts (der Reichspublizistik) hatten die Öffentlichrechtler einen Grundbestand von vernunftrechtlichen Traditionen bewahrt. Sollte das öffentliche Recht nach den Umwälzungen der Jahrhundertwende und der beginnenden Restauration „überhaupt eine Chance haben, weiterhin als Wissenschaft zu gelten, so musste es seine seit dem 17. Jahrhundert herausgearbeiteten ‚überzeitlichen‘ Elemente, also die Grundfiguren des Natur- und Völkerrechts sowie des allgemeinen Staatsrechts (Ius Publicum universale) herüberretten, ebenso die Methoden der allgemeinen Staatswissenschaften und – nicht zuletzt – die am Material des Gemeinen Rechts erworbene juristische Schulung“. 46  Allerdings gab es bereits Bestrebungen, sich stärker dem positiven Recht zuzuwenden, dazu Pauly, Der Methodenwandel im Spätkonstitutionalismus, 1993, S.  74 ff. 47  Dilcher, Der deutsche Juristenstand zwischen Ancien Régime und bürger­licher Gesellschaft, 1997, S. 180 f. 48  Siehe etwa die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 im Vergleich zum bürgerlichen Entwurf der „Charte Waldeck“ beziehungsweise der von der Nationalversammlung ausgearbeiteten Paulskirchenverfassung; hierzu Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2009, § 11, § 12 Rn. 368 ff. 49  Vgl. Grimm, Entwicklung der Grundrechtstheorie, 1987; zum ‚programmatischen‘ Charakter der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus auch Hilker, Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus, 2005, S. 327 ff. 50  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 275: „Die mit dem Jahr 1849 verbundene Enttäuschung hat die psychische Disposition einer ganzen Generation bürgerlicher Führungskräfte bestimmt. […] Das bedeutete, das bisher Erstrebte fallenzulassen, den freiheitlich verfaßten Nationalstaat zu verschieben und der Wiedererrichtung des Deutschen Bundes ohnmächtig zuzusehen. Dies war nicht nur ein Abschied von den politischen Idealen des Vormärz, sondern auch vom Idealismus als philosophischem Modell. Dieser Abschied vom ‚Idealismus‘ wird philosophiegeschichtlich meist mit dem Zerfall des Hegelianismus zusammengebracht. Zugleich steckte darin aber auch eine politische Entscheidung. Im Grunde begannen die Liberalen zu akzeptieren, was die Vertreter der Gegenrevolution immer behaup-

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gerlichen Rechte und Steigerung der politischen Partizipation angelegte Entwicklung kam weitgehend zum Erliegen.51 Die gescheiterte Revolution von 1848 war der Nährboden, auf dem das positivistische Methodendenken auch in der Staatswissenschaft gedeihen konnte und sich seinen Weg zur herrschenden Methode bahnte. Die meisten deutschen Staaten hatten Verfassungen erlassen und waren damit den Wünschen des Bürgertums entgegengekommen, auch wenn das Prinzip der monarchischen Herrschaft beibehalten wurde. Andererseits war der Wille des Bürgertums, seine weitergehenden verfassungspolitischen Ziele gegen den Widerstand der Monarchie durchzusetzen, angesichts der Revolutionserfahrungen und des nachdrängenden Vierten Standes gebrochen.52 Zusammen mit dem neuen Wissenschaftsideal hatten diese Entwicklungen maßgeblichen Einfluss auch auf die Methodik des öffentlichen Rechts, wie Stolleis schreibt: [Die von Puchta und Gerber] proklamierte Epoche der „Wissenschaftlichkeit“, in der sich vernunftrechtlicher System- und ein idealistischer Begriffsglaube […] verbanden, erfasste nun auch das öffentliche Recht. Wenn es gelingen sollte, parallel zur Pandektenwissenschaft eine von aller Politik befreite „Genealogie der Begriffe“ zu entwickeln, innerhalb derer alles seinen systematisch richtigen Ort, seine Logik und seine immanente Wahrheit finden könnte, dann wäre die Wissenschaft des öffentlichen Rechts endlich etabliert und der größeren zivilrechtlichen Schwester ebenbürtig geworden. Der Wunsch, das unselige politische Scheitern zu vergessen, und das Gefühl, einen „Wendepunkt der Rechtswissenschaft“ mitzuerleben, ergänzten sich hier mit der generellen Absicht, den Wissenschaftscharakter der eigenen Disziplin durch die Distanzierung von Tagesereignissen nachzuweisen. So war das Staatsrecht doppelt motiviert, die Politik abzuschütteln, als lästige Erinnerung im Katzenjammer der gescheiterten Revolution und als Hindernis auf dem Weg zur öffentlich-rechtlichen „Konstruktionsjurisprudenz“.53

Es war zunächst Gerber, der die juristische Methode aus dem Privatrecht auf das Staatsrecht übertrug.54 Dabei war die Entscheidung für eine rein tet hatten, nämlich dass Idealismus ohne reale Macht auf Sand gebaut sei und – eine verhängnisvolle These – daß Parlamente zu kraftvoller politischer Tat nicht fähig seien.“ 51  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, 1988, S. 208 ff. 52  Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 362. 53  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 276 f. 54  Ausführlich Pauly, Der Methodenwandel im Spätkonstitutionalismus, 1993, S.  95 ff.; siehe Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, 1880 (Neudruck der 3. Aufl. 1969), S. V f.: „Ein Theil unserer Schriftsteller scheint die Aufgabe der rechtlichen Bestimmungen der durch unsere modernen Verfassungen gegebenen Begriffe nicht sowohl als eine juristische, denn eine staatsphilosophische oder politische anzusehen. […] Sodann aber scheint mir […] ein dringendes Bedürfniss die Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems zu sein […] Erst durch Begründung eines solchen Systems, welches das eigenthümliche Wesen unseres modernen Verfassungsstaats zum anschaulichen Gesammtausdrucke brächte und die rechtlichen



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 53

dogmatische Behandlung des Staatsrechts zugleich die Entscheidung für die Wahrung des verfassungspolitischen status quo.55 Gerbers „unpolitisches Staatsrecht“56 war in diesem Sinne nicht der Ausdruck wissenschaftlicher ‚Neutralität‘, sondern entsprach ziemlich genau den damaligen Herrschaftsverhältnissen und nicht zuletzt der Überzeugung Gerbers selbst, der die liberale Bewegung als „Ideologie“ ablehnte. Das Politische sollte für die Staatsrechtswissenschaft nicht Zweck, sondern nur Material sein, das im Sinne einer „streng juristischen Wissenschaft“ erst zu verwerten sei.57 Entsprechend verstand Gerber die Grundrechte mit ihrem gesellschaftspolitisch progressiven Gehalt lediglich als objektives Recht; subjektive Rechtsposi­ tionen der Bürger sollten sich nur aus dem niederrangigen Verwaltungsrecht ergeben. Damit war der methodologische Weg einer „streng wissenschaft­ lichen Dogmatik des positiven Rechts“ geebnet, die die Funktion der Grundrechte schließlich auf den formalen Vorbehalt des Gesetzes reduzierte und ihre positive Anspruchs- und Programmfunktion gegenüber Staat und Gesetzgebung, die ihnen noch im Vormärz zukam, negierte.58 Das ‚Programmatische‘ der Grundrechte verblieb höchstens noch im Raum des Politischen, keinesfalls aber des Juristischen. Im rechtlichen Sinn wurden die Grundrechte sozusagen ent-materialisiert. Zur herrschenden Methode59 stieg der Positivismus allerdings erst später, nach der Reichsgründung und dem Erlass der Reichsverfassung 1871 auf; letztere zementierte das überkommene Herrschaftsmodell und gab zugleich der systematischen Behandlung des Staatsrechts eine positivrechtliche Basis. Die Anwendung des positivistischen Methodenverständnisses auf das Staatsrecht wurde hauptsächlich von Laband betrieben, der daher auch als „geistiger Testamentsvollstrecker“ Gebers bezeichnet worden ist.60 Laband perfektionierte für das Staatsrecht die streng juristische Methode, die den Verzicht auf alle außerjuristischen, insbesondere historischen, politischen und staatsVerbindungen aller einzelnen Erscheinungen klar stellte, würde nach meinem Dafürhalten das deutsche Staatsrecht seine wissenschaftliche Selbständigkeit erlangen und die Grundlage sicherer juristischer Deduktion gegeben sein.“ 55  Vgl. Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 362. 56  Ausführlich Kremer, Die Willensmacht des Staates – Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerber, 2008, S. 278 ff. 57  Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 145 f.; vgl. auch Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, S.  185 ff. 58  Vgl. Grimm, Entwicklung der Grundrechtstheorie, 1987, 326 ff. 59  Vgl. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S.  238 ff. 60  Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 3, Halbbd. 2, 1910 (Neudruck 1957), S. 833.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

philosophischen Betrachtungen forderte.61 „Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts“ bestand danach „in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen“.62 Wissenschaftstheoretisch verortet Laband das Staatsrecht damit außerhalb der übrigen Staatswissenschaften in direkter Nachbarschaft zur Zivilrechtswissenschaft. In der juristischen Methode zeige sich der „innere, unauflösliche Zusammenhang des Verfassungsrechts mit den übrigen Gebieten der Rechtswissen­schaft“.63 Neben und unabhängig von der juristisch-dogmatischen Behandlung des Staatsrechts entwickelte sich die (staats)soziologische Sichtweise, die sich mit den tatsächlichen, empirisch fassbaren Phänomen des ‚Staates‘ und der ‚Gesellschaft‘ befasste. Diese Aufspaltung der Perspektiven fand ihre Basis in der Philosophie des Neukantianismus, der die Wissenschaften im Sinne einer strengen Trennung von Sein und Sollen, empirischer und normativer Betrachtung, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkenntnistheoretisch prägte.64 Auf der Basis des erkenntnistheoretischen Dualismus war auch die alte Einheit der Staatswissenschaften zerbrochen; „vielmehr befassten sich nunmehr Staatsrecht und Staatssoziologie entweder mit der normativen oder mit der tatsächlichen Seite des Staates, wobei jede Disziplin methodenmonistisch begründete Exklusivität für sich beanspruchte“.65 Kremer, Die Willensmacht des Staates, 2008, S. 290 f. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1911 (Neudruck der 5. Aufl. 1964), S. IX. 63  Ebd., S. VI. 64  Zur Entwicklung der erkenntnistheoretischen Programmatik Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 1986, S. 59 ff.; zum Wertedenken siehe auch Wapler, Werte und das Recht – Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus, 2008. Im Gegensatz zum Hegelʼschen Idealismus propagierte der Neukantianismus in Anlehnung an Kant eine strikte Trennung zwischen ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, zwischen Beschreibung und Wertung. Es entwickelte sich ein Bild von Wissenschaft, das sich hauptsächlich an den naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen der Beobachtung und Analyse von objektiven Gegenständen und der Formulierung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten ausrichtete und das Programm der Soziologie in einer ‚sozialen Physik‘ sah, die als rein deskriptive Wissenschaft jeden Rekurs auf wertende, philosophische oder politische Argumente zu vermeiden trachtete; so Ellscheid, Strukturen naturrechtlichen Denkens, 2004, S.  202 f.; auch Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, 2004, S. 90 f. 65  Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S. 92. Von der neukantischen Dichotomie zwischen Sein und Sollen ist auch die Allgemeine Staatslehre Georg Jellineks geprägt, siehe Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 145 f., der allerdings darauf hinweist, dass Jellinek – im Gegensatz zu Laband – zwischen Faktizität und Normativität eine Vermittlung sieht; vgl. auch Pauly, Der Methodenwandel im Spätkonstitutionalismus, 1993, 61  Vgl.

62  Laband,



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Vor diesem Hintergrund ist auch die überaus scharfe Zurückweisung Kelsens gegenüber dem Versuch von Ehrlich zu verstehen, die „Soziologie des Rechts“ zum (Erkenntnis-)Gegenstand der Rechtswissenschaften zu machen.66 Ein solcher „Methodensynkretismus“ vermische in unzulässiger Weise normative Fragen mit empirischen.67 Die Staatsrechtswissenschaft hatte sich mit ihrem Bekenntnis zur ‚juristischen Methode‘ als einer rein normativ-konstruktiven, auf Logik und Systematik beruhenden Form der Behandlung des Rechtsstoffs von der Soziologie, der Nationalökonomie, der Philosophie und Geschichte abgegrenzt. Sie war damit an den juristischen Fakultäten als Teil der dogmatischen Rechtswissenschaft neben dem Zivil- und Strafrecht etabliert. Man glaubte, Neutralität und Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft durch Entmaterialisierung erlangt zu haben. Durch die Zunahme des geschriebenen Rechts, vor allem der großen privatrechtlichen Kodifikationen, bot sich den Juristen des Kaiserreichs bald eine ausreichende Stofffülle, die wissenschaftlich kommentiert und systematisiert werden konnte. Nachdem mit der Errichtung des Reichsgerichts 1879 in Leipzig jene Bedingung für eine einheitliche Rechtsfortbildung erfüllt war, die Savigny vier Jahrzehnte zuvor aufgestellt hatte, begannen die zivilrechtlichen Hochschullehrer in ihren Kommentierungen Gerichtsentscheidungen zu zitieren und zu verarbeiten. Im Staatsrecht hingegen hatte der Durchbruch der juristischen Methode zunächst eine Entfremdung der Dogmatik von den Problemen des Verfassungs- und Rechtslebens zur Folge. Dies lag vor allem daran, dass die politische Wirklichkeit im Bismarckreich S. 219 f.: Es ging Jellinek darum, die ‚juristische Methode‘ an eine einheitliche Wissenschaft vom Staat zurückzubinden. 66  Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 18 f. 67  Vgl. Kelsen, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie (1915), 2003, S. 4  f.: „Der fundamentale Gegensatz, der die Rechtswissenschaft in bezug auf Gegenstand und Methode in zwei von Grund aus verschiedene Richtungen zu spalten droht, ergibt sich durch die doppelte Betrachtungsweise, der man die Rechtserscheinung unterwerfen zu können glaubt. Man kann das Recht als Norm, d. h. als eine bestimmte Form des Sollens als spezifische Sollensregel betrachten und demgemäß die Rechtswissenschaft als eine normative und deduktive Wertwissenschaft, wie die Ethik oder Logik konstituieren. Man versucht aber auch, das Recht als einen Teil der sozialen Wirklichkeit zu begreifen, als Tatsache oder Vorgang, dessen Regelmäßigkeit auf induktivem Wege erfaßt und kausal erklärt wird. […] Von einem Kampf beider Disziplinen in dem Sinne, als ob vom allgemeinen Standpunkte wissenschaftlicher Erkenntnis nur entweder die eine oder die andere möglich und berechtigt sei, kann natürlich nicht die Rede sein. Ganz und gar unzulässig ist lediglich eine Vermengung der Problemstellung beider Richtungen, ein Synkretismus der Methoden normativer Jurisprudenz und explikativer Rechtssoziologie“; zusammenfassend Lüderssen, Hans Kelsen und Eugen Ehrlich, 2005.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

kaum Verfassungsstreitigkeiten kannte; jedenfalls wurden sie nicht als solche wahrgenommen. Das Verfassungsleben entwickelte sich „von selbst in die gewünschte Richtung“; die Entscheidung von Verfassungskonflikten war noch „klar eine politische Machtfrage“.68 Ausfluss der positivistischen Staatslehre, wie sie bei Gerber angelegt war und von Laband fortgeführt wurde, war nicht zuletzt ein formales Verständnis der Grundrechte. Dort, wo sie in den Verfassungen der Länder vorhanden waren – die Reichsverfassung verfügte über keinen Grundrechtskatalog –, wurde ihnen die Bedeutung als subjektive Rechte abgesprochen. Ihre rechtliche Wirkung war somit auf den Vorbehalt der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns reduziert.69 Diese Sichtweise der Grundrechte wurde später von Otto Mayer auch für das Verwaltungsrecht übernommen.70 Die Grundrechte bedeuteten aus seiner Sicht „keineswegs“ die „Aufstellung fester Schranken für die Staatsgewalt“. Vielmehr könne das Gesetz alles; alle Freiheitsrechte seien durch das Gesetz einschränkbar.71 Damit war die Entwicklung zum Gesetzespositivismus vollzogen – das Gesetzesrecht triumphierte über die bürgerlichen Grundrechte und die Verfassung. Die Juristen sollten sich als ‚Diener‘ des Rechts ganz in den Dienst der förmlichen Gesetzgebung stellen, ohne diese selbst an extern begründeten oder aus Grundrechten abgeleiteten materiellen Anforderungen zu messen.

68  Friedrich,

Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 247. bei Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1911 (Neudruck der 5. Aufl. 1964), S. 151 f. Fn. 2; Grimm, Entwicklung der Grundrechtstheorie, 1987, 334 ff. 70  Mayers Lehrbuch zum Deutschen Verwaltungsrecht aus den Jahren 1894–95 erlangte überragende Bedeutung für die weitere wissenschaftliche Entwicklung dieses Rechtsgebiets. Ähnlich wie Laband dies zuvor im Staatsrecht getan hatte, konstruierte Mayer eine umfassende Dogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts, die auf dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns im Obrigkeitsstaat beruhte und deren zentrale dogmatische Figur der Verwaltungsakt war. Stolleis schreibt: „Es war die Erfüllung jenes immer wieder formulierten Postulats, nämlich die ‚juristische Durchdringung des Stoffes und eine rechtswissenschaftliche Konstruktion der verwaltungsrechtlichen Institute‘. Otto Mayer selbst hatte 1888 erklärt: ‚Soll die Verwaltungsrechtswissenschaft als gleichberechtigte juristische Disciplin neben die älteren Schwestern treten, so muss sie ein System von eigenthümlichen Rechtsinstituten der staatlichen Verwaltung sein‘, aber er hat als solche ‚eigenthümliche‘ Figur eigentlich nur den hoheitlichen Befehl gegenüber den ‚Unterthanen‘ entdeckt“, Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 404 f. 71  Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1924, S. 70 f.; Noch heute finden sich im Verwaltungsrecht deutliche Spuren des obrigkeitsstaatlichen und liberalen Denkens des Spätkonstitutionalismus, dazu Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006, S.  93 ff. 69  Vgl.



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 57

c) ‚Aufbruch‘ in der Methodenlehre am Anfang des 20. Jahrhunderts: Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz Bereits gegen Ende des Spätkonstitutionalismus wurde zunehmend die Entfremdung der positivistisch arbeitenden Rechtswissenschaft von der sozialen Wirklichkeit beklagt. Dies betraf zunächst wiederum das Privatrecht und dessen große Kodifikation, das 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch, das durch die Pandektenwissenschaft und das Rechtsverständnis des Frühkapitalismus geprägt war und nahezu jeden Gedanken an so­ zialen Ausgleich vermissen ließ.72 Mit zunehmender Kodifizierung des Zivilrechts vollzog sich – parallel zum öffentlichen Recht – der Wandel von der Pandektenwissenschaft zum Gesetzespositivismus.73 War es die Entfremdung des positiven Rechts und seiner wissenschaftlichen Betrachtung von den sozialen Fragen jener Zeit, aus der sich die Kritik am herrschenden Rechtsverständnis speiste, so verwundert es nicht, dass die methodologische Gegenbewegung zunächst nicht von der Philosophie, sondern von der neu entstandenen Wissenschaft von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Soziologie, ausging.74 Anders als Max Weber, der deutlich zwischen einer verstehenden Soziologie und der normativen Funktion des Rechts unterschied, also den soziologischen vom normativ-juristischen Rechtsbegriff ganz im Sinne der neukantianischen Sein-Sollens-Unterscheidung abgrenzte,75 zielten die Vertreter76 der so genannten Freirechtsschule auf ein anderes, ein soziologisch orientiertes Verständnis von ‚Recht‘ und ‚Rechtswissenschaft‘. In diesem Sinn ist die Freirechtsschule mit der Bewegung des legal realism in den USA vergleichbar.77 Die Freirechtsbewegung wandte sich nicht nur gegen die formalistische Behandlung des Rechts durch die Justiz, sondern auch gegen deren positivistische Fixierung auf das staatlich gesetzte Recht.78 72  Zweigert / Kötz,

Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 147 f. Die Freirechtsbewegung, 1968, S. 19 f. Die Bedeutung des gemeinen Rechts und damit des wissenschaftlichen Rechtspositivismus nahm in dem Maße ab, in dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach der Reichsgründung 1971 allgemeines deutsches Recht und Reichsgesetze entstanden. 74  Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 44. 75  Dazu Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, S. 71. 76  Die drei Hauptvertreter der Bewegung waren Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz und der Karlsruher Rechtsanwalt Ernst Fuchs. 77  Grdl. Llewellyn, A Realistic Jurisprudence – The Next Step (1930), 1993; Frank, Law and the Modern Mind, 1993; zusammenfassende Darstellung von Aichele, Legal Realism and Twentieth-Century American Jurisprudence, 1990; siehe auch unter E. II. 3. b). 78  In der unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius 1906 veröffentlichten Streitschrift „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“ sagte Kantorowicz dem Rechtspositivismus 73  Riebschläger,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

So verband Eugen Ehrlich, der sowohl als Begründer der Freirechtsschule als auch der deutschsprachigen Rechtssoziologie angesehen wird,79 die Forderung nach einer freieren Rechtsfindung mit dem Programm einer soziologischen Erforschung des „lebenden Rechts“.80 Dem gesetzespositivistischen und staatsorientierten Denken der herrschenden Jurisprudenz setzte er einen soziologischen Rechtsbegriff entgegen. Recht existiere als eine „Ordnung menschlicher Verbände“.81 Bereits hieraus entstünden für den Einzelnen verbindliche Handlungsnormen. Gesellschaftliches Recht und staatliches Recht waren dabei in Ehrlichs Verständnis kein Gegensatz, sondern in vielfacher Weise miteinander verknüpft. So entstünde staatliches Recht häufig aus den gesellschaftlichen Rechtsüberzeugungen, wirke andererseits auch auf diese ein. Es könne sich zu dem durch soziale Übung geschaffenen Rechtstatsachen affirmativ, negativ oder indifferent verhalten.82 Für die Rechtswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin forderte Ehrlich, anstelle der staatlich gesetzten Normen die gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts zu erforschen, sich mithin soziologischer Methoden zu bedienen. Für die Rechtsanwendung forderte er, Entscheidungen stärker auf soziale Gerechtigkeitserwägungen zu stützen. Dort, wo das Gesetzesrecht keine eindeutigen Aussagen treffe, also „Lücken“ im Gesetz bestünden, sollten Richter auf das „lebende Recht“ zurückgreifen.83 „den Kampf“ an und forderte eine Hinwendung zum „freien“, das heißt gesellschaftlich gelebten Recht; Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), 1962, S. 15: „Der Positivismus des 19. Jahrhunderts, der sich gerade an der Überwindung des Naturrechts entwickelt hatte, hat die Überzeugung zum Dogma erhoben, daß es kein anderes Recht gebe, als das vom Staat anerkannte.“ Ebd., S. 18: „Das freie Recht ist der Boden, aus dem das staatliche Recht hervorgeht: fast alle gesetzgeberischen Gedanken haben vorher als Sätze freien Rechts existiert. Alle Kritik des staatlichen Rechts, aus der seine Fortbildung erwächst, muß begriffsnotwendig den Maßstab freiem Recht entnehmen (wozu für den Kritiker auch fremdstaatliches Recht gehört). Aus freiem Recht endlich muß das Gesetz in sich geschlossen werden, müssen seine Lücken ausgefüllt werden.“ 79  Grdl. zur Freirechtsbewegung: Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903; zur Rechtssoziologie: Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913; hierzu siehe auch Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1986. 80  Ehrlich wurde dabei von Savignys Konzept des „Volksgeistes“ inspiriert. Allerdings macht er der Historischen Schule den Vorwurf, ihr Programm der Erforschung des außerstaatlichen Rechts nicht ernst genommen zu haben: „Die Begründer der historischen Schule haben nie versucht, die methodologischen Grundsätze, die sie lehrten, in ihren dogmatischen Arbeiten auch zu bestätigen“, Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 26 f. 81  Ebd., S.  32 ff. 82  Siehe Rehbinder, Begründung der Rechtssoziologie, 1986, S. 69 f.; vgl. auch Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 2007, S. 74 ff. 83  Zusammenfassend Rehbinder, ebd., S. 67 ff.



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Die Idee der Freirechtsbewegung bestand damit nicht zuletzt in der teilweise radikal vorgebrachten Forderung nach einer größeren Freiheit der Richter, die nicht (nur) staatliche Gesetze formaljuristisch anwenden, sondern in erster Linie ‚gerechte‘ Entscheidungen treffen sollten. Dem Ideal eines „Gesetzes- und Begriffsautomaten“ wurde das Ideal des „Richterkönigs“ gegenübergestellt.84 Damit rückten die Rechtsanwender in das Blickfeld. Entsprechend wurde der Ruf nach einer praxisnäheren Juristenausbildung laut, die allen sozialen Klassen und nicht nur Söhnen begüterter Bürger offenstehen sollte.85 Die nach der Jahrhundertwende immer deutlicher zu vernehmende Kritik am formaljuristischen Rechtsdenken erschöpfte sich indes nicht im Vorwurf einer Klassenjustiz. Sie kam auch aus dem Bürgertum selbst, vor allem von den Gewerbetreibenden. Von ihnen wurden das geltende bürgerliche Recht und die formaljuristische Auslegung durch die Gerichte häufig als lebensfremd und zu starr empfunden.86 Das Bedürfnis nach einer Lockerung der zivilistischen Dogmatik wurde offenkundig, als zur Zeit der Weimarer Republik Krisen und Inflation die deutsche Wirtschaft erschütterten und auch die Zivilrechtsdogmatik vor Herausforderungen stellten. Die weitgehend anerkannten Defizite führten in der Konsequenz zur Flexibilisierung der Rechtsanwendung durch gerichtliche Rechtsschöpfung beziehungsweise Rechtsfortbildung, insbesondere über die großzügige Heranziehung der Generalklauseln87 und die Schaffung zusätzlicher dogmatischer Konstruktionen, die als Korrektive des geltenden Rechts im Hinblick auf materiale Gerechtigkeitserwägungen dienten.88 In der zivilistischen Methodenlehre fand diese Entwicklung in der Erweiterung des Methodenarsenals durch Figuren wie ‚Analogie‘, ‚objektiver Wille‘ des Gesetzgebers oder ‚Zweck‘ (telos) des Gesetzes ihren Nieder84  Silberg,

Hermann Kantorowicz und die Freirechtsbewegung, 2004, S. 9 ff. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1968, 16 ff., der darauf hinweist, dass es kaum verwunderlich sei, „daß die wenigen Berufsjuristen, die zwar nicht zum Proletariat gehörten, aber der Arbeiterbewegung nahe standen, sich der Freirechtsschule anschlossen“, ebd., S. 20. 86  Ausführlich Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende – Wissenschafstheoretische Präzisierungsversuche oder Antworten auf den Funktionswandel von Recht und Justiz, 1988. 87  So sah bereits Max Weber in den im BGB verankerten Begriffen wie „Treu und Glauben“ und „gute Sitten“ das Einfallstor gesinnungsethischer Rationalisierung der Rechtspraxis, welche den Bedürfnissen des modernen Wirtschaftsverkehrs entgegenkomme, Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 / 22 (Neudruck 1972), S.  505 f.; dazu Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 2007, S. 99. 88  Beispielsweise der Entwicklung der culpa in contrahendo durch Jhering, der positiven Vertragsverletzung durch Staub und die Dogmatik vom Wegfall der Geschäftsgrundlage durch das Reichsgericht. 85  Vgl.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

schlag.89 Den rechtstheoretischen Hintergrund bildete die von Philipp Heck begründete Interessenjurisprudenz, die eine vorsichtige methodische Öffnung einleitete und sich dabei deutlich von radikaleren Bewegungen wie der Freirechtsschule abgrenzte. Sie ging davon aus, dass für gesetzliche Normen jeweils bestimmte Interessen kausal seien, die der Jurist für die Normauslegung zu ermitteln habe. Dort, wo das Gesetz Unklarheiten oder Lücken aufwies, sollte die Entscheidung nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Interessenbewertung getroffen werden.90 Fehle es an einer solchen gesetzlichen Wertung, sei der Richter selbst zu einer Abgrenzung der Interessen berufen.91 Letztlich führten die im Zuge der Interessenjurisprudenz eingeführten Neuerungen zu mehr dogmatischer Flexibilität und zur Einbeziehung von praktisch-sozialen Gerechtigkeitserwägungen in die Rechtsmethodik, allerdings nur in den engen Grenzen von Gesetz, dogmatischem System und Fallgruppenbildung. Im Zuge der damit eingeleiteten behutsamen methodischen Öffnung entwickelte sich jenes eigentümliche Wechselspiel zwischen vorsichtig voranschreitender Rechtsprechung und kommentierender und systematisierender Rechtswissenschaft, das bis heute die deutsche Rechtskultur prägt.92 Im Rahmen des positiven Rechts entfaltete sich nun das schöpferische Potential der Rechtsdogmatik. d) Zwischenfazit: Positivismus und Leerlauf der Grundrechte In diesem Abschnitt wurde die Entstehung der juristischen Methodenlehre Mitte des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. Die methodologische Entwicklung geht mit der Ausbildung der Zivilrechtswissenschaft als eigenständigem Zweig der Rechtwissenschaft einher, der sich zunächst dem historischen Rechtsstoff des römischen Rechts in systematisierender Absicht (Savigny) zuwandte. Die Abkoppelung der ‚juristischen Methode‘ (Gerber) von den politischen und sozialen Entwicklungen im Sinne ‚neutraler‘ Begriffsarbeit erfasste nach ihrer Übertragung durch Gerber und Laband auch das öffent­ liche Recht. Dabei wurde erkennbar, wie eng die propagierte Enthaltsamkeit des Rechts gegenüber außerjuristischen Einflüssen die Rechtsanwendung an ein formales, jeder materialen Wertung entsagendes Methodenverständnis Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 117 ff. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932. 91  Vgl. Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, 1931. 92  So bemerkt Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 46: „Larenz […] hat von ihr [der Interessenjurisprudenz, d. Verf.] gesagt, ihre Bedeutung könne kaum überschätzt werden, und in der Tat ist eine simplifizierte Interessenjurisprudenz heute die Praktikermethode schlechthin.“ 89  Dazu 90  Vgl.



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 61

knüpfte. Die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge zeigen aber ebenso, dass auf diesem Weg keineswegs ‚neutrale‘ Rechtsanwendung betrieben wurde, wie die meisten Zeitgenossen glauben mochten, sondern dass dieses Methodenverständnis die politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse im ausgehenden 19. Jahrhunderts widerspiegelte. Im Kern bedeutete die Anwendung der juristischen Methode im Zuge der weiteren Ausbildung des positiven Rechts den Vorrang des (einfachen) Gesetzesrechts vor den Grundrechten, deren Gewährleistungen entsubjektiviert, entmaterialisiert und so im Ergebnis auf den Vorbehalt des Gesetzes reduziert wurden. 2. Wandel des staatsrechtlichen Methodenverständnisses in Weimar Die Entwicklung der Verfassungsrechtswissenschaft in der Weimarer Zeit sollte sich in zweierlei Hinsicht als methodisch und methodologisch folgenreich erweisen. Einerseits führte sie zu einer schrittweisen Lösung von der formal-positivistischen Betrachtungsweise des Spätkonstitutionalismus. Immer mehr setzte sich der Vorrang des Verfassungsrechts vor dem einfachen Recht durch. Zum anderen erlebte die Verfassungsrechtstheorie eine Blütezeit, in der sie weit in grundlegende demokratie- und politiktheoretische Fragestellungen hinausgriff. Allerdings war gerade die sich gegen ein enges, positivistisches Methodenverständnis wendende Strömung durch eine teilweise demokratie­ skeptische oder gar -ablehnende Grundhaltung geprägt. Dies hing auch damit zusammen, dass die relativ stabile gesellschaftspolitische Basis des Kaiserreichs und ihres bürgerlich-obrigkeitsstaatlichen ‚Klassenkompromisses‘ mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem abrupten Übergang zur parlamentarischen Republik zerstört war. Die gesellschaftlichen Gegensätze, die sich während des Kaiserreichs herausgebildet und verfestigt hatten, ließen sich nicht von heute auf morgen auflösen. Dies galt zumal vor dem Hintergrund der als Schmähung empfundenen Kriegsniederlage und ihrer Folgen. Sontheimer schreibt: Kaum […] war die Weimarer Verfassung in Kraft und der Versailler Vertrag von deutscher Seite anerkannt, da hatte die Republik bereits eine beachtliche Menge von Feinden. Die Erwartung, welche die Väter der Weimarer Verfassung geleitet hatte, daß in Deutschland eine tragfähige Basis für die Errichtung einer Demokratie gegeben wäre, trog.93

Die politischen Lager waren gespalten. Kommunisten auf der einen und Deutschnationale wie später auch Nationalsozialisten auf der anderen Seite lehnten die Republik und ihre Verfassung ab und bekämpften sie. Doch 93  Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 1968, S.  24 f.

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auch die Parteien der bürgerlichen Mitte und die Sozialdemokraten konnten ihre gesellschaftspolitischen Ziele im Weimarer Staat nicht in der Weise verwirklichen, wie ihre Anhänger sich dies erhofft hatten. Die Epoche von 1919 bis 1932 war – bis auf die ‚prekäre‘ Konsolidierung in den Jahren von 1924 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 – eine Zeit der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, geprägt von rasch wechselnden parlamentarischen Mehrheiten, häufigen Regierungswechseln, Parlamentsauflösungen und Verfassungskrisen.94 Ihr trauriges Ende markieren bekanntermaßen die vom Reichspräsidenten Hindenburg sanktionierte Notstandsgesetzgebung und schließlich die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.95 Mit der neuen Reichsverfassung als Grundlage der Republik gewann indes das Verfassungsrecht und damit auch die Staatsrechtswissenschaft große Bedeutung. Staatsrechtler wie Preuß und Triepel hatten an der Ausarbeitung der Verfassung mitgewirkt. Im Gegensatz zur relativen Kontinuität der Verwaltungsrechtsdogmatik war der Übergang zum parlamentarischen und republikanischen Prinzip für die Verfassungsrechtswissenschaft eine Zäsur, deren „institutionelle und normative Brüche“ die Staatsrechtslehre sofort wahrzunehmen und zu verarbeiten hatte.96 Dabei zeigte sich schon bald die fortwährende, sich mehr und mehr vertiefende Kluft zwischen normativem Anspruch und Verfassungswirklichkeit. Die Staatsrechtswissenschaft war mit dem gesellschaftlichen und politischen Geschehen nicht nur konfrontiert, sondern vielmehr darin einbezogen und verflochten. Viele Verfassungsrechtler wurden in unterschiedlicher Form als Berater und Gutachter für Reichsregierung, Parlament beziehungsweise für einzelne Fraktionen tätig oder wechselten zeitweise oder vollständig in die Politik. Verfassungsrechtliche Streitfragen und Konflikte, bei denen rechtliche Expertise und Unterstützung gefragt war, gab es zuhauf. Dabei verstanden sich die meisten der gegen Ende der Weimarer Republik etwa hundert Rechtslehrer des öffentlichen Rechts selbst zwar als „stille Gelehrte“. Doch war das „Fach als Ganzes […] wie kein anderes zur verfassungsorientierten Kommentierung der Politik, zur Vor- und Nachbereitung der Verfassungs- und Reichsreformvorhaben berufen. Hier lagen große Herausforderungen und manchmal schwierig benennbare Leistungen der Vermittlung und rechtlichen ‚Kanalisierung‘, allerdings auch Verlockungen und Gefahren, wie sie regelmäßig mit der Teilhabe an der Macht verbunden sind.“97 94  Dokumentiert bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 8 – Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, 1984. 95  Zur Geschichte der Weimarer Demokratie lesenswert Winkler, Weimar 1918– 1933 – Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 1998. 96  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 154 ff. 97  Ebd., S. 121.



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Die mit dieser Entwicklung einhergehenden methodologischen Diskus­ sionen und Kontroversen wurden nicht zuletzt auf den Tagungen der 1922 gegründeten Staatsrechtslehrervereinigung98 ausgetragen und werden heute als Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtswissenschaft bezeichnet.99 Die Staatsrechtslehre war indessen in ihrer personellen wie inhaltlichen Zusammensetzung alles andere als ein repräsentatives ‚Spiegelbild‘ der neuen politischen Kräfteverhältnisse. Wenn man die personelle Entwicklung des Fachs während des Spätkonstitutionalismus betrachtet, verwundert es nicht unbedingt, dass die Staatsrechtslehrer – gleich den Juristen in führenden Positionen der Republik –100 in ihrer großen Mehrheit politisch dem bürgerlich-konservativen oder dem nationalistischen Lager zuzurechnen waren.101 Nur Heller und Kelsen standen der Sozialdemokratie nahe, wobei sie von ihren methodischen Ansätzen her völlig gegensätzliche Positionen vertraten.102 Andererseits lässt sich auch nicht behaupten, die Staatsrechtslehre der Weimarer Republik sei mehrheitlich ‚antidemokratisch‘ gewesen. Vielmehr bekannten sich die allermeisten Staatsrechtslehrer zur Republik, etliche möglicherweise nolens volens. Eher könnte man vielleicht sagen, dass die wenigsten von ihnen sich mit der existierenden Parteiendemokratie an98  Zur (Gründungs-)Geschichte Scheuner, 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1972, S. 351; vgl. auch Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – Bemerkungen zu ihrer Geschichte, 1997, S. 341. 99  Vgl. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 187: „Die Gründung der Vereinigung sollte den Richtungsstreit sozusagen im Vorfeld abfangen, d. h. sie sollte ihm die gegen den Fachzusammenhalt sich richten könnende Spitze abbiegen. In diesem Sinne hat sich jedenfalls Smend des Gründungsanstoßes erinnert: den ‚ersten, nie ausgesprochenen, aber für die Gründer dringlichsten Zweck‘ habe die Vereinigung darin gehabt, ‚den Auseinanderfall der Fachgenossen in gegensätzliche politische Gruppen und damit den öffentliche Kreditverlust der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu verhindern‘.“ Es ging darum, „Gemeinsamkeiten zu schaffen“ und das „etwaige Aufbrechen von Gegensätzen oder sogar Sondergruppierungen“ zu verhindern; Friedrich, ebd. 100  Mit dem Beginn der Weimarer Republik erlebte auch der weitgehend sozialklassenhomogene Juristenstand wie nahezu das gesamte konservative Bürgertum eine Zeit großer Verunsicherung, wie Rueschemeyer, Lawyers and their Society, 1973, S. 179, schreibt: „For many lawyers, the end of the old order meant the end of a world of prosperity and of stability in moral and social relations. A privileged group in a society dominated by a conservative elite, the bar had been protected against the full impact of industrialization and the emergence of a pluralistic society. The decade of the 1920s brought a sudden exposure to these forces and at the same time a decline of the authority of law and government […]“. 101  Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 335 f. 102  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 183; ausführlich zur Kritik Hellers an der positivistischen Position Kelsens Vesting, Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus – Hermann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre, 1991.

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freunden konnten, dass sie der demokratischen ‚Wirklichkeit‘ der Weimarer Republik skeptisch gegenüberstanden und darüber hinaus den Verlust der privilegierten Stellung des Bürgertums durch eine zunehmende staatliche Interventionspolitik fürchteten. Die neue Reichsverfassung, die schon zu Beginn wenige Freunde hatte, verlor schon bald weiteren Rückhalt in der Gesellschaft und wurde zunehmend unpopulär. Dass sich ein großer Teil der Verfassungsrechtler vor diesem Hintergrund von den strikten Bindungen des positivistischen Methodendenkens löste, war eine nachvollziehbare Folge. Wie Sontheimer bemerkt, wollte „der Staatsrechtlehrer neuen Typs […] nicht mehr zum bloßen Handlanger der jeweiligen Macht herabgewürdigt werden; er wollte den Staat und seine Ordnung mit eigenen Ideen und sittlichen Ansprüchen konfrontieren“.103 Der so genannte Methodenstreit war damit nicht zuletzt ein Richtungsstreit über Aufgabe und Gegenstand der Staatsrechtswissenschaft und ihre zukünftige Ausrichtung. Er war, „im Grunde eine Generaldiskussion um den Standort des Fachs in einem aufgewühlten Jahrzehnt.“ Die Teilnehmer der Debatte wussten, dass es um die Existenz des Staatswesens und um die politische Ordnung ging, in der sie leben wollten, „und sie definierten zugleich die elementaren methodischen Voraussetzungen ihrer Disziplin. Letztere erschienen unsicherer denn je, seitdem die vermeintliche Sicherheit des zwischen 1870 und 1914 ‚herrschenden‘ Positivismus verloren war.“104 a) Die positivistische und die antipositivistische Strömung im sogenannten Methodenstreit Die Positionen und Entwicklungen des Methodenstreits können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Vielmehr beschränke ich mich darauf, wesentliche Grundströmungen und einzelne ihrer prominenten Vertreter darzustellen. Im Anschluss an die Literatur105 wird dabei zwischen den Vertretern des methodischen Positivismus („Positivisten“) und den Anhängern einer Methodenerweiterung oder Neuausrichtung unter Einbeziehung historischer, naturrechtlicher, soziologischer oder politischer Elemente („Antipositivisten“) unterschieden. 103  Sontheimer,

Antidemokratisches Denken, 1968, S. 74. Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 155. 105  Vgl. Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S.  92 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 158 ff.; Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – Ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, 2001; Grimm, Die deutsche Staatsrechtslehre zwischen 1750 und 1945, 1987, 304 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 333 ff. 104  Stolleis,



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aa) Die positivistische Richtung, insbesondere die Rechtslehre Kelsens Der juristische Positivismus war die aus dem Kaiserreich überkommene Methode der Staatsrechtswissenschaft, die auch in den Anfangsjahren der Weimarer Republik vorherrschend blieb. Zwei der bekanntesten Repräsentanten der klassisch-positivistischen Arbeitsweise in der Weimarer Zeit waren Anschütz und Thoma. Beide waren überzeugte Demokraten und Anhänger der Republik.106 Anschütz wurde zum führenden Kommentator der Weimarer Reichsverfassung; sein Verfassungskommentar, zuletzt 1933 in 14. Auflage erschienen, galt aufgrund seiner klaren Ausdrucksweise und der komprimierten Darstellung von Streitständen geradezu als „Ideal eines Kommentars“ und konnte seine führende Stellung bis zuletzt behaupten.107 Anschütz wandte sich strikt dagegen, wertende Elemente, die den Gesetzgeber an übergeordnete materielle Prinzipien binden würden, in die Verfassungsinterpretation einzubeziehen Das sollte insbesondere für die Grundrechte gelten. Vor allem die sozialen Rechte des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung seien lediglich als unverbindliche Programmsätze zu betrachten, „weil sie ohne nähere Bestimmung ihres Inhalts und der Grenzen ihrer Tragweite tatsächlich nicht ausgeführt werden können“.108 Die bürgerlichen Freiheitsrechte wurden, ganz im Sinn des formal-positivistischen Gedankens, auf das „rechtsstaatliche Prinzip der Gesetzmäßigkeit“ beschränkt.109 Diese methodische Linie vertrat auch Thoma, exemplarisch im Anschluss an Jellinek, in dem 1930 und 1932 gemeinsam mit Anschütz herausgegebenen Handbuch des Deutschen Staatsrechts.110 Zwar waren unter den Positivisten auch solche, die „sich politisch am äußersten rechten Rand aufhielten“ und aus nationalistischer Gesinnung die Republik missbilligten. Aber „die positivistische Erziehung und das autoritäre Muster wirkten doch so stark, daß sie für die Tagesarbeit die Bindungswirkung des geltenden Rechts nicht in Frage stellten“.111 Die Vertreter des strengen Positivismus wandten sich grundsätzlich gegen jede gerichtliche Überprüfung von gesetzgeberischen Akten anhand übergeordneter materieller Rechtsgrundsätze, soweit die formalen Voraussetzungen der 106  Stolleis, ebd., S. 96 f.; vgl. auch Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 337 ff. 107  Stolleis, ebd., S. 97. 108  Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 1933, Einf. Zweiter Hauptteil: Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, S. 454. 109  Ebd., S. 456. 110  Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, 1932, S.  618 ff. 111  Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001, S. 9.

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Verfassung gewahrt wurden.112 Andere, wie etwa Nawiasky, konzedierten zwar, dass der „Parlamentsmehrheit gewisse Grenzen gezogen werden könnten“, zogen diese Grenzen aber besonders weit und ebenfalls eher in einem formalen Sinn.113 Durch die Rechtslehre Kelsens und der von ihm begründeten Wiener Schule wurde das rechtspositivistische Denken dann gedanklich „auf die Spitze getrieben“.114 Kelsens Reine Rechtslehre war eine allgemeine Rechtstheorie, die – wenn auch im Staatsrecht entwickelt – grundsätzlich alle rechtswissenschaftlichen Gebiete umfasste.115 Ihr Ziel war es, die Rechtswissenschaft „von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen [zu] reinigen“. Kelsen wollte die „Jurisprudenz, die – offen oder versteckt – in rechtspolitischem Räsonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft […] heben“116, indem er sie auf eine Wissenschaft der formalen ‚Normerkenntnis‘ beschränkte. Die Reine Rechtslehre war damit eine ausschließlich juristisch-normwissenschaftliche Theorie des Rechts. Ihr Ausgangspunkt war die kategoriale und gedanklich unüberwindbare Trennung von ‚Sollen‘ und ‚Sein‘.117 Zum einen wandte sich die Reine Rechtslehre also gegen jede Vermengung der juristisch-normwissenschaftlichen Erkenntnis mit nicht normwissenschaftlicher, vor allem soziologischer Erkenntnis, zum anderen gegen jede Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Rechtswissenschaft über das positive, von einer anerkannten staatlichen Autorität gesetzte Recht hinaus. Die Geltung einer Rechtsnorm konnte ihrem streng hierarchischen Konzept zufolge immer nur von einer höheren Rechtsnorm abgeleitet werden.118 Kelsen wünschte sich „die saubere Trennung“ der Jurisprudenz von der Politik, „den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der 112  Manche Grundrechte konnten nur durch Reichsgesetzes eingeschränkt werden; soweit verfassungsrechtliche Prinzipien berührt waren, bedurfte es einer verfassungsändernden Mehrheit; vgl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 118 ff. 113  Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, 1927. 114  Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S. 93. 115  Vgl. Schulte, Hans Kelsens Beitrag zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2005, S. 253 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 165 f.; eine komprimierte Einführung bietet Walter, Hans Kelsens Rechtslehre, 1999. 116  Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. III. 117  Vgl. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft bei Hans Kelsen und Gustav Radbruch – Zwei „neukantische“ Perspektiven, 2005, S. 37 ff. 118  Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 343; zusammenfassend zur Grundnormtheorie siehe Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, 2004, S. 60 ff.



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Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können“.119 Dabei übersah er nicht, dass Rechtsnormen, vor allem Verfassungsnormen, sprachlich mehr oder minder unbestimmt sind und häufig recht verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zulassen. Jedoch lag für ihn die Aufgabe der Rechtswissenschaft gerade nicht darin, nach einer ‚richtigen‘ Interpretation zu suchen, sondern sie beschränkte sich darauf, den normativen „Rahmen“ der rechtlich möglichen Anwendungsfälle zu bestimmen.120 Die Auswahl unter mehreren möglichen Deutungs- oder Anwendungsalternativen sei nicht Aufgabe der Rechtswissenschaft (als Wissenschaft), sondern beruhe auf einem Willensakt, sei also letzten Endes eine Frage der Politik „der zur Setzung des Aktes berufenen Instanz“. Die rechtswissenschaftlichen Kommentare hatten nach Kelsen mithin „einen durchaus rechtspolitischen Charakter“. Sie seien Vorschlägen für die Gesetzgebung zu vergleichen, seien „Versuche, die rechtsschöpferische Funktion der Gerichte und Verwaltungsbehörden zu beeinflussen“.121 Demgegenüber bestritt Kelsen, dass es Unbestimmtheiten oder gar „Lücken“ im Gesetz geben könne, zu deren „Ausfüllung“ die Rechtswissenschaft berufen sei.122 Kelsens Reine Rechtslehre war damit gerade keine Theorie einer anwendungsbezogenen Rechtsdogmatik. Ihr Beitrag zur Rechtsdogmatik bestand vielmehr darin, deren mangelnde ‚Wissenschaftlichkeit‘ aufzuzeigen, indem sie die ‚Ausfüllung‘ des durch den Wortlaut gegebenen Interpretationsspielraums einer Norm als nicht wissenschaftlich, sondern rechtspolitisch markierte.123 Das Resultat war eine weitgehend formale Interpretation der Verfassung, die sich auf deren Wortlaut, allenfalls in Verbindung mit einer nachweisbaren historischen Absicht des Verfassungsgebers, beschränkte. Die strikte Wortlautinterpretation mit historischer Akzentuierung hat die Methodik der Verfassungsinterpretation in Österreich lange Zeit geprägt, was unter 119  Kelsen,

Reine Rechtslehre, 1934, S. V. S. 94: „Die zu vollziehende Norm bildet in allen diesen Fällen nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Vollziehung gegeben sind, wobei jeder Akt normgemäß ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rahmen in irgendeinem möglich Sinn ausfüllt.“ 121  Ebd., S. 98. 122  Ebd., S. 100: „Jeder Rechtsstreit besteht darin, daß eine Partei gegen eine andere einen Anspruch erhebt; und die stattgebende oder abweisende Entscheidung hängt davon ab, ob das Gesetz, das heißt eine geltende, auf den konkreten Fall anzuwendende Norm die behauptete Rechtspflicht statuiert oder nicht. Da es eine dritte Möglichkeit nicht gibt, ist eine Entscheidung immer möglich […]. Auch in der den Anspruch abweisenden Entscheidung wird die geltende Rechtsordnung angewendet.“ 123  Öhlinger, Die Bedeutung Hans Kelsens im Wandel, 2003, S. 3. 120  Ebd.,

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anderem124 auf den theoretischen Einfluss Kelsens und der Wiener Schule zurückzuführen ist.125 Mit der rechtstheoretischen Grundposition Kelsens korrespondierte seine Haltung zur Einrichtung einer Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit, die er grundsätzlich befürwortete. In Auseinandersetzung mit C. Schmitt sprach er sich ausdrücklich für ein Verfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ aus,126 ein Topos, den übrigens das Bundesverfassungsgericht später in seinem Statusbericht aufgriff und für sich reklamierte.127 Für Kelsen sollte das Verfassungsgericht die Kompetenz haben, Akte des Gesetzgebers an der Verfassung zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen (richterliches Prüfungs- und Verwerfungsrecht).128 Es ging Kelsen dabei – im Gegensatz zu Schmitt, der den Reichspräsidenten mit seiner Kompetenz der Notstandsgesetzgebung zum Verfassungshüter stilisierte – um die „Aufteilung der Macht auf verschiedene Organe, nicht so sehr zum Zweck ihrer gegenseitigen Isolierung, als vielmehr ihrer gegenseitigen Kontrolle“129, also um ein System der checks and balances, insbesondere auch um eine judikative Kontrolle der Machtausübung von Regierung und Parlament. Nach Kelsens Verständnis war es Aufgabe der Verfassung, den ‚Kampf‘ der politischen Gruppen durch die Festlegung von ‚Spielregeln‘ in Form von Verfahrensvorgaben zu lenken und diese durch erschwerte Abänderbarkeit gegen jederzeitige Änderung durch die jeweilige Majorität zu sichern. Die Verfassung gewährleiste auf diesem Weg den Schutz der politischen Minderheit vor ungehemmtem Machtmissbrauch durch die Mehrheit.130 Gegenüber dem von Schmitt ins Feld geführten Argument einer funktionalen Unvereinbar124  Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001, S. 9  f., weist darauf hin, dass die weitreichenden Wirkungen der Wiener Schule Gründe hatte, die „weit über das Individuum Kelsen hinausreichen“. Er nennt vor allem die aus dem Absolutismus herrührende, an Staat und Gesetz orientierte positivistische Tradition der österreichischen Juristenausbildung und des Beamtentums sowie „die spezielle Lage des von Nationalisten brodelnden Vielvölkerstaates“. 125  Vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht, 2009, Rn. 30 ff. 126  Vgl. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 1931; Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931; Zusammenfassung der Auseinandersetzung bei Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz – Richterliche Normenkontrolle in der Weimarer Republik, 2003, S. 718 ff.; Pasquino, Hans Kelsen: Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratietheorie, 2007, S. 21, weist darauf hin, dass Schmitt und Kelsen von verschiedenen demokratietheoretischen Perspektiven und Problemstellungen aus argumentierten; vgl. auch Lepsius, Der Hüter der Verfassung – demokratietheoretisch betrachtet, 2007, und die übrigen Beiträge in diesem Sammelband. 127  Vgl. unter B. II. 3. b) aa). 128  Vgl. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, 1929, S. 54 ff. 129  Ebd., S. 55.



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keit von Justiz und Politik und damit der demokratietheoretischen Unmöglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit an sich wandte Kelsen ein, dass Rechtsprechung innerhalb des durch die Norm vorgegebenen Entscheidungsrahmens immer auch politisch, eine wesensmäßige Trennung daher gar nicht möglich sei: 130

Der politische Charakter der Justiz ist umso stärker, je weiter das freie Ermessen ist, das die ihrem Wesen nach generelle Gesetzgebung der Justiz notwendigerweise belassen muß. Die Meinung, daß nur die Gesetzgebung, nicht aber die „echte“ Justiz politisch sei, ist ebenso falsch wie die, daß nur die Gesetzgebung produktive Rechtserzeugung, die Gerichtsbarkeit aber nur reproduktive Rechtsanwendung sei. […] Indem der Gesetzgeber den Richter ermächtigt, innerhalb gewisser Grenzen gegensätzliche Interessen gegeneinander abzuwägen und Konflikte zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden, überträgt er ihm eine Befugnis zur Rechtsschöpfung und damit eine Macht, die der richterlichen Funktion denselben „politischen“ Charakter gibt, den die Gesetzgebung – wenn auch in höherem Maße – hat. Zwischen dem politischen Charakter der Gesetzgebung und dem der Justiz besteht nur eine quantitative, keine qualitative Differenz.131

Die von Kelsen vorgenommene Analyse des politischen Charakters der Rechtsprechung sowie ihrer funktionalen Bedeutung im System demokratischer Gewaltenteilung sind ihrer Zeit gedanklich weit voraus. Als deutlich problematischer erweist sich aus heutiger Sicht allerdings die mit seinem positivistischen Methodenverständnis einhergehende Zurückhaltung bei der Interpretation und Durchsetzung materieller Verfassungsgehalte. So sprach sich Kelsen für einen größtmöglichen judicial restraint gegenüber verfassungsrechtlichen Termini wie „Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Billigkeit, Sittlichkeit usw.“ aus: Sofern hinter solchen Formeln mehr als die übliche politische Ideologie gefunden werden soll, mit der sich jede positive Rechtsordnung zu bekleiden bemüht, so bedeutet die Delegation von Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Billigkeit, Sittlichkeit usw. mangels einer näheren Bestimmung dieser Werte auch nichts anderes, als daß der Gesetzgeber wie der Gerichtsvollzieher ermächtigt werden, den ihnen durch Verfassung und Gesetz gelassenen Spielraum nach freiem Ermessen zu erfüllen.132

Mit dieser Bemerkung sprach Kelsen die typische Terminologie eines Grundrechtskatalogs an.133 Gerade im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit könnten, so meinte er, wertbezogene Begriffe „eine höchst gefährliche 130  Zusammenfassend Ooyen, Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie und die Kontroverse um den „Hüter der Verfassung“, 2008, S.  X f. 131  Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 1931, S. 15. 132  Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, 1929, S. 69. 133  Vgl. Öhlinger, Die Bedeutung Hans Kelsens im Wandel, 2003, S. 2.

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Rolle“ spielen, „und zwar wenn es gilt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen“. Er mahnte daher einen Verzicht auf unbestimmte Begrifflichkeiten materieller Verfassungsgehalte an, die er als „Phraseologie“ bezeichnete: Soll daher eine […] von der Verfassung gewiß nicht intendierte und politisch höchst unangebrachte Machtverschiebung vom Parlament zu einer außerhalb desselben stehenden Instanz vermieden werden, die zum Exponenten ganz anderer politischer Kräfte werden kann als jener, die im Parlament zum Ausdruck kommen, dann muß sich die Verfassung, wenn sie ein Verfassungsgericht einsetzt, jeder derartigen Phraseologie enthalten; und, wenn sie Grundsätze, Richtlinien, Schranken für den Inhalt der zu erlassenden Gesetze aufstellen will, diese so präzise wie möglich bestimmen.134

Kelsen beeinflusste durch sein rechtstheoretisches Verständnis die österreichische Verfassungslehre und den Österreichischen Verfassungsgerichtshof als weltweit erstes Verfassungsgericht, an dessen Einrichtung und Ausgestaltung im Jahr 1920 er maßgeblich mitwirkte. Die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs war noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Rechtspositivismus sowie der methodischen Enthaltsamkeit gegenüber materiellen Verfassungsbestimmungen wie den Grundrechten geprägt.135 bb) Die antipositivistische Richtung, am Beispiel von Kaufmann und Heller Die zunehmende Opposition großer Teile der Staatsrechtslehre gegen den Positivismus lag, wie beschrieben, im Geist der Weimarer Zeit. Nicht nur erfasste die Politisierung eine neue Generation von Staatsrechtslehrern.136 Die Abwendung vom Positivismus und der neukantianischen Denkweise vollzog sich in den gesamten Geisteswissenschaften. Bereits während des Ersten Weltkriegs setzte eine Renaissance des deutschen Idealismus ein, der 134  Kelsen,

Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, 1929, S. 70. Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2002; Adamovich Jr. / Funk / Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1 – Grundlagen, 1997, Rn. 01.030 f. Die Verfassung wurde als Verfahrensordnung des politischen Prozesses verstanden und vom Verfassungsgerichtshof in einem „streng formalen“ Sinn interpretiert. Grdl. Adamovich (sen.), Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1950; Berka, Die Grundrechte – Grundrechte und Grundfreiheiten in Österreich, 1999, Rn. 116, spricht von einer Prägung „durch ein ausgesprochen formales und begriffsjuristisches Verständnis […], das vor allem die Judikatur des VfGH prägte und das lange Zeit dem herrschenden rechtspositivistischen Verfassungsdenken entsprach“. Zur sogenannten „Versteinerungs­ theorie“ siehe Öhlinger, Verfassungsrecht, 2009, Rn. 31. 136  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 174. 135  Dazu



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sich vor allem dem Werk Hegels zuwandte.137 In der Staatsrechtslehre drängte die neue Richtung „über den bisherigen ‚Formalismus‘ hinaus und begab sich auf die Suche nach einer ‚materialen Staatstheorie‘. Das war die viel diskutierte ‚Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode‘, deren negative Seite, die Stoßrichtung gegen den staatsrechtlichen Positivismus, klarer war als die positive.“138 Allerdings ist die Sammelbezeichnung „geisteswissenschaftliche Methode“ ebenso ungenau, da die antipositivistisch denkenden Staatsrechtler sehr unterschiedlichen methodologischen Strömungen angehörten, die wahlweise eher eine naturrechtlich-philosophische, geistes- und kulturwissenschaftliche oder soziologisch-politikwissenschaft­ liche Richtung einschlugen. Exemplarisch für den naturrechtlich-philosophischen Antipositivismus steht Erich Kaufmann. Er war bekennender Hegelianer und verband „ein idealistisches Naturrecht mit nationalistischem Machtstaatsdenken“.139 In seinem Referat zum Gleichheitssatz in der Reichsverfassung (Art. 109 Abs. 1 WRV) auf der Staatsrechtslehrertagung 1926 in Münster propagierte er eine Bindung des Gesetzgebers an die „Gerechtigkeit“ und forderte ein diesbezügliches Prüfungsrecht der Gerichte: Darin liegt kein Subjektivismus, sondern nur die Erkenntnis der Tatsache, daß Gerechtigkeit etwas Schöpferisches ist und nicht die mechanische Anwendung starrer abstrakter Normen. Nur wo objektive transpersonale Werte sich in einer Persönlichkeit offenbaren, in ihr und durch sie geformt werden, gibt es schöpferisches Tun.140

An anderer Stelle heißt es: Der Gesetzgeber ist nicht Schöpfer des Rechts. […] Wir machen uns überhaupt nicht klar, wie wenig auch auf kodifizierten Rechtsgebieten unsere Rechtsentscheidungen den geschriebenen und ausdrücklich vom Gesetzgeber formulierten Rechtssätzen entnommen sind. […] Staat und Gesetz stehen unter dem Recht.“141

Letztlich wollte Kaufmann die Entscheidung über die Wahrung des Gleichheitsprinzips einer „gerechten Richterpersönlichkeit“ überlassen; dem Gesetzgeber müsse allerdings die „Wahl der maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien“ vorbehalten bleiben.142 Hierin traf sich Kaufmanns Anliegen mit 137  Häufig wird in diesem Zusammenhang von einem „Neuhegelianismus“ gesprochen, allerdings werden darunter recht heterogene Strömungen zusammengefasst; vgl. Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S. 93. 138  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 93 f. 139  Ebd., S. 176. 140  Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, 1927, S. 12 f. 141  Ebd., S. 20. 142  Ebd., S.  21 f.

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einer Forderung, die bereits die Freirechtschule während des Kaiserreichs aufgestellt hatte; allerdings unter gänzlich umgekehrten (gesellschafts)politischen Vorzeichen.143 Auffallend ist auf jeden Fall, dass „das Recht zur richterlichen Nachprüfung erst dann diskutiert wurde, als das Gesetzgebungsorgan von politischen Kräften bestimmt war, die zum großen Teil nicht die Sympathien der deutschen Richter hatten“.144 Bei nicht wenigen Staatsrechtslehrern verband sich antipositivistisches Methodendenken offen mit einer demokratieskeptischen oder nationalistischen Gesinnung, bei fast allen zumindest mit einem deutlichen Misstrauen gegenüber den bestimmenden Gruppen in Parlament und Gesetzgebung.145 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb sich ein der Sozialdemokratie nahestehender Staatsrechtler wie Kelsen so vehement für ein positivistisches Methodenverständnis und einer strengen Zurückhaltung gegenüber offenen, wertbezogenen Begriffen verwandte. Die Vertreter des Positivismus erkannten sehr genau, dass hinter den zunehmenden Angriffen auf das formal-juristische Verfassungsverständnis auch (gesellschafts)politische Motivationen lagen. So erklärte Kelsen in der an den Vortrag von Kaufmann anschließenden Aussprache: Damit gewinnt aber die Wendung zum Naturrecht und zur Metaphysik, die wir neustens innerhalb der juristischen Theorie beobachten können, eine politische Bedeutung. Es zeigt sich die deutliche Tendenz, den Wert der Autorität des positiven Gesetzgebers herabzusetzen. Ob und inwieweit diese Abkehr gewisser juristischer Kreise von dem bisher bedingungslos anerkannten Positivismus soziologisch mit der Änderung in der politischen Struktur des Gesetzgebungsorgans zu erklären ist, möchte ich dahingestellt lassen. Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß Juristen, die ehedem die strikteste Bindung des Richters an das Gesetz lehrten, heute den Richtern mit Berufung auf Naturrecht weitgehende Freiheit gegenüber dem Gesetz zuerkennen möchten; und daß der Richterstand von jenen Änderungen der politischen Struktur so ziemlich frei geblieben ist, die sich in der Zusammensetzung des Parlamentes zeigt; so daß zwischen dem heutigen Richterstand und dem Juristenstand nicht jener politische Gegensatz besteht wie zwischen Juristenstand oder doch gewissen Teilen desselben und Parlament.146 143  Vgl. Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987, S. 368: „Hatte es sich bei den Kritikern des Positivismus im Kaiserreich überwiegend um Juristen gehandelt, die die geltende Rechtsordnung für sozial oder demokratisch defizitär hielten, entwickelten namentlich der Arbeiterbewegung nahe stehende Juristen eine gewisse Affinität zur Freirechtsschule, so nahmen in der Weimarer Republik gerade sozialdemokratische Juristen einen positivistischen Standpunkt ein, während sich umgekehrt konservative Wissenschaftler zu einer wertgebundenen Interpretationsmethode bekannten“. 144  Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 1968, S. 76. 145  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 176 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 1968, S. 85 ff. 146  Kelsen, Beitrag zur Aussprache, 1927, S. 54; vgl. auch den Beitrag von Nawiasky: „Der schließliche Triumpf läge aber bei dem Richtertum […] Entspricht es



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Ein aus methodologischer Perspektive besonders interessanter Vertreter unter den antipositivistisch orientierten Verfassungsrechtlern war Hermann Heller, neben Kelsen der einzige der Sozialdemokratie nahestehende Vertreter in der Staatsrechtslehrer-Vereinigung.147 Heller, der sich vor seiner aka­ demischen Laufbahn in der Volksbildungsarbeit und im Volkshochschulwesen engagierte,148 war methodologisch ein scharfer Gegner des Positivismus und der Wiener Schule; er hielt den Rechtspositivismus für ein „Symptom jener geistigen und politischen Krise, in der sich der abendländische Kulturkreis befindet, weil ein borniertes Besitzbürgertum die Probleme der Zeit nicht zu erkennen vermag“.149 Der Staat war bei Heller nicht mit dem normierten Recht gleichzusetzen, sondern ein Teil der menschlichen Kultur, die Staatslehre somit ein Bestandteil der Wissenschaft von der Politik.150 So betrachtete Heller die Grundrechte nicht als Naturrechte des Individuums der Weimarer Verfassung, daß über den Inhalt der Gesetze, wenn es darauf ankommt, in jedem Fall nicht der Interessenausgleich entscheidet, der zwischen den in den Landtagen und im Reichstag zur Mehrheit zusammengetretenen Fraktionen oder bei der unmittelbaren Volksgesetzgebung zwischen den Parteien getroffen worden ist, sondern die Interessenwertung, die in jenen Kreisen sich durchsetzt, denen unsere Richter entstammen? […] Diese Aussicht mag ja sehr verführerisch sein. Aber, wie man auch mit seinen politischen Wünschen stehen mag, staatsrechtlich, d. h. juristisch, erscheint eine solche Umdeutung ausdrücklich ausgesprochener Verfassungsnormen nicht zulässig.“, Nawiasky, Gleichheit vor dem Gesetz, 1927, S. 41 f.; vgl. auch Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1930), 1992, S. 449 f.: Wenn Richter, die in ihrer Mehrheit den herrschenden Schichten entstammten, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüften, dann habe sich das Bürgertum eine Sicherung dagegen geschaffen, dass die Volksinitiative den liberalen in einen sozialen Rechtsstaat überführe. 147  Heller stand dem Sozialismus nah, ist aber unter dem Einfluss Radbruchs in die SPD eingetreten. Er arbeitete zunächst als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin, bevor er 1928 zum außerordentlichen Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät Berlin ernannt wurde; 1932 folgte gegen erheblichen Widerstand die Ernennung zum ordentlichen Professor für Öffentliches Recht in Frankfurt am Main; vgl. Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, 1984, S. 202. Zu Hellers Prägung durch marxistisch-sozialistische Strömungen sowie seine teilweise kritische Distanzierung hiervon siehe Abendroth, Die Funktion des Politikwissenschaftlers und Staatsrechtslehrers Hermann Heller in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Waser, Die sozialistische Idee im Denken Hermann Hellers, 1985. 148  Diese Tätigkeit, die darauf gerichtet war, die Einheit von Theorie und Praxis in der Volksbildung zu verwirklichen, war in einem gewissen Sinn Teil von Hellers juristischem und politischem Staatsverständnis; dazu Fiedler, Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1994, S. 17 ff. 149  Zit. nach Blau, Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik, 1980, S. 67. 150  Vgl. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat – Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, 1983, S. 180 ff.

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gegen den Staat, sondern als Kulturrechte, das heißt dem Einzelnen als „durch die Entwicklung der Kultur […] von der Gemeinschaft zugewachsen“. Nicht im freien Naturzustand, sondern erst durch die „schützende Macht des Staates“ – des sozialen Rechtsstaates – sah er die „gleichmäßige Freiheit der einzelnen gewährleistet“.151 Die „Wirklichkeit“ des Staates sollte begriffen werden, „weder rein normlogisch, noch rein empirisch noch ‚geisteswissenschaftlich‘, sondern soziologisch durch Erfassung von ‚Strukturen‘.“152 Wie Möllers bemerkt, setzte sich Heller damit gegenüber der positivistischen Sichtweise Kelsens ab, wollte sich aber – nach einigem Zögern – auch nicht auf den geisteswissenschaftlichen Ansatz Smends einlassen. So blieb für Heller, für den der politische Wirklichkeitsbezug der Staatslehre der entscheidende theoretische und methodologische Ausgangspunkt war, „nur die Hinwendung zu den Sozialwissenschaften“.153 Seine methodischen Prämissen blieben dabei weitgehend eklektisch, was teilweise auch damit zu erklären ist, dass ihm nur eine relativ kurze Zeit der freien wissenschaftlichen Tätigkeit vergönnt war.154 Allerdings zeigt Hellers Staats- und Methodenverständnis, dass die antipositivistische Methodenströmung nicht in einem Rechts-Links-Schema einseitig verortet werden kann, sondern durchaus unter Verfassungsrechtlern mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischer Grundüberzeugungen Befürworter fand.155 cc) Zwischenfazit: Die methodische Öffnung im Denken der Weimarer Staatsrechtslehre Während sich die Staatsrechtslehre unter den relativ stabilen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der Kaiserzeit auf die formal-positivistische Verwaltung des status quo zurückziehen konnte, verlangte die neue Situation unter der Weimarer Reichsverfassung eine Auseinandersetzung mit 151  Heller,

Grundrechte und Grundpflichten (1924), 1992, S. 285 f. nach Blau, Sozialdemokratische Staatslehre, 1980, S. 67 f. 153  Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 85. 154  Nachdem seine persönliche Gefährdung nach der Machtübernahme immer deutlicher wurde, emigrierte Heller 1933 nach Spanien und verstarb dort im selben Jahr an Herzversagen; zusammenfassend Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, 1984, S. 202. 155  Stolleis meint, Hellers „von intellektueller Leidenschaft geprägter Versuch, eine die methodischen und politischen Entzweiungen überwindende, materiale Staatstheorie zu entwerfen, ist der wohl bedeutendste dieser Art in der Weimarer Republik. […] Sie [Hellers methodische Prämissen, d. Verf.] zeugen von einer tiefen Frustration durch die herkömmliche Staatstheorie, deren Formalismus und Neutralitätsmythos, verbunden mit dem Wunsch, den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit wiederherzustellen und diese durch Begreifen zu verändern“, Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001, S. 14 f. 152  Zit.



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der Verfassungswirklichkeit. Der Positivismus, auch in seiner modernisierten Form der Wiener Schule, war dabei nicht geeignet, der Republik ein materielles verfassungsrechtliches Fundament zu geben. Allerdings war die Staatsrechtswissenschaft, ebenso wie ein großer Teil des Bürgertums, nicht von der Stabilität der neuen Demokratie und ihrer Parteien überzeugt. Auf der Suche nach einer Entsprechung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, politischer Wirklichkeit und verfassungsmäßigem Anspruch, gerieten viele Staatsrechtslehrer in den antidemokratischen und nationalistischen Strudel ihrer Zeit. Dennoch ist der zu beobachtende methodische Aufbruch in der Weimarer Staatsrechtslehre bemerkenswert. Hier wurden Grundlagen des Staats- und Verfassungswesens diskutiert und gedanklich-theoretisch konzeptioniert in einer Weise, die weit über ein enges positivistisches Methodenverständnis hinausging und staats- und demokratietheoretische ebenso wie philosophische und soziologische Überlegungen in den verfassungsrechtlichen Diskurs einbezogen. Bryde hat darauf hingewiesen, dass gerade die Nicht-Justiziabilität vieler Verfassungsbestimmungen der Weimarer Zeit die Möglichkeit eröffnete, „methodisch innovativ“ zu sein und damit – im Sinne der antipositivistischen Wende – zur Kontaktstelle für Sozialwissenschaften (bei Heller) und Philosophie (zum Beispiel bei Kaufmann und Smend) zu werden.156 In diesem Sinne lässt sich durchaus sagen, dass die antipositivistische Strömung die Staatsrechtslehre zu einer ‚politischen Wissenschaft‘ erweitern wollte,157 mögen die gesellschaftlichen und politischen Umstände dieses Unternehmen auch erheblich beeinträchtigt haben.158 Damit war zugleich die Grundlage für eine methodische Öffnung und Neuorientierung der Staatsrechtswissenschaft gelegt, die – auch in ihrer späteren Adaption durch die Verfassungsrechtsprechung und -wissenschaft der jungen Bundesrepublik – wesentliche Impulse für die Grundrechtsinterpretation gegeben hat.

156  Bryde,

§ 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 17. auch Lhotta, Die abgebrochene Tradition – Die Wiederentdeckung Weimars durch die Politikwissenschaft nach 1945, 2003, S. 161 f. 158  Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 1968, S. 74; vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 171, der darauf hinweist, dass mit (wieder) zunehmender Berücksichtigung historischer und politischer Elemente im Staatsrecht Monografien zum Beispiel häufig den Untertitel: „Eine staatsrechtliche und politische Studie“ erhielten oder beispielsweise die Wortkombination „historisch-dogmatisch“ gewählt wurde, um den genetischen Aspekt der dogmatischrechtlichen Betrachtung zu unterstreichen. 157  Ähnlich

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b) Ansätze für eine Aktualisierung der Grundrechtsbindung – Die Grundrechte bei Schmitt und Smend Doch in welcher Weise wirkte sich das neue Methodendenken auf die Interpretation der Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung aus? Wie gezeigt herrschte auch in der Weimarer Staatsrechtslehre entsprechend dem positivistischen Methodenverständnis lange die Überzeugung vor, die Grundrechtsbestimmungen seien entweder als nicht justiziable Programmsätze zu betrachten, was vor allem für die sozialen Rechte gelten sollte,159 oder würden sich im Vorbehalt des Gesetzes erschöpfen. Gewährleistungen, denen ein einfacher Gesetzesvorbehalt beigefügt war, konnte der Gesetzgeber nach herrschender Auffassung beliebig einschränken. Parallel zur methodischen Öffnung setzte Mitte der 1920er Jahre jedoch ein Wandel des Grundrechtsverständnisses ein. Man bemühte sich nun zusehends, zumindest den klassischen bürgerlichen Grundrechten „aktuelle normative Kraft beizumessen, um den Gesetzgeber grundrechtlichen Bindungen unterwerfen zu können. Die Auseinandersetzungen um die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz in Art. 109 Abs. 1 [W]RV, die Anerkennung einer Figur einer Einrichtungsgarantie oder die Diskussion um die Legitimität des richterlichen Prüfungsrechts und der Errichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit stehen beispielhaft für diese Entwicklung.“160 Teile der Lehre unternahmen nunmehr beachtliche Anstrengungen, um eine Bindung des Gesetzgebers an die klassischen Grundrechte zu begründen und dogmatisch zu konkretisieren, sodass sich in Abgrenzung zum positivistischen Grundrechtsverständnis eine ‚neue Lehre‘ ausbildete.161 Schwierigkeiten bereitete vor allem die Frage nach der Konzeption einer effektiven Grundrechtsbindung – ein ‚Rätsel‘, das die Weimarer Staatsrechtslehre bis zuletzt nicht zu lösen vermochte. Zwar sollten sich später unter dem Grundgesetz der bereits in der Weimarer Zeit entwickelte Güterabwägungsgedanke und die Vorstellung einer durch die Verfassung errichteten (objektiven) Werteordnung als bedeutsam 159  Stellvertretend für die h. L. Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, 1932, S. 594; vgl. auch Pieroth, Geschichte der Grundrechte, 1984, S. 577, der darauf hinweist, dass die Verfassungslehre „keine größeren Anstrengungen unternommen“ hat, diese Verfassungsbestimmungen angemessen umzusetzen. 160  Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 110 m. w. N. 161  Vgl. insbesondere die Beiträge in der Kommentierung des Grundrechtsteils in dem von Nipperdey herausgegebenen Werk; Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1 – Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102–117, 1929; Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 2 – Artikel 118–142, 1930; Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3 – Artikel 143–165 und „Zur Ideengeschichte der Grundrechte“, 1930.



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erweisen, allerdings wurden hier nur theoretische Ausgangspunkte geschaffen, deren weitere Ausarbeitung und Konkretisierung erst unter dem Grundgesetz – und hier unter gänzlich anderen politischen wie verfassungstheoretischen Voraussetzungen – betrieben wurde.162 Für die theoretische Entwicklung in der jungen Bundesrepublik relevante Ansätze zur Grundrechtsinterpretation stammen dabei einerseits von Carl Schmitt und andererseits von Rudolf Smend, die im Folgenden exemplarisch näher betrachtet werden. aa) Die Grundrechte bei Schmitt Auf die umfassende Literatur zum Leben und Werk Carl Schmitts kann und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.163 Umfangreich aufgearbeitet ist mittlerweile Schmitts Rolle als „Kronjurist des Dritten Reiches“ (Gurian), seine Rechtfertigung des Röhm-Putsches ebenso wie sein nach 1933 offen artikulierter Antisemitismus.164 Im Folgenden beschränke ich mich auf die Skizzierung einiger wesentlicher methodischer Grundpositionen Schmitts und wende mich dann seiner Interpretation der Grundrechte zu. Schmitt war Antipositivist und Protagonist eines politischen Staatsrechts. Sontheimer bezeichnete Schmitt einmal als den „führenden Rechtsgelehrten“ auf dem „neuerschlossenen Gebiet der Konfrontation von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit“.165 Wolle der Jurist im Allgemeinen und der Staatsrechtslehrer im Besonderen über bloß oberflächliche Feststellungen hinaus und der „ideellen Struktur“ juristischer Begriffe näher kommen, so meinte Schmitt, müsse er „Begriffssoziologie“, mehr noch „politische Theologie“ betreiben. Er müsse den juristischen Begriff auf seinen politischen Gehalt hin erforschen und die zutage kommende strukturbestimmende politische Idee mit dem „metaphysischen Zentrum“ der die Situation beherrschenden geistigen Bewegung in Beziehung setzen. „Von der Lebenskräftigkeit dieser politischen Ideen hängt es für Schmitt ab, ob die konkrete politische Situation faktisch normal ist oder nicht.“166 Dabei interessierte sich Schmitt vor allem für die Gegensätze, die aus seiner Sicht in den Ideologien und der politischen Wirklichkeit zu Tage traten, ja er forderte sie regelBumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 121. den vergangenen Jahrzehnten ist hauptsächlich in den Politikwissenschaften, aber auch in der Rechtswissenschaft, eine wahre ‚Schmitt-Renaissance‘ zu beobachten; siehe Koenen, Der Fall Carl Schmitt, 1995, S. 2 f. 164  Vgl. ausführlich ebd., S. 599 ff.; Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, 1992, S. 102 ff.; zur Biographie Schmitts siehe Noack, Carl Schmitt, 1993; zu Schmitts Berliner Zeit lesenswert Lösch, Der nackte Geist – Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, S. 430 ff. 165  Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 1968, S. 78. 166  Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1992, S. 86. 162  Vgl. 163  In

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recht heraus. Seine Methode war geprägt von Konfrontation und vom Denken in Freund-Feind-Schemata und vom „Ausnahmefall“ her.167 Für die Gegenüberstellung von Verfassungsanspruch, politischen Ideen und politischer Wirklichkeit bediente sich Schmitt einer Methode, die als „dekonstruktive Argumentation“168 bezeichnet worden ist. Im Kern besteht sie darin, dass staats- und verfassungstheoretische Modelle von hoher Abstraktheit gebildet und dann durch die Entfaltung angeblicher Inkonsequenzen und Selbstwidersprüche gegeneinander in Stellung gebracht werden. So spielte Schmitt in seiner zugespitzten Art der Typenbildung etwa den liberalen gegen den demokratischen Staat aus,169 oder kontrastierte in Legitimität und Legalität vier unterschiedliche „Typen“ eines Gesetzgebungs-, Jurisdiktions-, Regierungs- und Verwaltungsstaates.170 In seiner Schrift Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens verglich er das „Regeloder Gesetzesdenken“ mit dem „Entscheidungsdenken“ (Dezisionismus) und dem „konkreten Ordnungsdenken“.171 Charakteristisch für Schmitt ist also die Betonung des Gegensätzlichen, das er jeweils unversöhnlich aufeinander treffen lässt. Es ging ihm am wenigsten darum, auch nach der Möglichkeit einer Versöhnung der widerstreitenden Gesichtspunkte zu suchen. Vielmehr analysierte Schmitt die jeweilige „Lage“ danach, welcher Typ, welches Prinzip oder welche Ideologie perspektivisch die Oberhand gewinnen würde. Seine Schriften wirken damit relativistisch und normativ zugleich.172 167  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 178  f.: „‚Grenze‘, ‚Lage‘, ‚Front‘ und ‚Entscheidung‘ waren die Stichworte. […] Seine vielfältigen Äußerungen zur parlamentarischen Demokratie, zu Pluralismus, Verbänden und Parteiwesen zeigten eine klar antiliberale und antiparlamentarische Linie. 1923 trat er mit einer scharf pointierten Parlamentarismuskritik hervor, erklärte Liberalismus und Demokratie für unvereinbare Gegensätze, spielte die moderne Massen- und Parteiendemokratie als Verfallserscheinungen gegen den Idealtypus eines starken Staates aus. Für Schmitt war ‚echte‘ Demokratie Identität der Regierenden und Regierten, möglich nur bei substanzieller ‚Homogenität‘ des Volkes, ‚nötigenfalls‘ verbunden mit ‚Ausscheidung und Vernichtung des Heterogenen‘ (was immer dies heißen mochte).“ 168  Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, 1992, S. 72 f.; vgl. Auch Scheuermann, Carl Schmitt – The End of Law, 1999, S. 113 ff. 169  Siehe etwa Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1926 (Neudruck der 2. Aufl. 1991); Schmitt, Verfassungslehre, 1928 (7. unveränd. Aufl. 1989). 170  Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932 (4. unveränd. Aufl. 1988); instruktiv Campagna, Carl Schmitt – Eine Einführung, 2004, S. 35 ff. 171  Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934 (2. unveränd. Aufl. 1993). 172  Eine Analyse findet sich bei Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1992, S. 88 f.: „‚In vollem Bewußtsein‘ wirft der Staatsrechtler Carl Schmitt mindestens



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Schmitt war der Auffassung, dass das „Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“, wie es im ersten Teil der Weimarer Reichsverfassung vorgesehen sei, letztlich zu einer Herrschaft der jeweiligen Mehrheit und ihrer Interessen über die Minderheit führe.173 Eine materiell-rechtliche Begrenzung des Mehrheitsprinzips erkannte Schmitt im zweiten Hauptteil der Verfassung und dort vor allem in den Grundrechten. Allerdings sah er deren ideologischen Anspruch „in einem konstruktiven Widerspruch“ zu der Wertneutralität des im ersten Hauptteil organisierten parlamentarischen „Gesetzgebungsstaates“. Durch die Bindung des Gesetzgebers an die Wertentscheidung der Grundrechte werde die „Grundlage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, das unbedingte Vertrauen auf den Gesetzgeber, sozusagen von Verfassung wegen untergraben“.174 Der zweite Hauptteil mit seinen Sicherungen enthielte folglich eine „Gegen-Verfassung“, sei außerdem in sich selbst „von Selbstwidersprüchen und Kompromissmängeln“ geprägt.175 Der zweite Hauptteil der Verfassung mit seinen klassisch-bürgerlichen, aber auch sozialen Grundrechten wirke in seiner „Heterogenität, Inkohärenz und Pleonexie“ als ein „interfraktionelles Parteiprogramm“. Es scheine kaum möglich, hierin etwas anderes zu finden als eine „Freigabe des Wetteinen Teil seiner Äußerungen ‚in die Waagschale der Zeit‘. Was Wunder also, daß so viele der Schmittschen Begriffe doppeldeutig sind, daß sie bald als konkrete Begriffe einer bestimmten historischen Situation, bald wieder als formale oder, besser gesagt, idealtypische Allgemeinbegriffe erscheinen. Dieser Zwiespalt zwischen relativistischer geistesgeschichtlicher Betrachtung und dezisionistisch-absolutem, formenden politischen Eingriff ist indessen für Schmitt unvermeidlich, weil die Politik unvermeidlich ist.“ 173  Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932 (4. unveränd. Aufl. 1988), S. 33: „Der Legalitätsanspruch macht jeden Widerstand und jede Gegenwehr zum Unrecht und zur Rechtswidrigkeit, zur ‚Illegalität‘. Kann die Mehrheit über Legalität und Illegalität nach Willkür verfügen, so kann sie vor allem ihren innenpolitischen Konkurrenten für illegal, d. h. hors-la-loi erklären und damit von der demokratischen Homogenität des Volkes ausschließen. […] Angesichts dieser bedenklichen Möglichkeit versucht man heute meistens, durch Einführung von Erschwerungen und Qualifizierungen der Abstimmungsmehrheiten einen gewissen Schutz zu gewähren, […] überhaupt unter dem irreführenden Stichwort des ‚Minderheitenschutzes‘ einerseits Sicherungen gegen 51prozentige Mehrheiten zu geben, andererseits aber doch in dem leeren Funktionalismus einer bloß arithmetischen Mehrheits- und Minderheitsmathematik zu verbleiben.“ 174  Ebd., S. 47. 175  Ebd., S. 56; vgl. auch Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, 1992, S. 96 f. So propagierte Schmitt die Rolle des Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung“ und versuchte damit, die Präsidialdiktatur zu stützen: Die „Meinungsverschiedenheiten und Differenzen zwischen den Trägern politischer Entscheidungs- und Einflussrechte“ ließen sich nicht justizförmig entscheiden, sondern könnten nur durch einen „höheren Dritten“ beseitigt werden; siehe Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 132; zur Gegenposition Kelsens oben unter B. I. 2. a) aa), S. 68 f.

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kampfes aller Richtungen, die nun versuchen sollen, aus der Fülle der Anerkennungen, Gewährleistungen und Zielsetzungen sich der für ihre Interessen brauchbaren Sätze zu bemächtigen“.176 So könnten einzelne Formulierungen einerseits zugunsten einer Entscheidung im Sinne „des Sozialismus und der Wirtschaftsdemokratie“ geltend gemacht werden. Andererseits könnte der zweite Hauptteil auch „im Sinne einer Entscheidung für den liberalen Rechtsstaat“ verstanden werden. Hier forderte Schmitt die Entscheidung und meinte: Grundsätzlich kann […] ein und derselbe Staat nur eine Art von Grundrechten haben. Das sind, mangels klarer anderweitiger Entscheidung, für die geltende Rechtsverfassung die individuellen Freiheitsrechte des auf Freiheit und Gleichheit der Individuen beruhenden bürgerlichen Rechtsstaats.177

Schmitt war damit einer der prominentesten Befürworter der liberal-abwehrrechtlichen Deutung der Grundrechte in der Weimarer Republik. Wie Poscher analysiert, hatte die theoretische Position Schmitts zwei grundsätzliche Stoßrichtungen. Zum einen richtete sie sich gegen die „sozialistischen“, das heißt sozialen Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung, die implizit zu uneigentlichen, unwesentlichen, unechten Grundrechten herabgestuft wurden. Verdeckt lag Schmitts Betonung des Abwehrrechts aber zum anderen eine ablehnende Haltung gegenüber dem bürgerlichen Rechtsstaat zugrunde.178 In den Grundrechten zeigte sich nach Schmitt die Halbheit der bürgerlichen Verfassungsentscheidung, die nach ihrem Selbstbild „eigentlich keine ist, weil sie mit ‚feiger Schlauheit‘ versucht, die politische Entscheidung zwischen Freund und Feind […] zu meiden. Dem entspricht das grundrechtliche Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats, nach dem die Befugnisse des Staates grundsätzlich beschränkt und die Freiheiten des einzelnen grundsätzlich unbeschränkt sind. Die politische Ordnung wird in Fesseln gelegt“.179 Die Grundrechte als Freiheitsrechte haben nach Schmitt eine klare formale Struktur. [Sie sind] prinzipiell unbegrenzt, d. h. Inhalt und Umfang liegen ganz im Belieben des Individuums. Jede gesetzliche Normierung, jede behördliche Intervention, jeder staatliche Eingriff muß prinzipiell begrenzt […] sein. […] Eine Freiheit „nach Maßgabe der Gesetze“ ist überhaupt keine Freiheit im liberalen Sinne. Der Vorbehalt des Gesetzes ist daher niemals der Vorbehalt einer Maß- und Inhaltsangabe, 176  Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, 1932, S. 583. 177  Ebd., S. 590. 178  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 32. 179  Ebd., S. 32.



I. Juristische Methode und staatsrechtlicher Positivismus 81 sondern immer nur der Vorbehalt einer Ausnahme, die als solche prinzipiell begrenzt, berechenbar und nachprüfbar sein muß.180

Die Begrenzung des Gesetzgebers leitet Schmitt dann einerseits aus dem Vorbehalt des Gesetzes, zum anderen aber auch aus der „typischen Art und Weise der Regelung“ her. Insofern liege in den Freiheitsgarantien der Reichsverfassung gleichzeitig eine Garantie des „überlieferten typischen Maßes staatlicher Eingriffe“.181 Diese sollte gegenüber dem Gesetzgeber durch so genannte institutionelle beziehungsweise Institutsgarantien gesichert werden. Institutsgarantien sollten dabei typische, „traditionell feststehende Normkomplexe und Rechtsgarantien“ umfassen, wie Eigentum, Erbrecht oder Ehe beziehungsweise Sicherungen wie die „übliche strafprozessuale Normierung der Festnahme, Hausdurchsuchung, Postbeschlagnahme“. Institutionelle Garantien sollten bestehende „Einrichtungen“ des öffentlichen Rechts schützen, beispielsweise die „Institution des deutschen Berufsbeamtentums als solche“.182 Mit seiner Interpretation der Grundrechte im Sinne des Schutzes der bürgerlichen Institute – beziehungsweise der überkommenen staatlichen Institutionen – bestätigte Schmitt im Kern auch die Rechtsprechung des Reichsgerichts.183 bb) Die Grundrechte in der Integrationslehre Smends Rudolf Smend war wie viele andere Staatsrechtslehrer vom Kulturprotestantismus geprägt. Den positivistischen „Konstruktivismus“ empfand er als mechanisch und lebensfremd. Für ihn „wie für viele andere war die Reduktion des Staates auf Normen, kombiniert mit einem methodischen Verbot, Geschichte, Politik und Ethik in die Norminterpretation einfließen zu lassen, eine noch krassere Herausforderung als die Arbeitsweise Labands. Der Staat mußte ‚mehr‘ sein als Recht, mußte ‚vor‘ dem Recht da sein, mußte ‚tiefer‘ gegründet sein als in einem Sollenssatz.“184 Smend entwickelte seine Integrationslehre unter Rückgriff auf eine „geisteswissenschaftliche Methode“, der maßgeblich Schriften des Sozial- und Kulturphilosophen T. Litt zugrunde lagen. Unter Einfluss der Hermeneutik Diltheys, der Phänomenologie Husserls und des Neuhegelianismus hatte Litt eine geisteswissenschaftlich „verstehende“ Soziologie entwickelt, die „nicht 180  Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, 1932, S. 592. 181  Ebd., S. 592. 182  Ebd., S. 595; zur Entwicklung der dogmatischen Figur durch Carl Schmitt siehe Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 21 ff. 183  Vgl. im Folgenden unter B. I. 2. c). 184  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 174.

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nur reine Fakten untersucht, sondern das Wesen des einzelnen Individuums und der Gemeinschaft aus ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu deuten versucht“.185 Diesen Ansatz verband Smend mit einer scharfen Kritik am Neukantianismus und dem Rechtspositivismus der Wiener Schule, in deren „geisteswissenschaftlichen Nihilismus“ er die Krise von Staatsrecht und Staatslehre begründet sah.186 Zur Ermittlung der „immanenten Strukturen“ des Staatslebens griff er auf das von Litt entwickelte soziologische Modell des „geschlossenen Kreises“ zurück. So wurde der Staat bei Smend zu einem „verbindenden Gesamterlebnis“, das sich durch die einzelnen, geisteswissenschaftlich zu erfassenden Lebensäußerungen bildet. Der Staat sei also kein „ruhendes Ganzes“, kein genuin normatives Gebilde, sondern „er ist überhaupt nur vorhanden in […] einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben. Er lebt und ist da nur in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens“, für den Smend die Bezeichnung „Integration“ wählte.187 Die dauernde Integration als Staatsaufgabe machte es nach Smend erforderlich, die empirischen Faktoren des geistigen Lebens eines Staates aufzuzeigen. Gegenstand des Verfassungsrechts sollte „der Lebensvorgang des Staates im ganzen“ sein.188 Dabei unterschied Smend zwischen den Faktoren der persönlichen, funktionellen und sachlichen Integration. Die persönliche Integration verlaufe über die integrierende Wirkung, die herausragende Persönlichkeiten – etwa das monarchische Staatsoberhaupt – bei den Staatsbürgern entfalteten: „Die Ovation für den Souverän ist nicht so sehr eine Ehrung dieser Person, als ein Akt ‚des Selbstbewusstseins eines einheitlichen Staatsvolkes‘, genauer eine Aktualisierung dieses Selbstbewusstseins, eine Erneuerung seiner Selbstanschauung, wie Th. Mann sie 185  So zusammenfassend Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S. 94. 186  Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 1 ff., 7: „Alle Wissenschaft vom geistigen Leben kann demnach ihre wichtigsten Gegenstände: den Einzelnen, die Gemeinschaft, den objektiven Sinnzusammenhang nicht als isolierte Elemente, Faktoren, Träger oder Gegenstände des geistigen Lebens auffassen, deren Beziehungen zueinander sie zu untersuchen hätte, sondern nur als Momente einer dialektischen Zusammenordnung, deren Glieder allenfalls […] einander polar zugeordnet sind. Jede Wissenschaft vom geistigen Leben hat hier ihr Apriori, und zwar nicht ein transzendentales, sondern eins der immanenten Struktur ihres Gegenstandes, das, auf dem besonderen Wege phänomenologischer Abstraktion gewonnen, hier vorausgesetzt werden soll.“ 187  Ebd., S.  18 f. 188  Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, 1928, S. 46.



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charakterisiert hat.“189 Bei der funktionellen Integration handele es sich um die Integration über „Funktionen und Verfahrensweisen, die kollektivierenden Lebensformen“, wie beispielsweise „der marschierenden Truppe oder dem demonstrierenden Aufzuge“, als „Mittel integrierender Zusammenfassung zunächst der körperlichen Bewegung selbst“.190 Als Beispiele für eine rein geistig-funktionelle Integration nannte Smend Wahlen, Abstimmungen und parlamentarische Verhandlungen.191 Die sachliche Integration stellte demgegenüber auf ideelle Sinngehalte und auf die Verwirklichung gemeinsamer Werte ab: Die Werte führen ein reales Leben nur vermöge der sie erlebenden und verwirklichenden Gemeinschaft. […] So ist auch der Staat nicht ein reales Wesen an sich, das dann als Mittel benutzt würde, um außer ihm liegende Zwecke zu verwirklichen. Sondern er ist überhaupt nur Wirklichkeit, sofern er Sinnverwirklichung ist; er ist mit dieser Sinnverwirklichung identisch.192

Einen wesentlichen Bestandteil der sachlichen Integration sah Smend in den Gewährleistungen der Grundrechte. Die herrschende Meinung finde in den klassischen Grundrechten „vor allem Spezialisierungen des ohnehin selbstverständlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.“ Darin liege allerdings ein Fehlverständnis: die Grundrechte seien nicht Verwaltungs-, sondern Verfassungsrecht. „Sie regeln ihre Gegenstände nicht vom Standpunkt des einzelnen technischen Rechtsgebiets, sondern von dem des Verfassungsrechts“.193 Dabei proklamierten die Grundrechte nach Smend ein „bestimmtes Kultur-, ein Wertsystem, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens“ sein sollte. Es sei ein „System gerade der Deutschen, das allgemeinere Werte national“ positiviere, eben dadurch aber „den Angehörigen dieser Staatsnation“ einen nationalen Status gebe, der sie von anderen abgrenze.194 Das System sei „an sich als ein geschichtlich begründetes und bedingtes Ganzes Gegenstand einer rein geisteswissenschaftlichen Bearbeitung“.195 Insbesondere sprach Smend den Grundrechten dabei die Bedeutung von „Auslegungsregeln für das spezielle Recht“ zu und betrachtete sie – ganz im Gegensatz zum positivistischen Verständnis – als (nicht nur abwehrende) „Richtschnur für die Verfassung, Gesetzgebung und die Verwaltung“.196 189  Smend,

Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 28 f. S. 33. 191  Ebd., S. 34. 192  Ebd., S. 45. 193  Ebd., S. 161. 194  Ebd., S. 163; vgl. auch Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, 1928, S.  46 ff. 195  Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 165. 196  Ebd., S.  163 f. 190  Ebd.,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Das Innovative der Integrationslehre Smends lag in dem völlig neuen Verständnis der Grundrechte, die zu übergeordneten materiellen Verfassungsgrundsätzen aufgewertet wurden, die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlen sollten.197 Problematisch hingegen war – neben der immanenten Widersprüchlichkeit eines behaupteten geschlossenen Wertsystems198 – die Hauptaussage der Integrationslehre, das Recht gewönne seine Legitimation daraus, ob und inwieweit es die Integration des Staatswesens zu realisieren vermöge. Dies ließ sich vor dem Hintergrund der staatspolitischen Verhältnisse so verstehen, dass der Weimarer Republik mangels verwirklichter „Integration“ die Staatsqualität abgesprochen und ihre Legitimität in Frage gestellt werden konnte. So wurde Smend wohl auch von vielen Zeitgenossen verstanden.199 Kelsen sprach in seiner Schrift „Der Staat als Integration“ sogar von einer „Kampftheorie gegen die Weimarer Verfassung“, die dazu diene, verfassungswidriges Geschehen unter bestimmten Umständen zu rechtfertigen.200 „Unzweifelhaft“, so heißt es etwa bei Unruh, sei die „anti-liberale und anti-aufklärerische Grundierung in Smends Denken“201, auch wenn dieser selbst später bestritt, seine Schrift antirepublikanisch gemeint zu haben.202 Das Verdienst der demokratietheoretischen Überlegungen Smends ist hingegen die „Sensibilisierung für die Gelingensvoraussetzungen von rechtlich verfassten Staatswesen“, insbesondere den von dem Willen seiner Bürger getragenen Grundkonsens über Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Das Funktionieren einer Verfassung setzte, wie Lottha resümiert, mehr voraus als die bloß „kontraktualistisch gebundene Ansammlung nutzenmaximierender Individuen, die den Staat und seine Verfassung primär als Garanten von Abwehrrechten und 197  Diesen Gedanken übernimmt später das Bundesverfassungsgericht in seiner frühen Rechtsprechung und begründet damit die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und die Kontrolle von Gesetzgebung und Fachgerichtsbarkeit auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hin; dazu unter B. II. 4. d) bb). 198  Vgl. Ruppert, Geschlossene Wertordnung?, 2005, S. 339. 199  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 175. 200  Kelsen, Der Staat als Integration, 1930 (Neudruck 1971); dazu Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 1968, S. 84: „In der etwas einseitigen Zuspitzung der Verfassungslehre auf den Prozess der Integration, einer Einseitigkeit, die vermutlich den unabweisbaren Eindruck mangelnder Integration im politischen Leben der Weimarer Republik zuzuschreiben ist, und in Verbindung mit Smends scharfer Kritik am Liberalismus wurde die Integrationslehre nicht als Unterstützung der die Republik tragenden Kräfte, sondern viel eher als Hilfestellung für die gegen die Weimarer Republik opponierenden Anhänger eines antiliberalen Staatsdenkens empfunden.“ 201  Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, 2004, S. 133. 202  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 175.



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‚negativen Freiheiten‘ verstehen“.203 Diese Grundannahme der Smendʼschen Integrationslehre dürfte, ebenso wie die Betonung des strikten Vorrangs von Verfassung und Grundrechten gegenüber dem (einfachen) Gesetzesrecht, die Erklärung für ihre Bedeutung gewesen sein, die ihr in der Rechtsprechung und der Staatsrechtslehre der jungen Bundesrepublik zukommen sollte.204 c) Richterliches Prüfungsrecht und Grundrechtsbindung des Gesetzgebers Das Pendant der Debatte um die normative Bindungswirkung der Grundrechte in der Praxis der Gerichte war die Frage nach dem richterlichen Prüfungsrecht. Durften die Gerichte formell ordnungsgemäß zustande gekommene Parlamentsgesetze inhaltlich am Maßstab der Grundrechte messen – und wenn ja, wie war diese Bindung zu verwirklichen? Diese Frage blieb in der Weimarer Republik bis zuletzt umstritten und letztlich ungeklärt.205 Während in der US-amerikanischen Rechtsprechung die Kompetenz der Gerichte, Parlamentsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen (judicial review), seit der bahnbrechenden Entscheidung des Supreme Court in der Rechtssache Marbury v. Madison im Jahr 1803 grundsätzlich anerkannt war,206 wurde ein solches Prüfungsund Verwerfungsrecht der Judikative unter dem prägenden Einfluss des Rechtspositivismus in Deutschland abgelehnt. Die Gegner eines richterlichen Prüfungsrechts machten geltend, dass die Überprüfung von Parlamentsgesetzen, zumal an den Grundrechten, „wegen der Eigenart der Verfassung auf der einen und der strikten Beschränkung der Rechtsprechung auf die Entscheidung von Rechtsfragen auf der anderen Seite nicht Aufgabe von Richtern sein könne“.207 Sieht man von der Position Kelsens ab, der unter Verweis auf die Durchsetzung der Normhierarchie und den politischen Minderheitenschutz für ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht – allerdings zentralisiert bei einem Verfassungsgericht und beschränkt vor allem auf die formalen Bestimmungen der Verfassung – eintrat und dieses auch bei der 203  Lhotta, Rudolf Smend und die Weimarer Demokratiediskussion – Integration als Philosophie des „Als-ob“, 2000, S. 317. 204  Vgl. auch unter B. I. 2. b) bb), B. II. 2. c) und B. III. 2. a). 205  Zusammenfassend Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 120 f. 206  5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803); dazu Nelson, Marbury v. Madison – The Origins and Legacy of Judicial Review, 2000; Bryde, Verfassungsentwicklung – Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 97 f.; Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, 2003. 207  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 97; zur Debatte auch Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, 2006 / 2007, S. 158 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Konzeption des 1920 gegründeten Verfassungsgerichtshof in Österreich in die Praxis umzusetzen half,208 wandten sich die Positivisten fast ausnahmslos gegen das Prüfungsrecht, während die erstarkende antipositivistische Strömung ein solches grundsätzlich befürwortete.209 In der aufkeimenden Debatte zeigte sich, dass die Befürwortung des richterlichen Prüfungsrechts auch aus dem Misstrauen eines Teils der Rechtswissenschaft und der Justiz gegenüber einer je nach Mehrheitsverhältnissen eigentumsfeindlichen, möglicherweise gar sozialistischen Gesetzgebung des Parlaments erwuchs.210 Sinnfällig kommt das in der Aussage Triepels zum Ausdruck, das richterliche Prüfungsrecht sei „wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlament“.211 Während die sozialen (Leistungs-)Grundrechte weiterhin zu bloßen (nicht justiziablen) Programmsätzen herabgestuft wurden, setzte sich in der Literatur allmählich ein Verständnis der klassischbürgerlichen Grundrechte durch, nach welchem diese als Instituts- beziehungsweise institutionellen Garantien212 vor allem die „wohlerworbenen Rechte“ sicherten. Da der dem Reichsgericht inkorporierte Staatsgerichtshof ausschließlich für Reich-Länder-Streitigkeiten und für die klassischen Verfassungs(organ) streitigkeiten zuständig war, fehlte es an einer zentralisierten gerichtlichen Instanz zur Normenkontrolle.213 Die fachgerichtliche Rechtsprechung des Reichsgerichts blieb anfangs sehr zurückhaltend, taste sich dann jedoch langsam vor und bejahte in mehreren Entscheidungen prinzipiell ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber vom Reichstag erlassenen Gesetzen.214 Erstmals ausdrücklich prüfte das Reichsgericht in seinem politisch wohl „bedeutsamsten Urteil“215 vom November 1925 das Aufwertungsgesetz als Reichsgesetz am Maßstab der Eigentumsfreiheit des Art. 153 WRV, bestäÖhlinger, Die Bedeutung Hans Kelsens im Wandel, 2003. die Positionen von Nawiasky und Kaufmann auf der Münsteraner Staatsrechtslehrertagung 1926: Nawiasky, Gleichheit vor dem Gesetz, 1927, S. 41; Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, 1927; zusammenfassend Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, 2006 / 2007; vgl. auch oben unter B. I. 2. a) bb). 210  Korioth, Garantie der Verfassung, 2003, S. 711. 211  Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, 1920, S. 537. 212  Vgl. auch unter B. I. 2. b) aa). 213  Vgl. Korioth, Garantie der Verfassung, 2003, S. 707 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 117 f. 214  Vgl. RGZ 102, 161; 105, 251; 107, 370. 215  Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, 2006 / 2007, S. 168; vgl. auch Wesel, Der Gang nach Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, 2004, S. 28. 208  Dazu

209  Stellvertretend



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tigte aber im Ergebnis dessen Verfassungsmäßigkeit.216 Auch in der Folge blieb die Rechtsprechung zurückhaltend.217 Ein Reichsgesetz verwarf das Gericht überhaupt nur in einem einzigen Fall: Im April 1929 erklärte es Vorschriften eines Gesetzes über die Schutzpolizei der Länder wegen Ausschlusses des ordentlichen Rechtswegs für verfassungswidrig und daher für im konkreten Fall unanwendbar.218 Zur Enttäuschung der Befürworter einer verstärkten Kontrolle des Parlamentsgesetzgebers219 war das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Reichsgesetzen in der Weimarer Gerichtspraxis praktisch bedeutungslos.220 In der Rechtsprechung des Reichsgerichts erlangten bei der Kontrolle von Landesgesetzen die Garantie der Beamtenrechte (Art. 129 WRV) und die Staatshaftung (Art. 131 WRV), von den ‚klassischen‘ bürgerlichen Grundrechten jedoch allein die Eigentumsgarantie (Art. 153 WRV) Relevanz.221 So wurde der Schutz der Eigentumsgarantie im Anschluss an M. Wolff derart erweitert, dass darunter alle vermögenswerten (wohlerworbenen) Privatrechte gefasst wurden.222 In einem weiteren Schritt wurde der Enteignungsbegriff extensiv interpretiert mit der Folge, dass jede nachträgliche Beschränkung von einmal begründeten Eigentumspositionen durch ein Gesetz als (Legal-)Enteignung zu betrachten und damit grundsätzlich entschädigungspflichtig war.223 Die Inhalts- und Schrankenbestimmung des 216  RGZ 111, 320, 322  ff.; vgl. Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 39 ff.; auch Buschke, Die Grundrechte der Weimarer Verfassung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1930, S. 28 ff.; zur Diskussion um das „richterliche Prüfungsrecht“ in der Staatsrechtslehre instruktiv Füzér, Rights and Constitutional Theory in Weimar Germany, 2004, Chapter 2, Section One, S. 40 ff. 217  Dazu und zu den relativ ‚vagen‘ Aussagen des Reichsgerichts in der Entscheidung zum Aufwertungsgesetz Korioth, Garantie der Verfassung, 2003, S. 709 f. 218  RGZ 124, 173, 177 f. 219  Vgl. etwa die kritische Einschätzung von Walter Simon, der 1922 bis 1929 Reichsgerichtspräsident war und sich vergeblich für eine striktere Handhabung des richterlichen Prüfungsrechts eingesetzt hatte, wiedergegeben bei Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 40; deutliche Kritik an der Rechtsprechung findet sich auch bei Buschke, Grundrechte der Weimarer Verfassung, 1930, S. 110 ff. 220  Vgl. Gusy, Die Grundrechte in der Weimarer Republik, 1993, S. 170; Korioth, Garantie der Verfassung, 2003, S. 710; Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, 2006 / 2007, S. 167 f. m. w. N. 221  Zusammenfassend Gusy, ebd., S. 176 ff.; vgl. auch Buschke, Grundrechte der Weimarer Verfassung, 1930, S. 61 ff. 222  Vgl. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem – Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaats, 1975, S. 258 ff.; grdl. RGZ 103, 200 – Lippesche Rente; RGZ 109, 310 – Anhaltische Kohlenrente. 223  Grdl. RGZ 111, 123; dazu Ritterstieg, ebd., S. 260 f.; zusammenfassend Caldwell, Popular Sovereignty and the Crisis of German Constitutional Law – Theory and Practice of Weimar Constitutionalism, 1997, S. 156 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Art. 153 Abs. 1 WRV wurde damit nahezu bedeutungslos.224 Allerdings betraf auch dies ausschließlich die Landesgesetzgebung; Reichsgesetze blieben, wie dargelegt, von der Rechtsprechung unangetastet.225 Hingegen machte das Reichsgericht gegenüber Landesgesetzen von seinem Normenkontrollrecht des Öfteren Gebrauch, vor allem bei Nutzungsbeschränkungen, in der Wasserwirtschaft sowie im Landschafts- und Denkmalschutz, was teilweise zu erheblichen finanziellen Belastungen der Länder und Kommunen führte.226 d) Zwischenfazit: Die Ablösung des Positivismus und das ‚Rätsel‘ der Grundrechtsbindung In Bezug auf die Grundrechte konnte gezeigt werden, dass das bis in die Weimarer Republik fortwirkende positivistische Methodenverständnis entscheidend dazu beitrug, die juristische Wirkungskraft der Grundrechte im Zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung weitgehend leerlaufen zu lassen und auf den formalen Vorbehalt des Gesetzes zu reduzieren. Im Methodenstreit waren es vor allem antipositivistische Autoren, die sich für eine Stärkung der juristischen Bindungswirkung der Grundrechte, auch gegenüber dem Gesetzgeber, einsetzten und den bürgerlich-liberalen Grundrechten eine juristische Abwehrfunktion im Sinne von institutionellen beziehungsweise Institutsgarantien zusprachen. Diese Bemühungen waren allerdings, ähnlich wie die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Eigentumsgarantie, nicht zuletzt von der Sorge einer zu weitgehenden sozial-interventionistischen Gesetzgebung getragen und hatten daher größtenteils eine gegen das Parlament gerichtete oder gar antidemokratische Stoßrichtung. Demgegenüber standen positivistische Autoren wie Kelsen einer wertausfüllenden Interpretation von Verfassungsbegriffen skeptisch gegenüber und warnten ausdrücklich vor einer methodischen Öffnung, die es den Gerichten ermög224  Die Durchbrechung dieser Rechtsprechungstradition, die – eingeschränkt – auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fortgeführt wurde, erfolgte erst durch das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Nassauskiesungsentscheidung BVerfGE 58, 300; dazu lesenswert Bryde, Der Kampf um die Definition des Art. 14, 1985. 225  Zum einen konnte das Reich die Entschädigung für Enteignungen und den Rechtsweg ausschließen (Art. 153 Abs. 2 Satz 2, 3 WRV). Zum anderen wurde das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Reichsgesetzen praktisch nicht ausgeübt, was sich etwa in den geringen Anforderungen zeigt, die das Reichsgericht für das Allgemeinwohlerfordernis aufstellte; vgl. etwa RGZ 111, 320, 326 f.; Buschke, Grundrechte der Weimarer Verfassung, 1930, S. 111 ff. 226  Vgl. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, 1975, S. 259 ff.; Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 342 f.; Gusy, Die Grundrechte in der Weimarer Republik, 1993, S. 178 f.



II. Der Bruch mit dem Positivismus89

licht hätte, ihre Gerechtigkeitsvorstellungen auch gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber zur Geltung zu bringen. Theoretische Grundlagen für die Grundrechtsbindung, die auch unter dem Bonner Grundgesetz bedeutsam werden sollten, wurden in Arbeiten von Schmitt und vor allem bei Smend gelegt. Allerdings gingen diese in ihrer dogmatischen Konkretisierung nicht über „erste Ausgangspunkte“ hinaus.227 In Lehre und Praxis blieb das richterliche Prüfungs- und Verwerfungsrecht bis zuletzt umstritten. Dort, wo es wie in der Eigentumsrechtsprechung des Reichsgerichts (allerdings nur gegenüber Ländergesetzen) praktische Relevanz erlangte, diente es vor allem der Sicherung von bürgerlichen Besitzständen gegenüber staatlicher Regulierung. Insgesamt blieb das ‚Rätsel‘ der Grundrechtsbindung bis zuletzt ungelöst.

II. Der Bruch mit dem Positivismusund die Entwicklung einer Methode aus dem Selbstverständnis des Bonner Grundgesetzes und seines ‚Hüters‘, des Bundesverfassungsgerichts Bei einem Übergang von einer totalitären Diktatur zu einem demokratischen Gemeinwesen, wie ihn Deutschland nach 1945 erlebte, besteht zunächst ein Konflikt zwischen der bestehenden Rechtsordnung und der Legitimität der neuen Verfassung, der durch eine Neuausrichtung der Rechtsordnung zu bewältigen ist.228 Nun basierten wesentliche gesetzliche Vorschriften der Weimarer Republik, soweit sie nicht durch die Nationalsozialisten ausdrücklich geändert worden waren, auf rechtsstaatlich-liberalem Gedankengut. Nach 1933 waren sie zwar teilweise im Sinne des Nationalsozialismus uminterpretiert worden. Allerdings konnte die Rechtsprechung an einen existierenden Normbestand anknüpfen, der bereits vor der Machtergreifung Hitlers bestanden hatte und dogmatisch entwickelt war. In der Weimarer Fachgerichtsbarkeit hatte sich, wie gesehen, bis auf die Rechtsprechung zu den wohlerworbenen Rechten und der Eigentumsgarantie, die im Sinne eines institutionellen Bestandsschutzes interpretiert wurde, keine nennenswerte Grundrechtsjudikatur entwickeln können.229 Vor diesem Hintergrund legte das neu gegründete Bundesverfassungsgericht, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, besonderes Augenmerk auf die effektive Durchsetzung der neuen Verfassungsordnung im Sinne einer verfassungsrecht­ 227  Bumke, 228  Bryde,

Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 121. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, 1999,

S. 198. 229  Vgl. unter B. I. 2. c).

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

lichen Durchdringung der Rechtsordnung,230 die mit der Frage nach seiner eigenen institutionellen Macht gegenüber der Fachgerichtsbarkeit verknüpft war.231 Das lässt sich am Gutachtenstreit als Kampf um die Deutungsmacht über das Grundgesetz gut erkennen, hatte aber auch Folgen für die methodische Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts und den Umfang seiner Kontrolle in Grundrechtsfragen. 1. Der Bruch mit dem methodischen Positivismus unter dem Grundgesetz a) Der grundrechtstheoretische Paradigmenwechsel Vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der menschenverachtenden Handlungen, die unter der Herrschaft totalitärer Regime, vor allem der NS-Diktatur in Deutschland verübt worden waren, gelangte nach 1945 die Menschenrechtsidee weltweit zu einem Durchbruch.232 Wichtigstes Zeichen dafür war die von der UN-Generalversammlung angenommene Menschenrechtserklärung von 1948.233 Sie war auch für den Parlamentarischen Rat eine bedeutende Grundlage und Quelle für die Konzeption des Grundrechtsteils des Grundgesetzes.234 Bei der Erarbeitung des Grundgesetzes wurden die Grundrechte von den Verfassungsvätern und -müttern an den Anfang der neuen Verfassung gestellt und zwar ausdrücklich „weil klar zum Ausdruck kommen sollte, daß die Rechte, deren der Einzelmensch bedarf, wenn anders er in Würde und Selbstachtung soll leben können, die Verfassungswirklichkeit bestimmen müssen“. Für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates war dies „mehr als ein Symbol“. Damit die Grundrechte „nicht nur Anhängsel des Grundgesetzes“ seien, „wie der Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung ein Anhängsel der Verfassung gewesen ist“, sollten die Grundrechte „nicht bloße Deklamation, Deklaration oder Direktiven sein, […] sondern unmittelbar geltendes Bundesrecht, auf Grund dessen jeder einzelne Deutsche 230  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4 – Staatsund Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990, 2012, S. 218 f. 231  Vgl. auch Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, 1999, S. 200 f. 232  Vgl. Stern, § 1 Die Idee der Menschen- und Grundrechte, 2004, Rn. 28; Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 9 ff. 233  Vgl. Gosepath, Der Sinn der Menschenrechte nach 1945, 2009. 234  Ausführlich Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 25  ff.; vgl. auch Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 2009, S. 65; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2004, Art. 1 Abs. 2, Rn. 2; Kunig, in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Art. 1, Rn. 43.



II. Der Bruch mit dem Positivismus91

[…] vor den Gerichten soll Klage erheben können“.235 Diese Forderung wurde in Art. 1 Abs. 3 GG umgesetzt, der die Grundrechte für alle drei Staatsgewalten: Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, zum „unmittelbar geltenden Recht“ erklärt. Damit verbunden war eine unmissverständliche Abkehr vom staatsrechtlichen Positivismus. Das Individuum rückte nun in das Zentrum des Staatsbildes.236 Darin zeigt sich ein weiterer grundlegender Wandel gegenüber dem Konstitutionalismus der Kaiserzeit und gegenüber der Weimarer Reichsverfassung.237 Denn unter dem Einfluss des staatsrechtlichen Positivismus hatte sich das Grundrechtsverständnis ganz von der Vorstellung außer- oder vorstaatlicher Grundrechte als Menschenrechte gelöst. Grundrechte waren Rechte, die unmittelbar mit dem Status als Staatsbürger zusammenhingen und daher auch nur den Staatsangehörigen zugestanden wurden.238 Das Grundgesetz vollzog vor diesem Hintergrund eine geradezu revolutionäre Wende von der „Binnenperspektive des Herrschaftsverbandes zu der des autonomen Individuums“.239 Der Mensch sollte nicht für den Staat da sein oder sich in ihm „verwirklichen“, sondern es sollte Aufgabe des Staates sein, die „äußere Ordnung zu schaffen, derer die Menschen zu einem auf der Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen“.240 Wie es noch in Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs hieß: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“.241 Entsprechend wurde auch die Garantie der Menschenwürde an den Anfang des Grundrechtskatalogs gestellt und durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG vor Einschränkungen durch die verfassungsändernde Gesetz­ gebung geschützt. Auf diesem Weg ist die Menschenwürde, wie es das Bundesverfassungsgericht später formuliert hat, zu einem „obersten Ver­ fassungswert“242 erhoben worden, der die Interpretation der anderen Grund235  Abgeordneter Dr. Schmid u. a., aus den stenografischen Berichten des Parlamentarischen Rats zitiert nach Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1962, S. 196; vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 211. 236  Vgl. Stolleis, ebd., S. 211 f. 237  Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, 1999, S. 1505. 238  Vgl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 1968, S. 102. 239  Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes – Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft, 2001, S. 76. 240  Generalberichterstatter Schmid, zit. nach Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, I. Die Grundrechte, Ziff. 2, S. 35. 241  Zit. nach Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 2001, S. 79. 242  Grdl. BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes; aus der jüngeren Rspr. BVerfGE 109, 279 (311) – Großer Lauschangriff; st. Rspr.

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rechte und Verfassungsbestimmungen (mit)beeinflusst.243 Zugleich ist „bereits im ersten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG eine Grundentscheidung gefallen, die diese Verfassung von all ihren Vorläufern unterscheidet“.244 Stern spricht von einem „Schlüsselbegriff“ im Verhältnis des Menschen zum Staat. Als Ausgangspunkt des staatlichen Rechts wird der Mensch als selbstbestimmtes, sich in eigener Autonomie entfaltendes und mit eigenen Rechten ausgestattetes Individuum aufgefasst.245 Dies bestätigt sich auch in den nachfolgenden Bestimmungen, vor allem dem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeglicher menschlicher Gemeinschaft in Art. 1 Abs. 2 GG, in der umfassenden Bindung aller drei Staatsgewalten an die unmittelbar geltenden Grundrechte, und „wenn Freiheit und Gleichheit als Konkretisierungen der Menschenwürde betrachtet werden, ebenso folgerichtig: der menschenrechtlichen Fassung der Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1  GG“.246 Die menschenrechtlichen Gewährleistungen der Grundrechte sollten also nicht erst durch und im staatlichen Recht begründet sein, sondern sie wurden von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates als ihm vorausliegend, somit als „vorstaatlich“ gedacht, und zwar – wie von Mangold ausführt – „je nach dem weltanschaulichen Standpunkt als von Gott gegebene und angeborene oder als naturgegebene und unveräußerliche Rechte. So kam es, daß in der Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21. September [1949, der Verf.] ausdrücklich beschlossen wurde, die sogenannten vorverfassungsmäßigen Rechte aufzunehmen“.247 Der Staat war 243  Dabei wird allerdings nur ein Kernbereich an negativem Schutz garantiert, insbesondere gegen Erniedrigungen, Ächtungen, schwere Formen des Rassismus, Sklaverei, Folter und ähnliche schwere Gewalttaten, der keiner Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich ist; dazu Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, 2004; vgl. auch Zippelius, in: Dolzer et al., Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1, Rn. 17 (Lfg. Dezember 1989). 244  Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 2001, S. 113. 245  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3 / I – Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, § 58 II. 246  Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 2001, S. 113; vgl. Baer, Dignity, Liberty, Equality: A Fundamental Rights Triangle of Constitutionalism, 2009. Die Menschenwürde ist dann als verbindendes Element in einer Trias von Gleichheit, Freiheit und Würde zu sehen. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte – Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, 1998, S. 68, arbeitet heraus, dass Kants Menschenwürdeverständnis als Grundlage von Freiheit und Gleichheit zu verstehen ist. 247  von Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, 1949, S. 275 f.; zu den unterschiedlichen naturrechtlichen Begründungslinien siehe Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, 1999, S. 1506: „Angesichts der gewollten Überwindung des Nationalsozialismus und des staatsrechtlichen Positivismus […] war man sich einig. Auch die Berufung auf unveräußerliche Menschenrechte und damit auf die universelle Natur- und Menschenrechtskonzeption der



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damit nur (noch) Adressat der Grundrechtsgewährleistungen, nicht mehr ihr Geltungsgrund.248 Dies kommt auch im Sprachgebrauch des Grundrechtskatalogs zum Ausdruck, wenn dort von Rechten, die jedermann „hat“ (unter anderem Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 1GG), beziehungsweise von deren „Unverletzlichkeit“ gesprochen wird (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 GG), oder bestimmte Betätigungen und Lebensbereiche für „frei“ erklärt werden (vgl. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG). Damit war – hier schließt sich der Kreis zum Kommers-Zitat am Anfang dieses Buches249 – der Bruch mit dem staatsrechtlichen Positivismus und damit, wie wir sehen werden, zwangsläufig auch mit einer engen und formalen positivistischen Interpretationsmethodik vollzogen.250 Der Parlamentarische Rat entschied sich darüber hinaus bewusst für die unmittelbare Geltung der klassischen Freiheitsrechte und gegen die Aufnahme von sozialen Grundrechten, die in der Perspektive von 1949 in erster Linie Programmsätze gewesen wären.251 Es ging ihm darum, die Grundrechte zu verbindlichen, mit Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht ausgestatteten Normen (Art. 20 Abs. 3 GG) zu machen, die von den Gerichten nun auch praktisch zur Geltung zu bringen waren.252 Es sollte deutlich erkennbar werden, dass grundrechtliche Freiheit mehr bedeutete als Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dass grundrechtliche Gleichheit sich nicht in bloßer Gleichheit der Rechtsanwendung erschöpft. Die Zeiten, in denen das (einfache) positiv gesetzte Recht sich gegenüber den materiellen Gehalten der Grundrechte durchsetzte, es dem Gesetzgeber möglich war, die FreiAufklärung erschien nahezu selbstverständlich. Bis in die Formulierungen hinein wurde aber deutlich, daß das Naturrecht sich eben aus unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Quellen speist, die sich vereinfachend mit ‚christlich-abendländisch‘ einerseits und ‚säkulares Vernunftrecht‘ andererseits kennzeichnen lassen. Beide waren im Parlamentarischen Rat hoch präsent – und das war den Mitgliedern auch bewußt.“ 248  Vgl. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 2009, S. 65 m.  w. N.; Badura, Staatsrecht – Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 2010, C, Rn. 1. 249  Oben unter A. I. 250  Sehr zurückhaltend hingegen Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 17 (Lfg. Mai 2009); Herdegen, Deutungen der Menschenwürde im Staatsrecht, 2008, S. 58 f., der meint, ein antipositivistisches Verständnis der Menschenwürde führe zwangsläufig zu einer „meta-juristischen Offenbarungslehre“ und dabei deren vernunftrechtliche Begründung bei Kant ebenso vernachlässigt wie ihre säkulare Konkretisierung im (internationalen) Menschenrechtsdiskurs; dazu ausführlich Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 62 ff.; siehe auch die Nachweise oben in Fn. 246. 251  Zusammenfassend Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 6. 252  Vgl. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 100, Ziff. 3.

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heitsrechte weitgehend nach Belieben einzuschränken, sollten unmissverständlich vorbei sein.253 Damit aber war den Gerichten, vor allem dem neu entwickelten Bundesverfassungsgericht, bei dem die Verwerfungskompetenz für Gesetze des Bundestages monopolisiert wurde (Art. 100 Abs. 1 GG), zugleich gewissermaßen von heute auf morgen eine in der Tradition der deutschen Justiz und Rechtswissenschaft völlig neue Aufgabe zugewiesen, nämlich die grundrechtliche Kontrolle der Staatsgewalten, auch der Gesetzgebung, durch Ausübung des gerichtlichen Prüfungsrechts verbindlich zu gewährleisten – eine Aufgabe, für die es, wie gesehen, rechtsmethodisch nur rudimentäre Vorarbeiten und kaum praktische Erfahrungen gab.254 b) Das fortbestehende ‚Rätsel‘ der Grundrechtsbindung Während also die Entscheidung des Grundgesetzes für die Verbindlichkeit der Grundrechte – das ‚Ob‘ der Grundrechtsbindung – eindeutig war, wurde das methodische Problem der praktisch-juristischen Effektuierung des Grundrechtsschutzes – das ‚Wie‘ – im Grundgesetz selbst nur in allerersten Ansätzen gelöst. Einerseits verfolgte man das Konzept, statt einer einzigen Vorbehaltsbestimmung möglichst jedem Grundrecht einen auf die jeweilige Gewährleistung zugeschnittenen qualifizierten Gesetzesvorbehalt beizufügen, der Maßstäbe für einschränkende Gesetzes aufstellen sollte.255 Doch dieses Vorhaben gestaltete sich sehr schwierig, zumal die Formulierung möglichst exakter Vorbehaltsbestimmungen in Anbetracht der noch nicht abzuschätzenden Rechtsentwicklungen und Regelungsnotwendigkeiten kaum möglich war. Die Forderung nach einer genauen Fassung der Vorbehalte stand zudem im Konflikt mit dem Bestreben, die Grundrechtsbestimmungen möglichst feierlich und prägnant zu halten. Deshalb verzichtete man auf eine spezifische Regelung, „wenn sie sich nicht stilgerecht formulieren lassen wollte“.256 Als eigentlich wichtigste Sicherung, um in Anbetracht der Gesetzesvorbehalte ein ‚Aushöhlen‘ der Grundrechtsgewährleistungen zu verhindern, be253  Vgl. Krüger, Die Einschränkung von Grundrechten nach dem Grundgesetz, 1950, S. 626; Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, 1995, S. 266. 254  Das Konzept des Menschen- und Grundrechtsschutzes durch Gerichte breitete sich erst nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs weltweit aus, dazu Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 8, Fn. 20 m. w. N.; selbst in den USA mit ihrer langen Tradition des judicial review hatte sich die Rechtsprechung zu den Bürgerrechten erst seit den 1930er Jahren verstärkt entwickelt, dazu Epp, The Rights Revolution, 1998. 255  Vgl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 122 ff.: „Konzept der Konkretisierung“. 256  Ebd., S. 124.



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stimmte man in Art. 19 Abs. 2 GG, dass der Gesetzgeber ein Grundrecht nicht in seinem „Wesensgehalt“ antasten dürfe. Im Zusammenspiel mit Art. 1 Abs. 3 GG sollte diese „Wesensgehaltsgarantie“ nach Vorstellung der Verfassungsväter und -mütter die normative Grundlage für die Bindung der Gesetzgebung an die grundrechtlichen Gewährleistungen bilden. Worin diese Bindung genau bestand und wie der „Wesensgehalt“ eines Grundrechts bestimmt werden konnte, blieb allerdings offen. Die Frage nach der Wesensgehaltsschranke wurde in der verfassungsrechtlichen Literatur nach 1949 eingehend behandelt,257 rückte dann aber in den Hintergrund und spielte in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eigentlich keine Rolle. Das vom Parlamentarischen Rat zur Effektuierung des Grundrechtsschutzes ausgedachte Modell erwies sich in der Rechtsprechungspraxis schlicht als weitgehend „unprak­ tikabel“258; die maßgebliche Schranke für Grundrechtsbeschränkungen entwickelte das Bundesverfassungsgericht erst im Laufe seiner Rechtsprechung in Form des Verhältnismäßigkeitsprinzips.259 2. Die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts: Ungewissheit über Status und Methode Da die gerichtliche Kontrolle einfachen Gesetzesrechts auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten hin im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit (und erst Recht unter den Nationalsozialisten) wie gesehen kaum Vorläufer hatte, markiert die Gründung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1951 so etwas wie die Stunde ‚Null‘ der Rechtsprechung zu Grundrechten in Deutschland, wie wir sie heute kennen. Es ist kaum möglich, die wesentlichen Grundentscheidungen sowie die Methodik dieser Judikatur zu verstehen, wenn man nicht auch auf ihren historischen Hintergrund eingeht und sie im Zusammenhang mit den ersten Jahren des Gerichts betrachtet. Umso erstaunlicher ist, auch im Hinblick auf die umfassende Forschung etwa über den US-amerikanischen Supreme Court, wie Henne bemerkt, ein weiter bestehender Mangel an rechtshistorischen Gesamt- und Detailanalysen zur bundesdeutschen Grundrechtsjudikatur.260 Im Folgenden soll ein Überblick 257  Vgl. nur Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte i.  S. des Art. 19 GG, 1955 ff. m. w. N. und die Habilitation von Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1983; ausführlicher hierzu unter B. III. 4. a) aa). 258  Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, 1994, 198. 259  Zur Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsdogmatik beginnend mit dem Apotheken-Urteil siehe unter B. II. 4. e). 260  Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005. Ein Grundlagenwerk zum Bundesverfassungsgericht, das die Entstehungsgeschichte des Gerichts beleuchtet, hat der US-amerikanische Rechts- und Politikwissenschaftler Kommers verfasst; auf

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über die konstitutive Phase des Bundesverfassungsgerichts, die handelnden Akteure und die wichtigsten Entscheidungen gegeben werden.261 Dies geschieht jeweils mit Blick auf methodische und dogmatische Grundentscheidungen des Gerichts, die jeweils nur vor dem Hintergrund der institutionellen, personellen und politischen Rahmenbedingungen dieser Zeit zu verstehen und zu erklären sind. a) Die Entscheidungen des Parlamentarischen Rats und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 Geht man von der hohen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für die Interpretation des Verfassungsrechts und seiner unbestreitbaren judikativen Machtfülle heute aus, so erstaunt es, wie wenig Vorschriften das Grundgesetz über das Verfassungsgericht enthält. Eigentlich hätte es nahegelegen, wesentliche Grundzüge der Zusammensetzung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz selbst zu verankern und damit der Möglichkeit einer Änderung durch die einfache Parlamentsmehrheit zu entziehen. Allerdings ist genau das Gegenteil der Fall: Wesentliche Konturen der Organisa­ tion, Zusammensetzung und des Verfahrens, wie wir sie heute für selbstverständlich halten, beispielsweise die Aufteilung in zwei Senate oder die Amtsdauer der Verfassungsrichterinnen und -richter, sind nur einfachgesetzlich festgelegt.262 So bestimmt Art. 92 GG unter Abschnitt IX „Die Rechtsprechung“, dass die rechtsprechende Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht, die obersten Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeübt wird. Die zentrale Vorschrift zum Bundesverfassungsgericht findet sich in Art. 93 GG, wo die verschiedenen Verfahrensarten aufgezählt sind, für welche Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts bestehen. Art.  94 Abs. 1 GG enthält noch einige allgemeine Vorschriften zur Zusammensetzung des Gerichts, etwa die Besetzung mit Bundesrichtern und „anderen Mitgliedern“, ohne allerdings näheren Angaben zu deren Zahl oder erforderlicher Qualifikation zu machen. Die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts soll nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils zur Hälfte durch Bundestag und Bundesrat erfolgen; auch hier fehlt es an jeglicher Konkretisierung des Verfahrens oder eines notwendigen Entscheidungsquorums.263 Art. 94 dieses wird an dieser und anderer Stelle der Darstellung verwiesen: Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976. 261  Teilweise ausführlicher, unter dem Blickwinkel rollentheoretischer Überlegungen Boulanger, Hüten, richten, gründen – Rollen der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, 2013, S. 73 ff. 262  Vgl. auch Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, 13 ff. 263  Vgl. zum Streit über die Verfassungsmäßigkeit der indirekten Wahl nach § 6  BVerfGG Klein, in: Maunz et al., Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar,



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Abs. 2 GG delegiert die nähere Bestimmung von Gerichtsverfassung und Verfahren an den einfachen Gesetzgeber. Diese Zurückhaltung des Verfassungstextes erklärt sich daraus, dass es im Parlamentarischen Rat sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle und Position des neuen Verfassungsgerichts gab. Zwar war man sich in der Sache über die Einrichtung eines Verfassungsgerichts einig. Nach der Vorstellung vor allem der Vertreter der CDU unter Führung von Walter Strauß sollte dieses jedoch – vergleichbar dem Staatsgerichtshof der Weimarer Zeit – nur für die politischen Verfassungsstreitigkeiten im engeren Sinne, insbesondere für Verfahren zwischen Verfassungsorganen oder Bund und Ländern, Wahlprüfungsverfahren und ähnliche genuin staatsorganisationsrechtliche Streitigkeiten264 zuständig sein (Modell der Staatsgerichtsbarkeit).265 Vor allem der wichtige Bereich der Normenkontrolle, das heißt der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit (richterliches Prüfungsrecht),266 sollte einem ausschließlich mit Berufsrichtern der Fachgerichtsbarkeit besetzten Obersten Bundesgericht vorbehalten bleiben.267 Damit waren vor allem die sozialdemokratischen Mitglieder im zuständigen Ausschuss nicht einverstanden. Zunächst wurde die Einrichtung eines einheitlichen Obersten Bundesgerichts erwogen.268 Viele Sozialdemokraten standen wegen der Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und der damaligen nationalkonservativen Haltung der meisten Justizjuristen einer (zu) starken Fachgerichtsbarkeit skeptisch gegenüber und bestanden auf einem organisatorisch eigenständigen Verfassungsgericht, bei dem die Normenkontroll- und Verwerfungskompetenz monopolisiert werden sollte. Diese Auffassung behielt im „Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege“ letztlich die Oberhand, womit die institutionelle Eigenständigkeit und umfassende Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gesichert war. Gleichzeitig aber wurde der noch im Entwurf von Herrenchiemsee vorgesehene eigene Abschnitt über das Bundesverfassungsgericht gestrichen und seine Regelungen in den Abschnitt „Gerichtsbarkeit und Rechtspflege“ integriert. Damit wurde das VerBd. 1, § 6, Rn. 3 f. (Lfg. Dezember 1993); vgl. auch Lechner / Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, 2011, § 6 Rn. 1: Widerspruch zu Art. 94 Abs. 1 GG sei „inzwischen durch die normative Kraft des Faktischen“ überwunden. 264  Zum begrifflichen Kern der ‚Verfassungsstreitigkeiten‘ siehe Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 7, Rn. 1 ff. 265  Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 58. 266  Zur Unterscheidung von constitutional und judicial review Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 29. 267  Vgl. Niclauß, Der Parlamentarische Rat und das Bundesverfassungsgericht, 2006, S.  122 f.; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S.  54 ff. 268  Dazu auch Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 13 ff.

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fassungsgericht, das nach dem ursprünglichen Entwurf ein im Rang den anderen obersten Staatsorganen gleichstehendes Verfassungsorgan sein sollte,269 gegenüber der ursprünglichen Konzeption deutlich abgewertet.270 Seine Stellung als Verfassungsorgan und seine personale wie organisatorische Autonomie mussten sich die Richter und Richterin erst in Auseinandersetzungen mit Bundesregierung (zurück)erkämpfen‘.271 Immerhin wurde in Art. 92 GG, der das Kapitel über die Rechtspflege eröffnet, das Bundesverfassungsgericht an erster Stelle genannt, wodurch seiner besonderen Stellung im Gefüge der Rechtsprechungsorgane Rechnung getragen werden sollte.272 Zugleich wurde festgelegt, dass das Bundesverfassungsgericht aus Bundesrichtern und „sonstigen“ Mitgliedern bestehen sollte, womit jedoch die eigentlichen Personalfragen weitgehend offen gehalten wurden.273 Die ‚Leistung‘ des Parlamentarischen Rates bestand infolgedessen vor allem darin, die Autonomie der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Vereinnahmung durch ein geplantes Oberstes Bundesgericht zu bewahren und ihre umfassende Entscheidungskompetenz, auch für die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG), sicherzustellen. Bemerkenswert ist, dass der Parlamentarische Rat die Einführung einer Verfassungsbeschwerde aus dem Entwurf von Herrenchiemsee ohne weitere Diskussion nicht übernahm. Diese Verfahrensart, die sich schon bald als praktisch bedeutsamste für die Entwicklung der Grundrechtsjudikatur erweisen sollte,274 wurde 1951 im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht einfachgesetzlich verankert und erst 1969 in den Katalog des Art. 93 GG aufgenommen. Während sowohl der Regierungsentwurf für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz als auch der Entwurf der SPD eine Beschwerdemöglichkeit vorsah, mit der jedermann geltend machen konnte, dass ein ihm vom Grundgesetz gewährtes individuelles Recht verletzt sei, wurde vom Bundesrat nur eine Beschwerde gegen Rechtsnormen, nicht aber gegen hoheitliche Einzelmaßnahmen befürwortet. Der Wegfall der Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesrat in der Schlussphase der Beratungen sogar zu einer zentralen Forderung erhoben.275 Die Beratungen im Rechtsaus269  Vgl. Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 – Kommentar, 1952, Einleitung IV. 1., S. XIX. 270  Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 57 ff. 271  Siehe im Folgenden unter B. II. 3. b). 272  Vgl. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2010, S. 19. 273  Vgl. Gosewinkel, Adolf Arndt – Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945–1961), 1991, S. 183 f. 274  Vgl. Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 77; ausführlich unter B. II. 4. a). 275  Vgl. Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit – Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1984, Einleitung, S. XXX: Der



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schuss des Bundestages führten jedoch schließlich auf Drängen der sozialdemokratischen Vertreter zur Einführung einer Individualverfassungsbeschwerde gegen alle Akte der drei Hoheitsgewalten.276 Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz gehörte zu den langwierigsten Gesetzgebungsvorhaben der ersten Legislaturperiode des Bundestags.277 Es gab unterschiedliche Entwürfe, in denen sich die schon im Parlamentarischen Rat sichtbaren Kontroversen um die Gestalt des Bundesverfassungsgerichts fortsetzten.278 Im Herbst 1949 begann das Bundesjustizministerium mit der Arbeit an einer Regierungsvorlage. Noch im Dezember legte die SPDFraktion im Rechtsausschuss des Bundestags einen eigenen Entwurf vor, der hauptsächlich von ihrem Justiziar Adolf Arndt279 ausgearbeitet worden war, noch bevor das Kabinett von Adenauer seinen eigenen unter Justizminister Dehler – und hier unter maßgeblicher Mitarbeit des damaligen Referenten und späteren Verfassungsrichters Willi Geiger – erstellten Gesetzesentwurf an den Bundestag und Bundesrat weitergab. Die zwei Entwürfe wurden in der Folge im Rechtsausschuss des Bundesrates umfassend beraten. Parallel legte der Rechtsausschuss des Bundesrates einen Katalog mit Änderungsempfehlungen vor, der auch wesentliche SPD-Vorschläge aufnahm, und empfahl schließlich die Anrufung des Vermittlungsausschusses.280 Der Regierungsentwurf sah, in Anlehnung an das Konzept des Staatsgerichtshofs, ein Gremium von 24 Richtern vor, von denen die Hälfte von den obersten Bundesgerichten stammen sollte. Das Gericht sollte durch einen Spruchkörper aus neun Richtern entscheiden, der durch Rotation (roulierendes System) jeweils unterschiedlich aus den 24 Richtern zusammengesetzt Bundesrat vertrat im Einklang mit den Ländern den Standpunkt, dass das Rechtsstaatsprinzip in der Gerichtsbarkeit soweit ausgebildet sei, dass kein Bedürfnis bestehe, unter Umgehung aller Züge der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit jedem, der sich nur durch einen Verwaltungsakt verletzt fühlt, unmittelbar den Zugang zum Bundesverfassungsgericht zu eröffnen. Den Bedenken wurde insoweit Rechnung getragen, als die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig ist. 276  Vgl. Niclauß, Der Parlamentarische Rat und das Bundesverfassungsgericht, 2006, S. 128; zusammenfassend Lechner / Zuck, BVerfGG Kommentar, 2011, § 90, Rn. 5 f.; zum verfassungsrechtlichen Status des Verfassungsbeschwerderechts heute Betghe, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 2, § 90, Rn. 2 ff. (Lfg. Oktober 2009). 277  Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984, Einleitung, S. XVI. 278  Vgl. Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 78. 279  Ausführlich zum Leben und Wirken von Arndt sowie zu seinem Einfluss auf die Ausgestaltung des Bundesverfassungsgerichts Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, insbesondere S.  184 ff. 280  Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1952, Einleitung IV, Ziff. 10, S. XXIII.

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werden sollte.281 Demgegenüber favorisierte der sozialdemokratische Entwurf – ähnlich der Konzeption des US-amerikanischen Supreme Court – eine feste Richterbank von lediglich zehn Richtern, von denen nur vier von den obersten Bundesgerichten kommen sollten. Damit keine Partei die Richterbesetzung dominieren konnte, sah der Entwurf zudem vor, dass die Wahl durch einen Ausschuss von acht Wahlmännern in repräsentativer Vertretung der politischen Fraktionen erfolgte und für die Wahl eine Stimmenmehrheit von sechs Stimmen erforderlich war. Außerdem ließ der SPDEntwurf gegenüber der Regierungsvorlage dem Gericht eine größere Freiheit, die interne Organisation und konkretisierende Verfahrensstandards selbst festzulegen.282 Da Regierung und Opposition ein ‚Majoritätsgesetz‘ vermeiden wollten, drangen sie auf einen Kompromiss.283 Dieser wurde in einem aus fünf Bundestagsabgeordneten ad hoc gebildeten Unterausschuss gefunden.284 Zentraler Bestandteil dieses Kompromisses war die Bildung eines „Zwillings-“285 oder „Doppelgerichts“286, das heißt eines aus zwei unabhängigen Spruchkörpern mit ursprünglich jeweils zwölf Mitgliedern – dem Ersten und dem Zweiten Senat – zu einer Einheit zusammengefassten Gerichts.287 Darin spiegelt sich einerseits der ursprüngliche Regierungsentwurf wider, der insgesamt 24 Richter in rotierender Besetzung vorsah, andererseits der SPDEntwurf, der eine feste Richterbank bevorzugte.288 Zugleich war die Aufteilung der zwei Senate dazu gedacht, den unterschiedlichen Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung von klassisch staatsrechtlichen Streitigkeiten und der Grundrechts- beziehungsweise Normenkontrol281  Laufer,

Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 103. ebd., S. 101 ff.; zusammenfassend Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 79 ff. 283  Der SPD-Sprecher Arndt drohte im Rechtsausschuss damit, dass die SPD den Gesetzentwurf ablehnen und im Plenum des Bundestags „sehr heftig“ bekämpfen werde. Schließlich machte er sogar gelten, der Entwurf sei in Teilen verfassungswidrig und müsse daher dem neu einzurichtenden Bundesverfassungsgericht selbst zur Prüfung vorgelegt werden. Dies bewog den Ausschussvorsitzenden Kiesinger wohl, einen Unterausschuss zur Kompromissfindung einzusetzen; im Einzelnen dazu ­Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 201 ff., der die Einigung zum BVerfGG als einen „Erfolg konstruktiver Opposi­tion“ des SPD-Verhandlungsführers bezeichnet. 284  Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 122 f.; Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 40 f. 285  So Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1952, § 2 Ziff. 2, S. 10. 286  So Arndt, Das Bundesverfassungsgericht I, 1951. 287  Vgl. auch Schiffers, „Ein mächtiger Pfeiler im Bau der Bundesrepublik“ – Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1984, S. 76. 288  Vgl. auch Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 18. 282  Ausführlich



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le Rechnung zu tragen. Der Erste Senat war entsprechend für die Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge zuständig, während die ‚staatsrechtlichen‘ Streitigkeiten wie Organstreitigkeiten und Bund-LänderStreitigkeiten, Präsidenten- und Richteranklagen sowie Völkerrechtsfragen der Zuständigkeit des Zweiten Senats zugewiesen wurden.289 Während die Regierungsfraktionen die Ausbildung zum Volljuristen als Qualifikation für alle Mitglieder des Gerichts durchsetzten, erreicht die SPD, dass der Bundestag die von ihm zu wählenden Richter durch einen den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag entsprechend besetzten Wahlmännerausschuss und nicht im Plenum bestimmte. Die ursprüngliche Regelung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sah vor, dass vier Richter in jedem Senat aus den Richtern an den oberen Bundesgerichten für die Dauer ihrer Amtszeit (das hieß damals: auf Lebenszeit) gewählt wurden und die übrigen Richter für die Dauer von vier beziehungsweise acht Jahren mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Allerdings wurden 1956 nicht alle Richterstellen wiederbesetzt, sondern die Richterzahl in beiden Senaten durch Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes auf jeweils zehn und 1963 sogar auf acht reduziert. Offiziell diente diese Verkleinerung der Senate der Verbesserung ihrer Arbeitsfähigkeit; sie sollte längerfristig in die Bildung eines „Einheitsgerichts“ einmünden.290 Möglicherweise hatte sie aber auch politische Gründe und die Regierungskoalition verfolgte damit das Ziel, die Mehrheitsverhältnisse in den Senaten zu verändern.291 Dies zeigt, wie unsicher die organisatorische Stellung des Bundesverfassungsgerichts in den Anfangsjahren gegenüber Änderungen durch den einfachen Gesetzgeber war und wie sehr das Gericht auch auf den Rückhalt im politisch-parlamentarischen Feld und in der Öffentlichkeit angewiesen war.292 Umstritten war auch der Standort des Bundesverfassungsgerichts. Gegen Stimmen der SPD, die Berlin bevorzugten, konnte sich das Justizministe­ 289  Vgl. § 14 BVerfGG 1951, BGBl. I, S. 243. Entsprechend wurde auch von einem ‚Grundrechtssenat‘ und einem ‚Staatsrechtssenat‘ gesprochen; vgl. etwa Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, 1994, S. 30. 290  Ausführlich zu den teilweise zwischen Regierung und Opposition heftig umstrittenen Änderungsgesetzen Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 170 ff. 291  Dazu Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 97 ff.; zu den Hintergründen der Richterwahlen im Jahr 1963 auch Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 249 ff. Arndt warf der CDU / CSU damals vor, sie habe die Herabsetzung der Richterzahl missbraucht, um die politische Zusammensetzung der Richterschaft am Bundesverfassungsgericht in ihrem Sinn zu verändern. 292  Dies zeigt in seiner Studie eindrücklich Laufer, ebd., S. 169  ff.; vgl. auch Schiffers, „Ein mächtiger Pfeiler im Bau der Bundesrepublik“, 1984, S. 100 ff.; zum Statusstreit im Folgenden unter B. II. 3. b).

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rium durchsetzen, das als Sitz Karlsruhe vorgesehen hatte, wo schon der Bundesgerichtshof angesiedelt war; damit sollte die enge Verbindung des Verfassungsgerichts zur Fachgerichtsbarkeit unterstrichen werden.293 b) Die Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichts Die erste Zusammensetzung der Richterbank des Bundesverfassungsgerichts war bemerkenswert und für die weitere Entwicklung des Gerichts und seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten folgenreich.294 Sie war Ausgangspunkt für eine „grundlegende Liberalisierung der deutschen Rechtsordnung“ durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.295 Bei der Auswahl der Richter und der Richterin, die durch eine „Findungskommis­ sion“ unter Beteiligung der Regierungsparteien und der SPD vorbereitet wurde, legte man besonderen Wert darauf, dass es sich um Persönlichkeiten handelte, die nicht durch eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten vorbelastet waren, die also ihre „demokratische Grundauffassung auch in schwersten Zeiten unter Beweis gestellt hatten“.296 Unter den damals insgesamt 23 Richtern und einer Richterin befanden sich vier, die während der NS-Herrschaft ins ausländische Exil hatten fliehen müssen (Vizepräsident Katz sowie die Richter Fröhlich, Leibholz und B. Wolff). Acht weitere waren unter der NS-Herrschaft aufgrund des Gesetzes „über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus politischen Gründen oder auf eigenen Antrag als Beamter oder Richter entlassen und drei weitere durch die Na­ tionalsozialisten in ihrer beruflichen Laufbahn behindert worden.297 Andere hatten sich, wie der erste Präsident des Gerichts, Höpker-Aschoff, nach der Machtergreifung in die ‚innere Emigration‘ zurückgezogen. Es handelte sich also „durchweg um Personen reiferen Lebensalters mit politischer Erfahrung und großer Distanz zum Nationalsozialismus“.298 Als durch seine frühere Tätigkeit vorbelastet erwies sich später nur W. Geiger, der wie erwähnt als Referent im Bundesjustizministerium unter Dehler maßgeblich an der AusLaufer, ebd., S. 137. Bedeutung der Erstbesetzung für die weitere Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Judikatur betont auch Stolleis, Geschichte des öffent­ lichen Rechts IV, 2012, S. 147. 295  Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 27. 296  Ley, Die Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichtes, 1982, S. 532. 297  So war etwa die Berufung von Ernst Friesenhahn auf einen ordentlichen Lehrstuhl in Bonn aufgrund seiner regimekritischen Äußerungen durch die NSDAP verhindert worden. Eine umfassende Aufstellung zu „Stellung beziehungsweise Tätigkeit im 3. Reich“ der ersten Richtergeneration findet sich bei Ley, ebd., Übersicht II; eindrücklich auch die biografischen Angaben in Bundesverfassungsgericht, Das Bundesverfassungsgericht, 1963, S. 307 ff. 298  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 147. 293  Vgl. 294  Die



II. Der Bruch mit dem Positivismus103

arbeitung des Entwurfs zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz beteiligt gewesen war, den ersten Kommentar zu eben diesem Gesetz verfasste und zunächst an den neu gegründeten Bundesgerichtshof und anschließend an das Bundesverfassungsgericht berufen wurde.299 Bis auf diese Ausnahme standen die Verfassungsrichter mit ihrem biografischen Hintergrund in einem Kontrast zum Großteil der Richterschaft der Fachgerichtsbarkeit und besonders des Bundesgerichtshofs, die nach 1945 – ähnlich wie das Berufsbeamtentum der jungen Bundesrepublik – durch weitgehende personelle Kontinuität gegenüber der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft geprägt war.300 Zu erheblichen Teilen lässt sich hieraus sicher die anti-totalitäre und wertorientierte Rechtsprechung des frühen Bundesverfassungsgerichts erklären.301 Auch der berufliche Hintergrund war vielfältig; Feest spricht von einer „Würfelung der Karrieren“302. Vor ihrer Berufung an das Bundesverfassungsgericht waren fünf der Richter in der Politik, acht als Verwaltungsbeamte, sieben als Richter beziehungsweise als Richterin, zwei als Rechtsanwälte beziehungsweise Notare und vier als Hochschullehrer tätig gewesen.303 Dem Ersten Senat gehörte, was für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war, mit Erna Scheffler von Anfang an auch eine Richterin an. 299  Geiger hatte als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg fünf Todesurteile erwirkt. In seiner Dissertation über die „Rechtsstellung des Schriftleiters“ hatte er Journalisten den Berufsbeamten gleichgestellt und gefolgert, dass als Journalist untragbar sei, wer sich als „Schädling an Volk und Staat“, insbesondere durch Tätigkeit für die marxistische Presse, erwiesen habe; vgl. Müller, Furchtbare Juristen – Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987, S. 220 f.: „Daß der Schriftleiter ‚grundsätzlich arischer Abstammung sein‘ müsse, war von Geiger damals direkt aus dem Parteiprogramm der NSDAP abgeleitet worden.“ 300  Feest, Die Bundesrichter – Herkunft, Karriere und Selektion der juristischen Elite, 1964, S. 141 ff., weist darauf hin, dass etwa achtzig Prozent der Bundesrichter des Bundesgerichtshofs bereits vor 1945 im Staatsdienst tätig waren, fast ausschließlich als Richter. Der Anteil der von den Nationalsozialisten Entlassenen oder Vertriebenen betrug kaum mehr als fünf Prozent, während beim Bundesverfassungsgericht – wie gezeigt – etwa der Hälfte der Richter dieses Schicksal widerfahren war. Zur Kontinuität in der bundesdeutschen Justiz nach 1945 auch Diestelkamp, Die Justiz nach 1945 und ihr Umgang mit der eigenen Vergangenheit, 1988. 301  Vgl. Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005, S. 206 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 154, weist allerdings auch auf eine „kleinere Gruppe von Justizjuristen“ im Gericht hin, „die zwar keine NS-Anhänger gewesen waren, aber die Zeit in Deutschland im Schutz konservativ bürgerlicher und kirchlicher Wertvorstellungen überlebt hatten“ und etwa die „Wiederbelebung des Naturrechts“ und ein „konservatives Ehe- und Familienbild“ verfochten. Allerdings nennt Stolleis von den tatsächlich amtierenden Verfassungsrichtern bis auf Geiger keine Namen. Insofern erscheint es zweifelhaft, ob es sich wirklich um eine „Gruppe“ innerhalb des Gerichts gehandelt hat. 302  Feest, Die Bundesrichter, 1964, S. 138. 303  Siehe Ley, Die Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichtes, 1982, S. 531 f.; vgl. auch Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 32 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Sie gehörte zur ersten Generation von Juristinnen in Deutschland, die überhaupt Zugang zum Richteramt erlangt hatten.304 Nachdem sie als „Halbjüdin“ unter den Nationalsozialisten zwangsweise aus dem Richteramt ausscheiden musste, kehrte sie 1945 wieder in den Richterdienst zurück und war als Richterin und Landgerichtsdirektorin am Landgericht Berlin und ab 1948 als Direktorin am Verwaltungsgericht Düsseldorf tätig. Mit einem Referat über die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ empfahl sie sich auf dem Deutschen Juristentag 1950305 als Bundesverfassungsrichterin und prägte dann im Ersten Senat die Rechtsprechung zur Gleichberechtigung der Geschlechter entscheidend mit.306 Für die Erstbesetzung des Gerichts einigten sich die Regierungskoalition und die SPD darauf, dass ihnen wechselseitig das (inoffizielle) Vorschlagsrecht für jeweils acht Richterposten zustand; die Vorschläge mussten allerdings jeweils von der anderen Seite akzeptiert werden. Die restlichen acht Stellen wurden gemeinsam an ‚neutrale‘ Richter vergeben. Damit entstanden drei Listen mit je acht Kandidaten, die jeweils zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt wurden.307 In der Regel ließen auch die ‚Neutralen‘ bestimmte parteipolitische Präferenzen erkennen, sodass je in etwa die Hälfte der Nominierten dem Lager der CDU / CSU / FDP beziehungsweise dem der SPD nahestand. Da die Richter zunächst ohne Rücksicht auf parteipolitische Erwägungen auf die beiden Senate aufgeteilt wurden, hatten im Ersten Senat die von der SPD vorgeschlagenen Richter die Mehrheit, während im Zweiten Senat die von der Regierungskoalition nominierten Richter in der Überzahl waren. So wurde bald auch von dem Ersten als dem „roten“ und dem Zweiten als dem „schwarzen“ Senat gesprochen.308 Eigentlich war man von Seiten der Regierung davon ausgegangen, dass der Zwei304  Scheffler begann ihr juristisches Studium sieben Jahre nachdem überhaupt eine Frau zum Studium zugelassen worden war und schloss es kurz vor dem ersten Weltkrieg mit einer Promotion ab, weil zur damaligen Zeit Frauen noch keinen Zugang zum Staatsexamen und juristischen Vorbereitungsdienst (Referendariat) hatten. Ihnen wurde erst 1921 der Zugang zu den Staatsexamina und den juristischen Berufen eröffnet; vgl. Rust, 100 Jahre Frauen in der Rechtswissenschaft – Zur Beteiligung von Juristinnen am wissenschaftlichen Diskurs, 2000; Scheffler legte ihre Staatsexamina 1922 und 1925 in Berlin ab. 305  Scheffler, Referat – Bürgerlich-rechtliche Abteilung, 1950. 306  Zum Wirken von Scheffler vgl. Jaeger, Erna Scheffler, 2003.; Jaeger, Frauen verändern die Justiz – verändern Frauen die Justiz?, 1998, S. 6 f.; Hohmann-Dennhardt, Das Bundesverfassungsgericht und die Frauen, 2006, S. 254 f.; Waldhoff, Erna Scheffler – erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts; vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 148. 307  Vgl. Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 122. 308  Vgl. dazu ebd., S. 131 f.; Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 17.



II. Der Bruch mit dem Positivismus105 Tabelle 1 Verfahrenseingänge seit 7. September 1951308a

te Senat praktisch bedeutsamer sein würde als der Erste, da ihm nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz die ‚politischen‘ Streitverfahren zugewiesen waren. So hatte gleich nach Aufnahme der Gerichtstätigkeit der Zweite Senat über Verfassungsmäßigkeit der Bildung eines Südweststaates zu entscheiden.309 Demgegenüber war der Erste Senat für die Entscheidung von Verfassungsbeschwerden und die Normenkontrollverfahren zuständig. 308a  Statistik der Verfahrenseingänge unter www.bundesverfassungsgericht.de / DE /  Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-I-2.html?nn=5493162 (Juli 2015). 309  Schon am ersten Tag nach der Arbeitsaufnahme am 9. September 1951 erließ der Zweite Senat eine einstweilige Verfügung, mit der die Volksabstimmung über einen neuen Südweststaat bis zur Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen in der Hauptsache ausgesetzt wurde; siehe BVerfGE 1,1; zum Urteil in der Hauptsache BVerfGE 1, 14 – Südweststaat; ausführlich zu dem Verfahren und den Hintergründen: Boulanger, Hüten, richten, gründen, 2013, S. 90 ff.; Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 45 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Doch bereits nach kurzer Zeit zeigte sich, dass die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde von den Bürgerinnen und Bürgern in unerwartet großem Umfang wahrgenommen wurde. Bald schon war der Erste Senat überlastet, wohingegen der Zweite Senat jeweils nur fünf bis sieben Verfahren pro Jahr zu entscheiden hatte.310 Bei einem Verfahrenseingang von über 500 Verfassungsbeschwerden pro Jahr mussten die Beschwerdeführer in der Regel etwa vier bis fünf Jahre auf eine Entscheidung warten.311 Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde wurde sodann zum eigentlichen ‚Motor‘ der Grundrechtsentwicklung.312 In der Zeit von 1952 bis 1959 entwarf der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, dem Persönlichkeiten wie Ritterspach, Drath313, Scheffler und Heck angehörten,314 das Grundgerüst der Grundrechtsdogmatik, das bis heute in der Rechtsprechung weitgehend Bestand hat. Die Entscheidungen, in denen die Fundamente der Grundrechtsinterpretation gelegt wurden, fallen in die ersten sechs bis sieben Jahre der Gerichtstätigkeit, das heißt in die Zeit bis 1957. Die in den 1960er Jahren getroffenen Entscheidungen waren, wie Henne feststellt, für die Grundrechtsjudikatur „überwiegend nur von geringerer Bedeutung. Die erste und im Wortsinn grundlegende Phase dieser Rechtsprechung endete also zeitgleich mit jener Periode, die von der 310  Die Möglichkeit zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde wurde von Anfang an rege wahrgenommen. So meinte der erste Präsident Höpker-Aschoff in seiner Rede anlässlich der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951: „Dem liberalen Gedankengut entspringt die neugeschaffene Verfassungsbeschwerde, die den einzelnen in seinen Grundrechten gegenüber allen Hoheitsakten schützen soll. Die Fülle der bereits eingegangenen Verfassungsbeschwerden beweist, welche Erwartungen hier dem Bundesverfassungsgericht entgegengebracht werden“, Höpker-Aschoff, Ansprache bei der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951, 1963, S. 2. 311  Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 171 f. Zu einer Verbesserung und schließlich gleichmäßigen Aufteilung der Verfahrenslast kam es erst, nachdem mit dem Änderungsgesetz 1956 in § 14 Abs. 4 BVerfGG dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts erlaubt wurde, die Geschäfte unter die Senate abweichend von der gesetzlichen Regelung der Abs. 1 bis 3 zu verteilen, und dies 1959 auch auf bereits anhängige Verfahren erstreckt wurde. Mit Plenarbeschluss vom 13. Oktober 1959 wurde dem Zweiten Senat entsprechend die Zuständigkeit für den gesamten Bereich des Öffentlichen Dienstes und für Verfassungsbeschwerden über die Prozessgrundrechte und grundrechtsgleichen Rechte der Art. 19 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG übertragen; siehe Ulsamer, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 1, § 14, Rn. 3 ff. (Lfg. März 1992). 312  Siehe unter B. II. 4. a). 313  Zum Wirken von Martin Drath siehe auch Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, 2001. 314  Einen Überblick über die unterschiedlichen Biografien der ersten Richter gibt Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 148 ff.



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neueren zeitgeschichtlichen Forschung als Ende der formativen Phase der Bundesrepublik“ angesehen wird.315 c) Das methodologische Vorverständnis der ersten Richtergeneration Zur Beantwortung der Frage, auf welchem methodischen Grundverständnis die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fußt, ist es sehr aufschlussreich, sich mit entsprechenden Äußerungen der damaligen Richter zu befassen. Eine eingehende Quellenanalyse kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zurückgegriffen werden kann allerdings auf die offiziellen Aussagen der Richter in der Status-Denkschrift, dem Statusbericht sowie den dazugehörigen Dokumenten und Korrespondenzen, in denen sich diese in Bezug auf ihr Selbstverständnis positionieren.316 Vor allem der Verfasser des Statusberichts, Gerhard Leibholz, hat dabei allgemeine Grundlinien des methodischen Selbstverständnisses des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt. Sein rechtstheoretisches Vorverständnis kann durchaus als exemplarisch für eine Mehrheit der Mitglieder des Verfassungsgerichts angesehen werden.317 Zudem hat Lembcke in seiner Studie über die „Autorität“ des Verfassungsgerichts eine Analyse verschiedener publizistischer Äußerungen von Leibholz, Geiger, Friesenhahn und Draht vorgelegt, die das Selbstverständnis der frühen Bundesverfassungsrichter auch in Bezug auf die anzuwendende Methodik reflektieren.318 Insofern ist es möglich, ein, wenn auch nicht exaktes, so doch einigermaßen aufschlussreiches Bild der methodischen Grundhaltungen im Bundesverfassungsgericht zu zeichnen, auf deren Grundlage die richtungsweisenden frühen Entscheidungen des Gerichts getroffen wurden. Deutlich zu Tage tritt bei Leibholz und den anderen Richtern vor allem die Ablehnung des staatsrechtlichen Positivismus Weimarer Prägung. So heißt es in den von ihm verfassten „Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts“ zu einem im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstellten Rechtsgutachten von R. Thoma zur Status-Frage: 315  Henne, Die neue Wertordnung im Zivilrecht – speziell im Familien- und Arbeitsrecht, 2006, S. 27. 316  Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts – Gutachten, Denkschriften und Stellungnahmen, 1957. 317  Das Gutachten von Leibholz war im Plenum des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht unumstritten, seine Auffassung setzte sich aber mit großer Mehrheit von 20: 2 Stimmen durch; ausführlich zum Status-Streit unter B. II. 3. b). Jedenfalls sind nach außen keine dezidiert abweichenden Meinungen der Richterkollegen und -kollegin bekannt geworden, die über Nuancierungen hinausgehen; vgl. etwa Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1982, S. 517 ff. 318  Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 105 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Der Verfassungsrichter muss […] den einzelnen Verfassungssatz, zu dessen Auslegung er berufen ist, in die politische Wirklichkeit hineinstellen, was keinesfalls bedeutet, daß er aus der politischen Wirklichkeit Verfassungssätze entwickeln kann. Er muß eine Entscheidung suchen, die – wie es im Statusbericht heißt – dem objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung gerecht wird. Ein Verfassungsgericht darf der politischen Lebensordnung, auf die sich die Verfassungsnorm bezieht und in die seine Entscheidung regulierend eingreifen soll, nicht unbeteiligt gegenüberstehen. Es wäre eine Illusion und ein unzulässiger formalistischer Positivismus, zu meinen, daß es im Bereich des Verfassungsrechts möglich wäre, eine Norm wie den Gleichheitssatz oder eine institutionelle Garantie wie die der Selbstverwaltung oder ein Verfassungsprinzip wie das des Föderalismus aus sich heraus auszulegen, ohne daß man gleichzeitig versuchte, diese Verfassungsgrundsätze, institutionellen Garantien, politischen Rechtsprinzipien zu der politischen Wirklichkeit sinnvoll in Beziehung zu setzen.319

Leibholz selbst war Vertreter eines teleologischen sowie geisteswissenschaftlich-phänomenologisch orientierten Methodenverständnisses, wonach die Normen des Verfassungsrechts unter Einbeziehung der Verfassungswirklichkeit auszulegen waren.320 Den Rechtspositivismus Kelsens, den er polemisch als „Testamentsvollstrecker Labands“ bezeichnete, kritisierte er scharf. Kelsens Rechtslehre sah er durch das Bemühen gekennzeichnet, „jede wertbezogene, politisch-soziologische Fragestellung“ aus dem Bereich der Rechtswissenschaft zu eliminieren. Ein solcher „wertfreier Formalismus“ war nach Auffassung von Leibholz nicht in der Lage, die Probleme der Staatsund Verfassungstheorie zu bewältigen.321 Dabei war Leibholz der Überzeugung, dass der Rechtspositivismus, der von seiner Intention her wertfreie Wissenschaft sein wolle, in vielfältiger Weise mit seinen Grundannahmen in Widerspruch gerate, vor allem indem er sachfremde soziologische oder andere teleologische Gehalte verdeckt in die rechtlichen Wertungen einführe. Andererseits grenzte sich Leibholz aber auch gegen das Naturrechtsdenken ab, das in der Zeit nach 1945 in der deutschen Rechtswissenschaft eine Art ‚Renaissance‘ erlebte.322 So wandte er sich ausdrücklich dagegen, das Recht aus unabänderlichen naturgegebenen Gerechtigkeitsgedanken herzuleiten.323 In seinem Bericht zur Status-Frage setzte sich Leibholz ausführlich mit dem Verhältnis von Verfassungsrechtsprechung und Politik auseinander. Das 319  Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Thoma bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 200. 320  Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1967, S. 263. 321  Ebd., S. 264; zusammenfassend Wiegandt, Norm und Wirklichkeit – Gerhard Leibholz (1901–1982) – Leben, Werk und Richteramt, 1995, S. 82 ff. 322  Dass die vielbeschworene ‚Renaissance‘ des Naturrechts nach 1945 eigentlich keine war, weil sie der ideengeschichtlichen Vermittlung entbehrte, beschreibt Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, 1994, S. 154. 323  Vgl. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, 1995, S. 82 f.



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Verfassungsgericht, so die Kernaussage des Statusberichts, sei als oberster „Hüter der Verfassung“ (Kelsen324) ein mit allen Garantien richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteter Gerichtshof und zugleich ein Verfassungsorgan, das im Rang den anderen Verfassungsorganen wie Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung gleichstehe.325 Dabei sei es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, politische Entscheidungen zu treffen, sondern Recht zu sprechen. Gleichzeitig führt Leibholz aus, das Bundesverfassungsgericht sei eine Institution, „die weitgehend in den Bereich des Politischen“ hineinrage und „sich eben hierdurch zugleich in ihrem grundsätzlichen Charakter von dem aller anderen Gerichte (mit Einschluß der Obersten Bundesgerichte)“ unterscheide.326 Verfassungsrecht mache das Politische zum Gegenstand rechtlicher Normierung und sei daher „politisches Recht“. Das Charakteristische des Verfassungsrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit sei, dass diese sich „nicht entpolitisieren“ ließen, da sie das Politische selbst einer rechtlichen Kontrolle unterwürfen.327 Dieses „Hineinragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Bereich des Politischen“ zielte, wie Grigoleit analysiert, auf eine „Inklusion der Verfassung in den von ihr geregelten Bereich der Wirklichkeit und relativiert damit die Unterscheidung von Sein und Sollen“.328 Der Verfassungsrichter werde, so heißt es im Statusbericht, wenn er über Zweifel und Meinungsverschiedenheiten zu Verfassungsfragen zu entscheiden habe, „dem besonderen Charakter des Verfassungsrechts Rechnung tragen und eine Entscheidung suchen müssen, die dem objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung gerecht wird“.329 Er werde also nicht unbesehen den Satz des Staatsgerichtshofs übernehmen können, nachdem der Gerichtshof seine Ergebnisse, zu denen er aufgrund des angewendeten objektiven Rechts gelange, auszusprechen habe, ohne die politischen Folgen in Betracht zu ziehen. Vielmehr ist es die Pflicht des Richters eines solchen Gerichtshofes, die politischen Folgen und Wirkungen seiner Entscheidungen in den Bereich seiner Erwägungen einzubeziehen. ‚Its great task is one of statesmanship‘, wie in den Verei324  Die (Selbst-)Bezeichnung geht erkennbar auf die Kontroverse zwischen Schmitt und Kelsen über den ‚Hüter der Verfassung‘ zurück, dazu oben unter B. I. 2. a) aa), S. 68 ff. 325  Vgl. Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952 bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 144 f. 326  Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status-Frage“, ebd., S. 120. 327  Ebd., S. 121; ausführlich dazu die Analyse von Collings, Gerhard Leibholz und der Status des Bundesverfassungsgerichts – Karriere eines Berichts und seines Berichterstatters, 2013, S. 233: „Vision eines selbstbewussten, staatsmännischen und verantwortungsvollen Gerichts“. 328  Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 65 f. 329  Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 122.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

nigten Staaten gesagt wird. Ein solches Verfahren erscheint auch rechtlich geboten, um der Auslegung bedürftige, zweifelhafte Bestimmungen der Verfassung zugleich juristisch richtig auszulegen.330

Mit diesem recht offenen Bekenntnis dazu, dass Verfassungsinterpretation Wertungen erfordert, die in den Bereich des Politischen ausgreifen, und dass deren Wirkungen auch selbst wieder bei der Interpretation zu berücksichtigen sind, verlässt Leibholz indes nicht den vom Gericht vertretenen Standpunkt, dass es sich bei der Interpretation der Verfassung um genuine Rechtsprechung handelt. In scharfer Abgrenzung zu Kräften zur Zeit der Weimarer Verfassung – erkennbar wird auf C. Schmitt Bezug genommen –331, die einen wesensmäßigen Unterschied zwischen justizieller Tätigkeit der Auslegung und Anwendung von Gesetzen und dem politischen Charakter einer Verfassungsgerichtsbarkeit konstruierten, um damit die Verfassungsgerichtsbarkeit „zugunsten autoritärer und totalitärer Verfassungsmethoden […] zu diskreditieren und nach Möglichkeit ad absurdum zu führen“, betonte Leibholz den justiziellen Charakter der Verfassungsrechtsprechung.332 Auch der Zivil- und Strafrichter sei nicht nur ein „automatisch arbeitender Funktionär des Gesetzgebers“, der nichts anderes zu tun brauche, als Tatbestände unter die bestehenden Rechtsregeln zu subsumieren. Vielmehr habe er auch über Zweifel und Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt von gesetzlichen Normen zu entscheiden und damit eigene Wertungen zu treffen. Nur unterscheiden sich diese Wertungen von denen eines Verfassungsrichters dadurch, daß die letzteren gegenständlich an den in der Verfassung enthaltenen, politischen Entscheidungen orientiert und daher zwangsläufig politischer Natur sind. Dies inhaltliche Verschiedenheit der durch den Richter einzuhaltenden Wertungen rechtfertigt aber nicht, in einem rechtsstaatlich-destruktiven Sinn – wie dies auch heute schon wieder sich abzuzeichnen beginnt – politisches Recht und Politik miteinander zu identifizieren und alle nicht inhaltlich eindeutigen Verfassungsvorschriften zu rein politischen Regeln zu stempeln und damit Verfassungsstreitigkeiten in rein politische Streitigkeiten umzudeuten.333

Leibholz sieht also eine funktionale Differenz zwischen politischen Entscheidungen im eigentlichen Sinn und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die zwar politisches Recht zum Gegenstand hätten und damit auch politische Wirkungen zeitigten, aber immer in Anwendung und Auslegung 330  Ebd.,

S. 122. S. 123 f. (dort Fn. 20); zur Kontroverse Kelsen-Schmitt siehe auch oben unter B. I. 2. a) aa), S. 68 f.; Kelsen hatte ausdrücklich offen gelassen, ob das Verfassungsgericht als Gericht im funktional-genuinen Sinn anzusehen sei, da er dieser Frage keine entscheidende Bedeutung beimaß. 332  Ebd., S. 124. 333  Ebd., S. 124. 331  Ebd.,



II. Der Bruch mit dem Positivismus111

des Verfassungsrechts erfolgten und damit nach verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden seien.334 Diesem Verständnis der Verfassungsauslegung folgte auch Ernst Friesenhahn, der sich in einer späteren Publikation – weitgehend zustimmend – zu den Ausführungen des Statusberichts äußerte. Auch er unterstrich die Charakterisierung von Verfassungsrecht als „politisches Recht“, betrachtete allerdings die Berücksichtigung von politischen Folgen bei der Entscheidungsfindung zurückhaltender.335 Er betonte, das Verfassungsgericht dürfe nicht seine Auffassung über politische Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit „an die Stelle derer der verantwortlichen politischen Staatsorgane setzen“. Insbesondere müsse das Gericht den Raum freier Entscheidung des Parlaments und der Regierung achten und in diesem Sinn richterliche Selbstbeschränkung üben. Insoweit ganz in Übereinstimmung mit Leibholz führte er aus: Die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt da, wo es an Rechtsnormen fehlt, die einer richterlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden können (justiziabel sind). Die Frage aber, ob und inwieweit das staatliche Handeln verfassungsrechtlich gebunden ist, ist eine Rechtsfrage, auch dann, wenn die Grenzen durch auslegungsbedürftige Wertbegriffe gezogen sind, wie Demokratie, Rechtsstaat, So­ zialstaat, Freiheit, Gleichheit usw. Indem das Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht zur Kontrolle und Auslegung der Verfassung berufen hat, hat es die Ausfüllung dieser Wertbegriffe unter Berücksichtigung der in unserem Volke herrschenden politischen Vorstellungen in die Hand von Richtern gelegt, die zwar den Ermessensbereich der politischen Organe achten sollen, denen aber insoweit die maßgebende Entscheidung zugewiesen ist.336

Auch bei Willi Geiger zeigt sich ein ähnliches Verständnis der Verfassungsauslegung. Geiger sprach sich wiederholt für die Einführung der Veröffentlichung von Sondervoten aus, auch um die unterschiedlichen Wege der Rechtsfindung transparent zu machen. Denn Verfassungsrecht musste nach seinem Verständnis auch durch Anwendung „juristischer Phantasie“ vertieft, angereichert, konkretisiert und bestimmt werden. Bezogen auf die Fortentwicklung der Verfassung sprach Geiger dabei sogar von „materieller Gesetzgebung“.337 Dabei fand auch der von Geiger so bezeichnete „politische Wille des Verfassungsgerichts“ einen Betätigungsraum. Diesem steht es, wie Lembcke zusammenfasst, „zwar nicht zu, die Vorgaben der Verfassung nach eigenem Gusto zu verändern, aber der Wille kann nach Geiger die Inhalte ausschöpfen – darin besteht seine legitime Macht […]. Nicht 334  Vgl. auch Collings, Gerhard Leibholz und der Status des Bundesverfassungsgerichts – Karriere eines Berichts und seines Berichterstatters, 2013, S. 232 f. 335  Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1982, S. 519. 336  Ebd., S.  519 f. 337  Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 128.

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ohne weiteres läßt sich zum politischen Willen auch die Folgeberücksichtigung zählen; in diesem Punkt unterscheidet er sich von Leibholz.“338 Noch deutlicher als bei Leibholz, Friesenhahn und Geiger tritt in den Äußerungen von Martin Draht das politisch-gestalterische Moment der Verfassungsinterpretation hervor. Draht hatte bereits 1950, also vor seiner Berufung an das Bundesverfassungsgericht, auf der Staatsrechtslehrer-Tagung in München ein Referat zum Thema „Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit“ gehalten.339 Darin entwickelte er auch Grundlinien für das methodische Vorgehen und (Selbst-)Verständnis der zu schaffenden Verfassungsgerichtsbarkeit. Zunächst betonte Draht die Allgemeinheit und sprachliche Offenheit vieler Verfassungsnormen und zog daraus den Schluss, dass die Norm weit weniger noch als für andere Gerichte den Inhalt der Entscheidung vorgebe. Der Verfassungsrichter sei zwar der Norm „unterworfen“, habe sie jedoch selbst erst zu „konkretisieren, d. h. ihr den realen Inhalt erst selbst zu geben“.340 Da sich in der geltenden Rechtsordnung, der Staatspraxis und dem Gewohnheitsrecht kaum tragfähige Ansatzpunkte fänden, bleibe dem Richter nichts anderes übrig, „als auf das Ganze der Verfassung, auf die sinnvollen Zusammenhänge von Normen und ganzen Verfassungsinstitutionen, ja der ganzen Wirklichkeit des politischen Lebens zurückzugreifen“.341 Gerade bei der Verfassungsinterpretation handle sich dann nicht nur um „eine Konkretisierung des Rechts durch Auslegung, sondern um eine weitaus selbständigere, geradezu um eine eigene schöpferische Tätigkeit, um ein selbständiges Weiterdenken des Willens der Verfassung aus ihrem Geist heraus“. Damit stelle jede Entscheidung eines Verfassungsgerichts eine mehr oder minder selbstständige Beteiligung des Gerichts an der „Gestaltung des politischen und sozialen Lebens dar“.342 Schon im Zivilprozess müsse der Richter sich ein Bild von den Folgen machen, die sich aus seiner Entscheidung mutmaßlich ergeben. In noch stärkerem Maße müsse der Verfassungsrichter sich „durch gedanklich-konstruktive Vorwegnahme der politischen Wirkungen ein Bild von der politischen Ordnung machen, die aus der einen oder anderen Entscheidungsmöglichkeit voraussichtlich hervorgeht“. Er müsse danach streben, dass „auf der Basis der beabsichtigten Entscheidung künftig sinnvoll weitergehandelt werden“ könne. Seine Entscheidung müsse sich in der zukünftigen Entwicklung „bewähren können“ und im öffentlichen wie politischen Raum Akzeptanz finden, um legitim zu sein.343 Hieraus leitete er auch 338  Ebd.,

S. 128. Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1952. S. 92. S. 93. S. 94. S. 97.

339  Drath, 340  Ebd., 341  Ebd., 342  Ebd., 343  Ebd.,



II. Der Bruch mit dem Positivismus113

Konsequenzen für die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts ab. Er begrüßte ausdrücklich die Besetzung unter „Berücksichtigung der politischen Parteien“, weil hierdurch eine „grundsätzliche Basis des Vertrauens“ geschaffen und den politischen Parteien „selbst eine ‚gefilterte‘ Möglichkeit zur Mitarbeit bei der Gestaltungsaufgabe der Verfassungsgerichte“ eröffnet werde.344 In den auszuwählenden Richterpersönlichkeiten erkannte er sodann auch die eigentliche Gewähr dafür, dass das Gericht seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen werde. In jedem Fall muß das Verfassungsgericht frei bleiben von der Absicht, selbst kämpferisch politische Tendenzen durchzusetzen. Es muß als letzte, aber auch allgemeinste, der Konkretisierung besonders bedürftige Bindung diejenige an die Verfassung, in ihrem Grundrechts- wie in ihrem organisatorischen Teil sich spiegelnden Grundentscheidungen, Wertungen und Wertrelationen und an die auf dieser Basis gewollten Entwicklungsmöglichkeiten des politischen und sozialen Lebens bestehen bleiben. Das erfordert eine große innere Freiheit der Richter, und auch eine Freiheit gegenüber ihrem eigenen politischen, weltanschaulichen und sozialen Standort, ja was noch mehr ist: eine Freiheit von Bindungen an ihre eigenen, oft ungeprüften und unbewußten Voraussetzungen des Denkens.345

Aus diesen Überlegungen leitete Draht schließlich die Forderung an die Verfassungsrichter und -richterinnen ab, dass diese „ein politisches Gesamtbild nicht nur vom Verfassungsrecht, sondern auch von der jetzigen und künftigen Verfassungswirklichkeit besitzen müssen“.346 Insgesamt zeigt die Analyse der Stellungnahmen von Leibholz, Friesenhahn, Geiger und Draht, dass für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts der ersten Generation feststand, dass sie von einem formal-positivistischen Methodenverständnis, wie es die Weimarer Judikatur geprägt hatte, abrücken würden. Durch die notwendige Konkretisierung offener, materieller Begriffe der Verfassung würden sie aktiv gestaltend an der Ausrichtung des neuen Staatswesens und seiner Verfassungswirklichkeit teilhaben. In den methodologischen Reflexionen der Verfassungsrichter spiegelten sich mithin der Bruch mit dem staatsrechtlichen Positivismus sowie die Hinwendung zur objektiven Theorie der Verfassungsinterpretation347 und zu einem materiellen Verfassungsverständnis, das gekennzeichnet ist durch die Bereitschaft und Absicht, auch allgemeine staatsrechtliche Begriffe wie „Demokratie“ und „Freiheit“ inhaltlich zu konkretisieren und daraus konkrete, das heißt justiziable Anforderungen für Gesetzgebung und Rechtspraxis herzuleiten. Auch wenn über das Ausmaß der Berücksichtigung von Entscheidungsfolgen und 344  Ebd.,

S. 102. S. 106. 346  Ebd., S. 109. 347  Dazu unter C. I. 345  Ebd.,

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-wirkungen erkennbar nur ein Basiskonsens bestand – dahin, dass diese jedenfalls nicht ausgeblendet werden durften –, so ist es sicher nicht unzutreffend, von der Hinwendung zu einer auch wirklichkeitsorientierten Methodik der Verfassungsauslegung zu sprechen. Wie Stolleis schreibt, wollte niemand ein „politisches blindes Gericht. Vielmehr hoffte man allgemein auf eine vernünftige Umsetzung der politischen Fragen in Rechtsfragen, orientiert am Geist der Verfassung“.348 Es ging darum, das Grundgesetz zu einer „lebenden Verfassung“ zu machen und „Anachronismen zu vermeiden“.349 3. Die Begründung von Autorität und Deutungsmacht In den Anfangsjahren hatte das Bundesverfassungsgericht Auseinandersetzungen zu bewältigen, um seine Stellung als oberster Verfassungsinterpret – in der Diktion des Statusberichts: als „Hüter der Verfassung“350 – im politischen und rechtlichen System der Bundesrepublik zu begründen und durchzusetzen. Die komparative Forschung zeigt, dass in Situa­tionen der Transformation politischer Ordnungen neu gegründete Verfassungsgerichte um ihren Status kämpfen müssen.351 Auseinandersetzungen mit politischen Akteuren und anderen staatlichen Organen sind der Funktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit immanent. Verfassungsgerichte sind dazu berufen, Politik, Rechtsprechung und Verwaltung zu kontrollieren und deren Entscheidungen am Maßstab der Verfassung zu messen; damit werden sie „von jeder politischen Macht, die gestalten will, als Hindernis wahrgenommen“.352 Auf der anderen Seite behält die Politik die Möglichkeit, einen erheblichen Einfluss auf das jeweilige Gericht auszuüben: Sie bleibt verantwortlich für die grundsätzliche Gestalt des Gerichts, seine Kompetenzen, seine Befugnisse und seine Zusammensetzung. Ein Verfassungsgericht ist dazu berufen, die in der Regel relativ allgemein gehaltenen Bestimmungen der Verfassung verbindlich zu deuten und zu konkretisieren. Es muss dies in einer Weise tun, die grundsätzliche Anerkennung findet. Gelingt es einem Verfassungsgericht nicht, sich in den Spielräumen des demokratischen Neubeginns als unabhängige Institution gegenüber Einflüssen der Politik zu behaupten und seine Deutungsmacht über die Verfassung auch gegen politische Widerstände durchzusetzen, dann drohen „die Konflikte um die institutionelle Entfaltung der Verfassungsge348  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 158. S. 232. 350  Zum Statusbericht siehe im Folgenden unter B. II. 3. b) aa). 351  Vgl. Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, 1999, S.  198 f. 352  Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 73. 349  Ebd.,



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richtsbarkeit von den übergreifenden Konfliktstrukturen“ erfasst zu werden.353 Wie sehr Verfassungsgerichte auf Anerkennung und Respektierung ihres Status durch andere Organe innerhalb des Verfassungsgefüges angewiesen sind, lässt sich in jüngster Zeit an der Entwicklung des Ungarischen Verfassungsgerichts ersehen.354 Diesem widerfährt gegenwärtig ein Schicksal, das Laufer in seiner politikwissenschaftlichen Studie von 1968 offen als Gefahr für das Bundesverfassungsgericht benannt hat: Es kann von einem „Austrocknen“ des Gerichts gesprochen werden, wenn verfassungsändernde Mehrheiten die Verfassungsgerichtsbarkeit entmachten, indem sie die Institution hinsichtlich Status, Zusammensetzung und Kompetenzen so verändern, dass sie strukturell zu einem ‚harmlosen‘ Verfassungsorgan herabsinkt, oder seine Entscheidungen schlicht ignorieren.355 a) Deutungsmacht und Methode Gerade in der Anfangszeit müssen Verfassungsgerichte bei ihren Entscheidungen mitbedenken, ob diese dazu beitragen, der Verfassungsgerichtsbarkeit im Institutionengefüge eine machtvolle Position zu verschaffen und diese zu behaupten – sie handeln insofern in ihrer Rechtsprechung auch strategisch.356 Damit sind unmittelbar Fragen der Methodik und der Ent353  Ebd., S. 76. Als ein prägnantes Beispiel hierfür lässt sich der erste russische Verfassungsgerichtshof nennen, der sich im Konflikt mit Präsident Jelzin relativ offen als Vertreter der der alten politischen Ordnung zu erkennen gab, sodass es dem Präsidenten möglich war, ohne größere politische Kosten den Verfassungsgerichtshof zu ignorieren; Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, 1999, S. 203; Blankenagel, The Court Writes its Own Law, 1994. 354  Zur Entwicklung unter der Orbán-Regierung siehe Kovács / Tóth, Hungary’s Constitutional Transformation, 2011, S. 193 ff.: Nach den Wahlen 2010, die eine 2 / 3-Parlamentsmehrheit für die regierende Fidesz-Partei brachten, wurde das Wahlverfahren für die Verfassungsrichter und -richterinnen zugunsten der Parlamentsmehrheit geändert und auf dieser Grundlage eine neue Besetzung des Verfassungsgerichts gewählt mit der Folge, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Gericht zugunsten von Fidesz verändert haben. Zudem wurden die Kompetenzen des Gerichts deutlich beschnitten. 355  Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 167 f.: „Die Erfahrungen mit dem ‚Court-Packing-Plan‘ Franklin D. Roosevelts und mit der Ausschaltung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes im Jahr 1933, mit den Versuchen der Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit in der 2. Legislaturperiode, an Kompetenzen und Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts herumzumanipulieren, zeigen, daß die Amtsinhaber von Regierung und Parlament nicht selten danach trachten, sich die Verfassungsgerichtsbarkeit botmäßig zu machen.“ 356  Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, 1999, S. 199, der auf die „geniale Art und Weise“ hinweist, in der Richter Marshall in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt hat, „nämlich so, daß Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber dem

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scheidungstechniken der Verfassungsjudikatur verbunden.357 In der politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsforschung hat Lembcke diesen zentralen Gesichtspunkt als Durchsetzung von „Autorität“ bezeichnet, das heißt einer institutionellen Macht, die bei den ihr unterworfenen Adressaten grundlegende Anerkennung findet, die also von den anderen, vor allem den verfassungsrechtlich kontrollierten Institutionen, aus freien Stücken zuerkannt wird.358 Vorländer spricht spezifischer mit Bezug auf die Verfassungsinterpretation von einer „Deutungsmacht“ der Verfassungsgerichte.359 Er versteht darunter die Akzeptanz der vom Verfassungsgericht im konkreten Fall entwickelten Deutungsangebote durch die Streitparteien, die staatlichen Institutionen, durch Gesellschaft und Politik. Über eine Reihe von zustimmungsfähigen Entscheidungen „baut sich ein generalisiertes Vertrauen in die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, das nicht mehr allein von der konkreten Spruchpraxis abhängig ist. Auf diese Weise etabliert sich Deutungsmacht, die […] sowohl das Vermögen des Gerichtes, im Einzelfall überzeugen zu können, wie auch den Glauben des Publikums, die verfassungsdeutende Institution sei legitim, voraussetzt.“360 Hierbei bezeichnet „Deutung“ einer Verfassung durch ein Verfassungsgericht einen Vorgang, in welchem einer verfassungsrechtlichen Norm im Zuge eines gerichtsförmigen Verfahrens in der Entscheidungsbegründung ein spezifischer Sinn zugesprochen wird. Dieser soll gegenüber dem Adressaten der Deutung handlungsleitend werden und gegenüber anderen vorgängigen oder alternativen Deutungen absolute Priorität besitzen.361 Mit den Begriffen Autorität und Deutungsmacht sind damit zwei grundlegende Aspekte benannt, mit der die Möglichkeit und Reichweite verfassungsgerichtlicher ‚Macht‘ im politischen System begründet werden kann. Die Autorität eines Verfassungsgerichts gründet sich maßgeblich auf die prinzipielle Akzeptanz als Institution durch die Rechtsunterworfenen und die Beobachterinnen und Beobachter, die – zustimmend oder kritisch – über dieses urteilen. Deutungsmacht wiederum bezeichnet den autoritativen AnMachthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte“; vgl. auch Nelson, Marbury v. Madison, 2000; Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S.  97 f.; Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2003. 357  Vgl. auch Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 180 f. 358  Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 67 ff. 359  Vorländer, Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, 2006, S. 192 ff. 360  Vorländer, Deutungsmacht – Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 15. 361  Die Deutungsmacht muss durchgesetzt werden und zeigt sich empirisch darin, dass die Adressaten einer Deutung sich in ihrem Handeln faktisch an der Deutung orientieren; Schaal, Verfassungsgerichtliche Deutungsmacht und rationale Selbstbindung, 2006, S. 123; Brodocz, Die souveränen Deuter, 2006.



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spruch des Verfassungsgerichts, die Verfassung verbindlich zu interpretieren, ihr konkretisierende Sinngehalte beizulegen und damit Entscheidungen zu begründen, die grundsätzlich als rechtsverbindlich anerkannt werden (mögen sie auch im Einzelnen auf Kritik und Widerspruch stoßen). Deutungsmacht können Verfassungsgerichte nur erlangen, wenn sie ihre Entscheidungen verfassungsrechtlich begründen (können). Urteilten sie politisch, ohne ihre Entscheidungen plausibel auf die Verfassung und den Verfassungstext zu stützen, so würden sie offensichtlich die funktionellen Grenzen der ihnen im Institutionengefüge zugewiesenen Aufgabe überschreiten und zu rein politischen Akteuren werden.362 Darunter würde die spezifische Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit leiden, die sich ja gerade auf ihre Autorität als ‚neutrale‘, das heißt allein nach Maßgabe ‚des Rechts‘ entscheidende Institution stützt. Aus diesem Grund charakterisiert sich das Bundesverfassungsgericht im Statusbericht einerseits als ein unabhängiges und unparteiliches Gericht, dessen genuine Aufgabe die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts ist. Andererseits unterscheidet es sich nach seiner Selbstbeschreibung von anderen Gerichten insofern, als es mit einer besonderen Art von Rechtsstreitigkeiten, den „politischen“ Streitigkeiten zu tun hat, bei denen „das Politische selbst an Hand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht“ wird.363 Auf diesem Weg begründet das Bundesverfassungsgericht nicht nur seine Stellung als „mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan“, das den anderen Verfassungsorganen ebenbürtig ist.364 Es untermauert zugleich seinen Anspruch, inhaltlich an der Staatsleitung teilzuhaben, indem es dort, wo es zulässigerweise angerufen wird, die normativen Gehalte der Verfassung praktisch in Geltung setzt und ihnen eine Kraft verleiht, der sich die anderen Staats- und Verfassungsorgane zu beugen haben.365 Vor diesem Hintergrund wird das Verfassungsgericht zwangsläufig zu einem politisch steuernden Akteur.366 Wie es der Statusbericht ausdrückt, ist es das Charakteristische des Verfassungsrechts, dass „dieses sich inhaltlich gar nicht ent362  Zur funktionell-rechtlichen Grenze der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Folgenden unter D. II. 2. 363  Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952 bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 145. 364  Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, ebd., S. 145; Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 180 f., spricht in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht von einer „Selbstermächtigung zur maßstabssetzenden Gewalt“. 365  Dazu auch Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn.  39 ff. 366  Vgl. Vorländer, Deutungsmacht – Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 11; differenzierend Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, 2011, 309 ff.

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politisieren läßt“.367 Der Bericht nimmt hierbei unter anderem Bezug auf ein Zitat von Robert H. Jackson, worin dieser die „political nature of judicial review“ hervorhebt, „which gives significance to constitutional litiga­ tion and which makes it transcend mere legal proceedings“.368 Dass ein solches (Selbst-)Verständnis369 der verfassungsrichterlichen Tätigkeit zugleich einen methodischen Ansatz voraussetzt, der über die klassische Methodik der Gesetzesinterpretation hinausgeht, ist angesichts der besonderen Konkretisierungsbedürftigkeit vieler verfassungsrechtlicher Normen nahezu unumgänglich.370 Gibt es verschiedene Deutungsvarianten einer Verfassungsnorm, die divergierende Konsequenzen im politischen und gesellschaftlichen Feld haben (können), dann ist mit der Entscheidung für eine bestimmte Deutungs- beziehungsweise Interpretationsweise zugleich eine Entscheidung mit (gesellschafts)politischen Folgen verbunden. Verfassungsinterpretation im Sinne einer Konkretisierung verfassungsrechtlicher Normen hat – wie bereits Kelsen treffend bemerkte –371 politischen Charak367  Bericht des Berichterstatters, Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 121. 368  Jackson, The Struggle for Judicial Supremacy – A Study of a Crisis in American Power Politics, 1941, S. 311 f., im Orginal heißt es: „The political nature of judicial review is either unrecognized or ignored. But it is that which gives significance to constitutional litigation and which makes it transcend mere legal proceedings. The Supreme Court, to which this essential function is committed, is an institution of distinctive characteristics which were intended to give it independence and detachment, but which also tend to make it anti-democratic. To review the functions of the Court in conjunction with its peculiar qualities will explain its repeated drift into struggles with strong Executives and will reveal the dangers that beset its future. The ultimate function of the Supreme Court is nothing less than the arbitration between fundamental and ever-present rival forces or trends in our organized society. The technical tactics of constitutional lawsuits are part of a greater strategy of statecraft in our system. Supreme Court decrees prick out roughly the drifts of national policy. Every really important movement has been preceded by ‚leading cases‘ and has left others in its wake, even as will the New Deal. Conflicts which have divided the Justices always mirror a conflict which pervades society. In fact, it may be said that the Supreme Court conference chamber is the forum where each fundamental cause has had its most determined and understanding championship. The student of our times will nowhere find the deeper conflicts of American political philosophy and economic policy more authentically and intelligently portrayed than in the opinions and dissents of members of the Supreme Court.“ 369  Die Bedeutung des richterlichen Selbstverständnisses betonten auch Vertreter des „new institutionalism“ wie Robertson, The Judge as Political Theorist – Contemporary Constitutional Review, 2010, S. 20 ff. 370  Zur begrenzten Leistungsfähigkeit der herkömmlichen Auslegungsmethoden siehe unter C. I. 6. 371  Siehe oben unter B. I. 2. a) aa).



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ter; es lässt sich in diesem Sinne auch von „juristischer Verfassungspolitik“372 sprechen. Dies gilt allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass es sich um eine funktional begrenzte Aufgabe handelt, nämlich die Kontrolle der übrigen Staatsorgane durch Konkretisierung und Anwendung der Verfassung. Dies unterscheidet die gerichtliche Tätigkeit von der Politik im Sinne umfassender Regelung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten innerhalb eines Staatswesens, wie sie im gewaltenteiligen Staat Parlament und Regierung vorbehalten ist.373 Auch bilden Verfassungsgerichte eigene Funktionslogiken aus, die sich von denen der politischen Akteure unterscheiden. Sie orientieren sich an rechtlichen Argumentationen und Wertvorstellungen. Nur so können sie plausibel ihre Deutungsmacht begründen und im Konfliktfall behaupten, ohne zum ‚Spielball‘ politischer Kräfte zu werden. Die Rolle des ‚Hüters der Verfassung‘ verlangt somit die Generierung von Deutungsmacht in einer Weise, die als eine Interpretation der Verfassung, die auch für die anderen Staatsorgane verbindlich ist, Akzeptanz findet und in der Lage ist, sich ohne übergroßen Widerspruch gegen konkurrierende Deutungsangebote durchzusetzen.374 Ein Verfassungsgericht muss eigene Funktionslogiken entwickeln, die ihm – trotzt der politischen Implikationen seiner Tätigkeit – eine zumindest relative Autonomie als justiziell handelnde und entscheidende Institution verschaffen. Die Auseinandersetzungen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Anfangszeit zu bestehen hatte, um sich als ein gegenüber den politischen Akteuren unabhängiger und anderen juristischen Institutionen maßgebender Verfassungsinterpret durchzusetzen, können vor diesem Hintergrund auch als Kämpfe um die Autorität und Deutungsmacht des Verfassungsgerichts verstanden werden.

372  So ist im angloamerikanischen Raum mittlerweile der Begriff „judicial politics“ geläufig; vgl. etwa schon Shapiro, Law and Politics in the Supreme Court, 1964; Becker, Comparative Judicial Politics – The Political Functionings of Courts, 1970; siehe auch Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 17 ff.; für Europa Stone Sweet, Governing with Judges, 2000. 373  So versteht die Systemtheorie unter dem politischen System das Teilsystem der Gesellschaft, in dem die kollektiv verbindlichen Entscheidungen gefällt werden; vgl. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2002; zu den unterschiedlichen Politikbegriffen siehe Nohlen / Schultze, Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 2, 2005, S.  697 ff. 374  Vgl. Grimm, Recht und Politik, 1969, S. 507, 509, der darauf hinweist, dass die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit den grundsätzlich politischen Charakter der Justiz „vollends offen gelegt“ hat.

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b) Kämpfe um Autorität gegenüber der Regierung aa) Auseinandersetzung um den Status des Bundesverfassungsgerichts Der sogenannte Status-Streit ist für die Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts kaum zu unterschätzen.375 Hinter der Auseinandersetzung mit der damaligen Bundesregierung und ihrem Justizminister Dehler um vornehmlich organisatorische Fragen stand die ‚Schlüsselfrage‘ nach dem Rang des Verfassungsgerichts im Verhältnis zu den anderen Staatsorganen.376 Die Regierung hatte den Anspruch des Verfassungsgerichts, ein organisatorisch unabhängiges, den übrigen obersten Bundesorganen gleichrangiges Verfassungsorgan und damit gegenüber den anderen höchsten Bundesgerichten hervorgehobenes Gericht zu sein, von Anfang an bestritten. Die Staatspraxis machte zunächst keinen Unterschied zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den anderen obersten Bundesgerichten. In den Jahren 1951 und 1952 war das Bundesverfassungsgericht organisatorisch dem Ressort des Bundesjustizministers zugeordnet und erschien in dessen Haushaltsplan. Demzufolge hatte das Justizministerium die Dienstaufsicht für alle Fragen der Gerichtsverwaltung und stellte die höheren Beamten und Angestellten des Bundesverfassungsgerichts, wie etwa wissenschaftliche Hilfskräfte und Regierungsdirektoren, ein. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts musste auf dem Dienstweg an die Bundesregierung herantreten und konnte nur über sie mit dem Bundesrat und Bundestag konferieren. Dies schloss Selbstverwaltung und Geschäftsordnungsautonomie weitgehend aus.377 Gerade zu Beginn der Tätigkeit des Gerichts zeigten sich eine Reihe von Schwierigkeiten und Reibungen mit der Justizverwaltung, die den Verfassungsrichtern die Vorteile von Selbstverwaltungsbefugnissen deutlich vor Augen führten. Bereits wenige Monate nach Aufnahme der Gerichtstätigkeit setzte das Plenum des Bundesverfassungsgerichts eine Kommission zur Klärung der Status-Frage ein. Im März 1952 legte ihr Berichterstatter Leibholz das bereits mehrfach erwähnte Gutachten zur Statusfrage, den sogenannten Statusbericht, vor.378 Danach war das Bundesverfassungsgericht 375  Dies unterstreicht auch die neuere Untersuchung von Collings, Gerhard Leibholz und der Status des Bundesverfassungsgerichts – Karriere eines Berichts und seines Berichterstatters, 2013, S. 226 f. 376  Lembcke, Das Bundesverfassungsgericht und die Regierung Adenauer – vom Streit um den Status zur Anerkennung der Autorität, 2006, S. 152; vgl. auch Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 23. 377  Ausführlich Häußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 23. 378  Siehe Bericht des Berichterstatters, Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 120 ff.



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kein gewöhnliches Bundesgericht im Sinne eines Fachgerichts für Verfassungsangelegenheiten, sondern zugleich ein oberstes Verfassungsorgan, das mit Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auf einer Stufe steht und durch seine verfassungsgerichtliche Tätigkeit „politisch integrierende Funktionen“ ausübt und damit (auch) eine politische Rolle hat.379 Aus dieser Doppelrolle folgerte Leibholz, dass das Gericht organisatorisch weder einem Bundesorgan noch einer Bundesbehörde unterstellt sein konnte. Dem Bundesverfassungsgericht stehe ein eigener Titel im Haushaltsplan des Bundes zu. Es besitze die Befugnis, seinen Etat selbst aufzustellen, zu verwalten und unmittelbar gegenüber dem Finanzministerium und dem Bundestag zu vertreten. Das Gericht habe das Recht, seine Beamten selbst einzustellen und alle internen Angelegenheiten durch eine Geschäftsordnung zu regeln. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts stünden in einem besonderen Amtsverhältnis und seien keine gewöhnlichen Bundesrichter. Mit dieser Argumentation reizte das Gericht, wie Schönberger zusammenfasst, „beide Register voll aus, die ihm zur Verfügung standen: Justiz und Politik. Es beanspruchte zugleich alle Privilegien eines Gerichtshofs und alle Vorrechte eines Verfassungsorgans.“380 Das Gutachten wurde im Plenum schließlich mit 20 zu 2 Stimmen gebilligt381 und fand in der Status-Denkschrift vom 27. Juni 1952 seinen Niederschlag.382 Dort übte das Gericht seine Deutungsmacht aus, um die eigene Stellung zu verbessern, indem es feststellte, dass die „gegenwärtige Staatspraxis“ verfassungswidrig sei, und die „anderen obersten Verfassungsorgane“ aufforderte, „zur Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien daran mitzuwirken, daß der verfassungsmäßige Zustand beim Bundesverfassungsgericht hergestellt wird“.383 Der verfassungswidrige Zustand müsse „so bald als möglich aufhören“.384 Das Gegengutachten zum Statusbericht erstattete im Auftrag des Bundesjustizministeriums Richard Thoma, der ‒ eigentlich zu Recht ‒ feststellte, dass der „verfassungswidrige Zustand“, den das Bundesverfassungsgericht 379  Ausführlich Collings, Gerhard Leibholz und der Status des Bundesverfassungsgerichts – Karriere eines Berichts und seines Berichterstatters, 2013, S. 232 f.; siehe bereits oben unter B. II. 2. c). 380  Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 24. 381  Lediglich Willi Geiger, der seine Karriere im Justizministerium unter Dehler begonnen hatte, und dessen Parteifreund, Präsident Höpker-Aschoff, versagten dem Gutachten ihre Zustimmung; dazu die knappe Anmerkung von Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 117. 382  Häußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 24. 383  Denkschrift des Bundesverfassungsgericht, bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 144. 384  Ebd., S. 148.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

in seiner Denkschrift beklagte, sich jedenfalls nicht auf eindeutige Aussagen im geschriebenen Verfassungstext stützen konnte.385 Insoweit ist es durchaus gerechtfertigt, wenn in der Literatur heute in Bezug auf den Statusbericht von der „Macht zur Selbstermächtigung“386 oder von einem „grundlegenden Akt der Selbstautorisierung“387 des Bundesverfassungsgerichts gesprochen wird. Besonders schroff wies Thoma in seinem Gutachten die im Statusbericht getroffene Aussage zurück, das Bundesverfassungsgericht übe über seine richterlichen Funktionen hinaus zugleich auch „politisch integrierende Funktionen“ aus.388 Diese Lehre, die auch politische Folgenerwägungen einschließe und damit „dem Bundesverfassungsgericht die Befugnis beilegen will, aus eigener politischer Meinung heraus das geltende Recht zu biegen und zu beugen“, war für Thoma eine „Irrlehre!“; sie finde weder im Wortlaut des Grundgesetzes oder des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes noch in der Dogmengeschichte der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit noch in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine Begründung.389 Dass sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner Auffassung über den eigenen Status und seine Funktion als oberstes Verfassungsorgan schließlich durchsetzen konnte, hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte Justizminister Dehler mit manchen seiner taktischen Schachzüge und durch öffentlich abwertende Äußerungen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht den Bogen überspannt und auch innerhalb der Bundesregierung an Einfluss verloren.390 Entscheidend aber war, dass die Position des Bundesverfassungsgerichts im Bundestag und Bundesrat fraktionsübergreifenden Rückhalt erhielt. Die SPD-Fraktion unter der Federführung ihres Rechtsexperten Arndt hatte bereits 1951 im Bundestag eine Mehrheit für einen eigenen Haushaltstitel des Bundesverfassungsgerichts organisiert; nach Veröffentlichung des Statusberichts schloss sich der Bundesrat an. Im Mai und Juni 1953 zeichnete sich dann eine parteiübergreifende Mehrheit für die Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts ab, der die Regierung letztend385  Thoma, Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, bei ebd., S. 161 ff. 386  Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 73 ff. 387  Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 25. 388  Zu der fast schon „entgleisenden“ Bezugnahme auf den „geschmeidigen“ Carl Schmitt und dessen Rolle während des Nationalsozialismus sowie ihrer Zurückweisung („ungeheuerlich“) durch das Bundesverfassungsgericht Baldus, Frühe Machtkämpfe – Ein Versuch über die historischen Gründe der Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 240. 389  Thoma, Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 171. 390  Vgl. dazu im Folgenden unter B. II. 3. b) bb).



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lich nachgab.391 Der Gesetzgeber vollzog nun schrittweise nach, was das Verfassungsgericht ihm zur Behebung des „verfassungswidrigen Zustands“ aufgegeben hatte.392 Wie Baldus hervorhebt, war dieser „Sieg des Gerichts auf ganzer Linie“ nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass es sich bei den Richtern der ersten Generation – wie zum Beispiel bei dem ersten Präsidenten Höpker-Aschoff – um Persönlichkeiten mit „Selbst- und mit Machtbewusstsein“ handelte, die durch ihre früheren Tätigkeiten für Machtfragen sensibilisiert waren und wohl auch über gute Kontakte zu den maßgeblichen Rechtspolitikern der verschiedenen politischen Fraktionen verfügten.393 Vor allem aber war es ein Sieg des neugeborenen Verfassungsgerichts, das die Autorität eines Verfassungsorgans und zugleich Deutungsmacht über das Grundgesetz, seine Stellung als dessen „Hüter“, errungen hatte. bb) Der Streit um die Wiederbewaffnung Seine Rolle als politisch unabhängiges Gericht hat das Bundesverfassungsgericht in der Auseinandersetzung um den Deutschland- und den EVG-Vertrag behauptet, die im Zeitraum zwischen Januar 1952 und März 1953 zu vier Beschlüssen des Gerichts führte394 und den wohl „schwersten Konflikt“ zwischen Bundesverfassungsgericht und der Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik darstellt.395 Im EVG-Vertrag, der im Mai 1952 in Paris unterzeichnet wurde, hatte sich die Bundesrepublik verpflichtet, sich an der Bildung einer supranationalen Armee zu beteiligen. Durch den militärischen Beitrag sollte nach dem Willen Adenauers außenpolitische Souveränität zurückgewonnen und gleichzeitig eine starke Westbindung aufgebaut werden. Voraussetzung dafür war die Wiederbewaffnung, die innenpolitisch auf Widerstand stieß und deren Verfassungsmäßigkeit ohne Änderung des Grundgesetzes in Zweifel stand.396 Als die SPD beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag gegen das zu erwartende RatifikationsHäußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 26 ff. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 312 ff.: „Sämtliche Forderungen des Bundesverfassungsgerichts wurden erfüllt.“ 393  Baldus, Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 246 f. 394  BVerfGE 1, 281 (Zurückweisung einstweilige Anordnung); BVerfGE 1, 396 – Deutschlandvertrag; BVerfGE 2, 79 – Plenargutachten Heuß; BVerfGE 2, 143 – EVG-Vertrag; zu den Hintergründen des Konflikts Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S.  54 ff. 395  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 160; ausführlich zum Wehrstreit auch Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 280 ff. 396  Vgl. Häußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 29 f. m. w. N. 391  Vgl. 392  Vgl.

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gesetz einreichte, fürchtete die Regierung eine folgenschwere Niederlage in Karlsruhe. Die Befürchtung lag vor allem darin begründet, dass für die Entscheidung des als Normenkontrollklage qualifizierten Antrags der Erste Senat zuständig war, in dem die von der SPD nominierten Richter die Mehrheit stellten, und man hier eine ‚politische‘ Entscheidung erwartete.397 So versuchte die Regierung, die Rechtsfrage zunächst über einen Gutachtenantrag des Bundespräsidenten Heuss, der damals nach § 97 BVerfGG a. F. möglich war,398 in das Plenum des Gerichts und, als man sich auch dort einer Mehrheit unter den Richtern nicht mehr sicher zu sein schien, in den Zweiten, den „schwarzen“ Senat zu verlagern.399 Dazu ließ man die Regierungsmehrheit im Bundestag eine Organklage erheben, für die der Zweite Senat zuständig war und die nach der damaligen, allerdings noch nicht gefestigten Praxis des Gerichts Vorrang vor dem Gutachtenverfahren hatte.400 Diesen offensichtlich politisch-taktischen und manipulativen401 Versuchen, die Entscheidung dem Plenum zu entziehen, widersetzten sich die Richter jedoch durch einen mit 20 zu 2 Stimmen gefassten Plenumsbeschluss. Das anstehende Gutachtenverfahren sollte fortgeführt werden und die dort gefundene verfassungsrechtliche Bewertung auch für die nachfolgenden Entscheidungen der Senate bindend sein.402 Daraufhin bewegte Adenauer den Bundespräsidenten dazu, den Gutachtenantrag zurückzunehmen. Zugleich übte sein Justizminister Dehler überaus scharfe Kritik an der Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 60 f. Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Erstellung von Gutachten wurde – auch vor dem Hintergrund der wenig guten Erfahrungen – im ersten Änderungsgesetz zum BVerfGG 1956 gestrichen, worüber im Gesetzgebungsverfahren parteiübergreifende Einigkeit bestand; vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 170 ff. Diese Änderung geht auf Vorschläge von Willi Geiger zurück, der die Gutachtentätigkeit bereits 1951 als einen „Fremdkörper im Aufgabenbereich eines Rechtsprechungsorgans“ bezeichnet hatte; Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1952, § 97, Ziff. 2. 399  Zwar wies der Erste Senat in BVerfGE 1, 396, den Normenkontrollantrag zunächst als unzulässig ab, da der Vertrag noch nicht im Bundestag beraten und verabschiedet worden war; doch mit einer erneuten Antragstellung der SPD-Fraktion war zu rechnen, sobald das Ratifikationsgesetz den Bundestag passieren würde. 400  Vgl. Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 64. Der Antrag zielte darauf, der Opposition im Bundestag das Recht abzusprechen, sich aus verfassungsrechtlichen Gründen gegen die Vertragsratifikation zu wenden – eine kaum nachvollziehbare verfassungsrechtliche Argumentation. 401  Vgl. Häußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 32 f. Als Adenauer diesen Plan seinen Parteifreunden vortrug, soll es selbst einigen seiner „treusten Anhänger die Sprache verschlagen haben“. Der Antrag wurde später vom Zweiten Senat in Gänze als unzulässig abgewiesen; vgl. BVerfGE 2, 143. Schon die Leitsätze des Urteils machen deutlich, wie rechtlich unhaltbar die Position der Antragssteller war. 402  BVerfGE 2, 79. 397  Ausfühlich 398  Die



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Entscheidung des Gerichts, dem er unter anderem vorwarf, es habe die Grenzen seiner Befugnisse, das Recht schöpferisch fortzubilden, eklatant überschritten.403 Diese drastischen Worte des Justizministers waren geeignet, das Ansehen des erst seit einigen Jahren bestehenden Bundesverfassungsgerichts zu schädigen; sie stießen jedoch in der Öffentlichkeit vornehmlich auf Kritik und Ablehnung. Adenauer lenkte daraufhin ein und ging zumindest äußerlich auf Versöhnungskurs, indem er im Namen des Kabinetts eine Ehrenerklärung zugunsten des Bundesverfassungsgerichts abgab.404 Bemerkenswert an dieser Auseinandersetzung ist dreierlei: Zum einen hatte sich das Gericht der ‚Logik‘ parteipolitischen Denkens, das ihm insbesondere von Seiten der Regierung unterstellt worden war, klar widersetzt.405 Letztlich entschied auch der Zweite, mutmaßlich „schwarze“ Senat – wie später auch im Konflikt um das zweite deutsche Fernsehen406 – gegen die Regierung Adenauer.407 Der zweite wichtige Aspekt liegt darin, dass sich das Gericht institutionell als Einheit zu erkennen gab und die politischen Konflikte nicht im Rahmen des Verfassungsrechts nachvollzog, son403  Siehe die Zitate bei Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 648 ff. So meinte Dehler unter anderem, der Beschluss des Plenums sei „völlig rechtlos“ und ein „nullum“. 404  Die Wahlen im Herbst 1953 brachten nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953 einen Erdrutschsieg für die Regierungskoalition und sicherten Adenauer eine Zweidrittelmehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes, wo die Wiederbewaffnung nun unmittelbar verankert und damit geltendes Verfassungsrecht wurde. Der Normenkontrollantrag gegen das Zustimmungsgesetz erledigte sich hingegen, nachdem die Ratifikation des EVG-Vertrags durch das französische Parlament abgelehnt worden war und die europäische Verteidigungsinitiative zugunsten der NATO-Gründung fallengelassen wurde. 405  Dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts anders als politisch motiviert waren, schien für Adenauer und Dehler in ihrem Freund-Feind-Schema offenbar nicht denkbar, „deswegen die Drohungen gegen das Gericht, die Versuche, die Zuständigkeiten zu manipulieren, deswegen auch die harsche Kritik, die immer wieder erneuerten Vorwürfe, nicht auf der Grundlage des Verfassungsrechts, sondern nach politischen Vorgaben zu entscheiden“, Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 191. 406  BVerfGE 12, 36. Ausführlich zum Fernsehstreit Häußler, Bundesverfassungsgericht und politische Führung, 1994, S. 47 ff.; zusammenfassend Lembcke, Das Bundesverfassungsgericht und die Regierung Adenauer, 2006, S. 157 f. Eine umfassende Dokumentation des Prozessmaterials findet sich bei Zehner, Der Fernsehstreit vor dem Bundesverfassungsgericht – Eine Dokumentation des Prozeßmaterials, 1964. 407  Vgl. auch Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 75: Das Verfassungsgericht hatte „dreimal gerade nicht so entschieden, wie die Parteien und diejenigen erwarteten, die vom ‚roten‘ und ‚schwarzen‘ Senat sprachen. Der ‚rote‘ entschied gegen die SPD, der ‚schwarze‘ gegen die CDU und das regierungsfreundliche Plenum gegen die Regierung“.

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dern um einen eigenen, verfassungsrechtlich begründeten und möglichst einmütigen Standpunkt bemüht war. Es stärkte durch eine prinzipienfeste Haltung seine überparteiliche Stellung als ‚ebenbürtiges‘ Verfassungsorgan.408 Zum Dritten wurde auch in diesem Konflikt erkennbar, wie sehr sich die Mitglieder des Gerichts der Macht- und Anerkennungsfragen gegenüber der Regierung bewusst waren, ohne davor zurückzuschrecken, über Denkschriften, öffentlichen Stellungnahmen oder auch den Kampf ‚hinter den Kulissen‘ Einfluss auf die Politik zu nehmen, um den hervorgehobenen Status als unabhängiges Gerichts und seine Autorität zu sichern.409 c) Kämpfe um Deutungsmacht gegenüber den Bundesgerichten, speziell dem Bundesgerichtshof: Der Gutachtenstreit Den Kampf um Autorität und Deutungsmacht über das Grundgesetz hatte das Bundesverfassungsgericht auch mit der Fachgerichtsbarkeit auszutragen. Der sogenannte „Gutachtenstreit“410 war einer der ersten größeren Konflikte zwischen dem Bundesverfassungsgericht und (hauptsächlich) dem Bundesgerichtshof und ist in seiner Bedeutung für das Rang- und Machtverhältnis zwischen beiden Gerichten nicht zu unterschätzen. Auch hier stand die Frage nach Status und Position der neuen Verfassungsgerichtsbarkeit im Mittelpunkt und auch hier ging es um die Durchsetzung von Deutungsmacht, was vor allem auch für die umfassende Grundrechtskontrolle und -durchsetzung gegenüber den Fachgerichtsbarkeiten bedeutsam war.411 § 80 Abs. 1 BVerfGG sah in der ursprünglichen Fassung von 1951 vor, dass konkrete Normenkontrollvorlagen von unterinstanzlichen Gerichten über das zuständige oberste Landes- beziehungsweise Bundesgericht dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen waren. Sinn dieser Vorlagebestimmung war es, obersten Gerichte einen Überblick über die in den Untergerichten entstandenen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu verschaffen, die in ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche fielen.412 Ange408  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 161. Baldus, Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 246. 410  Hierzu ebd., S. 243 ff.; Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof – Zum Verhältnis beider Gerichtshöfe in fast 40jähriger Jurisdiktion, 1990, S.  189 ff. 411  Vgl. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 93. Zuständig für die Abgabe dieser gutachterlichen Stellungnahmen war – unabhängig von der Fachzuständigkeit der Senate – ausschließlich der 1. Zivilsenat, dessen Vorsitzender der erste Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff war. 412  Vgl. Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, 1952, § 80 Ziff. 3; Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 189. 409  Vgl.



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spornt durch ein Rundschreiben des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten aus dem Jahr 1951413 nutzten vor allem die obersten Bundesgerichte diese Regelung jedoch, um den Vorlagen jeweils eigene Stellungnahmen mit rechtlichen Erwägungen beizufügen. Besonders extensiv machte hiervon der Bundesgerichtshof Gebrauch. Seine Stellungnahmen hatten nicht selten den Umfang und die Gestalt von ausführlichen Gutachten und wurden teilweise „in der Form von nahezu fertigen Entscheidungsentwürfen verfasst“ und mit Leitsätzen versehen.414 Sie wurden in einem Anhang der amtlichen Entscheidungssammlung (BGHZ) abgedruckt415 und, teilweise noch bevor das Bundesverfassungsgericht selbst in der Sache entschieden hatte, in führenden juristischen Fachzeitschriften veröffentlicht.416 Die Praktiken des Bundesgerichtshofs stießen insbesondere bei den mit den Normenkontrollverfahren betrauten Mitgliedern des Ersten Senats auf „Unverständnis und erregten Mißfallen“.417 Es war offensichtlich, dass der Bundesgerichtshof mit seinen Stellungnahmen – in der Manier eines ‚kleinen‘ Verfassungsgerichts – versuchte, die verfassungsrechtliche Argumentation vorzuprägen und damit die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts zu relativieren.418 Dies war auch insofern problematisch, als es zwischen dem Bundesgerichtshof, der sich in der Tradition des Reichsgerichts sah und insoweit teilweise durch personelle wie methodische Kontinuitäten gegenüber der Weimarer Zeit geprägt war,419 und dem Bundesverfassungsgericht erkennbare inhaltliche Differenzen gab. Dies wird etwa an der Stellungnahme des Bundesgerichtshofs zur Fortgeltung der Beamtenverhältnisse (Gesetz zu Art. 131 GG)420 und zur Frage der Gleichberechtigung von 413  Bundesanzeiger

Nr. 49 vom 12.3.1953. Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 189 f. 415  Vgl. etwa BGHZ 11, Anhang S. 2 ff. zum Gesetz zu Art. 131 GG; BGHZ 11, Anhang S. 36 ff. zum Grundsatz der Gleichberechtigung. 416  Etwa BGH, DVBl. 1953, 370 f.; 471 ff.; DÖV 1955, S. 729 f. 417  Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 190. 418  Vgl. die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dazu in BVerfG, JZ 1956, 88, 89. 419  Vgl. Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005, S. 205: „Das damit verbundene Selbst- und Sendungsbewußtsein läßt sich ermessen, wenn man die Selbstverständlichkeit bedenkt, mit der der BGH schon wenige Jahre nach seiner Gründung das immerhin 75jährige Jubiläum feierte, indem man sich kurzerhand als Fortführung des Reichsgerichts verstand“; vgl. auch Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 187 ff.: „konnte der Bundesgerichtshof an die stolze Tradition des Reichsgerichts anknüpfen“. 420  BGHZ 11, Anhang S. 2 ff., dagegen BVerfGE 3, 58 ff. – Beamtenverhältnisse; ausführlich zu dem Konflikt Limbach, Der Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof über den Fortbestand der Beamtenverhältnisse nach 1945, 2011; Menzel, Vergangenheitsbewältigung in der frühen Judikatur 414  Faller,

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Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG)421 deutlich.422 Aus der Tatsache, dass die „Stellungnahmen“ des Bundesgerichtshofs in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit keinem Wort erwähnt und auch den Prozessbeteiligten nicht mitgeteilt wurden, lässt sich ersehen, wie sehr sich die Mitglieder des Ersten Senats durch die Praxis des Bundesgerichtshofs bevormundet fühlten.423 Das Bundesverfassungsgericht nutzte im Jahr 1955 die Normenkontrollvorlage eines Finanzgerichts, das diese entgegen § 80 Abs. 1 BVerfGG unmittelbar dem Bundesverfassungsgericht zugeleitet hatte, um die Praxis der gutachterlichen Äußerungen der weiterleitenden Obersten Bundesgerichte für unzulässig zu erklären.424 Das Bundesverfassungsgericht stützte sich hierfür vor allem auf den Wortlaut des BVerfGG sowie die justizpolitischen Folgen der Gutachten-Praxis: Die Veröffentlichung der Gutachten führt […] zwangsläufig dazu, daß diese Gutachten vielfach irrigerweise als höchstrichterliche Entscheidungen angesehen werden. Daraus ergibt sich eine weitere Gefahr: Entscheidet das Bundesverfassungsgericht anders, als das Gutachten vorgeschlagen hatte, so liegen für die Öffentlichkeit voneinander abweichende ‚Entscheidungen‘ höchster Gerichte vor, die von den Interessenten gegeneinander ausgespielt werden können. Diese Folge ist nicht nur justizpolitisch, nämlich in ihren Auswirkungen auf das Ansehen der höchsten Gerichte, unerwünscht, sondern widerspricht eindeutig der mit Art. 100 Abs. 1 GG erstrebten Konzentration zu einer gesetzeskräftigen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht.425

Nachdem das Bundesverfassungsgericht somit die Praxis der gutachter­ lichen Stellungnahmen für unzulässig erklärt hatte, entschlossen sich die Präsidenten der fünf obersten Bundesgerichte „zu einem in der Geschichte der deutschen Gerichtsbarkeit außergewöhnlichen Schritt“426: Sie veröffentdes Bundesverfassungsgerichts – Beamten- und Gestapo-Urteil, 2005, S. 226 ff.; vgl. auch unter B. III. 1. a). 421  BGHZ 11, Anhang S.  36  ff.; erkennbar abwiegelnd dagegen BVerfGE 3, 225 ff. – Gleichberechtigung. 422  So verband der Präsident des Bundesgerichtshofs Weinkauff sein Rechtsverständnis mit einer neuthomistisch-christlich orientierten „Naturrechtslehre“, die von einer vorgegebenen Ordnung der Werte und dem daraus entspringenden Sollen kraft göttlicher Setzung ausging; vgl. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, 1994, S. 155 f.; Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1962; zur „Schöpfungsordnung“ der Geschlechter siehe BGHZ 11, Anhang S. 36, 64 ff. 423  So rückblickend der damalige Präsidialrat beim Ersten Senat, siehe Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990. 424  BVerfG, JZ 1956, 88 ff. 425  BVerfG, JZ 1956, 88, 89. 426  Faller, Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 190.



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lichten unmittelbar nach Bekanntwerden des verfassungsgerichtlichen Beschlusses in der Juristenzeitung ein Schreiben an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, in welchem sie die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts in scharfen Worten kritisierten und zu einem „obiter dictum“ herabstuften. Das Bundesverfassungsgericht, so meinten die Gerichtspräsidenten, sei „nicht die Spitze der Rechtsordnung“. Vielmehr sei es eine legitime Aufgabe der obersten Bundesgerichte, auch an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm mitzuwirken. Diese Aussagen wurden unverhohlen verbunden mit der Forderung nach Einrichtung eines „künftigen Obersten Bundesgerichts“, welches das Ganze der Rechtsordnung sichern sollte.427 Dieses ‚Ganze‘ der Rechtsordnung von der Verfassung aus zu sichern, die Rechtsordnung zu konstitutionalisieren, hatte sich jedoch das Bundesverfassungsgericht zur Aufgabe gemacht, wie sich wenig später in seiner Rechtsprechung deutlich zeigen würde.428 Das geforderte „Oberste Bundesgericht“ wurde hingegen, auch wenn es im ursprünglichen Verfassungstext noch vorgesehen war, nie errichtet.429 Das Bundesverfassungsgericht reagierte im Übrigen auf das Schreiben der Gerichtspräsidenten kühl. Der zweite Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Nachfolger Höpker-Aschoffs, Josef Wintrich, beantwortete es mit dem Hinweis, dass die „Gestaltung des Vorlageverfahrens zur Zeit Gegenstand gesetzgeberischer Besprechungen sei“ und er daher in dieser Frage vorerst nicht Stellung nehmen wolle.430 Offenbar konnte sich das Bundesverfassungsgericht – wie bei der Auseinandersetzung um seinen Sta­ tus – auch in diesem Streit seines Rückhalts im Bonner Parlament sicher sein.431 Im Juni 1956, nur etwa drei Monate später, änderte der Bundestag § 80 Abs. 1 BVerfGG dahingehend, dass die vorlegenden Gerichte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nunmehr „unmittelbar“ einzuholen haben; dem Bundesverfassungsgericht wurde vielmehr die Befugnis eingeräumt, die obersten Gerichte um eine Stellungnahme zu ersuchen (heute § 82 Abs. 4 BVerfGG). Damit hatte sich das Bundesverfassungsgericht auch in diesem Machtkampf gegenüber der Fachgerichtsbarkeit durchgesetzt. 427  Siehe Stellungnahme der Präsidenten der Oberen Bundesgerichte vom 30.11.1955, JZ 1956, S. 90, 92. 428  Zur Konstitutionalisierung der Rechtsordnung siehe im Folgenden unter B. II. 4.–5. 429  Siehe Art. 92 und 95 GG in der Fassung vom 23. Mai 1949. 430  Vermerk des Berichterstatters vom 18.1.1956, JZ 1956, S. 93. 431  Zugleich aber wurde in der Juristenzeitung ein Vermerk des Berichterstatters im Ersten Senat, des Richters F. Wessel, veröffentlicht, worin dieser eine „Reihe von sachlichen Irrtümern“ in der Stellungnahme der Gerichtspräsidenten „berichtigte“; Baldus, Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 245.

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4. Weichenstellungen der Grundrechtsdogmatik durch den Ersten Senat Durch die Darstellung des methodischen Selbstverständnisses und der Kämpfe um Autorität und Deutungsmacht, die von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts in den Anfangsjahren zu bestehen waren, soll nicht der Eindruck hervorgerufen werden, als wäre diese erste Richtergeneration mit einer Art eigener ‚Agenda‘ ans Werk gegangen. Die ersten Jahre waren vielmehr eine „Zeit des Abwägens und Abtastens“,432 aber auch kluger und entschiedener Reaktionen des Gerichts auf die Herausforderungen, mit denen es konfrontiert war. Dies betrifft im Besonderen auch die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik. Innerhalb von sechseinhalb Jahren legten die Mitglieder des Ersten Senats, dem die Fragen der Grundrechtsinterpretation nach der ursprünglichen Kompetenzverteilung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zugewiesen waren, die Fundamente einer Grundrechtsdogmatik, die in ihrem Kern bis heute Bestand hat – und zwar vor allem in vier grundlegenden Entscheidungen: bei der Begründung eines lückenlosen Grundrechtsschutzes durch die Elfes-Entscheidung, der Konstruktion eines über die subjektive Abwehrfunktion hinausgehenden multifunktionalen objektiven Gehalts der Grundrechte im Haushaltsbesteuerungsbeschluss, bei der Entwicklung der (mittelbaren) Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht und der inhaltlichen Effektuierung der Schrankenbindung im Lüth-Urteil sowie schließlich der Grundsteinlegung für die Verhältnismäßigkeitsprüfung und die Einbeziehung von Wirklichkeitsannahmen in die Entscheidungsfindung im Apotheken-Urteil.433 Vor dem Hintergrund dieser Judikatur lässt sich die These erhärten, dass das schon in der frühen Rechtsprechung zum Ausdruck kommende – wenn auch in uneinheitlicher Terminologie bezeichnete – Verständnis der Grundrechte als „wertentscheidende Grundsatznorm[en]“434, als „Wertsystem“435 oder „objektive Wertordnung“436 vor allem als Abgrenzung gegenüber dem formalen Grundrechts- und Methodenverständnis des staatsrechtlichen Positivismus zu verstehen ist. Der Wertbezug diente damit in erster Linie der Begründung des Vorrangs der Verfassung und ihrer Grundrechte 432  Faller,

Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof, 1990, S. 188. Entscheidungen Elfes, Lüth und Apotheken werden im Schrifttum allgemein als grundlegende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsdogmatik angesehen; stellv. für viele die Beiträge in Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, dort insbesondere Jestaedt, S.  120: „Leitmelodie der Karlsruher Grundrechtsjudikatur […], die in späteren Jahren zwar ergänzt, verfeinert und ausgebaut, aber nicht im Kern verändert wird.“ 434  BVerfGE 6, 55 (71). 435  BVerfGE 7, 198 (205); bereits BVerfGE 5, 85 (139). 436  BVerfGE 7, 198 (205); bereits BVerfGE 6, 32 (40 f.). 433  Die



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gegenüber der (einfachen) Rechtsordnung, wobei den Grundrechten entsprechend der Vorgabe des Art. 1 Abs. 3 GG justiziable Wirkung zukommen ­sollte. Die Wertebegründung war aber zugleich eine Entscheidung für ein materiales, sprich positives und über das negative Freiheitsverständnis der liberalen Abwehrdoktrin hinausgehendes Grundrechtsverständnis, das die Einbeziehung der sozialen Voraussetzungen und Bedingtheit der Freiheitsverwirklichung in die Grundrechtsinterpretation verlangt. In untrennbarem Zusammenhang hiermit steht die verfassungstheoretische Grundentscheidung des Gerichts für ein Verständnis des Grundgesetzes als der „rechtlichen Grundordnung des Staates“.437 Durch die frühen Entscheidungen wurde die weitere methodische und dogmatische Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichts zwar nicht vollständig vorausbestimmt. Vielmehr lässt sich im Sinne des Konzepts der „Pfadabhängigkeit“438 von frühen Weichenstellungen sprechen, die die Judikatur des Gerichts in eine bestimmte Richtung gelenkt und damit weitere dogmatische Entwicklungsschritte vorbereitet haben. Das gilt bei rechtsdogmatischen Entscheidungen umso mehr als sie Anspruch auf eine autoritative Interpretation439 des Normtextes erheben; sich von derartigen Grundentscheidungen zu lösen, wird für ein Gericht immer schwerer, je länger es eine bestimmte Dogmatik zu einer Verfassungsnorm in seinen Entscheidungen praktiziert. a) Die Verfassungsbeschwerde als prozessualer ‚Entwicklungsmotor‘ der Grundrechtsdogmatik Ohne die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde, die es „jedermann“ erlaubt, sich wegen der Verletzung seiner Grundrechte oder in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten grundrechtsgleichen Rechte nach Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, wäre die Durchsetzung materialer Grundrechtsgehalte durch das Bundesverfassungsgericht nicht denkbar gewesen. Die deutsche Grundrechtsdogmatik sähe heute wohl in wesentlichen Punkten anders aus, hätte sich der Bundesrat 1951 mit seiner Forderung, die Verfassungsbeschwerde nicht in den Katalog der Verfahrensarten nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufzunehmen, durchgesetzt.440 Sowohl Elfes und Lüth Kägi, Die Verfassung als Grundordnung des Staates, 1945. Konzept der Pfadabhängigkeit siehe etwa Page, Path Dependence, 2006; Pierson, Politics in Time – History, Institutions, and Social Analysis, 2004, S. 17 ff. 439  Zum Topos der „authentischen Interpretation“ Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und die deutsche Frage, 2004, S. 87 ff.: „supremative Verbindlichkeit“. 440  Vgl. oben unter B. II. 2. a). 437  Grdl. 438  Zum

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als auch das Apotheken-Urteil, das heißt drei der vier grundlegenden Entscheidungen des ersten Jahrzehnts, sind auf Verfassungsbeschwerden hin ergangen. Verfassungsbeschwerdeverfahren machen bis heute über 96 Prozent des Geschäftsanfalls des Bundesverfassungsgerichts aus.441 Jestaedt spricht davon, dass die Verfassungsbeschwerde als Verfahrensart „die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom ersten Tage an quantitativ nahezu völlig und auch qualitativ ganz maßgeblich beherrscht“ hat.442 Über die Verfassungsbeschwerde, von der die Bürgerinnen und Bürger vom ersten Tag an regen Gebrauch gemacht haben,443 erhielt das Bundesverfassungsgericht Zugriff auf nahezu alle verfassungsrechtlich relevanten Bereiche von Gesetzgebung und Rechtsprechung und damit die Möglichkeit, „seine Auffassung von der Maßgeblichkeit des Grundgesetzes als Richtlinie und Impuls für die gesamte Rechtsordnung nicht nur zu behaupten, sondern auch durchzusetzen, insbesondere gegenüber anderen Gerichten“.444 Die Verfassungsbeschwerde wurde so zum „wichtigsten Transportmittel zur Aktivierung verfassungsrechtlicher Vorgaben“.445 Zwar böte auch das Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG prinzipiell Ansatzpunkte für eine (eingeschränkte) Judikatur der Konstitutionalisierung. Dieses Verfahren ist aber seinem Gegenstand nach auf Gesetzgebungsakte beschränkt, erfasst also den für Grundrechtsschutz zentralen Bereich der Rechtsprechung und Verwaltung von vornherein nicht. Das Bundesverfassungsgericht bleibt bei der konkreten Normenkontrolle darüber hinaus immer auf die Mitwirkung der Fachgerichte angewiesen, die ihm ein Gesetz zur Prüfung vorlegen müs441  Zur genauen prozentualen Verteilung nach Verfahrensarten siehe die Gesamtstatistik des Bundesverfassungsgerichts der Jahre 1951 bis einschl. 2013, www. bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-I-1. html (Juli 2015). Anhängig wurden danach insgesamt 207.651 Verfahren, darunter: • 200.482 (96,54%) Verfassungsbeschwerden, • 3.735 (1,80%) abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, • 9 (0,004%) Parteiverbotsverfahren, • 3.400 (1,64%) andere Verfahren, z. B. Bund-, Länder-Streitigkeiten, Organ- und andere Verfassungsstreitigkeiten in Bund und Ländern, • 25 (0,01%) frühere Verfahren, die bis 1960 geführt wurden (Armenrecht, Plenarentscheidungen, Gutachten). 442  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 114. Die Darstellung bei Jestaedt ist allerdings in einem Punkt unzutreffend: im Entwurf von Herrenchiemsee war die Verfassungsbeschwerde als Verfahrensart (noch) vorgesehen, erst im Rahmen der Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde sie gestrichen; vgl. Art. 98 Nr. 8 des Entwurfs von Herrenchiemsee; dazu oben unter B. II. 2. a). 443  Vgl. oben Tabelle 1, S. 105. 444  Bryde, Soziologie der Konstitutionalisierung, 2011, S. 271. 445  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 227.



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sen, soweit sie von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt sind. Die Aktivierung des Bundesverfassungsgerichts wird hier also von den Fachgerichten kontrolliert.446 Ohne den Stimulus einer kontinuierlich ausdifferenzierten Grundrechterechtsprechung, wie sie das Bundesverfassungsgericht über das Verfahren der Verfassungsbeschwerde entwickeln konnte, hätten die Fachgerichte von ihrer Vorlagebefugnis vermutlich auch weniger Gebrauch gemacht.447 Wäre etwa auf den Beschluss zur Haushaltsbesteuerung, der auf eine konkrete Normenkontrolle erging, nicht wenig später die Entscheidung im Lüth-Verfahren gefolgt, so hätte das Gericht die volle Wirkkraft seiner materialen Grundrechtsjudikatur, die – wie gezeigt wird – bereits im Zusammenveranlagungsbeschluss angelegt war, nicht in einem Guss entfalten können. b) Die Elfes-Entscheidung vom 16. Januar 1957 aa) Das wertbezogene Grundrechtsverständnis bei Wintrich und Dürig In der wertbezogenen Argumentation des Gerichts treten vor allem Gedanken des zweiten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Josef Wintrich, der in der hier maßgeblichen Zeit der Jahre 1957 und 1958 Vorsitzender des Ersten Senats war, deutlich hervor.448 Nach Kriegsende arbeitete Wintrich ab 1947 zunächst als Oberlandesgerichtsrat in München und war gleichzeitig Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof, zu dessen Vizepräsident er 1953 berufen wurde, bevor er dann 1954 auf Vorschlag der CSU als Nachfolger des verstorbenen ersten Präsidenten Höpker-Aschoff nach Karlsruhe ging. Wintrich sah eine dialektische Struktur des Rechts darin begründet, dass in ihm die „formalen Elemente der Ordnung und Macht und die inhaltlichen Momente ethischer Forderungen und tatsäch­ 446  Diese Problematik wird auch im Rahmen des Vorlageverfahrens an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV (früher Art. 234 EUV) relevant und hat, angefangen mit BVerfGE 73, 339 – Solange II, zu einer umfangreichen und nicht immer konsistenten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG geführt; dazu Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht – Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, 2011, S. 399 f. 447  Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine deutliche Abnahme der Vorlagen zu verzeichnen, was auch mit den hohen Anforderungen zusammenhängen mag, die das Bundesverfassungsgericht mittlerweile an die Begründung von Vorlagebeschlüssen nach Art. 100 Abs. 1 GG stellt; dazu Dollinger, in: Umbach / Clemens / Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2005, § 80, Rn. 77 ff.; ausführlich unter E. I. 1. d). 448  Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 899.

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licher Lebensnotwendigkeiten, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen, zu einer übergreifenden Einheit zusammengefaßt werden“. Das Recht sei daher „notwendig auf sittliche Werte sinnbezogen“.449 Wintrich sah durch die Positivierung der Menschenwürde und Grundrechte das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Recht und den überpositiven Werten gelöst.450 In der bereits durch die Bayerische Verfassung geschützten Menschenwürde erkannte er einen objektiven höchsten Wert, auf den der Mensch entsprechend „seiner seinsmäßigen Anlage“ hingeordnet sei. Durch die Positivierung im Grundrechtsteil seien die aus der Menschenwürde sich ableitenden Werte zugleich zu „Konstitutionsprinzipien des Rechts“ geworden, die mit „höchstem Rang und absoluter Geltung“ ausgestattet und für das gesamte staatliche Gemeinschaftsleben bedeutsam seien. Damit sei die entscheidende Wende gegenüber der Weimarer Verfassung vollzogen und einem vom bloßen Machtgedanken geläuterten neuen Rechtsbewusstsein Ausdruck gegeben worden.451 Die Freiheit des Einzelnen sei gerade nicht – wie bei Carl Schmitt (den Wintrich durchweg mit „K“ schreibt) – „prinzipiell unbegrenzt“, sondern, weil der Mensch nicht isoliertes Einzelwesen sei, gemeinschaftsgebunden.452 In der materialen Aufladung der Grundrechte bei Wintrich kommt seine Entscheidung gegen den Positivismus und den klassisch-formalen Liberalismus zum Ausdruck ebenso wie ein Verständnis des Menschen in seiner sozialen Gebundenheit. Starken Einfluss auf das Grundrechtsverständnis Wintrichs hatte die Züricher Habilitationsschrift des Giacometti-Schülers Werner Kägi. In der 1945 erschienen Arbeit mit dem Titel „Die Verfassung als Grundordnung des Staates“ beschreibt Kägi die Krise des Verfassungsstaates, die er in der Wertneutralität des formal-rechtsstaatlichen Freiheitsdenkens und im Gesetzespositivismus erkennt.453 Es bedürfe daher einer materiellen Verfassungstheorie, die die Frage nach den wesentlichen „Grundnormen“, „Prinzipien“ oder „richtungsgebenden Normen“ des Staates stelle.454 Bei Wintrich geht infolgedessen die Intention der Verfassung 449  Wintrich, Über Methode und Eigenart verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, 1952, S. 231. 450  Maunz, Ringen um ein wertgebundenes Recht – der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Dr. Josef Marquard Wintrich, 1984, 168 f. 451  Wintrich, Über Methode und Eigenart verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, 1952, S. 232. 452  Ebd., S. 232. 453  Wo der Staat zum höchsten Gut, gleichsam göttlich werde, könne es keine Norm geben, die ihn begrenze. Nur dort, wo der Staat selbst an vor- und überstaatliche Werte gebunden sei, seien dem Absolutismus des Gesetzgebers Grenzen gesetzt; Kägi, Die Verfassung als Grundordnung des Staates, 1945, S. 47. 454  Ebd., S.  66 f.



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dahin, „die Verfassungswirklichkeit“ des Staatslebens normativ zu gestalten. Soweit die Normen als Werte überzeitlichen Charakter hätten, seien sie Bestandteil einer „objektiven, menschlicher Entscheidung entrückten Seinsund Wertordnung“455, deren Sinngehalt „nur durch ein Zurückgehen auf allgemein philosophische und ethische Sätze“ zu ermitteln sei.456 Seinen intellektuellen Widerpart innerhalb der Staatsrechtslehre fand Wintrich in dem jungen Münchner Privatdozenten Günter Dürig, der 1953 zunächst in Vertretung nach Tübingen ging, wo er auch berufen wurde. Mit Dürig teilte Wintrich das wertbezogene Verständnis der Grundrechte, die Annahme der Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip und das durch die christlich-katholische Werteethik geprägte Menschenbild. Bekanntermaßen haben die Arbeiten Dürigs die Grundrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Sinne beeinflusst, wenn auch keinesfalls allein geprägt.457 Dürig458 und Wintrich459 gingen davon aus, dass die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG als „oberstes Konstitutionsprinzip“ das Zentrum eines vom Grundgesetz errichteten „Wertesystems der Grundrechte“ darstellte, dabei aber selbst kein subjektives Recht statuierte.460 In diesem „lückenlosen Anspruch und Wertesystem“, das sich an einer bestimmten „Grundvorstellung vom Menschen“461, an einem „Menschenbild“462 orientierte, sollte Art. 2 Abs. 1 GG als Haupt- und Auffanggrundrecht fungieren, wohingegen Art. 1 Abs. 1 GG „den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln“ liefern sollte. Er mache die Formalbegriffe „Wesensgehalt“ und „Menschenrechtsgehalt“, an denen jegliche staatliche Verfügungsmacht ihr Ende finde, „werterfüllt“ und eröffne so die Möglichkeit, die Grenzen der Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG zu bestimmen.463 Der Wertgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG ermöglichte es nach dieser Vorstellung also, „ihn zum Ausgangspunkt eines einheitlichen Wertsystems der Grundrechte in ihrer Gestalt als objektiv-rechtlicher Gewährleistungen bestimmter menschlicher 455  Wintrich, Über Methode und Eigenart verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, 1952, S. 244. 456  Ebd., S. 246. 457  Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005, S. 214, spricht unter Bezugnahme auf Walter Schmidt von einer „Zwiesprache“ Dürigs mit dem Bundesverfassungsgericht, m. w. N. 458  Grdl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956. 459  Wintrich, Die Bedeutung der „Menschenwürde“ für die Anwendung des Rechts, 1957; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 13 ff. 460  So Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 177. 461  Ebd., S. 178. 462  Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 5 f. 463  Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 178.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Wesenswerte zu nehmen“, auf die hin alle Grundrechte zentriert gedacht wurden.464 Auf diesem wertorientiert-konstruktiven Weg ließen sich in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus den Grundrechten auch subjektivöffentliche Recht auf Fürsorgeleistungen entnehmen.465 bb) Das Elfes-Urteil Besonderen Niederschlag hat das wertsystematische Verständnis der Grundrechte im Elfes-Urteil gefunden, das ebenso wie die Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung der Eheleute vom Januar 1957 stammt.466 Wilhelm Elfes, ein ehemaliger Zentrumspolitiker und nach dem Krieg Oberstadtdirektor von Mönchengladbach und CDU-Landtagsabgeordneter, engagierte sich seit Ende der 1940er Jahre intensiv für die Wiedervereinigung Deutschlands. Er unterhielt zu diesem Zweck Kontakte zur SED und wandte sich bei öffentlichen Auftritten im In- und Ausland, zum Beispiel auf Tagungen in Paris, Budapest, Ostberlin und Wien, gegen die Politik Adenauers zur Westbindung und der Wiederbewaffnung.467 1953 wurde Elfes die Verlängerung seines Passes unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 a Paßgesetz (heute § 7 Abs. 1 Nr. 1 Passgesetz) verweigert, wonach der Pass zu versagen war, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass „der Passbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“. Elfes beschritt den Rechtsweg, die Verweigerung der Passverlängerung hatte aber auch vor den Verwaltungsgerichten Bestand. Besonders bemerkenswert an der letztinstanzlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist, dass sie Elfes einen Grundrechtsschutz vollständig absprach. So gelangte das Fachgericht zu dem Ergebnis, dass die Ausreisefreiheit weder von dem auf das Bundesgebiet beschränkten Recht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG noch vom Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sei.468 Damit hatte das Bundesverwaltungsgericht also die Position eingenommen, dass die Ausreisefreiheit, obwohl sie nach Art. 13 der Menschenrechtserklärung so464  Wintrich,

Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 13 f. Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 186; dass dieser Anspruch jedes Menschen auf eine gesicherte wirtschaftliche und soziale Existenz dem wertethischen Vorverständnis Wintrichs entsprach, hebt Maunz, Wertgebundes Recht, 1984, S. 169, hervor. 466  Berichterstatter des Verfahrens war Gerhard Heiland, vgl. Rojahn, Elfes – mehr als ein Urteil – Aufladung und Entladung eines Politikums, 2009, S. 153. 467  Vgl. Fiedler, BVerfGE 6, 32 – Elfes – Allgemeine Handlungsfreiheit und äußerungsbezogenes Ausreiseverbot, 2000; Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S.  129 f. 468  Siehe BVerwGE 3, 171 (175) unter Verweis auf BVerwGE 3, 130 ff.; Rensmann, ebd., S. 130. 465  Dürig,



II. Der Bruch mit dem Positivismus137

gar als Menschenrecht anerkannt worden war, in der Bundesrepublik Deutschland nicht verfassungsrechtlich geschützt sei. Diese grundrechtliche Schutzlücke wollte das Verfassungsgericht erkennbar schließen. Vor diesem Hintergrund wird der „argumentative Aufwand“ verständlich, mit dem das Bundesverfassungsgericht die Ausreisefreiheit schließlich doch in Art. 2 Abs. 1 GG „hineinlas“.469 Im Ergebnis muss die Elfes-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts allerdings als eine Niederlage für die Ausreise- und Meinungsfreiheit bezeichnet werden. Die Verfassungsbeschwerde von Elfes wurde zurückgewiesen, die Versagungsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts damit vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.470 Jedoch nutzte das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit, um über die Interpretation des Art.  2 Abs. 1 GG als umfassender Handlungsfreiheit seine Kontrollkompetenzen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde deutlich zu erweitern.471 In seinem Urteil verneinte das Bundesverfassungsgericht zunächst mit Blick auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Freizügigkeitsgrundrechts einen Schutz nach Art. 11 GG. Dieses Grundrecht garantiere nur die Freizügigkeit im Bundesgebiet, enthalte aber keine Garantie der Ausreisefreiheit.472 Anschließend befasste sich das Verfassungsgericht mit Art. 2 Abs. 1 GG. Hier grenzte es sich einerseits gegen Auffassungen ab, wonach durch das Grundrecht nur ein enger „Kernbereich“ der Persönlichkeitsentfaltung geschützt sei.473 Zum anderen folgerte es unter (nicht unproblematischer474) Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 1 GG, dass dieser „die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn“ 469  Ebd.,

S.  130 f. möglichen Hintergründen Posser, Anwalt im kalten Krieg – Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, 2000, S. 89 f. So soll der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Egidi beim Bundesverfassungsgericht vorgesprochen und von ernsten Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik gewarnt haben, wenn die politische Klausel des Passgesetzes ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt würde. Sollte die Verfassungsbeschwerde hingegen abgewiesen werden, könne das Bundesinnenministerium durch dienstliche Weisung verhindern, dass sich erneut ein ähnlicher Fall ereigne. Nach dem Elfes-Fall sind wohl tatsächlich kaum noch Passverweigerungen aus politischen Gründen ausgesprochen worden; vgl. Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005, S. 210 f. 471  Insoweit ist eine „strukturelle Ähnlichkeit“ zu Marbury vs. Madison erkennbar: In beiden Fällen ging das jeweilige Gericht „über die Lösung des Falles weit hinaus; in beiden Fällen hatte das Gericht Benachteiligungen von Gegnern der jetzigen Regierung zu beurteilen; und in beiden Fällen verloren im Ergebnis die Gegner der Regierung“; Henne, ebd., S. 210. 472  BVerfGE 6, 32 (34 f.); zur Gegenmeinung Fiedler, BVerfGE 6, 32 – Elfes, 2000, S. 82. 473  Vgl. Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, 1953. 474  Siehe auch unter C. I. 2. 470  Zu

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schütze.475 Mit dem so begründeten Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht war der Grundrechtskatalog zu einem „lückenlosen“ Anspruchssystem im Sinne von Dürig und Wintrich geworden.476 Wintrich selbst hat die Entscheidung noch im selben Jahr in diesem Sinne interpretiert.477 In einem zweiten Schritt definierte das Bundesverfassungsgericht die in Art. 2 Abs. 1 GG genannte Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ – entgegen der Vorstellung unter anderem des Bundesgerichtshofs, der hierunter nur die „elementaren Verfassungsgrundsätze“ fassen wollte –478 als die allgemeine, mit den formellen und materiellen Normen der Verfassung in Einklang stehende Rechtsordnung.479 Damit war natürlich die Frage aufgeworfen, inwiefern die zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt umfunktionierte Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber überhaupt noch materielle Bindungen aufzuerlegen vermochte.480 Um ein ‚Leerlaufen‘ der Grundrechtsbindung zu verhindern,481 rekurrierte das Bundesverfassungsgericht dann auf die „verfassungsrechtliche Wertordnung“ die es unter maßgeblicher Beteiligung von Wintrich als Berichterstatter bereits im KPD-Urteil eingeführt hatte:482 Gesetze sind nicht schon dann „verfassungsmäßig“, wenn sie formell ordnungsgemäß ergangen sind. Sie müssen auch materiell in Einklang mit den obersten Grundwerten der freiheitlich demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen […]483

Die „Wertordnung“ des Elfes-Urteils als Grenze des Gesetzgebers war allerdings noch auf wesentliche Verfassungsgrundsätze wie die Menschenwürde oder den Wesensgehalt der „geistigen, politischen und wirtschaftlichen Freiheit des Menschen“ beschränkt, suchte indes – wie die folgende Prüfung des Gerichts deutlich macht –484 bereits nach weitergehenden Bindungen. So prüfte das Bundesverfassungsgericht, ob die Fachgerichte bei der Anwendung des Passgesetzes „spezifisches Verfassungsrecht“ verletzt hatten, legte dabei aber einen sehr großzügigen Kontrollmaßstab an. 475  BVerfGE

6, 32 (36). Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 181; dazu Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 131. 477  Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 26 ff. 478  Vgl. BGH, DVBl. 1953, 471 (473 f.); BGHSt 7, 222 (227); 9, 285 (286). 479  BVerfGE 6, 32 (38). 480  Kritisch zur Rspr. Scholz, Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Teil 1), 1975, S. 84 f. 481  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 224. 482  BVerfGE 5, 85 (139 f.). 483  BVerfGE 6, 32 (41). 484  BVerfGE 6, 32 (42 ff.). 476  Dürig,



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Dieser ließ die fachgerichtlichen Entscheidungen vor allem in ihren Tatsachenbewertungen unangetastet, weshalb im Ergebnis ein Verfassungsverstoß verneint wurde.485 Den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeine „Schranken-Schranke“486 entwickelte das Bundesverfassungsgericht erst im folgenden Apotheken-Urteil.487 Mit der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeines Auffanggrundrecht eröffnete sich das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, im Rahmen der Verfassungsbeschwerde jede freiheitsbeschränkende staatliche Maßnahme als Grundrechtsproblem zu behandeln und auf ihre Vereinbarkeit auch mit anderen objektiven Normen des Grundgesetzes zu prüfen.488 Im Elfes-Urteil gelang dem Gericht damit die „Umwandlung der Verfassungsbeschwerde von einem Verfahren, das dem subjektiven Grundrechtsschutz dient, zu einem Verfahren, das [auch] die Wahrung des objektiven Verfassungsrechts bezweckt“.489 Hierfür ist das Bundesverfassungsgericht teilweise deutlich kritisiert worden;490 das damit begründete Funktionssystem eines lückenlosen, auch das objektive Verfassungsrecht einschließenden Grundrechtsschutzes hat sich aber mittlerweile durchgesetzt.491 Die weite Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG war somit nicht nur ein maßgeblicher Schritt zum Ausbau verfassungsrechtlicher Gewährleistungen in Bereichen, die von 485  BVerfGE

6, 32 (43 f.). Begriff Pieroth et al., Grundrechte – Staatsrecht II, 2014, Rn. 285. 487  Im Folgenden unter B. II. 4. e). 488  BVerfGE 6, 32 (41): „Verfahrensrechtlich bedeutet das: Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.“ Nach einer Erhebung für das Jahr 1967 gehört Art. 2 GG hinter dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG und den prozessualen Rechten zu den Grundrechten, deren Verletzung in Verfassungsbeschwerden am häufigsten gerügt wird; Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S. 173. Neue Erhebungen, die nach den gerügten Grundrechtsverletzungen differenzieren, liegen – entsprechend einer Auskunft, die der Verf. von der Direktion des Bundesverfassungsgerichts erhielt – nicht vor, könnten aber mittels der vorhandenen Datensätze technisch erstellt werden. 489  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 183. 490  Vgl. etwa Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 83  f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 426 ff.; weitere Nachweise bei Fiedler, BVerfGE 6, 32 – Elfes, 2000, S. 79. 491  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 120. Es wird heute unter anderem auch damit begründet, dass mit ihm Schutzlücken – etwa zulasten von (Nicht-EU-)Ausländern, denen die unmittelbare Berufung auf Deutschengrundrechte wie Art. 9 und 12 GG verwehrt ist – vermieden werden können und zugleich jeder staatliche Eingriff in die Freiheitssphäre der Bürger den (objektiven) Vorgaben der Verfassung, vor allem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, entsprechen muss; Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG, S. 43 f. m. w. N. 486  Zum

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

anderen Grundrechten nicht erfasst sind. Sie fungierte zugleich als Instrument, um die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts, nicht zuletzt gegenüber den Fachgerichten, auszubauen und damit seine Deutungsmacht in ihrer praktischen Durchsetzung zu erweitern und zu festigen. In seiner Entscheidung zur Strafbarkeit der männlichen Homosexualität vom Mai 1957 stellt der Senat dann erstmalig einen Zusammenhang zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG her, in deren Verbindung der „engste Bereich der menschlichen Freiheit“ geschützt werde.492 Auf diesem Weg wurde die Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Sphärentheorie gelegt. Der Beschluss selbst hatte allerdings verheerende Wirkung, weil er unter Bezugnahme auf das „Sittengesetz“ in Art. 2 Abs. 1 GG der staatlichen Verfolgung und Bestrafung von Schwulen in der Bundesrepublik Deutschland eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung verschaffte.493 Die Entscheidung blieb der einzige Fall in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in welchem es sich auf die Schranke des „Sittengesetzes“ stützte. Denn wie im Elfes-Urteil entschieden wurde, war die „verfassungsmäßige Ordnung“ in der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG so auszulegen, dass sie alle mit der Verfassung in Einklang stehenden Normen erfasste. Damit wurde die Berufung auf das Sittengesetz in der weiteren Rechtsprechung hinfällig.494 Auch hier war die Judikatur zum umfassenden Verständnis des Grundrechtsschutzes wegweisend: Waren es ab nun die Grundrechte, an deren Wertungen sich das einfache Recht auszurichten hatte, so konnten diese jedenfalls nicht durch die in der Bevölkerung herrschende Sittenmoral relativiert werden.

492  BVerfGE

6, 389 (433). Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, 1998, S. 56. Das Homosexualitätsverbot des § 175 StGB wurde in der Zeit nach der Bundesverfassungsgerichtentscheidung „in einer häufig verkannten Intensität durchgesetzt; zwischen 1950 und 1965 kam es zu 44.231 Verurteilungen, viermal so viele wie in der Weimarer Republik, was für die Betroffenen mangels der in § 175 StGB nicht vorgesehenen Geldstrafe eine Haftstrafe bedeutete“; ebd., S. 27 f. Erst im Jahr 1969 endete mit der Umwandlung des § 175 StGB in eine Jugendschutzvorschrift die generelle Strafbarkeit männlichen homosexuellen Verhaltens. Erst 1994 veranlasste die Erkenntnis der fehlenden „Jugendgefährlichkeit“ von Homosexualität die Politik zur vollständigen Abschaffung der Vorschrift. Zur Entscheidung siehe auch MüllerTerpitz, BVerfGE 6, 389 – Homosexuelle, 2000; ausführlich Schäfer, „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182 a. F. StGB), 2006; zur Geschichte der ‚homosexuellen Emanzipation‘ instruktiv Stümke, Homosexuelle in Deutschland, 1989. 494  Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 56, Rn. 40; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 2 Abs. 1, Rn. 60; Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 2011, Art. 2, Rn. 99; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 2014, Art. 2 Rn. 15. 493  Vgl.



II. Der Bruch mit dem Positivismus141

c) Der Beschluss zur steuerlichen Zusammenveranlagung von Eheleuten vom 7. Mai 1957 Das Fundament für ein Verständnis der Grundrechte als objektiv-rechtliche Normen und zugleich als rechtlicher Ausdruck von „Werten“ legte der Erste Senat nicht – wie oft angenommen wird – erst im Lüth-Urteil, sondern ein Jahr früher in seinem Beschluss vom Januar 1957 zur Haushaltsbesteuerung (Zusammenveranlagung) von Eheleuten.495 Dieser erging auf eine konkrete Normenkontrollvorlage des Finanzgerichts München.496 Gerade in methodischer Hinsicht hat der Beschluss wichtige Grundsätze aufgestellt, weshalb er zu den weichenstellenden Entscheidungen des Ersten Senats gehört, auch wenn ihn die Literatur heute neben den anderen hier analysierten Entscheidungen eher am Rande wahrnimmt.497 Das Gericht hatte die Verfassungsmäßigkeit des § 26 des Einkommenssteuergesetzes (EStG) von 1951 zu prüfen, der vorsah, dass Ehegatten zusammen veranlagt wurden, solange beide unbeschränkt steuerpflichtig waren und nicht dauernd getrennt lebten. Folge dieser Regelung im Zusammenhang mit dem progressiven Besteuerungstarif war, dass berufstätige Eheleute, deren Einkommen zusammengerechnet wurde, erhebliche finanzielle Nachteile durch höhere Steuersätze gegenüber der Einzelbesteuerung erlitten.498 Hinter dieser Regelung standen restaurative Tendenzen in der Familiengesetzgebung der Regierung Adenauer, deren Ziel es war, entsprechend dem überkommenden Rollenbild des Mannes als Familienernährer die Frau ‚zurück an den Herd‘ zu holen. In der Folge der im Gesetzgebungsverfahren und in der Öffentlichkeit geführten Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des § 26 EStG 1951 kam es nach dessen Inkrafttreten zu einer Reihe von Klagen vor den Finanzgerichten und zu konkreten Normenkontrollvorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG durch verschiedene Finanzgerichte.499 Dabei wurde zwar mehrheitlich ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 GG beziehungsweise Art. 6 Abs. 1 GG wegen der benachteiligenden Wirkungen der Haushaltsbesteuerung angenommen, die verfassungsrechtliche Begründung erwies sich allerdings als schwierig. Ein Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz 495  BVerfGE

S. 50.

496  BVerfGE

6, 55; siehe auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007,

6, 55. etwa Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 216 ff.; Henne, „Von 0 auf Lüth in 6 ½ Jahren“, 2005 sowie die Beiträge in Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011. 498  BVerfGE 6, 55 (67). 499  Überblick bei Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz – Kommentar, Bd. 1, 1957, Art. 6 Anm. III 7, S. 269. 497  Vgl.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

nach Art. 3 Abs. 2 GG schied bei näherer Prüfung nach dem damaligen Stand der Grundrechtsdogmatik aus, da die Regelung nicht unmittelbar an das Geschlecht anknüpfte. Das notwendige Instrumentarium um derartige faktische Geschlechterdiskriminierungen zu erfassen, hat das Bundesverfassungsgericht erst über 35 Jahre später Anfang der 1990 Jahre, angefangen mit der Nachtarbeitsentscheidung, entwickelt.500 Obwohl die Regelung des EStG 1951 eine klare Benachteiligung von Eheleuten gegenüber unverheirateten Paaren und anderen Personen, die einen gemeinsamen Haushalt führten, darstellte, konnte auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG auf dem Stand der herrschenden Grundrechtsdogmatik damals kaum begründet werden. Die Grundrechtsnorm übernahm im Wesentlichen den Inhalt der Abs. 1 und 2 des Art. 119 WRV. In der Weimarer Grundrechtsdogmatik war der objektiv-rechtliche Charakter des Ehegrundrechts zwar zuletzt weitgehend anerkannt, allerdings hauptsächlich in der zunächst von Carl Schmitt501 entwickelten Funktion als Einrichtungs- beziehungsweise Institutsgarantie.502 In diesem Sinne schützte Art. 6 Abs. 1 GG – ebenso wie Art. 119 WRV – nur einen „Normkern des Ehe- und Familienrechts“, der durch die steuerrechtlichen Regelungen evident nicht tangiert wurde.503 Darüber hinaus war – ausgehend unter anderem von Smend504 – anerkannt, dass die Norm als Auslegungsregel für die Anwendung des einfachen Rechts fungierte. Zwar wurde schließlich auch für Art. 119 WRV angenommen, dass dieser positive Richtlinien für die Gesetzgebung aufstellte, diese Funktion des Grundrechts wurde aber in positivistischer Tradition als nicht justiziabel angesehen; weder sollten hieraus Rechtspositionen ableitbar sein noch sollte ihm insofern gegenüber dem Gesetzesrecht derogierende Wirkung zukommen.505 Dennoch erkannte der Erste Senat in § 26 EStG 1951 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG. Dabei ging er – erkennbar in Anlehnung an die Kommentierung von Friedrich Klein in dem nach dem Tod von Mangoldts fortgeführten Kommentar zum Bonner Grundgesetz506 – davon aus, dass Art. 6 500  Zusammenfassung der Rechtsprechungsentwicklung bei Wrase / Klose, Gleichheit unter dem Grundgesetz, 2011, Rn. 7 ff. 501  Siehe oben unter B. I. 2. b) aa). 502  Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, 1933, Art. 119, S. 559 f. 503  So BVerfGE 6, 55 (72). 504  Siehe oben unter B. I. 2. b) bb). 505  Vgl. Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, 1933, Art. 119, S. 560. 506  Klein maß den Grundrechten nicht nur die ‚klassische‘ subjektive Abwehrfunktion bei und entnahm ihnen objektive Institutsgarantien. Als dritte und neue Kategorie führte er – in, allerdings zurückhaltender Bezugnahme auf Ulrich Scheuner – die von ihm als solche bezeichneten „Grundsatznormen“ ein. In der Haushaltsbesteuerung von Eheleuten nach dem EStG 1951 erkannte Klein einen Verstoß gegen



II. Der Bruch mit dem Positivismus143

Abs. 1 GG nicht nur eine Bestimmung „im Sinne der klassischen Grundrechte“ ist, die dem Schutz der Privatsphäre von Ehe und Familie vor äußerem Zwang durch den Staat dienen soll und darüber hinaus eine Instituts- oder Einrichtungsgarantie umfasst. Das Grundrecht sei zugleich eine „wertentscheidende Grundsatznorm“.507 Wie andere Verfassungsnormen und Grundrechte auch erfülle Art. 6 Abs. 1 GG „mehrere Funktionen, die miteinander verbunden sind und ineinander übergehen“. Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung sei es, diese verschiedenen Funktionen zu erschließen. Dabei sei derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfalte, wobei sich das Gericht für diese Auslegungsmaxime ausdrücklich auf Richard Thoma beruft.508 In der entsprechenden Passage der Entscheidungsbegründung, die sich wie ein „grundrechtsdogmatisches Arbeitsprogramm für die Verfassungsjudikatur der folgenden Jahrzehnte liest“, begründete das Gericht im Kern seine multifunk­ tionale Grundrechtsdogmatik und sein Methodenverständnis, wonach in der Rechtsprechung die jeweiligen Grundrechtsfunktionen dogmatisch so zu entfalten sind, dass ihnen größtmögliche juristische Wirksamkeit zukommt.509 Dafür allerdings, dass sich das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle gerade auf Thoma berief, gaben dessen theoretische Überlegungen eigentlich wenig Anlass. Vielmehr entnahm das Gericht der statuierten Auslegungsmaxime eine material freiheitsorientierte Dynamik, die sie bei Thoma nicht hatte. Die hinter der Auslegungsmaxime stehende Intention Thomas war allein dagegen gerichtet gewesen, den Grundrechten nur programmatischen Charakter zuzuerkennen, wobei er – entgegen der antipositivistischen Richtung und ganz anders als das Bundesverfassungsgericht – einer engen und formalen Interpretationsmethode verpflichtet geblieben war.510 Das Bundesverfassungsgericht hingegen verbindet nun den Auslegungsgrundsatz mit einem materialen Grundrechtsverständnis und gibt ihm damit eine Bedeutung, die Thoma ihm ausdrücklich nicht hatte beimessen wollen.511 die objektivrechtliche Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG; siehe Mangoldt / Klein, GG Kommentar, 1957, Vorbem. A I 4, S. 87 f.; Art. 6 Anm. III 7, S. 269; den maßgeblichen Einfluss von Klein konstatiert auch Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 899. 507  BVerfGE 6, 55 (71 f.). 508  BVerfGE 6, 55 (72). 509  Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 51. Zum multifunktionalen Grundrechtsverständnis ausführlich unter D. I. 510  Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, 1929, insbesondere S. 3 ff., 50 ff. 511  Siehe ebd., S. 13: „Ein grober Irrtum wäre es, zu unterstellen, die behauptete Auslegungsregel könne auf die Streitigkeiten über den speziellen Inhalt einer bestimmten Grundrechtsnorm angewendet werden. Davon kann keine Rede sein!“; vgl, auch Cremer, Regeln der Konventionsinterpretation, 2006, Rn. 41; zur Ablehnung

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Unter der so entwickelten methodischen Prämisse größtmöglicher Wirksamkeit entnahm der Erste Senat im Haushaltsbesteuerungsbeschluss dem Art. 6 Abs. 1 GG als „wertentscheidender Grundsatznorm“ neben der Abwehr- und Institutsgarantie weitere Gewährleistungen. Positiv enthalte die Norm die Aufgabe für den Staat, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern, negativ enthalte sie das Verbot, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen.512 Für das vorliegende Problem, die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 26 EStG 1951, sei die Wirkung des Art. 6 Abs. 1 GG als Schutznorm maßgebend, da die Zusammenveranlagung von Eheleuten den Grundsatz der Individualbesteuerung zum Nachteil der im Ehestand lebenden durchbreche. Es handle sich somit um einen „störenden Eingriff“ in die Ehe.513 Dies führte das Bundesverfassungsgericht dann zu einer eingehenden Prüfung, ob die benachteiligenden Wirkungen der gemeinsamen Veranlagung im progressiven Steuersystem gerechtfertigt werden konnten. Das Gericht verneinte dies aber sowohl mit Blick auf die erhöhte Leistungsfähigkeit der Eheleute aufgrund gemeinsamer Haushaltsführung als auch den Charakter der Ehegemeinschaft allgemein.514 Dem sogenannten „Edukationseffekt“, das heißt dem Ziel, durch die erhöhte steuerliche Belastung eine Berufstätigkeit der Ehefrau unattraktiv zu machen, hielt das Bundesverfassungsgericht im Sinne einer einheitlichen Verfassungsauslegung515 die Wert­ entscheidung des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG entgegen. Das Grundgesetz gehe davon aus, dass die Gleichberechtigung mit dem Schutz von Ehe und Familie vereinbar sei, sodass auch die Gesetzgebung nicht von einem Widerspruch beider Prinzipien ausgehen dürfe. Zur Gleichberechtigung der Frau gehöre, dass sie die Möglichkeit habe, mit gleichen rechtlichen Chancen marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen wie jeder männliche Staatsbürger. Das schließe es aus, die Erwerbstätigkeit der Ehefrau als „ehezerstörend“ zu werten und damit in die Entscheidungsfreiheit der Eheleute über die Gestaltung ihrer Ehe einzugreifen.516 Dem Beschluss, der sich in die maßgeblich durch die Richterin Erna Scheffler517 mitgeprägte frühe Rechtsprechung zur Geschlechtergleichheit der vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommenen dynamischen Interpretationskompetenz durch Thoma siehe oben unter B. II. 3. b) aa). 512  BVerfGE 6, 55 (76). 513  BVerfGE 6, 55 (77). 514  BVerfGE 6, 55 (77 ff.). 515  Zum Auslegungsgrundsatz von der Einheit der Verfassung ausführlich unter C. I. 4. b). 516  BVerfGE 6, 55 (81 f.). 517  Zu Erna Scheffler siehe oben unter B. II. 2. b).



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einordnet,518 wird heute nicht immer die Würdigung zuteil, die er als zentraler Beitrag zur methodischen Entwicklung im Bereich der Grundrechtsauslegung verdient hat. Das betrifft einerseits das Verständnis der Grundrechte als wertentscheidender (sprich: materialer) Grundsatznormen, denen neben der Abwehrfunktion unterschiedliche (Gewährleistungs-)Funktionen zu entnehmen sind. Darüber hinaus betrifft es die problembezogene Auslegung der Norm im Sinne bestmöglicher juristischer Wirkungskraft sowie die im Sinne der Einheit der Verfassung zu berücksichtigende gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher Grundrechtsgehalte, vorliegend den Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG und die Geschlechtergleichheit nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. Über das mit dem Konzept der Grundrechte als objektive Grundsatznormen und dem Wertebezug begründete materiale Grundrechtsverständnis bestand im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts bald ein übergreifender Grundkonsens unter den Richtern. Auf dieser Basis ließen sich offenbar sehr unterschiedliche Wertüberzeugungen und theoretische Konzepte miteinander verbinden, deren Pole die von der katholischen Sozialethik beeinflusste Wertekonzeption Wintrichs auf der einen und sozial-emanzipatorische Überzeugungen von Richtern wie Scheffler und Drath auf der anderen Seite bildeten. Während Wintrich Antworten auf die Frage der sozialen Gebundenheit von menschlicher Freiheit in einem ethisch-philosophisch zu ermittelnden „Menschenbild“ suchte, waren es für den maßgeblich von der geisteswissenschaftlichen Methode Smends und der wirklichkeitswissenschaftlichen Methode Hellers geprägten Drath die „soziale Wirklichkeit und Wirksamkeit“, an denen sich die Verfassungsrechtswissenschaft rechtssoziologisch orientieren sollte.519 d) Das Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 Der nächste Schritt war grundrechtstheoretisch ein Quantensprung. Das Lüth-Urteil vom Januar 1958 ist sicher eine der bedeutendsten, wenn nicht gar die herausragende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten.520 Nach Ansicht von Grimm handelt es sich um ein Urteil, „dessen Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann“521, Jestaedt bezeich518  Vgl. Wrase, Gleichheit unter dem Grundgesetz und Antidiskriminierungsrecht, 2006, Rn.  4 ff. 519  Vgl. Drath, Zur Soziallehre und Rechtslehre vom Staat (1952), 1977; zum methodologischen Vorverständnis Draths siehe oben unter B. II. 2. c). 520  BVerfGE 7, 198 – Lüth, siehe dazu die Beiträge in Henne / Riedlinger, Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005. 521  Grimm, Die Verfassung und die Politik – Einsprüche in Störfällen, 2001, S. 203.

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net es als die „berühmteste Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts, die „Bahnbrechendes“ zur Wirkung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis entschieden hat.522 Stolleis nennt sie gar einen „zentralen Referenzpunkt der Juristischen Zeitgeschichte der Bundesrepublik“, einen „‚Urknall‘ der Expansion materieller Verfassungsgehalte“.523 Keine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erreicht, wie R. Wahl meint, „den Glanz, den Bekanntheitsgrad und die Hochschätzung des Lüth-Urteils. Die Entscheidung ist der Klassiker des Gerichts schlechthin, es ist das Urteil, an das man zuerst denkt, wenn man vom Bundesverfassungsgericht spricht.“524 Grund für die Hochschätzung ist nicht allein die Entscheidung selbst, die ein ‚juristisches‘ Kapitel der Liberalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft eröffnete. Es ist vor allem die in der Entscheidung vollzogene Weichenstellung, welche die bundesdeutsche Grundrechtsdogmatik nicht nur im Bereich der Meinungsfreiheit bis heute entscheidend geprägt hat. Es ist nicht überraschend, dass dieses Urteil, ebenso wie die ApothekenEntscheidung wenige Monate später,525 von Theodor Ritterspach als Berichterstatter vorbereitet wurde.526 Ritterspach war ein herausragender Stilist, der ein hohes theoretisches Verständnis mit der Problemsicht des Praktikers verband. Vor allem aber verfügte er wie kaum ein anderer im Gericht über die Fähigkeit, zwischen den unterschiedlichen Polen und Ansichten vermittelnde und damit allgemein konsentierte Lösungen zu entwickeln.527 So wurden im Lüth-Urteil die im Beschluss zur Haushaltsbesteuerung und im Elfes-Urteil entwickelten Grundlinien eines objektiven und wertbezogenen (materialen) Verständnisses der Grundrechte zu einer allgemeinen Theorie der Grundrechte als objektive Rechte zusammengeführt.528 Der Hintergrund des Verfahrens ist mittlerweile (rechts)historisch gut aufgearbeitet.529 Veit Harlan, Regisseur des Films „Jud Süß“, der – auf 522  Jestaedt,

Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 93. Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 226. 524  Wahl, Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, 2005, S. 374. 525  BVerfGE 7, 377; dazu im Folgenden unter B. II. 4. e). 526  Das von Ritterspach verfasste Votum ist bis heute für die Öffentlichkeit nicht einsehbar; hierzu Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 5 f., der als Richter des Bundesverfassungsgerichts das Privileg hatte, das Votum einzusehen. Zur Kritik an der Praxis der Nichtveröffentlichung der Voten aus (rechts-)historischer Sicht Henne, Die historische Forschung und die Einsichtnahme in Voten beim Bundesverfassungsgericht – Thesen zur Rechtslage, 2005. 527  So die Charakterisierung Ritterspachs durch den späteren Präsidenten und Vorsitzenden des Ersten Senats Ernst Benda, wiedergegeben in Pressemitteilung Nr. 56 / 99 des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Mai 1999 zum Tode Ritterspachs. 528  Vgl. auch Wahl, Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, 2005. 523  Stolleis,



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Veranlassung von Reichspropagandaminister Goebbels gedreht – der propagandistischen Rechtfertigung der Judenverfolgung diente, knüpfte Anfang der 1950er Jahre an seine frühere Regietätigkeit an und brachte mit Unterstützung verschiedener Produktions- und Verleihfirmen in kurzer Folge mehrere Unterhaltungsfilme auf die Leinwände der deutschen Kinos. Erich Lüth, Senatsdirektor in Hamburg und Vorsitzender des Hamburger Presseclubs, hielt darauf anlässlich der „Woche des Deutschen Films“ im September 1950 eine Ansprache, in der er davor warnte „den Drehbuchverfasser und Regisseurs des Film ‚Jud Süß‘ “ als Repräsentanten des deutschen (Nachkriegs-)Films herauszustellen. Die Verleiher und Filmtheaterbesitzer forderte er auf, „Charakter“ zu zeigen, womit erkennbar gemeint war, dass diese die neuen Filme von Harlan nicht zeigen sollten.530 Die Filmfirmen von Harlan erwirkten gegen Lüth zunächst eine einstweilige Verfügung und – diesem folgend – ein Unterlassungsurteil, mit dem Lüth untersagt wurde, seine Äußerungen öffentlich zu wiederholen.531 529

Gegen die Aufführung von Harlans Filmen regten sich unterdessen auch öffentliche Proteste, die teilweise – wie in Freiburg – zu Ausschreitungen und gewaltsamen Polizeieinsätzen gegen die Protestierenden führten. Hingegen nahm der Großteil der Bevölkerung an der Auseinandersetzung keinen Anteil; die Filme Harlans „Die unsterbliche Geliebte“ und „Die Sünderin“ wurden vielmehr wieder zu Erfolgen an den Kinokassen.532 Unterstützung erhielt Lüth hingegen von demokratischen Intellektuellen und vor allem von SPD-Politikern. Die Verfassungsbeschwerde Lüths wurde vom SPD-Justiziar Adolf Arndt vertreten und von einer Reihe prominenter Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft unterstützt; Arndt setzte dabei bewusst auf die Information und Aktivierung der Öffentlichkeit, mit der er die Aufmerksamkeit der Presse weckte.533 Die bereits gegen das erstinstanzliche Urteil des Henne / Riedlinger, Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005. April 1950 war Harlan von der Schwurgerichtskammer des Hamburger Landgerichts wegen „Nötigungsnotstands“ vom Vorwurf der Mitwirkung am Völkermord freigesprochen worden. Er hatte vorgebracht, die Nationalsozialisten hätten seine Kunst missbraucht und ihn zur Regie von „Jud Süß“ gezwungen, was das Hamburger Gericht als nicht widerlegbar betrachtete; ausführlich Riedlinger, Vom Boykottaufruf zur Verfassungsbeschwerde – Erich Lüth und die Kontroverse um Harlans Nachkriegsfilme (1950–58), 2005, S. 148 ff. 531  Im Einzelnen ebd., S. 159 ff. 532  Vgl. dazu ebd., S. 152: „Der überwiegende Teil des Kinopublikums, das auch jetzt wieder in großer Zahl in Harlans Filme strömte, bezog dabei nicht explizit ‚geschichtspolitisch‘ Stellung, vielmehr wurde Harlans – vermeintlich unpolitische – Rolle als großer Künstler betont.“ 533  Vgl. dazu ebd., S. 176 ff. In seinem Schriftsatz betonte Arndt besonders die Bedeutung, der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit zukommen würde: „Für die Allgemeinheit und die Gesamtentwicklung einer 529  Vgl. 530  Im

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Landgerichts Hamburg eingelegte Verfassungsbeschwerde, in welcher Lüth eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG durch die Gerichtsentscheide rügte, wurde vom Ersten Senat im April 1952, das heißt vor Erschöpfung des Rechtswegs, zur Entscheidung angenommen.534 Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sollten dann jedoch sechs Jahre vergehen.535 aa) Sich zuspitzende Entwicklungen Die wesentlichen Fragen der Entscheidung waren dabei durch zwei Entwicklungen vorgezeichnet. Das Problem der Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht hatte sich schon früh zu einem „grand thème“ der Staatsrechtslehre entwickelt.536 Dabei vertrat vor allem der Arbeitsrechtler Carl Nipperdey – durchaus mit wechselnden Begründungen – prominent die Auffassung einer unmittelbaren Geltung der Grundrechte auch in Privatrechtsverhältnissen.537 Als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts trieb er diese Lehre in der frühen Rechtsprechung seines Gerichts und damit der Arbeitsgerichtsbarkeit insgesamt voran.538 Hinzu kam, dass sich insbesondere der Bundesgerichtshof gegenüber der Einmischung des Bundesverfassungsgerichts in seine Rechtsprechung teilweise widersetzt und – wie gesehen – im Gutachtenstreit sogar versucht hatte, über die Abgabe von ausführlichen Gutachten bei Normenkontrollvorlagen unterinstanzlicher Gerichte die Entwicklung der Grundrechtsjudikatur in bestimmte Richtungen zu lenken.539 Das Bundesverfassungsgericht sah sich also dem doppelrechtsstaatlichen Demokratie in Deutschland wird es von geschichtsbildender Bedeutung sein, ob Lüth sagen durfte, was er gesagt hat, oder ob ihm der Mund verboten werden durfte“, ebd., S. 179. 534  Vgl. dazu ebd., S. 181. 535  Dies mag einerseits daran liegen, wie Böckenförde vermutet, dass dem Senat die grundlegende Bedeutung des Verfahrens bewusst war; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 4 (Fn. 11). Andererseits war der Erste Senat in dieser Zeit wegen der unerwartet vielen eingehenden Verfassungsbeschwerden so überlastet, sodass die Verfahrensdauer nicht unbedingt außerhalb des Üblichen lag; darüber hinaus kam es 1956 mit dem Ausscheiden von Konrad Zweigert zu einem Wechsel des Berichterstatters, infolgedessen Ritterspach diese Funktion übernahm. 536  Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 1518 f. mit umfangreichem Nachweis der Literatur. 537  Zusammenfassend Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“ – Privatrechtsmethode und Privatrechtskonzeption bei Hans Carl Nipperdey (1895–1978), 2007, S.  196 ff., 201 ff. 538  Vgl. BAGE 1, 185 (163 f.); BAG NJW 1957, 1688; weitere Nachweise bei ebd., S. 199. 539  Oben unter B. II. 3. c).



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ten Druck ausgesetzt, nicht nur in der Drittwirkungsfrage Stellung zu beziehen, sondern auch sein Verhältnis zu den Fachgerichten und ihrer Judikatur zu akzentuieren. Vor diesem Hintergrund ist die Grundsätzlichkeit erklärbar, mit der das Gericht im Lüth-Urteil die Vorrangstellung des Verfassungsrechts und der Grundrechte in allen Bereichen der Rechtsanwendung begründete.540 Die zweite Entwicklung war im Fall selbst angelegt. Die Zivilgerichte hatten den Unterlassungsanspruch der Filmfirmen, die Harlans Film produzierten beziehungsweise verliehen, nach § 826 BGB auf die Sittenwidrigkeit von Boykottaufrufen gestützt, eine Fallgruppe, die sich nicht ohne Grund in der Weimarer Zeit entwickelt hatte, in der politisch motivierte Boykottaufrufe der radikalen Linken wie Rechten, besonders der Nationalsozialisten gegenüber jüdischen Geschäftsleuten, keine Seltenheit waren. Gegen diese Rechtsprechung gab es grundsätzlich auch unter dem Grundgesetz nichts einzuwenden. Hingegen ging es im Fall von Lüth um einen rein geistigen Meinungskampf in einer für die junge Demokratie der Bundesrepublik essentiell wichtigen Frage, der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beziehungsweise Verstrickung von Gesellschaftseliten in die nationalsozialistische Herrschaft.541 Die moralische Aufrichtigkeit und demokratische Motivation Lüths war nicht anzuzweifeln. Die grundrechtliche ‚Lösung‘ konnte vor diesem Hintergrund nur auf einer problembezogenen Ebene der Güterabwägung gefunden werden.542 Genau in diesem Sinne argumentierte der Verfahrensbevollmächtigte Arndt im Schriftsatz der Verfassungsbeschwerde, der von dem Smend-Schüler Hennis vorbereitet worden war. Wie Gosewinkel bemerkt, versuchten die Schriftsätze Arndts bewusst, dem Bundesverfassungsgericht „Impulse einer neuen, extensiven Auslegung der Meinungsfreiheit zu geben“.543 Zum Ausgangspunkt nahm die Begründung der Verfassungsbeschwerde die wertorientierte Betrachtung Smends, wonach die Schranke der „allgemeinen Gesetze“, die Art. 5 Abs. 2 GG aus Art. 118 WRV übernommen hatte, eine Abwägung zwischen dem durch das einschränkende Gesetz geschützten Gut und der Meinungsfreiheit erforderte.544 Über Smend hinausgehend, dessen Ausführungen unter der Geltung der Weimarer Verfassung noch als durchaus relativistisch angesehen werden 540  Vgl. auch Henne / Riedlinger, Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, S.  204 f. 541  Ausführlich zur öffentlichen Kontroverse über Harlans Nachkriegsfilme Riedlinger, Vom Boykottaufruf zur Verfassungsbeschwerde, 2005 ff. 542  Vgl. dazu die zeitgleich ergangene Entscheidung BVerfGE 7, 230 – Wahlplakat im Mietshaus; sowie BVerfGE 25, 256 – Blinkfüer. 543  Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 495. 544  Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, 1928, S. 52.

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konnten,545 arbeitete Arndt dann „pointiert die enge, unauflösbare Beziehung der Meinungsfreiheit zum ‚Wesen der Demokratie‘, und zwar in ihrer freiheitlichen Ausprägung heraus“ und warf dabei das „ganze politische und moralische Gewicht des Falls Lüth in die Waagschale“, indem er erklärte, für die Allgemeinheit und die rechtsstaatliche Demokratie in Deutschland werde es „von geschichtsbildender Bedeutung sein, ob Lüth sagen durfte, was er gesagt hat, oder ob ihm der Mund verboten werden konnte“.546 bb) Die Grundlinien des Lüth-Urteils Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen können wir uns, wenn wir uns mit ein wenig Phantasie als Beobachtende in das Beratungszimmer des Ersten Senats hineinversetzen, ungefähr vorstellen, wie der Begründungsweg des Lüth-Urteils zustande gekommen ist. Konstruktiv war dieser Weg geebnet durch die von Dürig vertretene Lehre von der mittelbaren Einwirkung der Grundrechte über die Generalklauseln des Privatrechts547 ebenso wie durch das von Klein begründete und vom Bundesverfassungsgericht übernommene Verständnis der Grundrechte als objektive Grundsatznormen548 sowie die bereits auf die Weimarer Grundrechtslehre zurückgehende Lehre von den Grundrechten als Auslegungsregeln des einfachen Rechts.549 So enthält die Lüth-Entscheidung ein Bekenntnis zum Charakter der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte, geht aber gleichzeitig davon aus, dass der Grundrechtsteil des Grundgesetzes eine „objektive Wertordnung“, ein „Wertesystem“ errichtet hat, das seinen Mittelpunkt in der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Menschenwürde findet, und „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten“ muss; „Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse“: „So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürger­ liche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf im Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geist ausgelegt werden.“ Dieser „Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen“ entfaltet sich nach dem Lüth-Urteil im Privatrecht durch „das Medium der diese Rechtsgebiete unmittelbar beherrschenden Vorschriften“. Wie neues Recht unmittelbar im Einklang mit dem „grundrechtlichen Wertsystem“ stehen müsse, so werde älteres Recht „inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerich545  So betont Smend ebd., S. 53, dass die Abwägung von dem „sittlichen und kulturellen Werturteil der Zeit“ abhänge; vgl. auch oben unter B. I. 2. b) bb). 546  Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 496 f. 547  Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, 1956 ff. 548  Dazu oben unter B. II. 4. c), d). 549  Dazu Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 58.



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tet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt.“550 Auch die Normen des bürgerlichen Rechts seien „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, doch müssten sie bei der Anwendung „aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt“ werden.551 Bei der somit gebotenen „Güterabwägung“ sei zu berücksichtigen, dass durch eine Beschränkung der Redefreiheit die Gefahr bestehe, dass die „unerläßliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen […] nicht mehr gewährleistet“ sei. Daher spreche bei einem „Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage“ – um den es Lüth erkennbar ging, wie das Gericht noch im Einzelnen ausführt – eine „Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede“.552 Mit der Begründung eines Doppelcharakters553 der Grundrechte als subjektive Rechte und objektive Normen, die in das gesamte einfache Recht ausstrahlen, ging das Bundesverfassungsgericht weit über die bis dahin herrschende Lesart der Grundrechte als ‚klassische‘ Freiheitsrechte hinaus. Es entwickelte, wie Wahl es ausdrückt, eine „der Drittwirkungslehre vorausliegende Theorie der Grundrechte“,554 in der sich der negative (abwehrende) und der positive (gestaltende oder programmatische) Freiheitsbegriff im Sinne eines materialen Grundrechtsverständnisses vereinen beziehungsweise gegenseitig ergänzen.555 Über das Verständnis der Grundrechte als objektive Normen und die Theorie der Drittwirkung wurde es möglich, nicht nur die Rechtsanwendung durch die Fachgerichte im Licht der Grundrechte zu kontrollieren, sondern im Laufe der Rechtsprechungsgeschichte weitere Funktionen des Grundrechtsschutzes zu entwickeln und damit auch Handlungs-, Schutz- und Leistungspflichten des Staates aus den Grundrechten abzuleiten, was bereits im Beschluss über die steuerliche Zusammenveranlagung von Eheleuten vorbereitet worden war. Das Grundgesetz hatte damit, wie Stolleis zusammenfasst, seinen „Charakter als Gesetz abgestreift und war zum Übergesetz geworden, das theoretisch beanspruchte, jedes Rechts550  BVerfGE

7, 198 (205). 7, 198 (209 ff.). 552  BVerfGE 7, 198 (211 f.). 553  Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 279; Gostomzyk, Grundrechte als objektiv-rechtliche Ordnungsidee, 2004. 554  Wahl, Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, 2005, S. 376. 555  Vgl. Denninger, Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 163; Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 24 spricht von der „Aufhebung des Gegensatzes von Programmatik und Normativität in den objektiven Grundrechtsfunktionen“. 551  BVerfGE

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problem in ein Grundrechtsproblem umzuformulieren […] Die Grundrechte gewannen dadurch eine in der Verfassungsgeschichte bisher unbekannte Steuerungsfunktion für die ganze Rechtsordnung.“556 Die Bezeichnung als „Werte“ oder „Grundsatzentscheidungen für alle Bereiche des Rechts“ sollte in diesem Zusammenhang die impuls- und richtungsgebende Funktion der Grundrechte zum Ausdruck bringen.557 In der verfassungsgerichtlichen Judikatur fungieren seitdem Begriffe wie „objektive Normen“, „objektive Grundrechtsgehalte“ oder „Wertordnung“ als Schlüsselbegriffe558, die über das ‚klassische‘ abwehrrechtliche Verständnis hinausgehende Grundrechtsfunktionen begründen.559 „Alles geltende Recht wurde von nun an vom Verfassungsrecht durchdrungen. […] Das war ungewohnt, ja juristisch revolutionär“.560 e) Das Apotheken-Urteil vom 11. Juni 1958 In der Reihe der grundlegenden, die Dogmatik der Grundrechte begründenden Entscheidungen des Ersten Senats steht zuletzt das Apotheken-Urteil561, das als ein „Meilenstein der Verhältnisdogmatik“562 bezeichnet wird und damit für die Entwicklung materieller Schranken für Grundrechtseingriffe des Gesetzgebers von maßgeblicher Bedeutung war. Angriffsgegenstand der Verfassungsbeschwerde war Art. 3 Abs. 1 des bayerischen Apothekengesetzes (ApothG), wonach eine Betriebszulassung für die Errichtung einer neuen Apotheke nur erteilt werden durfte, wenn dies zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln im öffentlichen Interesse lag und angenommen werden konnte, dass die wirtschaftliche Grundlage der Apotheke gesichert war. Außerdem durfte die wirtschaftliche Grundlage der umliegenden Apotheken nicht soweit beeinträchtigt werden, dass die Voraussetzungen für den ordnungsgemäßen Apothekenbetrieb nicht mehr gewährleistet waren. Der Beschwerdeführer beantragte bei der Behörde die Betriebserlaubnis für eine neue Apotheke in einer Stadt mit 6.000 Einwohnern, in der sich 556  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 166. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 105 f. 558  Vgl. Denninger, Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 161 f. 559  Vgl. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1985, S. 367 ff.; Wahl, Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, 2005, S. 377, spricht von einer „sprudelnden Quelle von weiteren Grundrechtsbedeutungen“; vgl. auch Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004, Rn. 5 ff. 560  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 165. 561  BVerfGE 7, 377. 562  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 122. 557  Vgl.



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bereits eine Apotheke befand. Die Erlaubnis wurde mit der Begründung verweigert, die Errichtung der Apotheke liege nicht im öffentlichen Interesse, da die bereits vorhandene Apotheke zur Versorgung der Bevölkerung ausreiche; vor diesem Hintergrund sei die wirtschaftliche Grundlage der neuen Apotheke nicht gesichert und die wirtschaftliche Grundlage der bereits bestehenden Apotheke durch die Neuzulassung gefährdet.563 Das Bundesverfassungsgericht beginnt in seiner Entscheidungsbegründung die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Art. 3 Abs. 1 ApothG mit grundlegenden Ausführungen zum Grundrecht der Berufsfreiheit. So geht das Gericht von einem denkbar weiten Berufsbegriff als Grundlage personaler Lebensgestaltung aus. Unter Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG fasst es grundsätzlich „jede Tätigkeit“, die jemand zur „Grundlage seiner Lebensführung“ macht, unabhängig davon, ob diese selbständig oder unselbständig ausgeübt wird, ob der Beruf „staatlich gebunden“ oder „frei“ ist.564 Damit verlagert sich die zentrale Frage der Zulässigkeit von Beschränkungen auf die Ebene der gesetzgeberischen Regelungsbefugnis nach Art.  12 Abs.  1 Satz 2 GG. Entgegen dem Wortlaut, der einen Gesetzesvorbehalt ausdrücklich nur für die Regelung der Berufsausübung vorsieht, betrachtet das Gericht Art. 12 Abs. 1 GG als einheitliches Grundrecht, sodass der Schrankenvorbehalt auch auf Berufswahlregelungen anzuwenden ist. Hierbei stützt es sich einerseits auf den engen Zusammenhang zwischen Berufswahl und Berufsausübung und weist andererseits darauf hin, dass der Verfassungsgeber erkennbar von der Beschränkbarkeit auch der Berufswahl ausgegangen sei. Dies sieht das Gericht durch die Entstehungsgeschichte untermauert;565 darüber hinaus beruft es sich auf Stimmen in der Literatur sowie die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs.566 Bei der Prüfung der inhaltlichen Bindung des Gesetzgebers greift der Erste Senat dann die bereits aus dem Gewerberecht geläufige Unterscheidung zwischen Berufsausübung und Berufswahl jedoch wieder auf. Als problembezogene Konkretisierung entwickelt der Senat die bekannte Stufenlehre.567 Eingriffe in die Berufsfreiheit können danach entweder als Be563  Zusammenfassend Schulte zu Sodingen, BVerfGE 7, 377 – Apothekenurteil – Das Grundrecht der Berufsfreiheit und die Entwicklung der „Drei-Stufentheorie“, 2000, S.  108 f. 564  BVerfGE 7, 377 (397–399). 565  BVerfGE 7, 377 (401 f.). 566  Angeführt werden der Kommentar von Klein und von Mangoldt sowie die Doktorarbeit von Uber, Freiheit des Berufs, 1952, und aus der Rechtsprechung BVerwGE 4, 167 (169); 4, 250 (255), sowie die Vorlagegutachten des Bundesgerichtshofs BGHSt 4, 385 (391); 7, 394 (399). 567  Dazu ausführlich Breuer, Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, 1989, § 148 Rn. 6 ff.

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rufsausübungsregelungen (1. Stufe) oder als Berufswahlregelungen qualifiziert werden. Bei Berufswahlregelungen ist wiederum zwischen subjektiven (2. Stufe) und objektiven Zulassungsvoraussetzungen (3. Stufe) zu unterscheiden. Am weitesten reicht die gesetzgeberische Regelungsbefugnis bei der Berufsausübung; diese kann beschränkt werden, soweit „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls dies zweckmäßig erscheinen lassen“. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen der Berufswahl, das heißt Anforderungen an die persönliche Qualifikation des Bewerbers, sind nur zum Schutze „besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter“ gerechtsfertigt, wohingegen objektive Berufszulassungsregelungen, auf deren Erfüllung der Einzelne keinen Einfluss hat, nur zulässig sein sollen, wenn sie der Abwehr „nachweisbarer oder höchstwahrscheinlich schwerwiegender Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ dienen.568 Die vom Bundesverfassungsgericht selbst so bezeichnete „Stufentheorie“569 ist zwar verschiedentlich unter anderem wegen ihrer starren Stufeneinteilung und relativen Unbestimmtheit kritisiert worden,570 bildet aber bis heute – in leicht modifizierter und flexibilisierter Form – die Grundlage für die Prüfung von Beschränkungen der Berufsfreiheit.571 Wenn eine Einschränkung der freien Berufswahl auf der „letzten Stufe“ der objektiven Zulassungsvoraussetzungen in Frage stehe, so führt der Erste Senat in der Apotheken-Entscheidung aus, habe es zunächst zu prüfen, „ob ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut gefährdet ist und ob die gesetzliche Regelung der Abwehr dieser Gefahr überhaupt dienen kann“. Es müsse ferner prüfen, „ob gerade dieser Eingriff zum Schutz jenes Gutes zwingend geboten ist, mit anderen Worten, ob der Gesetzgeber diesen Schutz nicht mit einer Regelung auf einer vorausgehenden Stufe hätte durchführen können“.572 Damit übernimmt das Bundesverfassungsgericht das Übermaßverbot in seiner klassischen zweistufigen Ausprägung (Geeignetheit und Erforderlichkeit)573 für die Prüfung von grundrechtsbeschränkenden Gesetzen. Eine solche Übertragung hatten bereits der Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht befürwortet, allerdings „aufgrund anderer rechtlicher Konstruktionen“ im Rahmen der Wesentlichkeitsschranke des Art.  19 Abs.  2 GG.574 Unter Bezugnahme auf die Kommen­tierung 568  BVerfGE

7, 377 (405 ff.). 13, 97 (104) – Handwerksordnung. 570  Eine Zusammenfassung der Kritik findet sich bei Tettinger, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art.  12, Rn.  123 ff. m. w. N. 571  Übersicht über die Rspr. bei Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 12, Rn. 33 ff. 572  BVerfGE 7, 377 (409). 573  Vgl. dazu auch unter C. IV. 2. e). 569  BVerfGE



II. Der Bruch mit dem Positivismus155

von Klein lehnt es das Bundesverfassungsgericht jedoch ab, das Verhältnismäßigkeitsgebot in Art. 19 Abs. 2 GG zu verorten, da der Wesensgehalt eines Grundrechts nach dem Wortlaut der Vorschrift „in keinem Falle“ angetastet werden dürfe und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung diesen Kernschutz relativieren würde.575 574

Das Gericht bleibt allerdings nicht bei einer zweistufigen Lösung im Sinne der überkommenen Übermaßdogmatik stehen. Vielmehr entwickelt es Überlegungen für eine Abwägungsdoktrin, die später Grundlage für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne wird.576 So führt der Erste Senat aus: Das Grundrecht soll die Freiheit des Individuums schützen, der Regelungsvorbehalt ausreichenden Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellen. Der Freiheitsanspruch des Einzelnen wirkt, wie gezeigt wurde, umso stärker, je mehr sein Recht auf freie Berufswahl in Frage steht; der Gemeinschaftsschutz wird umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Berufsausübung der Gemeinschaft erwachsen könnten. Sucht man beiden – im sozialen Rechtsstaat gleichermaßen legitimen – Forderungen in möglichst wirksamer Weise gerecht zu werden, so kann die Lösung nur jeweils in sorgfältiger Abwägung der Bedeutung der einander gegenüberstehenden und möglicherweise einander geradezu widerstreitenden Interessen gefunden werden.577

Das Beeindruckende der konkreten Erforderlichkeitsprüfung des Art. 3 Abs. 1 ApothG ist die sorgfältige Auseinandersetzung mit den generellen Wirklichkeitsannahmen des Gesetzgebers, dessen Prognosen vom Senat genau untersucht und im Einzelnen als nicht „hinreichend wahrscheinlich“ eingestuft werden.578 So zeigt Philippi anhand des Apotheken-Urteils (sowie von drei weiteren Entscheidungen aus der Zeit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre)579, dass das Bundesverfassungsgericht in Fällen, in denen es seither Wirklichkeitsannahmen des Gesetzgebers im Einzelnen nachgeprüft hat, sich diesem bei der Auswertung empirischer Daten überlegen gezeigt hat.580 574  Vgl. BVerwGE 2, 85 (87); 4, 167 (171 f.); BGHSt 4, 375 (377); DÖV 1955, 729 (730); dazu Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte i. S. des Art. 19 GG, 1955, S.  598 f. 575  BVerfGE 7, 377 (411). 576  Dazu Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 17 ff. 577  BVerfGE 7, 377 (404 f.). 578  BVerfGE 7, 377 (415). 579  BVerfGE 7, 175 – Drei-Glocken-Anordnung; BVerfGE 11, 30 – Kassenarzturteil; BVerfGE 12, 144 – Kassenarztbeschluss. 580  Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, S. 168 ff. Die Fälle betreffen allesamt die Berufsfreiheit. In den Verfahren ging es jeweils um die verfassungsrechtliche Prüfung überkommener berufsprotektionistischer Maßnahmen, für die sich der Gesetzgeber – vermutlich unter Rücksichtnahme auf Interessen von Standes- und Berufsorganisationen – auf ungesicherte, mehr oder

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Das Gericht verweist zunächst auf Erfahrungen anderer Länder, vor allem der Schweiz, in denen schon damals volle Niederlassungsfreiheit für Apotheker bestand, ohne dass es deshalb – wie vom bayerischen Gesetzgeber behauptet – zu einer Gefährdung der Volksgesundheit durch Mängel der Arzneimittelversorgung gekommen wäre.581 Auch könne nach den Erfahrungen aus den Besatzungszonen sowie vorliegenden statistischen Daten nicht davon ausgegangen werden, dass es bei Wegfall der Zulassungsbegrenzung zu einer „uferlosen“ Vermehrung der Apotheken kommen würde, zumal die Gründung einer Apotheke hohe Investitionen voraussetze. Es sei zudem nicht ersichtlich, dass Neu-Apotheker ihre wirtschaftlichen (Gewinn-)Möglichkeiten auf dem bestehenden Markt nicht richtig einschätzen würden.582 Nach dieser Sachlage sei anzunehmen, dass sich auf die Dauer der Nachwuchs dem tatsächlichen Bedarf anpassen werde, wie es auch in der Schweiz der Fall sei. Dem Argument, die Berufsmoral der Apotheker würde durch einen zunehmenden Wettbewerb sinken, hält das Gericht die Erfahrungen bei anderen freien Berufen wie den Vertragsärzten entgegen, die keinen Niederlassungsbeschränkungen unterlagen.583 Darüber hinaus verweist es auf die Möglichkeit, den Gefahren der unvorschriftsmäßigen Abgabe von Arzneimitteln im Wege einer Berufsausübungsregelung zu begegnen, vor allem durch Arzneimittelregulierung und Berufsordnungen.584 Über die umfassende Nachprüfung der vom bayerischen Gesetzgeber vorgebrachten empirischen Annahmen und Prognosen gelingt es dem Ersten Senat in seinem Apotheken-Urteil, die Zulassungsbeschränkung für NeuApotheker als de facto berufsprotektionistische Maßnahme zu entlarven. Diese Leistung ist möglicherweise sogar höher einzuschätzen als die vom Gericht entwickelte Stufentheorie, die mit ihren sehr allgemein gehaltenen Begriffen „in beide Richtungen gehandhabt“ werden kann: „für mehr Freiheit – aber auch für mehr Eingriff“.585 Das Apotheken-Urteil hat somit die Grundlagen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gelegt, die heute den wesentlichen Prüfungsmaßstab für grundrechtsbeschränkende Gesetze darstellt. Die Festlegung unterschiedlich hoher Rechtfertigungsanforderungen entsprechend der Intensität des Eingriffs ist weniger intuitiv begründete Prognosen stützte. Anscheinend hegte die Politik damals die Erwartung, das Verfassungsgericht werde der Gesetzgebung einen nahezu unbegrenzten Spielraum für die Begründung seiner Regulierung belassen beziehungsweise deren Tatsacheneinschätzungen nicht nachprüfen. 581  BVerfGE 7, 377 (415 f.). 582  BVerfGE 7, 377 (417 ff.). 583  BVerfGE 7, 377 (429 f.). 584  BVerfGE 7, 377 (431 ff.). 585  Lecheler, Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, 1985, S. 56.



II. Der Bruch mit dem Positivismus157

die entscheidende Innovation, die zur Abwägung beziehungsweise Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn hinführt, auch wenn sie im Rahmen der Stufenlehre noch nicht vollständig entwickelt ist. Im weiteren Verlauf der Rechtsprechung wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeine Schranken-Schranke auf andere Grundrechte übertragen.586 Die ApothekenEntscheidung ist dabei geradezu ein Paradebeispiel für die Berücksichtigung und Nachprüfung von (angenommenen) Sozialwirkungen. Indem es sich gründlich mit Daten über das Apothekerwesen, den Tablettenverbrauch sowie die Entwicklung in anderen Staaten ohne Niederlassungsbeschränkung auseinandersetze, konnte das Bundesverfassungsgericht die abstrakte Gefahrenprognose des Bayerischen Gesetzgebers widerlegen oder doch zumindest so weit in Zweifel ziehen, dass sie sich als Begründung für den Eingriff in die Berufszulassungsfreiheit der Apotheker nicht mehr halten ließ. 5. Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung Ausgehend von dem ‚Urknall‘ materialer Verfassungsgehalte durch die Interpretation der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen setzte ein Prozess ein, der heute als „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ bezeichnet wird.587 Dabei nahm das Bundesverfassungsgericht auf grundrechtstheoretische und -dogmatische Ansätze der Weimarer Zeit Bezug, entwickelte diese aber im Sinne bestmöglicher juristischer Wirkungskraft fort, und zwar in einer Weise, die selbst für zeitgenössische Beobachter wohl kaum vorherzusehen war.588 Konstitutionalisierung in dem hier verwendeten Sinn bezeichnet die Überformung des gesamten einfachen Rechts durch die Gewährleistungsge586  Zur Rspr.-‚Genealogie‘: BVerfGE 8, 71 (80) – Bestimmtheit einer Rechtsverordnung; BVerfGE 17, 306 (314) – Mitfahrzentrale; BVerfGE 19, 342 – Wencker; BVerfGE 21, 150 (155) – Weinwirtschaftsgesetz; ausführlich Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 19 ff. 587  Grdl. Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 226 ff.; Bryde, Soziologie der Konstitutionalisierung, 2011. 588  Vgl auch die überaus interessante Einschätzung von Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 28: „Die spezifische Entwicklung deutscher Grundrechtstheorie läßt sich gerade aus der Verbindung der verfassungspolitischen Wendung gegen Weimar mit der Rezeption Weimarer Verfassungstheorie erklären. Für die Bundesrepublik hatte die Weimarer Vorgeschichte nämlich eine faszinierende Auswirkung. Einerseits führte sie, als (übertrieben horrifiziertes) Gegenbild zur effektiven Aufwertung der Grundrechte als unmittelbar anwendbares und justiziables Recht. Gleichzeitig aber bewirkte die Rezeption Weimarer Verfassungstheorie die verfassungsrechtliche Mobilisierung von Argumentationsmustern, die unter den Bedingungen einer justiziablen Verfassung kaum entstanden wären.“

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

halte der Grundrechte. Dieser Prozess steht in einem engen Zusammenhang mit der machtvollen Position des Bundesverfassungsgerichts,589 dem Leibholz 1952 im Statusbericht die Rolle eines unmittelbar an der Staatsleitung beteiligten Verfassungsorgans auf gleicher Ebene mit den anderen obersten Staatsorganen zugesprochen und mit durchgesetzt hatte. In dem damit begründeten „Pyramidenmodell“ der Gerichtsbarkeiten mit dem Bundesverfassungsgericht an der Spitze der Gerichtsordnung (wenn auch nicht als „Superrevisionsinstanz“) prüft das Gericht seither die Beachtung „spezifischen Verfassungsrechts“ durch Fachgerichte, Verwaltung und Gesetzgebung.590 Über die Ausstrahlungswirkung und die verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts sowie die Entwicklung weiterer Grundrechtsfunktionen wie Schutz- und Ausgestaltungspflichten oder organisations- und verfahrensrechtlicher Gewährleistungen dringen materiale Grundrechtsgehalte in nahezu alle Bereiche der Rechtsordnung vor,591 die damit gleichzeitig zu „konkretisiertem Verfassungsrecht“592 werden. Durch die Entwicklung gewährleistungs- und bereichsspezifischer dogmatischer „Maßstäbe“ durch das Bundesverfassungsgericht593 werden dabei einerseits die materialen Gewährleistungsgehalte der Grundrechte konkretisiert; zugleich findet ein Prozess der Steuerung statt, bei dem die Gesetzgebung und Rechtsanwendung auf diese Maßstäbe – wie es im Lüth-Urteil heißt – „inhaltlich ausgerichtet“ werden.594 Verfassungstheoretisch lassen sich in diesem Zusammenhang zwei Idealtypen unterscheiden: die formal-rechtsstaatliche Verfassung mit Schrankenziehungsfunktion und die material orientierte Verfassung mit Richtungsweisungsfunktion. Im formal-rechtsstaatlichen Verfassungsmodell fungieren die Grundrechte lediglich als Schranken einer bürgerlichen Freiheitssphäre gegen (zu weitgehende) staatliche Einflussnahme.595 Dieses Verfassungsmodell korrespondiert mit der Vorstellung der Verfassung als einer Rahmenordnung, die sich auf die Ausgestaltung des staatlichen Institutionengefüges und die Ausgrenzung der Staatsgewalt aus bestimmten Bereichen des Privaten beschränkt.596 Ein materiales Verfassungsverständnis hingegen betrachtet Grundrechte zugleich als Direktiven, die durch rechtsstaatliches Handeln, auch Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 85 ff. Wie das Recht, so die Auslegung – Die Rolle der Rechtstheorie bei der Suche nach der juristischen Auslegungslehre, 2000, S. 112 ff. 591  Kritisch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999. 592  Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, 1959. 593  Vgl. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011. 594  BVerfGE 7, 198 (205). 595  Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 405. 596  Etwa Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 26  ff.; vgl. auch unter C. IV. 2. c). 589  So

590  Jestaedt,



II. Der Bruch mit dem Positivismus159

bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung ebenso wie bei ihrer Anwendung, zu verwirklichen sind.597 Es begreift die Verfassung als Grundordnung für sämtliche Bereiche des sozial geordneten Gemeinwesens. Die Grundrechte bauen hier auf einem nicht nur abwehrenden, sondern zugleich positiven Freiheitsbegriff auf, dem für unterschiedliche Bereiche der Rechtsordnung spezifische, aus dem jeweiligen Zweck des betroffenen Grundrechts abgeleitete verfassungsrechtliche Anforderungen zu entnehmen sind.598 Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung ist es, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Haushaltsbesteuerungsbeschluss ausführt, die verschiedenen Funk­ tionen der Grundrechte teleologisch mit Blick auf den jeweiligen Regelungs- und Wirkungsbereich zu erschließen. Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, welche die Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet.599 Der entscheidende Schritt, den das Bundesverfassungsgericht in den ersten Jahren seiner Rechtsprechungstätigkeit unternommen hat, lag somit darin, die materialen Gehalte der Grundrechte – anfangs unter Berufung auf eine objektive „Wertordnung“ – über dogmatische Figuren wie die Abwägungslehre, die Ausstrahlungswirkung und später weitere objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen justiziabel, das heißt zu konkreten rechtlichen Prüfungsmaßstäben und inhaltlichen Bindungen zu verdichten und praktisch zur Geltung zu bringen. Den im positivistischen Rechtsdenken verankerten Gegensatz zwischen „programmatischen Grundrechten ohne gerichtliche Kontrolle“ und Abwehrrechten ohne materielle Bindungen hat das Bundesverfassungsgericht, wie Bryde bemerkt, in seiner Judikatur aufgehoben, indem es den Grundrechten materiale Gehalte entnommen und daraus im Wege der Konkretisierung für die unterschiedlichen Bereiche der Rechtsordnung verfassungsrechtliche Anforderungen entwickelt hat.600 Mit der skizzierten verfassungstheoretischen Grundausrichtung korrespondiert ein bestimmtes Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, das sich von Anfang an eben nicht als ein Fachgericht für verfassungsrechtliche Streitigkeiten verstand, sondern als ein Verfassungsorgan, das über seine Judikatur zugleich staatsleitende Tätigkeiten ausübt und in diesem Sinne den anderen Verfassungsorganen gleichgeordnet und der Fachgerichtsbarkeit übergeordnet ist.601 Durch konsequente Weiterentwicklung 597  Vgl. Badura, § 163 Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, 1992, Rn. 5  f.; ausführlich Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 2013, § 3, S. 39 ff., der von einer „politischen Gerechtigkeitsordnung“ spricht. 598  Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 33 f. 599  BVerfGE 6, 55 (72). 600  Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 24 ff. 601  Vgl. oben unter B. II. 2. c).

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

dieses Selbstverständnisses und der damit verbundenen verfassungstheoretischen Position war der Weg zur Steuerung der Rechtsordnung von der Verfassung als Grundordnung des Staatswesens aus auch institutionell geebnet.602

III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 1. Die Neuformierung der Staatsrechtslehre in der Nachkriegszeit Wie reagierte nun die Verfassungslehre auf das neue Verfassungsgericht und seine Rechtsprechung? Werfen wir zunächst einen Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit, in der sich Staatsrechtslehre neu formieren musste. a) Die Staatsrechtslehre und die Bewältigung der NS-Vergangenheit Während des Nationalsozialismus hatte sich eine Reihe von Staatsrechtslehrern in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt und den staatlichen Totalitarismus der NS-Herrschaft, mitunter auch den Antisemitismus, rechtlich zu legitimieren versucht.603 Eine andere, zahlenmäßig bedeutende Gruppe (unter anderem Triepel, Smend, Thoma, Anschütz) hatte sich hingegen in die ‚innere Emigration‘ zurückgezogen und war nach 1933 ‚verstummt‘. Öffentlichrechtler jüdischer Herkunft sowie diejenigen, die der politischen Opposition nahe standen, wurden nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zum Verzicht auf ihre Ämter gezwungen.604 Viele mussten emigrieren.605 Der Ruf der gesamten Disziplin hatte Schaden erlitten. Dennoch war ihre personelle Zusammensetzung der unmittelbaren Nachkriegszeit von weitgehender Kontinuität geprägt.606 Einem Teil der 602  So auch Bryde, Soziologie der Konstitutionalisierung, 2011, S. 272, der Ansätze einer „(Rechts-)Soziologie der Konstitutionalisierung“ entwickelt. 603  In diesem Sinne ‚verstrickt‘ waren unter anderem Schmitt, Koellreuther, ­Heckel, Walz, Huber, Maunz, Scheuner, Krüger, Küchenhoff; ausführlich Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, 2000, S. 17 ff., 29 ff. 604  Ausführlich Lösch, Der nackte Geist, 1999. 605  Vgl. Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, 2000, S. 16. 606  Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 63 f.: Viele Staatsrechtslehrer, die vor 1945 ihre Karriere begonnen hatten, setzten in der Nachkriegszeit ihre Laufbahn fort. Für diejenigen, die während des Dritten Reiches als Vertreter einer völkischkonservativen beziehungsweise nationalkonservativen Staatsrechtslehre in Erscheinung getreten waren und nach Kriegsende zunächst ihre Ämter verloren hatten, war es eine ‚Interimszeit‘ der Verunsicherung, „eine Zeit des Bangens und Hoffens, den verlorenen Status trotz aller Widerstände wieder zu erlangen“. Es wurden „alle Hebel in Bewegung gesetzt und insbesondere persönliche Kontakte genutzt, um bei



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 161

belasteten Staatsrechtslehrer gelang die Rückkehr an die Universität und in die Vereinigung für Staatsrechtslehrer (unter anderem Scheuner, Forsthoff, Maunz, Krüger, Huber). Einige wenige Staatsrechtslehrer, die in der Zeit vor 1933 Mitglied waren, blieben auch weiterhin ausgeschlossen. Dies waren insbesondere Schmitt und Koellreuther.607 Die Umgangsformen in der Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit waren von einem allgemeinen Streben nach Harmonie und Konsens gezeichnet, das eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus nur begrenzt zuließ. Es herrschte, wie Günther beschreibt, ein hoher „Konformitätsdruck“, „wobei Ausgrenzungsmechanismen zur sozialen Disziplinierung wiederholt Anwendung fanden“. Dieser Druck war so wirksam, dass „selbst Unbelastete, die die Nachkriegszeit zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nutzen wollten und sich deshalb anfangs weigerten, die schuldhafte Verstrickung der zahlreichen ‚Mitläufer‘ auszublenden, sich rasch dem Trend der Zeit beugten“.608 Auf der anderen Seite wurden Kollegen, deren politische Grundhaltung von der Mehrheit abwich, zumindest toleriert, solange sie bereit waren, sich diesem Verhaltenskodex unterzuordnen. So kam es, dass der politisch weit links stehende Wolfgang Abendroth 1951609 sogar in den Vorstand der Staatsrechtslehrervereinigung gewählt wurde.610 Die Staatsrechtslehrervereinigung war auch in der Nachkriegszeit in gesellschaftlich-politischen Fragen noch wenig pluralistisch, sondern von einem strukturellen Konservatismus geprägt.611 Zwar trat sogar eine politisch anstehenden Berufungsverfahren für einen Lehrstuhl trotz aller moralischen Anfeindungen auf einen der begehrten vorderen Plätze zu gelangen“. 607  Schmitt galt von vornherein als nicht mehr tragbar, Koellreuther verschuldete die Ablehnung seiner (Wieder-)Aufnahme in die Vereinigung wohl selbst, indem er an Kollegen beleidigende Briefe schrieb, dazu Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1997, S. 350 f. 608  Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 72. 609  Vgl. Fischer-Lescano / Eberl, Der Kampf um ein demokratisches und soziales Recht – Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth, 2006. Ein kurzer Überblick über Leben und Wirken Abendroths findet sich auch bei Paech / Stuby, Vorwort, 1982. 610  Später schreibt Abendroth: „Ich wurde in den Vorstand gewählt, weil man wusste, daß ich im Dritten Reich nicht dabeigewesen war, daß ich im Zuchthaus gesessen hatte. Man konnte mich also den Juristenvereinigungen im Ausland vorweisen. Dies war die einzige Konzession, zu der sich Hochschulen gegenüber demokratischem Denken veranlaßt sahen“; zit. nach Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 73. 611  Günther ebd., S. 293 ff., stellt fest, dass ein pluralistisches Bewusstsein im Sinne der liberalen Demokratie westlich-transatlantischer Prägung in der Staatsrechtslehre Mitte der 1960er Jahre „mehrheitlich zum Durchbruch kam“; instruktiv

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

links stehende Gruppierung in Erscheinung, zu der neben Abendroth „als Protagonist und interne Integrationsfigur“ unter anderem Ridder, Drath und Brill gehörten. Sie blieb aber von ihrer Zahl und Wirkung weitgehend randständig. Aus der Gruppe schaffte Drath 1951 den ‚Sprung‘ in das Bundesverfassungsgericht.612 Streng grenzten sich die Staatsrechtslehrer gegenüber jenen ab, die mit dem Kommunismus sympathisierten; sie teilten damit die antitotalitäre Haltung der Nachkriegszeit.613 Von den emigrierten Staatsrechtslehrern kehrten einige prominente Vertreter wie Kelsen, Kirchheimer und Loewenstein nicht mehr an eine deutsche Hochschule zurück. Von den Rückkehrern sind vor allem E. Kaufmann, Nawiasky, Apelt und Jellinek zu nennen. Leibholz übernahm 1947 zunächst eine öffentlich-rechtliche Gastprofessur in Göttingen, orientierte sich dann aber deutlich in eine politikwissenschaftliche Richtung614 und wurde zum Richter des neu geschaffenen Bundesverfassungsgericht gewählt, auf dessen weitere Entwicklung und Rechtsprechung er nicht zuletzt wegen des von ihm verfassten Statusberichts, seiner Interpretation des Gleichheitssatzes und seiner Lehre vom Parteienstaat Einfluss nahm.615 b) Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht War die Staatsrechtslehre weitgehend von personeller Kontinuität gegenüber der Zeit vor 1933 geprägt, so fanden sich unter den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, wie gesehen, viele, die ihre Karriere während des Nationalsozialismus unterbrechen oder aus Deutschland emigrieren mussten.616 Das Verhältnis der Staatsrechtslehrer zum neu geschaffenen Schlink, Sommer 1970 – Kleine Bewältigung einer kleinen Vergangenheit, 2003; vgl. auch Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1997. 612  Zum Wirken von Drath siehe Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, 2001. 613  Kritisch Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1997, S. 353: „Der Antikommunismus war gewissermaßen das einzige Element der NSWeltanschauung, das bruchlos und öffentlich fortgeführt werden konnte.“ 614  Später erhält sein Lehrstuhl die Bezeichnung „Politische Wissenschaft und Allgemeine Staatslehre“, siehe Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, 2001, S. 269. 615  Siehe dazu die Beiträge von Groh, Kaufhold, Meinel und Wihl in Kaiser, Der Parteienstaat – Zum Staatsverständnis von Gerhard Leibholz, 2013. Zum Statusbericht ausführlich oben unter B. II. 2. c) und B. II. 3. b); vgl. auch Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S.  43 ff., sowie Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 284 ff.; zur Parteienrspr. siehe Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976, S.  236 ff. 616  Oben unter B. II. 2. b).



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 163

Bundesverfassungsgericht war auch vor diesem Hintergrund nicht frei von Spannungen. Dies zeigte sich anschaulich an der Bewertung des G-131-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1953.617 In seiner Entscheidung, die in ihrer Begründung für die damalige Zeit durchaus als „sensationell“618 bezeichnet werden kann, erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass mit der Kapitulation des Deutschen Reichs alle Beamtenverhältnisse erloschen waren und damit unter dem Grundgesetz keinen verfassungsrechtlichen Schutz nach Art. 33 GG genossen.619 Es stützte sich dabei vor allem auf eine eingehende historisch-soziologische Analyse: Das Beamtentum habe im Dritten Reich einen so grundlegenden Wandel im Sinne seiner Indienststellung für den Nationalsozialismus erfahren, dass eine Fortschreibung früherer Rechtspositionen über dessen Ende hinaus ausgeschlossen sei, selbst wenn man den Staat als solchen grundsätzlich als fortbestehend ansehe.620 Damit stellte sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,621 sondern erntete deutliche Kritik aus den Reihen der Staatsrechtslehrer, für die es in der Sache um ein Stück Vergangenheitsbewältigung ging.622 Dennoch hielt das Gericht in seiner Gestapo-Entscheidung von 1957 an seiner Rechtsprechung fest, wobei es sich eingehend mit der Kritik auseinandersetzte und dabei ausdrücklich die Professorenschaft als Beispiel für die nationalsozialistische Infiltrierung der Beamtenverhältnisse anführte.623 Diese „zentralen, für die junge Bundesrepublik polarisierenden Entscheidungen“624 spiegeln eindrücklich auch die unterschiedlichen biografischen Hintergründe und Erfahrungen wider, welche die Mehrheit der Verfassungsrichter vom Groß617  BVerfGE

3, 58. Vergangenheitsbewältigung in der frühen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – Beamten- und Gestapo-Urteil, 2005, S. 226. 619  Eine ausführlich Analyse findet sich bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 161 ff. 620  BVerfGE 6, 58 (89 ff.). 621  Dieser bekräftigte vielmehr auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seine Auffassung von dem unpolitischen Charakter des Berufsbeamtentums während des Dritten Reichs; vgl. BGHZ (GS) 13, 265 ff.; dazu ausführlich Limbach, Fortbestand der Beamtenverhältnisse nach 1945, 2011. 622  Siehe insbesondere die Beiträge und Äußerungen auf der Staatsrechtslehrertagung 1954 in Tübingen, Neumann / Spanner, Die Berufsbeamten und die Staatskrisen – Gutachten mit Aussprache, 1955; dazu Günther, Wer beeinflusst hier wen? Die westdeutsche Staatsrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht während der 1950er und 1960er Jahre, 2006, S. 132 f. 623  Vgl. BVerfGE 6, 132 (176 f.): „Der an sich verständliche Wunsch einzelner Autoren, von ihren früheren, jetzt auch von ihnen selbst missbilligten Äußerungen abzurücken, darf nicht dazu führen, diese Äußerungen auch in ihrem damaligen Aussagewert zu verkleinern.“ 624  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 162. 618  Menzel,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

teil der damaligen Staatsrechtslehrer trennten. Vor diesem Hintergrund erhellt die Zurückhaltung, mit der das Bundesverfassungsgericht in seinen frühen Entscheidungen auf die staatsrechtlichen Diskussionen Bezug nimmt. Erkennbar von Einfluss waren, wie gesehen, vor allem jüngere unbelastete Staatsrechtler wie Friedrich Klein und Günter Dürig. Zu dem Zeitpunkt als das Bundesverfassungsgericht, vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, die maßgeblichen Linien seine Grundrechtsjudikatur entwickelte, waren erst wenige größere verfassungs- und grundrechtstheoretische Werke zum Grundgesetz erschienen; auch die Kommentarliteratur war noch „sehr begrenzt“.625 Von den zwei wichtigsten Kommentaren, dem Bonner Kommentar und dem von Friedrich Klein fortgeführten Kommentar Hermann von Mangoldts, hatten nachweislich nur – allerdings in wesentlichen Punkten – die Kommentierungen Kleins Einfluss auf Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Größere Rezeptionschancen hatten „schnell reagierende, dialogische Publikationsformen“ in Form von kürzeren Fachbeiträgen.626 Diese blieben jedoch zumeist auf Einzel­ fragen beschränkt und enthielten nur selten – wie etwa die Beiträge von Dürig – grundsätzlichere Ausführungen zu den Grundrechten.627 Bei einer historischen „Wirkungsanalyse“628 bezüglich der Wechselbeziehungen zwischen Staatsrechtlehre und Bundesverfassungsgerichtsjudikatur müssen auch die Arbeitsbedingungen des Gerichts im ersten Jahrzehnt seines Bestehens berücksichtigt werden. In dem recht kleinen Prinz-Max-Palais, dem ersten Amtssitz des Gerichts, waren keine festen Arbeitsplätze für die Richter vorgesehen. Sie mussten ihre Voten und Beschlussentwürfe zu Hause oder andernorts ausarbeiten, wobei der größte Teil der Richter schon damals nicht in Karlsruhe wohnte und nur zu den vierzehntäglichen Sitzungen zusammenkam.629 Auch Zuarbeiten durch wissenschaftliche Mitarbeiter gab es in jener Zeit nicht, obwohl die Arbeitsbelastung im Ersten Senat sehr hoch war. Schon gar nicht war es – was man sich heute erst wieder in Erinnerung rufen muss – möglich, relevante Literatur einfach zu kopieren und mitzunehmen oder an alle Richter zu verteilen.630 Schon vor diesem 625  Henne / Riedlinger, 626  Ebd. 627  Zur

1523.

Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, S. 200.

Drittwirkungsproblematik etwa Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 1518 ff.,

628  Grimm,

Plädoyer für Wirkungsforschung, 2011. Ritterspach, Erinnerungen an die Anfänge des Bundesverfassungsgerichts, 1995, S. 205: „[…] in der Anfangszeit war man ziemlich anspruchslos – wir hatten ja die Kriegszeit hinter uns und die schwierigen Verhältnisse nach dem Krieg. Aber wir haben es durchgestanden.“ 630  So beschreibt Ritterspach, ebd. den Zustand der Bibliothek des Gerichts im Jahr 1951: „Als wir nach der Bibliothek fragten, wurden wir in einen ganz kahlen 629  Eindrücklich



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 165

Hintergrund wird deutlich, dass eine umfassende Aufarbeitung von staatsrechtlichen Literaturständen, wie man sie heute teilweise in den Voten des Gerichts findet, damals nicht stattfinden konnte. Vielmehr waren es einzelne, thematisch gewichtige Beiträge, die das Gericht berücksichtigen konnte. Der Stand der staatsrechtlichen Diskussion um die Grundrechte zu jener Zeit, als das Bundesverfassungsgericht seine weichenstellenden Entscheidungen traf, kommt anschaulich im Vorwort der Kommentierung Kleins von 1957 zum Ausdruck: Einer gründlicheren Bearbeitung vor allem der Grundrechte begegnen infolge des derzeitigen Zustandes der deutschen Staatsrechtswissenschaft und der Staatsrechtswissenschaft überhaupt fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Kaum eine der vielen methodologischen, methodischen und systematischen Fragen, deren Beantwortung eine solche Bearbeitung voraussetzt, kann als hinreichend behandelt, geschweige denn als gelöst bezeichnet werden; die meisten stehen erst am Anfang einer wissenschaftlichen Betrachtung, in deren Verlauf sich notwendigerweise weitere bisher überhaupt noch nicht gesehene Fragen und Probleme ergeben.631

Dies erhellt, wie die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik durch den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts bis 1958 den größten Teil der Staatsrechtswissenschaft geradezu ‚überrollte‘, weshalb Schlink sogar von einer „Entthronung“632 derselben gesprochen hat. Dieses Bild ist zumindest insoweit ungenau, als einzelne Staatsrechtslehrer wie Klein und Dürig – wie gesehen – durchaus erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung des Gerichts ausübten und die Staatsrechtswissenschaft – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch bei der Nachbereitung und Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik und methodischen Grundsätze eine maßgebliche Rolle spielte. 2. Die Diskussion um die „Methoden der Verfassungsinterpretation“ und die Bedeutung der Smend- und der Schmitt-Schule Der methodische Umbruch, den das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einleiteten, wurde in den Diskussionen der Staatsrechtslehre verarbeitet. So kam es bald zu einer lebhaften Debatte um Raum mit Regalen geführt, in denen nichts stand; das war die Bibliothek. Es war ziemlich trostlos.“ Es ist anzunehmen, dass sich diese Situation in den Jahren 1957 / 58 schon beträchtlich gewandelt hatte, trotzdem sagt es viel über die anfänglichen Bedingungen, denen sich auch die Routinen und Arbeitsweisen der ersten Richtergeneration anzupassen hatten. 631  Mangoldt / Klein, GG Kommentar, 1957, Vorwort, S. VI. 632  Schlink, Die Enttrohnung der Staatsrechtswissenschaft, 1989.

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die Methoden der Verfassungsinterpretation, die eine Reihe von Beiträgen älterer, vor allem aber auch jüngerer Staatsrechtslehrer hervorbrachte.633 Ausgangspunkt war die durch das Grundgesetz endgültig vollzogene Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus, die sich im Methodenstreit bereits an­gekündigt hatte, sowie die nunmehr sich rasant entwickelnde und weit ausgreifende Rechtsprechung des neu gegründeten Bundesverfassungsgerichts.634 Entsprechend wurde auch in der Methodenfrage nach neuen Ansätzen und Perspektiven gesucht.635 Die Methodendebatte der sechziger und siebziger Jahre war dabei von Tendenzen der Liberalisierung, Demokratisierung und ‚Verwestlichung‘ beeinflusst; Letzteres vor allem deshalb, weil vermehrt Elemente des US-amerikanischen Rechtsdenkens rezipiert und verarbeitet wurden.636 Zugleich wurden verstärkt interdisziplinäre Bezüge hergestellt. So resümiert Schlink in einem Beitrag zur Methodendiskussion von 1980: Noch bis in die 60er Jahre konnten die Beiträge zur Interpretations- und Methodendiskussion nur in intimer Kenntnis spätkonstitutioneller Positionen und Weimarer Kontroversen recht verstanden und eingeschätzt werden. Heute dagegen setzen Verständnis und Würdigung des Diskussionstandes eher den hinlänglichen Einblick in soziologische Entwürfe, wissenschaftstheoretische Modelle und sprachphilosophische Erkenntnisse voraus und verlangen besonders die gründliche Vertrautheit mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.637

Die Auseinandersetzungen von Weimar wirkten in der wissenschaftlichen Diskussion um die Prinzipien der Verfassungsinterpretation nach, deren Hochphase sich auf die Zeit zwischen 1959 – Forsthoffs Beitrag über die „Umbildung des Verfassungsgesetzes“638 – und 1976 – Böckenfördes „Bestandsaufnahme“ in der Neuen Juristischen Wochenschrift639 – datieren lässt. Die neu aufflammende Methodendebatte kann sogar als eine „Erneu633  Wichtige Beiträge der Debatte wurden zusammengestellt von Dreier / Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 634  Vgl. Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, 1989, S.  92 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, 1999, S. 158 ff.; Grimm, Die deutsche Staatsrechtslehre zwischen 1750 und 1945, 1987, S. 304 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 333 ff.; ausführlich oben unter B. I. 2. und B. I. 2. a). 635  Vgl. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, 2003, S. 383 f. 636  Vgl. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 243 ff.; Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011, S. 100 f. 637  Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, 1980. 638  Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, 1959. 639  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 167

erung des Methodenstreits“640 verstanden werden, nur unter völlig gewandelten normativen wie tatsächlichen Bedingungen. In der Diskussion taten sich besonders zwei aus der Weimarer Staatsrechtslehre bekannte staatsrechtliche Denkschulen641 hervor, die gegensätzliche Staats- und Verfassungsverständnisse vertraten und somit quasi ‚natürliche‘ Antipoden in der Methodendebatte waren: die Smend- und die Schmitt-Schule.642 a) Die Smend-Schule Ein ‚Neuaufbruch‘ in methodologischer Hinsicht wurde hauptsächlich von den Schülern des Göttinger Staatsrechtlers Rudolf Smend eingeleitet. Smend hatte mit seinem Bekenntnis zur „geisteswissenschaftlichen“ Methode bereits in der Weimarer Methodendebatte für Aufsehen gesorgt.643 In der Nachkriegszeit war er als ‚Unbelasteter‘ mit einer anerkannten wissenschaftlichen Vita und umtriebigen Schulenbildung unter den Staatsrechtslehrern hoch angesehen. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts haben sowohl im Statusbericht als auch grundlegenden Entscheidungen wie dem Lüth-Urteil direkt oder indirekt auf Arbeiten Smends Bezug genommen.644 In seinem Seminar in Göttingen begründete Smend eine Schule, die in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik, besonders in den 1960er und -70er Jahren, erhebliche Wirkung entfalten konnte ‒ zu ihr gehörten Konrad Hesse, Horst Ehmke, Ulrich Scheuner, vermittelt über Hesse auch Alexander Hollerbach, Peter Häberle und Friedrich Müller.645 Die Staatsvorstellung der Smend-Schule war auf eine Überwindung des Gegensatzes zwischen Sollen und Sein, zwischen dem normativen Anspruch der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit gerichtet. Sie war prozesshaft angelegt und zielte verstärkt auf Konsens und Integration anstelle von Herrschaft und Dezision. Die neue Verfassung wurde im Sinne einer Grund640  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 244. Denken vom Staat her, 2004, S. 15 ff., spricht im Anschluss an Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935 (Neudruck 1985) von „Denkkollektiven“. 642  So lassen sich in der Tat nahezu alle maßgeblichen Protagonisten der Debatte (bis auf Kriele) der einen oder anderen ‚Denkschule‘ zuordnen: So waren Ehmke, Scheuner und Hesse Schüler von Smend. Häberle, Hollerbach und F. Müller wiederum Schüler von Hesse, gehörten somit zum Kreis der Smend-Schule. Forsthoff war Schmitt-Schüler, Böckenförde gilt als einer der bedeutendsten von Schmitts ‚Nachkriegschülern‘, dazu Mehring, Zu den neu gesammelten Schriften und Studien ErnstWolfgang Böckenfördes, 1992. 643  Zur Integrationslehre siehe oben unter B. I. 2. b) bb). 644  Vgl. unter B. II. 2. c) und B. II. 4. d) bb). 645  Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 159 ff. 641  Günther,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

ordnung des Gemeinwesens und in sich als Einheit betrachtet. Vor allen Dingen sollte sie eine integrierende Wirkung entfalten und Konflikte zwischen den Rechtssubjekten abbauen beziehungsweise vermeiden helfen. Hierzu bedurfte es einer Methodik der Verfassungsinterpretation, durch die Spannungen und Widersprüche zwischen den einzelnen normativen Vorgaben nicht zugespitzt, sondern entschärft und zum Ausgleich gebracht wurden.646 Mit ihrem umfassenden (politischen) Verfassungsverständnis, das auch die Verfassungswirklichkeit einschloss, war die Smend-Schule zudem offen gegenüber den Politikwissenschaften und der Soziologie. Sie stand zugleich für Modernität, westliche Orientierung und Pluralismus.647 Der Erfolg dieser Richtung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik hat mehrere miteinander verwobene Gründe: Ihr Inspirator Smend verfügte über große Ausstrahlung, er war politisch unbelastet, persönlich integer und kirchlich gebunden, letzteres von hohem Wert in einer Zeit, in der die Kirchen das öffentliche Leben bestimmten. Sein […] Ruhm aus der Weimarer Zeit wirkte weiter. Das zentrale Stichwort „Integration“ war exakt die geistige Nahrung, nach der Öffentlichkeit und Staatsrechtslehre verlangten. Alle, von den Kommunisten abgesehen, sollten (und wollten) nun integriert werden.648

In diesem Sinne stand die Smend-Schule dem Verfassungsverständnis, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinen grundlegenden Entscheidungen der ersten sieben Jahre entwickelte, prinzipiell zustimmend gegenüber und verschafften diesem ein methodologisches Fundament, auch wenn sie einzelne Aussagen und Tendenzen der Rechtsprechung – wie etwa das anfangs propagierte „Wertsystem“ – kritisierte. b) Die Schmitt-Schule Die zweite bedeutende Strömung, welche die Methodendebatte der jungen Bundesrepublik angestoßen und (mit)geprägt hat, war die Schule des früheren Staatsrechtslehrers Carl Schmitt. Schmitt war aufgrund seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus649 einer der wenigen Staatsrechtslehrer, die nach 1945 keine Professur mehr erhielten und auch nicht wieder in die Vereinigung der Staatsrechtslehrer aufgenommen wurden. Durch Korrespondenzen und persönliche Kontakte verstand er es dennoch, von seinem Wohnort Plettenberg im Sauerland aus den Zusammenhalt ‚seiner‘ Schule zu fördern.650 Durch die Berufung Ernst Forsthoffs und anderer nach Hei646  Ebd.,

S.  170 m. w. N. Die Staatsrechtslehre der fünfziger Jahre, 2005, S. 294. 648  Ebd., S. 294. 649  Siehe die Nachweise oben auf S. 77, Fn. 164. 650  Wie Stolleis schreibt, ist der von Schmitts Domizil in Plettenberg aus allmählich wachsende und von zunächst wenigen Getreuen vermehrte „Einfluß auf die 647  Stolleis,



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delberg, das sich „nun ganz konservativ ausbildete“, erhielt die SchmittSchule zudem einen neuen Wirkungsort.651 Die Schmitt-Schüler waren – entgegen aller Abgrenzungsbestrebungen der übrigen Staatsrechtslehrer – darum „bemüht, ihren Lehrer wieder zum Thema zu machen. Gewissermaßen als Alternative zum Schweigen war es ihr Anliegen, Schmitts Texten erneut Öffentlichkeit zu verschaffen.“652 So kann auch die Gründung der Zeitschrift Der Staat auf Betreiben von Böckenförde und Schnur im Jahr 1962 nicht nur als eine programmatische Entscheidung für ein stärker etatistisches Verfassungsverständnis, sondern auch als eine Reaktion auf die Ausgrenzung Schmitts aus dem Kreis der Staatsrechtslehrer und deren Publikationsorganen verstanden werden.653 Die Nachkriegsschüler Schmitts, deren einflussreichster unter den Staatsrechtslehrern Ernst-Wolfgang Böckenförde ist, waren Anhänger der Demokratie und des liberalen Rechtsstaats. Schmitts theoretische Schriften wurden in diesem Sinne neu kontextualisiert und interpretiert – sie wurden nun, wie es H. Lübbe ausgedrückt hat, „liberal rezipiert“.654 Wie Günther zusammenfasst, ging es der Schmitt-Schule vor allem darum, die Möglichkeit der Politik zur souveränen politischen Steuerung offenzuhalten. Sie war geprägt von einem etatistischen Verständnis, wonach es die politische Ordnungsform des Staates „als eine der wichtigsten Sicherungen persönlicher und politischer Freiheit zu erkennen“ und zu bewahren galt.655 Der Staat sollte nicht geistige Landschaft der jungen Bundesrepublik eine Art Mythos geworden“; Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1997, S. 352. 651  Schlink, Sommer 1970 – Kleine Bewältigung einer kleinen Vergangenheit, 2003, S. 1124 f.; vgl. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 120: Die staatsrechtliche Abteilung der Juristischen Fakultät in Heidelberg entwickelte sich in den 1950er Jahren zu einem Zentrum der Schmitt-Schule. Forsthoff bekleidete dort seit 1952 als erster einen Lehrstuhl und setzte sich sowohl im Jahr 1954 maßgeblich für die Berufung von Hans Schneider als auch seit 1962 zusammen mit Schneider für die Berufung von Böckenförde ein. 652  Günther, ebd., S. 118 f. 653  Ebd., S.  225 ff. 654  Lübbe, Carl Schmitt liberal rezipiert, 1988; vgl. Stolleis, Die Staatsrechtslehre der fünfziger Jahre, 2005, S. 295: „So wie Carl Schmitt die Ebracher Seminare Forsthoffs besuchte, so tat er es in Münster bei dem Philosophen Joachim Ritter, wo Ernst Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe, Otto Marquard, Reinhart Kosseleck und andere später einflußreiche Personen ihre prägenden Kontakte mit Carl Schmitt hatten. […] Was diese ‚Schmittianer‘ charakterisierte, war die Betonung der ‚Entscheidung‘ und des Ausnahmezustands, wozu freilich in der Bundesrepublik wenig Anlaß bestand […], vor allem aber eine Aversion gegen die Interferenz von Staat und Gesellschaft, Mißtrauen gegen Pluralismen und kooperative Verfahrensweisen. Positiv ausgedrückt: Man wollte wieder mehr ‚Staat‘, und zwar möglichst einen den Interessengruppen überlegenen, neutralen, gemeinwohlorientierten Staat.“ 655  Oestreich / Weber / Wolff, Zum Geleit, 1962.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

gesellschaftlich ‚integrieren‘, sondern sich im Sinne des bürgerlichen-liberalen Rechtsstaats als neutraler Sachwalter des Gemeinwohls gegenüber einzelnen Interessen(gruppen) behaupten. Das Grundgesetz wurde in diesem Sinne als eine in erster Linie formale Verfassungsordnung betrachtet; es war in den Augen Forsthoffs als „Verfassungsgesetz“, in denen Böckenfördes als „Rahmenordnung“ zu verstehen. „Es gab also einen Bereich, der sich der normativen Regelung durch die Verfassung weitgehend entzog, und dies war aus Sicht der Schmitt-Schule der Bereich des Politischen beziehungsweise der der Dezision.“656 Vor allem stießen sich die Schmitt-Schüler an der Denkweise der SmendSchule, deren geisteswissenschaftliche und wertorientierte Methode man als Zeichen der Auflösung der Normbindung und, sofern sie einer ausufernden Verfassungsjudikatur ein theoretische Fundament verschaffte, als Weg in den Justizstaat – in der Diktion Schmitts: den „Jurisdiktionsstaat“ – betrachtete. Die von der Smend-Schule angestrebte methodologische Überwindung der Dichotomie von Norm und Wirklichkeit lehnte man ab. Vielmehr setzte man ihr eine spezifisch juristische Argumentationsweise im Sinne systematischer Konstruktionsarbeit entgegen.657 Vor diesem Hintergrund zu sehen ist die in vielen Beiträgen aus diesem Kreis artikulierte Skepsis gegenüber einer auf ein material-werteorientiertes Denken gestützte Erweiterung der Grundrechtstheorie und der hierfür beschrittenen rechtsmethodischen Wege. c) Der Beitrag Forsthoffs zur „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ Die methodische Kritik zur frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde vor allem von Carl Schmitt und seinem Schüler Ernst Forsthoff formuliert, die jeweils unmittelbar auf das Lüth-Urteil reagierten.658 Vor allem die Kritik Forsthoffs an der Wertejudikatur war trefflich geeignet, eine neue Methodendebatte innerhalb der Staatsrechtslehre zu entfachen.659 So warnten Forsthoff und Schmitt in ihren programmatischen Beiträgen zur „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ von 1959660 und über die „Tyrannei der Werte“ von 1967661 vor einer unkontrollierbaren Ausdehnung der Grundrechtsjudikatur im Zuge der mit der Lüth-Entscheidung 656  Günther,

Denken vom Staat her, 2004, S. 131. auch ebd., S. 132 f. 658  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 244. 659  Vgl. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 (45). 660  Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, 1959. 661  Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 1967. 657  Vgl.



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begründeten Rechtsprechung. Dass ausgerechnet Schmitt, der 1934 noch das konkrete Ordnungsdenken als juristische Denkart empfohlen hatte, nicht zuletzt weil es geeignet war, über die Generalklauseln des positiven Rechts nationalsozialistische Gehalte zu transportie­ ren,662 wie auch sein Schüler 663 Forsthoff die Kritik an der Wertejudikatur einläuteten, mag, wie Ralf Dreier, schreibt „rationale Einsicht oder auch eine Art intellektueller Waschzwang gewesen sein“.664 Die Kritik sollte einige Wirkung haben, auch wenn sie sich in der Sache nicht durchzusetzen vermochte.665 Forsthoffs Beitrag in der Schmitt-Festschrift war die „eigentliche Initialzündung zur neueren Diskussion der Verfassungsinterpretation“.666 Seine Kritik an der methodischen Entwicklung enthält bereits die wesentlichen Gesichtspunkte, die auch von anderen Vertretern der Schmitt-Schule später in der Diskussion der Sache nach aufgegriffen wurden, auch wenn diese dann, wie etwa Böckenförde, von einem anderen verfassungstheoretischen Ausgangspunkt her argumentierten.667 Vereinfacht gesagt enthält Forsthoffs Beitrag den „Appell“ zur „Rückkehr zur juristischen Methode“ in der Verfassungsauslegung.668 Nach Forsthoffs Diagnose von 1959 befand sich das Grundgesetz in einem Prozess der Umbildung, der seiner Auffassung nach durch einen interpretatorischen Verfassungswandel bedingt war. Dabei ging er davon aus, dass die Verfassung wie ein Gesetz zu verstehen und in diesem Sinne auszulegen sei.669 Die Gesetzesinterpretation werde nun jedoch durch eine 662  Vgl. Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934 (2. unveränd. Aufl. 1993), S. 57 ff. 663  Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, 1934. Forsthoff selbst war sich seiner isolierten Rolle unter den Staatsrechtslehrern der Nachkriegszeit bewusst, wie er in seinen Briefen an Schmitt schreibt, siehe Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 91. Dennoch war Forsthoff über sein wissenschaftliches Œuvre, das weithin Anerkennung fand, in den staatsrechtlichen Diskussionen der Nachkriegszeit einflussreich. 664  Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus – Zwei Arten juristischen Denkens im demokratischen Verfassungsstaat, 1991, S. 95. 665  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 245. 666  Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 45. 667  Vgl. etwa die Kritik von Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2090 f., der vor allem die Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz bei Forsthoff infrage stellt und demgegenüber auf den fragmentarischen Charakter der Verfassung hinweist mit der Konsequenz, „daß ihr die normativ-inhaltliche Struktur des Gesetzes notwendigerweise abgeht“. 668  Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 15. 669  Vgl. dazu Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 131: „Der von Forsthoff gewählte Begriff des Verfassungsgesetzes war eine bewußte Provokation und eine

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Interpretationsmethode wie die Smends, welche die „Einordnungen der einzelnen staatsrechtlichen Normen in das Sinnsystem des staatlichen Integrationsvorgangs“ fordere, partiell gesprengt. Ein solches Sinnsystem sei „mit den Mitteln exakter Gesetzesinterpretation“ nicht zu ermitteln, „so daß der zentrale Orientierungsgesichtspunkt für die Auslegung der Verfassungsnormen außerhalb der Normen und der mit den Mitteln der Exegese zugänglichen Gehalte“ liege.670 Auch das Verständnis der Grundrechte als eines „Kultur-, Wert- und Gütersystems“ entziehe sich den Mitteln der juristischen Interpretation. Die Grundrechte stellten daher kein Wertsystem dar, sondern setzten dem Staat „Grenzen zum Schutze bestimmter Individualfunktionen, die unter konkreten, historischen Voraussetzungen, welche weithin fortgelten, als in besonderem Maße schutzwürdig erschienen sind“.671 Im Sinne seines negatorischen Freiheitsverständnisses forderte Forsthoff daher eine Auslegung der Grundrechte, die sich „einer spezifisch juristischen Technik bedienen“ sollte, und meinte: Die Jurisprudenz vernichtet sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhält, daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses ist.672

Verstehe man hingegen die Normen der Verfassung als Werte und mache damit die Normanwendung zur Wertverwirklichung, so verwandele sich der Vorgang der Erfassung des Normgehalts aus dem Verstehen in die „Prozeduren der Wertverwirklichung durch Wertanalyse und Wertabwägung“. Die Sinnerfassung sei dann „keine Rechtskunst mehr“, sondern werde „philoso­phisch“.673 Das Heilmittel gegen die wertphilosophische Hypertrophie war für Forsthoff die Rückkehr zu den klassischen Auslegungsmethoden im Sinne rechtspositivistischer „Technizität“.674 Es entspreche demgegen­ über einer „inneren Zwangsläufigkeit der geisteswissenschaftlichen Methode“, indem sie die überkommene juristische Hermeneuimplizite Infragestellung des Grundgesetzes, da dieses gemäß der Verfassungslehre von Carl Schmitt die politische Gesamtentscheidung als Wesensmerkmal des souveränen Staates zumindest nicht zwangsläufig enthielt. Dies war auch die Ursache eines regelrechten Disputs zwischen Forsthoff und seinem Lehrer Carl Schmitt. Für Schmitt war die Bezeichnung Verfassungsgesetz für das Grundgesetz grundsätzlich unangemessen, da dies von seinem Verständnis her von vornherein bedeutet hätte, daß das Grundgesetz die Verfassung als politische Gesamtentscheidung keinesfalls enthalten konnte“. 670  Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, 1959, 37 f. 671  Ebd., S. 40. 672  Ebd., S. 41. 673  Ebd., S. 41. 674  Ebd., S. 40.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 173

tik abstreife, ihre Ordnung „in den für sie wesentlichen Relationen des materiellen Sinns der Normen zu suchen“.675 Damit aber verliere die Norm­anwendung ihre juristisch-hermeneutische Rationalität und Berechenbarkeit. Als Beispiel nennt Forsthoff in diesem Zusammenhang ausdrücklich die „Drittwirkung der Grundrechte“, deren Begründung mit den herkömmlichen Mitteln der Interpretation seines Erachtens gar nicht möglich gewesen wäre. Folgen der „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ durch die geisteswissenschaftliche Methode seien die „Preisgabe der klassischen Regeln der Auslegungskunst, die eine Auflösung des Gesetzesbegriffs im Inhaltlichen“ bedeutete, und ein schleichender Verlust formal-rechtsstaatlicher Rationalität zugunsten des „sozialen trends“.676 Dabei sei die Rechtsprechung der eigentliche „Promoter der neuen Auslegungsmethoden“.677 Infolge dieser Entwicklung konstatiert Forsthoff den Übergang vom „Rechtsstaat in den Justizstaat“678, ein Vorwurf, der in den Beiträgen der Schmitt-Schüler immer wieder auftauchen sollte. In diesem Wandlungsprozess komme dem Bundesverfassungsgericht schon durch seine das überkommene rechtsstaatliche Gefüge „sprengende“ Existenz wie auch durch seine weithin kasuistische Rechtsprechung, die sich in besonderem Maße der geisteswissenschaftlichwerthierarchischen Methode bediene und nicht frei von politischen und zeitgeschichtlichen Erwägungen sei, eine führende Rolle zu. Das Verfassungsrecht sei „offen“ geworden: „Was als Verfassungsrecht zu gelten hat, ergibt sich jeweils im konkreten Falle“.679 Mit dem Verfassungsgericht habe sich eine „eigene Standesideologie der Bundesverfassungsrichter“ entwickelt, die mit den Mitteln überkommener Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu erfassen sei. Das Bundesverfassungsgericht könne dementsprechend in den „Vorstellungen eines dem Verfassungsgesetz unterstellten und seine Innehaltung mit den Mitteln herkömmlicher Rechtsauslegungskunst sichernden Gerichts“ nicht mehr begriffen werden, sondern müsse als „an der staatlichen Integration auf höchster Ebene […] teilnehmend“ in seiner „Singularität begriffen werden“.680 Der damit begonnen Entformalisierung des Verfassungsrechts entspreche die „Entfaltung des Justizstaates“.681 675  Ebd., 676  Ebd., 677  Ebd., 678  Ebd., 679  Ebd., 680  Ebd., 681  Ebd.,

S. 44. S.  47 ff. S. 53. S. 59. S. 55. S. 58. S.  59 f.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Forsthoff Beitrag enthält trotz seiner Polemik im Kern eine scharfsinnige Beobachtung und Kritik der Umsetzung einer materiellen Verfassungsinterpretation und der dadurch zunehmenden Bedeutung der Gerichte, allen ­voran des Bundesverfassungsgerichts, bei der Konkretisierung der Verfassungsnormen. Auch andere „eher legalistisch orientierte Juristen teilten diese Kritik, fürchteten um die traditionelle Methodik und die darin steckende Gewalten- und Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Judi­ kative“.682 Die wesentlichen Kritikpunkte am Ansatz Forsthoffs haben zunächst Hollerbach und später auch Böckenförde herausgearbeitet. So hat Böckenförde darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz – insbesondere im Grundrechtsteil – mit allgemeinen Begriffen und Prinzipien arbeitet, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein; damit haben sie eine Struktur, die sich einem engen legalistischen Interpretationsverständnis entziehe.683 Hollerbach wiederum arbeitete heraus, dass Forsthoff selbst von einem an den Rechtstaatsbegriff „des 19. Jahrhunderts“ angelehnten verfassungstheoretischen Grundverständnis aus argumentierte, das im Kern dem Methodendenken des staatsrechtlichen Positivismus entlehnt war. Es dürfe aber schon mit Blick auf die Genealogie als „sicher gelten, daß dem Grundgesetz nichts ferner lag als ein formal-technisches Verständnis eines reinen, ausschließlich als Gefüge gesehenen Rechtsstaats – mit dessen Annahme Forsthoffs Interpretationsmethode steht und fällt – zu restaurieren“.684 Entsprechend ist Forsthoff nicht in seiner Analyse der einsetzenden Methodenentwicklung, jedoch mit der damit verbundenen Kritik und Forderung nach einer Rückbesinnung auf ein enges Methodenverständnis in der nachfolgenden Debatte weitgehend isoliert geblieben.685 Auch wenn Forsthoff damit die wirkungsorientierte und an einem materialen Grundrechtsverständnis ausgerichtete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitet und methodologisch kritisiert hatte, konnte seine Kritik nicht verfangen. Die strukturelle Gleichsetzung von Gesetz und Verfassung fand selbst innerhalb der ‚Schule‘ seines Lehrers Carl Schmitt keine Unterstützung.686 Vor allem aber war eine Rückkehr zu einem engen positivistischen Methodenverständnis unter dem Grundgesetz kaum 682  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 245. Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2091. 684  Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? Zu Ernst Forsthoffs Abhandlung „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“ in der Festschrift für Carl Schmitt, 1960, S. 267. 685  Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 245. 683  Böckenförde,



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denkbar und ließ sich bereits angesichts des Wortlauts von Bestimmungen wie Art. 1 Abs. 3 GG oder Art. 19 Abs. 2 GG, die eine materielle Kontrolle der Grundrechtsbindung forderten, nicht halten.687 686

Auch die Kritik von Schmitt selbst, die er unter dem Titel „Die Tyrannei der Werte“688 in der Festschrift für Forsthoff veröffentlichte, fand in der Staatsrechtswissenschaft kaum Zuspruch. Sie richtete sich dezidiert und erkennbar in polemisierender Absicht gegen das Bundesverfassungsgericht, das „speziell in seiner Erstbesetzung […] für ihn ein Hassobjekt“ war, „weil es aufgrund seiner personellen Besetzung und seiner Rechtsprechung eine Gegenwelt zu seiner eigenen verkörperte“.689 Schon in seiner Weimarer Kontroverse mit Kelsen hatte sich Schmitt dezidiert gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als „Hüter der Verfassung“ positioniert.690 Ausgerechnet diesen Titel nahm das Bundesverfassungsgericht nun jedoch in seinem Statusbericht explizit in Anspruch.691 Konsequent betrachtet hätte sogar die rechtspositivistische Haltung Forsthoffs mehr oder weniger dem Kelsenʼschen Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit entsprochen, das jener seinem Lehrer Schmitt entgegen gesetzt hatte.692 Somit blieb nur die Kritik an einer ausufernden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die gewandelten normativen Bedingungen des Grundgesetzes und die hervorgehobene Stellung des Bundesverfassungsgerichts vermochten Schmitt und Forsthoff verfassungstheoretisch nicht mehr zeitgemäß zu verarbeiten – wie Stolleis schreibt: ein „ratloser Carl Schmitt“.693 Erst in den 1970er Jahren wurde auf die Schriften von Forsthoff und Schmitt wieder, und zwar vor allem unter ihren rechtsprechungskritischen Aspekten, Bezug genommen. Dies geschah unter anderem von Seiten liberaler Verfassungsrechtler wie Erhard Denninger, die sich gegen eine ausufernde Judikatur des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Schwangerschaftsabbruchs (Verfassungswidrigkeit der Fristenlösung) oder der 686  Vgl. nur Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2091; siehe auch oben Fn. 670. 687  Vgl. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, 1960, S. 241 ff.; zum ‚Bruch‘ des Grundgesetzes mit dem Positivismus der Weimarer Zeit ausführlich oben unter B. II. 1. a). 688  Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 1967, S. 37 ff. 689  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 244. 690  Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931; Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 1931. 691  Siehe Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952 bei Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, 1957, S. 144 f. 692  Zur Position Kelsens siehe oben unter B. I. 2. a) aa). 693  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 245.

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Hochschulreformen wandten.694 Letztlich zielte die Kritik jedoch nicht gegen das materiale Grundrechtsverständnis und eine wirklichkeitsorientierte Verfassungsauslegung, die Denninger ausdrücklich den kritisierten Entscheidungen des Verfassungsgerichts entgegenhielt.695 Vielmehr wurde die Wertejudikatur nun als methodische Einbruchstelle dafür angesehen, in politisch gewollten Fällen die funktionellen Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrollorgan der Legislative zu übersteigen und den politischen Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers durch genaue verfassungsgerichtliche Vorgaben übermäßig einzuengen.696 Die Kritik hatte jedenfalls insoweit Konsequenzen, als in der Folge auch unter den Befürwortern der von der Rechtsprechung entwickelten materialen Grundrechtsinterpretation vermehrt und deutlicher als zuvor die funktionell-rechtlichen Grenzen betont wurden.697 3. Der topische Ansatz in der verfassungsrechtlichen Methodendiskussion Die scharfe Kritik Forsthoffs an der geisteswissenschaftlichen Methode der Verfassungsinterpretation setzte die durch das Bundesverfassungsgericht eingeleitete Rechtsprechungsentwicklung in einen unmittelbaren Zusammenhang zur Integrationslehre Smends und erregte daher im staatsrechtlichen Schrifttum Aufsehen. Die wesentlichen methodischen Grundlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurden in der Methodendebatte vor allem von Vertretern der Smend-Schule methodologisch begründet und gegen die Kritik verteidigt. Hierfür können vor allem zwei Gründe ausgemacht werden. Zum einen grenzte sich die Smend-Schule, wie dargelegt, dezidiert gegen die Grundüberzeugungen der von Schmitt begründeten verfassungstheoretischen Denkschule ab, sodass die Kritik an der Verfassungsrechtsprechung und ihre Verortung in unmittelbarer Nähe zu Smends geisteswissenschaftlicher Methode geradezu deren Verteidigung herausfordern musste.698 Zum anderen spiegelte der integrative Ansatz der SmendSchule wesentliche Weichenstellungen der frühen Verfassungsrechtsjudikatur 694  Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, 1975, S. 545 ff., der insbesondere auf die Entscheidungen BVerfGE 35, 112 – Hochschulurteil und BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I Bezug nimmt. 695  Ebd., S. 546: Wertebezug bedeute Entlastung von „kritischen Wirklichkeitsbezügen“. 696  Ebd., S. 548. 697  Etwa Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980. 698  Zum Antagonismus der Denkschulen ausführlich oben unter B. III. 2. a), b); siehe auch Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 112 ff.



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wider; genannt seien nur die einheitsbezogene Verfassungsinterpretation, das Verständnis des Grundgesetzes als materialer Grundordnung des Staates – in Abgrenzung zu einer bloßen „Rahmenordnung“699 – sowie der Problemund Wirklichkeitsbezug der Verfassungsauslegung.700 So kam es zwei Jahre nach Erscheinen des Forsthoff-Beitrags auf der Staatsrechtslehrertagung in Freiburg 1961 zu einer Aussprache über die „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“, die durch Referate von Peter Schneider701 und Horst Ehmke702 eingeleitet wurde. Während Schneiders Vortrag eher vorsichtig zurückhaltend versuchte, einige philosophische Prämissen und Implikationen der Verfassungsinterpretation auszuloten, hat ­Ehmkes Referat „die weitere Diskussion nachhaltig geprägt“.703 Ehmke kam aus der Schule von Smend und war durch verschiedene Studien- und Forschungsaufenthalte in den Vereinigten Staaten stark durch das US-amerikanische Rechtsdenken beeinflusst.704 Die Verbindung aus einer Rezeption der Smendʼschen Denktradition und dem angloamerikanischen Verfassungsdenken hatte der sehr viel jüngere Ehmke mit dem spiritus rector des Statusberichts, Leibholz, gemein. In seinem Referat stellte Ehmke vor allem eine Verbindung der Verfassungsinterpretation zur problembezogentopischen Methode her, deren Ursprünge im Folgenden kurz beleuchtet werden. a) Die Topik nach Viehweg Der Zivilrechtler und Rechtshistoriker Theodor Viehweg hatte 1953 eine kleine Schrift mit dem Titel Topik und Jurisprudenz veröffentlicht, welche die Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft der jungen Bundesrepublik maßgeblich beeinflusste. Im Kern beinhaltete sie die These, dass die 699  Der Begriff wurde von Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 26 ff., geprägt. Zu Böckenfördes verfassungstheoretischem Grundverständnis siehe auch Dreier, Dimensionen der Grundrechte – Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten, 1993, S. 53 f. 700  Zusammenfassend Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 159 ff. 701  Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963. 702  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963. 703  Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 45; ähnlich Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, 2003, S. 384; Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 246, bemerkt, dass Ehmke bei der Debatte seines Beitrags auf der Staatsrechtslehrertagung auf „erstaunlich wenig Widerstand“ stieß. „Das Referat war aus seiner Sicht ‚sehr gut aufgenommen worden‘.“ 704  Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, 2012, S. 232; Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 247 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Topik als eine von der Rhetorik entwickelte Technik des Problemdenkens die Struktur des juristischen Denkens präge.705 Die Schrift war überaus einflussreich, auch wenn sie kontrovers diskutiert wurde; sie erlebte bis 1974 fünf Wiederauflagen.706 Die „Topik-Diskussion“, die etwa zwanzig Jahre andauerte und anschließend deutlich an Lebendigkeit verlor, kann hier nur in den Grundzügen nachgezeichnet werden.707 Viehwegs Schrift, die einen „Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grund­ lagenforschung“708 leisten wollte, stellte – entgegen manchem Missverständnis – keine ausgearbeitete juristische Argumentations- oder Begründungstheorie dar. Es handelte sich vielmehr um den Versuch einer „Rekonstruktion juristischer Argumentationstechniken“ unter Bezugnahme auf die Topik bei Aristoteles, Cicero, Vico und das Problemdenken bei Hartmann. Es geht Viehweg dabei vor allem „um eine realistische Einschätzung der Steuerbarkeit rechtlicher Entscheidungsprozesse und ein reflektiertes juristisches Selbstbild“.709 Bei der Aristotelischen Topik handelt es sich nach Viehweg um eine denkerische Techne, „die sich am Problem orientiert“; sie sei daher „die Techne des Problemdenkens“.710 Techne war bei den alten Griechen eine praktische Kunst(fertigkeit), die nach Art des Handwerks in der Praxis zu erlernen, durch Erfahrung zu verfeinern und im Sinne des klugen Könnens zum Einsatz zu bringen war.711 Es geht also um die praktische Kunst der Problembehandlung. Unter einem Problem versteht Viehweg dabei jede Frage, „die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt“.712 Das Problemdenken grenzt er im Anschluss an Nicolai Hartmann vor allem gegenüber dem Systemdenken ab.713 Das axiomatische Systemdenken gehe zur Lösung eines Problems deduktiv von einem bestehenden System aus und greife auf die darin vorgegebenen Prämissen (Axiome) zurück. Auf diese Weise entfalte das Systemdenken eine selektive Wirkung, weil eine Lösung nur im Hinblick auf die Gesichtspunkte erfolgen könne, die im jeweiligen System bereits berücksichtigt seien. Während das Systemdenken den Akzent also auf das gegebene System lege, dessen Erhaltung die Abweisung system705  Viehweg, 706  Vgl.

Topik und Jurisprudenz, 1974. Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011,

S. 101. 707  Ausführlich Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, 2005. 708  So die Titelunterschrift von Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974. 709  Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005, S. 4. 710  Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 31. 711  Gröschner, Subsumtion – Technik oder Theorie?, 2014, S. 7. 712  Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 32. 713  Ebd., S.  32 ff.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 179

überschreitender Problemgehalte impliziere, verfahre die aporetische Denkweise genau umgekehrt. Sie setze beim Problem an, zu dessen Lösung ein passender Ableitungszusammenhang beziehungsweise ein System gesucht oder geschaffen werde.714 Die Topik soll bei Viehweg nun dem Problemdenken dienen, indem sie nach Gesichtspunkten (topoi) sucht, die zur Lösung des Problems beitragen können. Das kann entweder relativ beliebig geschehen (Topik erster Stufe) oder unter Rückgriff auf bereits erprobte Topoikataloge (Topik zweiter Stufe).715 Topoi und Topoikataloge haben daher nach Viehweg weitgehend die Bedeutung, erst einmal ein bestimmtes Verständnis des allgemein umschriebenen Problems festzulegen und aufzubauen. Sie rücken Fragen und Antworten zurecht und weisen auf das hin, was überhaupt näherer Erwägung wert scheint. So findet, wie Viehweg schreibt, „fortgesetzt ein Aufeinanderabstimmen statt, und die gängigen Topoi […] sind auf diese Weise gut geeignet, die Dimension zu zeigen, in der man sich jeweils bewegt und die man nicht verlassen darf, falls man nicht das Beweisverständnis verlieren will“. Insofern bieten Topoi und Topoikataloge im Sinne einer Art diskursiven Bindung einen „wünschenswerten Halt“. Die „Herrschaft des Problems“ erfordere andererseits „Beweglichkeit und Erweiterungsfähig­ keit“.716 Bei dem, was als Gesichtspunkt (topos) jeweils zugelassen ist, erweist sich die Diskussion nach Ansicht Viehwegs als „einzige Kontrollinstanz“; über die topoi muss daher unter den Gesprächspartnern Konsens hergestellt werden. Sind in diesem Sinne für einen Spezialbereich Topoikataloge anerkannt, so bieten sie einen Anreiz zur Systematisierung.717 Unter anderem an dieser Stelle wird deutlich, dass Viehweg den Gegensatz zwischen Problemund Systemdenken nicht als derart unversöhnlich ansieht, wie es zunächst scheint.718 Vielmehr versucht er mit Blick auf die Entwicklung des Rechtsdenkens zu zeigen, dass juristisches Denken eine topische Struktur aufweist, weil es in erster Linie nicht dem Systemdenken, sondern dem Problemden714  Zusammenfassend

S. 70.

715  Viehweg,

Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005,

Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 35. S.  41 f. 717  Ebd., S.  43 f. 718  Vgl. Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005, S. 80, die darauf hinweist, dass Viehweg „weit davon entfernt“ ist, das wechselseitige Verhältnis von Problem- und Systemdenken zu übersehen. „Ganz im Gegenteil basiert seine Differenzierung gerade auf der Einsicht, daß die Konstitution von Problem und System sich gegenseitig bedingt“; differenzierend auch Rehbock, Topik und Recht – eine Standortanalyse unter besonderer Berücksichtigung der aristotelischen Topik, 1988, S.  157 ff. 716  Ebd.,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

ken folge.719 Ziel juristischer Argumentation sei es, das Publikum von der „Richtigkeit“ im Sinne der Gerechtigkeit der gefundenen Problemlösung zu überzeugen.720 Kriele hat das Problemdenken 1976 als die „fundamentalste Herausforderung“ bezeichnet, die „die juristische Methodenlehre bisher erfahren hat“.721 So ist der Aufbruch in der juristischen Methodenlehre seit den 1960er Jahren maßgeblich auch der Arbeit Viehwegs zu verdanken. Im Rahmen der Verfassungsauslegung haben – wie wir sehen werden – neben Ehmke später vor allem Hesse und Kriele das Problemdenken stark gemacht, allerdings jeweils eingearbeitet in einen stärker normbezogenen hermeneutischen Methodenansatz.722 Der Topik hingegen ist in der folgenden Debatte vielfach pauschal zum Vorwurf gemacht worden, sie postuliere ein Primat des Problems gegenüber der Norm.723 Dies führe zur Infragestellung der Normgeltung des Gesetzes, das zu einem relevanten „Problemlösungsgesichtspunkt“ herabgestuft würde.724 Diese Fundamentalkritik hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Topik in der späteren Methodenentwicklung keine unmittelbare Bedeutung mehr zukam. Ihr ist sicher insoweit zuzustimmen, als die rhetorische Überzeugungskraft oder Plausibilität725 problembezogener Argumentation (allein) nicht zum Maßstab der ‚Richtigkeit‘ oder Angemessenheit von juristischen Entscheidungsbegründungen gemacht werden kann;726 was aber keinesfalls 719  Sogenannte „Topikthese“, vgl. Otte, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag und Aufgaben, 1970, S. 191. 720  Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 96. 721  Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 114. 722  Zur neuen Hermeneutik siehe im Folgenden unter B. III. 4. a). 723  Diesen Eindruck gewinnt man mitunter bei Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, der die Topik für eine kritische, teilweise ironische Analyse der Rechtsprechung und juristischen Literatur nutzt. 724  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2093; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 114. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Konzept Viehwegs findet indes seit Mitte der 1970er Jahre kaum mehr statt. Die Kritik wird stattdessen zu einem Gemeinplatz mit den immer selben Argumenten; statt vieler Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, S. 37 m. w. N.; aus dem Zivilrecht siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, S. 135 ff. 725  Vgl. aber von Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, 2005, S. 407: „Im alten Wortsinn bedeutet Plausibilität, dass der Redner danach trachtet, Applaus zu bekommen. In der Realität der gerichtlichen und bürokratischen Verfahren wandelt sich das Streben nach Beifall in das Bemühen, nicht auf Ablehnung zu stoßen; Plausibilität zeigt sich, mit Luhmann gesprochen, in der Regel in Nicht-Protest.“ 726  Der Bezug von Topik zur Rhetorik blieb in der Schrift Viehwegs zunächst noch unbearbeitet. Die Akzentuierung von „topischem“ und „systematischem“ Rechtsdenken erschien vor allem „als Gegenentwurf zur offiziellen juristischen Me-



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 181

bedeutet, dass eine rhetorische Analyse juristischer Begründungen nicht ertragreich ist.727 Andererseits ist die Kritik insoweit fragwürdig, als die Topik vor allem den Anspruch erhoben hat, ein realistisches (Selbst-)Bild juristischen Arbeitens zu entwerfen, und dabei keineswegs einen Primat des Problems gegenüber „der Norm“, sondern gegenüber „dem System“ postulierte.728 b) Die „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ von Ehmke Im Referat von Ehmke wird das topische Methodenverständnis jedenfalls nicht unreflektiert übernommen, sondern in einen hermeneutischen Methodenansatz eingebettet und auf das Feld der Verfassungsinterpretation zugeschnitten.729 So verbindet Ehmke auf originelle Weise die „verschüttete europäische Tradition der Topik“730 mit Elementen des US-amerikanischen Verfassungsdenkens, das schon zur damaligen Zeit stark vom Rechtsrealismus geprägt war.731 Als wichtigste Erkenntnis Viehwegs übernimmt er die thode und damit als eine Richtung der juristischen Methodenlehre“, Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 54. In späteren Arbeiten Viehwegs wird der Zusammenhang von Topik und Rhetorik stärker betont und die Perspektive einer „fortentwickelten, zeitgenössischen rhetorischen Argumentationstheorie“ entworfen; vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 111 ff. ‒ Anhang zur Fortentwicklung der Topik. Dieser Ansatz wird von einer Reihe von Autoren aufgegriffen und fortentwickelt (Ballweg, Schreckenberger, Seibert, Rodingen). Als vorrangige Aufgabe erachten diese Autoren „nicht die Formulierung von Regeln und Anleitungen, die die juristische Entscheidungstätigkeit steuern und inhaltlich rechtfertigen sollen, sondern dessen unvoreingenommene und nüchterne Rekonstruktion. Die besondere Akzentuierung der Pragmatik gegenüber Syntaktik und Semantik und die gezielte Untersuchung der Situationsbezogenheit sprachlichen Handelns zum Zwecke der Aufklärung spezifischer Anforderungen des juristischen Sprachgebrauchs bilden dabei die allen gemeinsame Grundlage“, Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005, S. 152; siehe etwa die Beiträge in Ballweg / Seibert, Rhetorische Rechtstheorie – Zum 75. Geburtstag von Theodor Viehweg, 1982, sowie Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970. 727  Vgl. Sobota, Rhetorisches Seismogramm – eine neue Methode in der Rechtswissenschaft, 1992; eine rhetorische Analyse von Entscheidungen findet sich bei Solbach, Politischer Druck und richterliche Argumentation, 2001. 728  Der Frage, ob die Kritik an der topischen Rechtstheorie rückblickend betrachtet im Einzelnen gerechtfertigt war oder ob sie, wie Launhardt in ihrer Studie zeigen möchte, auf einer Fehl- beziehungsweise Überinterpretation von Viehwegs Ansatz beruhte, kann jedoch in dieser Arbeit im Einzelnen nicht weiter nachgegangen werden; vgl. Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005, S. 3 ff., 94 ff., die sich ausführlich mit den Kritikern der Topik auseinandersetzt. 729  Vgl. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, 2003, S. 384 f. 730  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 55. 731  Den Zusammenhang zwischen Topikdiskussion und der Bewegung des legal realism untersucht Oppermann, Die Rezeption des nordamerikanischen Rechtsrealis-

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Einsicht, dass die Rechtsordnung nicht als ein „System abschließend formulierter Rechtssätze verstanden werden kann“. Da der Jurisprudenz nicht das System, sondern die Probleme vorgegeben seien, könne nicht von einem vorgegebenen System aus die Problemauslese erfolgen, sondern es müsse vielmehr vom jeweils vorgegebenen Problem her eine Systemauslese geschehen.732 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Ehmke hierbei – im Anschluss an Hans-Georg Gadamer733 und quasi im Vorgriff auf die bekannte Schrift von Josef Esser734 – dem Vorverständnis, das seiner Ansicht nach das Zusammentragen der für die Probleme maßgeblichen Gesichtspunkte und deren Einordnung in den Zusammenhang mit anderen Problemkreisen leitet. Die klassischen Auslegungsmethoden (Canones) betrachtet Ehmke entsprechend dem topischen Ansatz als Problemlösungsgesichtspunkte, die nicht in eine stufenweise Rangordnung zu bringen sind.735 Die topische Grundstruktur der Jurisprudenz zeige sich vor allem im Bereich des Verfassungsrechts mit seiner strukturellen Offenheit. Angesichts des knappen Wortlauts der Verfassung einerseits, ihrer inhaltlichen Weite und Unbestimmtheit ihrer Grundzüge andererseits, liege im Verfassungsrecht die „Notwendigkeit kontinuierlicher Rechtsfortbildung klar zutage“:736 Neben der Weite und Dynamik seines Gegenstands und der relativ geringen Dichte seiner Bezugspunkte zeichne sich das Verfassungsrecht vor allem durch seine enge Bezogenheit auf die jeweils „geschichtliche Einheit des Gemeinwesens“ aus. Entsprechend sieht Ehmke die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts darin, durch beständige Fortbildung des Verfassungsrechts die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu bewahren.737 Zugleich betont er jedoch die funktionellen Grenzen der Verfassungsrechtsprechung, vor allem gegenüber der Gesetzgebung. Das Gericht übe „bloß kontrollierende Funktion“ aus. Es habe nur zu fragen, ob ein Gesetz noch mit der Verfassung vereinbar sei, „nicht, ob es von der Verfassung her gesehen die bestmögliche oder aber auch nur eine gute Lösung darstellt“.738 mus durch die deutsche Topikdiskussion, 1985: Zwar hatten Rechtsrealismus und Topik unter historischem Blickwinkel ganz andere Hintergründe. In Bezug auf die „kritische Seite der Topik“ kann aber, wenn auch nicht von Einfluss, so doch „von Ähnlichkeit mit der rechtsrealistischen Bewegung gesprochen werden“, ebd., S. 157. 732  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 55. 733  Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 1990. 734  Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung – Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1972. 735  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 59. 736  Ebd., S. 62. 737  Ebd., S.  67 f. 738  Ebd., S. 69.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 183

Darauf wendet sich Ehmke der Frage zu, wie genau das verfassungstheoretische Vorverständnis begründet werden kann, das die Problemauslese und damit die Verfassungsauslegung leiten soll. Die Antwort müsse „in der Tradition der Topik“ lauten: Nach der […] Überzeugungskraft einer verfassungstheoretischen Argumentation. Die nächste Frage ist dann: Wer bestimmt, ob eine in der Sache wurzelnde verfassungstheoretische Überzeugungskraft vorliegt? Nun, sicher nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern vielmehr der Konsens aller „Vernünftig- und GerechtDenkenden“.739

Von dieser überaus vagen Formel ausgehend, deren Unbestimmtheit einen großen Schwachpunkt der Argumentation Ehmkes darstellt, befasst er sich mit den funktionell- und materiell-rechtlichen Interpretationsprinzipien, wobei er deren Ineinanderwirken aufzeigt.740 Zu den funktionell-rechtlichen Interpretationsprinzipien zählt er insbesondere das Prinzip der verfassungskonformen Auslegung und die aus dem US-amerikanischen Verfassungsrecht entlehnte political-questions- und die preferred-freedoms-Doktrin.741 Als Beispiele für materiell-rechtliche Interpretationsprinzipien nennt Ehmke – ganz in der Tradition der Smend-Schule stehend – zunächst das Prinzip der Einheit der Verfassung.742 Darunter zu verstehen sei die „Notwendigkeit“, die Verfassung jeweils als einen „in sich sinnvollen, zwar vielseitigen und keineswegs spannungslosen, aber doch immer auf die Einheit des Gemeinwesens gerichteten Ordnungszusammenhang zu interpretieren.“743 Es gehe gerade nicht darum, Antinomien in das Verfassungsrecht hineinzulesen, wie etwa Schmitt und Forsthoff dies getan hätten.744 Vielmehr ergebe sich aus dem Gedanken der Einheit der Verfassung, dass eine „Hierarchie“ zwischen einzelnen Verfassungsnormen ebenso abzulehnen sei wie das Verständnis der Grundrechte als eines lückenlosen „Wertsystems“.745 Ehmkes Referat steht exemplarisch für eine in den 1960er Jahren aufstrebende jüngere Generation von Staatsrechtlern, die aus einem „dynamischen 739  Ebd.,

S. 71.

noch Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 8 f., der Ehmke dafür kritisiert, dass er materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Interpretationsprinzipien grundsätzlich auseinanderzuhalten versuche. Worauf es demgegenüber ankomme, sei, die funktionell-rechtliche Dimension jedes materiellen Interpretationsprinzips als dessen „integralen Bestandteil“ zu verstehen. 741  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 73 ff. 742  Ausführlich dazu unter C. I. 4. b). 743  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 77; ebenso in Anschluss an Ehmke Scheuner, Pressefreiheit, 1965, S. 53 f. 744  Ehmke, ebd., S. 80. 745  Ebd., S.  78 ff., 82 ff. 740  Differenzierter

184

B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

und modernisierenden Impuls“ heraus „zeitgemäße Antworten auf aktuelle verfassungsrechtliche Problemstellungen“ suchten.746 Besonders anschaulich wird dies in der Verbindung des von der Topik hervorgehobenen Problemdenkens mit Einflüssen aus der US-amerikanischen Verfassungslehre, auch wenn sich die daraus abgeleiteten dogmatischen Angebote – wie etwa die political-question-Doktrin – im bundesdeutschen Kontext letztlich nicht durchgesetzt haben. Als besonders erkenntnisreich hat sich hingegen der von Ehmke aufgezeigte Zusammenhang zwischen materiell-rechtlichen und funktionell-rechtlichen Interpretationselementen erwiesen, der aus der heutigen Diskussion nicht mehr wegzudenken ist.747 Das von der Topik eingeführte Problemdenken hatte damit, wie das Referat von Ehmke zeigt, nachhaltigen Einfluss auf die verfassungsrechtliche Hermeneutik, die in den 1960er und -70er Jahren in eine Phase grundlegender Erneuerung eintrat.748 4. Praktisch-hermeneutische Interpretationskonzepte a) Einfluss der Neuen Hermeneutik in der juristischen Methodik Wie gezeigt wurde, war die Topik im Sinne der Techne des Problemdenkens ein praktisch-methodologischer Ansatz und nicht, wie vielfach behauptet wurde, eine rechtstheoretische Infragestellung der Normbindung der Gerichte. Die Verknüpfung zwischen problembezogener Argumentation und verständnisgeleiteter Interpretation wurde indessen in der juristischen Hermeneutik hergestellt. Das traditionelle juristische Methodenverständnis ist von der Theorie des Subsumtionsschlusses bestimmt. Der ‚Fall‘ als tatsächlicher Lebenssachverhalt wird danach dem durch Auslegung konkretisierten Sinngehalt des gesetzlichen Tatbestands unter- beziehungsweise zugordnet.749 Die Gesetzes­ interpretation wird in der überkommenen juristischen Denkweise als ein textbezogenes hermeneutisches Verfahren angesehen, mit dem sich „der Auslegende“ den „Sinn eines Textes […] zum Verständnis“ bringen soll. Er 746  Günther, Wer beeinflusst hier wen?, 2006, S. 135; Lepsius, Die Wiederent­ deckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, 2003, S. 383 f. 747  Zu den funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpretation unter D. II. 2. 748  Vgl. Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011, S.  101 ff. 749  Vgl. Gröschner, Subsumtion – Technik oder Theorie?, 2014, S. 29: „In diesem dichotomischen Schema verkümmert die lebendige Alltagswelt juristischer Auseinandersetzungen zur schematisch isolierten Tatsachenfeststellung auf der einen und der Rechtsanwendung auf der anderen Seite.“



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 185

soll die verschiedenen „möglichen Bedeutungen eines Wortes“ darauf prüfen, welche im konkreten Fall „die ‚richtige‘ sei“.750 Im Sinne eines geisteswissenschaftlichen Verstehensvorgangs soll daher auf zwei gedanklichen Ebenen vorgegangen werden. Auf der einen Ebene soll der „Sinn“ einer Norm ermittelt (Auslegungsebene) und dann, sozusagen auf der anderen Ebene, auf einen konkreten, durch Tatsachenfeststellungen ermittelten oder ermittelbaren Sachverhalt angewendet werden (Anwendungsebene).751 In der Tradition Savignys752 wird die juristische Hermeneutik dementsprechend als die „Kunstlehre des Verstehens“ von Rechtstexten und nicht als praktisches Argumentieren verstanden.753 Entsprechend diesem Verständnis ist die Norm als ein sprachlich verkörperter Gedankeninhalt zu betrachten, der ein Sollen ausdrückt.754 Dieses überkommene juristische Sprachmodell beschreibt Rottleuthner wie folgt: Die Bedeutung eines gesetzlichen Begriffes oder eines Gesetzestextes überhaupt erschließt sich gemäß dieser Vorstellung dann, wenn man nach dem üblichen Sprachgebrauch („Wortlaut“), der syntaktischen Konstruktion, dem Textzusammenhang, den „Motiven“ des Gesetzgebers fragt oder – in der „objektiv-teleologischen“ Auslegung – danach, welche Zwecke durch ein bestimmtes Urteil (und eine entsprechende Auslegung) erreicht werden sollen.755

Die Auslegung der Norm wird als ein geistiger Prozess betrachtet, der vermittels einer abschließenden Subsumtion die Anwendung der Norm auf einen bestimmten Lebenssachverhalt ermöglicht.756 Norm und Lebenswirklichkeit stehen sich in diesem Modell also grundsätzlich als getrennte, wenn 750  Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 204: „Jurisprudenz als ‚verstehende‘ Wissenschaft“; ähnlich unter anderem die ‚klassischen‘ Hermeneutiker wie Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 84 ff.: „Nur der Jurist, der nach dem wahren Sinn und nach dem rechten Verstehen der Rechtsvorschriften strebt, macht glaubhaft, dass die Rechtswissenschaft eine Geisteswissenschaft ist“; vgl. auch Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 25; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, S. 402 ff.; Looschelders / Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 21 ff.; Schapp, Die juristische Methode als der Weg zum Verstehen und Anwenden des Rechts, 2001; Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 86 ff. 751  Exemplarisch Engisch, ebd., S. 84 ff. 752  Vgl. Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, 2003, S. 3 f., der darauf hinweist, dass Savignys Überlegungen jedenfalls ursprünglich nicht von Schleiermacher beeinflusst waren. Jedoch ergibt sich ein enger zeitlicher und ideengeschichtlicher Zusammenhang. Zu den Canones der Gesetzesauslegung siehe oben unter B. I. 1. a). 753  Meder, Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, 2009, S.  22 f. 754  Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 121. 755  Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, 1976, S. 9. 756  Klassisch: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 56 ff.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

auch aufeinander bezogene Sphären gegenüber: die eine, dem Sollen zugehörig, ist geistig, die andere, dem Sein zugehörig, ist lebensweltlich. Zu Beginn der 1960er Jahre beginnt in der juristischen Methodenlehre eine Phase der Rezeption der neuen philosophischen Hermeneutik, die von Gadamers 1960 erstmals erschienenen „epochemachendem“757 Werk Wahrheit und Methode758 beeinflusst war.759 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang besonders die Arbeiten von Arthur Kaufmann760, Winfried Hassemer761, Wolfgang Esser762 sowie Friedrich Müller763. Die „Neue Hermeneutik“ setzte sich bewusst von der klassischen hermeneutischen Tradition ab. Gadamer geht es – in der Denktradition Heideggers stehend – um Verstehen nicht als Verhaltensweise des Subjekts, sondern als „Seinsweise des Daseins selbst“, als „die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins“. An die Stelle des psychologistischen Verstehensmodells tritt die sogenannte „existenziale“ Deutung des Verstehens.764 Gadamer hebt dabei die Gebundenheit der Auslegung an die hermeneutische Situation und die Geschichtlichkeit des Verstehens „in Abhängigkeit von der Überlieferung“ hervor. Mit der „ontologischen Wendung“ der Hermeneutik betont er „die Geschichtlichkeit, Standpunktbezogenheit, Relativität aller Wahrheit“.765 Exemplarisch verdeutlicht er den Vermittlungsvorgang, der dem Prozess der hermeneutischen Sinndeutung zugrunde liegt, an der juristischen Hermeneutik: Der Richter, welcher das überlieferte Gesetz den Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt, will gewiß eine praktische Aufgabe lösen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkürliche Umdeutung. Auch in seinem Fall bedeutet Verstehen und Auslegen: einen geltenden Sinn Erkennen und Aner757  Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011, S. 101. 758  Gadamer, Wahrheit und Methode, 1990. 759  Vgl. Frommel, Rezeption der Hermeneutik, 1981, S. 44 ff.; vgl. auch Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, 1984. 760  Zum methodischen Werk Arthur Kaufmanns ausführlich Hassemer, Die Hermeneutik im Werk Arthur Kaufmanns, 1984; vgl. nur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, 1999, sowie Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, 1984. 761  Hassemer, Tatbestand und Typus – Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1968. 762  Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972. 763  Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; zum Normbereichsmodell F. Müllers siehe ausführlich auch unter B. III. 4. a) aa). 764  Gadamer, Wahrheit und Methode, 1990, S. 270 ff.; dazu Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, 1976, S. 10 f. 765  Frommel, Rezeption der Hermeneutik, 1981, S. 48; ausführlich auch Kögler, Die Macht des Dialogs: Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, 1992, S.  20 ff.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 187 kennen. Er sucht dem „Rechtsgedanken“ des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt. Gewiß ist das eine juristische Vermittlung. Die rechtliche Bedeutung des Gesetzes – und nicht etwa die historische Bedeutung des Erlasses des Gesetzes oder irgendwelche Fälle seiner Anwendung – ist es, was er zu erkennen sucht. Er verhält sich also nicht als Historiker – wohl aber verhält er sich zu seiner eigenen Geschichte, die seine Gegenwart ist.766

Die maßgebliche Aufgabe der richterlichen Interpretation besteht folglich nach Gadamer darin, sich mit Blick auf den aktuell zu entscheidenden Sachverhalt die Frage zu stellen, wie der überlieferte Rechtstext den „Bedürfnissen der Gegenwart“ entsprechend zu verstehen und anzuwenden ist. So würde eine rein historische Interpretation – etwa im Sinne des Originalismus –767 den hermeneutischen Sinn des Interpretationsvorgangs verfehlen, wenn sich der Kontext der Überlieferung verändert hat. Denn der Rechtstext ist in diesem und mit Blick auf diesen Kontext verfasst worden, weshalb sein ‚richtiges‘ Verständnis eine Übersetzungsleistung verlangt. Der Einfluss, den die Neue Hermeneutik auf die juristische Methodenlehre ausgeübt hat, liegt nicht so sehr in einer eingehenden Rezeption ihrer philosophischen Grundlagen. Sie erfüllte vor allem eine kritische Funktion, indem sie die Prämissen der klassisch-hermeneutischen Methodik wie Gegenstandsbezogenheit und Objektivität in Frage stellte.768 Dies manifestierte sich vor allem durch die Einführung zweier Figuren oder Begriffe, die in der Diskussion eine prominente Stellung einnahmen: das Vorverständnis – bei Gadamer: „Vorurteil“769 – und der hermeneutische Zirkel.770 Die von der Neuen Hermeneutik beeinflusste Rechtstheorie geht davon aus, dass eine Trennung von Wirklichkeit und Wert, von Sein und Sollen, von sozial regulierten Lebensverhältnissen und rechtlicher Ordnung nicht durchgehalten werden kann. Sie lehnt daher das überkommene Subsum­ tionsideal ab, wonach zunächst die Norm auszulegen und – quasi in einem logischen Schlussverfahren – auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden sei. Recht wird vielmehr begriffen als „Entsprechung von Sollen und Sein“, und Rechtsanwendung ist dann nicht die „Subsumtion“ eines Sachverhalts unter eine Norm, sondern „Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm“, „In-die-Entsprechung-Bringen von Sollen und Sein“.771 Die Begriffe des Zirkels und des Vorverständnisses bringen für die hermeneutische Rechts766  Gadamer,

Wahrheit und Methode, 1990, S. 333. US-amerikanischen Diskussion siehe unter C. I. 2. 768  Vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richter, 1975, S. 95. 769  Gadamer, Wahrheit und Methode, 1990, S. 251  ff., zu „Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens“. 770  Vgl.  Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, 1976, S. 11 f. 771  Hassemer, Über nicht-juristische Normen im Recht, 1982, S. 92. 767  Zur

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theorie zum Ausdruck, dass mit der ‚Anwendung‘ eines Gesetzes auf einen zu entscheidenden Sachverhalt notwendig ein Akt des Verstehens einhergeht, der sich sowohl auf das Gesetz als auch auf den Sachverhalt bezieht. Hassemer fasst die Grundaussagen der hermeneutischen Rechtstheorie wie folgt zusammen: Was die philosophische Hermeneutik als „Zirkelproblem“ diskutiert – das Ineinander von Verstehendem und zu verstehendem „Gegenstand“ –, wird der juristischen Hermeneutik zur Verbindung von Norm und Sachverhalt: Aus der unendlichen Zahl von Informationen über die Welt läßt sich ein „Sachverhalt“ erst herstellen, wenn man weiß, wonach man zu suchen und zu fragen hat; dieses Wissen hat man nur aus der Norm. Die Norm aber läßt sich konkretisieren nur im Blick auf die Anforderungen, die als Entscheidungsprobleme vom konkreten Sachverhalt gestellt werden. Der sich in diesem „Zirkel“– auf dieser „Spirale“ – bewegende Richter (und jeder andere, der versucht, Sachverhalte unter Rechtsnormen zu entscheiden) bringt in den Prozeß des Verstehens von Norm und Sachverhalt notwendig Vor-Verständnisse mit ein: Muster von Betrachten und Handeln, die er seiner persönlichen Lebensgeschichte, seiner fachlichen Professionalisierung, aber auch den kulturellen Schemata verdankt, die seine Gesellschaft und seine Bezugsgruppe beherrschen. Diese Vor-Verständnisse sind inhaltlich, und sie sind unaufhebbar. Verstehen ist ohne Vor-Verständnis gar nicht möglich; alles, was widerfährt, trifft auf vorgängige Erfahrung, auf erinnerten und einsozialisierten Umgang mit Ähnlichem, auf Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen, auf eingeschliffene Bewertungen, Wünsche und Ängste. Das Panier der hermeneutischen Rechtstheorie ist deshalb nicht, Vor-Verständnisse zu überwinden, sondern vielmehr, sie bewußt und – im Fall des Richters auch – so weit wie möglich durchsichtig und öffentlich zu machen.772

Mit dem Begriff des Vorverständnisses wird in der hermeneutischen Rechtstheorie demgemäß dreierlei verbunden. Zum einen geht es um die allgemeine erkenntnistheoretische Feststellung, dass menschliche Erfahrungen nicht voraussetzungslos sind, sondern nur im Rahmen von vorgeprägten Erwartungen gemacht werden. Jeder Mensch steht schon in einem ‚Lebensverhältnis‘ zu den Dingen, das notwendige Bedingung für das Verstehen ist.773 Zum anderen wird der Begriff verwendet, um eine (sozial)psychologische Vorprägung von Juristinnen und Juristen zu bezeichnen. Esser774 hat in seinem vielbeachteten Werk Vorverständnis und Methodenwahl dargelegt, dass das Vorverständnis „Lernprozessen“ entstammt und durch soziale Erfahrung gewonnen wird.775 Diese Lernprozesse finden nach Esser vor allem in der 772  Ebd.,

S.  93 f.

773  Siehe  Rottleuthner,

Hermeneutik und Jurisprudenz, 1976, S. 21 f. Vorverständnis und Methodenwahl, 1972. 775  Damit hat Esser aufgezeigt, dass Rechtsfindung als „soziale Praxis“ betrachtet werden kann; aus der neueren Literatur dazu Bourdieu, La force du droit, 1986 (englische Übersetzung: Bourdieu, The Force of Law: Toward a Sociology of the 774  Esser,



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juristischen Ausbildung statt: Der Student habe ursprünglich ein „vorjuristisches Vorverständnis“ und lerne im Studium das „geltende Normverständnis“. Durch Ausbildung und praktische Erfahrung erwerbe man ein „Judiz“ und Überblick; in ihnen lägen die Motive für die „vorgreifende Normbewertung“. Einstellungen würden auch präjudiziert durch den „gesellschaftlichhistorischen Horizont“. Schließlich bestimme das „Verhältnis zum Überlieferten“ die Antizipation von Sinn, die das Textverständnis leite.776 Zuletzt wird unter dem Begriff des Vorverstehens auch ein methodischer Aspekt expliziert, der sich im Bild des hermeneutischen Zirkels oder der „Spirale“777 wiederfindet. Es kennzeichnet den Prozess der Aufstellung von Deutungshypothesen, deren Überprüfung, Revision und erneuten Aufstellung, abermaligen Prüfung usf. In der Arbeit von Esser wird besonders deutlich, wie nah diese methodische Vorgehensweise am Problemdenken liegt, das den „Normsinn“ aus der Gegenwart heraus (neu) deutet: Es wäre hoffnungslos, auch nur einen ganz elementaren Ausdruck rein sprachlich interpretieren zu wollen. Kriele exemplifiziert das an Art. 1 GG hinsichtlich der Worte „Würde“ und „unantastbar“. Solches vergebliche Unterfangen macht deutlich, daß die juristische Textauslegung nur relevant sein kann, wenn sie zuvor die konkreten Probleme „richtig“ versteht und aus diesem Verständnis heraus den Text befragt. Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage im Hinblick auf die mögliche Weisungs-Bedeutung des befragten Textes ist der entscheidende Akt, ohne den sich der Regelungssinn eines Ausdrucks der Gesetzessprache überhaupt nicht erschließen kann. Um eben dieses „Herantragen“ geht es in der juristischen Hermeneutik. […] Es liegt […] auch am Zeitfaktor. Indem eine Frage aus der Gegenwart an den als aktuell sinnvolle und verbindliche Norm zu verstehenden Text herangetragen wird, wird ein Problem-Verständnis dieses Textes gefordert, das nicht mit dem historischen Vorverständnis zusammentrifft.778

Die Neuorientierung der juristischen Hermeneutik durch die Rezeption ihres philosophischen Gegenparts hatte eine nachhaltige Wirkung auf das juristische Methodenverständnis, auch in der Verfassungsrechtswissenschaft. Hasso Hofmann hat den Prozess der Übertragung der Neuen Hermeneutik Juridical Field, 1986); Morlok / Kölbel / Launhardt, Recht als soziale Praxis – Eine soziologische Perspektive in der Methodenlehre, 2000; Morlok / Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, 2001; vgl. auch Wrase, Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, 2010; ausführlich unter C. II. 776  Die Zusammenstellung der entsprechenden Passagen findet sich bei Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, 1976, S. 22 f. 777  Das Bild der „Spirale“ hat Hassemer eingeführt. Er will damit zum Ausdruck bringen, dass das Verstehen von Norm und Sachverhalt miteinander voranschreitet zu „zu besserem, zu mehr gesättigtem Verstehen“; Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S.  106 ff. 778  Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972, S. 138.

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auf das Verfassungsrecht als die „Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik“ bezeichnet, nach deren Rezeption eine Rückkehr zur „klassischen zivilistischen Interpretation in der Nachfolge Savignys ausgeschlossen war und ist“.779 Dabei waren es vor allem Konrad Hesse und sein Schüler Friedrich Müller, die im Zuge der Rezeption der Neuen Hermeneutik neue rechtsmethodische Konzepte für die Verfassungsrechtswissenschaft entwickelt und damit die juristische Hermeneutik ‚konstitutionalisiert‘ haben. aa) „Normstruktur und Normativität“ von F. Müller Eine bis heute einflussreiche Studie zum Verhältnis von Normauslegung und Wirklichkeit hat Friedrich Müller mit seiner Habilitationsschrift Normstruktur und Normativität 1966 vorgelegt.780 Seinen darin entwickelten methodischen Ansatz hat er später in der Strukturierenden Rechtslehre und der Juristischen Methodik weiterentwickelt, deren Grundlagenband bis 2004 in neun Auflagen erschienen ist.781 Die folgende Darstellung und Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf das Frühwerk Normstruktur und Normativität, da in dieser Arbeit das Fundament für Müllers Norm(interpre­tations) konzept gelegt wurde, das die weitere Debatte der 1970er und -80er Jahre beeinflusst hat. In der Schrift geht Müller entsprechend seinem Verständnis von Normativität nicht von dem zu lösenden (Rechts-)Problem, sondern von der (Rechts-)Norm aus. Rechtswissenschaft ist für ihn als praktische Disziplin eine Normwissenschaft.782 Das neue innovative Moment liegt vor allem in dem erweiterten Normbegriff, den Müller zugrunde legt. Die ‚Norm‘ erschöpft sich danach nicht allein im Normtext und dem darin ausgedrückten Normbefehl, sondern sie geht darüber hinaus und erfasst auch soziales Kontextwissen. Entsprechend den Einsichten der Neuen Hermeneutik betrachtet Müller das „Verstehen“ als ein „aktuelles Geschehen“, das sich erst im Moment der Anwendung der Norm vollzieht, wenn diese konkretisiert wird. Hermeneutik meint in diesem Sinne das „Verfahren normgebundener Applikation“.783 Normativität und Wirklichkeit bilden in der 779  Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011, S. 107. 780  Müller, Normstruktur und Normativität, 1966. 781  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004; zur „Strukturierenden Rechtslehre“ siehe Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994. 782  Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 18. 783  Ebd., S. 66: „Die Norm ist nicht fertig und ‚anwendbar‘. Ihr Sinn vollendet sich jeweils erst in der Konkretisierung.“



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praktischen Hermeneutik Müllers keine getrennten Sphären, sondern stellen „in wechselnder Mischung wirksame Momente der Rechtskonkretisierung“ dar.784 Müller unterteilt die Norm strukturell in Normtext, Normprogramm und Normbereich. Die Auslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln bestimme das Normprogramm. Wenn man so will, geht es Müller um das normative Programm, den Rechtsbefehl, der sich mittels der im juristischen Diskurs anerkannten Sprach(verwendungs)konventionen zumindest seinem äußeren Rahmen nach abstrakt bestimmen lässt. Mit seiner Hilfe wähle der Rechtsanwender aus dem Sach- beziehungsweise Anwendungsbereich der Norm die „Teilmenge der für das Fallergebnis“ relevanten „Tatsachen“ aus; diese bildet in Müllers Terminologie den Normbereich.785 Die Norm setze sich somit zusammen aus dem Normtext, der sprachlich ausgelegt das Normprogramm vorgebe, und zugleich aus dem in Bezug genommenen Normbereich. Die Norm sei dabei in ihrem Wirklichkeitsbezug zu erfassen.786 Das bedeutet nach Müller auch, dass eine (empirisch feststellbare) Änderung im Normbereich zu einem Bedeutungswandel der Norm selbst führen kann. Die „Struktur des Normbereichs“ ist für ihn „ein Bestandteil rechtlicher Normativität. Eine verfassungsmäßige Norm kann dadurch, daß sie sich im Umfang oder Inhalt ihres Normbereichs ändert, verfassungswidrig werden.“787 Zur Konkretisierung gehört nach Müller entsprechend nicht nur die nähere Bestimmung des allgemein umschriebenen Normprogramms im Sinne sprachlicher Konvention, das heißt unter Heranziehung der herkömmlichen Canones und im juristischen Diskurs gebräuchlichen topoi,788 sondern auch eine Analyse der „Strukturelemente des Normbereichs“.789 Je genauer und umfassender der Normtext sowohl den Normbereich als auch die normativen Leitgedanken der Vorschrift begrifflich erfasse, desto stärker könne „sich die methodische Konkretisierung auf den Text stützen“.790 Die Bedeutung der Normbereichsanalyse nehme hingegen bei relativ unbestimmt formulierten Normen, wie insbesondere den Grundrechten, die auf allgemein umschriebene Lebensbereiche verweisen, zu. Jedoch gibt nach Müller auch 784  Ebd., S. 115: „Was rechtliche Normativität ist, erweist sich jeweils konkret im Zusammenspiel von Gesichtspunkten, die geläufig zu abstrakten Metaphern wie ‚Norm‘ und ‚Faktum‘, ‚Recht‘ und ‚Wirklichkeit‘ und zu deren gleichfalls abstraktem Verhältnis verallgemeinert werden.“ 785  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 16. 786  Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 168. 787  Ebd., S. 117; vgl. auch S. 131. 788  Ebd., S. 152. 789  Ebd., S. 140. 790  Ebd., S. 153; vgl. auch S. 162.

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hier die Formulierung des Normtextes zumindest „wichtige Hinweise auf den oder die normativen Leitgedanken […] und damit auf die Fragerichtungen, unter denen der Normbereich zu berücksichtigen ist“791. Die hermeneutische Verarbeitung von Normprogramm und Normbereich kann nach Auffassung Müllers keinen „Automatismus richtiger Entscheidungen“ zustande bringen, sondern nur den Rechtsanwendungsprozess durch Zwang zur detaillierten Begründung rationalisieren.792 Normbereichsanalyse ist die besondere Aufgabe des Rechtsanwenders, „nach Maßgabe normativer Gesichtspunkte und Fragerichtungen rechtssoziologisch zu arbeiten“, das heißt empirisch-soziologische Realdaten ebenso zu berücksichtigen wie „sozialgeschichtliche und soziologisch fundierte Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung“.793 Für den Prozess der hermeneutischen Verarbeitung der durch die Textauslegung und Normbereichsanalyse gewonnen Gesichtspunkte (in späteren Arbeiten spricht er von „Sprachdaten“ und „Realdaten“794) verwendet Müller die „bildliche Hilfsvorstellung“ einer „Ellipse“ mit den „Brennpunkten Normprogramm und Normbereich“.795 Auf dieser Ellipse bewegen sich die für die Interpretation maßgeblichen normativ relevanten Gesichtspunkte (topoi), die für die Normkonkretisierung argumentativ herangezogen werden (können). Die Vorstellung einer einzig richtigen Entscheidung lehnt er dabei ab, und verweist vielmehr auf einen Prozess praktischer Argumentation und Begründungsarbeit. Insofern betont er selbst die Nähe seines Rechtsanwendungsmodells zur Topik.796 Müllers Normkonkretisierungsmodell hat im Bereich der Verfassungsinterpretation einige Bedeutung erlangt.797 Trotz der mitunter „eigenwilligen Begriffssprache“ wird Müllers Methodenansatz in Böckenfördes kritischer „Bestandsaufnahme“ als einziger von der generellen Kritik ausgenommen, er trage zu einem Abbau der Normativität der Verfassung bei.798 Die Leistung von Müllers Methodik liegt vor allem darin, dass sie den Normbegriff 791  Ebd.,

S. 156. S. 177. 793  Ebd., S. 189. 794  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 13. 795  Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 195. 796  Ebd., S. 56 f. Die entscheidende Abgrenzung gegenüber der Topik liegt nach Müller darin, dass er ein Primat der Problemlösung vor der Norm(text)bindung ablehnt. Es ist allerdings bereits sehr fraglich, ob die Topik ein solches Primat überhaupt postuliert (hat); dazu oben unter B. III. 3. a). 797  von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 57 f., spricht davon, dass Müllers Theorie vom Normbereich in Rechtsprechung und Schrifttum „großen Zuspruch erfahren hat“. 798  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2096 (Fn. 90), 2097; ausführlich unter B. III. 5. 792  Ebd.,



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um den von der Norm umfassten Anwendungsbereich, den Normbereich, erweitert und damit die herkömmliche, durch den Neukantianismus geprägte Trennung zwischen Sollen und Sein für den hermeneutischen Prozess der Normkonkretisierung deutlich relativiert. Der Normbereich als in Bezug genommener (potentieller) lebensweltlicher Anwendungsbereich wird bei Müller zum Bestandteil der Norm selbst und ist im Prozess ihrer Konkretisierung ebenso zu berücksichtigen wie das Normprogramm, das sich vornehmlich aus einer klassisch-hermeneutischen (Norm-)Textauslegung ergibt. Zwar grenzt sich Müller klar von jeder naturrechtlichen Überhöhung der Normbereichsanalyse im Sinne einer überkommenen Argumentation aus der „Natur der Sache“ ab.799 Sein Ansatz geht jedoch fraglos von einem ontisch geprägten Strukturalismus aus, der soziale Verhältnisse und Zusammenhänge mitunter wie ‚Sachstrukturen‘ zu betrachten scheint, auch wenn er ihre (mögliche) Veränderlichkeit explizit voraussetzt. So führt Müller als Beispiel zu Art. 3 Abs. 2 und 3 GG etwa die Verschiedenartigkeit der Geschlechter und die daraus folgende Rechtfertigung funktionaler Unterschiede zwischen Mann und Frau in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, ohne sie etwa anhand empirischer Erkenntnisse weiter zu hinterfragen.800 Die Argumentation aus einer in diesem Sinne verstandenen „Struktur“ des Normbereichs kann dazu führen, dass Fragen der n ­ ormativen Steuerung in sozialen Konflikten verdeckt und aus einer vermeintlichen ‚Eigengesetzlichkeit‘ des Sachbereichs kurzerhand normative Schlussfolgerungen gezogen werden.801 Das wird deutlich, wenn Müller den Normbereich heranzieht, um damit die sachliche Reichweite von Grundrechtsgewährleistungen, etwa der Kunstfreiheit, einschränkend auszulegen,802 worauf später noch genauer eingegangen wird.803

799  Müller,

Normstruktur und Normativität, 1966, S. 94 ff. S.  118 ff. 801  Darauf, dass Müllers Theorie der sachlichen Reichweite von der Normbereichslehre getrennt werden kann, weist Arnauld, Freiheitsrechte, 1999, S. 59, dort Fn. 56, hin. 802  In diesem Zusammenhang erscheint auch die Kritik von Arnaulds an Müllers Normkonzept berechtigt, wenn auch von Arnaulds Festhalten an einem Rechtsanwendungsmodell, das Normauslegung und Subsumtion trennen möchte, wie der Autor selbst einräumt, prekär ist; ebd., S. 58 ff.; zur Kritik der engen Tatbestandsauslegung Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 280 ff. 803  Siehe unter D. II. 1. b). 800  Ebd.,

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bb) Fortentwicklung des Normbereichskonzepts in den „Grundzügen des Verfassungsrechts“ von Hesse Unmittelbaren Niederschlag haben Müllers Überlegungen in dem Werk Grundzüge des Verfassungsrechts seines akademischen Lehrers Konrad Hesse gefunden, das 1967 erstmals und dann bis 1999 in zwanzig Auflagen erschienen ist und in akademischen Kreisen sowie bei den Studierenden von Anfang an auf großes Interesse und großen Absatz stieß.804 In Hesses Lehrbuch werden zentrale Komponenten des Denkstils der Smend-Schule – insbesondere das Verständnis der Verfassung als einer auf die Wirklichkeit bezogenen Grundordnung des Staates und die einheitsorientierte Verfassungsauslegung –805 „auf eingängige und systematische Weise“ zusammengeführt.806 Es orientiert sich dabei zugleich eng an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.807 Nach Hesses verfassungstheoretischem (Vor-)Verständnis stellt das Grundgesetz die rechtliche Grundordnung808 des Gemeinwesens dar. Die Verfassung bestimmt dabei die Leitprinzipien, „nach denen politische Einheit sich bilden und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen“. Sie ist in diesem Sinne ein „auf bestimmte Sinnprinzipien ausgerichteter Strukturplan für die Rechtsgestalt des Gemeinwesens“809 und entsprechend „in die Zeit hinein offen“, nicht zuletzt um die „Bewältigung der Vielfalt geschichtlich sich wandelnder Problemlagen“ zu ermöglichen.810 Die Verfassungsnorm beansprucht durch ihre Geltung, in der Realität des Staates als sozialem Gemeinwesen „verwirklicht“ zu werden, sie ist mit anderen Worten auf die soziale Wirklichkeit hin orientiert.811 804  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967. Die Reaktionen auf das Buch nach seinem erstmaligen Erscheinen waren, wie Günther schreibt, „zustimmend bis überschwänglich, so daß sich die ‚Grundzüge‘ unter den Studenten zu einem regelrechten Beststeller entwickelten“; Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 309. 805  Vgl. oben unter B. III. 2. a). 806  Vgl. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 165. 807  Im Folgenden wird der Text der 20. Auflage des Lehrbuchs von 1999 zugrunde gelegt. Gegenüber der ersten Auflage wurden zwar diverse Änderungen und Vertiefungen vorgenommen, die verfassungstheoretischen Grundaussagen haben sich jedoch im Kern nicht verändert. 808  Zu den divergierenden Konzepten der Verfassung als Rahmenordnung und als Grundordnung oben unter B. II. 5. 809  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 17. 810  Ebd., Rn. 23. 811  So bereits in der Freiburger Antrittsvorlesung: Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 8.



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Die Entwicklung des Verfassungsrechts sieht Hesse im Spannungsverhältnis zwischen Starrheit und Beweglichkeit. Beides sei notwendig, damit die Verfassung ihre Funktion erfüllen könne: die Offenheit und Weite, weil nur sie es ermöglichten, „dem geschichtlichen Wandel und der Differenziertheit der Lebensverhältnisse gerecht zu werden“, die verbindlichen Festlegungen, „weil sie in ihrer stabilisierenden Wirkung jene relative Konstanz schaffen, die allein das Leben des Gemeinwesens vor der Auflösung in ständigen, unübersehbaren und nicht mehr zu bewältigenden Wechsel zu bewahren vermag“.812 Entsprechend dem Verständnis der Verfassung als Grundordnung lasse sich Verfassungsrecht „von menschlichem Handeln nicht ablösen“, sondern ziele in seiner „normativen Kraft“ unmittelbar auf gesellschaftliche Gestaltung. Erst indem es durch menschliches Handeln und in diesem „verwirklicht“ werde, gewinne es die Realität gelebter, geschicht­ liche Wirklichkeit formender und gestaltender Ordnung.813 Diese Verwirklichung hängt für Hesse davon ab, „inwieweit die Verfassung menschliches Verhalten tatsächlich motiviert und bestimmt, inwieweit also die Normen nicht hypothetisch, sondern real ‚gelten‘“.814 Dementsprechend können Verfassung und Wirklichkeit nicht voneinander isoliert werden; sie sind für Hesse unmittelbar aufeinander bezogen.815 Um jedoch menschliches Verhalten „in der jeweiligen Situation leiten zu können, bedarf deshalb die meist mehr oder minder fragmentarische Norm der Konkretisierung“, was nach Hesse nur möglich ist, indem „neben dem normativen Kontext die Besonderheiten der konkreten Lebensverhältnisse, auf die die Norm bezogen ist, in das Verfahren einbezogen werden“.816 Hier nun knüpft er in den späteren Auflagen seines Buchs unmittelbar an das von seinem Schüler Müller entwickelte Konzept des „Normbereichs“ an. Danach werden die von der Verfassungsnorm in Bezug genommenen „Gegebenheiten der sozialen Welt“, die im Normtext abstrakt bezeichnet werden, als Bestandteil der Norm selbst betrachtet: Da diese Besonderheiten und mit ihnen der „Normbereich“ geschichtlichen Veränderungen unterliegen, können die Ergebnisse der Normkonkretisierung sich ändern, obwohl der Normtext (und damit im wesentlichen das „Normprogramm“) identisch bleibt.817 812  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 37; vgl. auch die umfassende Studie von Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982. 813  Hesse, ebd., Rn. 42. 814  Ebd., Rn. 42; vgl. bereits Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1967, S. 17: „indem […] Inhalte der normativen Verfassung aktualisiert werden, werden diese Konkretisierungen selbst zum Bestandteil der wirklichen Verfassung“. 815  Hesse, ebd., Rn. 45. 816  Ebd., Rn. 45. 817  Ebd., Rn. 46.

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Verfassungsinterpretation sei Konkretisierung und damit schöpferische Rechtsfindung, die von bestimmten Vorverständnissen geleitet werde. Die Vorverständnisse seien durch die konkrete geschichtliche Situation, in der sich der Interpret befinde, aber auch durch die Gewordenheit seiner Denkinhalte geprägt. Es gehe somit darum, sich diese Vorverständnisse bewusst zu machen und sie zu begründen.818 Hierin liegt nach Hesse vor allem die Aufgabe der Verfassungstheorie, die ihrerseits keine beliebige sei, wenn sie aus einer konkreten Verfassungsordnung gewonnen und in Auseinandersetzung mit der konkreten Fallpraxis bestätigt und korrigiert werde. „Verstehen“ der Verfassungsnormen und damit deren Konkretisierung sei zudem „nur im Blick auf ein konkretes Problem“ möglich. Hier wird besonders deutlich, wie Hesse seinen maßgeblich von der Neuen Hermeneutik beeinflussten methodologischen Ansatz mit dem Problemdenken der Topik verbindet. Der Interpret müsse die Norm, die er verstehen wolle, auf das Problem beziehen, wenn er ihren hic et nunc maßgeblichen Sinn bestimmen wolle. Denn die Konkretisierung und die „Anwendung“ der Norm auf den konkreten Fall seien ein einheitlicher Vorgang, nicht nachträgliche Anwendung von etwas Gegebenen, Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden werde, auf einen Sachverhalt. Prägnant formuliert Hesse: Es gibt keine von konkreten Problemen unabhängige Verfassungsinterpretation.819

Ausgehend von dieser Prämisse schließt er sich dem von Müller entwickelten Konzept einer normativ gebundenen Topik an, die durch hermeneutische Konkretisierung des Normprogramms im Zusammenspiel mit einer Normbereichsanalyse geleistet wird.820 In einem durch das im Text der Norm abstrakt umschriebe Normprogramm normativ angeleiteten und gebundenen Verfahren müssten Gesichtspunkte gefunden werden, die im Wege der inventio aufgesucht und gegeneinander abgewogen werden und die Entscheidung möglichst einleuchtend und überzeugend begründen. In seinem einflussreichen Lehrbuch verarbeitet Hesse die wesentlichen verfassungstheoretischen und methodischen Entwicklungen in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und hebt sie unter Verarbeitung der methodologischen Debatten in der Staatsrechtswissenschaft auf die Höhe der Zeit. Von Ehmke übernimmt Hesse die Bedeutung des Problembezugs für die Verfassungsinterpretation.821 Ebenso betont er die funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsjudikatur und ihren Zusammenhang mit materiell818  Ebd.,

Rn.  62 f. Rn. 64. 820  Ebd., Rn.  67 ff. 821  Ebd., Rn.  64 ff. 819  Ebd.,



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rechtlichen Überlegungen.822 Als maßgebliche (Leit-)Prinzipien der Verfassungsinterpretation identifiziert Hesse die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung823 hervorgehobene Maxime größtmöglicher normativer Wirkungskraft sowie den Grundsatz der Einheit der Verfassung.824 Aus dem Grundsatz der einheitsbezogenen Verfassungsauslegung entwickelt Hesse im Anschluss an Richard Bäumlin825 das Auslegungsprinzip der praktischen Konkordanz.826 Verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter sollen danach „in der Problemlösung so einander zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt“.827 Wo Kollisionen entstünden, dürfe nicht in vorschneller „Güterabwägung“ oder gar abstrakter „Wertabwägung“ ein Grundrecht auf Kosten des anderen realisiert werden. Vielmehr stelle das Prinzip der Einheit der Verfassung die Aufgabe einer problembezogenen Optimierung: beiden Gütern müssten Grenzen gezogen werden, damit beide unter den gegebenen Umständen zu optimaler normativer Wirksamkeit gelangen könnten.828 Erstmals in seiner Entscheidung zur christlich orientierten Simultanschule in Baden-Württemberg hat das Bundesverfassungsgericht unmittelbar nach Eintritt Hesses als Richter in den Ersten Senat 1975 das Prinzip der „Konkordanz“ ausdrücklich hervorgehoben829 und als allgemeinen Abwägungsgrundsatz in seine weitere Rechtsprechung inkorporiert, aus der es heute nicht mehr wegzudenken ist.830

822  Ebd.,

Rn.  82 ff. oben unter B. II. 4. c). 824  Hesse, ebd., Rn. 70 ff. 825  Vgl. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 26 ff.; dazu Hesse, Besprechung von: Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, 1963, S. 485 ff. 826  Ausführlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, § 2 Rn. 72. 827  Ebd., Rn. 72. 828  Ebd., Rn. 72. 829  BVerfGE 41, 29 (51): „Keiner dieser Normen und Grundsätze kommt von vornherein ein Vorrang zu, wenn auch die einzelnen Gesichtspunkte in ihrer Bedeutung und ihrem inneren Gewicht verschieden sind. Eine Lösung läßt sich nur unter Würdigung der kollidierenden Interessen durch Ausgleich und Zuordnung der dargelegten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte unter Berücksichtigung des grundgesetzlichen Gebots der Toleranz (vgl. auch Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG) sowie unter Wahrung der Selbständigkeit der Länder auf dem Gebiet der Schulorganisation finden.“ 830  Vgl. etwa BVerfGE 52, 223 (247, 251) – Schulgebet; BVerfGE 77, 240 (255) – Herrenburger Bericht; BVerfGE 83, 130 (143) – Josefine Mutzenbacher; BVerfGE 89, 214 (232) – Bürgschaftsverträge; BVerfGE 93, 1 (21) – Kruzifix. 823  Siehe

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

b) „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ von Häberle Einen wichtigen Beitrag zur methodologischen Erneuerung der Staatsrechtswissenschaft haben auch die grundrechtstheoretischen Arbeiten Peter Häberles geleistet. Nach den Worten Böckenfördes hat Häberle mit seinem bekannten Beitrag „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ aus dem Jahr 1975831 die Demokratisierung und die „damit verbundene Radikalisierung der topisch-problemorientierten Methode“ vollzogen.832 Zutreffend an dieser etwas pauschalen Verortung bei der Topik ist, dass sich Häberle an zentralen Stellen seiner Überlegungen unmittelbar auf Ehmke bezieht, auch wenn er den topisch-problemorientierten Ansatz selbst nicht explizit aufgreift.833 Auch Häberles Beitrag zur offenen Gesellschaft ist vom Verfassungsdenken Smends beeinflusst;834 er basiert auf einem institutionellen Grundrechtsverständnis, das er 1962 in seiner Dissertation bei Hesse ausgearbeitet hat835 und das bis heute als einer der „wirkungsreichsten“ Ansätze einer „institutionellen Grundrechtstheorie“ bezeichnet wird, auch wenn seine Bedeutung im Rahmen der grundrechtstheoretischen Debatte begrenzt geblieben ist.836 aa) Die institutionelle Grundrechtstheorie nach Häberle In der institutionellen Grundrechtstheorie haben die Grundrechte nicht den Charakter von Abwehrrechten, die als negative Kompetenznormen die gesellschaftliche Sphäre vor Eingriffen des Staates schützen. Vielmehr fungieren sie als objektive Ordnungs- und Leitprinzipien für die von ihnen geschützten Lebensbereiche. Häberle greift damit unmittelbar die Entwicklung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf, welches – angefangen mit der Haushaltsbesteuerungsentscheidung – die Grundrechte auch als objektive „Grundsatznormen“ interpretierte.837 Nach dem institu­ 831  Häberle,

Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975. Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2093. 833  Vgl. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975, dort die zentrale Bezugnahme auf Ehmkes Referat in Fn. 3, 5, 42, 79 und 91. 834  Siehe oben B. III. 2. a); vgl. auch Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982. 835  Die Arbeit ist bis 1983 in zwei weiteren Auflagen erschienen; Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1983. 836  Scholz, Rezension Peter Häberle, 1985, S. 128; vgl. auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 57; zusammenfassend Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 75 ff. 837  Siehe oben unter B. II. 4. c)–d). 832  Böckenförde,



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tionellen Verständnis verwirklichen sich die Grundrechte in „normativen Regelungen institutioneller Art, die von der Ordnungsidee des Grundrechts getragen sind und als solche die Lebensverhältnisse prägen, zugleich aber die Sachgegebenheiten der Lebensverhältnisse, für die sie gelten, in sich aufnehmen und ihnen normative Relevanz verleihen“.838 Dieses Verständnis der Grundrechte bezieht Häberle in seinem Konzept nicht allein auf die so genannten Instituts- oder Einrichtungsgarantien im engeren Sinn, wie sie etwa in Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 14 Abs. 1 GG ausdrücklich genannt werden,839 sondern im Sinne einer allgemeinen Grundrechtstheorie auf alle Grundrechte. Ebenso wie bei Müller wird die Entgegensetzung von Sein und Sollen in der normativen Konzeption der Grundrechte aufgehoben. Verfassung und Normen werden zu institutionell-normativ geprägten Inte­ grationsinstrumenten der sozialen Wirklichkeit im Staat. In den Worten Häberles: Die grundrechtlich geschützten Lebensbereiche sind etwas Eingerichtetes, d. h. Institutionelles. Verfassung und Gesetz konstituieren eine bestimmte Ordnung des jeweiligen Lebensbereichs, die oft von der Verfassung vorgefunden und rezipiert worden ist. […] Durch eine Fülle von Normkomplexen werden die einzelnen Lebensbereiche „verfaßt“. Zahllose Normen durchsetzen und durchziehen die einzelnen objektiven Lebensverhältnisse. Zu objektiven Lebensverhältnissen werden diese wesentlich durch das Recht als solches. Durch diese Rechtssätze […] verwirklicht sich die Grundrechtsidee in der sozialen Wirklichkeit.840

Mit diesem Grundrechtsverständnis, das sich im Kern auf die Institutionenlehre Haurious841 stützt, versucht Häberle, das Eingriffs- und Schrankendenken der überkommenen abwehrrechtlichen Grundrechtstheorie zu überwinden, den von ihr vorausgesetzen Antagonismus von Staat und Gesellschaft aufzuheben. Grundrechte sollen durch Normen „eingerichtet“ werden und in dieser „Eingerichtetheit“ soll sich die Individualität der Grundrechtsträger verwirklichen. Mit dem Eintritt in die objektiven Lebensverhältnisse werde der individuellen Freiheit eine Grenze gezogen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit wiederum am „Leitbild“ des jeweiligen Grundrechts gemessen werden soll.842 Der Grundrechtsberechtigte sei der „Eigengesetzlichkeit“ des Lebensbereichs unterworfen und in die „institu­ tionelle Ordnung“ eingefügt.843 838  Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974, S. 1532. 839  Umfassend dazu Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 175 ff., 195 ff. 840  Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1983, S. 96 f. 841  Kritisch zum Institutionenbegriff Haurious Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, 1975, S. 134 f. 842  Kritisch von Arnauld, Freiheitsrechte, 1999, S. 43; eine Grundsatzkritik führt auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 139 ff. 843  Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1983, S. 100.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Möglicherweise, so lässt sich einwenden, könnte es für manche in dieser „Eingebundenheit“ recht eng werden.844 Das institutionelle Grundrechtsdenken läuft zudem Gefahr, vorhandene Besitzstände und einfachgesetzliche Regelungen als institutionelle Ausformung eines Grundrechts zu betrachten und damit lediglich den status quo zu konservieren.845 Diesen naheliegenden Einwänden versucht Häberle allerdings durch Verweis auf ein offenes und partizipatives Verständnis des Interpretationsvorgangs zu begegnen, den er grundsätzlich prozesshaft versteht.846 Die „Einrichtung“ der Grundrechtsidee in dem jeweiligen Gesellschaftsbereich soll danach nicht allein das Werk der Verfassung und der Normkomplexe sein, sondern „das Werk unbestimmt vieler, die in dem milieu social zerstreut leben, der Grundrechtsberechtigten“, die sich durch ihr Handeln und ihr Engagement in die Institute einbringen und diese mitgestalten. Grundrechte als Institute gefährdeten nicht die Freiheit, „sondern verstärken sie, indem sie ihr zur ‚sozialen Wirklichkeit‘ verhelfen“847. bb) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Den Ansatz der institutionell-partizipativen Eingebundenheit der Grundrechtsträger erweitert Häberle 1975 in dem bekannten Beitrag zur „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ und gibt der institutionellen Theorie damit eine demokratisch-pluralistische (Neu-)Orientierung.848 Wenn eine Theorie der Verfassungsinterpretation das Thema „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“ ernst nehmen wolle, so meint Häberle, dann müsse entschiedener als bislang gefragt werden, wer die Verfassungswirklichkeit gestalte. In diesem Sinne stellt er „die Beteiligtenfrage“.849 Er formuliert die 844  Kritisch zum Freiheitsbegriff der institutionellen Grundrechtstheorie auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 56 ff. 845  Zusammenfassung von Münch, in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Vorb. Art.  1–19, Rn.  24 m. w. N. 846  Vgl. Häberle, Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß – ein Pluralismuskonzept (original 1978), 1998, mit der Kernaussage, dass Verfassungsinterpretation ein öffentlicher Prozeß sein soll. 847  Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1983, S. 117; siehe auch S. 98: „Der einzelne tritt in die objektiven Gebilde wie Ehe, Familie, Verein und Beruf. In ihnen findet er erst seine volle Verwirklichung, reift er zur Persönlichkeit heran. Er gestaltet die objektiven Gebilde jedoch seinerseits aus. Da das Grundgesetz beispielsweise auf bestimmte Berufsbilder […] nicht festgelegt ist, vermag der Einzelne neue Berufsbilder zu schaffen. Hierbei bereichert er das Ganze der freiheitlichen Berufsordnung, der Berufsfreiheit als Institut.“ 848  Vgl. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975; die ‚Wende‘ zum partizipativ-demokratischen Ansatz ist bereits angelegt in: Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, 1971, S. 73 ff. 849  Häberle, ebd., S. 297.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 201

These, dass in die Prozesse der Verfassungsinterpretation (im weiteren Sinn) potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Entscheidungsträger, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet seien. Dabei möchte er den herkömmlichen Interpretationsbegriff radikal erweitern: Wer die Norm „lebe“, interpretiere sie auch mit. Jeder, der mit dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebe, sei indirekt (und gegebenenfalls auch direkt) Norminterpret.850 Was diese Erweiterung des Interpretationsbegriffs bedeuten könnte, illustriert Häberle unter anderem an den Grundrechten der Glaubens-, der Kunst- und der Wissenschaftsfreiheit. So bestimme das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausdrücklich mit Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.851 Ähnliches könnte für das Selbstverständnis des Künstlers bei der Auslegung des „offenen“ Kunstbegriffs und dem des Wissenschaftlers bei dem Verständnis der Wissenschaftsfreiheit gelten.852 Die Frage nach den an der Verfassungsinterpretation (im weiteren Sinn) Beteiligten sei zunächst in einem rein soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen. Es sei realistisch danach zu fragen, welche vorfindbare Auslegung auf welche Weise zustande gekommen sei, durch welche Elemente der öffentlichen Meinung, durch welche Beiträge der Wissenschaft die Verfassungsrichter in ihrer Auslegung tatsächlich beeinflusst worden seien. In einem zweiten Schritt möchte Häberle die Fragen nach Zielen und Methoden sowie nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematisch-theoretischen Zusammenhang bringen, aus dem er Konsequenzen und neue Fragestellungen für die ‚juristische‘ Verfassungsauslegung und die Verfassungstheorie zu ziehen versucht.853 Im Rahmen eines systematischen „Tableaus“ identifiziert Häberle eine Reihe von Beteiligten der so verstandenen Verfassungsinterpretation. Sie reicht vom Bundesverfassungsgericht über die Rechtsprechung allgemein, die Verfahrensbeteiligten im weitesten Sinn (zum Beispiel auch Äußerungsund Beitrittsberechtigte, Gutachter, Sachverständige usf.) über die Politik und die demokratische Öffentlichkeit bis hin zur Verfassungsrechtslehre. Sie alle seien eingebunden in einen pluralistischen öffentlichen Prozess, in welchem jeder aktiv zur Verfassungsinterpretation beitragen könne. Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebe, sei dabei ebenso Verfassungsinterpret wie die politische Partei, die Organklage einreiche.854 Es geht Häberle um die Verfassung als einen demokratischen „öffentlichen Prozeß“, um die 850  Ebd.,

S. 297. BVerfGE 24, 236 (247 f.) – Aktion Rumpelkammer. 852  Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975, S. 298. 853  Ebd., S. 299. 854  Ebd., S. 299. 851  Grdl.

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

„Offenheit der Verfassung, an deren ‚Gewande‘ viele ‚stricken‘, nicht nur der Verfassungsjurist“.855 Das Verfassungsgericht wiederum soll nach Häberle „verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu überprüfenden) Interpretation beteiligt war“.856 Wo in der demokratischen Debatte hohe Einigkeit über ein Gesetz erzielt worden sei, habe sich das Gericht zurückzuhalten. Anderes gelte für diejenigen Gesetze, bei deren Zustandekommen in der Öffentlichkeit großer Dissens herrsche, beispielsweise beim Abtreibungsparagrafen § 218 StGB, bei Regelungen von Hochschulgesetzen oder bei der paritätischen Mitbestimmung im Unternehmensrecht. Hier habe das Bundesverfassungsgericht streng zu kontrollieren. Denn bei einer tiefen Spaltung innerhalb der öffentlichen Meinung komme dem Verfassungsgericht die Aufgabe zu, „darüber zu wachen, daß das unverzichtbare Minimum an integrativer Funktion der Verfassung nicht verspielt“ werde.857 Das Bundesverfassungsgericht solle ferner die faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei der Verfassungsinterpretation überwachen, indem es bei seiner Entscheidung die „Nichtbeteiligten (die nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen) interpretatorisch besonders berücksichtigt“.858 In diesem Zusammenhang stellt Häberle sogar die Forderung auf, „neue Formen der Partizipation pluralistischer öffentlicher Prozesse zu entwickeln“ und damit das „Verfassungsprozessrecht“ zu einem „Stück demokratischen Partizipa­ tionsrecht“ zu machen.859 cc) Kritik Gegen Häberles Verständnis der Verfassungsinterpretation als eines grundsätzlich „offenen“ partizipativen Prozesses ist eine Reihe von (teilweise) grundlegenden Einwänden vorgebracht worden – und zwar sowohl von normativer als auch empirisch-soziologischer Seite. Die normative Kritik bezieht sich vor allem auf die Frage, welche Bedeutung dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger bei der Grundrechtsinter855  Ebd., S. 303: „Gesellschaft wird eben dadurch offen und frei, daß alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können). Juristische Verfassungsinterpretation vermittelt (nur) die pluralistische Öffentlichkeit und Wirklichkeit, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gemeinwesens, die vor, in und hinter den Verfassungstexten stehen. Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes.“ 856  Ebd., S. 303. 857  Ebd., S. 303. 858  Ebd., S.  303 f. 859  Ebd., S. 304.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 203

pretation beizumessen ist. So hat sich Isensee unter der Frage „Wer definiert die Freiheitsrechte?“ dezidiert gegen einen „Grundrechtssubjektivismus“ im Sinne Häberles ausgesprochen.860 Das von Häberle in den Vordergrund gestellte „Selbstverständnis“ der Grundrechtsträger könne nur eine „Orientierungshilfe“ bei der amtlichen Auslegung der Freiheitsrechte sein, um sich deren „objektiven“ – das heißt unabhängig von der subjektiven Auffassung einzelner Beteiligter oder Kreise zu bestimmenden – Sinn zu nähern. Das gelte im Übrigen auch nur dann, wenn das praktizierte Selbstverständnis sich in einen gesellschaftlichen Konsens einfüge und dauerhaft sei.861 Das Erfordernis objektivierender Auslegung liege für den Gesetzgeber und die Massenverwaltung auf der Hand, denn: „was der Staat nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen“.862 Als weiteren Punkt spricht Isensee das Problem von Grundrechtskonflikten an. Grundrechtskonflikte könnten nicht dadurch gelöst werden, dass eine Partei ihr Selbstverständnis der anderen aufnötige. Schon daher müsse nach einer „objektiven“ Auslegung gesucht werden.863 Einen Weg, den partizipativen Ansatz Häberles mit dem objektiven Geltungsanspruch der Grundrechte in Einklang zu bringen, zeigt demgegenüber Höfling auf.864 Auch er befürwortet ein Verständnis des Grundgesetzes als „offene Ordnung“.865 Diese Charakterisierung betone sowohl die Öffnung des Staates für die Selbstverständnisse und Maßstäbe der Grundrechtssubjekte als auch deren „Einfügung in allgemeine Ordnungsstrukturen“. Dennoch kann es für Höfling kein „privates Grundrechtskonkretisierungsmonopol“ geben. Vielmehr seien private Grundrechtsverständnisse „berücksichtigungsfähige und prinzipiell auch berücksichtigungsbedürftige Konkretisierungselemente – allerdings in unterschiedlich ausgeprägter Intensität“.866 Der jeweilige Grad an Rechtsgeprägtheit eines grundrechtlichen Normbereichs stehe in Beziehung zur Dynamik oder Konstanz des erfassten Wirklichkeitsausschnitts. So sei die „normative Offenheit“ eines grundrechtlichen Normbereichs umso größer, je weniger er bereits normativ „verdichtet“ und je höher die „soziokulturelle Dynamik des in Bezug genommenen Wirklichkeitsausschnitts“ sei. So könne etwa die soziokulturelle Dynamik der 860  Isensee,

Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, insbesondere S. 19 ff. S. 59. 862  Ebd., S. 35. 863  Ebd., S.  32 f. 864  So die Titelunterschrift der Studie von Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987. 865  Zur „offenen Grundrechtsinterpretation“ ausführlich mit eingehender Kritik Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 139 ff. 866  Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 89 f. 861  Ebd.,

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

„Kunstszene“ des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG eine völlig andere sein als etwa die des durch Art. 13 GG geschützten Sachbereichs.867 Böckenfördes Einwände gegen Häberles prozesshaftes Methodenverständnis sind im Ansatz gleichartig, wenn auch grundsätzlicher. Normativität der Verfassung meine ihre Geltung; diese beruhe aber ihrerseits auf verbind­ licher rechtlicher Anordnung und / oder tatsächlicher Verhaltenserwartung. Soweit die Verfassung daher „offen“ sei, könne sie keine Geltung beanspruchen. Werde die Offenheit gar zur Struktur, so gehöre zu dieser Struktur ebenso die permanente Unbestimmtheit und Wandlungsfähigkeit. An die Stelle der normativen Geltung trete das Abstellen „auf einen vorhandenen oder sich bildenden Konsens“. Werde Konsensbildung – folgerichtig – demokratisch-pluralistisch rückgebunden und nicht einer Berufselite von Richtern und Rechtslehrern überantwortet, so sei sie ein primär politischer Vorgang, dessen Protagnisten die tatsächlichen öffentlichen und politischen Kräfte seien.868 Die Kritik Böckenfördes verfängt in ihrem zentralen Punkt. Denn der von Häberle befürwortete Prozess einer „offenen“ Grundrechtsinterpretation ist zwar demokratietheoretisch durchaus als ein politischer Prozess vorstellbar, kaum aber als ein rechtlich-normativer. Er kann und darf nicht dem politisch-gesellschaftlichen Kräftespiel überlassen bleiben. An dieser Stelle setzt auch die rechtssoziologische Kritik an. So haben Blankenburg und Treiber darauf hingewiesen, dass die Mobilisierung der Grundrechte empirisch betrachtet weitgehend selektiv erfolgt und einen spezifisch justiziellen Hintergrund hat, der den Anforderungen an einen pluralistischen und öffentlichen Prozesses nur zu einem geringen Teil entspricht.869 Das Bundesverfassungsgericht sei nur „relativ offen“ und mache die Verfassungsinterpretation zu einem „Privileg einer recht ‚geschlossenen Gesellschaft‘ von Juristen“.870 Es sei daher weder sinnvoll noch im Sinne empirischer Belastbarkeit zulässig, davon auszugehen, dass jeder, der die Grundrechte lebe, auch an deren Interpretation beteiligt sei.871

867  Ebd.,

S.  94 f.

868  Böckenförde,

Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976, S. 2094. 869  Blankenburg / Treiber, Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1982; Langfassung: Blankenburg / Treiber, Interpretationsherrschaft über die Grundrechte als Konkurrenzproblem zwischen Rechts- und (empirisch orientierten) Sozialwissenschaften, 1981. 870  Blankenburg / Treiber, ebd., S. 543. 871  Ebd., S. 544: „Mit ‚normativen Sachverhalten leben‘ wir alle zu jeder Zeit, wenn wir etwas kaufen, besitzen oder benutzen. Abstrakte rechtliche Geregeltheit – und daraus sich stellende Probleme für die juristische Systematik – bedeutet je-



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 205

Darüber hinaus weisen die Soziologen auf den Selektionsprozess des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden hin, der nach außen wenig transparent sei und offensichtlich mehr der Fortbildung des Verfassungsrechts diene als dem individuellen Rechtsschutz.872 Anstatt das Bundesverfassungsgericht als ‚Herz‘ der Integrationsmaschine anzusehen, müsse man die Wirklichkeit des Verfassungsprozesses und der Rechtsprechung einer kritischen Prüfung unterziehen. So meinen Blankenburg und Treiber, sie hätten lieber „eine Aufzählung von tatsächlich Beteiligten als das Zitat von Verfahrensregeln gesehen, und […] lieber einen Vorschlag, wie man den Einfluß einer solch pluralistischen Diskussion messen könnte, etwa indem man an die Operationalisierungsvorschläge des amerikanischen ‚judicial research‘ oder der Community-power-Forschung“ anschlösse. Da es aber „unter den deutschen Verfassungsjuristen keinen empirischen Wissenschaftsstandard gibt, nach dem solche Aussagen wie zur ‚offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten‘ überprüfbar gemacht werden müßten“, hätten sich diese mit „Häberles Schluß vom Normativen auf das Faktische zufrieden­gegeben“.873 Zwar ist einzuräumen, dass Häberle mit seinem Beitrag durchaus auch das Anliegen verfolgt, die Frage nach den am Vorgang der Verfassungsinterpretation Beteiligten auch in einem „soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen“.874 Allerdings vertieft er die damit aufgeworfenen (empirische) Fragestellungen nicht weiter. Problematisch an Häberles Verständnis eines offenen Prozesses der Grundrechtsinterpretation bleibt, dass der juristische (Verfassungs-)Prozess kaum mit einer öffentlichen Erörterung, wie sie für ein demokratisch-pluralistisches Verfahren notwendig wäre, vergleichbar ist.875 Verfassungsinterpretation, wie sie insbesondere von der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsrechtslehre im Rahmen ihrer Kontroll- und Verwerfungskompetenz (judicial review) praktiziert wird, vollzieht sich in den Bahnen des juristischen Argumentierens und Entscheidens, auch wenn das Politische in diesem Prozess dabei nicht (vollständig) ausgeblendet werden kann und soll.876 Das Bundesverfassungsgedoch in der Regel nicht, daß wir (Nichtjuristen) uns faktisch auf Recht beziehen. Nur den expliziten Bezug auf Recht kann man als Rechtsverhalten bezeichnen […]“. 872  Ausführlich zum Selektionsprozess im Annahmeverfahren Blankenburg, Unsinn und Sinn des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden, 1998, S. 40 ff. 873  Blankenburg / Treiber, Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1982, S. 544. 874  Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975, S. 298. 875  Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht Schaal, Integration durch Verfassung und Verfassungsrechtsprechung? Über den Zusammenhang von Demokratie, Verfassung und Integration, 2000. 876  Vgl. bereits die Darstellung im Statusbericht, dazu oben unter B. II. 2. c) und B. II. 3. b).

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

richt ist auch kein „öffentliches Forum“, wo jeder sprechen kann und gehört wird. Im Gegenteil weist das Verfahren vor dem Verfassungsgericht genuine Merkmale auf, die einem „offenen“ demokratischen Prozess widersprechen: Förmlichkeit insbesondere der Sachentscheidungsvoraussetzungen, geheime Beratung und Entscheidung sowie rechtsförmliche Begründungstechnik(en). Häberles Hinweis auf die Möglichkeit zur Erweiterung der Verfahrens- und Anhörungsrechte vor dem Bundesverfassungsgericht877 de lege ferenda kann diese Unterschiede im Kern nicht ausgleichen. Mag eine Ausdehnung der Anhörungsrechte auch prinzipiell wünschenswert sein, so wird das juristische Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht damit immer noch nicht zu einem offenen demokratischen Prozess. Es ist vielmehr ein „zweifacher Schließungsprozess“ zu verzeichnen: Zum einen nehmen an dem Prozess der Entscheidungsfindung nur juristisch geschulte Fachleute teil. Dieser Prozess findet – von den wenigen mündlichen Verhandlungen und von den unterschiedlich ausgestalteten Äußerungsmöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten, Verbände und Interessengruppen abgesehen – weitgehend ohne Beteiligung der (allgemeinen) Öffentlichkeit statt.878 Zum anderen werden „in diesem geschlossenen Kreis von rechtswissenschaftlich geschulten Fachleuten“ juristische Entscheidungsprämissen aus­ getauscht, die die Komplexität sozialer Wirklichkeitsausschnitte „auf eine rechtlich vorstrukturierte Wirklichkeitsrezeption reduzieren“ und damit für juristische Laien argumentativ nur schwer zugänglich sind.879 Der dem Grundrechtsproblem zugrunde liegende soziale Konflikt wird in eine recht­ liche Auseinandersetzung transformiert, die ihren eigenen rechtlichen ‚Spielregeln‘ folgt. Dieser spezifische Transformationsprozess würde überspielt, ginge man – kontrafaktisch – davon aus, dass jede Bürgerin, die sich auf ihre Grundrechte beruft, tatsächlich am Prozess der Verfassungsauslegung teilnimmt.880 Darüber hinaus erscheint es demokratietheoretisch fragwürdig, dem Bundesverfassungsgericht sozusagen eine ‚Ersatzfunktion‘ für die Defizite des politischen Prozesses zuzusprechen. Vor dem Verfassungsgericht geht es um Verfahren zur Wahrung von subjektiven (Grund-)Rechten, die unter juristischen Verfahrensrationalitäten stattfinden (müssen), nicht aber um einen offenen Prozess politisch-deliberativer Entscheidungsfindung.881 877  Vgl. dazu Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2001, S. 546 ff. 878  Zur Praxis der mündlichen Verhandlungen in „gesellschaftsrelevanten“ Verfahren siehe auch Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010, S.  314 ff. 879  Blankenburg / Treiber, Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1982, S. 548. 880  Vgl. unter E. II. 2. 881  Vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 309 ff.



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 207

5. „Bestandsaufnahme und Kritik“ zur Methodendiskussion 1976 hat Böckenförde einen vielbeachteten Beitrag zur „Bestandsaufnahme und Kritik“ der Methodendebatte veröffentlicht.882 Darin setzt er sich eingehend mit den hauptsächlich vertretenen Methoden der Verfassungsinterpretation auseinander und markiert damit zugleich einen vorläufigen Endpunkt der Debatte.883 Böckenförde, der maßgeblich von der Verfassungslehre Carl Schmitts beeinflusst ist,884 richtet seine Kritik vor allem gegen die methodischen Ansätze der Smend-‚Schüler‘ Ehmke, Scheuner, Häberle, Hesse und F. Müller bis hin zur Integrationslehre von Smend selbst. Er gelangt dabei – von seinem eigenen verfassungstheoretischen Standpunkt aus konsequent – zu der Feststellung, dass alle behandelten Interpretationsmethoden im Ergebnis zum „Abbau der Normativität der Verfassung“ beitragen würden; eine Ausnahme macht er insoweit nur für das Normbereichskonzept Müllers.885 Zuerst wendet sich Böckenförde jedoch der „klassischen-hermeneutischen Methode“ zu, wie sie bei Savigny unter dem Einfluss des aufkommenden methodischen Positivismus entwickelt886 und für das Grundgesetz nochmals prominent von Forsthoff propagiert worden war.887 Kernpunkt dieser Position sei die Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz. Doch gegenüber dem einfachen Gesetz, das überwiegend Regelungen mit verhältnismäßig bestimmter „Wenn-dann“-Programmierung enthalte, sei die Verfassung ihrer normativ-inhaltlichen Durchbildung nach „fragmentarisch und bruchstückhaft“. Ihre Bestimmungen enthielten – neben vergleichsweise detaillierten Regelungen im Kompetenzbereich und bei einigen Organisationsfragen – im Wesentlichen „Prinzipien, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein“. Dieser „fragmentarische Charakter der Verfassung“ habe zur Konsequenz, dass ihr die „normativ-inhaltliche Struktur des Gesetzes“ notwendigerweise abgehe. Somit erweist sich nach Böckenförde die behauptete „Strukturgleichheit von

882  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, 1976; wiederabgedruckt in: Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 53 ff. 883  Vgl. Hofmann, Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik, 2011, S. 104. 884  Zur Schmitt-Schule oben unter B. III. 2. b). 885  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 2097. 886  Vgl oben unter B. I. 1. a). 887  Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, 1959, ausführlich oben unter B. III. 2. c).

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B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Verfassung und Gesetz unter interpretationsmethodischem Aspekt […] als Fiktion“.888 Sodann wendet Böckenförde sich dem „topisch-problemorientierten Ansatz“ als Methode der Verfassungsinterpretation zu, den er hauptsächlich bei Ehmke, teilweise auch bei Scheuner und Kriele und – in demokratisch„radikalisierter“ Form – bei Häberle verortet. So behauptet Böckenförde zunächst, die topische Methode werde in der verfassungsgerichtlichen Judikatur „zunehmend praktiziert“. Er nennt in diesem Zusammenhang einige sehr umstrittene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, ohne allerdings näher zu erläutern, weshalb er gerade diesen Entscheidungen ein topisches Vorgehen entnimmt.889 Bei der Topik, so meint Böckenförde, erhalte das Problem den Primat gegenüber „Norm und System“ und die juristische Interpretation erscheine als ein offener Argumentationsprozess, der nicht in einem zu ermittelnden und dann anzuwendenden Norminhalt seinen vorgegebenen Orientierungsmaßstab habe, sondern Norminhalt und dogmatisches System nur als Gesichtspunkte für die Problemlösung neben anderen verwende.890 Böckenförde meint, die Grundentscheidungen und Prinzipien der Verfassung, die von ihr geschützten Rechtsgüter und aufgestellten Leitgrundsätze, hätten nach dem topischen Ansatz nicht mehr den Charakter von Normen, sondern würden stattdessen zu „Verfassungsrechtsmaterial“ und damit zu bloßen „Interpretationsgesichtspunkten, deren Relevanz sich nach ihrer – letztlich nur vom Interpreten bestimmbaren – Problem- beziehungsweise Fallangemessenheit bestimmt“.891 Im praktischen Vollzug würde dies nach Böckenförde eine „unbegrenzte Offenheit der Argumentation“ bedeuten, die letztlich zu einer „Infragestellung der Normgeltung der Gesetze“ führe.892 888  Böckenförde,

Die Methoden der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 2091. „Beispiele […] aus jüngerer Zeit“ führt er auf: BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag; BVerfGE 39, 334 – Radikalenerlass; BVerfGE 40, 296 – Diäten-Urteil I vom Zweiten Senat sowie das Abtreibungsurteil BVerfGE 39, 1 des Ersten Senat, letzteres allerdings nur insoweit, als eine Entkriminalisierung nicht zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs führen dürfe; so dann auch das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Schwangerschaftsabbruchsentscheidung unter Mitwirkung von Böckenförde als Richter: BVerfGE 88, 203. Der Verweis auf die genannten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Topik-Kritik muss vor allem deshalb erstaunen, weil die angeführten Bundesverfassungsgerichtsurteile (Grundlagenvertrag, Radikalen-Urteil und Schwangerschaftsabbruch) alles andere als eine integrative, sondern vielmehr eine einseitig interventionistische Haltung des Bundesverfassungsgerichts aufweisen. Inwiefern diese Entscheidungen tatsächlich als Beispiele für die „zunehmende Praktizierung“ der „topischen Methode“ angesehen werden können, erscheint also fraglich und wird von Böckenförde nicht ausgeführt. 890  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 2092. 891  Ebd., S. 2092. 889  Als



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 209

Darauf, dass die Behauptung jedenfalls in dieser pauschalen Form nicht zutrifft, ist an anderer Stelle bereits hingewiesen worden.893 Zwar wendet sich die Topik sowohl bei Viehweg selbst als auch erkennbar bei Ehmke gegen das axiomatische Systemdenken, nicht aber gegen die Normbindung.894 Vielmehr soll die Topik ein methodisches Verfahren bereitstellen, um allgemein gehaltene, also konkretisierungsbedürftige Normen praktischargumentativ handhabbar zu machen. 892

Mit guten Gründen kritisiert Böckenförde indes die Konsensorientierung der Topik. So weist er auf den rhetorischen Aspekt jeder Topik-Argumentation hin, „nämlich durch den Hinweis auf bestimmte Argumente und Gesichtspunkte an den vorausgesetzten Konsens der Umstehenden zu appellieren, ihn bewußt zu machen und dadurch Zustimmung herbeizuführen“.895 Damit setze die Topik im Kern einen breiten Konsens über die Inhalte der Verfassung voraus. Komme es zu politischen Konflikten in der Gesellschaft und folglich zu einer Polarisation der „Wert“-Haltungen, hänge jede Topik­ interpretation „in der Luft“; sie sei der vorausgesetzten Konsensbasis beraubt. Ein Gericht, das sie gleichwohl praktiziere, stehe „notwendigerweise nicht mehr jenseits, sondern inmitten der politischen Konfrontation“.896 Ähnlich kritisch betrachtet Böckenförde die von Hesse und Müller entwickelte „hermeneutisch-konkretisierende Auslegungsmethode“. Verfassungsinterpretation erhalte dadurch den Charakter rechtsschöpferischer Ausfüllung; sie sei der Sache nach „Konkretisierung“.897 Zwar stimmt Böckenförde dem insoweit zu, als der Vorgang der Entscheidungsfindung beziehungsweise -begründung zutreffend als rechtsschöpferische „Konkretisierung (anstelle bloßer Ableitung) beschrieben“ wird.898 Für den Weg der Konkretisierung bleibe es aber im Wesentlichen „beim topisch-problemorientierten Verfahren“. Der von Hesse propagierten normativen Rückbindung der Konkretisierung durch eine strenge Bindung an den Normtext hält Böckenförde entgegen, dass die (materiellen) Verfassungsnormen in der Regel so vieldeutig und unbestimmt seien, dass sie die gewünschte normative Begrenzungsfunktion nicht erfüllen könnten. Die Problematik des „hermeneutisch-konkretisierenden Interpretationsansatzes“ liege zum einen in der letztlich unklar bleibenden „Zwischenstellung zwischen normgebundener 892  Böckenförde,

Die Methoden der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 2093. oben unter B. III. 3. a). 894  Vgl. die Auseinandersetzung mit der Topik-Kritik unter B. III. 3 sowie bei Launhardt, Topik und Rhethorische Rechtstheorie, 2005, S. 51 ff. 895  Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretatio, 1976, S. 2094. 896  Ebd., S. 2094. 897  Ebd., S. 2095. 898  Ebd., S. 2097. 893  Siehe

210

B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

Topik und klassischer Normbindung der Interpretation, zum anderen in der Funktion, die der Konkretisierungsbegriff im Rahmen dieser Methode übernimmt“.899 Konkretisierung sei eine schöpferische Tätigkeit, andererseits werde die Konkretisierung als Interpretation ausgegeben mit der Folge, „daß die einzelnen aus dem Normkern beziehungsweise der unbestimmten (Grundsatz-)Norm gewonnenen Entscheidungsnormen, weil Ergebnis einer Verfassungsinterpretation, ihrerseits zum Verfassungsinhalt werden“.900 Wie aber, so fragt Böckenförde, könne die Interpretation durch etwas gebunden werden, was sie selbst erst herbeiführen solle? Soweit die Norm unbestimmt sei, in der Auslegung – als ‚Konkretisierung‘ – erst ihren Inhalt gewinne, vermöge sie nicht zugleich Bindungselement für die Auslegung zu sein. Zusammenfassend stellt Böckenförde in seinem Beitrag fest, dass durchgehend ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Methode der Verfassungsinterpretation und zugrundeliegendem Verfassungsbegriff beziehungsweise einer Verfassungstheorie bestehe. Die Konsequenz daraus sei, dass eine Methodendiskussion zur Verfassungsinterpretation immer zugleich eine Diskussion über Verfassungsbegriff und Verfassungstheorie sei und davon nicht abgelöst werden könne.901 Die „Kernfrage“, um die sich die Methodendiskussion rankt, ist für Böckenförde mithin die „nach der richtigen, oder besser einer verbindlichen Verfassungstheorie“. Eine verbindliche Verfassungstheorie könne freilich nicht mehr Sache von subjektivem Vorverständnis und bestehendem politischen Konsens beziehungsweise Konsenswandel sein. Sie sei nur möglich „als in der Verfassung ausdrücklich oder implizit enthaltene Verfassungstheorie, die aus Verfassungstext und Verfassungsentstehung mit rationalen Erkenntnismitteln erhebbar ist“.902 Für die Erarbeitung einer solchen Verfassungstheorie schlägt Böckenförde das Verständnis der Verfassung als „Rahmenordnung“ vor und für den Grundrechtsteil eine „Rückkehr“ zum liberalen (Eingriffs-)Abwehrdenken.903 Jedoch setzt Böckenförde sich mit dieser Forderung ganz offensichtlich zu seiner eigenen methodischen Prämisse in Widerspruch. Denn ohne Zweifel interpretiert er das Grundgesetz aus einem spezifischen verfassungstheoretischen Vorverständnis – nämlich der Verfassung als „Rahmenordnung“ – 899  Ebd.,

S. 2096. S. 2097. 901  Ebd., S. 2097. 902  Ebd., S. 2098. 903  Dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974, S. 1537 f.; ausführlich zur ‚Rekonstruktion‘ der liberalen Grundrechtstheorie unter C. IV. 2. 900  Ebd.,



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 211

heraus,904 das nicht allein mit „rationalen“ Erkenntnismitteln aus dem Verfassungstext und dessen Entstehung erhebbar ist,905 sondern mit anderen möglichen Vorverständnissen konkurriert.906 In Böckenfördes Argumentation zeigen sich somit die Unausweichlichkeit des hermeneutischen Zirkels und die Bedeutung des Vorverständnisses bei der Interpretation.907 6. Zwischenfazit: Neuorientierung in der verfassungsrechtlichen Methodendebatte unter dem Grundgesetz Die Methodendebatte der Verfassungsrechtslehre, die Ende der fünfziger Jahre begann und bis etwa Mitte der siebziger Jahre zu einer Vielzahl von grundlegenden Beiträgen geführt hat, kann als theoretische Verarbeitung der neuen verfassungsrechtlichen Bedingungen unter dem Grundgesetzes sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstanden werden. Dabei lässt sich eine Reihe von Faktoren identifizieren, die für die Debatte maßgeblich waren. Zum einen wirkte der Methodenstreit der Weimarer Zeit nach. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Methodendebatte von Forsthoff mit einer scharfen Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und einem Plädoyer für eine Rückkehr zu einem positivistischen oder legalistischen Methodenverständnis eröffnet wurde. Die methodologische Neuausrichtung ging in erster Linie von der von Smend begründeten Schule aus und ist unmittelbar mit Namen wie Hollerbach, Ehmke, Hesse, F. Müller und Häberle verbunden. Diese Autoren knüpften an das verfassungstheoretische Grundkonzept Smends an, nach welchem der Verfassung eine gesellschaftlich-integrative Funktion zukommt. Daraus resultierten konkrete Leitbilder für die Verfassungsinterpretation, wie die Einheit der Verfassung, ihr Wirklichkeitsbezug, spezieller auch die Problemorientierung und Folgenberücksichtigung bei ihrer Auslegung. Auch wurde ein enger Bezug zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hergestellt sowie eine grundsätzliche interdisziplinäre Offenheit, insbesondere gegenüber den Sozial- und Politikwissenschaften, propagiert. Weitere innovative Impulse erhielt die Methodendiskussion durch Einflüsse aus dem zeitgenössischen US-amerikanischen Rechtsdenken, das schon damals stark durch rechtsrea904  Zusammenfassend zur Verfassungstheorie Böckenfördes Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung – Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E.-W. Böckenfördes, 1999, S. 44 ff. 905  Zum verfassungstheoretischen Grundverständnis Böckenfördes vgl. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 53 f. 906  Zum Verständnis des Grundgesetzes als verfassungsrechtliche Grundordnung im Vergleich zum Verständnis als Rahmenordnung siehe oben unter B. II. 5. 907  Zur Neuen Hermeneutik oben unter B. III. 4. a).

212

B. Positivismus und Neuorientierung unter dem Bonner Grundgesetz

listische Strömungen beeinflusst war. Dies wird vor allem in dem einflussreichen Referat von Ehmke zu den „Prinzipien der Verfassungsinterpreta­ tion“ sichtbar. Ehmke kommt das Verdienst zu, die funktionell-rechtliche Betrachtungsweise in den verfassungsrechtlichen Diskurs eingeführt zu haben. Ebenso wegweisend war seine Bezugnahme auf den problembezogenen Methodenansatz der Topik, der bereits Anfang der 1950er Jahre von Viehweg unter Rückgriff unter anderem auf Aristoteles und Hartmann entwickelt worden war, in der folgenden juristischen Methodendebatte allerdings vielfach irrigerweise für seine angebliche Auflösung der Normbindung kritisiert wurde. Der Einfluss der Neuen Hermeneutik im Anschluss an Gadamer und ihre Rezeption in der juristischen Methodenliteratur – Schlüsselbegriffe sind: hermeneutischer Zirkel und Vorverständnis der Rechtsanwendenden – wird vor allem in den Arbeiten von F. Müller und Hesse sichtbar, die jeweils nach einer Verbindung zwischen problembezogenen und normativ-hermeneutischen Elementen der Normkonkretisierung suchten. Das Normbereichskonzept von Müller unternimmt dabei den Versuch, das überkommene positivistische Methodenverständnis und seine Entgegensetzung von Normativität und Wirklichkeit, zu überwinden. Die vom Normtext in Bezug ge­ nommene ‚soziale Wirklichkeit‘ wird bei Müller zu einem (lebendigen) Bestandteil der Norm selbst, der bei der Normkonkretisierung zu berücksichtigen ist. Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse, auf die der Normtext verweist, so verändere sich der Normbereich und damit gegebenenfalls auch die Norminterpretation. Dieses methodische Konzept wird von Hesse in seinem Grundzüge-Lehrbuch aufgenommen und mit verfassungstheoretischen Überlegungen sowie Interpretationsprinzipien und Auslegungsmaximen wie der Einheit der Verfassung, der praktischen Konkordanz, funktionell-rechtlichen Elementen, dem Maßstab integrierender Wirkung sowie der normative Kraft (Effektivität) der Verfassung verbunden. Dabei arbeitet Hesse eng an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, was zur allgemeinen Wertschätzung seines Lehrbuchs beigetragen haben dürfte. Deutlich kritischer zu sehen ist aus heutiger Sicht der Versuch von Häberle, den Prozess der Verfassungsinterpretation vor dem Hintergrund eines institutionellen Grundrechtsverständnisses durch die Propagierung einer „offenen Gesellschaft“ der Verfassungsinterpreten zu demokratisieren. Sowohl aus normativer als auch soziologisch-empirischer Perspektive war und ist das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kaum mit einem offenen Prozess demokratisch-partizipativer Überzeugungsbildung zu vergleichen, und zwar auch dann nicht, wenn zivilgesellschaftliche Akteure in einzelnen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Umstritten ist bis heute die Forderung, dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger maßgebliche Bedeutung bei der Grundrechtsinterpretation zuzusprechen, auch wenn die Rechtsprechung des



III. Die Methodendebatte in der Bundesrepublik 213

Bundesverfassungsgerichts dies bei einzelnen Grundrechten – wie etwa der Glaubensfreiheit – mit guten Gründen tut. Insgesamt zeigt die Analyse, dass sich die methodologischen Ansätze in der Verfassungsrechtswissenschaft nicht nur pluralisiert, sondern weit von einem engen Methodenverständnis entfernt haben. Mit dieser Öffnung der verfassungsrechtlichen Methodik ist nicht zuletzt den Eigenarten des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen worden. Zwischen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre hat sich dabei ein fruchtbarer Dialog entwickelt. Von einem einseitigen „Ver­ fassungsgerichtspositivismus“908 kann mit Blick auf die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre nicht gesprochen werden. Die Rezeption antipositivistischer Konzepte aus der Weimarer Lehre waren in der Methodenentwicklung, wie gesehen, ebenso bedeutsam wie Einflüsse aus dem US-amerikanischen Rechtsdenken, die Rezeption und Übertragung des topischen Methodendenkens auf das Verfassungsrecht sowie die hermeneutische Rechtstheorie im Anschluss an die Entwicklung der philosophischen Hermeneutik. Erst in den 1970er Jahren werden vermehrt kritische Ansätze laut, die – wie in der Bestandsaufnahme Böckenfördes geschehen – vor einer Auflösung der Normativität der Ver­ fassung warnen und eine Rückbesinnung auf ein engeres Methodenverständnis fordern. In den folgenden Jahrzehnten flaut die Methodendebatte merklich ab und verlagert sich zunehmend in die Bereiche der Grundrechts­ theorie und -dogmatik, denen sich die Untersuchung im folgenden Kapitel zuwendet.

908  So

aber Schlink, Die Enttrohnung der Staatsrechtswissenschaft, 1989, S. 168.

C. Konkretisierung der Grundrechte durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bevor der Bereich der Grundrechtsdogmatik und Grundrechtstheorie näher betrachtet wird, soll der Frage nachgegangen werden, wie das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung selbst methodisch verortet beziehungsweise inwiefern sich hierzu explizite Aussagen in seinen Entscheidungen finden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich früh – im Anschluss an die Lite­ ratur –1 und dann in ständiger Rechtsprechung zu den herkömmlichen (‚klassischen‘2) Auslegungselementen bekannt. Für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts sind danach die „herkömmlichen“, „üblichen“ oder „anerkannten“ Auslegungsmethoden heranzuziehen.3 Zulässig sind „die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)“.4 Weder werde von Verfassung wegen eine bestimmte der klassischen Auslegungsmethoden vorgegeben5 noch habe unter ihnen eine den Vorrang vor den anderen.6 Lediglich im Strafrecht soll „der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung“ zukommen: „hier zieht der mögliche Wortsinn einer Vorschrift gera1  Vgl. etwa Mangoldt / Klein, GG Kommentar, 1957, Einleitung IV. 6., S. 8; Küchenhoff, Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten und Verfassungsauslegung, 1951 ff. 2  Die ‚klassischen‘ Auslegungselemente werden im Anschluss an Savigny oft auch als Canones bezeichnet, wobei vor allem der Zweckgedanke später hinzugekommen ist, den Savigny ausdrücklich nicht anerkannte; vgl. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 2, 1840 (Neudruck 1981), S. 213 ff.; dazu mit Blick auf die Verfassungsinterpretation Kriele, Theorie der Rechtsanwendung – entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 61 ff. 3  St. Rspr., zuletzt etwa BVerfGE 105, 135 (157) – Vermögensstrafe; BVerfGE 117, 71 (112) – Strafrestaussetzung; BVerfGE 128, 193 (210) – Dreiteilungsmethode. 4  BVerfGE 11, 126 (130) – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille. 5  Vgl. BVerfGE 82, 6 (11); 88, 145 (166 f.). 6  BVerfGE 105, 135 (157) – Vermögensstrafe.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation215

de mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist.“7 Inwiefern die allgemeinen Auslegungsmethoden, zu denen sich das Bundesverfassungsgesetz bei der Interpretation einfachen Gesetzesrechts bekannt hat, ohne weiteres auch auf die Interpretation des Grundgesetzes selbst übertragen werden kann, ist umstritten. So gehen einige Kommentatoren, allerdings ohne dies näher zu problematisieren, davon aus, die Normen des Grundgesetzes seien „mit Hilfe der herkömmlichen allgemeinen Auslegungsmethoden […] zu interpretieren“8. Allerdings ist in der Methodenliteratur seit der Debatte der 1960er und -70er Jahre, in der – wie dargestellt – nur wenige wie Forsthoff eine Rückkehr zu den Canones forderten,9 weitgehend anerkannt, dass die Praxis der Verfassungsinterpretation sich allein mit den überkommenen Interpretationsregeln nicht fassen lässt.10 Dies hat etwa Hesse eindrücklich dargelegt,11 und selbst ein ‚klassischer‘ Methodenvertreter wie Karl Larenz, der die Canones grundsätzlich auch im Rahmen der Verfassungsinterpretation für anwendbar hält, räumt ein, dass die herkömmlichen Methodenelemente mitunter „auf Grenzen stoßen“, und empfiehlt daher im Anschluss an Kriele eine verstärkte Folgenorientierung.12 Darin liegt nicht unbedingt ein Widerspruch. Denn die klassischen Auslegungselemente sind, wie ein kursorischer Blick auf einige Entwicklungen der Grundrechtsjudikatur zeigen soll, in der Praxis keineswegs bedeutungslos. An den Stellen, wo sie operationalisiert werden können, hat das Gericht auf sie zurückgegriffen. Andererseits ist klar, dass sich mit ihnen allein zentrale Gesichtspunkte der methodischen Vorgehensweise bei der Verfassungsinterpretation nicht erfassen lassen.13 Das betrifft besonders materiell aufgeladene Normen wie Grundrechte oder Staatszielbestimmungen, deren 7  BVerfGE

105, 135 (157) unter Verweis auf BVerfGE 85, 69 (73); 87, 209 (224). etwa Jarass in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014 Einl. Rn. 10; Sachs, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Einf. Rn. 38; dezidiert und ausführlich setzt sich Starck, § 164 Die Verfassungsauslegung, 1992, Rn. 23 ff., für den Gebrauch der Canones in der Verfassungsauslegung ein. 9  Ausführlich oben unter B. III. 2. c). 10  Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974; Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004; Ebsen, Bundesverfassungsgericht, 1985, S.  48 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre, 1995, S. 180 ff. 11  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 55 ff. 12  Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 364 f. 13  Ähnlich Ossenbühl, §  15 Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, 2004, Rn. 13: „Deshalb bedarf es keiner besonderen Begründung oder Rechtfertigung, wenn die Auslegung von Grundrechtsbestimmungen entsprechend ihrer besonderen Normstruktur über die klassischen Auslegungsregeln hinausgeht“. 8  So

216 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

vielfach allgemein und feierlich gehaltene Begrifflichkeiten (Freiheit, Gleich­ heit, Rechtsstaat usf.) überaus weite semantische Spielräume und Deutungsmöglichkeiten eröffnen.14 Doch sollten deshalb die Canones bei der Verfassungsauslegung gar nicht erst zur Anwendung kommen? Vielmehr ist es doch wohl so: Weitgehende Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass die herkömmlichen Interpretationsmethoden durch grundrechtstheoretische und -praktische Konkretisierung im Wege der Dogmatikbildung ergänzt werden müssen. Ergänzung in diesem Sinne heißt aber auch, dass zunächst sehr wohl auf die im Rahmen der Gesetzesanwendung allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zurückzugreifen ist.15 Diese erfahren aber im Kontext des Verfassungsrechts eine jeweils spezifische Ausprägung. Das konzediert auch Hesse, wenn er die „Fragwürdigkeit“ der herkömmlichen Auslegungsmethoden mit Blick auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung eingehend erläutert und dann feststellt: Die „herkömmlichen Auslegungsregeln“, zu denen das Bundesverfassungsgericht sich ausdrücklich bekennt, geben […] nur begrenzten Aufschluß über die Art und Weise, in der das Gericht zu seinen Entscheidungen gelangt. Wenn stattdessen eine Fülle unterschiedlicher Gesichtspunkte hervortritt und feste Grundsätze der Verwendung dieser Grundsätze sich nicht unbedingt erkennen lassen, so liegen die Gründe dafür nicht in mangelnder juristischer Korrektheit – so sehr auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kritikwürdig sein können –, sondern in dem häufigen Versagen jener Regeln. Die Beschränkung auf die „herkömmlichen Auslegungsregeln“ verkennt das Ziel der Verfassungsinterpretation; sie läßt die innere Struktur und die Bedingtheiten des Interpretationsvorgangs weithin außer Betracht und kann daher die Aufgabe richtiger Interpretation nach festen Grundsätzen auch nur bedingt bewältigen. Wenn die Praxis jenen Regeln gegenüber eine Hinwendung zu sach- und problemgebundener Auslegung vollzieht, so ist das kein Zufall, sondern Ausdruck und Folge eben dieser Sachlage. Um so notwendiger ist es freilich, sich Rechenschaft über das eigene Tun zu geben, nicht ein Verfahren der Urteilsbildung zu postulieren, das sich nicht einhalten läßt, sondern den wirklichen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation nachzugehen.16

14  Zur

C. II.

Normkonkretisierung aus einer sprachwissenschaftlicher Sicht siehe unter

15  Kriele hat dies einmal auf die knappe Formel gebracht: „Die Antwort auf die Frage, ob sich diese [die auf Savigny zurückgehende, der Verf.] Methode zur Verfassungsinterpretation empfiehlt, lautet also: ja, soweit sie Entscheidungen ermöglicht“, Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1976, S. 338. Im Gegensatz etwa zu Larenz geht Kriele, ebd., allerdings davon aus, dass die herkömmlichen Methoden „in der Regel keine Entscheidungen“ ermöglichen und daher nicht genügen; vgl. auch Ebsen, Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 48. 16  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 59.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation217

In der Analyse der begrenzten Leistungsfähigkeit des im und für das Zivilrecht entwickelten17 klassischen Methodenkanons für die Verfassungsinterpretation treffen sich in ihren Ausgangspunkten so grundverschiedene Verfassungstheoretiker wie Hesse und Böckenförde.18 Spätestens mit der Entwicklung der Wertejudikatur im Sinne einer materialen Auslegung der Grundrechte ist offensichtlich, dass eine Beschränkung auf die überkommenen Auslegungselemente nicht mehr dem Stand der methodologischen Reflexion der verfassungsrechtlichen Praxis entspricht. Dies kann auch als Konsens der Debatte über die Prinzipien der Verfassungsinterpretation festgehalten werden, in der Forsthoff mit seinem Plädoyer für eine Rückkehr zum engen positivistischen Methodenverständnis und den Canones nach Savigny isoliert geblieben ist.19 Der scheinbar zu Tage tretende Widerspruch zwischen dem ‚Bekenntnis‘ des Bundesverfassungsgerichts zu den klassischen Auslegungsmethoden und der Praxis lässt sich demgemäß auflösen, wenn man anerkennt, dass die klassischen Methodenelemente in Bezug auf die Verfassungsauslegung eine spezifische Ausprägung erfahren haben und durch verschiedene Prinzipien und Auslegungsmaximen ergänzt werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die herkömmlichen Methoden aber nach wie vor als ‚Ausgangspunkt‘ der Grundrechtsinterpretation betrachten. 1. Wortlaut Der Wortlaut der Grundrechte ist – zumindest in der Definition ihres Gewährleistungsbereichs – weitgehend unbestimmt und „generalklausel­ artig“.20 Wie Böckenförde formuliert, sind die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes „ihrer Wortfassung und Sprachgestalt nach […] Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weithin entbehren“.21 In den Beratungen des Parlamentarischen Rates hatte man sich hauptsächlich auf eine eingängige Formulierung der ‚klassischen‘ Grundrechte geeinigt und sich dabei in vielen Punkten an den Formulierungen der Weimarer Reichsverfassung orientiert.22 Der Wortlaut ist bewusst proklama17  Zur Übertragung des positivistischen Rechtsdenkens durch Gerber und Laband oben unter B. I. 1. b). 18  Zu den unterschiedlichen Verfassungsverständnissen der Smend- und der Schmitt-Schule siehe oben unter B. III. 2. 19  Ausführlich oben unter B. II. 4. 20  Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1983, S. 102; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 105 f. 21  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974. 22  In der Regel wurde in der Auseinandersetzung um einzelne Formulierung sehr grundsätzlich und nicht so sehr mit Blick auf bestimmte Ergebnisse argumentiert; vgl. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes,

218 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

torisch gefasst und kann daher nur eine allgemeine Richtung des Grundrechtsschutzes (Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung, Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit usf.) anzeigen, der in der Verfassungspraxis mit Blick auf den jeweils in Bezug genommenen Lebensbereich, in der Terminologie F. Müllers: „den Normbereich“,23 konkretisiert werden muss.24 Wenn beispielsweise in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG als Medien der freien Meinungsäußerung „Wort, Schrift und Bild“ genannt sind, dann ist dies nach allgemeiner Auffassung nur als eine beispielhafte Aufzählung zu sehen, die keine inhaltliche Begrenzung durch den Parlamentarischen Rat intendiert, sondern redaktionelle Gründe hatte.25 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in diesem Sinn nahezu26 durchgehend für die „weitest mögliche Erstreckung“ der Schutzbereiche entschieden,27 etwa Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit statt Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung im engeren Sinn interpretiert,28 dem Art. 4 Abs. 1, 2 GG eine umfassende Handlungsfreiheit in Glaubensangelegenheiten entnommen,29 unter anderem Tatsachenmitteilungen30 und kommerzielle Werbung31 dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG zugeordnet, den Schutz der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG auch auf Vor1949, S. 276. Siehe auch die Diskussionen im Ausschuß für Grundsatzfragen: Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948–1949 – Akten und Protokolle, Bd. 5 / I – Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 50 ff. 23  Ausführlich oben unter B. III. 4. a) aa). 24  Vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 82  ff., der darauf hinweist, dass die Verfassungsnormierung umso vager ausfällt (ausfallen muss), je mehr unterschiedlichen Situationen sie gerecht werden und je mehr sie nicht nur einen verfahrensmäßigen, sondern auch materiellen Schutz bieten soll. 25  Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Art. 5, Rn. 73 (Lfg. Dezember 1992) m. w. N. 26  Zu den neueren Tendenzen siehe Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, 2005; vgl. auch unter C. III. 3 und D. II. 1. b). 27  Bryde, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Rechtssoziologie, 1998, S. 499. 28  Grdl. BVerfGE 6, 32 (36 ff.) – Elfes; vgl. auch BVerfGE 54, 143 (144) – Taubenfütterungsverbot; BVerfGE 75, 108 (154 f.) – Künstlersozialversicherungsgesetz; BVerfGE 80, 137 (152 f.) – Reiten im Walde. 29  Das heißt die Freiheit, das gesamte persönliche Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten; grdl. BVerfGE 32, 98 (106) – Gesundbeter; BVerfGE 33, 23 (27 f.) – Eidesleistung. 30  Tatsachenbehauptung werden vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst, wenn sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind; vgl. BVerfGE 61, 1 (8 f.) – „NPD Europas“; BVerfGE 65, 1 (41) – Volkszählung; BVerfGE 94, 1 (7) – DGHS. Bewusst und erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen sollen hingegen nicht dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterfallen; vgl. BVerfGE 90, 241 (249 ff.) – Ausschwitzlüge; BVerfGE 99, 185 (197) – Scientology. 31  Vgl. BVerfGE 71, 162 (175) – Frischzellentherapie; BVerfGE 102, 347 (359) – Schockwerbung I.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation219

feldmaßnahmen32 sowie Blockadeaktionen33 erstreckt, dem Schutz der „Wohnung“ nach Art. 13 Abs. 1 GG auch Betriebs- und Geschäftsräume34 unterstellt sowie unter Art. 14 GG alle vermögenswerten Rechte gefasst35; letzteres bis hin zum Schutz sozialversicherungsrechtlicher Anwartschaften und Ansprüche36 und sogar des Besitzrechts des Mieters37. Bei der Auslegung der Schutzbereiche hat sich das Bundesverfassungsgericht an der Gewährleistungsfunktion des jeweiligen Grundrechts mit Blick auf den von der Grundrechtsnorm in Bezug genommenen Lebensbereich – „Normbereich“38 oder auch „Realbereich“39 – orientiert, auch wenn damit die Grenze des umgangssprachlichen oder üblichen juristischen Wortgebrauchs – wie im Fall des Eigentums – überschritten worden ist.40 Wenn sich die Interpretation des Art. 14 Abs. 1 GG an der Gewährleistungsfunktion ausrichtet, einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich“ zu sichern und eine „eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen“, dann steht die soziale Funktion des Eigentumsschutzes im Vordergrund. Diese kann die Einbeziehung auch besitzrechtlicher Positionen in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfordern, selbst wenn dies über den üblichen Sprachgebrauch hinausgeht und auch im bürgerlichen Recht zwischen Besitzrecht und Eigentum streng unterschieden wird (vgl. §§ 854 ff. und 903 ff. BGB). So argumentiert das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Grundrechtsposition eines Mieters: Die Wohnung ist für jedermann Mittelpunkt seiner privaten Existenz. Der Einzelne ist auf ihren Gebrauch zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse sowie 32  Vgl. BVerfGE 69, 315 (249) – Brokdorf; BVerfGE 84, 203 (209) – Republikaner. 33  Vgl. BVerfGE 104, 92 (104) – Blockadeaktion. 34  Grdl. BVerfGE 32, 54 (69 f.) – Betriebsbetretungsrecht; vgl. auch BVerfGE 44, 353 (371) – Drogenberatungsstelle; BVerfGE 96, 44 (51) – Durchsuchungsanordnung II. 35  Vgl. BVerfGE 58, 300 (335 ff.) – Naßauskiesung; darin hat das Bundesverfassungsgericht den weiten Eigentumsbegriff des Reichsgerichts übernommen (dazu oben unter B. I. 2. c), allerdings mit einer anderen, materialen Ausrichtung, die sich an der sozialen Funktion des Eigentums orientiert; zur Auseinandersetzung zwischen Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht um die Auslegung des Art. 14 GG Bryde, Der Kampf um die Definition des Art. 14, 1985. 36  Grdl. BVerfGE 53, 257 (289 ff.) – Versorgungsausgleich I; BVerfGE 69, 272 (298 ff.) – Krankenversicherung für Rentner. 37  Grdl. BVerfGE 89, 1 – Besitzrecht des Mieters. 38  So F. Müller, siehe oben unter B. III. 4. a) aa). 39  Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 55; vgl. auch unter E. II. 2. 40  BVerfGE 83, 201 (208) – Bundesberggesetz; BVerfGE 102, 1 (15) – Altlasten; st. Rspr.

220 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie zur Freiheitssicherung und Entfaltung seiner Persönlichkeit angewiesen. Der Großteil der Bevölkerung kann zur Deckung seines Wohnbedarfs jedoch nicht auf Eigentum zurückgreifen, sondern ist gezwungen, Wohnraum zu mieten. Das Besitzrecht des Mieters erfüllt unter diesen Umständen Funktionen, wie sie typischerweise dem Sacheigentum zukommen.41

Der Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen, insbesondere des jeweiligen Schutzbereichs, ist somit ein bedeutender Anknüpfungspunkt für die Interpretation, wird vom Bundesverfassungsgericht aber teilweise bis aufs Äußerste ausgereizt oder, jedenfalls wenn man die im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Wortbedeutung zugrunde legt, sogar – wie etwa bei Art. 13 Abs. 1 GG in Bezug auf Betriebs- und Geschäftsräume oder Art. 14 Abs. 1 GG mit Blick auf das Besitzrecht bei der Miete – klar überschritten. Wie an anderer Stelle genauer dargelegt wird, hat sich das Gericht im Grundrechtsbereich jedenfalls nicht zu einer „Wortlautgrenze“ bekannt.42 Innerhalb der Bandbreite semantischer Konkretisierungsmöglichkeiten entfaltet der Wortlaut daher nur eine eingeschränkte Steuerungsfunktion für die Rechtsanwendung, zumal die Bedeutung grundgesetzlicher Begriffe durch den Anwendungskontext selbst (mit)bestimmt wird.43 2. Entstehungsgeschichte Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich seit einer Entscheidung vom Mai 195244 in ständiger Rechtsprechung zur sogenannten „objektiven Auslegungstheorie“.45 Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift soll danach der „in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers“ maßgeblich sein, „so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist“.46 Nicht entscheidend sei dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer 41  BVerfGE

89, 1 (6). grundsätzliche rechtstheoretische Kritik an der Wortlaut(grenz)argumentation im Verfassungsrecht führt Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, insbesondere S. 53 ff., der eine Besinnung auf die Funktion des Wortes fordert; ausführlich unter C. II. 1. 43  Siehe mit Blick auf sprachwissenschaftliche Untersuchungen unter C. II. 44  BVerfGE 1, 299 (312) – Wohnungsbauförderung. 45  Ausführlich Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 25, m. w. N. zur Rspr.; zur historischen Dimension des Streits zwischen subjektiver und objektiver Theorie Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 110 ff. 46  BVerfGE 1, 299 (312); 10, 234 (244); 36, 342 (367); 37, 121 (126 f.); 62, 1 (44 f.); st. Rspr. 42  Eine



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation221

Vorschrift komme für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätige oder Zweifel behebe, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden könnten. Die Materialien dürften nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen.47 Diese für das einfache Gesetzesrecht entwickelten methodischen Grundentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht auf die Interpretation des Grundgesetzes übertragen,48 wobei es zugleich die Offenheit des Normtextes betont und die Aufgabe der Verfassungsinterpretation darin erkennt, „wechselnden Gestaltungsmöglichkeiten Raum zu lassen“49. Eine hervorgehobene Bedeutung der entstehungsgeschichtlich-historischen Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht lediglich bei der Auslegung der Kompetenzbestimmungen der Art. 71 ff. GG anerkannt.50 Mit seinem klaren Bekenntnis zur objektiven Auslegung hat sich das Gericht bewusst für eine entwicklungsoffene Interpretationsmethode entschieden.51 Einer Hinwendung zu einer primär am entstehungsgeschichtlichen Kontext orientierten Verfassungsinterpretation, wie sie in der US-amerikanischen Diskussion teilweise in radikalisierter Form als originalism52 gefordert 47  Vgl. BVerfGE 11, 126 (130); 13, 261 (268); 54, 277 (298 f.); 62, 1 (44 f.); dazu Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1984, S. 75 ff., mit eingehender Analyse und Kritik der Rspr. 48  Angefangen mit BVerfGE 6, 389 (431): „Allerdings kann der Entstehungsgeschichte für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung in der Regel nicht zukommen“; bestätigt unter anderem in BVerfGE 41, 291 (309); 45, 187 (227); 62, 1 (45). 49  BVerfGE 62, 1 (45) – Bundestagsauflösung I. 50  Vgl. BVerfGE 68, 319 (328  ff.); 97, 198 (219); 106, 62 (105); siehe auch Gusy, „Vergangenheitsrechtsprechung“: Die Nachwirkungen Weimars in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2003, S. 404 f. 51  Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 161  ff., spricht von „Verfassungsentwicklungspolitik“ des Bundesverfassungsgerichts. 52  Gewichtige konservative Stimmen in der US-amerikanischen Literatur fordern eine Rückbesinnung auf den „original intent“ der Verfassungsgeber (framers). Die Bestimmungen der Verfassung sollen so interpretiert werden, wie sie zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung – Ende des 18. beziehungsweise bei den Amendments Mitte des 19. Jahrhunderts – verstanden wurden. Der hauptsächliche Zweck der Verfassung liegt für die Vertreter dieser Richtung darin, eine liberal-progressiver Verfassungsinterpretation zu verhindern und bestimmte hergebrachte Rechte in einer Weise zu verankern, dass sie von künftigen Generationen nicht ohne weiteres eingeschränkt werden können. Bassham hat die Argumentationslinien und Protagonisten in diesem Streit wie folgt zusammengefasst: „Conservatives, such as Robert Bork, Chief Justice William

222 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

wird, steht das materiale, auf eine sich in permanentem Wandel befindliche Wirklichkeit bezogene Verfassungsverständnis des Bundesverfassungsgerichts entgegen.53 Wie Bryde in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts feststellt, lässt sich der dynamische Regelungsgegenstand des Verfassungsrechts „mit als starr verstandenen, in ihrem Sinn auf einen bestimmten Zeitpunkt fixierten Regeln schwerlich bewältigen“.54 Der Entstehungsgeschichte im Sinne der subjektiven Vorstellungen der an der Normsetzung beteiligten Personen und Organe hat das Bundesverfassungsgericht für die Verfassungsauslegung – im Rahmen der objektiven Theorie – infolgedessen aus guten Gründen eine nachrangige Bedeutung zugesprochen.55 Insofern mag es überraschen, dass sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Grundrechten teilweise recht Rehnquist, Justice Antonin Scalia, and former Attorney General Edwin Meese, have argued that constitutional meaning is forever fixed by the original intent of the framers and that courts should hold government action unconstitutional only if that action clearly violates that original intent. Liberals, such as Ronald Dworkin, Michael Perry, Leonard Levy, and retired Justice William Brennan, have countered that the Constitution is a living document and that courts should interpret its broadly based guarantees in the light of the changing circumstances, values and needs“, zit. n. Goldford, The American Constitution and the Debate over Originalism, 2005, S. 55. 53  Das Konzept des original intent krankt mindestens an drei grundlegenden Problemen: Erstens: „Die […] Rechtfertigung des historischen Arguments behandelt die Verfassung als eine Art Vertrag. Die Geltung des Vertrags beruht auf dem Konsens der an ihm Beteiligten. […] Wie kann die generationenübergreifende Verbindlichkeit der Ansichten begründet werden, über welche die ‚framers‘ einen Konsens erzielten? Schließlich ist es der Konsens der gegenwärtig Lebenden, welcher der Verfassung Legitimität verleiht. Dieser als ‚dead hand‘-Problem bezeichnete Einwand legt einen wesentlichen Mangel historischer Argumentation offen“, Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 1997, S. 164 f. Zweitens lässt sich für viele Wörter und Bestimmungen der Verfassung heute gar nicht mehr rekonstruieren, welche Bedeutungen ihnen zum Zeitpunkt der Entstehung beigemessen wurden; auf welche auslegungsrelevanten Texte kann und darf Bezug genommen werden? Drittens stellt sich die Frage, wie mit der naturwissenschaftlichen und technischen Fortentwicklung umzugehen ist. Bei einer konsequenten Anwendung der Doktrin würden beispielsweise handgeschriebene Briefe vom Schutz des ersten Verfassungszusatzes (freedom of speech) erfasst, auf einem Computer gespeicherte Texte oder Internetsendungen jedoch nicht. Folglich kommt auch der originalism um eine Anpassung auf die gewandelten Verhältnisse nicht umhin; zusammenfassend Hiesel, Neue Wege in der Grundrechtsinterpretation? Reflexionen zu methodologischen Positionen von US Supreme Court Justice Antonin Scalia, 2000, S. 60 ff. 54  Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 266 m. w. N. 55  Vgl. Sachs, Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung, 1984, S. 78 ff.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation223

ausführliche Auseinandersetzungen mit der Entstehungsgeschichte finden.56 Dies gilt vor allem dort, wo sich das Gericht erstmalig zu einem Tatbestandsmerkmal eines Grundrechtsartikels äußert. So finden sich besonders in der frühen Rechtsprechung Fälle, in denen die genetische Interpretation vom Gericht herangezogen wurde – allerdings in erster Linie, um ein bereits auf anderem Wege gefundenes Interpretationsergebnis zu bestätigen. So begründete das Bundesverfassungsgericht im Apotheken-Urteil die Erstreckung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG – entgegen dem Wortlaut – auf die Freiheit der Berufswahl damit, dass die Mitglieder des Parlamentarische Rats eine Ermächtigung zu Beschränkungen der Zulassung zwar grundsätzlich vermeiden, andererseits aber die damals zahlreich bestehenden Zulassungsbeschränkungen nicht allgemein für unzulässig erklären wollten.57 In seiner Entscheidung zu den Betriebsbetretungsrechten begründet das Gericht die Einbeziehung von Betriebsräumen in den Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG mit dessen Vorläuferbestimmungen in der Preußischen und Weimarer Reichsverfassung und deren Auslegung in der Literatur und Rechtsprechung. Die Entstehungsgeschichte des Art. 13 GG weise darauf hin, dass eine Änderung der überkommenen Auslegung des Wohnungsbegriffs durch Ausschluss von Geschäftsräumen nicht beabsichtigt gewesen sei.58 Umstritten geblieben ist die Heranziehung der Entstehungsgeschichte bekanntermaßen bei der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG, der dem Wortlaut nach die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ schützt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundrechtsbestimmung in seiner Elfes-Entscheidung als umfassende menschliche Handlungsfreiheit interpretiert und hierbei unter anderem darauf abgestellt, dass es nicht rechtliche Erwägungen, sondern sprachliche Gründe gewesen seien, die den Verfassungsgeber bewogen hätten, die ursprünglich vorgeschlagene Fassung „Jeder kann tun und lassen was er will“ durch die „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ zu ersetzen.59 Diese Lesart der Entstehungsgeschichte ist nicht zweifelsfrei und vielfach kritisiert worden.60 So hat etwa Grimm in seinem Sondervotum im Reiten56  Zu diesem Befund gelangt auch Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 42; aus der Rspr. siehe etwa BVerfGE 74, 51 (57 ff.) – Nachfluchttatbestände zu Art. 16 Abs. 2 GG a. F.; BVerfGE 75, 40 (56 ff.) – Privatschulfinanzierung I zu Art. 7 Abs. 4 GG; BVerfGE 83, 341 (354 f.) – Baháʼi zu Art. 4 Abs. 1, 2 GG; BVerfGE 92, 91 (111 f.) – Feuerwehrabgabe zu Art. 12 Abs. 2, 3 GG. 57  BVerfGE 7, 377 (402). 58  BVerfGE 32, 54 (69 f.). 59  BVerfGE 6, 32 (36 f.); ausführlich zur Elfes-Entscheidung oben unter B. II. 4. b). 60  Vgl. Krebs, § 31 Rechtliche und reale Freiheit, 2006, Rn. 39 m. w. N.; eingehend zur Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 1 GG und den Beratungen im Par-

224 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

im-Walde-Beschluss hervorgehoben, dass gerade nicht die schon im Entwurf von Herrenchiemsee vorgeschlagene weite Formel, sondern die Fassung des Hauptausschusses, die nur noch vom „Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ sprach, Verfassungstext wurde, weil die weite Formulierung nach Ansicht der Mehrheit das Gemeinte sprachlich nicht angemessen ausdrückte.61 Als ein weiteres Beispiel für die Heranziehung der Entstehungsgeschichte aus der jüngeren Rechtsprechung sei der Beschluss vom Mai 2006 zur Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung genannt. Für die Frage, ob eine derartige Rücknahme als Entziehung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zu qualifizieren sei, setzt sich der Zweite Senat ausführlich mit dessen Entstehungsgeschichte, auch dem zeithistorischen Kontext der Nachkriegsjahre auseinander, kommt aber zu dem Ergebnis: „Ein klares, zumindest innerhalb der jeweiligen Mehrheiten einheitliches Verständnis des Entziehungsverbots im Parlamentarischen Rat wird aus diesen Diskussionen nicht ersichtlich.“62 Der Blick auf die Rechtsprechung zeigt bereits, dass sich das Bundesverfassungsgericht – vor allem bei der erstmaligen Auslegung einer Grundrechtsbestimmung – teilweise recht ausführlich mit der Entstehungsgeschichte auseinandersetzt.63 Es ist davon auszugehen, dass dies in den jeweils zugrunde liegenden internen Voten noch gründlicher geschieht, das heißt, dass den Verfassungsrichterinnen und -richtern die Genese der Grundrechtsbestimmungen in diesen Fällen durchaus ‚vor Augen‘ steht. Andererseits aber wird deutlich, dass sich das Gericht der begrenzten Aussagekraft derartiger Analysen der Grundrechtsgenese bewusst ist. Ausdrücklich wird die Entstehungsgeschichte – im Rahmen der objektiven Methode – in der Regel nur ergänzend herangezogen, um eine bestimmte, aufgrund anderer Erwägungen gefundene Interpretation zu untermauern.64 Als Auslamentarischen Rat Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 132 ff. Interessant die Einschätzung von Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG, S. 43 f., der meint, die Entscheidung sei mit Blick auf die Entstehungsgeschichte schlicht „falsch“ gewesen, habe aber im System des Grundrechtsschutzes heute eine so weitreichende Funktion, dass sie beibehalten werden sollte. 61  Abweichende Meinung des Richters Grimm, BVerfGE 80, 137 (165). 62  BVerfGE 116, 24 (42). 63  Weitere Beispiele aus der Rspr. finden sich bei Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S.  38 ff. 64  Aus der Rspr. siehe etwa: BVerfGE 6, 55 (72  ff.) – Zusammenveranlagung der Eheleute, zu dieser Entscheidung oben unter B. II. 4. c); BVerfGE 9, 124 (128 f.) – Armenrecht, zu Art. 3 Abs. 3 GG; BVerfGE 24, 119 (140) – Adoption, zu Art. 6 Abs. 3 GG; BVerfGE 33, 52 (73) – Zensur, zu Art. 5 Abs. 1 Satz 3; BVerfGE 83, 341 (354 f.) – Baháʼi zu Art. 4 Abs. 1, 2  GG.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation225

nahmen hiervon können zwei Entscheidungen aus dem 74. Band der Entscheidungssammlung angeführt werden. In seiner Entscheidung zu Erziehungsmaßregeln nach dem Jugendgerichtsgesetz hat der Zweite Senat im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ die Entstehungsgeschichte der Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 GG herangezogen, um eine einschränkende Auslegung der Merkmale „Zwang zu einer bestimmten Arbeit“ und „Arbeitszwang“ vorzunehmen.65 In seinem Beschluss zu den Nachfluchtgründen hat der Senat wiederum unter anderem auf die Entstehungsgeschichte sowie die Vorgängerbestimmungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. (Asylgrundrecht) rekurriert, um das Erfordernis eines kausalen Zusammenhangs zwischen Verfolgung und Flucht zu begründen.66 Auch hier wird die genetisch-historische Auslegung jedoch neben den völkerrechtlichen Bestimmungen nur als ein weiterer, wenn auch entscheidungserheblicher Interpretationsgesichtspunkt herangezogen. Angesichts der häufig auftretenden Schwierigkeiten, aus den Protokollen und anderen Materialien der verfassungsgebenden Beratungen eindeutige Aussagen über die Norminhalte der Grundrechte zu gewinnen, überzeugt die zurückhaltende Anwendung der subjektiv-historischen Methode durch das Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls kann und sollte aus den Aussagen einzelner Abgeordneter im historischen Kontext der Verfassungsgebung nur mit äußerster Vorsicht auf einen bestimmten Normsinn geschlossen werden.67 Im Parlamentarischen Rat wurden – jedenfalls in Bezug auf die ‚klassischen Grundrechte‘ – konkrete Auslegungsfragen kaum diskutiert, und soweit dies doch geschah, wurden die Probleme oft nur angerissen und in der Regel nicht eindeutig zugunsten einer bestimmten Verständnisvariante entschieden.68 Die Debatten waren stark von den Problemen ihrer Zeit geprägt.69 Bei verfassungsändernden Gesetzen jüngeren Datums mag der 65  BVerfGE

74, 102 (116). 74, 51 (61 ff.). 67  Vgl. die Nachweise oben unter C. I., Fn. 47. 68  Siehe etwa die Diskussionen im Hauptausschuss über die Schranken der Berufswahl und Berufsausübungsfreiheit, Deutscher Bundestag, Der Parlamentarische Rat 1948–1949 – Akten und Protokolle, Bd. 5 / I und II – Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 617 ff.; Bryde, Artikel 12 Grundgesetz – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, 1984, S. 2178, spricht von einer „Politik der Nichtentscheidung“ im Parlamentarischen Rat. 69  Das wird im Laufe der Diskussion immer wieder sichtbar, siehe Deutscher Bundestag, ebd.; vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, 1949. Kontroversen ergaben sich unter anderem über die Hereinnahme genuin sozialer und gewerkschaftlicher Rechte, über die Rechte der Kirchen (unter anderem auf den Religionsunterricht als Pflichtfach in den staatlichen Schulen), den Schutz des Elternrechts und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Zusammenfassend Mußgnug, § 8 Zustandekommen 66  BVerfGE

226 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Entstehungsgeschichte größeres Gewicht beizumessen sein. Doch auch in diesen Fällen kann aus einzelnen Äußerungen der beteiligten Organe nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass damit ein allgemein geteiltes Verständnis der jeweiligen Norm festgelegt wird.70 Wenn von Böckenförde71 neuerdings die verstärkte Heranziehung der subjektiv-historischen Methode gefordert wird, so muss auf deren eingeschränkte Leistungsfähigkeit für die Erzielung brauchbarer Auslegungsergebnisse hingewiesen werden. Ein anderes Problem der historisch-genetischen Interpretation spricht Böckenförde selbst an: die Frage der Anwendung auf einen veränderten „Realbereich“.72 Die den Schutzbereichen zugrunde liegenden sozialen und technischen Zusammenhänge haben sich seit 1949 teilweise fundamental gewandelt und (fort)entwickelt. Die weitreichende Veränderung des Rundfunkwesens,73 neue mediale Kommunikations- und Darstellungsmöglichkeiten wie Computer und Internet,74 die Reichweite und Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung,75 die DNA-Analyse,76 die Entwicklung der Gentechnik77 und Reproduktionstechniken, die kulturelle und religiöse Vielfalt der Gesellschaft,78 diverse Lebens- und Familienformen,79 die Bedes Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, 2003, Rn. 57 ff.; vgl. auch Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 155 ff.; ausführlich Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, 1998, S. 249 ff. 70  Darauf hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht hingewiesen, siehe die Nachweise oben in Fn. 47. 71  Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, 2003. 72  Ebd., S. 187. 73  Vgl. die bis heute vierzehn Rundfunkentscheidungen: BVerfGE 12, 205; 31, 314; 57, 295; 73, 118; 74, 297; 83, 238; 87, 181; 90, 60; 92, 203; 97, 208; 119, 181; 121, 30; zuletzt BVerfG, NVwZ 2014, 867. 74  Vgl. BVerfGE 120, 274 – Grundrecht auf Computerschutz; zum Internet aktuell Lewinski, Recht auf Internet, 2011; vgl. auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 5, Rn. 100 ff., insbesondere Rn. 102: „Der absehbare Wandel der gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen durch Konvergenzprozesse, vor allem durch die Verschmelzung von Individual- und Massenkommunikation infolge der digitalen Kompressionstechniken, aktualisiert den Streit um [… den] Rundfunkbegriff, weil er Kompetenzabgrenzungen zwischen Bund und Ländern, die Reichweite gesetzgeberischer Ausgestaltung und letztlich zukünftige Marktmacht vorzuentscheiden scheint.“ 75  Grdl. BVerfGE 65, 1 – Volkszählung; zum Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ siehe auch unter E. II. 2. c). 76  Vgl. BVerfGE 103, 21 – Genetischer Fingerabdruck. 77  Vgl. BVerfG, NVwZ 2011, 94 – Gentechnikgesetz. 78  Etwa BVerfGE 108, 282 – Kopftuch; dazu Wrase, Die Kontroverse um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin – religiös-kultureller Pluralismus als Verfassungsproblem, 2010. 79  Vgl. BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation227

drohung durch den Terrorismus80 oder die veränderte Haltung zur Gleichberechtigung der Geschlechter81 konnten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ebenso wenig vorhersehen wie neue Protestformen, die unter anderem mit der Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden sind,82 die Veränderung ganzer Berufsfelder von Standes- zu modernen Dienstleistungsberufen83 oder zunehmende Eigentumsbeschränkungen durch Denkmal-84 und Umweltschutz85 und vieles mehr. Die mittlerweile über 130 Bände der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lesen sich wie eine verfassungsjuristische Chronologie dieser (Problem-)Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu als vornehmste Aufgabe der Grundrechtsinterpretation, aus dem historisch geronnenen Normmaterial Lösungen für teilweise ganz neuartige grundrechtliche Problemstellungen zu entwickeln und damit einer „Versteinerung“86 der normativen Gehalte entgegenzuwirken.87 3. Historische Interpretation im weiteren Sinn Die historische Interpretation im weiteren Sinn geht über die Heranziehung der Gesetzgebungsmaterialien hinaus und verlangt die Berücksichtigung des zeithistorischen und geistesgeschichtlichen Kontextes sowie der Entwicklungsgeschichte.88 Unstreitig dürfte sein, dass sich aus dem histo80  Zum Einfluss der ‚Bedrohung durch den internationalen Terrorismus‘ auf die sicherheitsrechtlichen Debatten und Maßnahmen ausführlich Kötter, Pfade des Sicherheitsrechts – Begriffe von Sicherheit und Autonomie im Spiegel der sicherheitsrechtlichen Debatten der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 281 ff.; vgl. nur BVerfGE 115, 320 – Präventivpolizeiliche Rasterfahndung; BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung; zur Ausweitung polizeilicher Eingriffsmaßnahmen; vgl. auch die Nachweise unter C. IV. 2. b), in Fn. 376. 81  Grdl. BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot. 82  Grdl. BVerfGE 69, 315 – Brokdorf. 83  Etwa BVerfGE 103, 1 – Singularzulassung zum OLG; BVerfGE 111, 366 – Steuerberaterwerbung; BVerfGE 117, 163 – Anwaltliche Erfolgshonorare. 84  Vgl. BVerfGE 100, 226 – Denkmalschutz. 85  Etwa BVerfGE 102, 1 – Altlasten. 86  Davor warnt auch Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, 2003, S. 187; zur „Versteinerungstheorie“ in der österreichischen Verfassungsjudikatur siehe Öhlinger, Verfassungsrecht, 2009, Rn. 31. 87  Zum Bundesverfassungsgericht als Akteur der Fortentwicklung der Verfassung grdl. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 162 ff. 88  Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 99, unter Verweis auf Windscheid: „Teleologische und historische Auslegung verbinden sich, wenn speziell der Zweck aufgedeckt wird, der dem Gesetzgeber vorschwebte.“ Speziell für die Grundrechtsinterpretation auch Pieroth, Geschichte der Grundrechte, 1984, S. 568.

228 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

risch-sozialen und ideengeschichtlichen Entwicklungszusammenhang grundsätzliche Erkenntnisse für die Ermittlung der Zielrichtung der Grundrechte gewinnen lassen.89 Die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes waren die Antworten auf geschichtliche Erfahrungen vor allem unter der Herrschaft der Nationalsozialisten.90 Der neue Staat sollte sich nicht an einer übergeordneten Ideologie, sondern an den grundlegenden Rechten der in ihm lebenden Menschen orientieren.91 Dies kommt nicht nur in der „konstitutiven“ Bedeutung92 der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zum Ausdruck, sondern gleichsam auch in dem Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG. Waren nahezu alle Grundrechte der Weimarer Verfassung an die Staatsangehörigkeit geknüpft, also „Deutschenrechte“, sind die Grundrechte des Grundgesetzes zum weit überwiegenden Teil Menschenrechte.93 Mit dem Grundrechtskatalog wollten die Verfassungsgeber mithin den grundlegenden Gefahren für die menschliche Würde und Freiheit begegnen, die sie in der jüngeren Geschichte erfahren hatten:94 zu nennen wären etwa staatlicher Totalitarismus, Fremdbestimmung und Gewaltherrschaft, Rassismus, Unterdrückung und Diskriminierung von Einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen.95 Die Grundrechte zielen auf eine grundsätzliche Achtung der Selbstbestimmung des Einzelnen in der staatlichen Gemeinschaft.96 89  Ausführlich zur Ideengeschichte Stern, §  1 Die Idee der Menschen- und Grundrechte, 2004. 90  Vgl. auch Starck, in: Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 2010, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 10. 91  Ausführlich oben unter B. II. 1. 92  Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Menschenwürde als „obersten Verfassungswert“ und „tragendes Konstitutionsprinzip“, vgl. BVerfGE 87, 209 (228); 109, 133 (149). 93  Ausnahmen sind die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), das Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). 94  Ähnlich Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 175 ff., der die „historische Gefährdungslage, aus der das Grundrecht entstanden ist“, als Ausgangspunkt der Interpretation nehmen will: „Die Gefährdungslage bildet […] die Grundlage für die anschließend zu führende Auseinandersetzung über den durch das Grundrecht vermittelten Schutz“, ebd., S. 177. 95  Vgl. Hofmann, Die Entdeckung der Menschenrechte, 1999, S. 11: „Dieses Bekenntnis zur Menschenwürde verbindet in hervorragender Weise die beiden Ebenen des Freiheitsgedankens, von denen wir gesprochen haben. Denn es bedeutet zum einen Protest gegen alle die unsäglichen Entwürdigungen der Menschen durch die totalitäre Gewalt des 20. Jahrhunderts. Und es ist zugleich Chiffre für die freie menschliche Selbstbestimmung“.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation229

Mitunter mag es unter dieser Prämisse leichter sein, negativ zu bestimmen, welchen Handlungen und gesellschaftlichen Zuständen die Grundrechte entgegenwirken sollen, als zugleich positive Ziele für die Grundrechtsverwirklichung zu formulieren, die – zumal in einer sich wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit – eindeutige Handlungsanleitungen für die Staatsgewalten geben. Die Frage, was die Grundrechte positiv gebieten, lässt sich aber zumindest kontextbezogen und problemspezifisch bestimmen.97 Dabei kommt der Auseinandersetzung mit dem historischen und ideengeschicht­ lichen Hintergrund besondere Bedeutung zu. 96

So ist das Menschenwürdegrundrecht nach Art. 1 Abs. 1 GG in erster Linie als Schutzrecht gegen schwerste Formen von Erniedrigung, Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung formuliert worden.98 Es ist das Gegenprogramm zur totalitären Missachtung des Individuums.99 Dies kommt auch in der von Dürig100 formulierten Objektformel zum Ausdruck, derer sich das Bundesverfassungsgericht des Öfteren bedient hat.101 Dieses zeithistorisch (vor)geprägte Verständnis des Gewährleistungsgehaltes102 ist al96  Vgl. Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28 (Lfg. Mai 2009); Häberle, § 22 Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Rn.  47 ff. 97  So in Bezug auf den Menschenwürdegehalt ausdrücklich BVerfGE 109, 279 (311 f.) – großer Lauschangriff: „Der Maßstab der Menschenwürde ist mit dem Blick auf die spezifische Situation näher zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann. […] Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen […] Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben.“ 98  So bereits BVerfGE 1, 97 (104). 99  Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 1 I, Rn. 40; Starck, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 10. Zur Verankerung entsprechender Gewährleistungen im internationalen Recht siehe die Nachweise bei Dreier, ebd. 2004, Rn. 26: Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, Präambel der UN-Charta vom 26.6.1945, Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, sowie die zahlreichen völkerrechtlichen Übereinkommen zum Schutz vor Folter. Zur Bedeutung der Menschenwürde in der Europäischen Grundrechtecharta Rengeling / Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 555 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 8; Rixen, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 9. 100  Vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 141. 101  Unter anderem BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 50, 205 (215); 57, 250 (275); 72, 105 (116); 87, 209 (228). 102  Ablehnend zu jeder Leistungskomponente noch ausdrücklich die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hinterbliebenenversorgung, BVerfGE 1, 97 (104 f.): „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ‚Die Würde des Menschen ist unantast-

230 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

lerdings mit Blick auf die Funktion des Grundrechts, Mindestbedingungen eines sozial selbstbestimmten Lebens zu garantieren, entwicklungsoffen und hindert nicht, unter den gewandelten Bedingungen des Sozialstaates Art. 1 Abs. 1 GG heute auch ein subjektives Leistungsrecht auf Sicherung des physischen und sozio-kulturellen Existenzminimums zu entnehmen, wie es das Bundesverfassungsgericht nunmehr ausdrücklich anerkannt hat.103 Grundrechtliche Gewährleistungen, die im Wege der Verfassungsauslegung zu ermitteln sind, können mit Bielefeldt als voranschreitende „geschichtliche Rechte“104, und zwar im Sinne einer „unabgeschlossene Lern­ geschichte“105, betrachtet werden. Durch sie vollzieht sich, um eine Wendung aus der Hermeneutik Gadamers aufzugreifen, ein Prozess der „Vermittlung“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart.106 Die methodische ‚Kunst‘ der Grundrechtsinterpretation liegt somit darin, das in einem bestimmten zeithistorischen Kontext Entwickelte auf die verfassungsrechtlichen Probleme der Gegenwart (sach)gerecht anzuwenden, ohne dass man sich von den vorgegebenen Ideengehalten, aber auch ihren Begrenzungen, löst.107

bar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: ‚… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‚Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“ 103  Grdl. BVerfGE 125, 175 (222 ff.) – Hartz IV; zur Entwicklung des Grundrechts auf Sicherung des Existenzminimums lesenswert Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, 1995; von Arnauld, Das Existenzminimum, 2009; vgl. bereits Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956, S. 132, zum Recht auf Fürsorge; grdl. BVerwGE 1, 159 – Fürsorgeanspruch; ausführlich zur Leistungsfunktion der Grundrechte unter D. I. 3. d). 104  Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 85: „Ein Blick auf die Entwicklung der letzten zweihundert Jahre zeigt, daß Menschenrechte geschichtliche Rechte sind, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen können sie die Kontingenz menschlicher Geschichte nicht aufheben. Auch wenn sie auf ein ‚Unbedingtes‘, nämlich die unantastbare und unaufgebbare Menschenwürde verweisen, bleiben sie als konkrete historische Rechte doch vielfältig bedingt und folglich notwendig der Kritik ausgesetzt. Zum anderen verändern sich durch solche Kritik – wie auch die sich wandelnden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebensverhältnisse – Inhalt und Stoßrichtung der einzelnen Menschenrechte.“ 105  Gadamer, Wahrheit und Methode, 1990, S. 333. 106  Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, 2007, S. 48, deutet die Entstehung der Menschenrechte „als Ergebnis von konflikthaft verlaufenden gesellschaftlichen Lernprozessen“. 107  Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, 2009, S. 307, spricht von „doing constitutionalism“.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation231

4. Systematik, insbesondere Einheit der Verfassung Die systematische Auslegungsmethode stützt sich auf den Bedeutungszusammenhang, in dem die zu interpretierende Bestimmung steht. Sie stellt den einzelnen Rechtsgedanken in den Kontext anderer Normen. Einzelne Rechtssätze sind danach so auszulegen, dass „logische Widersprüche vermieden und Konflikte unterschiedlicher Normzwecke zu einem gerechten und schonenden Ausgleich gebracht werden“.108 In der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts finden sich wesentliche Ansätze systematischer Interpretation. a) Wertsystem So hat das Verständnis der Grundrechte als eines lückenlosen Anspruchsund Wertsystems die Rechtsprechung in ihrer Anfangsphase beeinflusst und zu einem systematischen Grundverständnis zentraler Normen des Grundrechtsteils beigetragen.109 Dazu gehört das Verständnis der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG als „oberstes Konstitutionsprinzip“, das die Auslegung aller anderen Grundrechte beeinflusst und durch das Bekenntnis zu den allgemeinen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 3 GG konkretisiert beziehungsweise ergänzt wird.110 Hinzu kommt die Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit111 sowie im Laufe der Rechtsprechung die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus einer Verbindung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG. In späterer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht mehr auf die Idee eines „Wertsystems“ Bezug genommen.112 Der Ansatz eines einheitlichen oder geschlossenen Wertsystems hat sich in der Rechtsprechung nicht durchgesetzt.

108  Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2006, S. 43; vgl. auch Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 324 ff. 109  Siehe oben unter B. II. 4. b) aa)–bb); vgl. auch Di Fabio, § 46 Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, 2006, Rn. 36 ff. 110  Vgl. Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 2001, S. 113. 111  Vgl. auch Scholz, Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Teil 1), 1975, S. 82 f. 112  Dagegen bereits etwa Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht – Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 1961 (Neudruck 1999), S. 126 f.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 78 ff., 82 ff.

232 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

b) Einheit der Verfassung als zentrales Auslegungsprinzip Eine besondere, auf das Verfassungsrecht bezogene Ausformung der systematischen Interpretationsmethode hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Topos der „Einheit der Verfassung“ bereits in seinem SüdweststaatenUrteil entwickelt. Dort heißt es: Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt. Aus dem Gesamtinhalt der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen untergeordnet sind. Das Grundgesetz geht, wie sich insbesondere aus Art. 79 Abs. 3 ergibt, ersichtlich von dieser Auffassung aus.113

Das Bundesverfassungsgericht versteht die Einheit der Verfassung dabei teilweise als eine hierarchische, in der die Einzelbestimmungen den tragenden Grundsätzen der Verfassung, die durch die „Ewigkeitsklausel“ geschützt sind, untergeordnet sind.114 Im Übrigen geht es davon aus, dass einzelne Verfassungsbestimmungen im Lichte dieser Grundsätze auszulegen sind.115 Diese Rechtsprechung wurde im Abhör-Urteil von 1970 fortgeführt. Dort legte das Bundesverfassungsgericht den durch Verfassungsänderung eingefügten Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG unter Rückgriff auf Verhältnismäßigkeitsprinzip, Rechtsstaatsgebot und Menschenwürde einschränkend aus und entwickelte so rechtsstaatliche Mindestanforderungen für seine einfachgesetzliche Umsetzung („G 10“).116 Ebenso verfuhr das Gericht 2004 in seinem Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung („Großer Lauschangriff“), wo es der Menschenwürde und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter anderem die staatliche Pflicht zum Schutz des „Kernbereichs persönlicher Lebensführung“ entnommen hat. Die Grenze dieser „systematischergänzenden“ Verfassungsauslegung sieht das Gericht erst dort, „wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde“.117 Abgesehen von der Interpretation der Verfassungsnormen im Lichte der in Art. 79 Abs. 3 GG genannten elementaren Verfassungsgrundsätze bemüht sich das Bundesverfassungsgericht darum, Grundrechtsbestimmungen 113  BVerfGE

1, 14 (32). Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S. 78. 115  Vgl. auch BVerfGE 19, 206 (220) – Kirchenbausteuer. 116  BVerfGE 30, 14 (19 ff.). 117  BVerfGE 109, 279 (316 f.). 114  Vgl.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation233

nicht isoliert, sondern vielmehr mit Blick auf andere Grundrechtsgewährleistungen und sonstige Verfassungsvorschriften zu interpretieren, um auf diesem Weg die Schutz- und Gewährleistungsgehalte soweit als möglich zu kompatibilisieren und damit potentielle Spannungslagen aufzulösen.118 In Abgrenzung zu Teilen der Weimarer Verfassungslehre ging es dem Gericht von Anfang an ersichtlich darum, keine vermeidbaren Antinomien in die Verfassung hineinzulesen.119 So hat das Gericht in seinem Beschluss zur steuerlichen Zusammenveranlagung von Eheleuten im Jahr 1956 die Grundsatzentscheidung für die Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 GG im Rahmen der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG herangezogen, um zu begründen, weshalb der Gesetzgeber die erwerbswirtschaftliche Betätigung der Ehefrau nicht als eheschädlich ansehen durfte.120 In seiner späteren Rechtsprechung stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Art.  6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG zu lesen ist, die Ehe also als eine „Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner“ schützt.121 Dies bedeutet, dass Art. 3 Abs. 2 GG in seinem Anwendungsbereich nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG nicht eingeschränkt wird, sondern vielmehr auf das Ehegrundrecht erweitert werden muss. Die Freiheit zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung innerhalb der Ehe kann folglich die direkte oder indi­ rekte Benachteiligung von Frauen nicht rechtfertigen.122 In seiner Caro­ line-von-Monaco-II-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den Schutzgehalt des Persönlichkeitsrechts Prominenter in einer Zusammenschau von Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1  GG mit Art. 6 Abs. 1 und 2  GG verstärkt, soweit es um die Veröffentlichung von Abbildungen geht, die die „spezifisch elterliche Hinwendung zu den Kindern zum Gegenstand haben“.123 Ein methodisch gleichlaufender Ansatz liegt im Kern auch dem maßgeblich von Hesse entwickelten und in die Judikatur eingeführten Grundsatz der praktischen Konkordanz124 zugrunde: Wo Kollisionen [zwischen Verfassungsgütern, der Verf.] entstehen, darf nicht in vorschneller „Güterabwägung“ oder gar abstrakter „Wertabwägung“ eines auf Kosten des anderen realisiert werden. Vielmehr stellt das Prinzip der Einheit der 118  Weitergehend zur „Korrespondenz von Grundrechten“ Betghe, § 72 Grundrechtskollisionen, 2009, Rn. 33. 119  So erstmals ausdrücklich BVerfGE 2, 1 (72) – SRP-Verbot; vgl. auch Mangoldt / Klein, GG Kommentar, 1957, Einleitung IV.7.b), S. 10. 120  BVerfGE 6, 55 (82) – steuerliche Zusammenveranlagung von Eheleuten; ausführlich dazu oben unter B. II. 4. c). 121  BVerfGE 105, 1 (10 f.). 122  Vgl. auch Wrase / Klose, Gleichheit unter dem Grundgesetz, 2011, Rn. 18. 123  BVerfGE 101, 361, 3. Leitsatz. 124  Siehe auch oben unter B. III. 4. a) bb).

234 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie Verfassung die Aufgabe einer Optimierung: beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können.125

Bei auftretenden Spannungslagen zwischen unterschiedlichen Verfassungsnormen vermeidet das Gericht prinzipielle Aussagen über eine Voroder Nachrangstellung. Vielmehr soll, wie der Erste Senat bereits 1952 in seiner Entscheidung zum SRP-Verbot ausgeführt hat, die Lösung in der Weise erfolgen, dass im Rahmen einer Abwägung „ermittelt wird, welches Prinzip bei der Entscheidung einer konkreten verfassungsrechtlichen Frage jeweils das höhere Gewicht hat“126 (Grundsatz der problembezogenen Abwägung). c) Systematik der Grundrechtsvorbehalte? Fraglich ist, inwiefern systematische Interpretationselemente bereits auf der Ebene der Grundrechtsvorbehalte gewinnbringend eingesetzt werden (können). Die meisten Unsicherheiten des vom Parlamentarischen Rat konzipierten Grundrechtskatalogs lagen im Bereich der Schranken- beziehungsweise Begrenzungsregelungen. Man entschied sich bewusst dagegen, einen einheitlichen Grundrechtsvorbehalt zu statuieren. Um sicherzustellen, dass der Grundrechtsschutz nicht aufgrund eines allgemeinen Gesetzesvorbehaltes leer lief, wurden für jedes Grundrecht möglichst qualifizierte, auf die einzelnen Gewährleistungen bezogene Vorbehalte aufgestellt.127 Der Forderung nach einer genauen Fassung der Vorbehalte, die nach kasuistisch-detaillierten Regelungen verlangte, stand allerdings das Anliegen entgegen, die Grundrechtsvorschriften möglichst feierlich und kurz zu halten. „Deshalb passte man das Gebot zu spezifizieren dem Verfassungsstil an und verzichtete auf eine Regelung, wenn sie sich nicht stilgerecht formulieren lassen wollte.“128 Hier wird der Unterschied zu den nachträglich im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung eingefügten Gesetzesvorbehalten sichtbar, die – wie etwa Art. 12a GG129, Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG130 („großer Lauschangriff“) oder Art. 16 a Abs. 2 bis 4 GG131 („Asylkompromiss“) – so detailliert formuliert sind wie sonst nur Vorschriften in besonderen Verwal125  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 71 f. 2, 1 (72). 127  Ausführlich Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 122 ff. 128  Ebd., S. 124. 129  Eingefügt durch Gesetz vom 24.6.1968, BGBl. I, S. 709; dazu Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, 1989, S. 3185: „Es ist schwer vorstellbar, daß ein nach diesem Muster und in solchem Stil verfaßter Grundrechtskatalog irgendein Gericht dazu hätte anregen können, darin ein ‚Wertsystem‘ zu entdecken.“ 130  Eingefügt durch Gesetz vom 26.3.1998, BGBl. I, S. 610. 131  Art. 16a eingefügt durch Gesetz vom 28.6.1993, BGBl. I, S. 1002. 126  BVerfGE



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation235

tungsgesetzen; sie stellen damit, regelungstechnisch, funktional und stilistisch Ausnahmefälle im Grundrechtskatalog dar. Einigkeit besteht in der Literatur jedenfalls darüber, dass der Parlamentarische Rat in der Frage der Grundrechtsbegrenzungen keiner einheitlichen Systematik gefolgt ist.132 Wo das Konzept der Formulierung spezifischer Eingriffsanforderungen an stilistische Grenzen stieß, blieb nur der Ausweg eines einfachen Gesetzesvorbehalts. Oder es wurde – wie bei Art. 4 Abs. 1 und 2 oder Art. 5 Abs. 3 GG – auf die ausdrückliche Normierung eines solchen Vorbehalts verzichtet, selbst wenn die Mitglieder des Parlamentarischen Rats ersichtlich davon ausgingen, dass auch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte bestimmten Beschränkungsmöglichkeiten unterliegen sollten.133 Vor diesem Hintergrund wird weitgehend konstatiert, dass dem Grundrechtskatalog keine Systematik der Grundrechtsvorbehalte zu entnehmen ist, dass im Normtext vielfach ‚planwidrige‘ oder kaum zu erklärende ‚Lücken‘ bestehen und dass deshalb die Konsequenzen, die aus einem „System“ der Gesetzesvorbehalte gezogen werden können, „auf ein […] Minimum zu begrenzen sind“.134 Das bedeutet jedoch nicht, dass die einzelnen Grundrechtsvorbehalte in ihrer jeweils eigenen systematischen Ausgestaltung nicht ernst zu nehmen sind.135 So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Naßauskiesungsbeschluss – entgegen einer langjährigen fachgerichtlichen Rechtsprechung, die noch auf das Reichsgericht zurückging –136 der differenzierten Systematik der Art. 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3  GG entscheidende Bedeutung beigemessen und daraus eine klare Unterscheidung der verschiedenen Eigentumsbeschränkungen (Inhalts- und Schrankenbestimmung sowie Legalbeziehungsweise Administrativenteignung) mit weitreichenden Folgen für die Eigentumsrechtsdogmatik abgeleitet.137 132  So zusammenfassend Hermes, § 63 Grundrechtsbeschränkungen auf Grund von Gesetzesvorbehalten, 2009, Rn. 30; Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, 2001, S. 9. 133  Vgl. Papier, § 64 Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, 2009, Rn. 7; ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG und seinem Verhältnis zu dem über Art. 140  GG inkorporierten Art. 136 WRV Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 130  ff.; in Bezug auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG meint Bumke: Die vorbehaltslose Statuierung des Grundrechts bleibe „unbegreiflich“, ebd., S. 132. 134  Hermes, § 63 Grundrechtsbeschränkungen auf Grund von Gesetzesvorbehalten, 2009, Rn. 32, mit eingehender Auswertung der grundrechtsdogmatischen Literatur. 135  Vgl. auch Lerche, § 122 Grundrechtsschranken, 1992, Rn. 49. 136  Dazu Bryde, Der Kampf um die Definition des Art. 14, 1985; zur Auslegung der Eigentumsfreiheit der Weimarer Verfassung durch das Reichsgericht siehe auch oben unter B. I. 2. c). 137  BVerfGE 58, 300 (331 f.): „Die hiernach in Betracht kommenden verschiedenartigen eigentumsrechtlichen Regelungen sind nach der Verfassung unterschied-

236 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

d) Grundrechtsbeschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht Ein besonderes Problem für die verfassungsgerichtliche Konkretisierung stellten diejenigen Grundrechte dar, die keine Vorbehaltsbestimmung enthielten. Das Bundesverfassungsgericht entschied sich dagegen, die Gesetzesvorbehalte des Art. 2 Abs. 1 GG beziehungsweise des Art. 5 Abs. 2 GG als allgemeinen Schrankenvorbehalt anzusehen und auch auf die vorbehaltslosen Grundrechtsgewährleistungen wie Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 4 GG anzuwenden.138 Damit folgte das Gericht der vom Verfassungsgeber vorgegebenen Differenzierung zwischen Grundrechten mit ausdrücklichen Vorbehalten und vorbehaltlos gewährleisteten Rechten. Stattdessen entwickelte es das Konzept der „kollidierenden Verfassungswerte“.139 Unter Bezugnahme auf den Topos der grundgesetzlichen Wertordnung sieht es eine Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts dann als zulässig an, wenn sich die Beschränkung unter Bezugnahme auf einen anderen Verfassungswert rechtfertigen lässt.140 Diese vom Bundesverfassungsgericht entwickelte ‚Lösung‘ bedeutet eine deutlich höhere Hürde bei der Rechtfertigung von Beschränkungen, da jegliche Grundrechtsschranke im Grundgesetz selbst angelegt sein muss. Sie folgt damit zugleich dem Prinzip der Einheit der Verfassung.141 In diesem Sinne lässt sich bei der Entwicklung der verfassungsimmanenten Schranken der Grundrechte in der Tat von einer „syslichen Zulässigkeitsanforderungen unterworfen. Das gilt nicht nur im Verhältnis von Inhaltsbestimmung und Enteignung. Auch die beiden Formen der Enteignung sind im Hinblick auf die grundrechtliche Gewährleistung eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes nicht beliebig austauschbar […] Nach diesem System [Herv. v. Verf.] sind die beanstandeten Vorschriften keine Enteignungsnormen“. 138  Vgl. Wülfling, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 1981, S. 106 ff.; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, 1999, S. 88 ff. 139  Siehe die Nachweise bei Kokott, § 22 Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, 2004, Rn. 47; kritisch dagegen u. a. Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 334 ff., die die Einschränkbarkeit durch kollidierende Verfassungswerte auf die in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten elementaren Verfassungsgüter, insbesondere Menschenwürde und die Grundsätze des Art. 20 GG beschränken wollen. 140  So formuliert das Gericht in seiner Mephisto-Entscheidung BVerfGE 30, 173 (191 f.): „Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter abhebt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen“; parallel für Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: BVerfGE 32, 98 (107 f.) – Gesundbeter. 141  Vgl. Papier, § 64 Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, 2009, Rn. 18 f.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation237

tematischen Interpretation“ sprechen.142 Die Entscheidung des Gerichts, eine systematische Übertragung von Grundrechtsschranken grundsätzlich abzulehnen, dafür aber eine Rechtfertigung von Eingriffen durch kollidierende Verfassungsgüter anzuerkennen, muss daher ebenfalls als Ausfluss der einheitlichen Verfassungsinterpretation angesehen werden; auch hier ist grundsätzlich immer eine Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter erforderlich.143 5. Teleologische Auslegung Die objektiv-teleologische Auslegung zielt auf den ‚hinter‘ einer gesetzlichen Regelung stehenden Zweck (telos) der Norm.144 Dieser kann selbst wiederum aus der Entstehungsgeschichte im weiteren Sinn, aus dem Wortlaut oder der Systematik des Gesetzes gefolgert werden.145 Nach Larenz gehören zur objektiv-teleologischen Auslegung zudem „die Strukturen des geregelten Sachbereichs, tatsächliche Gegebenheiten, an denen auch der Gesetzgeber nichts ändern kann, die er vernünftigerweise bei jeder Regelung mit berücksichtigt; zum anderen […] die rechtsethischen Prinzipien, die hinter einer Regelung stehen“146. Daraus wird erkennbar, wie „elastisch und vieldeutig“147 der Begriff des „Zweckes“148 bei der Rechtsinterpreta­ tion ist. auch Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 331. BVerfGE 28, 243 (261) – Dienstpflichtverweigerung: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat“; zur Schrankenfrage bei vorbehaltlosen Grundrechten grdl. BVerfGE 30, 173 (191 f.) – Mephisto; BVerfGE 32, 98 (107 f.) – Gesundbeter. 144  Statt vieler Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2005, S.  26 ff. 145  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, S. 86 f. 146  Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 333 ff. 147  Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2005, S. 97. 148  Grdl. war Rudolf von Jherings zweibändigen Schrift „Der Zweck im Recht“ (1904–06). Jhering fragt dort nach der sozialen Zwecksetzung von Gesetzen. Das Recht beschreibt er als eine staatliche Zwangsnorm im Dienste eines gesellschaftlichen Zwecks, die also nicht aus übergeordneten Prinzipien (wie nach Kant) oder einer historisch-organischen Entwicklung (wie bei Savigny) erwachse, sondern gesellschaftlichen Bedürfnissen folge. Demnach sei, so meint Jhering, auch der Staat selbst an das Recht gebunden; vgl. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 1904, S. 278 ff. Den ‚Bruch‘ mit dem positivistischen Rechtsdenken vollzieht Jhering al142  So

143  Grdl.

238 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Die Frage nach dem Zweck der Grundrechte, ihrem telos, ist schwierig zu beantworten. Denn jenseits von allgemein gehaltenen Formeln – etwa dass die Grundrechte die Sicherung von Freiheit und Selbstbestimmung der Einzelnen bezwecken – verweist sie auf die elementare Frage der Grundrechtstheorie, das heißt eines Grundverständnisses „über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“.149 Hierzu finden sich in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes wenige Anhaltspunkte. Im Parlamentarischen Rat herrschte die Auffassung, dass es sich bei den „klassischen“ Freiheitsrechten um „vorverfassungsmäßige Rechte“ handelt. Diese Rechte sollten aus den besonderen Verhältnissen der Gegenwart heraus im Grundrechtskatalog „neu gestaltet und geformt“ werden.150 Allerdings ist dem Grundgesetz klar die Entscheidung für ein materielles Grundrechtsverständnis zu entnehmen, dessen Konkretisierung der Parlamentarische Rat bewusst dem neu geschaffenen Bundesverfassungsgericht überantwortet hat.151 Die zweckgerichtete Interpretation verlangt eine Konkretisierung des Freiheitsbegriffs, der im Grundrechtstext vorausgesetzt wird und als „essentielles Konstruktionselement“ des Grundrechtsschutzes bezeichnet werden kann.152 Die Entwicklung eines materialen Freiheitsverständnisses in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde bereits dargelegt.153 Sie bildet die teleologische Grundlage für die mehrdimensionale Ausdifferenzierung des Gewährleistungsgehaltes der Grundrechte, die in den folgenden Kapiteln – auch mit Blick auf ihre dogmatischen Implikationen – genauer behandelt wird. 6. Zwischenfazit: Leistungsfähigkeit der herkömmlichen Interpretationsmethoden Der Blick auf die klassischen Interpretationsmethoden hat gezeigt, dass sie sowohl in der verfassungsrechtlichen Diskussion als auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkt für die Grundrechtsinterpretation angesehen werden können. So setzt sich das Bundesverfassungsgericht gerade dann, wenn es ein Tatbestandsmerkmal in einer lerdings bereits früher, vgl. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, 2004, S.  119 ff. 149  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974. 150  von Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, 1949, S. 275 f.; siehe auch Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 5 / I, 1993, S. 40 ff. 151  Siehe oben unter B. II. 152  So Krebs, § 31 Rechtliche und reale Freiheit, 2006, Rn. 7 f.; zum Freiheitsbegriff ausführlich auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 109 ff. 153  Siehe oben unter B. II. 4.



I. Die klassischen Methoden der Grundrechtsinterpretation239

Grundrechtsbestimmung erstmals konkretisiert, mitunter ausführlich mit dessen Entstehungsgeschichte auseinander. Entscheidende Bedeutung kommt der historisch-genetischen Interpretation in der Regel aber nicht zu. Das spiegelt sich auch in der methodischen (Selbst-)Reflexion des Gerichts, wonach die Entstehungsgeschichte im Rahmen der objektiven Methode nur ergänzend herangezogen werden soll, um einen bestimmten Argumentationsgang zu unterstützten oder zu widerlegen. Auch die Wortlautinterpretation ist angesichts der bewusst knapp und feierlich formulierten Grundrechtsbestimmungen mit Zurückhaltung zu betrachten. Sie ist ein erster Ansatzpunkt, insbesondere bei der Bestimmung der geschützten Lebensbereiche, und gibt in der Regel auch eine bestimmte Richtung der Interpretation vor, taugt aber jedenfalls nicht als feste oder gar unüberwindbare ‚Grenze‘ der Auslegung. Systematische Argumente werden vom Gericht ebenfalls verwendet, treten aber überall dort zurück, wo das grundrechtliche Schutzsystem erkennbar lückenhaft ist. Das ist allerdings bei den Grundrechtsvorbehalten sehr häufig der Fall. Eine wesentliche Ausformung hat die systematische Interpretation jedoch im Auslegungsprinzip der Einheit der Verfassung erhalten, welches besagt, dass einzelne Grundrechtsbestimmungen nicht jeweils isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen Verfassungsbestimmungen zu interpretieren und die jeweiligen Gewährleistungsgehalte nach Möglichkeit zu kompatibilisieren sind. Aus diesem zentralen Auslegungsprinzip hat das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von grundlegenden Figuren abgeleitet, darunter den Grundsatz der Begrenzung von vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten durch kollidierendes Verfassungsrecht, und als konkretes Abwägungsprinzip, – zurückgehend auf Hesse – den Grundsatz praktischer Konkordanz, der einen möglichst schonenden Ausgleich kollidierender Verfassungswerte gebietet. Die einheitsbezogene Verfassungsauslegung ist somit derart angelegt, dass sie grundrechtliche Konfliktlagen nicht auf einer abstrakten (Norm-)Ebene entscheidet, sondern diese vielmehr auf die Ebene der Abwägung verlagert und somit das Feld für die problembezogene Entwicklung von Grundrechtsdogmatik eröffnet. Das teleologische Auslegungselement verweist indes auf die verschiedenen Dimensionen des Freiheitsschutzes sowie weitergehende grundrechtstheoretische Prämissen. Insgesamt kann als Stand der Diskussion wohl festgehalten werden, dass die klassischen Auslegungsmethoden für die Interpretation der Grundrechte bedeutsam sind, aber – schon aufgrund des hohen Abstraktionsgrads der meisten Grundrechtsbestimmungen – in ihrer Leistungsfähigkeit für konkrete Interpretationen auf Grenzen stoßen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund eines materialen und funktional-erweiternden Grundrechtsverständnisses, dem das Bundesverfassungsgericht folgt. Wenn man nicht die gesamten materialen Erwägungen der Grundrechtskonkretisierung bei der objektiv-teleologischen Interpretation abladen möchte, muss von einer Er-

240 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

gänzungsbedürftigkeit des herkömmlichen Methodenkanons ausgegangen werden. Die klassischen Canones sind in ihrem überkommenen Verständnis allein nicht ausreichend, um die methodischen Fragen der Grundrechtsinterpretation zu (er)klären. Sie bedürfen der Ergänzung beziehungsweise Erweiterung durch den Blick auf Dogmatik, Grundrechtstheorie und die „wirklichen Bedingungen“ des Interpretationsprozesses.154

II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation Bevor sich die Untersuchung der Bedeutung von Grundrechtsdogmatik und -theorie mit Blick auf die Konkretisierung der Grundrechtsinhalte zuwendet, soll auch aus sprachwissenschaftlich fundierter Perspektive dargelegt werden, inwiefern Interpretation als schöpferische Konkretisierung notwendigerweise offen und problembezogen erfolgt beziehungsweise erfolgen muss. Zunächst: Warum ist Rechtsprechung überhaupt gestaltende Konkretisierung und nicht lediglich Auslegung eines normativen ‚Sinns‘ und Anwendung auf einen gegebenen Sachverhalt? Die damit verbundenen Fragen nach der Funktion und dem Wesen von Sprache wurden bereits angerissen,155 aber noch nicht näher behandelt. Zunächst ist die im überkommenen juristischen Sprachmodell getroffene Annahme, dass sich die Bedeutung eines Normtextes sprachlich eindeutig ermitteln lässt, im Zuge der sprachtheoretischen Wende,156 die unter anderem auch auf die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins zurückgeht,157 nicht mehr haltbar. Wittgenstein kritisierte in seinen Philosophischen Untersuchungen158 allgemein die Vorstellung, die Bedeutung eines Wortes sei ein geistig erfassbares, selbständiges Etwas. Seine entscheidende Einsicht war: 154  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 59. einführend oben unter A. II. 156  Die Einsicht der Sprachphilosophie, dass die Wahrnehmung und Strukturierung von Wirklichkeit durch die Sprache konstituiert und ‚gefiltert‘ ist, dass die Realität von Menschen durch Sprache gemacht ist, „nämlich in Symbolen verarbeitet und durch Symbole hergestellt wird“ (Bachmann-Medick, Cultural Turns – Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2006, S. 36), hat zu einer partiellen Neu-Fokussierung der wissenschaftlichen Sicht auf Diskurse und soziale Praktiken der (performativen) Wirklichkeitskonstruktion geführt. 157  Eine knappe Zusammenfassung bieten Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 44 ff.; ausführlich zur Bedeutung der Sprachphilosophie Wittgensteins für die Rechtstheorie Amstutz / Niggli, Recht und Wittgenstein I, 2004, und Amstutz /  Niggli, Recht und Wittgenstein II, 2004, sowie Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik – Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995. 158  Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, neu herausgegeben von Joachim Schulte, 1953 (Neudruck 2003). 155  Siehe



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 241

Wörter und Sätze erhalten ihre Bedeutung erst dadurch, dass sie von einer Sprachgemeinschaft in einer bestimmten regelhaften Weise gebraucht werden. Die in der Sprachgemeinschaft etablierten Handlungsmuster, die den einzelnen Sprachhandlungen ihrer Mitglieder zugrunde liegen, wirken mithin bedeutungskonstituierend. Den sozialen Vorgang des Gebrauchs der Worte nannte Wittgenstein ein Sprachspiel.159 Überträgt man diese sprachphilosophische Einsicht, die sich heute weitgehend durchgesetzt hat, auf den Prozess der ‚Rechtsfindung‘, dann wird der darin liegende Paradigmenwechsel offenbar, der jeder (neo)positivistischen Rechtsauffassung sprichwörtlich den sprachwissenschaftlichen ‚Boden‘ entzieht: Rechtliche Interpretationen sind Resultate einer sozialen Praxis der Sprachanwendung. Es kann also nicht um das ‚richtige‘ Verstehen von bereits in der Semantik des Gesetzestextes angelegten Bedeutungen oder Bedeutungsweisen gehen, wie es etwa im unter Praktikerinnen und Praktikern immer noch führenden Rechtsmethodenlehrbuch von Larenz und Canaris vorausgesetzt wird.160 Vielmehr geht es um einen praktischen sozialen Vorgang innerhalb der juristischen ‚Sprachgemeinschaft‘.161 Rechtliches Interpretieren und Begründen sind nicht rein geistige, sondern zugleich soziale Handlungen.162 Die Sprache wird als kontingente Ordnung von Sprachspielen „in der jeweiligen semantischen Praxis verändert oder bestätigt“163. Rechtliche Entscheidungen und ihre Begründungen werden nicht dem Gesetzestext ‚entnommen‘ oder daraus ‚abgeleitet‘, vielmehr stellt jede Entscheidung eine konkrete Verwendungsweise der in Bezug genommenen Rechtsnormen dar, die – wenn sie Eingang in den juristischen Diskurs als einer bestimmten Sprachpraxis findet – auf deren Bedeutung(en) 159  Ebd.,

§ 7.

160  Larenz / Canaris,

Methodenlehre, 1995, S. 26: „‚Auslegen‘ ist ein vermittelndes Tun, durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt. Worin besteht dieses vermittelnde Tun? Der Auslegende vergegenwärtigt sich die verschiedenen möglichen Bedeutungen eines Ausdrucks oder einer Wortfolge und fragt sich, welche hier die ‚richtige‘ sei.“ 161  Ausführlich dazu unter C. II. 1. 162  Vgl. Busse, Recht als Text – Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, S. 241 ff. Grdl. bereits Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972. Esser sieht in der Rechtsanwendung ein praktisches soziales Handeln (vgl. Frommel, Rezeption der Hermeneutik, 1981, S. 232), bei dem der Richter eine Vermittlungsleistung zwischen dem (historischen) Gesetzestext und der Fallproblematik vornimmt: „Der Jurist […] will nichts anderes, als den Text daraufhin verstehen, ob er anhand seiner ratio eine ‚befriedigende‘ Entscheidung fällen kann oder nicht. In diesem Sinne ist der Anwendungsakt von der Verständnismöglichkeit abhängig und die Verständnismöglichkeit von der Anwendungsvorstellung“, Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972, S. 139; zur hermeneutischen Rechtstheorie bereits oben unter B. III. 4. a). 163  Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 138.

242 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

zurückwirkt.164 Die Rechtsanwendenden sind damit, auch wenn sie sich selbst nicht so sehen mögen, immer auch Rechtsgestalter165 beziehungsweise Rechtsproduzenten166. Entsprechend wird das Verstehen von Rechtstexten, wie schon die Neue Hermeneutik gezeigt hat, durch soziale Vor-Prägungen sowie durch die Praxis des juristischen Diskurses selbst beeinflusst.167 Dabei werden durch Rechtsanwendung im Sinne „juristischer Textarbeit“ außerrechtliche in rechtliche Sachverhalte umgewandelt.168 1. Normkonkretisierung Werden (Be-)Deutungen erst durch spezifischen Gebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft hergestellt, so gilt das für die Verfassungsauslegung mit ihren oftmals sprachlich sehr weit gefassten und unbestimmten Normen in besonderem Maße. Wie Depenheuer in seiner Studie zum Wortlaut als Grenze der Verfassungsinterpretation herausarbeitet, kann sich die Interpretation der Grundrechtsnormen nicht an deren Wortlaut festhalten. Nach den heutigen sprachtheoretischen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass sich das Bedeutungspotential eines Wortes, das im Grundgesetz enthalten ist, stetig verändern kann, dass jedes Wort nur im konkreten Kontext einen spezifischen Sinngehalt hat. So führt Depenheuer aus: Einem Wortlaut kommen so viele Bedeutungsmöglichkeiten zu, in so vielen Kontexten er zur Anwendung gelangt. Es kann daher – auch juristisch – keinen eindeutigen Wortlaut geben: vermeintliche Eindeutigkeit ist nur die Folge eines – unbewußt hinzugedachten – konkreten Kontextes. Jeder sich ändernde Kontext macht eine bestehende sprachliche Eindeutigkeit zweifelhaft. Die Bedeutungsfülle eines Wortes ist folglich identisch mit der Anzahl der Kontexte, in denen es (bisher) verwandt wurde. […] Sprache ist folglich aus sich heraus unfähig, Interpretationsmöglichkeiten zu begrenzen. Sie kann daher ihrer Natur nach auch der objektiven Interpretation in jeder ihrer Varianten keine Grenze ziehen. Denn diese zielt ja gerade auf die Herauslösung der normativen Texte aus ihrem historischen Kontext (= „Sprachspiel“) und die Hineinstellung in neue, gewandelte Lebens164  Ausführlich

dazu unter C. II. 4. Juristische Methodik I, 2004, sprechen vom entscheidenden Juristen als „Rechtsarbeiter“; vgl. Amstutz / Niggli, Recht und Wittgenstein II, 2004, S. 170: „Eine Rechtsregel anwenden, heisst, sie in einem gegebenen Kontext zu kreieren (Rechtsanwendung ist nicht Entdeckung, sondern Schöpfung einer Regel).“ Siehe auch Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 1999, S. 16: „Die gesellschaftlichen Einrichtungen der Justiz, die Rechtsprechung und ihre Grammatik, gewinnen ihr Leben erst durch das Tun individueller Akteure, die jeweils Recht sprechen“. 166  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 340 f. 167  Ausführlich oben unter B. III. 4. a). 168  Felder, Semantische Kämpfe außerhalb und innerhalb des Rechts, 2010, S. 562. 165  Müller / Christensen,



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 243 sachverhalte ab. Auf diesem Vorgehen beruht ihre dynamische Kraft ebenso wie ihre Fähigkeit, den Verfassungswandel durch Interpretation zu ermöglichen.169

Die Bedeutung von Gesetzes- wie Verfassungstexten werden also erst durch den Prozess der (Rechts-)Anwendung „konstituiert“170 beziehungsweise „konkretisiert“171. Diese Konkretisierung erfolgt, indem der Rechtsanwendende den Normtext auf einen außerrechtlichen Kontext bezieht.172 Es geht mit anderen Worten um die praktische Herstellung von ‚Textrelationen‘ zwischen Sachverhalten und dem Normtext in der Praxis der Rechtsanwendenden.173 Juristische Interpretation ist danach auch keine ‚Bedeutungsbestimmung‘ im herkömmlichen Sinn, sondern viel eher eine Vernetzung von Textstücken, Argumentationsmustern, Entscheidungsregeln und Sachverhaltselementen.174 Entsprechend können auch Juristinnen und Juristen nur auf die (üblichen) Gebrauchsweisen von Texten Bezug nehmen. Diese üblichen Gebrauchsweisen werden durch den juristischen Diskurs, also einen fortlaufenden Kommunikationszusammenhang, verstetigt. Sprache ist dabei ‚Medium‘ oder ‚Aktionsraum‘ für juristisches Handeln, nicht passives Instrument.175 Insoweit wird in Rechtsstreitigkeiten immer auch um die Bedeutung von Rechtstexten in konkreten Anwendungssituationen gestritten; Rechtsstreitigkeiten können in diesem Sinne auch als „Kommunikationskonflikte“176 beziehungsweise „semantische Kämpfe“177 verstanden werden.

169  Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 39 f.; vgl. auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 66 ff. 170  Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung, 2006, S. 4, unter Bezugnahme auf Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S.  26 ff. 171  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 14; vgl. auch Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, S. 38 f.; Felder, Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit, 2003, S. 38. 172  Vgl. Busse, Recht als Text, 1992, S. 263 f. 173  Ausführlich zu den Funktionen der Rechtsdogmatik unter C. III. 2. 174  Busse, Ist die Anwendung von Rechtstexten ein Fall von Kommunikation?, 2005, S. 42. 175  Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 256. 176  Vgl. Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, 2005; kritisch zum Begriff der „Kommunika­ tion“ Busse, Anwendung von Rechtstexten, 2005, S. 52. Allerdings bezieht sich der Begriff „Kommunikation“, wie er vorliegend verwendet wird, nicht primär auf die Informationsvermittlung, sondern auf den Gebrauch von Zeichen (Normtexten) und deren sprachliche Konkretionen in einzelnen Kontexten. Hier findet ein Kommunikationsprozess statt, an dem die Verfahrensbeteiligten ebenso teilnehmen wie etwa die rezipierende und kommentierende Fachöffentlichkeit. 177  Vgl. Felder, Juristische Textarbeit, 2003, S. 544; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 166 f.

244 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

2. Fachsprache Aus dem Vorgenannten folgt zweierlei: Zum einen muss der Glaube an eine eindeutige Begrenzung oder Begrenzbarkeit des Wortsinns durch einen feststehenden semantischen Gehalt aufgegeben werden. Eine solche Grenze lässt sich auch durch eine Bindung an allgemein praktizierte (alltags)sprachliche Verwendungsweisen, wie sie etwa regelmäßig im Duden oder anderen Wörterbüchern ‚normiert‘ werden,178 nicht herstellen. Über die Ausformung eines juristischen Fachdiskurses erlangen Wörter oft eine ganz andere, spezifische juristische Bedeutung, die sie im allgemeinen Sprachgebrauch nicht haben. So können (Verfassungs-)Juristinnen und Juristen entsprechend der Schutzfunktion des Grundrechts auch Sozialversicherungsansprüche oder das Besitzrecht des Mieters zum „Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG“ erklären,179 obwohl in der Alltagssprache wohl niemand behaupten würde, er sei „Eigentümer“, wenn er oder sie Rentenansprüche erwirbt oder eine Wohnung lediglich zur Miete besitzt.180 Die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh hat die Eigenheit der juristischen Fachsprache181 und ihres Diskurses einmal wie folgt zusammengefasst: In dieser Kluft zwischen Wortbedeutungen liegt eine wichtige Eigenheit der juristischen Sprache: Sie entnimmt ihre Vokabeln, selbst ihre Fachterminologie häufig dem allgemein verständlichen Sprachgebrauch, unterlegt sie aber mit neuer Bedeutung, kreiert eigene Definitionen und schafft so einen anderen, fachspezifischen semantischen Gehalt. Wörter wie „Gefahr“, „Genuss“ oder „Glaube“ sind gemäß ihrer gesellschaftlichen Kontexte belegt, erregen dazu beim Leser oder Hörer Assoziationen, die seinem individuellen Erfahrungsschatz entsprechen, und werden vor diesen Hintergründen verstanden. […] Ein Jurist aber lernt ein anderes Verfahren der Textrezeption. [… Er] darf nicht lesen und verstehen wie er will, sondern so, wie er und alle anderen aus seiner Branche es gelernt haben.182

Entsprechend hat Dieter Simon zur Diskrepanz zwischen alltagsprachlichem Verständnis und juristischer Fachsprache dargelegt, dass nur „fachmännischer Verstand“ die Spannung zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem besonderen Fall „überbrücken“ könne, eine „Überbrückung, die die dazu Christensen / Kudlich, ebd., S. 140. 89, 1 (6 f.) – Besitzrecht des Mieters. 180  So wird das „Eigentum“ vom Duden definiert als etwas „jemandem Gehörendes; Sache, über die jemanden die Verfügungs- und Nutzungsgewalt, die rechtliche (aber nicht unbedingt die tatsächliche) Herrschaft hat“; siehe Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Duden – Deutsches Universalwörterbuch, 2007, Eintrag „Eigentum“; vgl. auch Wahrig / Wahrig-Burfeind, Deutsches Wörterbuch, 2009, Eintrag „Eigentum“: „rechtliche Herrschaft über eine Sache mit voller Nutzungs- und Verfügungsgewalt“. 181  Dazu auch Neumann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, 1992. 182  Zeh, Recht=Sprechung, 2001, S. 5. 178  Vgl.

179  BVerfGE



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 245

Juristen ‚Auslegung‘ nennen, um den Eindruck zu erzeugen, das Ergebnis stecke schon im Text“.183 Man könne ausschließen, dass ein Richter des Bundesverfassungsgerichts den Satz der Verfassung, wonach die Dauer des Wehrersatzdienstes die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen dürfe in Art. 12a GG, so gelesen und verstanden hätte, dass 24 Monate Zivildienst nicht länger seien als 15 Monate Wehrdienst. Und doch habe das Gericht in seiner durchaus plausiblen zweiten Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung festgestellt, dass „24 Monate nicht länger sind als 15, wenn man nur die jeweilige Zeitspanne qualitativ bewertet“.184 Diese „qualitative Bewertung“ nahm das Bundesverfassungsgericht in der Weise vor, dass es nicht die tatsächliche Wehr- beziehungsweise Ersatzdienstzeit zum Ausgangspunkt des Vergleichs nahm, sondern die rechtlich mögliche Höchstdauer des Wehrdienstes einschließlich der Verfügungsbereitschaft und Wehrübungen.185 Praktisch war das Resultat ein um neun Monate längerer Zivildienst im Vergleich zum fünfzehnmonatigen Grundwehrdienst.186 Eine am herkömmlichen beziehungsweise alltäglichen Sprachgebrauch orientierte Verfassungsauslegung hätte zu einem solchen Ergebnis nicht gelangen können. 3. Verwendungskontext So frei, wie es die Bemerkung Simons suggeriert, sind Juristinnen und Juristen bei der Rechtsanwendung aber nicht. Wie Christensen und Kudlich bemerken, zeigt gerade die Praxis der Gerichte, „dass die Sprache des Gesetzes kein widerstandsloses Durchzugsgebiet für die Wünsche des Marktes ist. Vielmehr bestehen jede Menge Anschlusszwänge für den einzelnen Sprecher, schon gar vor Gericht und […] für den Richter“.187 So verweist der pragmatische Gehalt der Sprachbildung auf den bisherigen, allgemeinen oder im juristischen Fachdiskurs üblichen Verwendungskontext. Der Gehalt von Grundrechtsnormen lässt sich gerade deshalb umschreiben und damit in der Möglichkeit zukünftiger Anwendungsfälle begrenzen, weil er auf vergangene und aktuelle Gebrauchsweisen Bezug nimmt.188 So enthält beispielsweise der Begriff der ‚Glaubensfreiheit‘ eine begriffliche Referenz auf 183  Simon, 184  Ebd.

Rechtsverständlichkeit, 2004, S. 411.

185  BVerfGE

69, 1 (29 f.) – Wehrpflichtnovelle. Lösung wurde dem Gesetzgeber bereits von BVerfGE 48, 127 (170 f.) nahegelegt, um demjenigen, der aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigere, eine entsprechende „Konsequenz“ abzuverlangen. 187  Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 437. 188  Vgl. Paroussis, Theorie des juristischen Diskurses, 1995, S. 80 ff.; siehe auch oben unter C. I. 1. 186  Diese

246 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

die religiöse Sinnorientierung des Menschen.189 Schon nach der historischen Verwendungsweise des Wortes ‚Glaubensfreiheit‘ ist es unzweifelhaft, dass die großen Religionen, aber auch kleinere, beispielsweise freikirchliche Glaubensgemeinschaften vom Schutz erfasst werden, darüber hinaus, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, jedoch auch die nur vereinzelt vertretene Glaubensüberzeugung, selbst wenn sie im Widerspruch zu den Lehren einer größeren Gemeinschaft steht.190 Durch diese weitergehende „Fixierung“191 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts gewinnt die Glaubensfreiheit einen individuell-freiheitlichen Charakter und eine enge Verbindung zum Persönlichkeitsschutz. Auf diese Gebrauchsweise, die das Wort ‚Glaubensfreiheit‘ mit einem spezifischen individualschützenden Sinn verbindet, nimmt die Rechtsprechung bei der ‚Auslegung‘ des Art. 4 GG regelmäßig Bezug. Dieses und andere Beispiele machen anschaulich, dass die Interpretation von Grundrechtsnormen immer ein zweiseitiger Vorgang ist: Ihr Bedeutungsgehalt wird nicht zuletzt durch die bisherigen Gebrauchsweisen und Problementscheidungen mitbestimmt.192 Kommen neue Problemkonstella­ tionen hinzu, so müssen diese sich zuallererst an dem bereits entwickelten Bestand an Problemlösungsmustern und Entscheidungsregeln argumentativ messen lassen, und zwar auch dann, wenn der Kontext sich wesentlich von den vorhergehenden Anwendungsfällen unterscheidet. Dieses Verfahren gewährleistet ein relativ hohes Maß an Voraussehbarkeit und Verlässlichkeit.193 Immer wiederkehrende Gebrauchsweisen werden in juristischer Dogmatik festgeschrieben.194 Der Normtext hat folglich zwar keine von vornherein feststehende Bedeutung, die es nur noch ‚aufzufinden‘ gälte, er weist jedoch einen Referenzbereich auf, das heißt eine Menge an üblichen und akzeptierten semantischen Gebrauchsfällen und (Be-)Deutungen. Mit dem Referenzbereich werden Morlok, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 4, Rn. 42. BVerfGE 33, 23 (29 f.) – Eidesleistung; a. A. die abweichende Meinung des Richters von Schlabrendorff (35 ff.). 191  Felder, Semantische Kämpfe außerhalb und innerhalb des Rechts, 2010, S. 548: „Unter Sachverhaltsfixierungsversuchen zur spezifischen Konstitution eines thematisierten Sachverhalts wird hier das Unterfangen eines Experten verstanden, einen Terminus auf einen Sachverhalt der Lebenswelt anzuwenden und diesem damit anzupassen (aktuelle Bedeutungsform). In der Folge wirken die jeweiligen, von den Experten aktualisierten und auf den Einzelfall zugeschnittenen Bedeutungsformen (also der konkrete Wortgebrauch) bestätigend oder modifizierend auf die kontextabstrahierte Begriffsstruktur zurück“. 192  In diesem Sinne auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 60. 193  Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 70, 77. 194  Dazu im Folgenden unter C. III. 189  Vgl.

190  Grdl.



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 247

zugleich Wissensbezüge, also epistemische Referenzen hergestellt, auf die der juristische Diskurs zugreift.195 4. Juristischer Diskurs und Selbstreferenz Mittlerweile ist durch sprachwissenschaftlich-empirische Studien relativ gut belegt, dass Gerichte selten ganz systematisch entlang von Gesetzestexten argumentieren, sondern hauptsächlich problembezogen unter Rekurs auf Alltagsargumente, generalisierte Einzelmeinungen sowie andere juristische Quellen, insbesondere Gerichtsentscheidungen und Kommentarliteratur.196 Vor diesem Hintergrund erhellt sich, welche Bedeutung den sekundären Auslegungstexten wie Präjudizien oder Kommentierungen bei der Rechtsanwendung zukommt. Können sie im juristischen Diskurs Akzeptanz und einen gewissen Stellenwert erringen, so bestimmen sie den Referenzbereich einer Norm, also die im Diskurs von den Fachleuten akzeptierten, vorherrschenden197 oder auch die alternativ vertretenen beziehungsweise (noch) vertretbaren198 Verständnismöglichkeiten. Sie wirken damit auf das im Fachdiskurs geteilte Normverständnis selbst zurück.199 So stellt Busse in seiner eingehenden Untersuchung juristisch-dogmatischer Sprachpraktiken fest: Es handelt sich um die wichtige Funktion, die intermittierende Texte zwischen Normtext und Sachverhalt (beziehungsweise zwischen Normtext und individueller Entscheidungstätigkeit einzelner Richter) haben: Als Auslegungstexte sind sie Subtexte der Normtexte, die häufig die operationale „Bedeutung“ der Normtexte allererst hervorbringen. Juristische Praktiker arbeiten deshalb in der Regel mehr mit Kommentartexten als mit den Gesetzestexten selbst. […] Auslegungstexte legen z. B. Referenzbereiche von Normtexten fest und haben damit selbst wieder eine quasi normative (wenigstens: regulative) Funktion. […] Insofern haben Auslegungstexte eine zentrale Position als organisierende Zentren juristischer Wissensrahmen, denen sie darüber hinaus zu einem textlich-sprachlichen Fundament verhelfen. Unterstützt werden diese Texte darin z. T. durch Lehrtexte, welche die fachliche Wissenskonstitution der Juristen während ihrer Ausbildung entscheidend beeinflussen können.200 Busse, Recht als Text, 1992, S. 247 f. von Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, 2005, S.  432 f.; Busse, Recht als Text, 1992, S. 247 ff. 197  Zur „herrschenden Meinung“ Drosdeck, Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle, 1989. 198  Zur sog. „Mindermeinung“ als Ressource zur kritischen Selbstprüfung und Innovation im juristischen Diskurs Jost, Die Mindermeinung, 2011. 199  Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998, S.  102 ff. 200  Busse, Recht als Text, 1992, S. 249. 195  Vgl.

196  Siehe

248 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Mit dem juristischen Diskurs ist dabei auf ein Feld von rechtsinterpretierenden und rechtsanwendenden Akteuren verwiesen, dessen Zugang durch Professionsschranken und -erfordernisse begrenzt wird.201 Entsprechend untersuchen neuere politikwissenschaftliche Studien Juristinnen und Juristen, die in einem bestimmten Fachgebiet wie dem Arbeits- oder dem Verfassungsrecht tätig sind, „als epistemische Gemeinschaften“ (epistemic communities), das heißt ein „Netzwerk aus Spezialisten, die in einem Themengebiet über weithin anerkannte Fachkompetenzen und policy-relevante Wissensbestände verfügen“202 und deren Fachkommunikationen einen eigenen Diskurs über die Auslegung des Rechts begründen. Der Begriff Diskurs verweist darauf, dass es um soziale Praktiken der Kommunikation geht,203 die einerseits auf konkrete Anwendungsfälle in juristischen Schriftsätzen und Fallakten bezugnehmen,204 sich andererseits aber auch in veröffentlichten Gerichtsentscheidungen, dogmatischen Sammlungen und Systematisierungen wie juristischen Lehr- und Lernbüchern und Kommentaren niederschlagen (ver-objektivieren). Von der juristischen Praxis und Lehre wird in diesem Zusammenhang eine Strategie der diskursiven Referenz verfolgt. Dabei kommt, wie Christensen und Kudlich veranschaulichend bemerken, „dem Sekundärtext die Aufgabe zu, zum ersten Mal das zu sagen, was im Text schon immer angelegt war“,205 also – wenn auch erkennbar nur aus rhetorischen Gründen – vorzugeben, es handle sich um eine ‚authentische‘ Interpretation des Normtextes.

201  Grdl. Bourdieu, La force du droit, 1986; zum Ganzen auch Wrase, Recht und soziale Praxis, 2010. 202  Rehder, Rechtsprechung als Politik, 2011, S. 67. 203  Im Zuge der breiten Rezeption der Arbeiten von Michel Foucault (grdl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1972 (9. Aufl. 2003)) haben die Begriffe Diskurs, Diskurstheorie und Diskursanalyse enorm an Bedeutung gewonnen. Nach Keller lassen sich Diskurse als „mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren. Diskurstheorien beziehungsweise Diskursanalysen sind wiederum wissenschaftliche Unternehmungen zur Untersuchung der damit angesprochenen Prozesse“; Keller, Diskursforschung, 2007, S. 7. Vgl. auch die Webseite des Arbeitskreises Diskursanalyse: www.diskursanalyse.org (Juli 2015). 204  Grdl. zur ‚Akte‘ aus mediengeschichtlicher Perspektive Vismann, Akten – Medientechnik und Recht, 2001, S. 25: „Die unbegrenzte Aufnahme- und Zirkulationsfähigkeit von Akten macht sie zu einem Medium der Präsenz“; vgl. auch Seibert, Aktenanalysen – Zur Schriftform juristischer Deutungen, 1981; siehe auch die von Seibert angelegte Webseite www.rechtssemiotik.de (Juli 2015). 205  Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 32.



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 249

Richterliche Tätigkeit ist darauf gerichtet, möglichst vorhersehbar und gleichartig zu entscheiden. Die Übertragbarkeit von (abstrakten) Entscheidungsnormen und -linien auf neue, schwach oder gar nicht normierte Bereiche, wie sie für die Grundrechte charakteristisch ist, gibt den Richtern jedoch einen teilweise erheblichen Kreativitätsspielraum, bei dessen Ausfüllung nicht selten eigentlich originär erfundenes, also gänzlich neu geschaffenes Recht als Bekräftigung einer schon bestehenden Rechtsprechung oder Auslegung dargestellt und legitimiert wird.206 Wollen Richterinnen und Richter ihre Auslegungsversionen „gegenüber konkurrierenden Varianten stabilisieren, müssen sie dazu geeignete Überzeugungsmittel einsetzen: autorisierende Zitate, juristische und alltagspraktische Argumentformen, wertbesetzte Begriffe, rhetorische Figuren, deskriptive und narrative Elemente mit rechtsstilisierendem Charakter, lexikalische und syntaktische Konven­ tionen. Dabei sind die Autoren nicht frei, sondern durch ihre Adressaten­ orientierung gebunden an etablierte und daher erwartete Formulierungs­ formen.“207 Wesentliche Bedeutung kommt dabei, sowohl in der innergerichtlichen Kommunikation208 als auch für die Legitimation der Entscheidung nach außen, das heißt gegenüber den Verfahrensbeteiligten und der (Fach-)Öffentlichkeit, der Frage zu, ob und wie plausibel sich eine Entscheidung auf eine bereits existierende und etablierte Rechtsprechung stützen lässt. Die Orientierung an der eigenen Rechtsprechung, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen beständig zitiert, ist eine bedeutsame, wenn nicht sogar die praktisch wichtigste Geltungs- und Begründungsressource des Gerichts, da sie die Kontinuität der Rechtsprechung dokumentiert und der Interpretation einer Verfassungsnorm (als ‚authentische‘) Autorität verleiht.209 Eine einmal im juristischen Diskurs, etwa auch von der Wissenschaft, weitgehend akzeptierte Deutungsmöglichkeit erhält bereits durch ihre Akzeptanz eine besondere semantische Kraft. Die weitere Anwendung erscheint dann nur folgerichtig. Durch das fortwährende Anwachsen der Judikate nimmt allerdings zugleich die Möglichkeit zu, für eine Rechtsaussage ‚passende‘ präjudizielle 206  Zu dieser Strategie richterlicher (Selbst-)Legitimierung Stegmaier, Wissen, was Recht ist, 2009, S. 324 f. 207  Morlok et al., Recht als soziale Praxis, 2000, S. 27. 208  Instruktiv Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung, 2006, S. 16: „Zu den informellen Regeln gehört nämlich das Bemühen, die Kontinuität der Rechtsprechung zu betonen, d. h. neue Lösungen möglichst in den argumentativen Kontext schon früher gefundener zu ordnen, also auch, in das Umfeld gewachsener verfassungsgerichtlicher Entscheidungskultur einzufügen.“ 209  Vgl. Schäller, Präjudizien als selbstreferentielle Geltungsressource des Bundesverfassungsgerichts, 2006, S. 206 f.

250 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Aussagen in einer oder mehreren früheren Entscheidungen aufzufinden und diese auf neue Problemkonstellationen zu übertragen. Kaum verwundern mag daher, dass die Anzahl der Präjudizienverweise in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts statistisch von durchschnittlich 15 bis 20 je Entscheidung in den 1970er Jahren auf 20 bis 30 je Entscheidung in den 1990er Jahren angestiegen ist.210 Gleichzeitig hat auch der Begründungsumfang von Senatsentscheidungen nochmals zugenommen.211 Dies alles ist Ausfluss einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Verfassungsjudikatur, speziell auch im Bereich der Grundrechte, wobei Verschiebungen oder Brüche auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar sind. Ausdrückliche Abweichungen von früheren Entscheidungen kommen beim Bundesverfassungsgericht selten vor, im Durchschnitt ein- oder zweimal im Jahr.212 Auf der anderen Seite verleiht gerade die abstrakte Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung ein erhebliches Maß an Flexibilität, das vom Bundesverfassungsgericht auch argumentativ genutzt wird, um bewusst den Eindruck der Gleichheit und Konsistenz der Rechtsprechung zu vermitteln, auch wenn das so nicht immer zutrifft.213 Bryde bemerkt kritisch: In der Regel […] zitiert das Bundesverfassungsgericht nur formelhaft frühere Äußerungen, die seine Entscheidung stützen können, und übergeht solche, die mit 210  Ebd.,

S.  207 f. die regelmäßig deutlich über 40 Senatsentscheidungen pro Jahr während der 1970er Jahre gerade einmal ein bis anderthalb Entscheidungsbände (BVerfGE, jeweils ca. 330 Seiten), so liegt der Schnitt seit 2000 bei ungefähr 30 bis 35 Senatsentscheidungen pro Jahr in zweieinhalb bis drei Entscheidungsbänden. Der durchschnittliche Begründungsumfang von Senatsentscheidungen hat sich demnach nahezu verdoppelt. Der Rückgang der Zahl von Senatsentscheidungen insgesamt ist auf das Annahmeverfahren in den Kammern bei Verfassungsbeschwerden zurückzuführen; siehe die amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts, www.bundesverfassungs gericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-I-5.html (Juli 2015); vgl. auch Wieland, Die Annahme von Verfassungsbeschwerden, 1999, S. 48. Zur Praxis des Annahmeverfahrens, speziell zu dessen ‚Filterfunktion‘, Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichtes, 2007, S. 94 ff.; 151 ff.; vgl. auch Blankenburg, Unsinn und Sinn des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden, 1998; Jaeger, Erfahrungen mit Entlastungsmaßnahmen zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts, 2003; Herzog, Senat und Kammer, 1994. 212  So gab es in den Jahren 1995 bis einschließlich 2001 nur acht ausdrückliche Änderungen der Rechtsprechung. Drei dieser Fälle betrafen weit zurückliegende Entscheidungen; das Gericht berief sich auf eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, siehe Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004, S. 409. Zwei bekannte Beispiele für Abweichungen von einer früheren Rechtsprechung sind die zweite Sitzblockadenentscheidung BVerfGE 92, 1 (gegen BVerfGE 73, 206, damals allerdings 4:4) sowie – aus jüngerer Zeit – die Plenumsentscheidung zum Rechtsschutz gegen den Richter, BVerfGE 107, 395. 213  Schäller, Präjudizien als selbstreferentielle Geltungsressource des Bundesverfassungsgerichts, 2006, S. 213. 211  Füllten



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 251 der Entscheidung im Widerspruch stehen. […] Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt sich insgesamt konsequenter und widerspruchsfreier als sie ist und überläßt es dissenters und Wissenschaft, auf entsprechende Brüche hinzuweisen.214

Semantische Bedeutungsverschiebungen, die das Gericht vornimmt, wie etwa das Aufgeben des Gruppenbezugs und die stärkere Betonung der persönlichkeitsrelevanten Merkmale bei der Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG),215 vollziehen sich oft schrittweise und werden dadurch manifest, dass bestimmte Formeln beispielsweise einfach fallengelassen, das heißt in zukünftigen Entscheidungen nicht mehr oder in veränderter Form verwendet werden.216 Mit anderen Worten: das Bundesverfassungsgericht betont bewusst die Kontinuität seiner Rechtsprechung und drängt Bedeutungskonflikte und „semantische Kämpfe“, die vor allem in der inter- und innergerichtlichen Kommunikation sichtbar werden,217 innerhalb des eigenen Wirkungskreises in den Hintergrund. So hat beispielsweise der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seine neue Judikatur zur Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft in der betrieblichen Altersvorsorge des Öffentlichen Dienstes (VBL)218 und bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer219 etabliert, ohne in seinen Beschlüssen mit nur einem Wort darauf hinzuweisen, dass er dabei von mehreren aktuellen Kammerbeschlüssen des Zweiten Senats in der Sache und damit auch in der Interpretation des Fördergebots nach Art. 6 Abs. 1 GG abwich.220 Als ein weiteres Beispiel kann auch der aktuelle Beschluss des Ersten Senats zum Kopftuch einer muslimischen Lehrerin genannt werden.221 Dass der Erste Senat hier von den – aus seiner Sicht offenbar nicht entscheidungstragenden – Erwägungen des Zweiten Senats in dessen früheren Ent214  Bryde,

Verfassungsentwicklung, 1982, S. 163. unter D. I. 3. g). 216  Zur Technik der abstrakten Bezugnahme auf frühere Entscheidungen ausführlich unter E. I. 1. b). 217  Vgl. ausführlich unter E. I. 1. b) und am Beispiel der Rspr. zur Privatautonomie unter E. I. 2. 218  BVerfGE 124, 199 – Gleichbehandlung eingetragener Lebensgemeinschaft in der VBL. 219  BVerfGE 126, 400 – Steuerliche Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften. 220  Dazu Adamietz, Geschlecht als Erwartung – Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, 2011, S. 202 ff.; zur Frage der Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts an seine frühere Rspr. Bethge, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 1, § 31, Rn. 118 (Lfg. Oktober 2008). 221  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris. 215  Dazu

252 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

scheidung zur „abstrakten Gefahr“ als Rechtfertigung für ein religiöses Bekundungsverbot im Schuldienst222 abgewichen ist, wird lediglich im Sondervotum der dissentierenden Richter Schluckebier und Richterin Hermanns kurz angerissen, findet aber in der Entscheidungsbegründung ansonsten keinerlei Erwähnung.223 Die Auslegung und Anwendung von Normtexten ist in einen institutionellen Rahmen eingebettet, der sich aus den sozialen Institutionen der Justiz – und im weiteren Sinne der Rechtswissenschaft – und dem verfügbaren juristisch-fachlichen Wissensrahmen zusammensetzt und auf die Sprach(ver­ wendungs)praxis zurückwirkt.224 Institutionen wirken vor allem als „Regulationen von Handlungsweisen“.225 Es existieren Typen von Handelnden (Richterinnen und Richter im kollegialem Spruchkörper eines bestimmten Gerichts, Rechtsanwälte, Rechtsprofessorinnen, Regierungsvertreter usf.) mit vordefinierten Rollen, Positionen und Erwartungen, die im Prozess der Rechtsanwendung interagieren.226 Unter ihnen wird ausgehandelt, welche Argumente und Deutungen Geltung beanspruchen können und welche nicht. Zugleich wird der relevante Wissensrahmen im Sinne zulässiger Wissensbezüge (epistemischer Referenzen) abgesteckt.227 Bei der Interpretation von Normtexten werden, wie Busse schreibt, „die habitualisierten Handlungen insofern typisiert, als der Normtext auf eine ‚typische‘ ‚Normalform‘ von gesellschaftlicher Realität angewendet wird. Diese Typisierung der Interpretation (inhaltlich, semantisch) ist […] reziprok, da sie durch andere Agenten der institutionellen Prozedur mitgetragen wird; so wird sie u. a. abgesichert durch die selbst wieder institutionalisierte Vereinheitlichungs-Instanz Obergerichte. Die habitualisierte und typisierte Interpretation von Normtexten wird als ‚Dogmatik‘ institutionalisiert“.228 Insofern sich abweichende Interpretationen von Normtexten in der Jurisprudenz auf verschiedene Rollen verteilen, ist diese Pluralität „kein Problem, da es – anders als in der alltäglichen Kommunikation – ein Entscheidungsmonopol gibt“.229 Im hierarchischen Aufbau der Justiz hat immer nur eine Entscheidungsinstanz, wenn sie 222  BVerfGE

108, 282 (303, 311 ff.). Meinung zum Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 7: „unausgesprochen als nicht entscheidungstragend bewertet“. 224  Vgl. Busse, Recht als Text, 1992, S. 296 ff. 225  Zum Begriff siehe Busse, Anwendung von Rechtstexten, 2005, S. 29. 226  Ausführlich Wrase, Recht und soziale Praxis, 2010, S. 120 ff. 227  Zu den Juristen als „epistemische Gemeinschaft“ Rehder, Rechtsprechung als Politik, 2011, S. 65 ff. 228  Busse, Recht als Text, 1992, S. 310; zu den Funktionen der Dogmatik im juristischen Diskurs ausführlich unter C. II. 4 229  Busse, Anwendung von Rechtstexten, 2005, S. 36 f. 223  Abweichende



II. Rechtstheoretische (Vor-)Überlegungen zur Norminterpretation 253

Grafik 1: Struktur der Rechtsanwendung als semantischer Praxis basierenden auf dem Modell von Busse (eigene Skizze des Verf.)

angerufen wird, letztlich die Macht, eine Norminterpretation für einen bestimmten Zeitraum endgültig – in der (verfassungs)juristischen Fachsprache: „verbindlich“ (hierfür in Bezug genommenes Zeichen: § 31 Abs. 1 BVerfGG) – festzulegen und somit Deutungsmacht230 gegenüber den anderen am institutionellen Setting der rechtsförmigen Problembewältigung beteiligten Akteure auszuüben. 5. Zwischenfazit: Grundrechtsinterpretation ist schöpferische ­Konkretisierung in institutionellen Kontexten Wie in diesem Abschnitt gezeigt wurde, ist die überkommene juristische Sprachtheorie, die Normauslegung als einen rein oder primär geistigen Vorgang betrachtet und über das Subsumtionsmodell eine Grenze zwischen Auslegung und Anwendung auf einen konkreten Lebenssachverhalt ziehen möchte, schon aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht (mehr) haltbar. (Verfassungs-)Juristinnen und Juristen konkretisieren vielmehr durch ihre Interpretation den Normtext und geben ihm eine bestimmte (Be-)Deutung, indem sie ihn in bestimmten Kontexten anwenden. Bei diesem Prozess der Interpretation wirkt allerdings eine Reihe von ‚disziplinierenden‘ institutio­ 230  Zum

Konzept der Deutungsmacht oben unter B. II. 3. a).

254 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

nellen Bindungen, die den Prozess der Normkonkretisierung anleiten und begrenzen. Als wichtigste wurden genauer betrachtet: die juristische Fachsprache, der übliche oder anerkannte Verwendungskontext und der juristische Diskurs, das heißt vor allem juristische Sekundärtexte wie Kommentierungen und andere rechtswissenschaftliche Quellen sowie die (selbstreferentielle) Bezugnahme auf die Rechtsprechung. Normtexte weisen daher einen spezifischen Referenzbereich auf, der mögliche Verständnisse und Verwendungsweisen festlegt und dabei epistemische Bezüge herstellt oder ausschließt. Im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Dogmatik werden die üblichen und akzeptierten Verwendungsweisen institutionalisiert, wobei der hierarchische Aufbau des Justizwesens dafür sorgt, dass Bedeutungskonflikte und -kämpfe letztverbindlich durch das oberste Gericht entschieden werden, das insoweit Deutungsmacht über die anderen Instanzen ausübt. Damit wird auch sprachtheoretisch begründbar, weshalb die Rechtsprechung der Konstitutionalisierung in ihrer Entstehung eng mit der institutionellen (Deutungs-)Macht des Bundesverfassungsgerichts verbunden war und ist.231 Die habitualisierte und typisierte Interpretation von Normtexten durch die rechtsanwendenden und -interpretierenden Akteure wird als Dogmatik institutionalisiert. So legt etwa die Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 4 GG ein Verständnis zugrunde, wonach die Absätze 1 und 2 zu einem einheitlichen Grundrecht der Glaubensfreiheit verbunden werden, das auch vereinzelt auftretende Glaubens- und Weltanschauungsüberzeugungen schützt und damit eine auf die individuelle Selbstbestimmung gerichtete Prägung erhält.232 In diese ‚Überlieferung‘ des bisherigen Normverständnisses und die hierzu entwickelten dogmatischen Maßstäbe müssen sich neue Entscheidungen argumentativ einordnen, wenn das Gericht nicht expressis verbis eine Rechtsprechungsänderung anstrebt, was aber – wie erwähnt – selten vorkommt. Die Praxis der Normkonkretisierung manifestiert sich somit in bestimmten, der Entscheidungspraxis zugrunde gelegten dogmatischen Figuren und Aussagen zur Anwendung der Norm, die ihrerseits das Verständnis der Norm im juristischen Diskurs konstituieren.

231  Ausführlich

oben unter B. II. 3. Dogmatik der Glaubensfreiheit wurde grundlegend in den Entscheidungen BVerfGE 24, 236 – Aktion Rumpelkammer, BVerfGE 32, 98 – Gesundbeter und BVerfGE 33, 23 – Eidesleistung entwickelt; zusammenfassend Hassemer / Hömig, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Bekenntnisfreiheit 1999, S. 525 ff. 232  Die



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 255

III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung Bei der Konkretisierung von Normen in der Rechtsanwendungspraxis kommt infolgedessen der Dogmatik gerade im deutschen Rechtskreis eine hohe Bedeutung zu.233 Teilweise wird sogar davon gesprochen, die Dogmatik bilde heute den ‚Kern‘ der Rechtswissenschaft oder habe zentrale Bedeutung für deren Selbstverständnis und praktische wie theoretische Arbeit.234 Die Verfassungsdogmatik ist dabei, wie Jestaedt bemerkt, „nichts anderes als der auf die Verfassung bezogene Ableger der Rechtsdogmatik und stellt als solcher im Kreise der hierzulande betriebenen Jurisprudenz kein disziplinäres Alleinstellungsmerkmal der Verfassungsrechtswissenschaft dar“.235 Ausgehend von dieser Prämisse wende ich mich im Folgenden zunächst der näheren Erfassung und Umschreibung des Gegenstands, der Rechtsdogmatik, zu, um anschließend der Frage nachzugehen, inwiefern Dogmatik zwar einen Systembezug aufweist, dabei aber an die Problem­ ebene zugrückgebunden bleibt. Anschließend werden die unterschiedlichen Funktionen der (Grund-)Rechtsdogmatik behandelt, die nochmals den Pro­ blembezug dogmatischer Abstraktionsbildung deutlich machen. 1. Zum Begriff der Rechtsdogmatik Im Fachdiskurs wird der Begriff „juristische Dogmatik“ oder „Rechtsdogmatik“ zumeist ohne eine explizite begriffliche Klärung verwendet. Ein entsprechendes Vorverständnis gehört zur alltäglichen Arbeit von Juristinnen und Juristen: So wird von neueren Entwicklungen in der Rechtsdogmatik gesprochen oder die Entscheidung eines Gerichts aus rechtsdogmatischer Sicht analysiert oder kritisiert. Das Wort „Dogma“ bedeutet eigentlich Lehre oder Meinung; in der Theologie bezeichnet es die lehrhafte Formulierung wichtiger Glaubenssätze.236 Das mag dazu beitragen, dass der Begriff im juristischen Kontext mitunter auch negative Assoziationen hervorruft.237 Während lange Zeit die Auffassung vorherrschend war, dass die Juristen das Konzept der Dogmatik von den Theologen übernommen hätten, hat Herber233  Jestaedt, Wissenschaft im Recht – Rechtsdogmatik im Wissenschaftsvergleich, 2014, S. 4, bezeichnet Rechtsdogmatik sogar als „Markenkern deutsch(sprachig) er Rechtswissenschaft. 234  Etliche Nachweise finden sich bei Kirchhof / Magen / Schneider, Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts?, 2012. 235  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 130. 236  Vgl. Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 164. 237  Vgl. Röhl, Die Wissenschaftlichkeit des juristischen Studiums, 2011, S. 74.

256 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

ger die Nähe der Rechtsdogmatik zur medizinischen Wissenschaftstheorie herausgearbeitet.238 Heute wird der Begriff „Dogmatik“ im deutschsprachigen juristischen Diskurs erstaunlich einheitlich gebraucht.239 So beschreiben Rüthers und Ch. Fischer Dogmatik als „die Erläuterung der für das geltende Recht maßgeblichen Begründungen und Lösungsmuster. Damit sind alle Lehrsätze, Grundregeln und Prinzipien erfaßt, sowohl diejenigen, die im Gesetz zu finden sind, als auch diejenigen, die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis […] hinzugefügt haben.“240 Hoffmann-Riem spricht von einem „Arsenal von Begriffen, Institutionen, Grundsätzen und Regeln, das zur Systematisierung der Rechtsordnung genutzt wird und das anerkannte Argumentationsfiguren bereithält, die als Bestandteil der positiven Rechtsordnung gelten und die zur Rechtfertigung der Rechtsinterpretation und -anwendung einsetzbar sind, ohne jeweils neu gerechtfertigt werden zu müssen“.241 Und Jestaedt stellt als „Proprium“ der Rechtsdogmatik deren „Anwendungsorientierung“ heraus.242 „Juristische Dogmatik“ bezeichnet in diesem Sinn die in der Rechtsanwendung verwendeten Entscheidungsregeln, Argumenta­tionsmuster und Begriffe, die im juristischen Diskurs anerkannt sind und – insbesondere in der Rechtsprechung – im Regelfall vorausgesetzt werden, also „nicht weiter begründet werden müssen“;243 Dogmatik ist damit zugleich ein „Speicher juristischen Wissens“.244 Rechtsdogmatik erzeugt aus „Problemlösungen wiederholt handhabbare Begriffe und Regeln und sichert diese 238  Herberger, Dogmatik – Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, 1981. 239  Vgl. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 154: „Die allgemeinen Aussagen zur Dogmatik ähneln sich sehr stark“; eine Übersicht verschiedener Definitionen aus der Literatur findet sich bei Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik: Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesbindung und Funk­ tionsorientierung, 2012, S. 22 ff. 240  Rüthers / Fischer, Rechtstheorie, 2010, Rn. 311. 241  Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 18; ähnlich unter anderem Murswiek, Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt, 2006; Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung der Rechtsdogmatik, 2001, S. 1082; Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, 1972; Lindner, Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft, 2011, S. 20 f.; Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode, 2004, S. 141; vgl. auch Kaiser, Die Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität – Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, 2014, S. 1103. 242  Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, 2011, S. 172. 243  So Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 101; Viehweg, Systemprobleme in Rechtsdogmatik und Rechtsforschung, 1995, S. 100. 244  Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, 2012, S. 7.



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 257

über möglichst stabile Auslegungsroutinen gegen grenzenloses Hinterfragen ab“.245 Sie siedelt von ihrem Abstraktionsniveau „auf einer mittleren Höhe zwischen Gesetz und Fall und vermittelt […] zwischen Gesetzesbefehl und Einzelfallentscheidung“.246 Juristische Dogmatik unterscheidet sich von der Methodik folglich dadurch, dass sie sich auf das geltende Recht, also einen Bestand an konkreten Rechtsnormen und gerichtlichen Entscheidungen bezieht, während sich die Methodik auf einer übergeordneten (Reflexions-)Ebene bewegt und damit die allgemeine juristische Arbeitsweise beschreibt,247 die eine bestimmte Dogmatik erst hervorbringt. Juristische Methodenlehre,248 die mitunter auch als „allgemeine Dogmatik“249 bezeichnet wird, reflektiert in­ folgedessen ganz allgemein das Vorgehen der Fallbearbeitung und das Argumenta­ tionsarsenal der Entscheidungsbegründung auf der Meta-Ebene – es geht ihr „um die Suche nach abstrakten Verfahren, nach dem richtigen Weg“250 –, während sich die Dogmatik als Bestand von konkretisierten Wissens- und Argumentationsmustern, Begriffen und Entscheidungsregeln in einzelnen Feldern des Rechts ausdifferenziert.251 Man spricht dann beispielsweise von der Grundrechtsdogmatik, der Dogmatik des Abwehrrechts oder noch spezieller von der Dogmatik der Meinungsfreiheit oder des Gleichheitssatzes.

245  Vesting,

Rechtstheorie, 2007, Rn. 21. Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 15; vgl. auch Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, 2012, S. 81: „kohärenzsichernde, operationalisierende Zwischenschicht zwischen den Rechtsnormen und der Rechtsanwendung im Einzelfall“. 247  Vgl. auch oben unter A. I. 248  Methodentheorie kann als eine Art ‚Metatheorie‘ (vgl. Heuermann, Wissenschaftskritik, 2000, S. 44) der juristischen Argumentation beziehungsweise Entscheidungsbegründung bezeichnet werden, vgl. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 17: „Bezogen auf das konkret anzuwendende Normprogramm sind Methoden allgemein anzuwendende Metaregeln, die zusätzlich zu den im spezifischen Normprogramm enthaltenen Problemlösungsvorgaben (etwa des Polizeirechts) steuernd darauf hinwirken sollen, dass die Normanwendung rechtlich dirigiert und legitimiert ist“; vgl. auch Grimm, Methode als Machtfaktor, 1987. 249  Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 262. 250  Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 23. 251  Vgl. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, 2008, S. 16, der auf die „typischen Verbreitungsmedien der Rechtsdogmatik, die juristischen Kommentare“ hinweist; siehe auch Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, 2012, S. 7 f., 12: Die Dogmatik „konkretisiert das Gesetz zum möglichen Fall hin, erzählt von den bisherigen Ergebnissen solcher Konkretisierung und bietet sie systematisch geordnet an“. 246  Hassemer,

258 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Für Dogmatik in diesem Sinn, das heißt auf das geltende Recht bezogene Entscheidungsregeln und Begriffe, konstitutiv ist ihre Verortung im juristischen Diskurs als einem Netz von aufeinander bezogenen Kommunikationen, das von den mit Deutungsmacht ausgestatteten Gerichten sowie der Rechtswissenschaft produziert und beständig fortgesponnen wird.252 Dogmatische Sätze stehen, wie Rüthers hervorhebt, „untereinander in einem Wettbewerb um das überzeugendste Modell“253; Christensen und Kudlich sprechen in diesem Zusammenhang von einem „semantischen Kampf“ um juristische Bedeutungsgehalte.254 Einen maßgeblichen Beitrag zu einem an der Praxis orientierten Verständnis der Rechtsdogmatik hat in diesem Zusammenhang schon in den 1950er Jahren Esser geleistet.255 Er hat dargelegt, dass dogmatische Systeme und Begriffe ein Repertoire von Problemlösungsvorschlägen darstellen, die bei wiederholter praktischer Bewährung durch den Konsens der Fachkollegen Verbindlichkeit beanspruchen (können) und damit die rechtswissenschaftliche Betrachtung an die Rechtspraxis heranführen.256 2. Funktionen der (Grund-)Rechtsdogmatik In der Literatur werden verschiedene Funktionen unterschieden, die von der Rechtsdogmatik erfüllt werden (sollen). Auch wenn in der Bezeichnung der einzelnen Funktionen Differenzen bestehen und die Schwerpunkte je252  Ausführlich

dazu unter C. II. 4. Rechtstheorie, 2008, Rn. 317 ff., Rn. 320, der allerdings meint, „das überzeugendste Modell“ könne sich ausschließlich „durch rationale Argumentationskraft“ durchsetzen: „Eine ‚herrschende‘ Meinung ist nicht deshalb verbindlich, weil sie überwiegend vertreten wird. Sie wird umgekehrt deshalb überwiegend anerkannt, weil sie in der Sache rational überzeugend ist.“ Dabei lässt Rüthers allerdings außer Acht, dass auch im juristischen Diskurs verschiedene Macht- und Kräfteverhältnisse bestehen, die nicht dem Ideal einer rein rational-deliberativen Rechtsfindung folgen. Differenzierter in diesem Punkt die neue Auflage des Lehrbuchs: Rüthers / Fischer, Rechtstheorie, 2010, sprechen – durchaus mit kritischem Unterton – von „Autorität“ der obersten Bundesgerichte, die von Anwälten, Beamten und Instanzgerichten faktisch anerkannt wird (Rn. 317), und einem „wissenschaftlichen Gruppenverhalten“, wenn die „Gegner“ der jeweiligen „herrschenden Meinung“ diese als „Zitierkartell“ angreifen (Rn. 319). 254  Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 176 ff.; siehe auch oben unter C. II. 4. 255  Grdl. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956; vgl. auch Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, 1972; Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, 1974. 256  So Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 14. 253  Rüthers,



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 259

weils unterschiedlich gesetzt werden,257 können einige übergreifende Gesichtspunkte herausgearbeitet werden, über die recht weitgehend Konsens besteht.258 Danach lassen sich, wenn auch mit einigen Überschneidungen, folgende Funktionen unterscheiden, die der Rechtsdogmatik zugeschrieben werden: a) Stabilisierungs- und Rationalisierungsfunktion Oft wird von einer Stabilisierungs- und Rationalisierungsfunktion der Dogmatik ausgegangen. Rationalität wird dabei in einem spezifisch juristischen Sinn259 verstanden als Gewährleistung von Nachvollziehbarkeit und Kontrollierbarkeit juristischer Entscheidungsbegründungen. Dogmatische Sätze bieten generell anwendbare Lösungsmuster für bestimmte Entscheidungsprobleme. Setzen sie sich durch und werden beständig angewendet, „so bewirken sie gleichartige Entscheidungen über längere Zeiträume“.260 Damit werden zukünftige Entscheidungen in einem gewissen Rahmen vorhersehbar.261 Dogmatische Sätze können gespeichert und für eine Vielzahl von Entscheidungen verfügbar gemacht werden.262 Die Kontrolle wiederum wird dadurch ermöglicht, dass überprüft beziehungsweise diskutiert werden kann, ob das jeweilige Gericht die (voraus)gesetzten dogmatischen Grundsätze überzeugend begründet, im konkreten Fall eingehalten und sachgerecht angewendet hat – oder möglicherweise ausdrücklich oder implizit davon abgewichen ist.263 Nur die Ausweisung der angewendeten dogmatischen 257  Zu den Funktionen der Rechtsdogmatik zusammenfassend Rüthers / Fischer, Rechtstheorie, 2010, Rn. 321 ff. 258  Vgl. Voßkuhle, Was leistet Rechtsdogmatik? Zusammenführung und Ausblick in 12 Thesen, 2012, S. 112, der als „wichtige Funktionen der Rechtsdogmatik“ folgende aufzählt: Ordnungs- und Systematisierungsfunktion, Stabilisierungsfunktion, Entlastungsfunktion, Kritik- und Fortbildungsfunktion; auch Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 154 ff. m. w. N. 259  Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007, S. 162; Garrn, Zur Rationalität richterlicher Entscheidungen, 1986, S. 20 ff. 260  Rüthers / Fischer, Rechtstheorie, 2010, Rn. 322. 261  Vgl. BVerfGE 34, 269 (288  ff.) – Soraya; Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 3 f.; auch Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 116 f.; Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 12. 262  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 385; insoweit läuft „Rechtsdogmatik“ gleich mit dem in der angloamerikanischen Rechtskultur gebräuchlichen Begriff der legal doctrine; vgl. Tiller / Cross, What is Legal Doctrine?, 2006: „Legal doctrine sets the terms for future resolution of cases in an area.“ 263  Zu den Formen der ausdrücklichen wie indirekten Rechtsprechungsänderung siehe die umfassende Untersuchung von Kähler, Rechtsprechungsänderung, 2004.

260 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Grundsätze macht eine Konsistenzkontrolle juristischen Entscheidens in diesem Sinne möglich.264 b) Entlastungsfunktion Anerkannte dogmatische Konstruktionen – oft auch im Sinne der sogenannten „herrschenden Meinung“265 – müssen nicht in jeder Entscheidung neu hergeleitet werden und reduzieren so die Argumentations- und Begründungslast des entscheidenden Gerichts. Luhmann bezeichnet sie als „Stoppregeln für Begründung suchendes Räsonieren“.266 Bei wichtigen dogmatischen Sätzen werden in der Regel Verweistechniken eingesetzt,267 das heißt es wird auf vorausgegangene Entscheidungen Bezug genommen, in denen bestimmte dogmatische Grundsätze oder Regeln bereits entwickelt oder angewendet wurden. Der Verweis auf eine bestehende Dogmatik erübrigt dann die erneute Herleitung und Begründung. Ein dogmatischer Satz oder eine Entscheidungspraxis, die einmal akzeptiert wurde, kann in der Regel nur mit guten Gründen aufgegeben werden. So meinen Rüthers und Fischer: „Wer anders entscheiden will, muss bessere Argumente haben. Er muss sich mit der bewährten Lehre und einem bestehenden Gerichtsgebrauch auseinandersetzen.“268 Es gilt also in der Praxis zunächst die Vermutung der Richtigkeit beziehungsweise Angemessenheit der etablierten Dogmatik. Dies scheint als Regel des juristischen Diskurses allgemein akzeptiert269 und ergibt sich – ganz pragmatisch – bereits daraus, dass eine sich ständig verändernde dogmatische Argumentation in der Praxis kaum den Anspruch auf Anerkennung und Befolgung erheben kann. Rechtliche Argumentation ist daher auf ein gewisses Maß an Orthodoxie angewiesen, das dem juristischen Diskurs und der praktischen Rechtsanwendung Kontinuität verleiht.270 Hier treffen sich die Stabilisierungs- und die Entlastungsfunktion der Dogmatik. 264  Seelmann,

Rechtsphilosophie, 2010, § 4, Rn. 10. „herrschenden Meinung“ als Autoritätsargument in der juristischen Argumentation Drosdeck, Die herrschende Meinung, 1989. 266  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 387. 267  Zu den Autoritäts- und Quellenverweisen in gerichtlichen Entscheidungen vgl. von Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, 2005, S.  432 f. 268  Rüthers / Fischer, Rechtstheorie, 2010, Rn. 324. 269  Vgl. Alexy, Juristische Argumentation, 1991, S. 243. 270  Zum juristischen Diskurs unter C. II. 4; vgl. auch Wrase, Recht und soziale Praxis, 2010, S. 135; empirisch zur richterlichen Praxis Stegmaier, Wissen, was Recht ist, 2009, S. 279 ff. 265  Zur



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 261

c) Systematisierungsfunktion Die Bildung rechtsdogmatischer Sätze erfolgt in systematisierender Absicht als Instrument für Rechtsanwendungsprozesse. Es geht um das Aufzeigen von Vergleichbarkeiten, Zusammenhängen und Strukturen.271 Volkmann vergleicht die Dogmatik mit „einem Formular […], das gewisse Voreinträge und eine allgemeine Struktur für das Abarbeiten eines Problems enthält, aber jeweils noch um die im Einzelfall relevanten Erwägungen ergänzt werden muss“.272 Wie gezeigt werden soll, ist die Systematisierung dogmatischer Sätze dann erfolgreich und praktisch handhabbar, wenn sie auf einer dem jeweiligen Problem angemessenen Abstraktionsebene erfolgt. Je allgemeiner und abstrakter die juristische Konstruktion wird, desto mehr ist sie auf eine bereichsspezifische Konkretisierung angewiesen.273 Wie SchmidtAßmann hervorhebt, kommt es zu einer Aufgabenteilung zwischen den Gerichten und der Rechtswissenschaft. Die Justiz nutze systematische Überlegungen zunächst als Hilfsmittel bei der Auslegung des einzelnen fachgesetzlichen Tatbestandes und entwickle von hier aus bereichsspezifische Problemstrukturen. Die Rechtswissenschaft entfalte die dogmatische Funktion eher durch Theorievorschläge, die dann mitunter von der Praxis aufgegriffen würden.274 d) Wertungs- und Steuerungsfunktion Dogmatische Sätze konkretisieren das geltende Recht in einem bestimmten Sinn. Sie geben daher konkrete Verständnismöglichkeiten275 vor und stellen Anforderungen für die Darstellung juristischer Entscheidungen auf.276 Wenn das Bundesverfassungsgericht zum Schutz der Meinungsfreiheit von den Fachgerichten verlangt, bei mehrdeutigen Äußerungen nicht eine zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legen, ohne vorher andere mög-

271  Vgl. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 5. 272  Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 262. 273  Ausführlich unter C. III. 3. 274  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 5. 275  Vgl. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, 2012, S. 27, der von einer „Verständigungsfunktion“ spricht, da die Dogmatik durch die Strukturierung den Rechtsstoff „verstehbar“ mache. 276  Vgl. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19: „Die Rechtsdogmatik definiert […] die Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeit juristischer Konstruktion von Rechtsfällen“.

262 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

liche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen zu haben,277 so werden damit bestimmte Prüfungs- und Begründungserfordernisse vorgegeben. Im Ergebnis wird die Meinungsfreiheit bei mehrdeutigen Aussagen gestärkt – etwa zugunsten bisweilen inopportun oder kritisch erscheinender Äußerungen – und damit restriktiven Tendenzen der zivil- und strafgerichtlichen Rechtsprechung begegnet. Zugleich eröffnet sich das Bundesverfassungsgericht die Option, in konkreten Fällen korrektiv in die fachgericht­ liche Rechtsprechung einzugreifen, um diese in Konkretisierung des Art. 5 Abs. 1 GG aufgestellte Dogmatik als spezifisches Verfassungsrecht durchzusetzen.278 Daraus erhellt die besondere Steuerungsfunktion279 der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundrechtsdogmatik, die im Sinne der Konstitutionalisierungsrechtsprechung grundsätzlich den gesamten Bereich der fachgerichtlichen Rechtsprechung erfasst.280 Indem die Wertung, etwa die Vermutungsregel zugunsten der freien Rede,281 auf abstrakter Ebene erfolgt, kann für den Einzelfall die Gleichbehandlung in der Rechtsanwendung gesichert werden. Die Regel gilt und muss auch dann angewendet werden, wenn dem Gericht die in Rede stehende Äußerung – möglicherweise auch mit guten Gründen – unangemessen oder inopportun erscheint. Es soll verhindert werden, dass – um jeweils ein ‚gewünschtes‘ Ergebnis zu erzielen – einmal diese und einmal jene Begründung gewählt wird. Dogmatik soll folglich die Allgemeinheit der anzuwendenden Norm sichern, „indem deren abstrakt-generelle Vorgaben in eine Reihe konkreterer, aber immer noch abstrakt-genereller Aussagen transformiert werden, die die Einordnung eines konkreten Sachverhalts“ ermöglichen und damit bestimmte Argumentations- und Begründungswege vorgeben.282 277  Grdl. BVerfGE 82, 43 (52) – Strauß-Transparent; BVerfGE 85, 1 (14) – Kritische Bayer-Aktionäre; BVerfGE 93, 266 (295 f.) – Soldaten sind Mörder; einschränkend für die Untersagung künftiger Äußerungen jetzt BVerfGE 114, 339 (350) – Stolpe; ein Überblick findet sich bei Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, 1995. 278  Vgl. unter E. I. 1. c). 279  Ausführlich unter E. I. 1.; vgl. auch Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, 2012, S. 33, der allgemein eine Entwicklung weg von der Systematisierung hin zur Steuerung beobachtet; von einem „impliziten Steuerungswissen“ der Dogmatik spricht Grzeszick, Steuert die Dogmatik? Inwiefern steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? Gibt es eine rechtliche Steuerungswissenschaft jenseits der Rechtsdogmatik?, 2012, 107 f. 280  Siehe oben unter B. II. 5. 281  Grdl. BVerfGE 7, 198 (212) – Lüth; BVerfGE 20, 162 (177) – Spiegel; aus der aktuelleren Rspr. siehe etwa BVerfGE 120, 180 (203); ausführlich unter E. I. 1. c). 282  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 10  f.; vgl. auch Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz,



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 263

e) Kritik- und Fortbildungsfunktion Dogmatische Systembildung kann, wie Esser es ausgedrückt hat, leicht auf ein „Traumbild“ unpolitischer Praxis hinauslaufen und damit „in Gefahr juristischer Verfremdung von Sachverhalt und Interessenlage geraten“.283 Pöcker spricht von einem „Effekt des zunehmenden Vergessens der rechtsexternen Bedingtheit der dogmatischen Figuren und Begriffe, ihrer Abhängigkeit von philosophischen Konzepten und historischen Gegebenheiten“ als Folge der Anwendungsroutine.284 Voßkuhle wiederum konstatiert eine „Immunisierung gegenüber der Komplexität der (Rechts-)Wirklichkeit“, die einerseits notwendig sei, um Komplexität zu beherrschen, andererseits aber auch zu einer „Verengung des Wahrnehmungsfeldes“ führen könne.285 In jüngerer Zeit setzt sich dementsprechend immer mehr die Ansicht durch, dass Rechtsdogmatik durch eine Kritik- und Fortbildungsfunktion ergänzt werden muss.286 Ihre Aufgabe ist es, die in der juristischen Argumentation verdeckt und unreflektiert einfließenden „Realanalysen, Vorverständnisse, Theorieannahmen, Folgebetrachtungen, Alltagserkenntnisse und rechtspolitischen Wertungen transparent“ zu machen.287 Zugleich schafft die Dogmatik die Voraussetzungen ihrer Kritik. Denn die „von der Dogmatik ausgebreitete Differenziertheit der rechtlichen Wertungsgesichtspunkte“ ermöglicht zugleich die Kontrolle und Revision ihrer expliziten und ihrer 1999, S. 2; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 17 ff.; vgl. auch Eifert, Dogmatik und pluralisierte Rechtswissenschaft, 2012, S. 85: Sicherung von Berechenbarkeit und Kohärenz der Rechtsanwendung. 283  Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, S. 21 f.: „Dogmatische Argumentation bleibt vorrangig deshalb beliebt, weil sie als Abschirmung gegen die sonst leicht auftauchende Frage nach dem Gerechtigkeitsgehalt dient oder doch gegen die Gefahr der Stellungahme zu offenen Wertungsproblemen.“ 284  Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 156 f. 285  Voßkuhle, Wie betreibt man offen(e) Rechtswissenschaft?, 2010, S.  161; ­Jestaedt bezeichnet das darin liegende Gefährdungspotential der Rechtsdogmatik als „Dogmatismus“, Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, 2011, 182 f.; Lepsius, Kritik der Dogmatik, 2012, S. 61, sprich noch deutlicher von „rechtswissenschaftlichen Wahrnehmungsverlusten“, von einer „Versteinerung des Überkommenen“ und der Verdunkelung von der Rechtsanwendung zugrunde liegenden „Ideen und Interessen“, was zu einem „Verlust einer distinktiven Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft“ führe. 286  Vgl. auch Voßkuhle, Was leistet Rechtsdogmatik?, 2012, S.  112; ähnlich Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, 2012, S. 28, der den dynamischen, auf Veränderung angelegten Charakter der Rechtsdogmatik hervorhebt; Eifert, Dogmatik und pluralisierte Rechtswissenschaft, 2012, S. 91 f.: Rechtswissenschaft „besonders geeignet, Alternativen vorzubereiten“. 287  Voßkuhle, ebd., S. 159.

264 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

unausgesprochenen Prämissen288 oder zugrunde liegender „Vorurteile“289. Als „gespeichertes“ juristisches Wissen ist Rechtsdogmatik offen für eine Korrektur und Fortbildung gegenüber neuen Einsichten und Problemkonstellationen einer sich verändernden beziehungsweise anders und differenzierter wahrgenommenen sozialen Wirklichkeit.290 3. Dogmatik und ‚System‘ – am Beispiel des staatlichen Informationshandelns Wie Vesting hervorhebt, ist die Rechtsdogmatik in Deutschland seit der Historischen Rechtsschule eng mit dem Systembegriff des mechanistischen Weltbildes verknüpft, „d. h. der Vorstellung, dass sich der gesamte Rechtsstoff hierarchisch abschichten, nach logischen Gesichtspunkten systematisieren und auf einen Anfangsgrund, ein Prinzip, zurückführen lässt“.291 Ähn­ liches meint wohl Schlink, wenn er davon spricht, verfassungsrechtliche Entscheidungen seien „aus dem System und auf es hin“ zu treffen292: Die Gestalt des Systems ist dabei ein als Hierarchie konstruierbares Gefüge von Begriffen und Aussagen, die einander spezifizieren, so dass die Lösung eines Fallproblems von allgemeinen Annahmen zu immer spezifischeren Voraussetzungen voranschreitet und schließlich zu allgemeinen Gewissheiten zurückkehrt.293

Außer Frage steht, dass juristische Konstruktionsarbeit elementar auch auf Systematisierung angewiesen ist.294 Nur über eine ausgearbeitete 288  Rüthers / Fischer,

Rechtstheorie, 2010, Rn. 326. Rechtssoziologie, 2011, S. 53. 290  Demgegenüber wird teilweise gefordert, zu einer rein „juristischen Methode“ zurückzukehren. Die Rechtstheorie soll für manche gar zu einer „Grenzpostendisziplin“ werden, deren Funktion die „Sicherung des Selbstbestandes der Jurisprudenz gegenüber Nachbarwissenschaften“ sein soll; Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein … Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, 2006, S. 31. Hingegen hat sich die soziologische Jurisprudenz gerade als eine Methode innerhalb der Rechtswissenschaften entwickelt, um die künstliche Schließung des juristischen Diskurses (partiell) aufzuheben, vgl. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 8. Sie kann Innovationen ermöglichen, indem sie neue gesellschaftliche und interdisziplinäre Sichtweisen und Erkenntnisse in den rechtlichen Diskurs einspeist. Zur Entwicklung einer „interdisziplinären Rechtsforschung“ Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 80 f.; vgl. auch unter E. II. 3. 291  Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 22. 292  Dazu bereits oben unter A. I. 293  Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007, S. 160; ähnlich begreift etwa Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 99, die „Dogmatik“ als Bezeichnung für das „juristische Begriffssystem in seinen obersten Abstraktionen“. 294  So meinen Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 442, unter Bezugnahme auf den Satz von Hans-Julius Wolff: „Rechtswissenschaft ist systematisch 289  Baer,



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 265

Rechtsdogmatik, so meint auch Luhmann, könne die „Stabilisierung und Restabilisierung des Rechts“ von der einfachen Geltung bestimmter Normen auf deren Konsistenz verlagert werden; das System bestehe somit aus einer „Gesamtheit von als konsistent praktizierten Problemlösungen“.295 Konsistenz dogmatischer Problemlösungen wird dabei durch die Konstruierbarkeit im System gewährleistet, oder in den Worten Luhmanns: Die Dogmatik garantiert, dass das Rechtsystem sich in seiner eigenen Veränderung als System bewährt. Man hat deshalb auch von „systematischer Methode“ gesprochen. Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass dies keine Reflexion der Einheit des Systems, keine Orientierung an dem Gesamtsinn des Systems erfordert, sondern nur das Bemühen um die konsistente Lösung „ähnlicher“ Fallprobleme. Überliefertes ebenso wie geändertes Recht gilt, wenn es im Kontext benachbarter Rechtsvorstellungen haltbar ist. Als Indiz der Konsistenz dient dann die dogmatische Konstruierbarkeit von Problemlösungen.296

Maßgeblich für das sinnvolle Abstraktionsniveau juristischer Systematisierung ist danach die Möglichkeit, problemadäquate dogmatische Konstruktionen zu entwickeln, die eine möglichst konsistente Anwendung auf wertungsmäßig ähnlich gelagerte (Problem-)Konstellationen ermöglichen. In diesem Sinn ist das System in der Tat der „Perfektionsbegriff der Rechtsdogmatik“297. Die darüber hinausgreifende Idee eines „inneren Systems“, in der sich die Einheit einer Rechtsmaterie, ihre logische und wertungsmäßige Folgerichtigkeit spiegeln soll,298 ist hingegen mit Zurückhaltung zu betrachten.299 Denn, wie ebenfalls Luhmann präzise herausgearbeitet hat, die (vermeintlich) konsistenz- und damit rationalitätsgewährende Einheit des systembildenden Prinzips muss angesichts der Heterogenität des zu bearbeitenden Materials undefiniert bleiben: Eine genauere, besonders eine logische Präzisierung dieser Begriffe Einheit und Konsistenz würde entweder zu weit werden oder bei einem axiomatisch-deduktiven Anspruch in unermeßliche Schwierigkeiten führen. Eine dazu erforderliche Logik müsste vermutlich so komplex werden, dass […] ihre eigene Konsistenz den gleichen Zweifeln ausgesetzt wäre wie das System selbst. Man kann daraus

oder sie ist nicht“: „Es kann ernsthaft keine Frage sein, dass wir die Jurisprudenz als eine systematische Wissenschaft verstehen müssen“; vgl. auch Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007. 295  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 277. 296  Ebd., S. 275. 297  Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, 1972, S. 256. 298  Zur Differenzierung zwischen äußerem und innerem System grdl. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, 1957. 299  Zur Gefahr des „Systematismus“ vgl. auch Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, 2011, S.  184 f.

266 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie folgern, dass die Berufung auf „Einheit des Systems“ in diesem Zusammenhang nur dazu dient, dies Problem der Komplexität zu verdecken.300

Schulze-Fielitz hat die Problembezogenheit grundrechtsdogmatischer Systembildung für das Verfassungsrecht herausgearbeitet. Er stellt fest, dass die Versuche zur Konkretisierung materieller Verfassungsgerechtigkeit konsequent auf „sach- und rechtsbereichsspezifischen Gerechtigkeitsprinzipien“ zusteuern. Daraus abgeleitete Formeln versuchten, im Text des Grundgesetzes nicht ausdrücklich enthaltene Maßstäbe zu entwickeln und rechtlich handhabbar zu machen.301 Dogmatische Systembildung ist folglich vor allem an ihrer Fähigkeit zu messen, mit Blick auf den Normzweck praktische Lösungsmöglichkeiten für bestehende oder sich neu herausbildende Problembereiche zu entwickeln.302 In diesem Sinn geht es um ein laufendes Justieren von Systeminstrumentarien und Problemlösungen.303 Da ein rechtsdogmatisches System bei der Bearbeitung von Fällen bestimmte abstrakte, aufeinander bezogene Begrifflichkeiten voraussetzt, entfernt es sich mit zunehmender Abstraktion von der Fallebene und muss bei neu auftretenden Konstellationen, die sich wertungsmäßig nicht in das System einpassen, aus Konsistenzgründen selbst modifiziert werden.304 Die damit angesprochene Problematik eines sinnvollen Abstraktionsniveaus bei der dogmatischen Systembildung lässt sich gut an der Diskussion um sogenanntes staatliches Informationshandeln zeigen, dessen grundrechtsdogmatische Einordnung vor allem die klassische Eingriffsabwehrtheorie vor Herausforderungen stellt. Die beiden Entscheidungen des Ersten Senats vom Juni 2002 zur Veröffentlichung einer Liste über Weine, in denen Diethylenglykol festgestellt worden war, durch die Bundesregierung305 sowie zu warnenden Äußerungen der Regierung über sogenannte „Jugend­ sekten“306 haben in der verfassungsrechtlichen Literatur Wellen geschlagen und eine Grundsatzkontroverse ausgelöst,307 in der sogar von einem „Wende­ 300  Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, 1972, S. 257; kritisch zum rationalistischen Rechtsdenken auch Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 51 ff. 301  Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 229 f.; ausführlich unter E. I. 1. c). 302  Entsprechend plädiert Lepsius, Kritik der Dogmatik, 2012, S. 62, für „Theorien mittlerer Reichweite“, das heißt auf mittlerer Abstraktionshöhe. 303  Vgl. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 28. 304  Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 8 f. 305  BVerfGE 105, 252 – Glykolwein. 306  BVerfGE 105, 279 – Osho. 307  Vgl. nur Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, 2003; Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, 2004;



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 267

punkt“308, einer grundlegenden „Veränderung“309 oder einem „Wandel“310 der Grundrechtsdogmatik die Rede ist. Im Kern geht es um die Frage, an welchem grundrechtlichen Maßstab staatliche Informationstätigkeit zu messen ist, die sich für Grundrechtsträger im geschützten Bereich faktisch beeinträchtigend auswirkt, etwa weil durch behördliche Warnungen der Produktabsatz beeinträchtigt wird oder andere Umsatzmöglichkeiten verloren gehen. Die abwehrrechtliche „Domestizierung“311 staatlicher Publikumsinformationen geht davon aus, dass derartiges Staatshandeln, wenn es einen bestimmten Grad der Intensität einer faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung erreicht und dies zumindest vorhersehbar war, als Grundrechtseingriff zu behandeln, also dem klassischen Eingriff durch ein rechtsverbindliches Geoder Verbot gleichzusetzen ist. Diesen Weg hatte zunächst die fachgerichtliche Rechtsprechung312 im weitgehenden Einklang mit der herrschenden Lehre313 eingeschlagen. Geht man mit diesem Ansatz in der Fortentwicklung des Eingriffsbegriffs314 von einer Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzbereichs aus, so verlangt die Systematik des Abwehrrechts dafür auf der Rechtfertigungsebene eine formell-gesetzliche Grundlage und damit auch die strikte Einhaltung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung.315 Zumindest an einer ausdrücklichen Ermächtigungsnorm der Bundesregierung fehlte es Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, 2004; Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, 2005; Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, 2005; Murswiek, Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt, 2006. 308  Murswiek, ebd., S. 473. 309  Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, 2005 S. 261. 310  Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, 2005 S. 1973. 311  Bumke, Publikumsinformation – Erscheinungsformen, Funktionen und verfassungsrechtlicher Rahmen einer Handlungsform des Gewährleistungsstaates, 2004, S. 16. 312  Vgl. BVerwGE 71, 183 (189 ff.) – Transparenzlisten; BVerwGE 82, 76 (79) – TM; BVerwGE 87, 37 (43 ff.) – Glykolwein; BVerwGE 90, 112 (118 ff.) – Osho II; BVerwG, NJW 1996, 3161 – Warentests. 313  Vgl. nur Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, 1991, S. 670; Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriff, 1997, S.  1025 f.; Di Fabio, Information als hoheitliches Gestaltungsmittel, 1997, S. 4 f.; siehe auch die Zusammenfassung und Nachweise bei Bumke, Publikumsinformation, 2004, S. 18. 314  Ausführlich Bethge, Der Grundrechtseingriff, 1998; Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, 1998; Lindner, „Grundrechtseingriff“ oder „grundrechtswidriger Effekt“?, 2004. 315  Vgl. Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriff, 1997, S. 1030; eingehend Di Fabio, Information als hoheitliches Gestaltungsmittel, 1997, S. 3 ff.; Bethge, Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, 2003, S. 332: „Für die überkommene Grund-

268 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

aber in den von der Rechtsprechung zu entscheidenden Fallkonstellationen. Die Konsequenz wäre gewesen, die Verfassungswidrigkeit sowohl der Veröffentlichung der Glykolwein-Abfüller-Liste als auch der Äußerungen über Jugendsekten festzustellen.316 Vor dieser Konsequenz sind die Gerichte jedoch von Anfang an zurückgeschreckt. Die offensichtlich ausschlaggebenden Gesichtspunkte hierfür finden sich explizit in den Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts, an denen sich der problemorientierte Lösungszugang gut erkennen lässt. Um die Zulässigkeit der Informationstätigkeit im konkreten Kontext zu begründen, argumentiert das Gericht mit der gewandelten Bedeutung des Informationshandelns der Bundesregierung, gerade auch in unerwarteten und in Krisensituationen. Die staatliche Teilhabe an öffentlicher Kommunikation, so konstatiert das Gericht, habe sich im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt und verändere sich fortlaufend weiter. Die gewachsene Rolle der Massenmedien, der Ausbau moderner Informations- und Kommunikationstechniken sowie die Entwicklung neuer Informationsdienste wirkten sich auch auf die Art der Aufgabenerfüllung durch die Regierung aus.317 Informationshandeln unter den heutigen Bedingungen gehe dabei über die Öffentlichkeitsarbeit im herkömmlichen Sinne hinaus. So gehöre es in einer Demokratie zur Aufgabe der Regierung, die Öffentlichkeit über wichtige Vorgänge auch außerhalb oder im Vorfeld ihrer eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit zu unterrichten. Von der Regierung werde erwartet, nicht nur durch rechtzeitige öffentliche Information die Bewältigung von Konflikten in Staat und Gesellschaft zu erleichtern, „sondern auch, auf diese Weise neuen, oft kurzfristig auftretenden Herausforderungen entgegenzutreten und auf Krisen und auf Besorgnisse der Bürger schnell und sachgerecht zu reagieren sowie diesen zu Orientierungen zu verhelfen“.318 Mit der so umschriebenen gewandelten Funktion des Öffentlichkeitshandelns der Regierung kontrastiert das Gericht die rechtsstaatlichen Funktionen des Gesetzesvorbehalts klassischer Prägung und kommt zu dem Schluss: Die Voraussetzungen der [staatlichen Informations-]Tätigkeit lassen sich gesetzlich nicht sinnvoll regeln. Ist eine Aufgabe der Regierung zum Informationshandeln gegeben, steht damit im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der in Betracht kommenrechtsdogmatik ist das Junktim zwischen Grundrechtseingriff und Vorbehalt des Gesetzes die eiserne Regel.“ 316  Eingehend zur dogmatischen Kritik der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus abwehrrechtlicher Perspektive Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, 2003. 317  BVerfGE 105, 279 (301 f.). 318  BVerfGE 105, 252 (269); 105, 279 (302).



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 269 den Lebenssachverhalte in aller Regel nicht im Vorhinein fest, aus welchen Anlässen es zu welchem Informationshandeln der Regierung kommen wird. Die Themen denkbarer staatlicher Informationstätigkeit betreffen praktisch alle Lebensbereiche. Dementsprechend vielfältig sind die Zwecke staatlichen Informa­ tionshandelns. Die Art und Weise des staatlichen Vorgehens werden durch den Anlass der Äußerung bestimmt, der oft kurzfristig entsteht, sich unter Umständen schnell wieder ändert und deshalb vielfach ebenfalls nicht prognostiziert werden kann. Ungewiss sind auch die Wirkungen und weiteren Folgen der staatlichen Informationstätigkeit für den Bürger. […] Weder die rechtsstaatliche, grundrechtsschützende und den Rechtsschutz gewährleistende noch die demokratische Funktion des Gesetzesvorbehalts fordern unter diesen Umständen eine über die Aufgabenzuweisung hinausgehende gesetzliche Ermächtigung. Gegenstand und Modalitäten staatlichen Informationshandelns sind so vielgestaltig, dass sie angesichts der eingeschränkten Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers allenfalls in allgemein gehaltene Formeln und Generalklauseln gefasst werden könnten. Ein Gewinn an Messbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns ist für den Bürger auf diesem Weg regelmäßig nicht zu erreichen oder nur in einer Weise, die den Erfordernissen staatlicher Informationstätigkeit nicht gerecht wird.319

Folgt man diesen Einschätzungen des Gerichts über die Notwendigkeit staatlichen Informationshandelns sowie dessen begrenzter Normierbarkeit, so wird deutlich, weshalb eine Behandlung der staatlichen Publikumsinformation im Rahmen einer unverändert angewandten Abwehrrechtsdogmatik offensichtlich nicht zu problemangemessenen Lösungen führt.320 Schaut man sich die Entwicklung in fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur an, die den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorausgegangen war, so werden die verschiedenen – sicher keinesfalls abschließenden – Möglichkeiten sichtbar, auf die Herausforderung der neuartigen Problemkonstellation dogmatisch adäquat zu reagieren. Hier seien die folgenden genannt: So lässt sich Informationshandeln bereits aus dem Gewährleistungsbereich des Grundrechts ausklammern321, oder es lassen sich nur bestimmte Konstellationen staatlicher Informationstätigkeit als gewährleistungsrelevant einstufen.322 Auf diesem Lösungsweg riskiert man einerseits, schwierige 319  BVerfGE

105, 279 (304 f.). Bumke, Publikumsinformation, 2004, S. 21 ff. 321  Grdl. für diesen Ansatz Albers, Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, 1996. 322  Ob BVerfGE 105, 252 (266 ff.) für marktbezogene Informationen der Bundesregierung bereits den Gewährleistungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG einschränkt oder lediglich einen Eingriff verneint, geht aus den Ausführungen des Gerichts nicht eindeutig hervor. 320  Ebenso

270 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

und kaum trennscharfe (neue) Differenzierungen einzuführen.323 Andererseits werden Fragen der Rechtfertigung, gegebenenfalls auch der Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem geschütztem Grundrechtsgut, auf die Schutzbereichsebene (vor)verlagert, was ebenso systemwidrig ist wie Folgeprobleme aufwirft.324 Es lässt sich konstruktiv auch beim Eingriffsbegriff selbst ansetzen, wobei es auch hier nur ein Entweder-Oder geben kann. Entweder das Informationshandeln wird als Eingriff gesehen, dann werden die Systemkonsequenzen der abwehrrechtlichen Prüfung eingeschaltet, das heißt Vorbehalt eines hinreichend bestimmten Gesetzes sowie das Erfordernis der Wahrung der Verbands- und Organzuständigkeit. Oder man verlangt eine besondere Art und Qualität der Beeinträchtigung,325 was letztlich wiederum zunächst auf eine Einzelfallwertung und später auf eine Art Fallgruppenbildung hinausläuft.326 Ein dritter Weg, den die Rechtsprechung ebenfalls beschritten hat, liegt darin, die Anforderungen an die Bestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage deutlich herabzustufen. Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht sind indessen soweit gegangen, die in Art. 62 ff. GG implizit vorausgesetzte Kompetenz der Bundesregierung zur Öffentlichkeits323  Zu Recht kritisch Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, 2003, S. 4 f.; Bethge, Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, 2003, S. 332 f. 324  Siehe Murswiek, ebd., S. 5. 325  BVerfGE 105, 252 (266  ff.) differenziert zwischen einer marktbezogenen Information des Staates, bei deren Erteilung die Zuständigkeitsordnung eingehalten wurde und die außerdem sachlich und richtig ist – dann kein Eingriff, da Markttransparenz geschaffen werde – und einer solchen, die nach ihren Zielsetzungen und Wirkungen „Ersatz für eine staatliche Maßnahme ist, die als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre“ (273). 326  In diese Richtung geht die Rechtsprechung im Osho-Fall, siehe BVerfGE 105, 279 (294 ff.): Eine öffentliche Auseinandersetzung staatlicher Verantwortungsträger mit religiösen und weltanschaulichen Gruppen soll danach, auch wenn sie kritisch ist, keinen Eingriff darstellen. Nur bei diskriminierenden Äußerungen, die das gebotene Maß an Zurückhaltung überschreiten, greife der Schutz von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein. Hier ‚verschwimmen‘ die dogmatischen Figuren von Schutzbereich und Eingriff zusehends; zugleich wird eine neue Kategorie der „faktischen Beeinträchtigung“ neben dem Eingriffsbegriff eingeführt, vgl. auch Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, 2003, S.  5 f.; Bumke, Publikumsinformation, 2004, S. 27 f. Einen Beeinträchtigung durch staatliches Informationshandeln, die einem Eingriff in den Schutzbereich Art. 5 Abs. 1 GG gleichkommt, hat das Bundesverfassungsgericht in dem Fall angenommen, dass eine Wochenzeitschrift im Bericht des Verfassungsschutzes dem Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen ausgesetzt wird; BVerfGE 113, 63 (76 ff.) – Junge Freiheit.



III. (Grundrechts-)Dogmatik als Mittel der Grundrechtskonkretisierung 271

arbeit ausreichen zu lassen.327 Unter diesen Umständen bleibt allerdings – wie das Bundesverfassungsgericht selbst festgestellt hat – von den rechtsstaatlich-begrenzenden ebenso wie den demokratisch-legitimatorischen Funktionen des Gesetzesvorbehalts nichts mehr übrig.328 Die Analyse hat deutlich gemacht, dass die Gleichsetzung faktisch grundrechtsrelevanter Informationstätigkeit des Staates mit anderen Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht ohne weiteres möglich ist. Das leuchtet besonders dann ein, wenn man die Konstellationen, über die das Bundesverfassungsgericht hier zu entscheiden hatte, mit staatlichen Eingriffsmaßnahmen im Bereich der Strafverfolgung oder der polizeilichen Gefahrenabwehr vergleicht. Es ist leicht einsichtig und im Sinne des Grundrechtsschutzes (problem)angemessen, dass das Gericht im Bereich der polizeilicher Maßnahmen mitunter sehr hohe Anforderungen an die Konkretheit und Bestimmtheit gesetzlicher Eingriffsermächtigungen stellt329, während dies im Bereich des Informationshandelns anders beurteilt wird, da – wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat – die Vielgestaltigkeit der Konstellationen, in denen ein Informationshandeln der Regierung notwendig werden kann, eine strenge tatbestandliche Eingrenzung nicht zulässt. Dies zeigt zugleich, warum eine dogmatische Systematisierung nur dann sinnvoll sein kann, wenn sie sich auf einer problemadäquaten Ebene erfolgt: Staatliche Eingriffsmaßnahmen zum Beispiel im Rahmen der Strafverfolgung werfen in der Regel andere Fragen spezifischer Grundrechtsgefährdungen durch polizeiliches Zwangshandeln auf als Konstellationen staatlichen Informationshandelns, über die das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Produktkontrolle oder bei Äußerungen über Jugendsekten zu entscheiden hatte. Sie verlangen daher nach einer anderen grundrechtsdogmatischen Kontrolle und der Entwicklung spezifischer dogmatischer Maßstäbe, die dem Problem der staat­ lichen Informationstätigkeit und ihrer freiheitsrelevanten Wirkungen Rechnung tragen.330 Werden dogmatische Konstruktionen auf einer zu hohen Abstraktionsebene aufgebaut, laufen sie Gefahr, zu viele divergierende Problembereiche zu erfassen, die jeweils eigene problemspezifische Maßstäbe erfordern. 327  Vgl. BVerwGE 82, 76 (80 ff.); 87, 37 (50); BVerfGE 105, 252 (270 ff.); 105, 279 (306 f.). 328  Sehr kritisch auch Heintzen, Staatliche Warnungen als Grundrechtsproblem, 1990, S.  554 f. 329  Aus der jüngeren Rspr. siehe nur BVerfGE 100, 313 (359 f.) – Telekommunikationsüberwachung; BVerfGE 110, 33 (69 ff.) – Zollkriminalamt; BVerfGE 118, 168 (187 f.) – Kontostammdaten; BVerfGE 120, 378 (407 ff.) – Automatisierte Kennzeichenerfassung. 330  Zur dogmatischen Maßstäbebildung unter E. I. 1. c).

272 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Dies ist im Rahmen der skizzierten Diskussion auch von vielen eingeräumt worden.331 Ein in der Rechtsprechung häufig praktiziertes Mittel, um im Rahmen allgemeiner Maßstabsbildung die entsprechende Problemadäquanz wieder herzustellen, liegt darin, von der allgemeineren Systemebene auf die Problemebene, also eine dem grundrechtlichen Gewährleistungszweck und spezifischen Kontext angemessene Abstraktionsebene, zurückzuverweisen und auf diesem Weg Differenzierungen im Sinne funktional-bereichsspezifischer Maßstabsbildung zu ermöglichen. So meint das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf den Gesetzesvorbehalt: Die Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigung werden dadurch mitbestimmt, ob diese dazu beitragen kann, die im Rechtsstaats- und im Demokratieprinzip wurzelnden Anliegen des Gesetzesvorbehalts zu erfüllen. Dies hängt auch von den hierauf bezogenen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers ab. Der Sachbereich muss staatlicher Normierung zugänglich sein […] Ob und wieweit das der Fall ist, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen.332

Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich bei seiner Maßstäbebildung somit zunächst an den Zwecken, die das Prinzip des Gesetzesvorbehalts mit Blick auf das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip verfolgt. Die wesent­ lichen Entscheidungen sollen dem unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbehalten bleiben und nicht der Exekutive überlassen werden (Legitimationsfunktion).333 Auf der anderen Seite soll der Normadressat die Rechtslage erkennen können, damit er sein Verhalten darauf ausrichten kann. Die Gerichte sollen das Verwaltungshandeln anhand der gesetzlichen Ermächtigung überprüfen können (Begrenzungsfunktion). Entsprechend dem betroffenen Regelungsgegenstand und der spezifischen Grundrechtsbetroffenheit der Normadressaten ergeben sich hierbei, wie gesehen, problembezogen unterschiedliche Anforderungen.334 331  Vgl. die zusammengetragenen Äußerungen von Staatsrechtslehrern: „[…] dass wir vielleicht zu abstrakt geworden sind, dass wir zu viele Zwischenbegriffe einschieben […]“ (Rauschning); „[…] für eine Reduktion von Komplexität zu plädieren […]“ (P.-M. Huber), „[…] ob wir die Entwicklung der Grundrechtslehre nicht vereinfachen können […]“ (Chr. Starck); „[…] kaum noch verständlich […]“ (H. Weber); „[…] so kompliziert, dass die französischen und italienischen Kollegen uns nicht mehr verstehen […]“ (H.-U. Gallwas); „Grundrechtswucherungen“ (M. Jestaedt); die Nachweise finden sich bei Lindner, „Grundrechtseingriff“ oder „grundrechtswidriger Effekt“?, 2004, S. 766, Fn. 14; vgl. auch Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 81. 332  BVerfGE 105, 279 (304) mit Verweis auf BVerfGE 98, 218 (251) – Rechtschreibreform. 333  St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 49, 89 (126); 95, 267 (307); 116, 24 (58).



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation273

IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation durch eine übergreifende Grundrechtstheorie des Grundgesetzes? Wenn somit die Grundrechtsdogmatik dazu beitragen soll, die Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen interpretatorisch zu bewerkstelligen, und zwar in einer Weise, welche die genannten Funktionen – Rationalisierung, Entlastung, Systematisierung, Wertung, Steuerung und Kritik – erfüllt, dann stellt sich die am Beispiel des staatlichen Informationshandelns bereits aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen dogmatisch-theoretischer Rationalisierbarkeit. Gerade ein stark auf die Systematisierungsfunktion fokussiertes Verständnis der Rechtsdogmatik sieht ein maßgebliches Rationalisierungspotential in der Konstruktion übergreifender Theorien, die die interpretatorische Konkretisierung der Grundrechte durch dogmatische Systembildung anleiten sollen. 334

1. Die ‚Suche‘ nach einer Grundrechtstheorie des Grundgesetzes a) Das Petitum Böckenfördes In seinem einflussreichen335 Beitrag zur Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation aus dem Jahr 1974336 stellt Böckenförde die Frage nach einer für das Grundgesetz gültigen Grundrechtstheorie. Vor dem Hintergrund der sprachlichen Unbestimmtheit der Grundrechte sei deren Ausdeutung und Konkretisierung unbestreitbar erforderlich. Diese werde jedoch, so meint Böckenförde, bewusst oder unbewusst von einer bestimmten Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt. Unter einer Grundrechtstheorie versteht er dabei „eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“.337 Er unterscheidet idealtypisch fünf Theorien: „die liberale oder bürgerlich334  Grundsätzlich folgt das Gericht der Formel: „Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung sind, desto genauer müssen die Vorgaben des Gesetzgebers sein“, vgl. BVerfGE 86, 288 (311); 109, 133 (188), und entwickelt entsprechende bereichsspezifische Maßstäbe. Diese Formel lässt erhebliche Spielräume für eine flexible Anwendung; ausführlich zur Dogmatik des Bestimmtheitsgrundsatzes Papier / Möller, Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, 1997. 335  Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 29 m. w. N.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 39, Fn. 143. 336  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974. 337  Ebd., S. 1529. Vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 9: „Die Grundrechtstheorie beschäftigt sich mit den Aufgaben und Leistungen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat. Sie reflektiert die Grundrechts-

274 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

rechtsstaatliche Grundrechtstheorie, die institutionelle, die Werttheorie der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grund­ rechtstheorie“338. Dabei räumt er ein, dass die genannten Theorien in der Praxis selten in der vom ihm gebildeten idealtypischen Form vorkommen. Vielmehr gingen die Gerichte ebenso wie Teile der Wissenschaft fallbezogen und nach einzelnen Grundrechtsbestimmungen wechselnd von verschiedenen Grundrechtstheorien aus. Das gelte besonders für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.339 Es entstehe der Eindruck, dass die Rechtsprechung sich verschiedener theoretischer Ansätze als wahlweise heranziehbarer Problemlösungsgesichtspunkte bediene, um im konkreten Fall ein angemessenes Ergebnis zu erzielen, ohne dass für den Außenstehenden darin ein systematisches Vorgehen erkennbar wäre. In der Literatur sei zwar die Neigung größer, jeweils einer der verschiedenen Grundrechtstheorien durchgängig zu folgen, aber auch hier sei oftmals ein Theoriewechsel je nach einzelnen Grundrechtsbestimmungen zu beobachten. Das Verfahren sei der „topischen Methode“ vergleichbar, die Böckenförde – wie gesehen340 – angesichts einer von ihm unterstellten Auflösung der Normbindung ablehnt.341 Grundrechtstheorien als wahlweise heranziehbare Ansätze für die Grundrechtsinterpretation zu betrachten, bedeute in Wahrheit, „zu verneinen, dass diese konkrete, geltende Verfassung selbst von einer bestimmten Idee des grundlegenden Beziehungsverhältnisses einzelner – staatliche Gemeinschaft ausgeht und dieser Ausdruck verleiht“.342 Demgegenüber fordert Böckenförde nicht nur aus pragmatischen Gründen, um die Variationsbreite der Grundrechtsinterpretation wieder zu begrenzen, sondern ebenso aus verfassungstheoretischen Gründen für das Grundgesetz die Frage nach der verfassungsgemäßen Grundrechtstheorie zu stellen.343 Letztlich befürwortet er die Rückkehr zur ‚klassischen‘ liberalen Grundrechtstheorie (Abwehrrechtstheorie). dogmatik, fragt nach dem richtigen Grundverständnis und bemüht sich darum, Maßstäbe für die dogmatische Arbeit zu entwickeln.“ 338  Böckenförde, ebd., S. 1530. 339  Die Kritik erneuert Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007. 340  Oben unter B. III. 5. 341  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974, S. 1537. 342  Ebd., S. 1537: „Die gemeinsame Voraussetzung ist […] die weniger geäußerte, aber praktizierte Auffassung, dass die verschiedenen Grundrechtstheorien von der Verfassung her dem Interpreten grundsätzlich zur Auswahl stehen, keine von ihnen ausgeschlossen ist, und die Grundrechtsinterpretation daher – generell oder von Fall zu Fall – die eine oder andere zugrunde legen kann.“ 343  Umfassende theoretische Ansätze verfolgen in der jüngeren Literatur etwa Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; Mager, Einrichtungsgarantien, 2003; Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007; Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, 2005.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation275

b) Systematisierung auf der Grundlage einer einheitlichen Grundrechtstheorie? Es soll in diesem Zusammenhang danach gefragt werden, ob und inwiefern eine einheitliche, konsistente und an einem allgemeinen Systematisierungsziel ausgerichtete Grundrechtstheorie des Grundgesetzes tatsächlich die erhoffte Rationalisierung und Konsistenz der Grundrechtsanwendung gewährleisten kann. Die Frage stellt sich besonders deutlich vor dem Hintergrund, dass gesellschaftliche Ausdifferenzierung344 und Pluralisierungen der Lebensformen zunehmen und damit auch die Vielfalt und Komplexität grundrechtlicher Problemlagen.345 Insofern könnte sich insbesondere die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen (beziehungsweise Grundrechtsgehalte oder -dimensionen)346, ihre „Doppel- oder Multifunktionalität“347, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „in jahrzehntelanger schöpferisch-selbstbewusster Grundrechtsjudikatur“348 entwickelt und von der Kommentarliteratur weitgehend übernommen worden ist349, gegen die Rückführung auf eine einheitliche Grundrechtstheorie sperren. So kritisiert Robert Alexy die von Böckenförde idealtypisch herausgearbeiteten grundrechtstheoretischen Positionen als „Ein-Punkt-Theorien“, weil in ihnen – sei es in der bürgerlich-rechtsstaatlichen, der institutionellen, der wertorientierten, demokratisch-funktionalen oder sozialstaatlichen Lesart – jeweils nur eine Grundthese eines umfassenden grundrechtlichen Schutzgehalts zum Ausdruck komme.350 Es spreche demgegenüber alles für die Vermutung, dass die Grundrechte auf der Basis einer „Ein-Punkte-Theorie“, ganz gleich welcher, nicht adäquat erfasst werden könnten. Angesichts der Vielfalt und Komplexität dessen, was die Grundrechte regelten, und angesichts der Erfahrung, dass in praktischen Fragen von einigem Gewicht stets ein Bündel widerstreitender Gesichtspunkte zu berücksichtigen sei, könne der Schutz-

344  Für die Soziologie hat das vor allem Luhmann, Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1999, im Anschluss an Parsons herausgearbeitet; zur Grundrechtstheorie auch Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965. 345  Vgl. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, 1989, S. 1308 ff. 346  Im Einzelnen unter D. I. 3. 347  Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, 2001, S. 3. 348  Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 42. 349  Vgl. etwa Münch in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Vorb. Art. 1–19, Rn.  16 ff.; Sachs in: Sachs, GG Kommentar, 2011, vor Art. 1, Rn. 31 ff.; ausführlich Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, §§ 66 ff.; Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004; teilweise kritisch Denninger, in: Denninger et al., Alternativkommentar zum Grundgesetz, 1989, Bd. 1, vor. Art. 1, Rn.  29 ff. 350  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 30 f.

276 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

gehalt der Grundrechte nicht auf ein einzelnes leitendes (materielles) Prinzip zurückgeführt werden, entlang dessen sich eine Systematisierung entfalte.351 Inwiefern kann und muss die Grundrechtsinterpretation also von einer umfassenden Grundrechtstheorie geleitet werden? Und lässt sich unter Zugrundelegung einer solchen Theorie die Anwendung der Grundrechte tatsächlich weiter ‚rationalisieren‘? Dem soll im Folgenden in Auseinandersetzung mit den zwei bedeutendsten grundrechtstheoretischen Ansätzen, welche die Diskussion in Deutschland in den letzten Jahrzehnte geprägt haben, nachgegangen werden: der bereits genannten Abwehrrechtstheorie und der Prinzipientheorie.352 Beide Theorieansätze verfolgen jeweils den Anspruch, ein übergreifendes Verständnis der Grundrechte zu vermitteln, mit dessen Hilfe sich der Prozess der Grundrechtsinterpretation dogmatisch rationalisieren und kontrollieren lassen soll. Es geht also um umfassende Grundrechtstheorien als Anleitung für die dogmatische Systematisierung beziehungsweise Konkretisierung und die Frage nach ihrem Wert für die dogmatische Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation. 2. Die Abwehrrechtstheorie a) Die Abwehrfunktion als ‚klassische‘ Grundrechtsfunktion? Die Abwehrrechtstheorie, auch als liberale, bürgerlich-rechtsstaatliche353, teilweise auch (im Gegensatz zu materiellen Ansätzen) als „formale“354 Grundrechtstheorie bezeichnet, nimmt auch heute noch eine Vorreiterrolle ein. Sie wird häufig als die „klassische“ Grundrechtstheorie oder -funktion 351  Ebd.,

S. 31. Schlink, German Constitutional Culture in Transition, 1993, S. 731 ff. Nicht behandelt wird die institutionelle Grundrechtstheorie, die noch in den 1960er und -70er Jahren einflussreich war, dann aber immer mehr Kritik erfahren hat; zusammenfassend dazu von Münch, in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Vorb. Art. 1–19, Rn. 24; vgl. auch Merten, Handlungsgrundrechte als Verhaltensgarantien – zugleich ein Beitrag zur Funktion der Grundrechte, 1982, S. 109: „Fehlentwicklung“. Zur institutionellen Grundrechtstheorie Häberles oben unter B. III. 4. b) aa). Ein Grund für den Bedeutungsverlust der institutionellen Theorie dürfte neben der im Schrifttum geübten grundsätzlichen Kritik darin liegen, dass sie weitgehend in der Ausgestaltungsfunktion der objektiven Grundrechtsfunktionen aufgegangen ist, dazu näher unter D. I. 3. e); vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 10; umfassend zu den institutionellen Grundrechtsgewährleistungen Mager, Einrichtungsgarantien, 2003. 353  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974, S. 1530 f. 354  Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 55: Liberale, bürgerlichrechtsstaatliche Grundrechtskonzeption ist „klassischer, wenn auch nicht allein denkbarer Typus einer formalen Grundrechtstheorie“. 352  Vgl.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation277

apostrophiert.355 Das ist historisch betrachtet zumindest missverständlich.356 So zeichneten sich die ersten Grundrechtsverbürgungen in den Verfassungsurkunden des deutschen Frühkonstitutionalismus dadurch aus, dass sie auch als richtungsweisende Leitlinien und Impulse für eine schrittweise Modernisierung der alten ständischen Rechts- und Sozialordnung durch den Gesetzgeber fungierten.357 Im Sinne eines umfassenden politischen Reformund Arbeitsprogramms sollten sie grundlegende Rechtspositionen für den sukzessiven Umbau von Staat und Gesellschaft statuieren: „Freiheit war nicht gegen das Gesetz zu schützen, sondern der Fortschritt erfolgte insoweit durch das Gesetz.“358 Wie im historischen Teil der Arbeit gezeigt wurde, kam es erst im Spätkonstitutionalismus, das heißt nach der Etablierung einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, zu einer Konzentration auf den Abwehrcharakter der Freiheitsrechte, der dann unter dem Einfluss des staatsrechtlichen Positivismus weitgehend auf den formalen Vorbehalt des gesetzmäßigen Handelns der Verwaltung reduziert wurde.359 Die herrschende staatsrechtliche Auffassung sah in den Grundrechten keinesfalls klassischerweise subjektive und einklagbare Ansprüche von Einzelnen, sondern lediglich objektiv wirkende Rechtssätze über die Ausübung und Beschränkung der Staatsgewalt.360 Das vom staatsrechtlichen Positivismus geprägte Grundrechtsverständnis blieb auch während der Weimarer Republik lange Zeit361 vorherrschend. Wenn nun im Zuge der antipositivis355  Etwa Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, 1984; Ossenbühl, § 15 Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, 2004, Rn. 45; vgl. auch BVerfGE 7, 198, 204 f.; 21, 362, 369; 50, 290, 336 f.; 61, 82, 101; 68, 193, 205. 356  Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 244 ff., Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 27 ff. 357  Ausführlich Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, 1979; Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung, 1987, S. 202 ff. 358  Pieroth, Geschichte der Grundrechte, 1984, S. 575. 359  Oben unter B. I; vgl. auch Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 230  f.; lesenswert auch aus rechtsvergleichender Perspektive Grimm, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, 1991. 360  Vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1911 (Neudruck der 5. Aufl. 1964), S. 150 f.; zu Laband siehe die Bemerkung von Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 28, Fn. 89, mit Verweis auf Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, 1992, S. 341 ff.; siehe auch oben unter B. I. 1. b). 361  Einer der prominentesten Befürworter der abwehrrechtlichen Lesart der Grundrechte in der Weimarer Republik war Carl Schmitt. Sein Verständnis der Grundrechte als bürgerlich-rechtsstaatliche Abwehrrechte gründete sich allerdings vor allem auf die Abgrenzung gegenüber den sozialen (in Schmitts Diktion: „sozialistischen“) Grundrechten, die ebenfalls Bestandteil des Zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung waren; ausführlich oben unter B. I. 2. b) aa).

278 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

tischen Wende eine Grundrechtsbindung auch des Gesetzgebers gefordert wurde,362 so konnte diese – wie gezeigt – letztlich erst unter dem Grundgesetz durchgesetzt werden. Den Abwehrcharakter der Grundrechte, wie wir ihn heute kennen, als erste oder gar ursprüngliche Grundrechtsfunktion zu bezeichnen, würde daher, wie Horst Dreier resümiert, „bei verfassungshistorischer Betrachtung eine gewaltige Verkürzung“ darstellen.363 Die abwehrrechtliche Lesart betrachtet die Grundrechte als Rechte, die Einzelne gegen Eingriffe des Staates in ihre (prinzipiell vorstaatlich) gedachten Freiheitssphären schützen. Grundrechte errichten normative Grenzzäune für das Handeln der Staatsgewalten, sie sind „negative Kompetenz­ normen“364. Die gesellschaftliche Sphäre wird in diesem Modell als dem Staat gegenüber stehende, vorstaatliche, freie und also gegenüber staatlichen Verwirklichungsansprüchen antagonistische gedacht.365 Vorausgesetzt wird ebenfalls eine strikte Trennung zwischen Recht und Politik. Die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat erfolgt nicht über die Wahrnehmung der Grundrechte, sondern allein über die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger, durch die sich deren politische Partizipation entfaltet. Die Grundrechte als Abwehrrechte greifen erst auf der zweiten Stufe, wenn nämlich der demokratisch konstituierte Staat durch seine Organe handelt und durch dieses Handeln – sei es durch Gesetz, Verwaltungsmaßnahme oder (nach heutigem Verständnis auch) Gerichtsentscheidung366 – gesellschaftliche Freiheitsbereiche verkürzt werden. Dann stellt sich die Frage, ob das jeweilige staatliche Organ für seinen Eingriff in die bürgerliche Freiheitssphäre formell und materiell legitimiert war.367 Der objektive Abwehrcharakter der Grundrechte korrespondiert mit einem (potentiellen) subjektiven Abwehranspruch derjenigen Bürgerinnen und Bürger, in deren Freiheitssphäre durch staatliches Handeln eingegriffen worden ist.

362  Dazu

ausführlich oben unter B. I. 2. Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 32 f. 364  Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S. 368. 365  Zur Entwicklung der kategorialen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im bürgerlichen Verfassungsstaat: Rupp, § 31 Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 2004; kritisch Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 300 ff.; zur (ideen-)geschichtlichen Entwicklung Hofmann, Repräsentation und Herrschaft, 1974, S. 422 ff. 366  Die Drittwirkungskonstellationen werden in der Weise in das System des Abwehrrechts integriert, dass die Entscheidung der Zivil- und Fachgerichte als Eingriffe in die Grundrechte der belasteten Partei angesehen werden, vgl. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, und Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; ausführlich dazu im Folgenden unter C. IV. 2. e). 367  Vgl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 63 ff. 363  Dreier,



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation279

b) Abwehrfunktion als Hauptfunktion des Grundrechtsschutzes Das Modell des bürgerlich-rechtsstaatlichen Abwehrrechts wird heute von vielen in der Weise vertreten, dass die Abwehrfunktion als Hauptfunktion der Grundrechte betrachtet wird,368 daneben jedoch im Sinne der objektiven Dimensionenerweiterung andere Grundrechtsfunktionen wie Leistungs-, Schutz-, Organisations-, Verfahrens und Teilhaberechte Anerkennung finden (die später noch ausführlich behandelt werden).369 Der abwehrrechtlichen Funktion wird insoweit Vorrang zugesprochen, als die übrigen Funktionen eines Grundrechts zur Abwehrfunktion nur dann hinzutreten sollen, wenn sie das Abwehrrecht als Hauptfunktion nicht „modifizieren, verdrängen oder ersetzen“.370 Diesem Verständnis folgt beispielsweise auch das Grundrechtelehrbuch von Pieroth und Schlink, das die Abwehrfunktion als Hauptfunktion zugrunde legt und durch seinen besonders verständlichen und systematischen Aufbau in der juristischen Ausbildung mittlerweile zu einem der bedeutensten Grundrechtslehrbücher in Deutschland avanciert ist.371 Stützen können sich die Befürworter eines Vorrangs der Abwehrfunktion nicht zuletzt auf die berühmte Formel des Bundesverfassungsgerichts im Lüth-Urteil: „Ohne Zweifel“, so heißt es dort, „sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.“372 Eine besondere Bekräftigung hat diese Aussage in jüngerer Zeit unter anderem in der Entscheidung zur polizeilichen Rasterfahndung erfahren. Dort heißt es, die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien bestehe in der generellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, stelle jedoch ihre primäre Bedeutung als Abwehrrechte nicht infrage.373 368  Statt vieler Ossenbühl, § 15 Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, 2004, S. 620 f.; siehe auch Badura, Staatsrecht, 2010, S. 83 f., der auf die hohe aktuelle verfassungspolitische Relevanz der Abwehrfunktion hinweist. 369  Siehe unter D. I. 3. 370  Isensee, § 111 Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, 1992; ebenso Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 67 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 88; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 228. 371  Pieroth et al., Grundrechte, 2014; Pieroth / Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 2009; dazu Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, 2002, S. 22. Der Lehrbuch-Klassiker aus der Smend-Schule, Konrad Hesses „Grundzüge des Verfassungsrechts“, hat wissenschaftlich große Anerkennung gefunden, ist aber nach Hesses Tod nicht fortgeführt worden; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999; vgl. dazu auch oben unter B. III. 4. a) bb); zur Entstehung des Lehrbuchs und seine Bedeutung für die Smend-Schule Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 165 ff. 372  BVerfGE 7, 198 (204 f.); vgl. auch BVerfGE 21, 362 (369); 50, 290 (336 f.); 61, 82 (101); 68, 193 (205); 105, 313 (342). 373  BVerfGE 115, 320 (358) – Präventivpolizeiliche Rasterfahndung.

280 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Ohne Zweifel hat die Abwehrfunktion mit Blick auf Freiheitsgefährdungen, die vom modernen Staat insbesondere bei der Erweiterung von strafoder polizeirechtlichen Eingriffsbefugnissen374 – speziell auch im Zuge der Bekämpfung des internationalen Terrorismus – ausgehen, wieder eine hohe Bedeutung erlangt beziehungsweise diese eigentlich zu keiner Zeit verloren.375 Daraus folgt aber nicht, dass die weiteren Grundrechtsfunktionen gegenüber der Abwehrfunktion generell zurückgesetzt oder weniger bedeutend sind. Aus abwehrrechtlicher Sicht besonders wichtig ist, dass die anderen Grundrechtsfunktionen nicht über die objektive Seite des Grundrechtsschutzes376 gegen das Abwehrrecht ausgespielt werden, etwa indem grundrechtliche Schutzpflichten als immanente Beschränkungen der geschützten Freiheitsbereiche ins Spiel gebracht werden.377 Vielmehr geht es um eine Verstärkung des Freiheitsschutzes.378 Jedenfalls zeigt eine Durchsicht der Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über einen Zeitraum von etwa sechs Jahren379, dass Ent374  Aus der Judikatur seit 2003 insbesondere BVerfGE 109, 279 – Großer Lauschangriff (Abwehrfunktion; Menschenwürdegehalt); BVerfGE 110, 33 – Befugnisse des Zollkriminalamts zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Bestimmtheitsgebot; Abwehrfunktion); BVerfGE 112, 304 – GPS (Bestimmtheitsgebot, Abwehrfunktion: „additiver“ Grundrechtseingriff); 113, 29 – Beschlagnahme von Datenträgern (Abwehrfunktion; Ausstrahlung); BVerfGE 113, 63 – Junge Freiheit (Informationshandeln, Abwehrfunktion); 113, 348 – Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Bestimmtheitsgebot, Abwehrfunktion); BVerfGE 115, 166 – Durchsuchung und Beschlagnahme zum Auffinden von Verbindungsdaten (Bestimmtheitsgebot, Abwehrfunktion); BVerfGE 115, 320 – Präventivpolizeiliche Rasterfahndung (Abwehrfunktion, Ausstrahlung); BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz (Abwehrfunktion; Menschenwürdegehalt); BVerfGE 117, 244 – Durchsuchung und Beschlagnahme bei Presseangehörigen wegen Verletzung eines Dienstgeheimnisses / CICERO (Abwehrfunktion; Ausstrahlung); BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchungen (Schutzgehalt, Abwehrfunktion); BVerfGE 120, 378 – Automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen (Bestimmtheitsgebot, Abwehrfunk­ tion). 375  Vgl. die Beiträge in Arndt et al., Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit – 48. Assistententagung Öffentliches Recht, 2009. 376  Dazu ausführlich unter D. I. 2. 377  So hat der Zweite Senat zur prinzipiellen Rechtfertigung der präventiven Sicherungsverwahrung zu Recht nicht auf eine aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflicht, sondern auf das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit abgestellt, gleichzeitig aber einen „freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug“ unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefordert; siehe BVerfGE 128, 326 (376 ff.). 378  Dass die objektiven Grundrechtsfunktionen eine Verstärkung der Abwehrfunktion bedeuten, hebt Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 35 ff., hervor; ebenso Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 198. 379  Durchgesehen wurden die Bände BVerfGE 111 bis 121.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation281

scheidungen, in denen die Abwehrfunktion im Vordergrund steht,380 sich quantitativ ungefähr die Waage halten mit solchen, in denen andere Grundrechtsfunktionen (Ausstrahlungswirkung, Schutzfunktion, Ausgestaltung, Verfahren und Organisation, Leistungsrecht)381 sowie der allgemeine Gleich­ heitssatz oder spezielle Gleichheitsrechte382 die entscheidenden Prüfungsmaßstäbe sind. Ob damit eine Vorrangstellung des Abwehrrechts in der Praxis begründet werden kann, oder umgekehrt, wie Wahl meint, die objektive Funktion die Abwehrfunktion „an Bedeutung längst überholt“ hat383, ist möglicherweise vor allem eine Perspektivenfrage. Denn in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts überlappen sich die unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen und es ist mitunter bei der Analyse einer Entscheidung nicht klar zu ersehen, auf welche der in der Literatur idealtypisch bezeichneten Grundrechtsfunktionen sich das Gericht letztlich stützt.384 Für eine besonders hervorgehobene Bedeutung oder Vorrangstellung der Abwehrfunktion sprechen allerdings nicht nur, wie Cremer hervorhebt, der „abwehrrechtliche Duktus“385 vieler Grundrechtsnormen, die Schrankenre380  BVerfGE 111,10; 111, 93; 112, 255; 112, 304; 112, 368; 113, 63; 113, 348; 115, 25; 115, 97; 115, 166; 115, 205; 115, 276; 115, 320; 116, 69; 116, 96; 116, 203; 116, 243; 117, 71; 117, 163; 117, 244; 117, 273; 118, 15; 118, 168; 120, 180; 120, 224; 120, 274; 120, 351; 120, 378; 121, 69; 121, 317. 381  BVerfGE 111, 333 (Organisationspflicht); 111, 366 (Ausstrahlungswirkung); 112, 74 (Institutsgarantie, Schutzpflichten); 112, 185 (wirksamer Rechtsschutz); 113, 88 (Ausstrahlungswirkung); 114, 33 (Schutzpflichten); 114, 73 (Schutzpflichten); 114, 339 (Ausstrahlungswirkung); 114, 371 (Organisationspflicht); 115, 25 (Schutzfunktion); 115, 205 (Mehrpolige Grundrechtskonstellation); 116, 203 (Schutzgehalt); 117, 71 (Schutz durch Verfahren); 117, 202 (Schutzpflicht); 118, 45 (Schutzauftrag); 119, 1 (Ausstrahlungswirkung); 119, 181 (Ausgestaltungsauftrag); 119, 309 (objektiv-rechtlicher Auftrag); 121, 30 (Ausgestaltungsauftrag); 121, 175 (Schutzpflicht). 382  BVerfGE 111, 289; 111, 160; 111, 115; 112, 164; 112, 268; 113, 1; 114, 357; 115, 381; 116, 1; 116, 135; 116, 164; 116, 229; 117, 1; 117, 302; 117, 316; 118, 1; 120, 125; 121, 108; 121, 241; 121, 317. 383  Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im interna­ tionalen Vergleich, 2004, S. 763. 384  So beginnen einige der in Fn. 383 genannten Entscheidungen mit einer abwehrrechtlichen Prüfung und behandeln dann – teilweise inzident – die anderen Funktionen. Die Ausstrahlungswirkung wird ebenfalls meist sowohl abwehrrechtlich als auch unter Bezug auf die Lüth-Formel ‚konstruiert‘, dazu oben unter B. II. 4. d) bb). Beispielhaft genannt sei die Kammerentscheidung BVerfG-K, NVwZ 2011, 486 ff., zur gerichtlichen Kontrolle von Qualifikationsentscheidungen für Hochschullehrer, bei der die abwehrrechtliche Dimension (Art. 2 Abs. 1 GG) durch organisations- und verfahrensrechtliche Gewährleistungsgehalte (Art.  19 Abs.  4, Art.  5 Abs. 3 GG) verstärkt wird. 385  Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 68; vgl. auch Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, 1992; zur Entstehungsgeschichte siehe Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, 1999, S. 1506.

282 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

gelungen sowie die dogmatische Ausformung der Prüfprogramme (Vorbehalt des verfassungsmäßigen Gesetzes, Verhältnismäßigkeit)386, sondern auch der Entstehungszusammenhang des Grundrechtskatalogs im Grundgesetz. Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes ist vor dem Hintergrund der Überwindung der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen worden und damit nicht zuletzt als eine Antwort auf den staatlichen Totalitarismus des Dritten Reichs zu verstehen.387 Insoweit ist der Schutz vor Gefahren, die von unbegrenzter staatlicher Machtausübung ausgehen, für die Schutzrichtung der Grundrechte prägend.388 Oft wird in Anlehnung an die Lüth-Formel von einem „Doppelcharakter“389 der Grundrechte gesprochen, mit der Abwehrfunktion auf der einen und den anderen Funktionen, abgeleitet aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte, auf der anderen Seite. Das ist jedenfalls insoweit etwas ungenau, als die verschiedenen Schutzrichtungen wie gesagt in concreto oft ineinander fallen und sich überlappen, eine klare Trennung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen daher Schwierigkeiten bereitet. Mitunter lässt sich ein konkretes Grundrechtsproblem beispielsweise sowohl abwehrrechtlich als auch schutzrechtlich konstruieren.390 c) Rückkehr zum abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis? Die Position Böckenfördes Die hervorgehobene Bedeutung der Abwehrfunktion sowie ihre Komplementarität zu den anderen Gewährleistungsdimensionen kann als weitgehender Konsens in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft angesehen werden.391 Demgegenüber will eine alternative Richtung die Abwehrfunk­ tion zu der zentralen oder sogar einzigen Grundrechtsfunktion aufwerten und damit andere Grundrechtsdimensionen zurückdrängen. Die Wiederbelebung dieser abwehrrechtlichen Lesart, die zunächst vor allem im Umkreis der Schmitt-Schule392 vertreten wurde, setzte interessanterweise Mitte der 386  Zum dogmatischen Programm des Eingriffsabwehrrechts vgl. auch LübbeWolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 25 ff. 387  Vgl. Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, 1989; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1962. 388  Zusammenfassend Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 33. 389  Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, 2001, S. 36; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, S. 127. 390  Zur konstruktiven Einordnung der Drittwirkungsproblematik etwa Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 285 ff. 391  Stellv. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998; Stern, Die Grundrechte und ihre Schranken, 2001. 392  Dazu oben unter B. III. 2. b).



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation283

1970er Jahre ein, als das Bundesverfassungsgericht wesentliche Reformvorhaben der damaligen sozial-liberalen Bundesregierung (Hochschulreform, Liberalisierung des Abtreibungsrechts) teilweise unter Berufung auf seine Werterechtsprechung zu Fall brachte.393 Jedenfalls lässt sich die Debatte, wie so oft in der Staatsrechtswissen­ schaft,394 keineswegs anhand eines Rechts-Links-Schemas verorten. Die Diskurslinien lassen sich besser entlang divergierender verfassungsrechtlicher Grundpositionen bestimmen, die mit den Begriffen Konstitutionalismus und Legalismus umschrieben werden können.395 Während die als konstitutionalistisch bezeichnete Position davon ausgeht, dass Grundrechte einen umfassenden Auftrag zur Gestaltung der Rechts- und Sozialordnung beinhalten und insoweit ein rechtliches Ideal statuieren, betont die legalistische Auffassung die Eigenständigkeit des Gesetzgebers und sieht in der Verfassung lediglich eine „Rahmenordnung“396, zu deren materialer Konkretisierung nur der Gesetzgeber, nicht aber das Verfassungsgericht berufen sei. Die rechtsmethodische Differenz zwischen Konstitutionalismus und Legalismus lässt sich nach Ralf Dreier „dahin formulieren, dass dem Konstitutionalismus ein nicht-positivistischer und dem Legalismus ein positivistischer Rechtsbegriff zugrunde liegt“.397

393  Dezidiert die Kritik bei Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, 1975; ähnlich Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 10 ff. Gegenstand der Kritik von liberalen Verfassungsrechtlern waren neben dem Hochschulurteil BVerfGE 35, 79 und der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch BVerfGE 39, 1 auch das Abhörurteil BVerfGE 30,1, der Radikalen-Beschluss BVerfGE 39, 334 und die Entscheidung zur Wehrpflichtnovelle BVerfGE 48, 127; vgl. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes – Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, 1975; Preuß, Legalität und Pluralismus – Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1973. 394  Allerdings kann eine solche ‚Verortung‘ insofern erfolgen, als es die ‚konservativen‘ Staatsrechtler Schmitt und Forsthoff waren, die gegen die – für den verfassungsrechtlichen Neubeginn in der Bundesrepublik überaus progressive – Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts zu Feld zogen, während eher sozialliberal orientierte Verfassungsrechtler diese Kritik in den 1970er Jahren aufgriffen, als sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Bezugnahme auf die Wertejudikatur gegen liberale und sozialreformerische Maßnahmen (Liberalisierung des Abtreibungsrechts, Hochschulreform, Wehrdienstreform, siehe oben Fn. 395) wandte. 395  Vgl. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, 1991; Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, 1987. 396  Zum Verständnis der Verfassung als Grund- oder Rahmenordnung siehe oben unter B. II. 5. 397  Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, 1991, S. 85, 91.

284 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Das wird besonders deutlich in der Kritik Böckenfördes an der Anerkennung objektiver Grundrechtsgehalte durch das Bundesverfassungsgericht.398 Die Einstufung der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte führt seine grundrechtstheoretische Position konsequent weiter. So zählt Böckenförde zu den Hauptvertretern des Legalismus.399 Seiner Überzeugung nach öffnet die Anerkennung weiterer Grundrechtsfunktionen neben dem Abwehrrecht das Tor für eine Allzuständigkeit des Verfassungsgerichts. Das Ergebnis sei eine Veränderung in der Zuordnung der Gewalten Legislative und Judikative und eine Verlagerung des Schwerpunkts zwischen ihnen. Es vollziehe sich, so meint Böckenförde in der Diktion Carl Schmitts400, ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsrechtlichen „Jurisdiktionsstaat“. Wer die maßgebliche Funktion des vom Volk gewählten Parlaments für die Rechtsbildung festhalten und einen fortschreitenden Umbau des Verfassungsgefüges zugunsten eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates vermeiden wolle, müsse daran festhalten, dass die – gerichtlich einforderbaren – Grundrechte ‚nur‘ subjektive Freiheitsrechte gegenüber den staatlichen Gewalt und nicht zugleich (verbind­ liche) objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts seien.401 In diesem Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung: Böckenförde geht es ersichtlich um die Trennung der Aufgaben des ‚Rechts‘ von denen der ‚Politik‘. Ein Verständnis der Grundrechte als (objektive) Grundsatznormen lehnt er vor allem wegen der damit verbunden umfassenden Konstitu398  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 21 ff.; wiederabgedruckt in Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159 ff. 399  Die Maßstäbe dieser Kritik werden (allein) aus der Abwehrfunktion der Grundrechte im Staat-Bürger-Verhältnis gewonnen. Dies ist, wie Horst Dreier analysiert, tief in Böckenfördes „verfassungs- und staatstheoretischen Grundposition verankert“, die mit folgenden Stichpunkten charakterisiert werden kann: Qualifizierung der Verfassung als einer auf die staatliche Herrschaftsorganisation bezogenen Rahmenordnung, nicht einer Staat und Gesellschaft umfassenden Grundordnung, Festhalten an der Trennung von Staat und Gesellschaft und Bevorzugung eines eher formalen Rechtsstaatsbegriffs; siehe Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 53 f., unter Bezugnahme auf Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S.  29 ff., 42 ff., 47 ff.; Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 209 ff.; Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, 1976. 400  Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932 (4. unveränd. Aufl. 1988); dazu Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 76 f. 401  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 28. Insofern kommt es für Böckenförde (ebd., Fn. 108) gar nicht darauf an, inwieweit sich die inzwischen hervorgetretenen Grundrechtsfunktionen auch im Sinne einer Eingriffsabwehr konstruieren lassen, wie dies etwa bei Schlink, Murswiek und Lübbe-Wolff hervortrete; dazu im Folgenden unter C. IV. 2. d), e). Das betreffe nur ein Konstruktionsproblem, nicht aber das Sachproblem, und sei geeignet, dieses zu verdecken. Ausführlich gegen die Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 81 ff.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation285

tionalisierung402 der Rechtsordnung ab, die für ihn mit einer nicht hinnehmbaren Einschränkung des politischen Gestaltungsspielraums einhergeht. Im Zeichen der objektivrechtlichen Grundsatzwirkung der Grundrechte kommt es nach seiner Auffassung zu einer Annäherung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung. Das Verfassungsgericht werde zu einem stärker politischen Organ und entferne sich von seiner lediglich kontrollierenden Aufgabe.403 Demgegenüber ist zu bedenken, dass die Reduktion der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion ein Übergreifen ‚des Politischen‘ in das Verfassungsrecht nicht verhindert;404 es vermag dieses sogar in einem gewissen Sinn zu befördern. Denn die Begrenzung der grundrechtlichen Wirkungsmacht erfolgt mit der Abwehrfunktion nur in eine Richtung des Freiheitsschutzes: sie wird immer wirksam, wenn der Staat handelt, um in die gesellschaftliche Sphäre des status quo einzugreifen. Schlink hat das differenziert dargelegt. Das Eingriffs- und Schrankendenken könne, so stellt er fest, zur Sicherung gesellschaftlicher Besitzstände und Machtansprüche eingesetzt werden: Wenn die grundrechtliche Freiheit dem Staat derart vorausliegt, dass rechtfertigungsbedürftig nicht ihr Gebrauch durch den Bürger, sondern ihre Einschränkung durch den Staat ist, dann werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen das Verhalten der Bürger jeweils gerinnt, zunächst einmal vorausgesetzt. Dann ist rechtfertigungsbedürftig nicht die Erhaltung, sondern die Veränderung des gesellschaftlichen status quo. Dieser kann dadurch das Flair des Selbstverständlichen und Naturgegebenen erhalten, und Machtpositionen und -chancen können dargestellt und wahrgenommen werden, als seien sie nicht gesellschaftlich vermittelt und staatlich unterfangen, sondern dem Einzelnen ursprünglich zugehörig, Essentiale seiner abgesteckten und abwehrbereiten Grundrechtssphäre, in der die anderen, die Gesellschaft und der Staat eigentlich nichts verloren haben.405

Dass sich diese Gefahr der status quo-Wahrung im gerade klassisch liberalen Grundrechtsdenken realisieren kann, ist nicht nur historisch etwa in der Grundrechtslehre von Carl Schmitt zu erkennen, die besitzwahrende und sogar antidemokratische Tendenzen aufwies.406 Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat insbesondere die Anwendung der grundrechtlichen Abwehrfunktion zu Entscheidungen geführt, die den Gestal402  Vgl. oben unter B. II. 5.; aus der Literatur etwa Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007. 403  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 24 f. 404  Auf die notwendig (mittelbar) politische Natur verfassungsgerichtlicher Entscheidungstätigkeit hat bereits Leibholz im Statusbericht hingewiesen, siehe oben unter B. II. 2. c) und B. II. 3. b) aa). 405  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 463. 406  Dazu unter B. I. 2. b) aa); vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S.  32 f.

286 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

tungsspielraum des Gesetzgebers in relevanten sozialpolitischen Bereichen deutlich einschränkt haben. Als Beispiel seien nur die Ausgestaltungsanforderungen an die Vermögensbesteuerung (Sollertragssteuer) und das Postulat eines „Halbteilungsgrundsatzes“ als oberste Belastungsgrenze genannt.407 Auf diesem Weg sind steuerpolitische Vorhaben, die eine stärkere Umverteilung von Vermögenswerten zum Ziel haben, für einen beachtlichen Zeitraum verhindert worden.408 Während das multifunktionale Grundrechtsverständnis somit dahin tendiert, den Grundrechtsschutz in alle Richtungen auszubauen und damit ubiquitär werden zu lassen,409 begrenzt ihn die klassisch-liberale Lesart auf eine Funktion, die staatliche Maßnahmen nur unter dem Aspekt eines Eingriffs in die gesellschaftliche Freiheitssphäre betrachtet. Sie kann damit ebenso politisch wirken, indem sie etwa zur Abwehr gegen sozialstaatliche Maßnahmen des Staates eingesetzt wird, die nach einer materialen Betrachtungsweise gegebenenfalls als freiheitsfördernd, weil chancenerweiternd anzusehen wären. d) ‚Rekonstruktion‘ des Abwehrrechts? Der dogmatische Ansatz bei Schlink Eine Rückbesinnung auf ein liberal-abwehrrechtliches Verständnis unter vollständigem Verzicht auf weitergehende Grundrechtsgehalte wird heute kaum noch vertreten. Eine Richtung in der Tradition abwehrrechtlichen Denkens betreibt vielmehr eine „Rekonstruktion“410 des Eingriffsabwehrrechts in der Weise, dass verschiedene grundrechtsdogmatische Funktionen beziehungsweise Dimensionen wie etwa die Ausstrahlungswirkung411, Schutzpflichten412 oder die Begründung partieller Leistungsrechte413 in das 407  So geschehen als obiter dictum in BVerfGE 93, 121 (138) – Einheitswerte Vermögensteuer; zur abwehrrechtlichen Begründung Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, 2000, S. 459 f.; gegen die Begrenzung auf eine Sollertragssteuer auch Wieland, Rechtsgutachten: Rechtliche Rahmenbedingungen für eine Wiedereinführung der Vermögensteuer, 2003. 408  Anders nunmehr BVerfGE 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz; kritisch zur Steuerrspr. des Bundesverfassungsgerichts auch Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 250 f. 409  Dazu unter D. I. 1. b). 410  Beginnend mit Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984; die Entwicklung beschreibt und kritisiert ausführlich Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991. 411  Vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977; Schwabe, Drittwirkung der Grundrechte, 1971; jetzt auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003. 412  Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S.  61 ff.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation287

‚System‘ des Abwehrrechts integriert werden sollen. Dahinter steht die Idee, Teile aus dem Bestand der in der Rechtsprechung entwickelten und anerkannten Grundrechtsfunktionen auf die einheitliche Abwehrrechtstheorie zurückzuführen und damit der „Inflation“ neuer theoretischer Konstruktionen systematisch Einhalt zu gebieten.414 Hier spielen nicht so sehr Vorbehalte gegen ein sozialstaatliches Freiheitsverständnis eine Rolle, wie es noch bei der überkommenen liberalen Grundrechtstheorie der Fall war.415 Es geht vor allem um die einheitliche und rationale Grundrechtsanwendung und deren Begrenzung. Dabei bestreiten die Vertreterinnen und Vertreter dieser Richtung von vornherein nicht, dass Freiheitsverwirklichung nicht nur des Schutzes vor staatlicher Macht(ausübung) bedarf, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen voraussetzt, die durch die Rechtsordnung gesichert werden müssen. Sie behaupten aber, dass der notwendige Schutz entweder im politischen Raum zu erstreiten und über die Gesetz­ gebung zu gewährleisten sei – also nicht über die justizielle Kontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit – oder aber dogmatisch ausreichend über die negatorische Funktion der Grundrechte erfasst und bewältigt werden könne.416 413

Die theoretisch ambitionierteste (Re-)Konstruktion des abwehrrechtlichen Verständnisses in diesem Sinn hat in Bezug auf die Grundrechte des Grundgesetzes Schlink417 vorgelegt. In seinem Ansatz kommen die Prämissen und Konsequenzen des abwehrrechtlichen (negatorischen) Grundrechtsverständnisses deutlich zur Geltung; er soll daher der folgenden Betrachtung zugrunde gelegt und kritisch analysiert werden. Grundrechte als Abwehrrechte finden dann Anwendung, wenn der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet ist und ein staatlicher Eingriff418 vorliegt. Der Staat muss also tätig geworden sein und durch seine Aktivität Freiheitssphären der Bürger verkürzen. Die meisten Grundrechte enthalten für diesen Fall einen Gesetzesvorbehalt, der besagt, dass der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen muss. Dies war, wie Schlink hervorhebt, historisch betrachtet „die politische Errungenschaft des Bürgertums 413  Lübbe-Wolff,

Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 222 ff. Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 96 f. 415  Zusammenfassend Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 222. 416  Vgl. dazu ebd., S. 232. 417  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984. 418  Der Eingriffsbegriff wird in der Rechtsprechung und Literatur heute deutlich weiter gefasst und erstreckt sich auch auf die intendierten und in Kauf genommenen Wirkungen einer staatlichen Maßnahme, ausführlich Lindner, „Grundrechtseingriff“ oder „grundrechtswidriger Effekt“?, 2004, S. 767 ff.; von Arnauld, Freiheitsrechte, 1999, S.  90 ff. 414  Poscher,

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aus seinem Kampf mit der Krone“.419 Eine der wichtigsten Errungenschaften des Grundgesetzes ist die unmittelbare Bindung aller Staatsgewalten, also auch der Legislative, an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG).420 Damit können sich die Grundrechte auch nach dem abwehrrechtlichen Verständnis nicht mehr im Vorbehalt des Gesetzes erschöpfen. Sie enthalten inhaltliche Vorgaben. Der Vorbehalt des Gesetzes ist daher zum Vorbehalt des verfassungsmäßigen Gesetzes geworden.421 Wie aber lässt sich diese grundrechtliche Bindung unter dem Grundgesetz aus einer liberal-abwehrrechtlichen Sicht (re)konstruieren? Eine erste wesentliche Eingriffsbeschränkung bieten nach Schlink die sogenannten qualifizierten Gesetzesvorbehalte422, wie sie etwa in Art. 5 Abs. 2, Art. 6 Abs. 3 oder Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 11 Abs. 2  GG enthalten sind. Diese statuieren eine Bindung des Gesetzgebers, indem sie bestimmte Zwecke und Mittel bei Eingriffen in einzelne Grundrechte ge- oder verbieten und zugleich verlangen, dass das Gesetz beziehungsweise die Maßnahme, zu der es ermächtigt, zur Erreichung des grundrechtlich erlaubten Zwecks tatsächlich taugen.423 Allerdings sind die qualifizierten Grundrechtsvorbehalte des Grundgesetzes von „recht unterschiedlicher Gestalt und Wirkung“424. So beinhalten die meisten Grundrechtsbestimmungen größtenteils gar keine oder lediglich solche Schrankenqualifizierungen, die nur auf einzelne Eingriffskonstellationen anwendbar425 oder ebenso allgemein wie konkretisierungsbe419  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 457. Vgl. etwa Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1911 (Neudruck der 5. Aufl. 1964), S. 151 f., Fn. 2, und Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1924, S. 70 f. Mit der in den 1870er Jahren allgemein eingeführten Verwaltungsgerichtsbarkeit konnten von den Bürgern Entscheidungen zum Umfang der gesetzlichen Gebundenheit der Verwaltung eingeholt werden; dazu Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 297 f. Berühmt wurde das Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1882, das die polizeilichen Befugnisse auf die Gefahrenabwehr beschränkte; das Urteil ist (wieder-)abgedruckt in DVBl. 1985, 219. 420  Vgl. oben unter B. II. 1; ausführlich auch Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 481 ff.; vgl. auch Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 3, Rn. 8 (Lfg. Mai 2009); Denninger, in: Denninger et al., AK-GG, 1989, Bd. 1, vor Art. 1, Rn. 4 ff. 421  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984 S. 457; vgl. auch Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, 1989, S. 3184. 422  Vgl. Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 266 f. 423  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 459. 424  Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 214  f., der zwischen formellen und materiellen Anforderungen differenziert. 425  So bezieht sich beispielsweise Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG allein auf Beschränkungen, die „dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“ dienen.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation289

dürftig sind (zum Beispiel Art. 5 Abs. 2 GG: „allgemeine Gesetze“426). Damit ist ihre praktische Relevanz, wie bereits dargelegt,427 im Rahmen des Grundrechtsschutzes gering. Nur in ganz seltenen Fällen scheitert ein einschränkendes Gesetz oder eine Maßnahme, weil sie von dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Grundrechts nicht gedeckt sind.428 Problematisch sind für das abwehrrechtliche Denken auch die vorbehaltlosen Grundrechte, jedenfalls dann, wenn man mit Schlink eine Rechtfertigung von Eingriffen durch andere, kollidierende Verfassungs(rechts)güter – als Ausfluss der objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte – ablehnt.429 Die insoweit vorgeschlagene Lösung einer engen Fassung des Schutzbereichs stößt dabei vor allem auf zwei Schwierigkeiten: Zum einen beruht nahezu jede Restriktion von Gewährleistungen auf einer problembezogenen Abwägung unterschiedlicher Belange. Die enge Definition des Schutzbereichs verlangt hier jedoch starre Lösungen, die in der Praxis dazu führen, dass entweder tatbestandsimmanente Ausnahmen eingefügt oder wesentliche, jedoch von einem engen Schutzgehalt her gesehen nur noch periphere Freiheitsgefährdungen aus dem Grundrechtsschutz ausgeklammert werden (müssen). Letztlich wird die unausweichliche Abwägung dann innerhalb des Schutzbereichs selbst vorgenommen.430 Mindestens ebenso gewichtig ist ein zweiter Einwand: Wenn gerade die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, denen der Verfassungsgeber offensichtlich eine besondere Effektivität 426  Dazu, insbesondere zur Sonderrechtslehre des gleich lautenden Art.  118 Abs. 1 Satz 2 WRV Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 633 ff. 427  Siehe oben unter C. I. 4. c). 428  Vgl. zum Vorbehalt des „allgemeinen Gesetzes“ in Art. 5 Abs. 2 GG BVerfGE 28, 282 (292); 39, 334 (367) zur politischen Mäßigungspflicht von Soldaten; BVerfGE 47, 198 (232); 69, 257 (268 f.) zur Strafbarkeit der Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole; BVerfGE 93, 266 (291) zur Strafbarkeit wegen Beleidigung; BVerfGE 90, 241 (251); 111, 147 (155) zur Volksverhetzung; zuletzt BVerfGE 124, 300 (321 ff.) – Wunsiedel: An der Allgemeinheit des einschränkenden Gesetzes im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG soll es fehlen, wenn eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet. Dies ist nach dem Bundesverfassungsgericht anhand von Indizien zu ermitteln, etwa wenn sich die Verbotsnorm als Antwort auf einen konkreten Konflikt des aktuellen öffentlichen Meinungskampfes darstellt und faktisch nur gegenüber einer bestimmten meinungsmäßigen Gruppe zur Anwendung kommt. Entscheidend sei eine „Gesamtsicht“. Von dem Erfordernis der Allgemeinheit meinungseinschränkender Gesetze soll dann allerdings wiederum eine „Ausnahme“ zu machen sein für Vorschriften, die auf die Verhinderung der Propaganda der menschenverachtenden NS-Gewaltund Willkürherrschaft zielen. 429  Vgl. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 464 f. 430  Überzeugend die Kritik von Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 278 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007, S. 252 ff.; näher dazu unter D. II. 1. b).

290 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

und Wehrhaftigkeit zusprechen wollte,431 von ihrem Schutzgehalt her eng interpretiert werden (betroffen wären insbesondere Art. 4 Abs. 1, 2 GG, Art. 5 Abs. 3 GG), dann würde dies im Ergebnis zu einer spürbaren Verminderung der praktischen Relevanz dieser Grundrechte führen, da wesentliche Handlungen der Grundrechtsträger von ihrem Schutz a priori nicht erfasst wären.432 Damit wären Inkompatibilitäten gegenüber solchen Grundrechten verbunden, die einem allgemeinen Gesetzes- oder Ausgestaltungsvorbehalt unterliegen und damit in ihrem Schutzbereich weit interpretiert werden können (beispielsweise Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG). Hier müsste also erneut auf konstruktivem Weg eine Harmonisierung gesucht werden.433 Die Idee der Verfassungsgeber, den Schutz der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte gegenüber den Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt zu stärken, würde durch die Einschränkung ihres Schutzbereiches und die damit verbundene geringere praktische Relevanz geradezu in das Gegenteil verkehrt. In der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, in der Grundrechtsverletzungen im engeren (Kern-)Bereich grundrechtlicher Freiheitsausübung selten geworden sind, wäre eine enge Schutzbereichsbestimmung unweigerlich mit einem realen Bedeutungsverlust der betroffenen Grundrechte verbunden. Die somit entstehenden Lücken in der Gewährleistung des Grundrechtsschutzes könnten letztlich wohl nur durch eine extensive Heranziehung des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG geschlossen werden, was eine Verlagerung des spezifischen Grundrechtsschutzes in dessen allgemeinen Auffangtatbestand zur Folge hätte. Es käme dann zu auch konstruktiv wenig überzeugenden Lösungen, in denen gegebenenfalls über das Auffanggrundrecht eine Inzidentprüfung des spezifischen Grundrechts stattfindet.434

431  Zur Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG siehe JöR Bd. I (1951), S. 73  ff. Die enge Verbindung der Glaubensfreiheit in Art. 4 Abs. 1, 2 GG zur Menschenwürde betonen die grundlegenden Entscheidungen BVerfGE 24, 236 (245 f.) – Aktion Rumpelkammer; 32, 98 (107 f.) – Gesundbeter; 33, 23 (29 f.) – Eidesformel. Über den Weg der Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern werden Konflikte in einem grundrechtlich besonders sensiblen Bereich wie der Religionsfreiheit zu originären Verfassungskonflikten; kritisch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Art. 4, Rn. 89 ff., 111 ff. (Lfg. November1988). 432  Dagegen jetzt wiederum dogmatisch umfassend Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte – Stellung und Funktion vorbehaltloser Freiheitsrechte in der Verfassungsordnung, 2006. 433  Zur engen Tatbestandstheorie unter D. II. 1. b). 434  Ausführlich dazu unter D. II. 1. b).



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation291

e) Erweiterung des Eingriffsbegriffs und reflexives Grundrechtsverständnis, insbesondere mit Blick auf Privatrechtskonstellationen Der Versuch, unterschiedliche Grundrechtsfunktionen in der Abwehrrechtstheorie aufzufangen, lässt sich nur mit einer Ausdehnung der begrifflichen Konstruktionen dieser Theorie erreichen. Weitet man den Eingriffsbegriff derart aus, dass etwa auch ein staatliches Unterlassen des grundrechtlich gebotenen Schutzes gegenüber Dritten einen Eingriff darstellt, dann ‚passen‘ auch die Schutz- und Leistungspflichten in das EingriffsAbwehr-Schema. Ein solcher Eingriff durch Unterlassen soll nach Murswiek sogar vorliegen, wenn das Schutzgut noch gar nicht beeinträchtigt ist, aber die Gefahr seiner Beeinträchtigung besteht, sodass der Staat zur Vorsorge verpflichtet ist.435 Letztlich aber wird damit die Begründung unterschiedlicher Grundrechtsfunktionen nur in den Eingriffsbegriff hinein verlagert, der auf verschiedenste Formen nicht finaler Eingriffe ausgedehnt wird. Es stellt sich dann die Frage, was mit diesem konstruktiven Kunstgriff im Hinblick auf dogmatische Rationalität tatsächlich gewonnen ist. Schließlich war gerade die Ausweitung des Eingriffsbegriffs zuletzt deutlicher Kritik ausgesetzt.436 So besteht zweifellos die Gefahr, dass gerade die Eingriffsdogmatik durch ihre Überlastung konturenlos wird. Der Gewinn einer „abwehrrechtlichen Rekonstruktion“ würde sich mehr oder weniger im Postulat einer Drei-Schritt-Prüfung aus Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung auflösen. Einen umfassenden Ansatz zur (Re-)Konstruktion des Abwehrrechts hat Poscher entwickelt.437 Er postuliert ein modernes Verständnis des Abwehrrechts, das dieses methodisch anschlussfähig machen soll. Hierfür legt er einen Schwerpunkt darauf, die Grundrechte als reflexive Rechte zu verstehen. Mit der Reflexivität der Grundrechte ist dabei gemeint, dass die Abwehrrechte sich ausschließlich gegen den regelnden Staat richten: „Sie regeln Konflikte, die in der Gesellschaft auftreten, nicht unmittelbar selbst. Unmittelbar binden die Grundrechte den Staat dagegen nur bei der Regelung von Konflikten, die grundrechtlich geschützte Freiheits- und Gleichheits­ interessen der Grundrechtsträger berühren.“ Im Sinne Poschers liegt ihr 435  Vgl. Murswiek, Staatliche Verantwortung, 1985, S. 127 ff.; eine Begründung über die (objektive) Schutzfunktion findet sich indes bei BVerfGE 49, 89 – Kalkar I; BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich. 436  Vgl. die größtenteils skeptischen Wortbeiträge zur von den Referenten Bethge und Weber-Dürler vorgeschlagenen Ausweitung des Eingriffsbegriffs in VVDStRL 1998, S. 101 ff.; vgl. auch oben unter C. III. 3, Fn. 333. 437  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; die folgende Analyse beruht auf der bereits veröffentlichten Besprechung Wrase, Rezension: Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte – Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2004.

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reflexiver Charakter darin, dass sie die rechtliche Regelung von Konflikten regeln: „Sie sind Normen über Normen“.438 Über die Reflexivität sind Grundrechte als Abwehrrechte vor allem bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen relevant, in denen „der Staat durch regelnden Eingriff in die Rechte des einen Grundrechtsträgers dessen Verhältnis zu einem anderen Grundrechtsträger gestaltet“439. Diese Konstellation ist klassischerweise im Privatrecht anzutreffen. Poscher legt dar, dass sich die sogenannte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis abwehrrechtlich erfassen lässt, wenn die Reflexivität der Grundrechte beachtet wird.440 Der Staat ist aufgrund seines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols dazu verpflichtet, die Interessenkonflikte der Grundrechtsträger untereinander zu regeln. Eine solche Regelung ist aber immer mit einem Grundrechtseingriff verbunden, da zumindest die Freiheit eines Rechtsunterworfen beschränkt wird. Dies illustriert Poscher unter anderem an einem bekannten Fall aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der einen mietrechtlichen Streit um die Anbringung einer Satellitenempfangsanlage durch einen Mieter betrifft.441 In der vom Bundesverfassungsgericht behandelten Konstellation wird der Eigentümer durch die Rechtsprechung der Zivilgerichte gezwungen, die Installation der Empfangsanlage durch den Wohnungsmieter ausländischer Herkunft zu dulden. Darin liegt ein Grundrechtseingriff zu Lasten des Eigentümers. Würde eine solche Duldungspflicht aber verneint, so müsste eine Regelung in Richtung auf eine Unterlassungspflicht des Mieters erfolgen. Der Grundrechtseingriff läge dann auf der Seite des Mieters.442 Wie das Recht auch entscheidet, sei es zugunsten des Eigentümers, sei es zugunsten des Mieters, in jedem Fall sind die Grundrechte betroffen, in jedem Fall liegt ein Eingriff in die Rechte des einen oder anderen Grundrechtsträgers vor. Vor diesem Hintergrund stellt die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte nichts anderes dar als eine verfassungsorientierte Auslegung des einfachen Rechts. Diese Feststellung beschränkt Poscher nicht allein auf das Privatrecht, sondern bezieht sie auch auf andere Dreieckskonstellationen etwa im Rahmen von drittbelastenden Genehmigungsverfahren, im Strafrecht oder bei Konkurrenzsituationen.443 Es stellt sich die Frage, ob die Erfassung derartiger Drittwirkungskonstellationen im Rahmen eines abwehrrechtlichen Verständnisses gegenüber der 438  Poscher,

ebd., S. 2. S. 153. 440  Vgl. bereits Schwabe, Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 441  BVerfGE 90, 27 – Parabolantenne, st. Rspr., zuletzt etwa BVerfG-K, NJW 2013, 2180. 442  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 187 f. 443  Ebd., S.  289 ff. 439  Ebd.,



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation293

im Lüth-Urteil begründeten Konstruktion über die objektive Ausstrahlungswirkung echte Vorteile bietet und nicht selbst wiederum eigene dogmatische Probleme produziert. Das ist aber zu befürchten. So muss Poscher den Vorbehalt des Gesetzes in konsequenter Anwendung seines theoretischen Ansatzes auch auf das Privatrecht beziehen.444 Das bedeutet, die Zivilgerichte dürften nach seinem Verständnis einen privatrechtlichen Konflikt nur entscheiden, wenn sie sich für ihre Entscheidung auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage stützen können. Diesem Vorbehalt des Gesetzes sollen dann zwar unter Umständen auch die zivilrechtlichen Generalklauseln genügen. Es erscheint allerdings fraglich, welchen rechtsstaatlichen Nutzen ein soweit gefasster Vorbehalt des Gesetzes – mit Blick auf die Zwecke des Gesetzesvorbehalts – im Privatrecht überhaupt erfüllen kann. Die Generalklauseln jedenfalls können schon wegen ihrer Weite und Unbestimmtheit („Sittenwidrigkeit“, „Treu und Glauben“, „Verletzung eines sonstigen Rechts“) kaum die notwendige Begrenzungsfunktion entfalten.445 Dem lässt sich auch nicht mit dem Einwand begegnen, das Bürgerliche Recht würde nur wenige Generalklauseln enthalten und ansonsten eine hohe Regelungsdichte aufweisen. Denn dies lässt außer Betracht, dass der größte Teil etwa der vertraglichen Inhaltskontrolle über die Generalklauseln der §§ 138, 242, 307 BGB erfolgt, die das Bundesverfassungsgericht gerade in seinem Lüth-Urteil im Anschluss an Dürig als Einfallstore der Drittwirkung hervorgehoben hat,446 und auch das Deliktsrecht durch die wenig bestimmte Zentralnorm des § 823 BGB beherrscht wird. In der Praxis kommt gerade diesen Vorschriften überragende Bedeutung zu, etwa in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zur Presse- und Meinungsfreiheit im Verhältnis zum Persönlichkeitsschutz, die das Bundesverfassungsgericht maßgeblich beeinflusst hat.447 Weiter bleibt unklar, wie in dem Fall verfahren werden soll, dass für die Entscheidung eines privatrechtlichen Rechtsstreits keine einfach-rechtlichen Vorschriften vorhanden sind. So hat das Bundesverfassungsgericht für das in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich garantierte Arbeitskampfrecht die Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes mit guten Gründen verneint.448 444  Ebd.,

S.  321 ff. entsprechenden Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf staatliches Informationshandeln oben unter C. III. 3. 446  Siehe oben unter B. II. 4. d) bb). 447  Grdl. BVerfGE 7, 198 – Lüth; aus der Rspr. vgl. nur BVerfGE 54, 208 – Böll; BVerfGE 60, 234 – Kredithaie; BVerfGE 61, 1 – NPD Europas; BVerfGE 66, 116 – Springer / Wallraff; BVerfGE 85, 1 – Kritische Bayer Aktionäre; BVerfGE 86,1 – Titanic / ‚geb. Mörder‘; BVerfGE 94, 1 – DGHS; BVerfGE 114, 339 – Stolpe; dazu ausführlich unter E. I. 1. c) bb). 448  Grdl. BVerfGE 84, 212 (226) – Aussperrung: „Im vorliegenden Fall geht es jedoch um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger. Zwar hat das Bundes445  Zur

294 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Schließlich sind die Gerichte aufgrund des Gewaltmonopols und des Justizgewährleistungsanspruchs verpflichtet, den ihnen vorgelegten Rechtsstreit zu entscheiden. Wie aber sollen sie urteilen, wenn eine gesetzliche Regelung im positiven Recht nicht aufzufinden ist? Im öffentlichen Recht wäre der Fall klar: Eine staatliche Maßnahme, die ohne ausreichende Gesetzesgrundlage in Freiheitsrechte Einzelner eingreift, ist unzulässig. Im Streit zwischen Privaten kann es aber eine solche Entscheidungsregel nicht geben, da die Entscheidung, wie gesehen, immer zulasten eines Grundrechtsträgers erfolgt.449 Insgesamt zeigt die Analyse, dass die konstruktive Einbeziehung weiterer Bereiche des Grundrechtsschutzes wie die Ausstrahlungswirkung im Privatrecht durchaus nicht so problemlos zu bewältigen ist, wie es die Befürworter eines abwehrrechtlichen Ansatzes behaupten. Die Erweiterung der Abwehrfunktion, etwa auch um eine Leistungskomponente, bei der die (Nicht-) Leistung oder Leistungseinschränkung als Eingriff zu werten wäre, zieht dogmatische Anpassungserfordernisse nach sich.450 Auf der anderen Seite lassen sich die im Rahmen der Abwehrfunktion etablierten dogmatischen Sicherungsmechanismen, wie etwa der Vorbehalt des Gesetzes, wie gezeigt, nicht ohne Weiteres auf Problemkreise übertragen, die bislang von anderen Grundrechtsfunktionen abgedeckt werden. Der tatsächliche dogmatische Rationalitätsgewinn einer rein oder primär abwehrrechtlichen Lesart der Grundrechte ist damit gerade nicht erwiesen. Hinzu kommen grundrechtstheoretische Zweifel, ob ein abwehrrechtliches Verständnis, sollte es mehr als ein dogmatisches Schema beinhalten, mit einem materialen Freiheitsverständnis vereinbar ist, das auch die realen Bedingungen des Freiheitsgebrauchs einbezieht. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.

verfassungsgericht mehrfach geäußert, es sei ‚Sache des Gesetzgebers‘, die Koalitionsfreiheit näher auszugestalten […] Folgerungen für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Koalitionen ergeben sich daraus aber nicht. Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre […]. Nur so können die Gerichte die ihnen vom Grundgesetz auferlegte Pflicht erfüllen, jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden“; vgl. auch unter D. I. 3. e), S. 351 f. 449  So auch BVerfGE 84, 212 (226). 450  Vgl. zur Konstruktion von Leistung und Leistungsbeschränkung als Grundrechtseingriff Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S.  205 ff.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation295

f) Abwehrrechtliches Grundrechtsverständnis und soziale Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit Das Verständnis der Grundrechte als (Eingriffs-)Abwehrrechte sah sich in der grundrechtstheoretischen Diskussion lange Zeit dem Einwand ausgesetzt, es sei relativ blind gegenüber der Angewiesenheit der Einzelnen auf staatliche Leistungen, Teilhabe, Organisation und Verfahren als Voraussetzung realer, das heißt tatsächlich in sozialen Zusammenhängen gelebter Freiheit.451 Auf eine entsprechende Verengung des Schutzkonzepts weisen bereits Genese und historische Entwicklung des (formal)liberalen Grundrechtskonzepts hin.452 Das liberale Grundrechtsverständnis, so wird bemängelt, übersehe die Gefahren, die für die Selbstbestimmung der Einzelnen von der Machtausübung Privater ausgehen. Negatorisch verstandene Freiheitsrechte führten lediglich bei gesellschaftlichem Kräftegleichgewicht zum Ziel eines gerechten Interessenausgleichs. Bei realem Ungleichgewicht schlage formal gleiche Freiheit de facto in Ungleichheit, also das Recht des Stärkeren um. „Staatsbegrenzung ist dann nicht mehr mit realer Freiheit identisch.“453 Unbestritten dürfte sein, dass in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die Möglichkeit zur selbstbestimmten Grundrechtsausübung nicht allein davon abhängt, dass die gesellschaftliche und private Freiheitssphäre vor staatlichen Eingriffen geschützt wird. Vielmehr bedarf es einer freiheitsfördernden Ausgestaltung454 der entsprechenden Lebensbereiche durch staatliche Regulierung oder andere Maßnahmen wie Bereitstellung von Einrichtungen, Mitteln oder organisatorischer Vorkehrungen.455 Folge dieser Erkenntnis war gerade, wie bereits dargelegt,456 die zunehmende Ma451  Zu unterschiedlichen Freiheitsbegriffen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 111 ff.; Poscher unterscheidet zwischen negativer, positiver, realer normgeprägter und natürlicher sowie politischer Freiheit, ohne allerdings in Abrede zu stellen, dass diese Differenzierungen nicht mehr als konstruktive Idealtypen sind; zur Konstruktion des Leitbildes vom „liberalen Staat“ und seinem rechtsstaatlichen Freiheitsverständnis siehe Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006, S. 112 f. 452  Dazu Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 225 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 27 ff. m. w. N. 453  Grimm, ebd., S. 229. 454  Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 16 ff.; umfassend Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005. 455  Ausführlich Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 52  ff.; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 36 ff.; auch Mahlmann, Ethische Grundrechtstheorie, 2005, S. 370 f.; Axer, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, 2009, S. 190 f.; für ein sozialstaatlich-leistungsrechtliches Grundrechtsverständnis: Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, 1971, S. 80 ff.; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, 1972, 28 ff. 456  Oben unter B. II. 4.

296 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

terialisierung und funktionale Ausdifferenzierung des Grundrechtsschutzes.457 Aufgrund ihrer Fokussierung der Schutzrichtung grundrechtlicher Freiheit gegen ‚den Staat‘ kann – so lautet im Kern die Kritik – die Abwehrrechtstheorie (allein) die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit nicht adäquat erfassen, auch wenn sie versucht, unterschiedliche grundrechtliche Schutzbedürfnisse in ihre Dogmatik aufzunehmen.458 Der Kritik begegnen die Befürworter des abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnisses, indem sie auf die Aufgabe des Gesetzgebers zur Sozialgestaltung und das Sozialstaatsprinzip als deren normative Verankerung in der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 GG) verweisen. So meint Schlink, dass, wenn das Eingriffs- und Schrankendenken dem demokratischen Gesetzgeber die Entscheidung über politische Prioritäten und Präferenzen überlasse, es keineswegs die Veränderung der Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit in der modernen Gesellschaft leugne, sondern nur die Aufgaben zwischen Recht und Politik unterschiedlich verteile: Der gesetzgeberische Ausbau staatlicher Leistungen, die Gewährung von Leistungsrechten, die Gestaltung von Organisationen, die Einrichtung von Verfahren und Sicherung von Verfahrenspositionen geschehen natürlich nicht beliebig, sondern gerade in Reaktion auf die Abhängigkeit des Einzelnen von solchen Vorkehrungen und aus der Notwendigkeit, seine Existenz und Freiheit durch sie zu ermöglichen. Das Eingriffs- und Schrankendenken sieht freilich dies alles nichts von seiner Bedeutung dadurch verlieren, dass es politisch erstritten werden muß.459

Ähnlich meint Böckenförde, das Grundgesetz habe zwar die Grundrechte als rechtsstaatliche Freiheitsgewährleistungen im Sinne von Abwehrrechten ausgestaltet, dabei aber das zentrale Problem der liberalen Grundrechts­ theorie, „die relative Blindheit gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit“ keineswegs übersehen.460 Vielmehr habe es dieses „aufgenommen und durch die Festlegung des Sozialstaatsauftrags als eines verbindlichen, dem Rechtsstaat nebengeordneten Verfassungsprinzips einer positiven Lösung zugeführt“.461 Nach dem Sozialstaats457  Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn, 214, 290 ff.; siehe auch Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 58 f., der darauf hinweist, dass es an einer „konsistenten Grundrechtstheorie, die die Realisierungsbedingungen individueller Freiheit in modernen Gesellschaften verarbeitet, noch fehlt. Ohne sozialwissenschaftliche Hilfe ist sie nicht zu leisten“, ebd., S. 59 a. E. 458  Eine ausführlich Auseinandersetzung mit der Eingriffsabwehrtheorie unter diesem Aspekt findet sich bei Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S.  29 ff. 459  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 465. 460  Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1974, S. 1538. 461  Ebd., S. 1538.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation297

prinzip sei der Staat zur Intervention in die „freien“ gesellschaftlichen Abläufe gehalten, „zur fortdauernden Relativierung der in der Gesellschaft immer neu entstehenden sozialen Ungleichheiten, darüber hinaus auch zur (globalen) Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung und gesellschaft­ lichen Wohlstands als der (sozialen) Freiheitsbasis für alle“.462 Die Vertreter der so verstandenen Abwehrrechtstheorie ziehen also eine Trennlinie zwischen der zu schützenden gesellschaftlichen Freiheitssphäre und der Schaffung von Bedingungen in der Gesellschaft, die reale Freiheitsausübung im Sinne selbstbestimmten und gleichberechtigten Handelns ermöglichen. Die Abwehrrechtsfunktion erfasst in diesem Verständnis lediglich die eine Dimension. Grundrechte als Abwehrrechte bewahren grundsätzlich den gesellschaftlichen status quo, indem sie staatlichen Eingriffen Grenzen setzen.463 Die Grundrechte schützen vor staatlichen Interventionen, interessieren sich allerdings in ihrer abwehrrechtlichen Prägung regelmäßig nicht für die (Grund-)Bedingungen, die im gesellschaftlichen Raum die Freiheitsbestätigung des Individuums ermöglichen. Reale Ungleichheiten zwischen den Menschen, etwa in Bezug auf soziale Macht, berufliche Position, Einkommen und Bildungskapital,464 sind, auch wenn sie in elementare Lebensbereiche oder Bereiche „konstituierter Freiheit“465 hineinwirken, jedenfalls bis zur Grenze des Menschenwürdeschutzes nur dann ein Grundrechtsproblem, wenn sie durch staatliches Handeln (mit)herbeigeführt oder verstärkt werden.466 Den Herausforderungen zu begegnen, die mit der sozialen Bedingtheit des Freiheitsgebrauchs verbunden sind und auch von den Abwehrrechtstheoretikern im Grundsatz keinesfalls geleugnet werden, soll hingegen originäre Aufgabe der Politik sein, die zur Rechtfertigung von Freiheitsinterventionen im Sozialstaatsprinzip auf eine verfassungsmäßige objektive, aber eben nicht (auch) subjektiv-rechtliche Grundlage zurückgreifen kann.467 Den 462  Ebd.,

S. 1538. Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 467. 464  Zu den für soziale Ungleichheiten zentralen Kapitalformen siehe Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 1983. 465  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 76. 466  Vgl. auch Davy, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung?, 2009, S. 129. 467  Das Sozialstaatsprinzip wird allgemein als „Staatszielbestimmung“ oder „verfassungsrechtlicher Auftrag“ charakterisiert und ist so verstanden keine Grundlage subjektiver Rechte, vgl. BVerfGE 27, 253 (283); 41, 126 (153 f.); 82, 60 (80); vgl. auch Badura, Staatsrecht, 2010, S. 302; Zacher, § 28 Das soziale Staatsziel, 2004. Die Verletzung des Sozialstaatsprinzips kann nicht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Justiziabel wird das Sozialstaatsprinzip aber dadurch, dass es als Rechtfertigungsgrundlage für Freiheitseingriffe dienen kann und im Rahmen der Auslegung einzelner Grundrechtsbestimmungen zu beachten ist, vgl. etwa BVerfGE 82, 60 (85) – 463  Schlink,

298 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Grundrechten soll demgegenüber, abgesehen von den ausdrücklich normierten Fällen, kein weitergehender materialer Gehalt im Sinne von Schutz-, Leistungs- oder Ausgestaltungsfunktionen entnommen werden. Der grundsätzliche, das heißt für alle Grundrechte gültige „Doppelcharakter“468 der Grundrechte als subjektive Rechte und objektiv-rechtliche Grundsatznormen469 wird damit entweder ganz in Frage gestellt470 oder soll doch (weitgehend) hinter die Eingriffsabwehrfunktion zurücktreten.471 Den Vertretern dieser Ansicht ist insofern zuzustimmen, dass die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, die mit der Lüth-Entscheidung ihren Anfang nahm, zu einer signifikanten Ausweitung des Grundrechtsschutzes und damit auch der Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts geführt hat.472 Von der Gefahr eines „Jurisdiktionsstaates“ kann allerdings auch heute keine Rede sein. Ohne bereits an dieser Stelle Weiteres vorweg zu nehmen, lässt sich doch feststellen, dass die Gefahr der Ubiquität des Grundrechtsschutzes473 sich durch die Konkretisierung der Schutz- und Gewährleistungsgehalte der Grundrechte eingrenzen lässt. Weiterhin ergeben sich funktionell-rechtliche,474 institutionelle und nicht zuletzt auch rechtspraktische475 Grenzen, die es verhindern, dass das BundesverfassungsSteuerfreies Existenzminimum; siehe auch Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 20, Rn. 54. So entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG das Gebot einer „weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes“, BVerfGE 9, 124 (130 f.); 10, 264 (270 f.); 22, 83 (86); 51, 295 (302); 56, 139 (143); 63, 380 (394 f.), BVerfG-K NJW 2009, 3417, 3420. Darüber hinaus begründet Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf Sicherung des Existenzminimums; grdl. BVerfGE 125, 175 (222 f.). 468  Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 906 m. w. N. 469  Zu den frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts siehe oben unter B. II. 4. 470  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, S. 28. 471  Ebd., S. 25. 472  Speziell zum Verhältnis gegenüber dem Gesetzgeber Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 48 ff.; zu den (teilweise unbeabsichtigten) ‚Vorwirkungen‘ der Bundesverfassungsgericht-Judikatur im politischen Pro­zess von Beyme, Der Gesetzgeber – Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997, S. 300 ff.; vgl. auch Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996. 473  Dazu ausführlich unter D. I. 1. b). 474  Vgl. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpreta­ tion, 1980, S. 4 ff.; siehe bereits Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, S.  73 ff.; Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S. 68 ff.; ausführlich unter D. II. 2. 475  So weist Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 10  ff., auf die reaktive Natur richterlicher Tätigkeit, die selektiven Zugangsbarrieren, das institutionenspezifische Rollenverständnis sowie die begrenzten personellen Kapazitäten des Bundesverfassungsgerichts hin.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation299

gericht de facto die Rolle eines ‚Ersatzgesetzgebers‘ einnimmt beziehungsweise einnehmen kann. Wesentlich für das richtige Verständnis der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist, dass die Grundrechte in ihrer juristischen Ausprägung elementare Rechte enthalten und ergo nicht maximale Freiheitsforderungen Einzelner gegen den demokratisch legitimierten Gesetzgeber durchsetzen wollen. Die daraus resultierenden grundrechtstheoretischen Beschränkungen werden vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung weitgehend auch gewahrt. So hat das Gericht beispielsweise zum Recht auf Sicherung des Existenzminimums, das es als verfassungsunmittelbares (originäres) Leistungsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet hat, entschieden, dass dessen Ausgestaltung dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber obliegt.476 Diesem verbleibt ein erheblicher politischer Entscheidungsspielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich darauf überprüft wird, ob die existenznotwendigen Bedarfe realitätsgerecht und methodisch folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren ermittelt wurden.477 Durch die Erweiterung der grundrechtlichen Funktionen im Sinne eines materialen Freiheitsverständnisses hat die verfassungsgerichtliche Kontrolle in der Bundesrepublik zwar eine auch im internationalen Vergleich weitgehend einzigartige Ausdehnung erfahren.478 Dass das Bundesverfassungsgericht die Materialisierung des Grundrechtsschutzes jedoch dazu benutzt hätte, fortlaufend und systematisch in die Funktionen der Legislative überzugreifen, lässt sich dem Gericht mit Blick auf seine Judikatur insgesamt gesehen nicht vorwerfen.479 Wie bereits angesprochen, kann vielmehr auch die abwehrrechtliche Theorie als solche ein ‚Übergreifen‘ der Verfassungskontrolle durch das Verfassungsgericht in den Bereich des ‚Politischen‘ von vornherein nicht verhindern. Stattdessen wären solche Übergriffe funktional allein auf die Abwehr des Staatshandelns beschränkt, selbst wenn deren Wirkung – man denke nur an Maßnahmen zur Geschlechtergleichstellung und zum Verbraucherschutz – einen realen Freiheitsgewinn für weniger mächtige oder benachteiligte Personengruppen bedeuten würde, also im materialen Sinn freiheitsfördernd wäre.480 476  Grdl.

BVerfGE 125, 175 (222 ff.) – Hartz IV. auch BVerfG, NJW 2014, 3425 (3426 ff.). – Regelsätze. 478  Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 95 ff., 105 ff.; siehe auch Kommers, Constitutional Jurisprudence, 1997; Kommers, Judicial Politics in West Germany, 1976. 479  Zu den funktionell-rechtlichen Grenzen im Einzelnen unter D. II. 2.; vgl. auch die Kritik Böckenfördes unter C. IV. 2. c). 480  Siehe etwa die Rspr. zur vertraglichen Inhaltskontrolle, ausführlich unter E. I. 2. 477  Vgl.

300 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

Insofern leidet die Abwehrrechtstheorie auch unter einem demokratietheoretischen Widerspruch, der kaum aufzulösen ist: Einerseits misstraut sie der demokratischen Gesetzgebung und der Exekutive und aktiviert die Grundrechtrechte als subjektive (Minderheiten-)Rechte, wenn staatliche Organe in die bestehenden gesellschaftlichen Freiheitssphären eingreifen. Auf der anderen Seite vertraut sie auf die Bereitschaft des Staates – und eben damit jener parlamentarischen Mehrheit, gegen deren Entscheidungen sie die Abwehrfunktion der Grundrechte aktiviert –, die Bedingungen einer gleichberechtigten Freiheitsausübung zu gewährleisten, sich wenn nötig auch schützend oder fördernd vor benachteiligte Bürger zu stellen, und sein Rechtssystem entsprechend auszurichten. Bürger und Bürgerinnen wiederum verweist die liberale Theorie auf ihr politisches Engagement, um die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Selbstbestimmung und Freiheit einzufordern. Den Staat soll bei dieser Aufgabe nur Art. 20 Abs. 1 GG als Staatszielbestimmung leiten; die Grundrechte sollen nicht als subjektive Rechte zur Geltung kommen – und damit auch keine subjektiv-rechtliche Kontrolle des Verfassungsgerichts stattfinden. In diesem Modell wird die justizielle Kraft der Grundrechte also auf der Abwehrseite gestärkt, auf der gesellschaftlich-emanzipatorischen Seite geschwächt, ohne dass diese Differenzierung vom Gefährdungspotential her plausibel gemacht werden kann. Wenn Höfling demgegenüber hervorhebt, die Freiheitsrechte richteten sich „vor allem gegen den Staat als den mit Gewaltmonopol ausgestatteten ‚Verstärker‘ gesellschaftlicher Machtan­ sprüche“481, übersieht er, dass gerade das Untätigbleiben des Staates – also der Nichteingriff – eine solche Verstärkung bewirken kann. Besonders augenscheinlich wird das, wenn staatliche Organe Gewaltanwendung, Diskriminierungen oder Eigentumsverletzungen im gesellschaftlichen Bereich geschehen lassen, ohne dagegen Maßnahmen zu ergreifen. Ein Staat, der Verletzungen elementarer Rechte durch nicht-staatliche Akteure toleriert, ohne Schutz zu bieten, der Einzelnen soziale Gewährleistungen wie Gesundheitsversorgung, Existenzsicherung, Verbraucherschutz oder Partizipa­ tion im Bildungsbereich vorenthält, verletzt nach einem materialen Verständnis in gleicher Weise die Grundrechte wie der Staat, der ohne ausreichende Rechtfertigung aktiv in die Freiheitssphäre seiner Bürger und Bürgerinnen eingreift.482 Wer den Grundrechtschutz auf die (Eingriffs-)Abwehrfunktion beschränkt – jedenfalls in der Weise, wie Böckenförde und Schlink es tun –, blendet somit eine zentrale Dimension sozialer Freiheitsbedingungen aus und überantwortet deren Gewährleistung dem politischen Prozess, der auf Mehrheitsentscheidungen basiert und gegenüber dem die Grundrechte ge­ 481  Höfling, 482  Grimm,

Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 70. Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 229.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation301

rade den erforderlichen qualitativen Minderheitenschutz gewährleisten ­sollen.483 Eine materiale Sichtweise muss vielmehr die Frage stellen, in welcher Form und von welcher Seite aus die geschützten Freiheiten in ihrem jeweiligen Gewährleistungsgehalt tatsächlich gefährdet sind und vor diesem Hintergrund Anforderungen an den notwendigen Grundrechtsschutz gegen oder durch den Staates formulieren. Die Konstruktions- und Theoriebildung wird in diesem Konzept nicht an einer übergreifenden Systematik ausgerichtet, sondern funktional an den jeweiligen Bedürfnissen der Schutzentwicklung: Drohen Freiheitsgefahren vor allem aus der gesellschaftlichen Sphäre, dann ist der Grundrechtsschutz in diese Richtung – etwa in seiner Ausgestaltungs- oder Schutzfunktion –484 zu verstärken; ist es hingegen der eingreifende Staat, der durch seine Maßnahmen die Freiheitsräume Einzelner einschränkt, dann steht die Abwehrfunktion im Vordergrund. Entgegen der Grundannahme der liberalen Theorie ist ‚der Staat‘ in diesem materiellen Grundrechtsverständnis beides: Ein Gegner und ein Gewährleister realer Freiheit.485 3. Grundrechte als Prinzipien Eine vor allem in der neueren Diskussion stark vertretene Grundrechts­ theorie ist die so genannte Prinzipientheorie, die maßgeblich auf die Schrift Theorie der Grundrechte von Robert Alexy486 zurückgeht und vor allem von dessen Schülern487 weiter ausgearbeitet wurde. Die Prinzipientheorie der Grundrechte erhebt gleichfalls den Anspruch einer umfassenden Grund483  Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 319 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 347, meint sogar, dass für Minderheitengruppen, die völlig außerhalb des politischen Systems stehen und damit keinerlei Chance auf Berücksichtigung ihrer Interessen haben, das Bundesverfassungsgericht notfalls zum „Ersatzgesetzgeber“ werden müsse. 484  Zu den unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen ausführlich unter D. I. 3. 485  Vgl. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 57: „Es geht nicht nur um ‚Schutz‘ von Freiheit gegen den Staat, sondern umfassender um die Gewährleistung von Freiheit in Staat und Gesellschaft, und zwar auch gegen den eingreifenden Staat, aber auch durch den die Freiheitsausübung aller sichernden Staat.“ 486  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985; zusammenfassend Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, 1990, S. 54 ff. 487  Unter anderem Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007; Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990; vgl. auch Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, 2010. Zur Prinzipientheorie als allgemeinem rechtstheoretischen Ansatz siehe auch Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, 2011.

302 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

rechtstheorie des Grundgesetzes und möchte dafür eine rationale Basis liefern. Diese findet sie – in der Tradition der analytischen Rechtstheorie488 – vor allem in sprachanalytischen und diskurstheoretischen Ansätzen.489 Im Ergebnis stützt die Prinzipientheorie eine flexible und weit ausgreifende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und wird daher insbesondere von Vertretern der liberalen Abwehrrechtstheorie teilweise heftig kritisiert.490 a) Prinzipien als Optimierungsgebote Zentrales Element der Prinzipientheorie ist die normtheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien.491 Regeln sind danach Normen, die bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (des Tatbestands) etwas definitiv gebieten, verbieten, erlauben oder zu etwas ermächtigen. Sie sind also definitive Gebote, deren Voraussetzungen stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Die für sie charakteristische Form der Normanwendung soll die der Subsumtion sein, das heißt der Fassung eines Sachverhaltes unter eine Norm. Demgegenüber sind Prinzipien, zumindest nach Alexys ursprünglicher Konzeption, die der Theorie der Grundrechte zugrunde liegt, Optimierungsgebote.492 Diese werden dadurch charakterisiert, dass „sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und daß das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt“.493 Gegenstand eines Prinzips kann sowohl ein individuelles Recht als auch ein kollektives Gut sein. 488  Vgl. Koch, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976; Kunz, Die analytische Rechtstheorie, eine Rechtstheorie ohne Recht?, 1977; Alexy et al., Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2002; einen knappen Überblick über diese Denkrichtung bietet Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, 1976, S.  42 ff. 489  Vgl. Alexy, Juristische Argumentation, 1991. 490  Insbesondere Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 75  ff.; vgl. auch Schlink, German Constitutional Culture in Transition, 1993. 491  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 71 ff.; grdl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977; zu den unterschiedlichen rechtstheoretischen Ansätzen bei Alexy und Dworkin ausführlich Heinold, Prinzipientheorie, 2011. 492  Aufgrund von Problemen, die mit dem Verständnis von Prinzipien als Optimierungsgeboten verbunden sind, hat Alexy seinen Prinzipienbegriff mittlerweile modifiziert; dazu Sieckmann, Grundrechte als Prinzipien, 2007, S. 19 f. Wenn es allerdings zutreffen würde, „dass die Alexysche Definition von Prinzipien als Optimierungsgeboten nicht mit dem Verständnis als Gründe für Abwägungsurteile vereinbar ist“, wie Sieckmann, ebd., S. 37, meint, dann wäre damit die in der Theorie der Grundrechte aufgestellte normtheoretische Einordnung möglicherweise sogar überholt. Kritisch zum Begriff des Prinzips als Optimierungsgebot oder „ideales Sollen“ auch Poscher, Theorie eines Phantoms, 2010. 493  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 76.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation303

Die Prinzipientheorie bietet nach Alexy den Schlüssel zur Erklärung zentraler grundrechtsdogmatischer Figuren wie der Abwägung und des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Abwägung sei dadurch geprägt, dass unterschiedliche Prinzipien miteinander kollidierten. Kein Prinzip könne generellen Vorrang beanspruchen. Daher müsse jeweils unter „Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalls“ entschieden werden, welches Interesse zurückzutreten habe. Aus der Prinzipienkollision habe das Gericht also eine Präferenzregel abzuleiten, nach welcher diese entschieden werden könne. Was dies im Einzelnen bedeutet, veranschaulicht Alexy an dem berühmten vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall des Soldatenmords von Lebach494, bei dem das Gericht das Recht auf Rundfunkberichterstattung über ein Verbrechen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und das Recht auf Resozialisierung des Straftäters (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) abzuwägen hatte. Das Gericht entwickelte die Präferenzregel, dass im Fall einer wiederholten, „nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckten Fernsehberichterstattung über eine schwerwiegende Straftat“, die „die Resozialisierung des Täters gefährdet“, der Schutz der Persönlichkeit der Freiheit der Berichterstattung vorgeht,495 was im zu entscheidenden Fall hieß, dass die Berichterstattung zu unterbleiben hatte.496 Als Ergebnis jeder richtigen grundrechtlichen Abwägung lasse sich somit eine zugeordnete Regel formulieren, unter die der Fall subsumiert werden könne.497 Eine Abwägung ist nach der Prinzipientheorie somit dann ‚rational‘, wenn die Präferenzregel, zu der sie führt, rational begründet werden kann. Dabei sei dem Abwägungsgesetz zu folgen, welches besagt: „Je höher der Grad der Nichtrealisierung des einen Prinzips ist, desto größer muß die Wichtigkeit der Realisierung des anderen sein.“ Dieses Abwägungsgesetz veranschaulicht Alexy anhand von Indifferenzkurven, wie sie in den Wirtschaftswissenschaften verwendet werden.498 Bei der Begründung kommt dabei jedes „auch sonst in der juristischen Argumentation mögliche Argument in Frage“, womit auch empirische und kontextbezogene Argumente in den Vordergrund treten,499 was Alexy, ebenfalls am Lebach-Urteil, wie folgt veranschaulicht: 494  BVerfGE

35, 202. 35, 202 (237). 496  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 86. 497  Zur Prinzipienlehre als Abwägungslehre auch Klatt, Spielräume im öffent­ lichen Recht – Zur Abwägungslehre der Prinzipientheorie, 2010. 498  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 146 ff. 499  Darauf weist auch Poscher, Theorie eines Phantoms, 2010, S. 355, hin: „Optimierungsgebote geben regelmäßig nicht auf, Normen zu optimieren, sondern richten sich auf faktische Gegenstände.“ 495  BVerfGE

304 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie Daß die zu beurteilende Ausstrahlung eine sehr intensive Beeinträchtigung des Persönlichkeitsschutzes darstellt, wird u. a. mit der Reichweite von Fernsehausstrahlungen, den Wirkungen der Sendeform des Dokumentarspiels, dem hohen Glaubwürdigkeitsgrad, den Fernsehsendungen beim Publikum haben, den sich hieraus und aus weiteren Eigenschaften der Sendung ergebenden Gefahren für die Resozialisierung und der Zusätzlichkeit der Beeinträchtigung, die ein einige Zeit nach der aktuellen Berichterstattung ausgestrahltes Dokumentarspiel bedeutet, begründet. Was die Wichtigkeit der Erfüllung des Prinzips der Rundfunkfreiheit anbelangt, so werden zunächst zahlreiche Gründe für die Wichtigkeit einer aktuellen Berichterstattung über schwere Straftaten angeführt. Vor diesem Hintergrund wird dann die zu beurteilende wiederholte Berichterstattung als nicht wichtig genug, um die Intensität der Beeinträchtigung zu rechtfertigen, qualifiziert.500

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Theorie von Alexy auf eine problembezogene Abwägung unterschiedlicher Rechte und Verfassungsgüter zielt und damit im Einklang mit dem vom Bundesverfassungsgericht postulierten Geboten der Auslegung im Sinne größtmöglicher juristischer Wirkungskraft501 und dem Grundsatz der einheitlichen Verfassungsauslegung502 steht. So soll unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen gefragt werden, wie das Grundrecht in Abwägung mit kollidierenden Gütern möglichst optimal verwirklicht werden kann. Auf einer vom Fall abstrahierenden Problemebene sind dabei Präferenzregeln zu entwickeln, unter die sich die relevante Fallkonstellation subsumieren lässt. b) Freiheitsbegriff und weite Tatbestandslösung Die Prinzipientheorie geht von einem offenen Freiheitsbegriff des Grundgesetzes aus503, was gleichzeitig bedeutet, dass sie – im Gegensatz zur Abwehrrechtstheorie – unterschiedliche Grundrechtsfunktionen zu begründen vermag.504 Zwischen dem Begriff des Prinzips und dem des Wertes besteht nach Alexy eine strukturelle Übereinstimmung: „Prinzipien sagen, was prima facie gesollt, Werte, was prima facie gut ist. Die Prinzipientheorie kann deshalb als eine von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie angesehen werden.“505 Allerdings seien deshalb Prinzipien nicht generell zur objektiven Dimension der Grundrechte zu rechnen. Sowohl Normen, die subjektive Rechte gewähren, als auch Normen, die den Staat bloß objektiv verpflichten, könnten Prinzipiencharakter haben. 500  Alexy,

Theorie der Grundrechte, 1985, S. 150. oben unter B. II. 4. c). 502  Siehe oben unter C. I. 4. b). 503  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 194 ff. 504  Ausführlich Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007, S. 293 ff. 505  Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, 1990, S. 55. 501  Siehe



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation305

Die Prinzipientheorie plädiert für eine möglichst offene Abwägung der unterschiedlichen Grundrechtspositionen. Dementsprechend setzt sie sich für eine möglichst weite Tatbestandstheorie ein. So weist Alexy nach, dass eine enge Auslegung von grundrechtlichen Schutzbereichen, wie sie heute wieder in der Diskussion ist,506 letztlich immer auf einer Abwägung beruht. Wer, wie Friedrich Müller, etwa das Malen mitten auf einer Straßenkreuzung aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit ausklammern will, weil diese Form der Kunst auch an anderer Stelle ausgeübt werden könne,507 nimmt damit, wie Alexy zeigt, implizit eine generalisierende Interessenabwägung zugunsten der Sicherheit des Straßenverkehrs und zulasten der freien Kunstausübung vor. Kämen andere Gesichtspunkte hinzu, beispielsweise wenn das Malen auf der Kreuzung niemanden stören würde oder ein besonderer künstlerischer Bezug zum Ort bestünde und die Kunstaktion zu einer verkehrsarmen Zeit durchgeführt würde, könnte das Ergebnis der Abwägung anders ausfallen. Auf die damit verbundenen Fragen wird später zurückzukommen sein.508 c) Kritik Die Prinzipientheorie der Grundrechte steht mit den wesentlichen methodischen Grundpositionen, die das Bundesverfassungsgericht eingenommen hat, im Einklang. Sie deckt die weite Interpretation der Schutz- und Gewährleistungsbereiche ebenso ab wie die einheitsbezogene Verfassungsauslegung und die Entwicklung problembezogener Präferenzregeln bei der Abwägung widerstreitender Rechte und Prinzipien. Ein zentraler Kritikpunkt gegenüber der Prinzipientheorie, wie der analytischen Rechtstheorie generell,509 ist ihr Rationalitätsbegriff, der bei Alexy beispielsweise auf der Idee einer optimalen Güterabwägung und der Vorstellung eines idealen Diskurses basiert. In diesem Diskurs darf sich niemand widersprechen, soll jeder nur das behaupten, was er selbst glaubt, darf jeder, der sprechen kann, teilnehmen usf.510 Dass dies – bei allen Bemühungen um prozessuale Rationalität – kaum der Realität der juristischen, schon gar der forensischen Praxis entspricht und bei allem Bemühen entsprechen kann, ist augenfällig.511 In diesem Sinne ver506  Ausführlich

unter C. III. 3. und D. II. 1. b). Die Positivität der Grundrechte – Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 1990, S. 64. 508  Siehe unter D. II. 1. b). 509  Vgl. Kunz, Analytische Rechtstheorie, 1977, S. 62 ff. 510  Vgl. Alexy, Juristische Argumentation, 1991, S. 221 ff.; ausführlich zur juristischen Diskurstheorie Alexys Heinold, Prinzipientheorie, 2011, S. 207 ff. 511  Ausführlich Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 90 ff.: „Man kann das Diskursmodell mit seiner durch Zwanglosigkeit, Gleichbe507  Müller,

306 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

schleiert die Theorie der Grundrechte durch ihre Abwägungs- und Rationalitätsregeln mitunter die tatsächlichen Mechanismen und Unwägbarkeiten, die bei einer Grundrechtsentscheidung am Werk sind. Sie gibt keinen Hinweis auf die für jede Grundrechtsinterpretation zentrale Frage, welche Interessen von welchem Grundrecht geschützt sind und in welcher Form sie jeweils gegeneinander gewichtet werden (sollen). Ein Abwägungsgesetz nach der Formel: „Je höher der Grad der Nichtrealisierung des einen Prinzips ist, desto größer muss die Wichtigkeit der Realisierung des anderen sein“, verdeckt, dass die Gewichtigkeit der jeweiligen Prinzipien nicht messbar ist (und grundrechtliche Abwägungsprozesse damit auch nicht in Form von Indifferenzkurven abgebildet werden können), sondern durch kontextbezogene Argumentation gesteuert wird.512 So stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Lebach-Entscheidung darauf ab, dass „die Sendeform des Dokumentarspiels unter dem hier relevanten Gesichtspunkt spezifische Gefahren mit sich bringt“. Denn sie verbinde „eingängig dargebotene Information mit spannender Unterhaltung“. Durch die dramaturgische Konzentration könne mitunter ein „auf die negative Dimension verkürztes Persönlichkeitsbild“ des Täters entstehen.513 Vor diesem Hintergrund gewichtet das Bundesverfassungsgericht die Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung des Straffälligen besonders stark. Gerade den Aspekt der Verbindung zwischen Information und Unterhaltung hebt das Gericht hingegen in seiner Carolinevon-Monaco-Entscheidung aus dem Jahr 1999 zugunsten des öffentlichen Informationsinteresses und gegen das Persönlichkeitsrecht hervor: Gerade unterhaltende Information über reale Ereignisse könne „Realitätsbilder vermitteln“ und „Gesprächsgegenstände zur Verfügung [stellen], an die sich Diskussionsprozesse und Integrationsvorgänge anschließen können, die sich auf Lebenseinstellungen, Werthaltungen und Verhaltensmuster beziehen“; sie erfülle „insofern wichtige gesellschaftliche Funktionen“.514 Während also die Lebach-Entscheidung auf die besonderen Gefahren abhebt, die von der Verbindung zwischen einer Dokumentation realer Ereignisse und unterhaltender Darstellung ausgehen, wird just dieser Aspekt in der CarolineEntscheidung zugunsten der freien Berichterstattung und gegen das Persönlichkeitsrecht von Caroline ins Feld geführt. rechtigung und Einsicht zustande gekommenen Einigung nur bei vollständiger Ausblendung der am Gericht vorfindlichen Kommunikationsbedingungen auf den juristischen Prozess übertragen“; vgl. auch Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S.  96 ff. 512  Vgl. etwa Solbach, Politischer Druck und richterliche Argumentation, 2001; grdl. Sobota, Sachlichkeit, 1990; kritisch zur Methodendebatte Sobota, Reflexion und Imitation in der Rechtsmethodik, 1990. 513  BVerfGE 35, 202 (228 f.). 514  BVerfGE 101, 361 (389 f.).



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation307

Auch wenn man beiden Entscheidungen im Ergebnis vieles abgewinnen mag und gerade der Rückgriff des Bundesverfassungsgerichts auf medienwissenschaftliche Argumente beeindruckt, sollte nicht so getan werden, als wären die jeweils entwickelten Präferenzregeln zwangsläufig. Sie ergeben sich aus der problemspezifischen Gewichtung der jeweiligen Gesichtspunkte und Argumente. Eine wissenschaftlich-kritische Betrachtung könnte beispielsweise die verwendeten Argumente genauer analysieren und fragen, welche Perspektiven und Interessen gegebenenfalls übersehen, als weniger gewichtig betrachtet oder (aus welchen Gründen möglicherweise) nicht berücksichtigt wurden.515 Nicht zuletzt wäre die Frage nach den Bedingungen zu stellen, denen der gerichtliche Diskurs unterliegt: Haben alle relevanten Gruppen und Personen angemessenen Zugang? Welche Rolle spielen Faktoren, die sich nicht in den Entscheidungsgründen wiederfinden (beispielsweise Überzeugungen der Richterinnen und Richter, Senatsmehrheiten, Folgenerwägungen usf.)? Diese Fragen werden jedoch von der Prinzipientheorie nicht gestellt. Der Prinzipientheorie geht es gerade nicht um die empirischen Voraussetzungen der juristischen Argumentation, sondern um die empirisch fundierte Erkenntnis „des positiv geltenden Rechts“.516 Dass die realen Faktoren des juristischen Argumentations- und Handlungsprozesses oft vielschichtiger sind als sich aus den Entscheidungsgründen ersehen lässt, ist für die rein analytisch-rationale Rekonstruktion der Begründungslehre nicht maßgebend.517 Die Praxis der Rechtsprechung wird entsprechend auch nur dort herangezogen, wo sie sich als Beispiel für die Plausibilität der aufgestellten Rationalitätsregeln eignet. Letztlich bleiben die aufgestellten Regeln im Unbestimmten, ihr rechtstheoretisches Erklärungspotential aber ist gerade deshalb äußerst weit.518 So stellt Poscher treffend fest, die Prinzipientheorie habe ein fast unbegrenztes Beschreibungspotential: „Jedes Phänomen läßt sich prinzipientheoretisch beschreiben. Prinzipientheoretisch denken heißt, in Gegensätzen und Oppositionen zu denken, als deren (optimaler) Ausgleich jedes Phänomen beschrieben werden kann.“519 So lässt sich beim Studium der Theorie der Grundrechte in der Tat der Eindruck gewinnen, das Bundesverfassungsgericht besitze eine in jeder Hinsicht rationale und 515  Für eine stärkere Kontextualisierung jetzt auch Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 256. 516  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 23. 517  Das betonen auch Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 1 f., die streng zwischen dem Prozess der Entscheidungsfindung und der rationalen Kontrolle von Entscheidungsbegründungen unterscheiden. 518  Vgl. auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007, S. 133: „große Beschreibungskraft“. 519  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 75 f.

308 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

konsistente Entscheidungspraxis.520 Alexy benutzt seine Theorie gerade nicht als Prüfstein für das Verfassungsgericht, sondern prüft seine Theorie an dessen Entscheidungen, die sich damit (fast) immer als richtig erweisen. So stellt Poscher fest: Entsprechend findet sich in den vielen tausend Seiten, die Prinzipientheoretiker über die Verfassungsrechtsprechung geschrieben haben, kaum eine im Ergebnis kritische Auseinandersetzung mit einer Entscheidung.521 Die Prinzipientheorie vermag alle Grundrechtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu beschreiben, aber sie gibt der grundrechtsdogmatischen Argumentation nur sehr wenige Strukturen vor, die es erlauben würden, auch bestimmte Ergebnisse auszuschließen. Sie kollabiert letztlich in der Abwägung aller relevanten Aspekte des Einzelfalls […] [D]aß der Rechtsanwender unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine rational begründete Entscheidung zu treffen hat, ist der Nullpunkt juristischer Dogmatik.522

Indem Alexy die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in einer tendenziell affirmativen Weise exemplarisch verwendet, begibt er sich in Gefahr, die Rechtsprechung mit einer scheinbaren Rationalität zu ummanteln, die sie nicht hat und auch nicht haben kann. Letztlich soll dies aber nicht heißen, dass die Prinzipientheorie keinen Erklärungs(mehr)wert bietet. Als „Strukturtheorie“523 stimmt sie, wie dargelegt, mit wesentlichen Grund­ entscheidungen der verfassungsgerichtlichen Judikatur überein. Sie bietet eine Erklärung für das weite Tatbestands- und das Abwägungsmodell der Grundrechtsjudikatur. Zur Bildung von inhaltlichen dogmatischen Maßstäben, anhand derer bestimmte Ergebnisse methodisch begründet, kontrolliert und auch kritisiert werden können, trägt sie indes wenig bei.524 Möglicherweise ist dies auch nicht ihre Absicht, was ihr strukturelles Erklärungspotential nicht mindert, ihre Tauglichkeit für die konkrete Rechtsinterpretation allerdings, wie gesehen, deutlich einschränkt.

520  Dagegen weist Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2007, S. 133, darauf hin, dass an der Glykol- und Osho-Rechtsprechung von Vertretern der Prinzipien­ theorie deutlich Kritik geübt wurde; das entspricht auch den Überlegungen Alexys für eine weitere Tatbestandstheorie, siehe unter C. IV. 3. b). 521  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 76. 522  Ebd., S. 81. 523  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 156. 524  Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 221 ff.



IV. Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation309

4. Zwischenfazit: Von den Problemen einer übergreifenden Grundrechtstheorie Die Auseinandersetzung mit den zwei heute prominent vertretenen Grundrechtstheorien, der Abwehrrechts- und der Prinzipientheorie, hat gezeigt, dass eine methodische und dogmatische Rationalisierung der Grundrechtsinterpretation durch eine umfassende Grundrechtstheorie des Grundgesetzes vor erheblichen Schwierigkeiten steht. So kann die Abwehrrechtstheorie das von ihr gemachte Versprechen einer dogmatisch-rationalen Rechtsanwendung nicht einlösen. Einerseits geht die abwehrrechtliche ‚Einhegung‘ unterschiedlicher Problemkonstellationen, wie etwa der privatrechtlichen Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, mit dogmatischen Inkompatibilitäten einher, wie sich etwa an der generellen Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes auf das Privatrecht erkennen lässt. Andererseits kann die Abwehrrechtstheorie den gegen sie erhobenen Vorwurf, die materialen Bedingungen der Ausübung von Freiheit nicht ausreichend zu verarbeiten, nicht entkräften. Sie begibt sich in einen demokratietheoretischen Widerspruch, da sie die Grundrechte nur dann gegen die Entscheidungen der Gesetzgebung, das heißt der parlamentarischen Mehrheiten, in Stellung bringen will, wenn diese in gesellschaftliche Freiheitsbereiche eingreifen. Die Schaffung der materialen Voraussetzungen für die Freiheitsausübung im gesellschaftlichen Bereich wird nicht als Grundrechtsproblem behandelt, sondern einseitig auf das Sozialstaatsprinzip als objektive Staatszielbestimmung verlagert. Die Prinzipientheorie der Grundrechte sieht sich – neben der Frage, ob die Unterscheidung zwischen Normen als Regeln und als Prinzipien sowie das Verständnis von Prinzipien als Optimierungsgeboten rechtstheoretisch tragfähig ist525 – dem Einwand ausgesetzt, dass sie die von ihr an den Abwägungsvorgang herangetragenen Rationalitätserwartungen nicht erfüllen kann und sich im Gebot einer kontextbezogenen Abwägung aller relevanten Aspekte des Einzelfalls erschöpft. Ob damit wirklich der „Nullpunkt der Dogmatik“ erreicht ist, wie Poscher meint, muss bezweifelt werden. So vermag die Prinzipientheorie (als Strukturtheorie) zu erklären, weshalb eine enge Tatbestandsauslegung der Grundrechte letztlich zu einer Generalisierung von Abwägungsvorgängen führt, die damit in den Schutz- beziehungsweise Gewährleistungsbereich vorverlagert werden. Sie hat außerdem den Vorteil, dass sie das mehrdimensionale Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Sinne eines materialen – das heißt negativen wie positiven – Freiheitsverständnisses abbilden kann. Darüber hinaus bleibt sie aber weitgehend affirmativ und lässt zentrale Fragen offen, zum Beispiel ob 525  Kritisch

Poscher, Theorie eines Phantoms, 2010.

310 C. Konkretisierung durch Methodik, Dogmatik und Grundrechtstheorie

und wann ein bestimmtes Interesse überhaupt von einem Grundrecht geschützt ist und in welcher Intensität es in die Abwägung mit anderen Rechtsgütern einzustellen ist. Mit ihrer gleichzeitigen Unbestimmtheit und argumentativen Offenheit überdehnt sie das von ihr aufgestellte Rationalitätsversprechen. Es bleibt festzuhalten: Die genannten Versuche, grundrechtliche Anwendungsrationalität durch Entwicklung einer auf einen bestimmten systematisch-funktionalen oder analytischen Ansatz zurückführbaren Theorie der Grundrechte herzustellen, können nicht überzeugen. Damit wendet sich der Blick im Folgenden auf das mehrdimensionale Grundrechtsverständnis, das vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung entwickelt worden ist und sich in verschiedene Richtungen problembezogen ausdifferenziert hat.

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte und ihre funktionell-rechtlichen Grenzen I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 1. Multifunktionalität des Grundrechtsschutzes Entscheidend für ein materiales Grundrechtsverständnis ist die Einsicht, dass Freiheit nur unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen verwirklicht werden kann. In modernen Gesellschaften gibt es keine Chance einer freien Entfaltung der Persönlichkeit, die nicht abhängig ist von den existierenden sozialen Strukturen, auf die der Staat Einfluss nimmt. Die Freiheit der Entfaltung bricht sich, wie Hoffmann-Riem formuliert, „an der Entfaltungsfreiheit anderer, wenn nicht sogar – wie das Beispiel der Kommunikationsfreiheit zeigt – Entfaltung nur als Freiheit auf Gegenseitigkeit möglich ist, also als Freiheit durch andere und mit anderen“.1 a) Multifunktionalität des Grundrechtsschutzes In historischer Perspektive ist daran zu erinnern, dass die Grundrechte zu Beginn des 19. Jahrhunderts als ein gegen den Feudalismus gerichtetes soziales Programm zur Schaffung einer egalitären Staatsbürgergesellschaft eine positiv gestaltende Funktion hatten.2 Der programmatische Gehalt wurde ihnen in Europa erst im Spätkonstitutionalismus unter Einfluss des staatsrechtlichen Positivismus abgesprochen.3 Nach der (Wieder-)Entdeckung der objektiven Grundrechtsfunktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden die Grundrechte nicht (mehr) auf ihre negative Eingriffsabwehrfunktion beschränkt, sondern geben, wie es das Bundesverfassungsgericht es im Lüth-Urteil formulierte, Gesetzgebung, Verwaltung und Judikatur „Richtlinien und Impulse“.4 Der so verstandene objektive Gehalt der Grundrechte korrespondiert mit einem materialen 1  Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 57; vgl. auch Suhr, Freiheit durch Geselligkeit, 1984; und ausführlich Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976. 2  Zusammenfassend Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 29 f. 3  Vgl. Grimm, Entwicklung der Grundrechtstheorie, 1987; ausführlich unter B. I. 4  Zum Lüth-Urteil oben unter B. II. 4. d) bb).

312

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Freiheitsverständnis,5 über das – neben der Verstärkung der Abwehrfunktion durch eine weitgehend inhaltliche Bindung der Gesetzgebung – unterschiedliche Dimensionen des Grundrechtsschutzes begründet worden sind.6 Recht schützt vor ungehemmter sozialer (Markt-)Macht, wie etwa im Arbeits- oder Verbraucherrecht, es begründet Leistungsansprüche, um soziale Sicherung und Teilhabe zu ermöglichen, vor allem im Sozialrecht, es kreiert Organisationen, stellt Einrichtungen bereit, wie etwa im Medienbereich, es schafft gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten, beispielsweise im Bildungsrecht, es benachteiligt oder privilegiert bestimmte Personen und Personengruppen, und zwar in (nahezu) allen Rechtsbereichen. All diese Dimensionen der sozialsteuernden Wirkung der Rechtsordnung spiegeln sich in den unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen wider, welche die Rechtsordnung mittels der Verfassung als einer Grundordnung7 des staat­lichen Gemeinwesens überformen. Entsprechend ihrer hiermit korrespondierenden vielseitigen funktionalen Ausrichtung werden die Grundrechte heute auch als „pluri- oder multifunktional“8 bezeichnet. b) Gefahr der Ubiquität des Grundrechtsschutzes Den Kritikern eines so verstandenen materialen Grundrechtsverständnisses ist zuzugeben, dass dieses Grundrechtsverständnis in sich nicht begrenzt ist und dazu tendiert, ubiquitär zu werden und damit die Funktionsgrenzen zur Politik einzureißen.9 Volkmann spricht von der Gefahr von „Hypertrophien“. Es könne, so die Befürchtung, aufgrund mangelnder methodischer Kontrollierbarkeit nahezu jede gesellschaftliche Gerechtigkeitsfrage zu einem Verfassungsproblem hochgezont werden, über den am Ende unter Ausschaltung des demokratischen Gesetzgebers autoritär das Bundesverfassungsgericht entscheide.10 Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass bereits tatsächliche funktionale und institutionelle Grenzen zum Tragen kommen, die ein Ausufern der Verfassungskontrolle verhindern. Würde sich das Bundesverfassungsgericht 5  Grimm,

Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, 1991, S. 323. nur Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn.  28 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 41 ff.; Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 57 f.; ausführlich Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69. 7  Im Gegensatz zum Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung, dazu oben unter B. II. 5. 8  Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 38, unter Verweis auf Stern. 9  So auch Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 40. 10  Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 2013, S. 49. 6  Vgl.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 313

beispielweise dazu berufen fühlen, tatsächliche Gleichberechtigung (Art. 3 Abs. 2 GG) in der Gesellschaft durchzusetzen, so müsste es ein umfassendes Programm zur Gleichstellungspolitik und zugleich Regelungen für die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche aufstellen. Das ist aber weder seine Aufgabe, noch wäre dies für das Gericht praktisch leistbar. Es ist demgegenüber nicht von der Hand zu weisen, dass das Bundesverfassungsgericht in einzelnen Fällen der Gefahr erlegen ist, über das objektive Grundrechtsverständnis weite Teile eines eigentlich politisch zu entscheidenden Problems verfassungsrechtlich zu determinieren. So enthielt die zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1988 ein detailliertes Programm, wie mit der gesellschaftlichen Frage von Abtreibungen aus Sicht des Verfassungsgerichts richtig umzugehen sei. Dabei wurden Anforderungen an strafrechtliche Vorschriften, Beratungseinrichtungen und das Gesundheits- und Sozialrecht formuliert, wie es in einem demokratischen Gemeinwesen eigentlich die originäre Aufgabe der unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebung ist.11 Gegenüber dieser Gefahr einer Politisierung der Grundrechtsinterpreta­ tion allein an den judicial self restraint der Verfassungsrichterinnen und -richter zu appellieren, wäre ein schwacher Trost. Der Gefahr kann vielmehr einerseits dadurch begegnet werden, dass die spezifischen Gewährleistungsgehalte der Grundrechte durch dogmatische Maßstäbebildung möglichst präzise herausgearbeitet werden. Andererseits müssen vor allem die funk­ tional-rechtlichen Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle beachtet werden.12 Dabei muss das Bundesverfassungsgericht der Politik einen ausreichend großen Gestaltungsspielraum belassen und sich auf die Formulierung von Gewährleistungen in einzelnen besonders grundrechtssensiblen Bereichen beschränken. Grundrechte sind in diesem Sinne Mindestgewährleistungen, die das Erstreiten von Rechten im politischen Raum nicht ersetzen, sondern lediglich juristisch flankieren und absichern13 können. Sie sind keine Optimierungsgebote im Sinne eines bestmöglichen politischen Grundrechtsprogramms.14 11  BVerfGE

88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998, S. 219, der die „herkömmliche Entgegensetzung von Recht und Politik“ in Frage stellt. Insbesondere sei sie nicht in der Lage, „eine sinnvolle Kompetenzbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit herzuleiten“. 13  Beispielsweise wenn die Fachgerichte vom Bundesverfassungsgericht dazu angehalten werden, Gleichstellungsnormen nicht entgegen ihrem Schutzzweck auszulegen und anzuwenden, vgl. BVerfGE 89, 276 – § 611a BGB; dazu auch unter D. II. 2. a). 14  Ähnlich Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 41. 12  Vgl.

314

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Dennoch kann es natürlich vorkommen, dass eine grundrechtliche Gefährdungslage auch sehr weit gehende verfassungsgerichtliche Vorgaben an die Legislative gebietet, wenn etwa die Gesetzgebung der Gefährdungslage evident nicht abhilft. Würde zum Beispiel die Politik eine auf die Meinungspluralität nachweislich gefährdend wirkende Bildung von Medien- und Pressemonopolen effektiv nicht verhindern oder sogar bewusst tolerieren, so müsste das Bundesverfassungsgericht notfalls auch übergangsweise Regelungen nach § 35 BVerfGG erlassen, bis das Parlament von sich aus geeignete Maßnahmen zur Sicherung und Gewährleistung der Medienpluralität ergreift. Derartige Eingriffe in den Funktionsbereich politischer Gestaltung müssen aber auf Ausnahmekonstellationen beschränkt bleiben. Als beispielhaft für eine generell zurückhaltende, aber doch ausnahmsweise durchgreifende Verfassungskontrolle in politisch sensiblen Bereichen kann die Rechtsprechung zur Sicherung des Existenzminimums genannt werden. Während das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum einräumt, um die existenznotwendigen Bedarfe zu ermitteln,15 hat es dort, wo die Gesetzgebung das erforderliche Maß and Grundrechtsschutz evident verfehlt hat, namentlich im Asylbewerberleistungsrecht, klare Vorgaben gemacht und eigene (Übergangs-)Regelungen getroffen.16 2. Die subjektive und die objektive Dimension der Grundrechte Das Grundrechtsverständnis ist in seiner wissenschaftlichen Betrachtung teilweise noch davon geprägt, zwischen der subjektiven Abwehrfunktion und weiteren objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte zu unterscheiden. Unter die so genannten objektivrechtlichen Funktionen werden Ausstrahlungswirkung, Schutzpflichten, Einrichtungsgarantien, Ausgestaltungspflichten sowie die Grundrechtssicherung durch Verfahren und Organisation gefasst, wobei hier keine einheitliche Terminologie existiert.17 Im internationalen Vergleich ist die Einteilung in ein subjektives Abwehrrecht und weitere objektive Grundrechtsfunktionen außergewöhnlich, auch wenn in den meisten anderen Rechtsordnungen heute anerkannt ist, dass Grundrechte nicht auf die (Eingriffs-)Abwehrfunktion beschränkt sind.18 15  BVerfGE 125, 175 (222 ff.) – Hartz IV; vgl. auch BVerfG, NJW 2014, 3425 (3426 ff.). – Regelsätze. 16  BVerfGE 132, 134 (166 ff., 178 ff.) – Asylbewerberleistungsgesetz. 17  Einen Überblick bieten Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, und Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993; ausführlich im Folgenden unter D. I. 3. 18  Zusammenfassend Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004, Rn. 52 f.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 315

a) Objektive Normgehalte und subjektive Rechtsposition(en) Eine strenge Gegenüberstellung von subjektivem Abwehrrecht und objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen erscheint nicht schlüssig, zumal das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Lüth-Entscheidung und auch in der folgenden Rechtsprechung anerkannt hat, dass sich Einzelne bei der Verletzung objektiv-rechtlicher Gehalte unmittelbar auf die Grundrechte als subjektive Rechte berufen können.19 Letztlich geht es also auch bei der Ausstrahlungswirkung, den Schutzpflichten, dem Grundrechtsschutz durch Verfahren und Organisation usf. in der Regel um subjektive (Grund-)Rechtspositionen, die mit der objektiven Zielrichtung der Grundrechte als Aufträge an Gesetzgebung und Rechtsprechung korrespondieren beziehungsweise daraus abgeleitet werden.20 Nur dann ist auch die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde statthaft, da sie Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten voraussetzt und damit weiterhin dem Individualrechtsschutz dient.21 Der Abwehrfunktion das exklusive Privileg einer primär subjektiv begründeten Rechtsposition zuzuerkennen, wäre in diesem Sinne ebenso problematisch, worauf Jarass hinweist: [Denn die Grundrechte] sind in ihrer Abwehrfunktion negative Kompetenznormen. Die Qualifizierung der Abwehrseite als ‚subjektiv‘ läßt das leicht übersehen. Falls man im übrigen den Aspekt der negativen Kompetenznorm der objektivrechtlichen Seite zuweist, wird damit zusätzlich verdeutlicht, daß die klassische Abwehrfunktion subjektiv- und objektivrechtliche Elemente besitzt, die Unterscheidung also nicht sehr geeignet ist, die Abwehrfunktion von anderen Grundrechtsfunktionen abzuheben. In geschichtlicher Perspektive kann die Verknüpfung von Abwehrkomponente und subjektiv-rechtlicher Seite schließlich nur verwirren, da im Spätkonstitutionalismus häufig der Abwehrcharakter der Grundrechte betont, gleichzeitig aber ihr subjektiv-rechtlicher Gehalt bestritten wurde.22 19  Jarass,

Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S. 374 ff. Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn.  35 ff. 21  Das Bundesverfassungsgericht hat daraus abgeleitet, dass der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein muss; zusammenfassend Bethge, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 90, Rn. 8 ff. (Lfg. Okt. 2009). Ausnahmen im Sinne einer rein ‚objektiven‘ Grundrechtsprüfung im Rahmen abstrakter Normenkontrollanträge sind die beiden Entscheidungen zur Schwangerschaftsunterbrechung. Dort hat es das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassen hat, „ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit ‚nur‘ von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird“, BVerfGE 39, 1, 41; vgl. auch BVerfGE 88, 203 ff. 22  Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S. 368, Herv. v. Verf. 20  Ausführlich

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Der Topos von der „Wertentscheidung“23 zur Kennzeichnung der objektiven Seite der Grundrechte hat sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeschliffen, ohne dass damit das Bekenntnis zu einer bestimmten Wertephilosophie24 verbunden wäre. Es geht vor allem um die Verallgemeinerung des Grundrechts „über die Rechtsfolge des Abwehranspruchs hinaus“.25 Insofern weisen die Grundrechte einen „Doppelcharakter“ auf:26 Sie begründen subjektiv-individuelle Rechte. Diese subjektiven Rechtspositionen setzen jedoch bestimmte objektive Verpflichtungen des Staates im Sinne der Bereitstellung von Gewährleistungen, institutionelle oder organisatorische Vorkehrungen in den geschützten Lebensbereichen voraus.27 Letztlich geht es dann um die Gewährleistungsfunktion der Grundrechte mit dem Ziel, individuelle Freiheitsausübung zu ermöglichen und zu sichern. In diesem Sinn sind die Grundrechte objektiv bindende Normen und Leitprinzipien und nähern sich strukturell den Staatszielbestimmungen an,28 allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie eben – anders als die rein objektiven Staatszielbestimmungen – zugleich subjektiv-individuell einklagbare Rechtspositionen begründen. Der objektive Gehalt der Grundrechte begründet also auch das Recht jedes Einzelnen, von der Rechtsordnung so behandelt zu werden, dass damit den eigenen Grundrechten als subjektiv-individuellen Rechten entsprochen wird. So haben Einzelne zwar keinen allgemeinen Anspruch auf eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Rechtsordnung; dies kann Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG nur als eine objektive Norm fordern. Wenn aber Grundrechtsträger individuell von Diskriminierung betroffen sind, weil die Rechtsordnung in den sie berührenden Bereichen nicht diskriminierungsfrei aus­ 23  Aus der jüngeren Rechtsprechung etwa BVerfGE 117, 202 (227) – heimlicher Vaterschaftstest. 24  So aber beispielsweise Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 149 ff. 25  Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S.  368; zur Entwicklung ausführlich oben unter B. II. 4.–5. 26  Vgl. Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69 I 3, S. 906 f.; zur Begründung des Doppelcharakters in der Lüth-Entscheidung siehe auch oben unter B. II. 4. d) bb). 27  Vgl. Grimm, Voraussetzungen der Vertragsfreiheit, 1987; Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 51 ff.; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 42 ff.; Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 26: „Da die Menschen nicht Objekt, sondern Subjekt sind, muß politische Herrschaft in der Demokratie als freie Selbstbestimmung aller organisiert sein, die Menschen müssen ihre Rechte im Rechtsstaat wirksam verteidigen können, und der Sozialstaat muß die soziale und materielle Grundlage ihres Lebens sichern und damit verhindern, daß sie zum bloßen Objekt der Verhältnisse werden.“ 28  Vgl. Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004, Rn. 27: „Die Grundrechte sind ranghöchste Inhaltsnormen der Rechtsordnung geworden, sie prägen auch die Gesellschaft, nicht nur den Staat, und damit die gesamte Rechtsordnung.“



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 317

gestaltet ist, liegt neben dem objektiven Verstoß zugleich eine subjektive Rechtsverletzung vor, die einen individuellen Rechtsanspruch gegen den Staat auslöst. Das ist die grundsätzliche Konzeption der Lüth-Entscheidung.29 So statuiert, um ein aktuelles Beispiel aus der Rechtsprechung zu nehmen, die Wissenschaftsfreiheit in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension bestimmte (Grund-)Anforderungen an die fachlich-qualitative und verfahrensmäßige Ausgestaltung des Auswahl- und Berufungsverfahrens an Hochschulen. Die Nichtbeachtung etwa der Anforderungen an eine sachkundige Bewertung im Prüfungsverfahren führt dann zu einer subjektiven Rechtsverletzung des betroffenen Grundrechtsträgers, die dieser im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügen kann.30 b) Grundrechte als Sicherung grundlegender subjektiver Belange durch objektive Ausgestaltungsaufträge Das Verständnis der Grundrechte als objektive Normen stellt ihre menschenrechtliche und damit vor-staatliche Begründung nicht in Frage, sondern bindet den Staat an ihre Beachtung.31 Die grundrechtlich geschützten Lebensbereiche betreffen zu einem großen Teil elementare Lebensbedürfnisse oder soziale Handlungskomplexe, die nicht im Recht begründet sind und deren Strukturen nicht von der Rechtsordnung vorgegeben werden, sondern in der Gesellschaft vorfindlich sind.32 So spricht das Grundgesetz von „freier Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1), von der verbotenen Benachteiligung oder Privilegierung aufgrund von gesellschaftlichen Kategorisierungen und Zuschreibungen wie „Geschlecht“ oder „Rasse“33 (Art. 3 Abs. 3), von der „Freiheit des Glaubens“ (Art. 4 Abs. 1), von der freien Äußerung der „Meinung in Wort, Schrift und Bild“ und der Freiheit zur „Berufsausübung“ (Art. 12 Abs. 1 Satz 2). Diese Freiheiten sind zunächst als gesellschaftliche Verwirklichungsmöglichkeiten anzusehen. Die 29  Vgl. oben unter B. II. 4. d) bb); ausführlich Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 65 II 4, S. 543 ff. 30  BVerfG-K, NVwZ 2011, 486 ff. – Habilitationsverfahren. 31  Siehe oben unter B. II. 1. 32  Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 44. 33  Die Verwendung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz ist insbesondere als Ablehnung der nationalsozialistischen Rassenideologie zu verstehen. Darin liegt gerade keine Anerkennung eines wissenschaftlich-biologischen Rassenverständnisses; vgl. Heun, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 3, Rn. 128; zur Entwicklung der Rassentheorie in Deutschland bis 1945 siehe Thieme, Rassentheorie zwischen Mythos und Tabu, 1988; für eine Streichung des Begriffs „Rasse“ etwa mit guten Gründen Cremer, Ein Grundgesetz ohne „Rasse“ – Vorschlag für eine Änderung von Artikel 3 Grundgesetz, 2010.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

eigene Meinung frei zu äußern, einen Glauben zu haben, oder unabhängig vom Geschlecht bestimmte Lebensziele zu verfolgen, liegt in der sozialen Selbstbestimmung der Einzelnen. Verwirklicht wird sie in sozialen Beziehungen.34 Diese wiederum werden durch staatliche Normen wesentlich (mit) beeinflusst (sind aber selbst nicht normativ festgelegt). Es geht also um soziale Wirkungen staatlicher Regulierung. Selbst dort, wo die Grundrechte institutionelle Sicherungen betreffen, die zunächst durch rechtliche Ausgestaltung eingerichtet werden müssen (sogenannte Einrichtungsgarantien35), wo der Gewährleistungsbereich also notwendig normativ ausgestaltet ist, geht es letztlich immer um den Schutz von individuellen (beziehungsweise kollektiven) sozialen Bedürfnissen. So hat das Bundesverfassungsgericht als Kern der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG festgehalten, sie solle dem Grundrechtsträger einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich erhalten“ und „eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens ermöglichen“36, indem sie individuelle Vermögenspositionen wie etwa geistige Urheberschaft, Sozialversicherungsansprüche oder Wohnungsmiete rechtlich absichert und schützt. Ähnliches gilt für die Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1, die auf dem Prinzip der „freien sozialen Gruppenbildung“ beruht37 und hierfür rechtliche Anerkennung statuiert. Die von den Grundrechten geschützten Bereiche bilden somit bestimmte individuelle Bedürfnisse ab, die der Norm vorausliegen und sich zunächst in der gesellschaftlichen Sphäre verwirklichen, für ihre Sicherung und Durchsetzung aber rechtlicher Institute und Formen, das heißt bestimmter Normregime, bedürfen, und in diesem Sinne den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt begründen.38 Die gesellschaftliche Fundierung der grundrechtlichen Freiheit wird durch die Anerkennung der objektiven Seite des Grundrechtsschutzes verstärkt.39 34  Siehe hierzu die klassische Definition Webers: „Soziale ‚Beziehungen‘ soll ein seinem Sinngehalt aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance zunächst beruht“, Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 / 22 (Neudruck 1972), S. 13. 35  Hier verstanden im Sinne der ‚klassischen Rechtsinstitutsgarantien‘; Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 175. 36  BVerfGE 83, 201 (208); 97, 350 (371); 102, 1 (15); st. Rspr. 37  BVerfGE 38, 281 (302 f.); 50, 290 (353); 80, 244 (252 f.); st. Rspr. 38  Die Einsicht in die gesellschaftliche Begründung der ‚(Rechts-)Institute‘ liegt auch der Institutionenlehre Haurious und ihrer Rezeption bei Häberle zugrunde, vgl. dazu oben unter B. III. 4. b) aa). 39  Vgl. Hoffmann-Riem, Art. 5 (Kommunikationsfreiheit), in: Denninger et al., AK-GG, Rn. 40 (1. Lfg.): „Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien […] dient der Verstärkung ihrer Geltungskraft als individuelle Rechte“.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 319

So hat das Bundesverfassungsgericht den Gewährleistungsbereich der Grundrechte – über die klassischen Einrichtungsgarantien hinaus – insbesondere dort erweitert, wo grundrechtlich geschützte Freiheitsinteressen nur unter der Voraussetzung verwirklicht werden können, dass der Staat bestimmte Normregime, Institutionen und Organisationen zur Verfügung stellt und damit im Rahmen von Ausgestaltungsaufträgen eine Vielzahl unterschiedlicher Belange verschiedener Grundrechtsträger berücksichtigt. Hier ist der Sozialbezug besonders virulent, da eine Reihe von prinzipiell schützenswerten Belangen innerhalb des betroffenen Lebensbereichs zum Ausgleich gebracht werden muss. Es geht somit um die rechtliche Ordnung eines Sozialbereichs mit dem Ziel der individuellen und kollektiven Freiheitssicherung.40 Auch in dieser Dimension hat die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte einen primär individuell-freiheitssichernden Charakter.41 Besonders deutlich wird das bei mehrdimensionalen oder mehrpoligen Freiheitsproblemen. Diese sind dadurch geprägt, dass eine staatliche Maßnahme für eine Person oder Gruppe einerseits freiheitsfördernd wirkt, zugleich aber – sozusagen auf der anderen Seite – eine unmittelbare Freiheitsbeeinträchtigung für andere Personen oder Gruppen nach sich zieht. Die Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs sind hier von vornherein durch ihren sozialen Bezug begrenzt. Mehrdimensionale Freiheitsprobleme sind infolgedessen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht auf ein Zweck-Mittel-Problem zurückführen lassen, sondern Ziel-(Zweck)-Konflikte hervorrufen, die durch Abwägung aufzulösen sind. So führt Schuppert aus: Dies ist etwa typisch dann der Fall, wenn der Gesetzgeber potentiell gegenläufige Interessen zum Ausgleich bringen will: die von Mietern und Hausbesitzern im Kündigungsschutzrecht, die von Verkäufern und Käufern im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die von Hochschullehrern, Mittelbau, sonstigen Bediensteten und Studenten im Hochschulgesetz, die von werdender Mutter und werdendem Leben in einem Gesetz über die Schwangerschaftsunterbrechung oder schließlich die von Arbeitnehmern und Anteilseignern in der Regelung der betrieblichen Mitbestimmung. Hier ist der Staat, der Gesetzgeber nicht in der Rolle des Produzenten öffentlicher Güter […], sondern er steht vor der schwierigen Aufgabe, durch die soziale Befindlichkeit vorgegebene unterschiedliche Interessen (Mieter – Eigentümer; Arbeitnehmer – Arbeitgeber) auszubalancieren 40  Vgl. Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S.  45  f.: Man muss auch übergreifende und überindividuelle Ebenen einbeziehen, um aus einer Gesamtperspektive heraus angemessene Formen der Beschreibung individueller (Freiheits-) Positionen zu finden. 41  Missverständlich insoweit BVerfGE 83, 181 (197) – 6. Rundfunkurteil: „Im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes handelt es sich bei der Rundfunkfreiheit […] nicht um ein Grundrecht, das seinem Träger zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung oder Interessenverfolgung eingeräumt ist.“

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oder in einem institutionellen Rahmen zusammengefügte Gruppen einander zuzuordnen.42

c) Speziell: Rundfunk-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit Komplexe Freiheitsprobleme stellen sich beispielsweise im Rahmen der Rundfunkfreiheit, in der das objektiv-funktionale Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts in besonderer Weise zum Ausdruck kommt.43 Die Rundfunkfreiheit ist vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als „dienende Freiheit“ bezeichnet worden. Sie diene der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung, die unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation auszugestalten und zu sichern sei. Indem Art. 5 Abs. 1 GG Meinungsäußerungs-, Meinungsverbreitungs- und Informationsfreiheit als Menschenrechte gewährleistet, sucht das Grundrecht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts den „Prozess der freien menschlichen Kommunikation“ verfassungsrechtlich zu schützen.44 Der Rundfunk sei dabei „Medium“ und „Faktor“ des geschützten Kommunikationsprozesses.45 Der Staat trage damit die Verantwortung auch dafür, dass die subjektive Entfaltung der „Kommunikatoren (und Rezipienten […]) im individuellen und gesellschaftlichen Raum real möglich ist“.46 Infolgedessen kommt nach dem Bundesverfassungsgericht ein bloß abwehrrechtliches Verständnis des Grundrechts nicht in Betracht. Es bedürfe der gesetzgeberischen Ausgestaltung, der Schaffung einer positiven Ordnung, die „sicherstellt, daß der Rundfunk ebenso wenig wie dem Staat einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird, sondern die Vielfalt der Themen und Meinungen wiedergibt, die in der Gesellschaft eine Rolle spielen“.47 Um dies zu erreichen, „sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert“ und deshalb geeignet sind, den grundrechtlich gebotenen Schutz zu gewährleisten.48 Die Rundfunkfreiheit steht dabei „ohne Rücksicht auf öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Rechtsform, kommerzielle oder nichtkommerzielle Betätigung jedem zu, der Rundfunkprogramme veranstaltet“. Im Kern ge42  Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 40 f.; vgl. auch Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S. 381 ff. 43  Degenhart, § 105 Rundfunkfreiheit, 2011, Rn. 1. 44  BVerfGE 57, 295 (139 f.) – 3. Rundfunkurteil. 45  BVerfGE 74, 297 (323) – 5. Rundfunkurteil. 46  Hoffmann-Riem, Art. 5 (Kommunikationsfreiheit), in: Denninger et al., AKGG, Rn. 41 (1. Lfg. 2001). 47  BVerfGE 83, 238 (296) – 6. Rundfunkurteil. 48  BVerfGE 57, 295 (320) – 3. Rundfunkurteil.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 321

währleistet sie Programmfreiheit, das heißt, dass „die Programmgestaltung Sache des Rundfunks bleibt und sich an publizistischen Kriterien ausrichten kann. Rundfunkprogramme sollen frei von staatlicher Lenkung, aber ebenso von privater Indienstnahme veranstaltet werden. Den damit bezeichneten Gefahren sind grundsätzlich alle Veranstalter von Rundfunk ausgesetzt. Deswegen müssen sie auch ohne Unterschied in den Grundrechtsschutz einbezogen werden.“49 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht dem öffentlichrechtlichen Rundfunk die Aufgabe übertragen, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen,50 und hierfür eine Bestands- und Entwicklungsgarantie im dualen Rundfunksystem entwickelt51, zugleich aber darauf geachtet, dass sich auch der private Rundfunk angemessen entfalten kann.52 Bei der objektiven Gewährleistung der Rundfunkfreiheit geht es demzufolge um die Wahrung individueller Kommunikationsbelange vor dem Hintergrund der Besonderheiten von Massenkommunikation. Sie ist am normativen Grundsatz „kommunikativer Chancengleichheit (-gerechtigkeit) ausgerichtet“.53 Die so bezeichnete Gewährleistungsfunktion gilt grundsätzlich auch für die anderen durch Art. 5 Abs. 1, 2 GG geschützten Kommunikationsgrundrechte, insbesondere die Pressefreiheit. Doch strukturell ergeben sich deutliche Unterschiede, die in den realen Bedingungen der geschützten Freiheitsbereiche begründet liegen. So stellt Degenhart fest, dass trotz ähnlicher Bedeutung der Rundfunk- wie der Pressefreiheit „für diese Medien […] grundlegend verschiedene Ordnungsmodelle auf einfach-gesetzlicher wie verfassungsrechtlicher Ebene entwickelt“ worden sind, was sich in der Entwicklung einer jeweils spezifischen Dogmatik niedergeschlagen hat.54 Während das Bundesverfassungsgericht auch in Bezug auf die Pressefreiheit schon früh in seiner Rechtsprechung die objektive Garantie einer „Freien 49  BVerfGE 95, 220 (234) – Aufzeichnungspflicht / Radio Dreyecksland; vgl. auch BVerfGE 97, 298 (310) – extra-radio. 50  BVerfGE 73, 118 (158) – 4. Rundfunkurteil; BVerfGE 87, 181 (199) – 7. Rundfunkentscheidung; BVerfGE 90, 60 (70) – 8. Rundfunkentscheidung; zusammenfassend Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 5 I, II, Rn. 264. 51  Daraus hat das Gericht beispielsweise Sicherungen für die Festsetzung der Rundfunkgebühren abgeleitet, siehe BVerfGE 87, 181 – 7. Rundfunkentscheidung; BVerfGE 90, 60 – 8. Rundfunkentscheidung und BVerfGE 119, 181 – Rundfunk­ finanzierungsstaatsvertrag, dazu Gounalakis / Wege, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk hat seinen Preis, 2008. 52  Vgl. Jarass, Rundfunkfreiheit, 2000, S. 68. 53  Hoffmann-Riem, Art. 5 (Kommunikationsfreiheit), in: Denninger et al., AKGG, Rn. 42 (1. Lfg. 2001). 54  Degenhart, § 105 Rundfunkfreiheit, 2011, Rn. 1.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Presse“ postuliert hat,55 sind – anders als bei der Rundfunkfreiheit – die daraus gegebenenfalls erwachsenen Ausgestaltungsanforderungen in der Rechtsprechung bis heute nur wenig konkretisiert worden. Das mag daran liegen, dass trotz des ‚Zeitungssterbens‘ – und durchaus nicht unbedenk­licher Marktkonzentrationen56 – auf dem Markt (noch) eine ausreichende Pluralität und Meinungsvielfalt vorhanden ist und sich grundrechtsgefährdende Medienmonopole im Pressebereich, anders als in anderen Staaten, in Deutschland bislang (noch) nicht in einer Weise gebildet haben, die Anlass zur Besorgnis geben könnte.57 Das Bundesverfassungsgericht konnte sich demgemäß weitgehend auf die Formulierung von presserechtlichen Gewährleistungen durch Aktivierung der Abwehr- und Ausstrahlungsfunktion beschränken.58 Die spezifischen Gefahren, denen wiederum die Rundfunkfreiheit ausgesetzt ist, sieht das Bundesverfassungsgericht vor allem darin, dass der Rundfunk mit seiner hohen Verbreitungs- und Suggestivwirkung dem Staat oder einzelnen gesellschaftlichen Kräften ausgeliefert sein könnte, die Meinungsbildung in ihrem Sinn einseitig beeinflussen können. Dieser Gefährdungslage versucht das Gericht, wie gesehen, durch gewährleistungsspezifisch entwickelte Anforderungen zur Sicherung von Programmautonomie, 55  Grdl. BVerfGE 20, 162 (175 f.) – Spiegel: „Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtsstellung nach der Verfassung. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst – entsprechend der systematischen Stellung der Bestimmung und ihrem traditionellen Verständnis – ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichem Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut ‚Freie Presse‘. Der Staat ist – unabhängig von subjektiven Berechtigungen Einzelner – verpflichtet, in seiner Rechtsordnung überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen. Freie Gründung von Presseorganen, freier Zugang zu den Presseberufen, Auskunftspflichten der öffentlichen Behörden sind prinzipielle Folgerungen daraus; doch ließe sich etwa auch an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten.“ 56  Der bundesdeutsche Zeitungsmarkt wird von den vier großen Konzernen Bertelsmann, Springer, Bauer und Burda, von denen die meisten auflagestarken Tageszeitungen und Zeitschriften stammen, weitgehend beherrscht; vgl. Hofmann, Medienkonzentration und Meinungsvielfalt – Eine Analyse der Funktionsgrenzen der Fusionskontrolle auf dem Pressemarkt, 2010, die auch Handlungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Fusionskontrolle aufzeigt, ebd., S. 174 ff. 57  Tendenziell kritisch gegenüber der institutionellen Dimension der Pressefreiheit Bullinger, § 163 Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, 2009, Rn. 40 ff., der mit Recht eine ‚Staatspresse‘ ablehnt. 58  Eine Zusammenstellung der in der Rspr. anerkannten Gewährleistungen mit Blick auf die sie begründenden Gefährdungslagen findet sich in Tabelle 2, S. 323 f.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 323 Tabelle 2 Die folgende Übersicht zeigt die wesentlichen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten presserechtlichen Gewährleistungen

(Fortsetzung nächste Seite)

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

(Tabelle 2: Fortsetzung)



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 325

Staatsfreiheit, Pluralismus und Informations- und Meinungsvielfalt in der dualen Rundfunkordnung zu begegnen.59 Dabei hat es zugleich betont, dass sich die Interpretation des Grundrechts jeweils den gewandelten technischen und sonstigen tatsächlichen Verhältnissen anpassen muss.60 In diesem Zusammenhang stellt Hoffmann-Riem fest, dass die bisherige Rechtsordnung der Massenkommunikation eine Antwort auf den Stand gesellschaftlicher und medialer Entwicklung zunächst der 1950er Jahre, dann des Übergangs zur dualen Rundfunkordnung in den 1980er Jahren war und angesichts der sich rapide verändernden Wirklichkeit der Massenkommunikation gegebenenfalls einer Neuausrichtung bedarf.61 Als relevante Problemkreise nennt er: Sicherung der Offenheit des Zugangs zu Medien, Manipulationsabwehr, Ermöglichung selbstbestimmter Kommunikationsnutzung, Vermeidung von Zensuräquivalenten und Ermöglichung von Angebotsvielfalt.62 Eine verfassungsrechtliche Argumentationslinie, welche die institutionellgewährleistende Dimension der Grundrechte in den Mittelpunkt stellt, hat das Bundesverfassungsgericht auch in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) verfolgt. Für die freie wissenschaftliche Betätigung des Einzelnen sei die Teilnahme am größtenteils mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetrieb in aller Regel eine notwendige Voraussetzung.63 Daher gewähre das Grundrecht allen Wissenschaftlern ein Recht auf staatliche Maßnahmen, die zum Schutz der individuellen wissenschaftlichen Betätigung „unerlässlich“ sind, was insbesondere auch organisatorische Vorkehrungen sowie Teilhabe- und Mitwirkungsrechte im Hochschulbereich einschließt.64 Ziel dieser Rechtsprechung ist einerseits, den einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Institutionen einen Freiraum zur autonomen wissenschaftlichen Betätigung zu sichern, und andererseits auch die kollektiven Belange wie das Interesse der Allgemeinheit an einem gut funktionierenden Wissenschaftsbetrieb, etwa in der Lehre oder bei der Hochschulorganisation, zur Geltung zu bringen.65 Wirkt der Grundrechtsschutz in einem institutionell ausgestalteten Grundrechtsbereich einem realen Machtungleichgewicht entgegen, durch das 59  Vgl. die Zusammenfassung der Rspr. bei Jarass, Rundfunkfreiheit, 2000; Bethge, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 5, Rn. 90 ff. 60  Vgl. BVerfGE 74, 297 (350 f.) – 5. Rundfunkurteil; BVerfGE 73, 118 (154) – 4. Rundfunkurteil. 61  Hoffmann-Riem, Mediendemokratie als rechtliche Herausforderung, 2003, S. 214. 62  Ebd., S.  216 ff. 63  Grdl. BVerfGE 35, 78 (115 f.) – Hochschulurteil. 64  Dabei kommt den Hochschullehrern und -lehrerinnen eine besonders hervorgehobene Stellung zu; vgl. BVerfGE 35, 78 (127) – Hochschulurteil; BVerfGE 95, 193 (209 f.) – DDR-Hochschullehrer. 65  Vgl. BVerfGE 111, 333 (353 ff.) – Brandenburgisches Hochschulgesetz.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

grundrechtlich geschützte Belange in nicht gerechtfertigter Weise zurückgedrängt werden, so wirkt er in aller Regel freiheitsfördernd. Das Gegenteil kann allerdings der Fall sein, wenn Verfassungsrechtsprechung im Ergebnis statt eines partiellen Machtausgleichs eine einseitige Machtverstärkung zugunsten ohnehin starker Interessenlagen bewirkt. Unter diesem Gesichtspunkt kann die frühe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur „Gruppenuniversität“ kritisch betrachtet werden, auch wenn sie sehr begrüßenswerte Elemente zum objektiven Schutz der Wissenschaftsfreiheit enthält. So hatte das Bundesverfassungsgericht im zeithistorischen Kontext der Hochschulreformen in den 1970er Jahren entschieden, in den sogenannten wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten gebühre der Gruppe der Hochschullehrer als der fachlich qualifiziertesten Gruppierung in den Fragen von Forschung und Lehre ein über die vorgesehene Repräsentanz von 50 Prozent der Stimmen hinausgehendes Übergewicht in den Selbstverwaltungsgremien.66 Weitgehend ausgeblendet wurde in dieser Rechtsprechung das ohnehin bereits vorhandene – und auch durch institutionelle Regelungen nicht vollständig ausgleichbare – Machtungleichgewicht zum Nachteil anderer Hochschulangehöriger, denen nach der Rechtsprechung ebenfalls das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit zusteht, was im Sondervotum der Richter Simon und der Richterin Rupp-v. Brünneck entsprechend kritisch angemerkt worden ist.67 Die Untersuchung hat gezeigt: Rundfunk- und Wissenschaftsfreiheit sind Grundrechte, die im Rahmen der Lösung mehrpoliger oder mehrdimensionaler Freiheitsprobleme eine spezifisch organisatorisch-institutionelle Ausformung erfahren haben. Insofern haben sie einerseits einen besonderen Charakter, zeigen aber auch auf, dass sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an einem materialen und funktionell ausdifferenzierten Grundrechtsverständnis orientiert, das je nach den Spezifika der geschützten Lebensbereiche sowie einfach-rechtlichen Ordnungs- und Regulierungsmodellen unterschiedliche Gewährleistungsgehalte hervorbringen kann.68 Denn betrachtet man etwa den Wortlaut oder die Systematik, aber auch die Ent66  BVerfGE

35, 79 (125 ff.) – Hochschulurteil. dem Sondervotum heißt es unter anderem: „Im arbeitsteiligen und auf Kooperation angelegten Wissenschaftsbetrieb wird aus einem Recht des Einzelnen zur freien Selbstbestimmung das Herrschaftsrecht einer Gruppe zur Fremdbestimmung über andere Grundrechtsträger, die Partner im wissenschaftlichen Prozeß der Suche nach Erkenntnis sind und die – wie etwa der akademische Mittelbau – zur Erfüllung der Aufgabe der Universität unentbehrlich geworden sind und bislang doch wohl keine angemessene Behandlung erfahren haben. Wenn der Gesetzgeber solche oft genug entwürdigenden Benachteiligungen abbaut, dann befindet er sich im Einklang mit dem, was ihm die objektive Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG zu tun aufgibt“; abweichende Meinung Simon / Rupp-v. Brünneck BVerfGE 35, 148 (162). 68  Degenhart, § 105 Rundfunkfreiheit, 2011, Rn. 5. 67  In



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 327

stehungsgeschichte69 der in Art. 5 GG enthaltenen Grundrechte, so erschließt sich nicht, weshalb die Rundfunk- und Wissenschaftsfreiheit sich in ihrer dogmatischen Konkretisierung, die sie in der Rechtsprechung erfahren haben, in solch fundamentaler Weise von den anderen Grundrechten der Meinungs-, Informations-, Presse- und Kunstfreiheit unterscheiden. Dies wird erst mit Blick auf den in Bezug genommenen Sachbereich, den Realbereich oder Normbereich im Sinne F. Müllers,70 verständlich. Da sich Wissenschaftsfreiheit unter den heutigen Bedingungen vor allem in den Hochschulen und Forschungseinrichtungen verwirklicht, bedarf es spezifisch institutioneller und organisatorischer Gewährleistungen, um reale Freiheitsausübung einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem sozialen und institutionellen Kontext zu ermöglichen. Die Rundfunkfreiheit, verstanden als objektive Gewährleistung eines möglichst pluralistischen und damit freiheitsfördernden Rundfunk­wesens, ist schon aufgrund der hohen technischen Anforderungen und der notwendigen Ressourcen – speziell auch angesichts der Gefahren ihrer ein­seitigen Verteilung und Nutzung – auf Regulierung, Organisation und Ausgestaltung angewiesen. Die Meinungsfreiheit hingegen verwirklicht sich in der sozialen Realität im Normalfall bereits dadurch, dass der Staat der individuellen Freiheitsausübung im Sinne selbstbestimmten Handelns genügend Raum lässt. Hier stehen demgemäß die Abwehr- und die Ausstrahlungsfunktion im Vordergrund. 3. Grundrechtsfunktionen In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts haben sich im Zuge des materialen Grundrechtsverständnisses auch in Bezug auf die anderen Grundrechte verschiedene Funktionen herausgebildet, die weit über die Abwehrfunktion im klassischen Sinn hinausgehen.71 So hat das Gericht den Schutzgehalt der Grundrechte seit den 1950er Jahren immer mehr erweitert und ausgebaut, ohne sich dabei, wie gesehen, zu Beginn „auf breitere Vorarbeiten des Schrifttums stützen zu können“.72 Die Berufung auf eine „Wertentscheidung“, „Wertordnung“ oder einen „objektiven Wertgehalt“ der Grundrechte diente dabei, wie dargelegt, – in Abkehr vom Werterelativismus der Weimarer Zeit – als theoretische Grundlage für die Entwicklung spezifischer Gewährleistungsfunktionen, die neben die Abwehrfunk­ 69  Zu

den klassischen Methoden der Auslegung siehe oben unter C. I. Normbereichskonzept siehe oben unter B. III. 4. a) aa). 71  Vgl. Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004, Rn. 2 ff. 72  Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S. 364; vgl. oben unter B. III. 1. b). 70  Zum

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tion getreten sind. Im Folgenden sollen die verschiedenen Grundrechtsfunktionen nicht in der von der Rechtsprechung entwickelten Form detailliert dargestellt und dogmatisch eingeordnet werden; hierfür sei auf die reichlich vorhandene Literatur verwiesen.73 Vielmehr soll ein kurzer Überblick gegeben werden, der die unterschiedlichen „Dimensionen“74 des Grundrechtsschutzes und ihre Gewährleistungsgehalte in ihrer Entwicklung durch die Rechtsprechung aufzeigt. Schon vorweg ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Terminologie als auch die Systematisierung der verschiedenen Funktionen im Schrifttum uneinheitlich sind und je nach theoretischer Position variieren können, beispielsweise wenn versucht wird, einzelne Funktionen insgesamt einem abwehrrechtlichem Verständnis unterzuordnen.75 Die hier vorgenommene Kategorisierung orientiert sich an den in einschlägigen Lehrbüchern und Kommentierungen anzutreffenden Einteilungen und Bezeichnungen.76 a) Abwehrfunktion Wie es bereits im Lüth-Urteil heißt, sind die Grundrechte „in erster Linie“ Abwehrrechte des Einzelnen gegen Eingriffe des Staates,77 in diesem Sinne also „Eingriffsabwehrrechte“78. Auf die mit der Abwehrfunktion verbundenen Fragen wurde bereits ausführlich eingegangen. Während der abwehrrechtliche Gehalt der Grundrechte auch heute eine hervorgehobene Stellung unter den verschiedenen Grundrechtsdimensionen einnimmt, kann er weder als ‚klassisch‘ subjektiv-rechtlicher Gehalt den objektiv-rechtlichen Dimensionen gegenübergestellt79, noch können die anderen Grundrechts73  Statt vieler Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000; vgl. auch die Beiträge von Rüfner, Starck, Merten, Kloepfer, Calliess und Schmidt-Aßmann in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, 2006, §§ 38–45; Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69 III–V, S. 923 ff.; siehe auch die folgenden Nachweise in Fn. 76. 74  Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 41 ff. 75  Zur Rekonstruktion des Abwehrrechts ausführlich oben unter C. IV. 2. e). 76  Zugrunde gelegt werden: Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Vorb. vor Art. 1, Rn. 5 ff.; Sachs, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Vor Art. 1, Rn.  27 ff.; von Münch, in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Vorb. Art. 1–19, Rn.  17 ff.; Badura, Staatsrecht, 2010, C, Rn. 20 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48, Rn. 18 ff. 77  BVerfGE 7, 198 (204 f.); siehe auch oben unter C. IV. 2. b). 78  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S.  25; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 74: „Die abwehrrechtliche Dogmatik folgt anerkanntermaßen einem außentheoretischen Modell, wonach ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts […] ein prima facie-Recht begründet, welches zum definitiven Recht in Gestalt eines Abwehranspruches erstarkt, wenn der Eingriff nicht gerechtfertigt ist.“



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funktionen allein auf ein abwehrrechtliches Verständnis zurückgeführt werden.80 Das subjektive Abwehrrecht ist Ausfluss der objektiven Abwehrfunktion der Grundrechte – oder vice versa.81 79

b) Ausstrahlungswirkung Wie das Bundesverfassungsgericht ebenfalls erstmals in seinem LüthUrteil entschieden hat, sind bei der Auslegung und Anwendung aller Vorschriften des einfachen Rechts die Wertentscheidungen der Grundrechte zu beachten.82 Dieser Einfluss der Grundrechte auf das einfache Recht wird als Ausstrahlungswirkung bezeichnet und gilt grundsätzlich in allen Rechtsgebieten, er ist auch nicht auf Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe beschränkt.83 Besondere Relevanz hat die Ausstrahlungswirkung im Privatrecht, weshalb der Begriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts außerhalb des Privatrechts eher selten verwendet wird.84 So spricht das Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten nur von der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts. Wie stark der angelegte Prüfungsmaßstab sich jedoch ähnelt beziehungsweise vom Ausgangspunkt her identisch ist, zeigt sich schon im Vergleich der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Formeln für den relevanten Kontrollmaßstab. So heißt es in Bezug auf die Ausstrahlungswirkung in der Entscheidung zum Unterhaltsverzicht85, die hier pars pro toto angeführt sei: Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, damit vor allem auch durch die zivilrechtlichen Generalklauseln (vgl. BVerfGE 7, 198 [205 f.]; 42, 143 [148]). Der Staat hat auch insoweit die Grundrechte des Einzelnen zu schützen und vor Verletzung durch andere zu bewahren (vgl. BVerfGE 46, 160; 49, 89; 53, 30; 56, 54; 79  Siehe

oben unter D. I. 2. a). oben unter C. IV. 2. c)–f). 81  Entstehungsgeschichtlich muss das Abwehrrecht in Bezug auf das Grundgesetz als eine frühere Entwicklung gelten, zumal das Verständnis der Grundrechte als „wertentscheidende Grundsatznormen“ und in dessen Folge die Entwicklung der verschiedenen (weiteren) Grundrechtsfunktionen sich erst in und mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet haben; siehe ausführlich oben unter B. II. 4. 82  Siehe oben unter B. II. 4. d) bb). 83  Vgl. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, S. 230  f.; Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 925 ff. 84  Vgl. Jarass, §  38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn.  61 m. w. N. 85  Zu dieser Entscheidung ausführlich unter E. I. 2. d). 80  Ausführlich

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

88, 203). Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Ihrer Beurteilung und Abwägung von Grundrechtspositionen im Verhältnis zueinander kann das nur dann entgegentreten, wenn eine angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [93]; 42, 143 [149]; stRspr).86

Damit nimmt das Bundesverfassungsgericht auch bei der Ausstrahlungswirkung unmittelbar Bezug auf die für die Prüfung spezifischen Verfassungsrechts in einem Beschluss des Ersten Senats vom Juni 1964 entwickelte und nach dem damaligen Berichterstatter benannte Heckʼsche Formel, die es auch bei der Kontrolle anderer fachgerichtlicher Entscheidungen, etwa der Verwaltungs- und Sozialgerichte, heranzieht.87 Es wird daher im Schrifttum zu Recht die Überlegung angestellt, die Ausstrahlungswirkung als ein „spezifisch auf das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten bezogenes Institut“ zu verstehen, das den Fachgerichten im Rahmen der Konstitutionalisierungsrechtsprechung einen ausreichenden Spielraum sichern soll.88 Jedenfalls ist die auf Dürig89 zurückgehende Wendung von der „mittelbaren Drittwirkung“ in mehrfacher Hinsicht missverständlich und wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher weithin vermieden. Einerseits werden die Privatpersonen gerade nicht – auch nicht mittelbar – zu Adressaten der Grundrechte; die Bindung trifft nach Art. 1 Abs. 3 GG grundsätzlich nur den Staat und seine Organe bei der Ausgestaltung und Anwendung der Rechtsordnung.90 Zum anderen ist das Privatrecht – anders in der Konzeption Dürigs – gerade kein Sonderrecht der Privatinteressen, in dessen Bereich die Grundrechte eine lediglich eingeschränkte oder nur über die Generalklauseln vermittelte Wirkung haben,91 86  BVerfGE 103, 89 (100) – Unterhaltsverzichtsvertrag; ähnlich etwa BVerfGE 81, 242 (253) – Handelsvertreter; BVerfGE 89, 214 (230) – Bürgschaft; BVerfGE 102, 347 (362) – Schockwerbung I. 87  BVerfGE 18, 85 (93); dazu im Folgenden unter D. II. 2. a). 88  Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 61; vgl. auch den Hinweis bei Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts – Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, 2001, S. 66. 89  Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, 1956, S. 157 ff. 90  Ausführlich Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S.  419  ff.; Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 65. 91  Dürig ging es gerade darum, gegenüber der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung den Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht zu begrenzen; vgl. oben unter B. II. 4. d) aa).



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sondern unterliegt ebenso wie alle anderen Bereiche der Rechtsordnung der Grundrechtsbindung sowohl im Bereich der Gesetzgebung als auch der Rechtsanwendung. Die Ausstrahlungswirkung liegt quer zu den anderen Grundrechtsfunktionen, sie kann sowohl abwehrrechtlich92 als auch schutzrechtlich93 konzipiert oder als Unterfall der „verfassungskonformen Auslegung“94 angesehen werden. Die besseren Gründe im Sinne des materialen Grundrechtsverständnisses sprechen allerdings dafür, die Ausstrahlungswirkung als eigene Grundrechtsfunktion zu betrachten, über die das Bundesverfassungsgericht die Fachgerichte auf die Einhaltung der grundrechtlichen Gewährleistungen kontrolliert und damit das einfache Recht in seiner praktischen Anwendung durch Verwaltung und Gerichte grundrechtlich überformt, sprich konstitu­ tionalisiert.95 c) Schutzpflichten Eine der bedeutenden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundrechtsfunktionen ist die Schutzpflicht. Sie erlegt dem Staat und seinen Organen auf, Einzelne vor Grundrechtsverletzungen durch private Personen oder Organisationen durch das Ergreifen geeigneter Maßnahmen zu bewahren.96 Im konkreten Fall einer drohenden Verletzung oder Gefährdung hat der oder die Betroffene einen grundrechtlichen Anspruch auf staatliches Handeln,97 wobei der Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum vor allem des Gesetzgebers sehr weit, das heißt deutlich weiter als bei der Abwehrfunktion gezogen wird.98 An der Entwicklung der Lehre von den Schutzpflichten lässt sich das problemorientierte Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts gut illustrieren. Die Schutzfunktion wurde vom Bundesverfassungsgericht grundlegend in der Entscheidung zur Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1975 entwickelt.99 Der Zweite Senat sah damals in der vom Gesetzgeber 92  So insbesondere Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, und Schwabe, Drittwirkung der Grundrechte, 1971; dazu ausführlich oben unter C. IV. 2. e). 93  Vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 349; weitere Nachweise bei Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 76 III  4, S. 1560 f. 94  So etwa Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 60; Sachs, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Vor Art. 1, Rn. 32; Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 76 III 3, S. 1556. 95  Dazu oben unter B. II. 5. 96  Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb., Rn. 101. 97  So ausdrücklich BVerfGE 77, 170 (214) – Lagerung von C-Waffen. 98  Vgl. BVerfGE 77, 170 (214 f.) und näher im Folgenden. 99  BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I.

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vorgesehenen Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs während der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft einen Verstoß gegen das Recht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Zu diesem Ergebnis gelangte die Senatsmehrheit, indem sie über den objektiven Wertgehalt des Grundrechts eine Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens begründete. Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sei, zu entscheiden, wie er die Schutzpflicht erfülle. Allerdings müsse der Schutz effektiv sein. Wegen des hohen Wertes des gefährdeten Rechtsguts dürfe der Gesetzgeber nicht hinter einem strafrechtlich bewährten Lebensschutz zurückbleiben.100 Diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1993 zwar deutlich relativiert – ein umfassender strafrechtlicher Schutz wird nun nicht mehr gefordert, sondern es reicht die Rechtswidrigkeit der Abtreibung –, dem Grunde nach aber beibehalten.101 Interessant ist: Auch im abweichenden Votum des Richters Simon und der Richterin Rupp-von Brünneck zur ersten Abtreibungsentscheidung wird die Begründung von Schutzpflichten keineswegs grundsätzlich abgelehnt, allerdings der Spielraum des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers gegenüber der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht stärker betont.102 Zu Recht lehnen die Dissenter eine aus dem Grundgesetz abgeleitete „Pflicht zum Erlass von Strafnormen“ im Fall der Schwangerschaftsunterbrechung ab, da damit der Freiheitsschutz in das Gegenteil verkehrt wird und das Bundesverfassungsgericht in den Funktionsbereich des Parlaments übergreift, das über eine gesellschaftlich hoch umstrittene Frage entschieden hatte.103 Zudem bleiben die Urteile zum Schwangerschaftsab100  BVerfGE

39, 1 (42 ff.). 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II. 102  Siehe abw. Meinung Rupp-v.  Brünneck / Simon, BVerfGE 39, 1 (72): „Freilich kann schon wegen der wachsenden Bedeutung fördernder Sozialmaßnahmen für die Effektuierung der Grundrechte auch in diesem Bereich nicht auf jede verfassungsgerichtliche Kontrolle verzichtet werden; die Erarbeitung eines geeigneten, die ­Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums wird möglicherweise zu den Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten gehören. Solange es aber daran noch fehlt, droht die Gefahr, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung beschränkt, sondern diese durch eine andere, vom Gericht für besser gehaltene ersetzt. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße, wenn – wie hier – in stark kontroversen Fragen eine nach langen Auseinandersetzungen getroffene Entscheidung der Parlamentsmehrheit von der unterlegenen Minderheit vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen wird. Unbeschadet der legitimen Befugnis der Antragsberechtigten, verfassungsrechtliche Zweifel auf diesem Wege klären zu lassen, gerät hier das Bundesverfassungsgericht unversehens in die Lage, als politische Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten in Anspruch genommen zu werden.“ 101  BVerfGE



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bruch in einer einseitigen Betrachtung der Schutzpflichtenperspektive zugunsten des Fötus verhaftet. Andere Funktionen des Grundrechtsschutzes wie das Diskriminierungsverbot werden gar nicht erst herangezogen mit der Folge, dass die soziale Lage der betroffenen Frauen systematisch ausgeblendet wird.104 103

Die in der ersten Abtreibungsentscheidung entwickelte Schutzfunktion der Grundrechte wurde vom Bundesverfassungsgericht in der Folge zunächst im Bereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Leben und Gesundheit) weiterentwickelt.105 So lehnte der Erste Senat in seiner Entscheidung zur Schleyer-Entführung von 1977 ab, aus dem Grundrecht die Pflicht des Staates abzuleiten, auf die Forderungen der Entführer einzugehen, um damit (möglicherweise) das Leben des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer zu retten. Das Gericht hob dabei den Spielraum der staatlichen Organe bei der Erfüllung der Schutzpflicht hervor. Nur wenn ein effektiver Schutz auf andere Weise nicht zu erreichen sei, könne sich die grundrechtliche Schutzpflicht auf ein bestimmtes Mittel verengen.106 In der Kalkar-I-Entscheidung übertrug der Zweite Senat 1978 seine Schutzpflichten-Rechtsprechung auf den Bereich des Nachbarschutzes bei Hochrisikoanlagen wie Kernkraftwerken. Die Entscheidung betont, dass sich aus der grundrechtlichen Schutzfunktion auch die Pflicht des Normgebers ableiten lässt, rechtliche Regelungen so auszugestalten, dass bereits die Gefahr von schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen eingedämmt wird. Daraus leitet das Gericht eine Auslegung des Atomgesetzes ab, die eine 103  Vgl. bereits oben unter D. I. 1. b); zu den funktionell-rechtlichen Grenzen der Grundrechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unter D. II. 2. 104  Zum Verständnis des Art. 3 Abs. 3 GG als Hierarchisierungsverbot Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, 1995, S. 240; zur Bedeutung der eingenommenen Perspektive unter E. II. 1.; vgl. auch Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 169 f.: „Die sozialen Probleme der Schwangerschaftsunterbrechung wurden in dem [Schwangerschafts-]Urteil weitgehend ausgeklammert. Die Zahl der illegalen Abtreibungen, die verschwindend geringe Zahl von Verurteilungen, die soziale Benachteiligung der Frauen aus der Unterschicht oder auch Erpressungen aufgrund der Kenntnis eines illegalen Aborts – diese Fakten wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen argumentierten die Richter vorwiegend dogmatisch und verwendeten einen metaphysischen Begriff wie den der ‚Schöpfungsordnung‘. Die beiden Richter dagegen, die die abweichende Meinung verfaßten, haben der sozialen Problematik breiten Raum gegeben und ihr ‚dissenting‘ gilt im internationalen Vergleich als die realistischste verfassungsrechtliche Beurteilung der Schwangerschaftsunterbrechung.“ 105  Zur Rechtsprechungsentwicklung bis Mitte der 1980er Jahre instruktiv Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 43 ff. 106  BVerfGE 46, 160 (164 f.) – Schleyer.

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„bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge“ zu gewährleisten hat, auch wenn es die Konkretisierung des gebotenen Schutzniveaus unter Berufung auf einen „dynamischen Grundrechtsschutz“ weitgehend der Exekutive überlässt.107 In der Mülheim-Kärlich-Entscheidung von 1979 greift wiederum der Erste Senat den schutzrechtlichen Ansatz auf und verbindet ihn mit der Funktion des Grundrechtsschutzes durch Verfahrensgewährleistungen.108 Eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kommt nach diesem Beschluss auch dann in Betracht, wenn die Genehmigungsbehörde atomrechtliche Verfahrensvorschriften außer Acht lässt, die der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht erlassen hat.109 Weiter im Rahmen der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und der im weitesten Sinne nachbarschutzrechtlichen Argumentation erfolgt dann die Übertragung dieser Rechtsprechung auf den Problembereich des Lärmschutzes beim Flugverkehr in einer Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 1981,110 die 1988 vom selben Senat auf den Straßenverkehr ausgedehnt wird.111 In beiden Entscheidungen, ebenso wie in der Entscheidung zur C-Waffen-Stationierung von 1987,112 betont das Gericht den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht komme diesem ein großer Spielraum zu, der auch Raum lasse, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten seien, könne deshalb nur begrenzt nachgeprüft werden. Das Bundesverfassungsgericht könne eine Verletzung der Schutzpflicht nur feststellen, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen“.113 Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1993 intensiviert dann der Zweite Senat die Kontrolle von Schutzpflichtverletzungen deutlich. Der Gesetzgeber habe das „Untermaßverbot“ zu beachten. Notwendig sei „ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz“. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber treffe, müssten für einen 107  BVerfGE 49, 89 (141 ff.); mit Recht kritisch gegenüber der durch die Bundesverfassungsgerichtentscheidung sanktionierte Delegation weitreichender umweltrechtlicher Regelungsbefugnisse auf die Verwaltung Lübbe-Wolff, Verfassungsrechtliche Fragen der Normsetzung und Normkonkretisierung im Umweltrecht, 1991. 108  Dazu, insbesondere zu dem bekannten Sondervotum der Richter Simon und Heußner, im Folgenden unter D. I. 3. f). 109  BVerfGE 53, 30 (57 ff.) – Mülheim-Kärlich. 110  BVerfGE 56, 54 – Fluglärm. 111  BVerfGE 79, 174 – Straßenverkehrslärm. 112  BVerfGE 77, 170 – Lagerung von C-Waffen. 113  BVerfGE 79, 174 (202); ähnlich bereits BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (215).



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angemessenen und wirksamen Schutz geeignet und ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen, was vom Gericht im Einzelnen nachgeprüft wird.114 Allerdings ist diese Entscheidung – bislang – der einzige Fall in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geblieben, wo explizit eine Prüfung anhand des „Untermaßverbots“ durchgeführt wurde.115 Während im Schrifttum mittlerweile bereits anerkannt war, dass sich die Schutzfunktion nicht auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beschränkt, sondern auch für andere Grundrechte gilt,116 vollzog das Bundesverfassungsgericht diesen Schritt in den 1980er und -90er Jahren zunächst im Bereich der Schutzrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. So heißt es in der für die Entwicklung des Gleichberechtigungssatzes wichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtarbeitsverbot117 eher beiläufig, der Gesetzgeber sei verpflichtet, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit neu zu regeln. Eine solche Regelung sei notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte, insbesondere dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), zu genügen.118 In seiner Entscheidung zur Kleinbetriebsklausel betont das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1998, dass Art. 12 Abs. 1 GG zwar keinen unmittelbaren Schutz vor dem Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition des Arbeitgebers biete. Dem Staat obliege aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht, dem die Kündigungsvorschriften grundsätzlich Rechnung tragen würden.119 Dem Gesetzgeber, der die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem gerechten Ausgleich bringen wolle, wurde ein grundsätzlich weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt. So heißt es in der Entscheidung: Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und so­ zialen Rahmenbedingungen liegt in seiner politischen Verantwortung, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkungen seiner Regelung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, das heißt die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten kann daher in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des 114  BVerfGE

88, 203 (254, 261 ff.). Begriff wurde von Canaris in die Diskussion eingeführt, siehe Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1984, S. 228; ausführlich zur Kontroverse um das Untermaßverbot Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 310 ff. 116  Siehe statt vieler Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69 IV, S. 931 ff. m. w. N. 117  Vgl. Wrase / Klose, Gleichheit unter dem Grundgesetz, 2011, Rn. 7. 118  BVerfGE 85, 191 (212) – Nachtarbeitsverbot. 119  So, allerdings nur formelhaft, bereits BVerfGE 84, 133 (146  f.); 85, 360 (372 f.); 92, 140 (150). 115  Der

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anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, daß in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann.120

Ähnlich hatte der Erste Senat bereits in seiner Entscheidung zu den Zweitregistern in der Seeschifffahrt 1994 in Bezug auf die aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht argumentiert.121 Deutlich schärfer konturiert hat die Rechtsprechung hingegen die Schutzanforderungen im Bereich der Ausgestaltung des (weiteren) Privatrechtsverkehrs, vor allem im Sinne des Verbraucherschutzes.122 In der Handelsvertreter-123 und der Bürgschaftsentscheidung124 forderte das Gericht von der Gesetzgebung und den Zivilgerichten, bei typisierbaren Machtasymmetrien Maßnahmen zum Schutz des strukturell unterlegenen Vertragspartners zu treffen.125 Allerdings sind hier die Grenzen zur Ausgestaltungs- und Ausstrahlungsfunktion fließend, zumal der Erste Senat von einem grundrechtlichen „Schutzauftrag“ explizit nur in der Handelsvertreter-Entscheidung spricht.126 Hingegen findet sich in der Entscheidung zum Unterhaltsverzichtsvertrag von 2001 ausdrücklich die Feststellung einer aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG folgenden Schutzpflicht. Enthalte ein Ehevertrag eine erkennbar einseitige Lastenverteilung zu Ungunsten der Frau und sei er vor der Ehe und im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft geschlossen worden, gebiete es die aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 4 GG folgende Schutzpflicht zugunsten der werdenden Mutter, die ehevertrag­ liche Vereinbarung einer besonderen richterlichen Inhaltskontrolle zu unterziehen.127 Eine Verbindung zwischen Schutzpflichten- und Ausstrahlungsdogmatik enthält eine Entscheidung des Ersten Senats von 1993, die den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz bei Einstellungen zum Gegenstand hatte. Hier stellte das Gericht fest, dass die von den Fachgerichten angewandte Norm des § 611a BGB a. F., die bei Fällen geschlechtsbedingter Diskrimi120  BVerfGE 97, 169 (176 f.) – Kleinbetriebsklausel; vgl. zu den Schutzpflichten in mehrpoligen Verhältnissen Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht in mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen, 2006, S. 321 ff. 121  BVerfGE 92, 26 (46) – Zweitregister. 122  Ausführlich Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 141 ff. 123  BVerfGE 81, 242 (255 f.) – Handelsvertreter. 124  BVerfGE 89, 214 (232 f.) – Bürgschaft. 125  Ausführlich unter E. I. 2. 126  BVerfGE 81, 242 (256); zurückhaltend Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 150 f.: „Die Entscheidungen rekurrieren vielmehr auf die mit dem Urteil Lüth begonnene Rechtsprechung zur Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht“; vgl. auch unter E. I. 2. b) und c). 127  BVerfGE 103, 89 (102) – Unterhaltsverzicht; ausführlich dazu unter E. I. 2. d).



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nierung durch Arbeitgeber einen Entschädigungsanspruch statuierte,128 Ausfluss der aus dem Gleichberechtigungsgrundrecht nach Art. 3 Abs. 2 GG folgenden Schutzpflicht sei. Ganz grundsätzlich meint das Gericht, bei solchen einfachrechtlichen Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen, „ist das maßgebende Grundrecht dann verletzt, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt“.129 Unmittelbar auf die Verletzung einer aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 GG folgenden Schutzpflicht rekurriert der Erste Senat auch in seiner Entscheidung zur Übertragung von Lebensversicherungsverträgen aus dem Jahr 2005. Die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten erfordern danach Sicherungen, um die durch Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versicherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Bestandsübertragungen zu erhalten.130 Die anhand der Rechtsprechung zur Schwangerschaftsunterbrechung entwickelte Schutzpflichtendogmatik hat sich folglich zunächst im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Schutz vor Hochrisikotechnologie, Lärmschutz) und später auch im Bereich des Art. 12 Abs. 1 GG (Arbeitnehmerschutz) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (Privatautonomie) und Art. 3 Abs. 2 GG (Gleichberechtigung) weiter ausdifferenziert. Der Prüfungsmaßstab des Gerichts variiert dabei erheblich. Hatte das Bundesverfassungsgericht in den beiden Abtreibungsentscheidungen noch eine strikte Bindung an das Effektivitätserfordernis beziehungsweise das Untermaßverbot postuliert, wird insbesondere in den Entscheidungen zum Lärmschutz oder im Bereich der Arbeitnehmerschutzrechte ein relativ großzügiger Maßstab angelegt, der den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung betont und die Kontrolle bis an die Grenze einer ‚gänzlichen Ungeeignetheit‘ der ergriffenen Maßnahmen zurücknimmt. Deutlich intensiver ist die Kontrolle dann wieder im Bereich der geschützten Rechtspositionen im Rahmen der Ausgestaltung der Privatrechtsordnung. Zusammenfassend lässt sich wohl sagen, dass die Prüfungsintensität nur bereichs- beziehungsweise problemspezifisch bestimmt werden kann, wobei die Kontrolle bei schwerwiegenden Gefährdungen von bedeutenden Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) intensiver ausfällt als in anderen Bereichen. Wie Hermes in seiner Analyse hervorhebt, ist die Schutzfunktion nicht auf bestimmte Maßnahmen, sondern auf einen Erfolg im Sinne eines effektiven Schutzes gerichtet. Für die Realisierung dieses Erfolgs – das ‚Wie‘ – überlässt sie der Gesetzgebung und den handelnden Organen einen entsprechend weiten Ein128  Die Regelung ist nunmehr in den §§ 6  ff. des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) aufgegangen. 129  BVerfGE 89, 276 (286) – § 611a BGB. 130  BVerfGE 114, 1.

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schätzungs- und Gestaltungsspielraum.131 Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht muss sich infolgedessen, ähnlich wie beim Verhältnis­ mäßigkeitsprinzip,132 auf Erkenntnisse über die Wirkung beziehungsweise Wirksamkeit staatlicher (Schutz-)Maßnahmen konzentrieren. Jedenfalls sind solche Maßnahmen verfassungswidrig, die dem Schutzziel klar zuwiderlaufen, etwa wenn Normen in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, die ihre praktische Wirksamkeit (Effektivität) mindert oder aufhebt. d) Leistungs- und Teilhaberechte Bei der Anerkennung von Leistungsansprüchen aus Grundrechten hat sich das Bundesverfassungsgericht lange Zeit zurückgehalten.133 Gegen die Anerkennung von Leistungspflichten wurde zum einen eingewandt, dass sie den Staatshaushalt belasten und den finanzpolitischen Gestaltungsspielraums des Parlaments einengen, zum anderen, dass die Verfassungsväter und -mütter auf die Statuierung sozialer (Leistungs-)Grundrechte bewusst verzichtet hätten.134 Erst Anfang der 1970er Jahre wurde die Auffassung herrschend, dass die Freiheitsgrundrechte auch eine Leistungsdimension haben.135 In seinem Numerus-clausus-Urteil vom Juli 1972 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals Leistungsrechte in Form von Teilhaberechten ausdrücklich anerkannt. Die entscheidenden Passagen der Entscheidung seien im Folgenden wiedergegeben: 131  Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S.  261 ff. 132  Ausführlich unter D. II. 1. c) cc). 133  Paradigmatisch dafür die erste Fürsorgerechts-Entscheidung BVerfGE 1, 97 (104): „Die Grundrechte haben sich aus den im 18. Jahrhundert proklamierten Rechten der Freiheit und Gleichheit entwickelt. Ihr Grundgedanke war der Schutz des Einzelnen gegen den allmächtig und willkürlich gedachten Staat, nicht aber die Verleihung von Ansprüchen des Einzelnen auf Fürsorge durch den Staat. Im Wandel der Zeiten ist der Gedanke der Fürsorge des im Staat repräsentierten Volkes für den Einzelnen immer stärker und diese Fürsorge vor allem durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs zu einer elementaren staatlichen Notwendigkeit geworden. Aber dieser – vergleichsweise neue – Gedanke des Anspruchs auf positive Fürsorge durch den Staat hat in die Grundrechte nur in beschränktem Maß Eingang gefunden. Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Eingriffe abschirmen. Der zweite Satz: ‚… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‚Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“ Vgl. auch oben unter C. I. 3. 134  Eine Auseinandersetzung mit diesen Einwendungen findet sich bei Rüfner, § 40 Leistungsrechte, 2006, Rn. 11 ff. 135  Grdl. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, 1971.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 339 Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen. Diese Entwicklung zeigt sich besonders deutlich im Bereich des Ausbildungswesens […].136 Selbst wenn grundsätzlich daran festzuhalten ist, daß es auch im modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wieweit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will, so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben. Das gilt besonders, wo der Staat – wie im Bereich des Hochschulwesens – ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol für sich in Anspruch genommen hat und wo – wie im Bereich der Ausbildung zu akademischen Berufen – die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist. […]137 Hier folgt […] daraus, daß der Staat Leistungen anbietet, ein Recht jedes hochschulreifen Staatsbürgers, an der damit gebotenen Lebenschance prinzipiell gleichberechtigt beteiligt zu werden. Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot gewährleistet also ein Recht des die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllenden Staatsbürgers auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl.138

Die Numerus-clausus-Entscheidung begrenzt das Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium demgemäß auf einen – derivativen139 – Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an einer bestehenden Einrichtung und bezieht sich dabei neben dem Freiheitsrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG auch auf den Gleichheitssatz nach Art. 3 GG.140 Die weitergehende Frage, ob „aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen folgt“ lässt das Gericht hingegen offen. Es begrenzt den Teilhabeanspruch, indem es ihn unter „den Vorbehalt des Möglichen“ stellt und dabei dem Gesetzgeber einen erheblichen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum einräumt. So heißt es in der Entscheidung: 136  BVerfGE

33, 303 (330 f.). 33, 303 (331 f.). 138  BVerfGE 33, 303 (332). 139  Zur Unterscheidung zwischen originären und derivativen Leistungsrechten Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48 III, Rn. 22 ff. 140  Zum Teil wird bei den Teilhaberechten die Gleichheitskomponente sogar als primär einschlägig angesehen, vgl. etwa Sachs, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Vorbem. vor Art. 1, Rn. 49 m. w. N. 137  BVerfGE

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Auch soweit Teilhaberechte nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene beschränkt sind, stehen sie doch unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Dies hat in erster Linie der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu beurteilen, der bei seiner Haushaltswirtschaft auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen und nach der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen hat.141

Trotz dieser wesentlichen Einschränkung hat die Numerus-clausus-Rechtsprechung dazu geführt, dass die Verwaltungsgerichte fortan die Ausschöpfung der Kapazitäten an den Hochschulen genau prüfen und abgewiesene Studienbewerber sich den Studienzugang gegebenenfalls auf dem Klageweg erstreiten können, was sie in vielen Fällen erfolgreich gemacht haben.142 Besonders hervorzuheben sind auch die Ausführungen zur den Grundrechten als objektiven Normen, nach denen der soziale Rechtstaat – im Sinne des materialen Grundrechtsverständnisses – eine „Garantenstellung für die Umsetzung des grundrechtlichen Wertsystems in die Verfassungswirklichkeit einnimmt“.143 Originäre grundrechtliche Leistungsansprüche (Leistungsrechte im engeren Sinn) hat das Bundesverfassungsgericht für die Privatschulförderung aus Art. 7 Abs. 4 GG entwickelt. Ohne staatliche Förderung seien die Privatschulträger heute praktisch nicht mehr in der Lage, sämtliche in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 GG aufgeführten Voraussetzungen zu erfüllen. Daher treffe den Staat eine Förderpflicht.144 Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung 141  BVerfGE

33, 303 (330 ff.). m. w. N. Steinberg / Müller, Art. 12, Numeraus Clausus und die neue Hochschule, 2006, S. 1114: „Diese Verwaltungsrechtsprechung führt dazu, dass die Hochschulen jedes Semester mit Tausenden von Studienplatzprozessen überzogen werden, in denen versucht wird, darzulegen, dass die Kapazitätsberechnung der jeweiligen Hochschule fehlerhaft war. Diese anhaltende ‚Prozessflut‘ dürfte vor allem auf die vergleichsweise guten Erfolgsaussichten dieser Verfahren zurückzuführen sein. Diese folgen daraus, dass die Kapazitätsermittlung außerordentlich kompliziert und daher entsprechend fehleranfällig ist und gleichzeitig auf Grund der hohen gerichtlichen Kontrolldichte in Kapazitätsverfahren selbst marginale Fehler zum Rechtsschutzerfolg führen können.“ 143  BVerfGE 33, 303 (331). 144  Grdl. BVerfGE 75, 40 (62 ff.) – Privatschulfinanzierung I; daran anschließend BVerfGE 90, 107 (114 ff.) – Waldorfschule / Bayern; deutlich einschränkend aber BVerfGE 112, 47 (84): „Aus Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG folgt kein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Gewährung staatlicher Finanzhilfe und schon gar nicht ein Anspruch auf Leistung in bestimmter Höhe […] Zu einer solchen Hilfe ist der Staat nur verpflichtet, wenn anders das Ersatzschulwesen als von der Verfassung anerkannte und geforderte Einrichtung in seinem Bestand eindeutig nicht mehr gesichert wäre.“ 142  Kritisch



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 341

mit dem Rechtsstaatsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 3 GG leitet das Bundesverfassungsgericht die Pflicht her, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes durch Gewährung von Prozesskostenhilfe (früher: Armenrecht) anzugleichen.145 Auch hier steht das Gleichheitsgrundrecht im Vordergrund, allerdings bezogen auf eine finanzielle Gleichstellung zum Ausgleich tatsächlicher Ungleichheiten; Art. 3 Abs. 1 GG begründet hier also ebenfalls einen originären Leistungsanspruch. Ein Meilenstein in der Entwicklung grundrechtlicher Leistungsrechte146 ist das Urteil des Ersten Senats zu den Regelsätzen im Bereich der Grundsicherung des SGB II („Hartz IV“) vom Februar 2010. Dort heißt es: Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 [228]) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.147

Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nach dem Bundesverfassungsgericht „nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind“.148 Allerdings fasst das Bundesverfassungsgericht darunter nicht nur das sogenannte physische, sondern auch das sozio-kulturelle Existenzminimum, das ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst.149 Teilhabe meint hier also nicht bloß gleichberechtigten Zugang zu einer schon bestehenden staatlichen Einrichtung mit Leistungscharakter, sondern setzt originäre Leistungen voraus, um damit gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen.150 Auch wenn sich der Leistungsanspruch dem Grunde nach unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergibt, ist seine 145  Grdl. BVerfGE 81, 347 (356) m. w. N.; zuletzt etwa für das sozialrechtliche Verfahren bei „Bagatellstreitigkeiten“: BVerfG-K, NZS 2011, 775 (776). 146  Einen Überblick über die Rechtsprechungsentwicklung bietet Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, 1995. 147  BVerfGE 125, 175 (222 f.). 148  BVerfGE 125, 175 (223). 149  Dazu auch von Arnauld, Das Existenzminimum, 2009, S. 283 ff. 150  Vgl. auch Siehr, Teilhaberechte, 2014, S. 623 ff.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Ausgestaltung durch ein formelles Gesetz erforderlich. Der Erlass und die Ausgestaltung eines solchen Gesetzes – hier des II. Sozialgesetzbuchs (Grundsicherung für Arbeitssuchende) – ist eine objektive Pflicht des Gesetzgebers, deren Nichtbeachtung der Grundrechtsträger subjektiv-rechtlich geltend machen kann.151 Mit dem Anspruch muss der gesamte existenznotwendige Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers abgedeckt sein. Zur Konkretisierung dieses Leistunggsanspruchs hat der Gesetzgeber alle notwendigen Aufwendungen „folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen“.152 Diese Rechtsprechung hat das Gericht in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Juli 2012 fortgeführt.153 Art. 1 Abs. 1 GG, so heißt es dort, begründe den Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht. Dem Gesetzgeber komme zwar ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zu, die mit der Bestimmung der Höhe dessen verbunden seien, was die physische und soziale Existenz des Menschen sichere. Das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG halte den Gesetzgeber jedoch an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Dabei dürfe er nicht nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne,154 was bei den pauschalen Kürzungen zulasten von Asylbewerbern gegenüber anderen Empfängern von Grundsicherungsleistungen nicht der Fall war. In der normativen Verankerung des Leistungsanspruchs auf Sicherung des Existenzminimums durch den Staat im Grundrecht der Menschenwürde – und nicht nur im objektiven Sozialstaatsprinzip –155 kommt damit die Entwicklung von einer traditionell kollektiv-sozialstaatlichen Begründung von Sozialrechten hin zu einer menschenrechtlichen Begründung zum Ausdruck.156 Zwischen einem originären grundrechtlichen Leistungsrecht im Sinne des „medizinischen Existenzminimums“157 und einer derivativ-teilhaberechtli151  Zum Verhältnis zwischen objektiv-rechtlicher Grundrechtsfunktion und subjektiv-rechtlichen Ansprüchen einzelner Grundrechtsträger siehe oben unter D. I. 2. a). 152  BVerfGE 125, 175 (225). 153  BVerfGE 132, 134 (159 ff.). 154  BVerfGE 132, 134 (161 ff). 155  Zum gegenteiligen Modell der Abwehrrechtstheorie oben unter C. IV. 2. f). 156  Zur menschenrechtlichen Fundierung der Grundrechte oben unter B. II. 1. a). 157  Dazu Neumann, Das medizinische Existenzminimum, 2006.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 343

chen Begründung oszilliert der sogenannte Nikolaus-Beschluss158 des Ersten Senats vom 6. Dezember 2005. Dort hatte das Gericht entschieden, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip es verbieten, einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung keine allgemein anerkannte und medizinischen Standards entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, eine angewandte Behandlungsmethode vorzuenthalten, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.159 Insgesamt bleibt die Rechtsprechung bei der Anerkennung von Leistungsansprüchen zurückhaltend und überlässt deren Ausgestaltung weitgehend der Gesetzgebung. Allerdings zeigt gerade die jüngere Rechtsprechung, dass das Bundesverfassungsgericht auch im Bereich der Leistungsverwaltung – aufgrund ihrer Bedeutung für die Verwirklichung ‚realer‘ Freiheit im Sinne sozialer Teilhabemöglichkeiten –160 verstärkt verfassungsrechtliche (Mindest-)Anforderungen aufstellt beziehungsweise den Gesetzgeber bestimmte Anforderungen, etwa zur realitätsgerechten Bemessung von dem Grunde nach verfassungsrechtlich garantierten Leistungsansprüchen, auferlegt.161 e) Einrichtung und Ausgestaltung Die Frage nach den Einrichtungs- und Ausgestaltungsfunktionen der Grundrechte führt auf rechtsdogmatisch unsicheres Terrain und zählt wohl zu den am stärksten im Fluss befindlichen Bereichen der allgemeinen Grundrechtsdogmatik.162 Die ursprüngliche Lehre von den Einrichtungsund Institutsgarantien lässt sich bis in die Weimarer Republik zurückverfolgen. Dort hatte sie, wie etwa bei Carl Schmitt,163 die Funktion, bestimmte Kernbereiche vor allem privatrechtlich ausgestalteter (Rechts-)Institute, insbesondere des Eigentums, gegen den unbegrenzten Zugriff des Gesetzgebers zu sichern.164 In der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik wurde dann 158  Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Niklaus-Beschluss“ geht zurück auf Kingreen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, 2006, S. 880. 159  BVerfGE 115, 25. 160  Ausführlich Siehr, Teilhaberechte, 2014, S. 263 ff. 161  Zum Ganzen auch Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 262 ff. 162  Vgl. nur Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 17 f.; Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 4 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001. 163  Ausführlich Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 21  ff.; vgl. auch oben unter B. I. 2. b) aa). 164  Zusammenfassend Kloepfer, § 43 Einrichtungsgarantien, 2006, Rn. 9; zu entsprechenden Tendenzen der Weimarer Rspr. oben unter B. I. 2. c).

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

sogar versucht, das abwehrrechtliche Paradigma durch eine institutionelle Grundrechtstheorie abzulösen, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg.165 Einrichtungsgarantien schützen dabei entweder eine gesellschaftliche oder politische Institution oder den Kern eines Rechtsinstituts beziehungsweise einen Komplex von Normen, die ein bestimmtes Gewährleistungsziel verfolgen.166 Letzteres wird gerade bei den sogenannten „normgeprägten“ Grundrechten im engeren Sinn wie Art. 14 Abs. 1 GG (Garantie von Eigentum und Erbrecht), Art. 9 Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit) und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG (Ehe- und Familie), die einen Bestand an normativen Gewährleistungen sichern, sowie den Justizgrundrechten (Art.  19 Abs.  4, Art. 101  GG, Art. 103 Abs. 1  GG) relevant.167 Kernpunkt der in der Literatur geführten Kontroverse ist – neben immer noch vorhandenen terminologischen Unsicherheiten168 – die Frage nach der Schutz- beziehungsweise Gewährleistungsrichtung der institutionellen respektive Institutsgarantien.169 Einerseits kann die Betonung auf die substanz- oder strukturwahrende Funktion gelegt werden. So unterscheiden sich die Einrichtungsgarantien nach Kloepfer von anderen Grundrechtsgewährleistungen „vor allem durch ihre bestandsschützende Wirkung, die vornehmlich den Gesetzgeber daran hindert, auf einfachgesetzlichem Wege vorhandene Institute oder Institutionen grundlegend zu verändern“.170 Auf der anderen Seite kann aber auch der funktionelle Freiheitsschutz durch die Bereitstellung und Ausgestaltung bestimmter Normkomplexe in den Vordergrund treten; dann geht es in erster Linie um „Gewährleistung von Autonomie“ im Sinne eine materialen Grundrechtsschutzes.171 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich Ausformungen in beide Richtungen, wobei die Betonung bestandswahrender 165  Zur einflussreichen institutionellen Grundrechtstheorie Häberles oben unter B. III. 4. b) aa); dazu auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 9 f.: Obwohl Häberles „Ansatz bis heute ganz überwiegend abgelehnt wird, sind doch dessen zwei charakteristische Säulen, nämlich die Vorstellung der Freiheit innerhalb und nicht vor der Rechtsordnung einerseits und die Betonung der staatlichen Schutzaufgabe für die Grundrechte andererseits, zum grundrechtsdogmatischen Gemeingut geworden“. 166  Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48 IV, Rn. 46. 167  Vgl. speziell zu den normgeprägten Grundrechten Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 17 f. 168  Dazu Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 68 II 1, S. 776 f.: Begriff hat als solcher keine festen Konturen gewonnen. Allgemein wird von ‚institutionellen Garantien‘ für öffentlich-rechtliche Einrichtungen und ‚Institutsgarantien‘ für privatrechtliche Einrichtungen gesprochen. 169  Vgl. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 17 ff. 170  Kloepfer, § 43 Einrichtungsgarantien, 2006, Rn. 21. 171  Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 445.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 345

Funktionen in den letzten Jahren deutlich schwächer wird. Paradigmatisch für ein funktionales Verständnis von Institutsgarantien ist die Judikatur zur Eigentumsgarantie, deren Zweck das Gericht darin sieht, dem Einzelnen einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermög­ lichen“.172 Die in der Entscheidung zum Hamburger Deichordnungsgesetz 1968 anerkannte Institutsgarantie hat das Gericht mit dieser Autonomie wahrenden Funktion eng verknüpft173 und auch in seinen folgenden Entscheidungen die Möglichkeit und Pflicht des Gesetzgebers zu einer Anpassung an die gewandelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse betont.174 Letztlich ist die Institutsgarantie damit in der Ausgestaltungspflicht aufgegangen. So stellt Jarass in seiner Kommentierung lapidar fest, dass eine praktische Relevanz der klassischen Institutsgarantie im Bereich der Eigentumsgarantie kaum auszumachen ist und der Begriff seit längeren „eher vermieden“ wird.175 Dagegen sieht die Rechtsprechung im Bereich des Ehegrundrechts nach Art. 6 Abs. 1 GG in der Institutsgarantie vor allem eine strukturwahrende Gewährleistung zugunsten eines überkommenen Bildes einer ehelichen Lebensgemeinschaft. So heißt es etwa in der Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz: Das Grundgesetz gewährleistet das Institut der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung 172  BVerfGE 102, 1 (15) – Altlasten; vgl. auch BVerfGE 97, 350 (370 f.) – Euro; st. Rspr. 173  BVerfGE 24, 367 (389): „Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Privateigentum sowohl als Rechtsinstitut wie auch in seiner konkreten Gestalt in der Hand des einzelnen Eigentümers. Das Eigentum ist ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht. Ihm kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. […] Die Institutsgarantie sichert einen Grundbestand von Normen, die als Eigentum im Sinne dieser Grundrechtsbestimmung bezeichnet werden. Inhalt und Funktion des Eigentums sind dabei der Anpassung an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse fähig und bedürftig; es ist Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums unter Beachtung der grundlegenden verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zu bestimmen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG – vgl. BVerfGE 21, 73 [82]). Die Institutsgarantie verbietet jedoch, daß solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung entzogen werden, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich gehören, und damit der durch das Grundrecht geschützte Freiheitsbereich aufgehoben oder wesentlich geschmälert wird.“ 174  Vgl. etwa BVerfGE 58, 300 (339) – Naßauskiesung. 175  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 14, Rn. 4 m. w. N.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht (vgl. BVerfGE 31, 58 [82 f.]). Allerdings muss der Gesetzgeber bei der Ausformung der Ehe die wesentlichen Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an die vorgefundene Lebensform in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben (vgl. BVerfGE 31, 58 [69]). Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates (vgl. BVerfGE 10, 59 [66]; 29, 166 [176]; 62, 323 [330]), in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen (vgl. BVerfGE 37, 217 [249 ff.]; 103, 89 [101]) und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können (vgl. BVerfGE 39, 169 [183]; 48, 327 [338]; 66, 84 [94]).176

Mit dieser Formulierung betont das Bundesverfassungsgericht einseitig die strukturwahrende (konservierende) Funktion der Institutsgarantie „Ehe“ im Sinne eines traditionellen Eheverständnisses, das sich selbst gegenüber dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen durchsetzen soll. Damit wird der Autonomie ermöglichende funktionale Gehalt in das Gegenteil verkehrt, wenn damit die Öffnung der Ehe als einer auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zweier Personen für gleichgeschlechtliche Paare, wie wir sie in den letzten Jahren in etlichen anderen europäischen und anderen Staaten erleben,177 dem bundesdeutschen Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten werden soll.178 Denn die Ausgestaltung des 176  BVerfGE

105, 313 (345) – Lebenspartnerschaftsgesetz. aktuellen Überblick, über die Staaten, die die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben, enthält die Webseite: http: /  / de.wikipedia.org / wiki / Gleichgeschlechtliche_Ehe (Juli 2015). Zur Zeit sind dies: Niederlande (2001), Belgien (2003), Spanien (2005), Kanada (2005), Südafrika (2006), Norwegen (2009), Schweden (2009), Portugal (2010), Island (2010), Argentinien (2010), Dänemark (2012), Brasilien (2013), Frankreich (2013), Uruguay (2013), Neuseeland (2013), Vereinigtes Königreich mit Ausnahme von Nordirland (2014) und Luxemburg (2015); zuletzt wurde die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2015 in Irland durch ein Referendum beschlossen und in der Entscheidung des Supreme Court der Vereinigten Staaten in der Rechtssache Obergefell v. Hodges, 576 U.S. (2015) mit Wirkung für sämtliche US-Bundesstaaten zum verfassungsmäßigen Recht erklärt. 178  Kritisch auch Obermeyer, Institutsgarantie – Eine „gelungene Kunstschöpfung der Wissenschaft“?, 2003; wenn demgegenüber Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 34, betont, dass es, wie Geschichte und Ethnologie zeigen, keine anthropologisch ausgezeichnete Form der Ehe gibt, dann kann dies trotzdem nicht heißen, dass ein bestimmtes ‚Idealbild‘ der Ehe qua Grundrechtsinterpretation gegenüber dem gesellschaftlich-moralischen Wandel ‚immunisiert‘ wird. Zum Wandel des Eheverständnisse auch Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011, S. 270 f., die darauf hinweist, dass „Ehe“ als Verbindung von zwei Menschen verstanden werden kann, „unabhängig von ihrem (zugeschriebenen) Geschlecht“. 177  Einen



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 347

Rechtsinstituts Ehe zielt auf die Sicherung rechtlicher Handlungsmöglichkeiten von Menschen, die eine auf Dauer angelegte Verantwortungsgemeinschaft eingehen (wollen). In diesem Sinne sind Partnerschaften zwischen Personen unterschiedlichen und zwischen Personen gleichen Geschlechts, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich feststellt, „im Wesentlichen gleichartig“.179 Konsequent hat das Gericht in den vergangen Jahren aus dem Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG die nahezu vollständige Gleichstellung der Lebenspartnerschaft in allen für das Rechtsinstitut Ehe relevanten Rechtsbereichen abgeleitet.180 Was Art. 6 Abs. 1 GG von seiner Funk­tion her also institutionell absichern will, trifft auf die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft nicht anders zu wie auf die Ehe zwischen Mann und Frau. Was also als einziges übrig bleibt, um die Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG auf die Verbindung zwischen Mann und Frau zu begrenzen, ist ein historisches Strukturprinzip, das sich aber durch die soziale Entwicklung – wie andere eherechtliche Institute auch (man denke nur an das Verschuldensprinzip181) – gewandelt hat. In seiner Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt Horst Dreier fest, dass das Gericht die tradierte Terminologie der Einrichtungs- und Institutsgarantien, abgesehen vom Ehegrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG, mittlerweile nur noch selten verwendet.182 Die mit den Einrichtungsgarantien verbundenen konkreten Gewährleistungsgehalte werden heute in aller Regel durch andere objektive Grundrechtsfunktionen, wie Ausgestaltung, Organisation und Verfahren, aufgefangen. So distanzierte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Hochschulurteil ausdrücklich von einer strukturwahrenden Lesart des Art. 5 Abs. 3 GG und verwies darauf, dass sich weder im Lichte der Weimarer Reichsverfassung noch unter Heranziehung der Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG eine institutionelle Garantie akademischer Selbstverwaltung im Sinne einer Bewahrung des historisch Überkommenen begründen lasse.183 Ganz im Sinne der freiheitsfördernden 179  BVerfGE

133, 377 (412) – Ehegattensplitting für Lebenspartner. mit BVerfGE 124, 199 (218 ff.) ‒ Hinterbliebenenversorgung, dann: BVerfGE 126, 400 (416 ff.) – Erbschafts- und Schenkungssteuer; BVerfGE 131, 239 (256) ‒ Familienzuschlag von Beamten; BVerfGE 133, 59 (86 ff.) – Sukzessivadoption; BVerfGE 133, 377 (412 ff.) – Ehegattensplitting für Lebenspartner. 181  Grdl. dazu BVerfGE 53, 224 (245) – Eherechtsreformgesetz. 182  Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb., Rn. 108 m. w. N. zur Rspr. 183  BVerfGE 35, 79 (115) – Hochschulurteil: „Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat jedoch weder das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität zur Grundlage, noch schreibt sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor. Dem Gesetzgeber steht es zu, innerhalb der aufgezeigten Grenzen die Organisation der Hochschulen nach seinem Ermessen zu ordnen und sie den heutigen gesellschaftlichen und wissenschaftssoziologischen Gegebenheiten anzupassen.“ 180  Angefangen

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

funktionalen Auffassung meint das Gericht, Kriterium für eine verfassungsgemäße Hochschulorganisation könne nur sein, „ob mit ihr ‚freie‘ Wissenschaft möglich ist und ungefährdet betrieben werden kann“.184 Daher wird in der Literatur vermehrt die Frage gestellt, ob Einrichtungsgarantien für das Feld der Grundrechte mittlerweile obsolet geworden sind.185 Die Frage kann an dieser Stelle natürlich nicht abschließend beantwortet werden. Jedenfalls ist festzustellen, dass bei Fragen der Garantie grundrechtlich garantierter Normkomplexe eine Verlagerung auf die Ausgestaltungsfunktion abzeichnet und den Einrichtungsgarantien in ihrer überkommenen strukturwahrenden Ausprägung – zumindest außerhalb des Ehegrundrechts nach Art. 6 Abs. 1 GG – nur noch marginale Bedeutung zukommt.186 Die Ausgestaltungsfunktion kommt zunächst bei den normgeprägten Grundrechten zum Tragen, geht aber deutlich darüber hinaus. So werden Aufträge zur rechtlichen Ausgestaltung von der Rechtsprechung im Bereich der Vertragsautonomie (Art. 2 Abs. 1  GG)187, beim Recht der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG)188, bei der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2  GG)189, der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG)190, beim Eheund Familiengrundrecht (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG)191, im Bereich des Schulwesens (Art. 7 GG)192 sowie bei der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit 35, 79 (116); vgl. auch Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 272 ff. etwa Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb., Rn. 108; ausführlich Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 12 f. 186  Vgl. Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 4: „Die Grundrechtsausgestaltung hat sich zu einem Schwerpunkt der grundrechtsdogmatischen Diskussion entwickelt.“ 187  Etwa BVerfGE 114, 1 (34) – Übertragung von Lebensversicherungsverträgen; BVerfGE 114, 73 (89) – Überschussbeteiligung bei Lebensversicherungen; ausführlich Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 287 ff. 188  Etwa BVerfGE 69, 1 (23 ff.) – Kriegsdienstverweigerung II. 189  Siehe oben unter D. I. 2. c). 190  Siehe oben unter D. I. 2. c); ein knapper Überblick über die in der Rspr. entwickelten Anforderungen an finanzielle, personelle und organisatorische Vorkehrungen findet sich bei Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 5, Rn. 128; aus der jüngeren Rspr. siehe insbesondere BVerfGE 111, 333 (354) – Brandenburgisches Hochschulgesetz: „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fordert, die Hochschulorganisation und damit auch die hochschulorganisatorische Willensbildung so zu regeln, dass in der Hochschule freie Wissenschaft möglich ist und ungefährdet betrieben werden kann […] Die Teilhabe der Grundrechtsträger an der Organisation des Wissenschaftsbetriebs ist demnach kein Selbstzweck. Vielmehr dient sie dem Schutz vor wissenschaftsinadäquaten Entscheidungen und ist folglich nur im dafür erforderlichen Umfang grundrechtlich garantiert.“ 191  Ausführlich zur Gewährleistung der Ehe Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S.  338 ff. m. w. N. 192  Ausführlich Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 68 IV, S. 797 ff. 184  BVerfGE 185  So



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 349

(Art. 9  GG)193, der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Ab. 4 GG)194 und dem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)195 angenommen. Weitergehend wird teilweise befürwortet, als ausgestaltungsbedürftig alle Konstellationen anzusehen, in denen mehrpolige Verhältnisse von Freiheitsbetätigungen betroffen sind, wo also Freiheit in spezifischer Weise aus und durch Sozialität möglich wird.196 Eine solch weitgehende Ausdehnung der Ausgestaltungsfunktion hat sich aber noch nicht generell durchsetzen können.197 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass bestimmte grundrechtliche Gewährleistungen einer Ausgestaltung, etwa auch durch finanzielle, personelle oder sachliche Leistungen, Einrichtungen und Organisation bedürfen und hierfür rechtliche Regelungen bereitgestellt werden müssen. Durch die rechtliche Ausgestaltung, so lässt sich sagen, werden die betroffenen Grundrechtsträger erst normativ in die Lage versetzt, von der ihnen zustehenden Freiheit Gebrauch zu machen.198 Folglich ergibt sich aus der objektiven Dimension des jeweiligen Grundrechts eine Pflicht des Gesetzgebers zur normativen Ausgestaltung des geschützten Lebensbereichs, sei es durch Regelungen im Hochschulwesen oder Normen das Ehe- und Familienrechts, des Vereinsrechts als Ausfluss der „freien sozialen Gruppen­ bildung“199 beziehungsweise des Vertragsrechts als notwendiger einfachgesetzlicher Ausformung der grundrechtlich geschützten Privatautonomie.200

193  Zur Koalitionsfreiheit vgl. nur BVerfGE 92, 26 (41) – Zweitregister: Die Ausgestaltungsbefugnis gilt „insbesondere dort, wo es um die Regelung der Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen geht […] Die Ausgestaltung muß sich jedoch am Normziel von Art. 9 Abs. 3 GG orientieren und darf die Parität der Tarifpartner nicht verfälschen.“ 194  Vgl. nur BVerfGE 60, 253 (268 f.): „Gerichtsverfahren stehen in besonderer Weise im Dienst der Rechtssicherheit. Der Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für (behauptete) Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt gewährleistet, bedarf der normativen Ausgestaltung. Hierfür lassen sich nach den Arten von Entscheidungsgegenständen unterschiedliche Formen und Strukturierungen von Rechtswegen, insbesondere von Verfahrensarten, Verfahrensgrundsätzen, Entscheidungsarten und Entscheidungswirkungen treffen. Dem Gesetzgeber kommt dabei eine weite Gestaltungsfreiheit zu […] Die Ausgestaltung des Rechtswegs muß freilich dem Schutzzweck des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Genüge tun“. 195  Vgl. nur BVerfGE 89, 28 (35 f.) – Gehör bei Selbstablehnung eines Richters. 196  Siehe oben unter D. I. 2. b). 197  Weiterführend etwa Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 43 m. w. N.; vgl. auch Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 82 ff. 198  Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 90 f. 199  BVerfGE 50, 290 (353) – Mitbestimmung; BVerfGE 80, 244 (252 f.) – Vereinsverbot; BVerfGE 100, 214 (223) – Gewerkschaftsausschluss. 200  Dazu Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 57  ff.; ausführlich unter E. I. 2.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Mit der Einsicht in die Ausgestaltungsnotwendigkeit des grundrechtlich geschützten Bereichs ist aber eine weitere dogmatische Konsequenz verbunden. Regelungen, durch die die Ausübung von Freiheiten in der Gesellschaft mit anderen Grundrechtsträgern, etwa die Organisation der Zusammenarbeit verschiedener Mitglieder einer Hochschule, ermöglicht werden soll (und muss), können schwerlich als Eingriffe in einen vor-staatlich gedachten Freiheitsbereich begriffen werden. Denn die geschützten Bereiche sind auf Regelungen angewiesen und durch die existierenden normativen Vorgaben, beispielsweise hochschulrechtliche Vorschriften, bereits geprägt. Ausgestaltende Regelungen passen daher oft nicht in die klassische Eingriffsdogmatik.201 Da Regelungen in solchen grundrechtlichen Bereichen freiheitsfördernde, aber zugleich auch -beschränkende Wirkungen haben (können), ist die schwierige Frage aufgeworfen, wie genau sich Eingriff und Ausgestaltung voneinander abgrenzen lassen.202 Entscheidend soll es laut Bundesverfassungsgericht darauf ankommen, ob die jeweilige Regelung im Sinne der Lösung eines Problems praktischer Konkordanz dem Interessenausgleich zwischen gleichgeordneten Grundrechtsträgern dient, etwa für ein annähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen Vertragspartnern im Rahmen der Ausgestaltung der Privatautonomie sorgen will, oder ob sie andere Zwecke verfolgt, die primär im Allgemeininteresse liegen.203 In der Rechtsprechung wie auch in der Literatur wird weitgehend davon ausgegangen, dass die Verkürzung von Freiheitsbereichen durch Ausgestaltungsregelungen – wie ja bereits aus der Dogmatik des Art. 14 Abs. 1 GG bekannt204 – ebenso wie Eingriffe am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen sind, das heißt, dass sie vom Ziel der Ausgestaltungsbefugnis getragen205 und zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und für den nachteilig betroffenen Grundrechtsinhaber zumutbar sein müssen.206 201  Zum

2. d).

abwehrrechtlichen Grundrechtsmodell ausführlich oben unter C. IV.

Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 56 f. die Darstellung der Rspr. in der abw. Meinung des Richters Gaier zu BVerfGE 118, 1 (31) – Begrenzung der Rechtsanwaltsvergütung; auch BVerfGE 92, 26 (41) – Zweitregister. 204  In der Literatur ist umstritten, ob zwischen inhaltsbestimmenden und schrankenziehenden Gesetzen i. S. d. Art. 14 Abs. 1 GG differenziert werden kann und soll. Dafür etwa Wendt, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 14, Rn. 55 m. w. N.; dagegen etwa Bryde, in: Münch / Kunig, GG Kommentar I, 2000, Art. 14, Rn. 58 und Papier, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Art. 14, Rn. 307 ff. (Lfg. Juli 2010). 205  Vgl. etwa BVerfGE 92, 26 (41) – Zweitregister. 206  Vgl. etwa BVerfGE 60, 253 (269) – Anwaltsverschulden; BVerfGE 77, 275 (284) – öffentliche Bekanntmachung einer Zustellung. 202  Vgl. 203  Vgl.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 351

Der wesentliche Effekt der Ausgestaltungsfunktion – neben ihren positiven Aufträgen an die Gesetzgebung – zeigt sich bei den vorbehaltlosen Grundrechten. Geht es um die Ausgestaltung eines Rechtsbereichs durch Rechtssetzung, so liegt, wie gesehen, kein Grundrechtseingriff im klassischen Sinne vor. Damit besteht auch keine strikte Bindung an den Vorbehalt des Gesetzes; dieser kommt lediglich im Rahmen des Wesentlichkeitsgrundsatzes zum Tragen.207 Exemplarisch dafür steht die Entscheidung des Ersten Senats zum Streikeinsatz von Beamten aus dem Jahr 1993. Dort führt das Gericht aus: Gerade wegen [seiner] Eigenart bedarf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung […] Zum einen erfordert der Umstand, daß beide Tarifvertragsparteien den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG prinzipiell gleichermaßen genießen, bei seiner Ausübung aber in scharfem Gegensatz zueinander stehen, koordinierende Regelungen, die gewährleisten, daß die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können. Zum anderen macht die Möglichkeit des Einsatzes von Kampfmitteln rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich, die sichern, daß Sinn und Zweck dieses Freiheitsrechts sowie seine Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung gewahrt bleiben. […] Soweit es um das Verhältnis der Kampfparteien als gleichgeordneter Grundrechtsträger geht, muß diese Ausformung nicht zwingend durch gesetzliche Regelungen erfolgen. So ist das Arbeitskampfrecht gesetzlich weitgehend ungeregelt geblieben. Insoweit sind die Arbeitsgerichte berufen, Streitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien über die Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zu entscheiden. Sie müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen, zwischen Bürgern oder auch zwischen privaten Verbänden geltenden Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre (BVerfGE 84, 212 [226 f.]).208

In den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu den richterrechtlich entwickelten Regeln des Arbeitskampfrechts209 wird deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen Ausgestaltungs- und Ausstrahlungsfunktion 207  Zur Bedeutung der Ausgestaltungsvorbehalte im Rahmen der Schrankensystematik oben unter C. I. 4. c). 208  BVerfGE 88, 103 (115 f.). 209  Zusammenfassend Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 9, Rn. 95 ff., 96: „Das geltende Arbeitskampfrecht entbehrt bis heute der gesetzlichen Regelung. Stattdessen hat namentlich die Judikatur des BAG in den vergangenen vier Jahrzehnten ein ausdifferenziertes System ‚gesetzesvertretenden‘ Richterrechts geschaffen. Dies ist immer wieder als unvereinbar mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen der sog. Wesentlichkeitstheorie kritisiert worden, doch hat das Bundesverfassungsgericht diese Kritik zurückgewiesen“.

352

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

ist,210 zumal wenn man aus rechtstheoretischen Gründen einer klaren Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und -fortbildung skeptisch gegenüber steht.211 Sowohl die Ausgestaltungs- (auf der Normsetzungsebene) als die Ausstrahlungsfunktion (auf der Normanwendungsebene) sind schließlich Ausdruck der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung über das objektive Grundrechtsverständnis entwickelt hat.212 f) Organisation und Verfahren Die Grundrechte setzen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch „Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften“.213 Die Verbindung zwischen Grundrechtsschutz und Organisation und Verfahren hatte sich in der Rechtsprechung bereits seit den 1960er Jahren entwickelt, wurde aber erst in den 1970er Jahren verstärkt in der Literatur aufgegriffen.214 Eine Vorreiterrolle in der Judikatur wird dabei dem Mülheim-KärlichBeschluss des Ersten Senats und dem dazu abgegebenen Sondervotum der Richter Simon und Heußner zugeschrieben, in welchem die „Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren“ als eine der „wichtigsten Tendenzen der neueren Grundrechtsinterpretation“ gewürdigt wird.215 Die Dimensionen des Verfahrens und der Organisation können grundsätzlich bei allen Grundrechtsfunktionen auftreten, sie liegen daher ‚quer‘ zu den anderen Funktionen und haben in diesem Sinne (schutz- beziehungsweise gewährleistungs)ergänzenden Charakter.216 Die Organisationskomponente tritt in der Rechtsprechung zur Wissenschaftsfreiheit besonders hervor. Hier geht es um komplexe Fragen grundrechtssichernder und -fördernder Ausgestaltung des Hochschulrechts, die einzelnen Grundrechtsträgern eine Teilnahme an der universitären Organisation ermöglichen soll, um eine optimale Grundrechtsentfaltung zu gewährleisten und Schutz vor ungerechtfertigten Einschränkungen der Forschung 210  Vgl. auch Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 57. 211  Vgl. oben unter A. II und C. II. 1. 212  Siehe oben unter B. II. 5. 213  BVerfGE 69, 315 (355) – Brokdorf. 214  Vgl. Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69, V 2, S. 955. 215  Abw. Meinung BVerfGE 53, 69 (71 ff.); vgl. auch Stern, ebd., § 69, V 3, S. 957. 216  Jarass, § 38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 55.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 353

und Lehre zu bieten.217 Bereits in seinem grundlegenden Hochschulurteil von 1972 betonte das Bundesverfassungsgericht das „Einstehen des Staates […] für die Idee einer freien Wissenschaft“ und verpflichtete ihn, „sein Handeln positiv danach auszurichten, das heißt schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen“.218 Infolgedessen hat der Staat „funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen“ und die Pflege der freien Wissenschaft durch „Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern“.219 Einzelnen Grundrechtsträgern wiede­rum erwächst aus Art. 5 Abs. 3 GG „ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz ihres grundrechtlich gesicherten Freiraums unerläßlich sind, weil sie ihnen freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen“.220 Aus dem objektiven Gehalt der Wissenschaftsfreiheit wird also ein Anspruch der im Hochschulbereich wissenschaftlich Tätigen, allen voran der Hochschullehrerinnen und -lehrer, auf angemessene Teilhabe an den Einrichtungen der Universität gefolgert, was andererseits den Staat zu einer grundrechtsfreundlichen Ausgestaltung von Organisations- und Verfahrensvorschriften verpflichtet.221 Im Zentrum steht der Schutz vor „wissenschaftsinadäquaten“ Entscheidungen. Entsprechend ist bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der Vereinbarkeit von Organisationsnormen mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG darauf abzustellen, ob durch diese Normen die freie wissenschaftliche Betätigung und Aufgabenerfüllung „strukturell gefährdet“ werden.222 Auch bei der objektiven Dimension der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) geht es um die Ausgestaltung der Rundfunkordnung mit dem Ziel der Gewährleistung kommunikativer Autonomie.223 Ähnlich wie bei der Wissenschaftsfreiheit vermengen sich „Reglementierungs-, Leistungs-, Ausgestaltungs- und Organisationselemente in schwer entwirrbarer Weise“.224 Besonders deutlich wird die komplementäre Rolle der Dimension „Verfahren und Organisation“ bei den Verfahrensrechten. So ist diese Schutzdi217  Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb. Rn. 106; vgl. auch oben unter D. I. 2. b), cc). 218  BVerfGE 35, 79 (113); dazu Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, 1985, S.  385 f. 219  BVerfGE 35, 79 (114). 220  BVerfGE 35, 79 (116). 221  Zuletzt BVerfGE 127, 114 (114 f.) – Hamburgisches Hochschulgesetz m. w. N. zur Rspr.; zur objektiven und subjektiven Seite des Grundrechtsschutzes siehe oben unter D. I. 2. 222  BVerfGE 111, 333 (355) – Brandenburgisches Hochschulgesetz. 223  Siehe oben unter D. I. 2. 224  Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb. Rn. 107.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

mension zunächst in abwehrrechtlichen Fallkonstellationen entwickelt worden, vor allem im Zwangsvollstreckungsverfahren.225 Mit einer Entscheidung des Ersten Senats von 1979, in der es um einen schweigenden Prüfling in der mündlichen Juristischen Staatsprüfung ging, wurde die Verfahrensdimension auf das Prüfungsrecht übertragen. In der Entscheidung wird ausgeführt: Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung beansprucht. So folgt bereits unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG die Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, der den Anspruch auf faire Verfahrensführung einschließt (vgl. zuletzt BVerfGE 46, 325 [334]; 49, 220 [225]; zum Gebot fairer Verfahrensführung vgl. ferner BVerfGE 46, 202 [210] m. w. N.). Eine verfassungskonforme Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts gebieten ebenso die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG [226] und aus Art. 12 Abs. 1 GG [227]. Da diese Auswirkungen bereits unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht folgen, beschränken sie sich nicht auf das Verfahren der gerichtlichen Überprüfung, sondern beeinflussen auch die Gestaltung des behördlichen Verfahrens, soweit die behördliche Entscheidung ein Grundrecht berührt.228

In der bereits erwähnten Mülheim-Kärlich-Entscheidung stellt der Erste Senat im selben Jahr die Verbindung zwischen grundrechtlichen Schutzpflichten und der Ausgestaltung von Verfahrensrechten her. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG beeinflusst danach „auch die Anwendung der Vorschriften über das behördliche und gerichtliche Verfahren bei der Genehmigung von Kernkraftwerken, deren vorrangige Aufgabe gerade darin besteht, Leben und Gesundheit vor den Gefahren der Kernenergie zu schützen“.229 Entsprechend könne auch die Verletzung solcher (grundrechts)schützenden Verfahrensvorschriften im Rechtsschutzverfahren von den Betroffenen gerügt werden. In der für die Versammlungsfreiheit grundlegenden BrokdorfEntscheidung aus dem Jahr 1985 wendet der Erste Senat die Rechtsprechung zur Grundrechtseffektuierung durch Verfahrensgestaltung auf Großdemonst225  Zur Genealogie: BVerfGE 46, 325 (334) – Zwangsversteigerung II; BVerfGE 49, 220 (225) – Zwangsversteigerung III. 226  Verweis auf BVerfGE 51, 324; Beschluss vom 3. Oktober 1979, NJW 1979, 2607. 227  Verweis auf BVerfGE 37, 67 (77) – prozeßunfähiger Anwalt; BVerfGE 39, 276 (294) – Passivlegitimation für Zulassungsklagen; BVerfGE 41, 251 (265) – schulrechtliche Ordnungsmaßnahmen; BVerfGE 44, 105 (119 ff.); 45, 422 (430 ff.); 48, 292 (297 f.) – vorläufige Berufsverbote und Amtsenthebungen; BVerfGE 50, 16 (30) – Anfechtbarkeit von Mißbilligungen. 228  BVerfGE 52, 380 (389) – Schweigender Prüfling; grdl. spätere Entscheidungen zum Prüfungsrecht sind BVerfGE 84, 34 – Gerichtliche Prüfungskontrolle und BVerfGE 84, 59 – Multiple-Choice-Verfahren. 229  BVerfGE 53, 30 (65) – Mülheim-Kärlich.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 355

rationen an und entwickelt Kriterien für versammlungsspezifische Verfahrensanforderungen wie frühzeitige Kontaktaufnahme, Information und kooperative Zusammenarbeit zwischen Polizei und Veranstaltern.230 In seiner Entscheidung Josefine Mutzenbacher zur Indizierung jugendgefährdender Schriften durch die Bundesprüfstelle vom November 1990 wiederum stellt das Gericht besondere Anforderungen für die Prüfung im Indizierungsverfahren auf, um damit der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG gegenüber dem Kinder- und Jugendschutz stärkere Geltung zu verschaffen.231 Die Fachgerichte, die mit der Kontrolle von Entscheidungen der Prüfstelle befasst sind, verpflichtet das Bundesverfassungsgericht zu einer weitgehenden Nachprüfung, was den gerichtlich bis dahin nur begrenzt kontrollierbaren Beurteilungsspielraum der Prüfstelle einschränkt.232 Zugleich statuiert es Anforderungen an die Regelungen und das Verfahren zur Besetzung der Bundesprüfstelle.233 Ein Beispiel für eine die prozedurale Ausprägung des Grundrechtsschutzes234 im originär leistungsrechtlichen Bereich findet sich in der Entscheidung zu den Regelsätzen im Recht der Grundsicherung („Hartz IV“). Diese Entscheidung überträgt den Gedanken des prozeduralen Grundrechtsschutzes im Verwaltungsverfahren, also auf der Rechtsanwendungsebene, auf den Prozess der Gesetzgebung, indem sie vom Gesetzgeber verlangt, alle existenznotwendigen Aufwendungen des Hilfsbedürftigen „folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen“.235 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Effektuierung des Grundrechtsschutzes durch Organisations- und Verfahrensanforderungen in der Rechtsprechung eine bedeutende Rolle spielt und insoweit in sehr verschiedenen Problemkonstellationen und in Verbindung mit unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen zur Anwendung kommt. Oft besteht auch ein enger 230  BVerfGE

69, 315 (355 ff.); ausführlicher unter E. I. 1. a). 83, 130 (147 ff.). 232  Vgl. BVerfGE 83, 130 (148): Die „aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG abzuleitenden Prüfungsanforderungen binden nicht nur die Bundesprüfstelle, sondern auch die Gerichte. Eine Nachprüfung der dafür maßgebenden Wertungen ist möglich und geboten. Die Gerichte dürfen den Umfang ihrer Prüfung, ob die Indizierung mit der Kunstfreiheit vereinbar ist, nicht dadurch schmälern, daß sie der Bundesprüfstelle insoweit einen nur eingeschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumen. Dies wäre mit dem unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG folgenden Gebot nicht zu vereinbaren, die widerstreitenden Güter von Verfassungsrang zur Konkordanz zu bringen.“ 233  BVerfGE 83, 130 (149 ff.). 234  Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 48 III, Rn. 32. 235  BVerfGE 125, 175 (225 ff.) – Hartz IV. 231  BVerfGE

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Zusammenhang mit der Frage nach einer effektiven fachgerichtlichen Kontrolle behördlicher Entscheidungen, sodass ergänzend oder sogar vorrangig auch Art. 19 Abs. 4 GG herangezogen wird.236 Das lässt sich gut an einer Kammerentscheidung zum Prüfungsrecht aus dem Jahr 2010 illustrieren. Darin geht es um die Prüfung eines universitären Habilitationsverfahrens. In seiner Entscheidung nimmt das Bundesverfassungsgericht zunächst im Rahmen der Berufsfreiheit auf seine Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz durch die Gestaltung von Verfahren Bezug, um diese problembezogen mit den aus Art. 5 Abs. 3 GG folgenden objektiven Anforderungen an die Hochschulorganisation, insbesondere die Auswahl der Hochschullehrer und -lehrerinnen, zu verbinden. Danach muss das Verfahren der Qualifizierung zum Hochschullehrer so gestaltet sein, dass wissenschaftsinadäquate Faktoren möglichst ausgeschaltet werden. So habe der Betroffene einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine sachkundige Leistungsbewertung in einem fairen und transparenten Verfahren. Die Verwaltungsgerichte wiederum seien nach Art. 19 Abs. 4 GG zu einer effektiven Kontrolle dieser Anforderungen verpflichtet.237 Auch hier nimmt das Gericht die verfahrensrechtliche Ausprägung der Qualifikation im Hochschulorganisationsrecht auf, um sie mit grundrechtlichen Gewährleistungen zum Schutz einer leistungsgerechten Bewertung beim Zugang zur Statusgruppe der Hochschullehrer und -lehrerinnen verfassungsrechtlich zu überformen. g) Allgemeiner Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote Den Freiheitsgrundrechten werden in einzelnen Fällen vom Bundesverfassungsgericht auch Gleichbehandlungspflichten im Sinne von Benachteiligungs- oder Diskriminierungsverboten entnommen.238 So sieht das Bundesverfassungsgericht in Art. 6 Abs. 1 GG einen besonderen Gleichheitssatz verankert, der es verbietet, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen.239 Allerdings sei damit keine verfassungsrechtliche Pflicht verbunden, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren;240 vielmehr seien solche Differenzierungen wiederum am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen, gegebenenfalls unter Zugrundelegung eines strengen Maßstabs.241 Weiterhin entausführlich Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, § 69 V 5, S. 962 ff. Einzelnen BVerfG-K, NVwZ 2011, 486 (489 ff.). 238  Vgl. Jarass, §  38 Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, 2006, Rn. 39. 239  BVerfGE 99, 216 (232) – Familienlastenausgleich. 240  Vgl. BVerfGE 105, 313 (346 ff.) – Lebenspartnerschaftsgesetz. 241  Grdl. BVerfGE 124, 199 (219 ff.) – Hinterbliebenenversorgung; BVerfGE 126, 400 (416 ff.) – Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht; siehe auch oben unter D. I. 3. e). 236  Dazu 237  Im



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 357

nimmt das Bundesverfassungsgericht Art. 4 Abs. 1, 2 GG und dem aus der Zusammenschau verschiedener Verfassungsbestimmungen abgeleiteten welt­ anschaulich-religiösen Neutralitätsprinzip ein Gebot zur Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung der verschieden Glaubensrichtungen und -gemeinschaften.242 Ähnlich wird Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG eine inhaltliche Neutralitätspflicht des Staates im Pressebereich entnommen, „die jede Differenzierung nach Meinungsinhalten verbietet.“ Die Neutralitätspflicht des Staates korrespondiert dann mit einem subjektiven Abwehrrecht betroffener Presseunternehmen „gegen die mit staatlichen Förderungsmaßnahmen etwa verbundenen inhaltslenkenden Wirkungen sowie ein Anspruch auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb“.243 Solche diskriminierungsspezifischen Ausprägungen des Freiheitsschutzes sind aber die Ausnahme. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht gerade in seiner jüngeren Rechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG die „wechselseitige Verschränkung von Gleichheits- und Freiheitsschutz“ deutlich herausgearbeitet.244 Lange Zeit hatte das Gericht – unter anderem unter dem Einfluss von Leibholz245 – Art. 3 Abs. 1 GG lediglich ein Willkürverbot entnommen, das es jeweils sachbereichsspezifisch konkretisierte.246 Nach der gängigen Formel war es dem Gesetzgeber untersagt, „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln“.247 Seit Anfang der 1980er Jahre hat das Bundesverfassungsgericht seine Gleichheitsdogmatik umgebaut, nicht zuletzt auch, um der immer deutlicher zutage tretenden Diskrepanz zwischen der Freiheits- und Gleichheitsjudikatur entgegenzuwirken und den „leerformelhaften“248 Gehalt des Gleichheitsgebots materiell aufzufüllen.249 Nach der so genannten Neuen Formel stellt das Bundesverfassungsgericht zunächst darauf ab, ob die beanstandete Regelung eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten oder von Personengrup242  Vgl. BVerfGE 93, 1 (17) – Kruzifix; BVerfGE 105, 279 (294) – Osho; BVerfGE 108, 282 (289) – Kopftuch. 243  BVerfGE 80, 124 (134) – Postzeitungsdienst. 244  Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 3, Rn. 13. 245  Vgl. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1959; ausführlich Meinel, Eine „revolutionäre Umschichtung unseres Rechtsdenkens“ – Gerhard Leibholz und die Gleichheit vor dem Gesetz, 2013; zum Einfluss Leibholzs auf die frühe Judikatur des Bundesverfassungsgerichts oben unter B. II. 2. c) und B. II. 3. b) aa). 246  Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Anh Art. 3, Rn. 3 (Lfg. Mai 1994). 247  Grdl. BVerfGE 4, 144 (155) – Abgeordneten-Entschädigung; ähnlich bereits BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat. 248  Heun, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 3, Rn. 20. 249  Ausführlich Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Anh Art. 3, Rn. 6 (Lfg. Mai 1994).

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

pen bewirkt. Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern solle, unterliege der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Diese Bindung sei umso enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annäherten und je größer deshalb die Gefahr sei, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führe. Die enge Bindung gelte auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirke. Zudem seien dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken könne.250 Die damit vom Bundesverfassungsgericht für maßgeblich erklärte Differenzierung zwischen der Ungleichbehandlung von Sachverhalten und (unmittelbar beziehungsweise mittelbar) von Personengruppen, ist in der Literatur auf weitgehende und in der Sache überzeugende Kritik gestoßen. Denn Recht regelt immer menschliches Verhalten und daher ist auch die unterschiedliche Behandlung von Sachverhalten immer mit einer unterschiedlichen Behandlung von Personen verbunden, die die Sachverhalte durch ihr Tun erfüllen (oder auch nicht); letztlich haben damit alle ‚Sachverhalte‘ zumindest mittelbar auch einen personalen Bezug und bewirken eine Ungleichbehandlung von Personen beziehungsweise Personengruppen (je nachdem, wie diese definiert werden).251 In der jüngsten Judikatur wird das Element der Gruppenbetroffenheit daher hinter die Kriterien des Persönlichkeits- und des Freiheitsbezugs zurückgesetzt. So heißt es in der Entscheidung des Ersten Senats zum Teilerlass von BAföG-Schulden aus dem Jahr 2011, in der das Gericht seine Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG zusammenfasst: Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können (vgl. BVerfGE 117, 1 [30]; 122, 1 [23]; 126, 400 [416] m. w. N.). […] Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen 250  Zusammenfassend BVerfGE 88, 87 (96  f.) – Transsexualität II; grdl. zur „Neuen Formel“ BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I. 251  So unter anderem Bryde / Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, 1999, S. 40; Heun, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 3, Rn. 21 m. w. N. Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 3, Rn. 27, die darauf hinweist, dass die dogmatische Handhabung des Gruppenmerkmals einen spezifischen Gruppenbegriff voraussetzen ­würde.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 359 keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 55, 72 [88]; 88, 87 [97]; 93, 386 [397]; 99, 367 [389]; 105, 73 [110]; 107, 27 [46]; 110, 412 [432]). Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfGE 75, 108 [157]; 93, 319 [348 f.]; 107, 27 [46]; 126, 400 [416] m. w. N.). Eine strengere Bindung des Gesetzgebers ist insbesondere anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, wobei sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen umso mehr verschärfen, je weniger die Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]) oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (vgl. BVerfGE 124, 199 [220]). Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich auch aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]). Im Übrigen hängt das Maß der Bindung unter anderem davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Kriterien zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 12. Oktober 2010 – 1 BvL 14 / 09  ‒, juris, Rn. 45).252

Entscheidend für die Operationalisierbarkeit des Gleichheitsgrundrechts ist die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene „sachbereichsbezo­ gene“253 beziehungsweise „bereichsspezifische“254 Maßstabsbildung. Darin wird aber zugleich auch die Gefahr der bereichsspezifischen Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts sichtbar. Durch seine enge Verbindung mit dem Gerechtigkeitsgedanken255 sowie der Tatsache, dass alle gesetzlichen Regelungen – wesensnotwendig – Differenzierungen enthalten, kann der Gleichheitssatz dazu benutzt werden, dem Bundesverfassungsgericht durch spezifische Maßstabsbildung einen umfassenden verfassungsrechtlichen Zugriff auf unterschiedlichste Sach- und Rechtsbereiche zu ermöglichen.256 Zwar betont das Gericht in ständiger Rechtsprechung, dass allein die „Systemwidrigkeit“ einer Regelung das Verdikt eines Gleichheits252  BVerfGE

129, 49 (68 f.) – Mediziner-BAföG. 75, 108 (157) – Künstlersozialversicherung: „Der normative Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt daher seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs. Der Gleichheitssatz verlangt, daß eine vom Gesetz vorgenommene unterschiedliche Behandlung sich – sachbereichsbezogen – auf einen vernünftigen oder sonstwie einleuchtenden Grund zurückführen läßt“. 254  BVerfGE 84, 239 (268) – Kapitalertragssteuer: „Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist bereichsspezifisch anzuwenden“. 255  Vgl. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 195 ff.; Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 232 ff.; zur materiellen ‚Aufladung‘ des Gleichheitssatzes im Sinne einer Gerechtigkeitsbindung während der Weimarer Debatte vgl. auch oben unter B. I. 2. a) bb). 256  Zur Gefahr der Ubiquität des Grundrechtsschutzes oben unter D. I. 1. b). 253  BVerfGE

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

verstoßes nicht rechtfertigen, sondern dafür höchstens Indiziencharakter haben kann.257 Andererseits hat es sich daran nicht durchgehend gehalten, sondern für einzelne Rechtsbereiche dogmatische Maßstäbe entwickelt, die einer teilweise recht strengen Prüfung der gesetzlichen Regelungen auf Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit gleichkommen. Evident ist das für das Steuerrecht. Hier hat das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Gleichheitssatz spezifische steuerverfassungsrechtliche Maßstäbe – wie insbesondere das Gebot der Folgerichtigkeit und Belastungsgleichheit258 – entwickelt, die es unter dem Topos vom „Grundsatz der Steuergerechtigkeit“ zusammenfasst.259 Nicht zu Unrecht ist dem Bundesverfassungsgericht daher auch in der neueren Literatur ‚steuerpolitischer Aktivismus‘ vorgeworfen worden.260 So betrifft ein erstaunlich hoher Anteil der Senatsrechtsprechung der jüngeren Zeit steuerrechtliche Fragestellung.261 Der kritische Einwand muss erlaubt sein, ob beispielsweise die Einschränkung der Pendlerpauschale262 oder die (Nicht-)Absetzbarkeit von Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer263 tatsächlich grundrechtsrelevante Gleichheitsverstöße darstellen, obwohl offenkundig weder ein besonderer personaler Bezug im Sinne der Neuen Formel noch eine besondere Betroffenheit eines Freiheitsgrundrechts vorliegt,264 die über das hinausgeht, was ohnehin mit jedem steuerrechtlichen Eingriff verbunden ist.265 257  Grdl. BVerfGE 9, 20 (28) – Arbeitslosenhilfe: „Eine Sondervorschrift verstößt nicht schon dadurch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, daß sie von den einen Rechtsbereich bestimmenden Grundregeln abweicht. Es kommt allein darauf an, ob sie sachlich hinreichend gerechtfertigt ist. Die Systemwidrigkeit einer Einzelvorschrift kann allenfalls als Indiz für ihre Willkürlichkeit gewertet werden“; w. N. zur Rspr. bei Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Kommentar, Anhang zu Art. 3, Rn. 31 (Lfg. Oktober 1996). 258  Vgl. nur BVerfGE 122, 210 (231) – Pendlerpauschale m. w. N. 259  BVerfGE 120, 1 (44) – Abfärberegelung; st. Rspr. 260  Vgl. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG 2 BvL 1 / 07, 2 / 07, 1 / 08, 2 / 08, 2009. 261  Aus den Bänden 122 bis 128 siehe nur BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale; BVerfGE 122, 316 – Absatzfondsgesetz; BVerfGE 123, 111 – Jubiläumsrückstellungen; BVerfGE 125, 1 – Halbeinkünfteverfahren; BVerfGE 125, 141 – Gewerbesteuerlicher Mindesthebesatz; BVerfGE 126, 268 – häusliches Arbeitszimmer; BVerfGE 127, 1 – „Spekulationsfrist“ bei Veräußerung von Grundstücken; BVerfGE 127, 31 – Steuerliche Entlastung von Entschädigungen für entgangene Einnahmen; BVerfGE 127, 224 – Betriebsausgabenabzugsverbot. 262  BVerfGE 122, 210. 263  BVerfGE 126, 268. 264  Anders etwa in BVerfGE 126, 400 (419) – Steuerliche Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften, da hier eine (wenigstens mittelbare) Anknüpfung an die sexuelle Orientierung als ein besonders diskriminierungssensibles personales Merkmal vorliegt. 265  Grdl. zum eigentumsrechtlichen Schutz gegenüber der ‚Finanzgewalt‘ BVerfGE 115, 097 (110 f.) – Halbteilungsgrundsatz.



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 361

Wie Osterloh in ihrer Kommentierung hervorhebt, haben auf der anderen Seite im Sozialrecht „die Grundbekenntnisse des Bundesverfassungsgerichts zur weitgehenden sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nach wie vor zentrale Bedeutung“.266 Hier kommt es vor allem dann zu einer intensiven Gleichheitsprüfung und auch nicht selten zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, wenn eine Personengruppe ohne ausreichenden Grund vom Bezug einer Sozialleistung ausgeschlossen ist.267 In diesen Fällen spielen somit die in der Neuen Formel entwickelten Prüfungskriterien, vor allem also die Frage, ob ein besonderer personaler oder freiheitsrechtlicher Bezug vorliegt, eine wesentliche Rolle.268 Lediglich angedeutet werden können die nach wie vor vorhandenen Schwierigkeiten bei der dogmatischen Einordnung der speziellen Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 GG, die besondere Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts enthalten.269 Bis auf das Grundrecht der Geschlechtergleichheit in Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 GG, zu dem sich eine umfangreiche Judikatur entwickelt hat,270 sind die besonderen Bevorzugungsund Benachteiligungsverbote in der Rechtsprechung bislang marginal geblieben. So wurden die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten (zugeschriebenen) Merkmale größtenteils sehr eng interpretiert271 und auf ein Gebot streng-formaler Gleichbehandlung im Sinne von Anknüpfungs- oder Begründungsverboten beschränkt.272 Doch hier kündigt sich eine grundlegende Wende an. So hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zur mittelbaren (oder faktischen) Geschlechterdiskriminierung ausdrücklich nicht nur auf Art. 3 Abs. 2 GG, sondern (auch) auf Art. 3 Abs. 3 GG gestützt, sodass kein Grund erkennbar ist, die zum Gleichberechtigungsgrundrecht entwickelte Dogmatik nicht gleichsam auch auf die anderen diskriminierungsrelevanten Merkmale des Art. 3 Abs. 3  GG anzuwenden.273 Angesichts der Bedeutung, die das Bun266  Osterloh,

in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 3, Rn. 176. Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 142 f., die darauf hinweisen, dass 30 der insgesamt 63 zwischen 1979 bis 1991 erteilten Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrecht­ liche Verstöße gegen den Gleichheitssatz betrafen; vgl. dazu unter E. I. 1. e). 268  Vgl. etwa BVerfGE 130, 240 (254 f.). – Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz; dazu auch im Folgenden unter D. II. 2. a). 269  Vgl. Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 3, Rn. 236. 270  Ausführlich Wrase / Klose, Gleichheit unter dem Grundgesetz, 2011, Rn. 4 ff. 271  Ausführlich zur Judikatur zu den einzelnen Merkmalen Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots – Eine Untersuchung zur Reichweite des Unterscheidungsverbots nach Artikel 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz, 1987, S. 222 ff. 272  Vgl. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 313 ff. 273  So unter anderem auch Heun, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Rn. 124 m. w. N. 267  Vgl.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

desverfassungsgericht den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG auch im Rahmen der Neuen Formel zuspricht, dürfte hier ein erhebliches Potential für eine Weiterentwicklung der Gleichheitsdogmatik im Sinne eines zeitgemäßen Diskriminierungsschutzes liegen. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht ein Verbot religiöser Bekundungen wie des Tragens eines muslimischen Kopftuchs im Schuldienst nicht mehr nur an der Glaubensfreiheit der Lehrerin274, sondern auch dran misst, dass religiöse Bekundungsverbote in der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik hauptsächlich Kopftuch tragende Frauen muslimischen Glaubens betreffen,275 dann öffnet es das vornehmlich freiheitsrechtliche Problem für die eminent wichtige Perspektive so­zial relevanter Diskriminierung.276 4. Zwischenfazit: Multifunktionalität als Ausdruck eines materialen Grundrechtsverständnisses Wie die Analyse der unterschiedlichen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundrechtsfunktionen gezeigt hat, haben sich diese entsprechend den funktionalen Erfordernissen eines materialen Freiheits- und Gleichheitsschutzes in den grundrechtlich geschützten Bereichen unterschiedlich ausdifferenziert. Vielfach sind in der Rechtsprechung Überlappungen und Verschränkungen der unterschiedlichen Funktionen zu erkennen. Die Ausstrahlungswirkung hat dabei ein umfassendes Anwendungsfeld bei der grundrechtlichen Kontrolle der Fachgerichte im Rahmen der Rechtsanwendung erhalten. Sie ist auch nicht lediglich auf den Bereich des Privatrechts beschränkt, sondern erfasst den gesamten Bereich der fachgerichtlichen Rechtsprechung. Prüfungsmaßstab ist die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, mit dem das Bundesverfassungsgericht konkrete dogmatische Maßstäbe für die unterschiedlichen Rechtsbereiche aufstellt.277 Die Schutzpflichtenfunktion hat das Bundesverfassungsgericht zunächst im Bereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hauptsächlich in seiner Rechtsprechung zur Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, beim Rechtsschutz gegen Hochrisikoanlagen sowie beim Lärmschutz entwickelt und anschließend auf den Bereich der Arbeitnehmerrechte sowie den Verbraucherschutz übertragen. In den jeweiligen Konstellationen werden betroffene Grundrechtsträger gegenüber grund274  So

noch BVerfGE 108, 282 (297 ff.) ‒ Kopftuch I. jetzt BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015 – 1  BvR 471 / 10 u. a., juris Rn. 142 ff. 276  Vgl. bereits Baer / Wrase, Zwischen Integration und „westlicher“ Emanzipa­ tion: Verfassungsrechtliche Perspektiven zum Kopftuch(-verbot) und der Gleich­ berechtigung, 2006. 277  Dazu ausführlich unter D. II. 2. a) und E. I. 1. b)–bb). 275  Siehe



I. Mehrdimensionales Grundrechtsverständnis 363

rechtsrelevanten Handlungen Dritter – durch medizinische Eingriffe, den Betrieb von emittierenden Anlagen oder die Ausübung wirtschaftlicher Macht – als schutzwürdig angesehen, sodass der Staat grundsätzlich zum Eingreifen angehalten ist. Die Anforderungen, die an gesetzgeberische Maßnahmen in diesen Bereichen gestellt werden, reichen von einer strikten Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sinne eines „Untermaßverbots“ bis hin zu einer reinen Evidenzkontrolle und variieren erheblich je nach Regelungsbereich. Sehr zurückhaltend ist das Bundesverfassungsgericht bei der Anerkennung originärer grundrechtlicher Leistungsrechte, wesentlich stärker betont wird hier der Gleichbehandlungsaspekt, etwa bei der Herleitung (derivativer) Teilhaberechte beim Zugang zum Hochschulstudium. Neue Entwicklungen im Sozialrecht betreffen die Anerkennung eines grundrechtlichen Leistungsanspruchs auf Sicherung des (physischen wie sozio-kulturellen) Existenzminimums als Menschenrecht, wobei der Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht zur realitätsgerechten Bedarfsermittlung verpflichtet worden ist. Interessante Entwicklungen sind auch im Bereich der Einrichtungs- und Ausgestaltungsfunktionen zu beobachten. So tritt das traditionell strukturwahrende Verständnis der Einrichtungsgarantien immer mehr hinter ein funktionales und gestaltungsoffenes Verständnis zurück. Ihre spezifische Gewährleistungsaufgabe wird zunehmend durch andere Grundrechtsfunktionen, vor allem die Ausgestaltungsfunktion, übernommen. Die Ausgestaltungsfunktion kommt nicht nur bei den normgeprägten Grundrechten zum Tragen, sondern erstreckt sich auf weite Bereiche des Grundrechtsschutzes, in denen regulative Vorkehrungen etwa zur Bereitstellung finanzieller, personeller oder sachlicher Leistungen, Einrichtungen und Organisation notwendig sind, um Freiheitsausübung im grundrechtlich geschützten Bereich strukturell zu ermöglichen und zu sichern. Eine komplementäre Gewährleistungsfunktion erfüllt der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren, der sowohl bei den objektiven Ausgestaltungsaufträgen, wie etwa im Bereich der Wissenschaftsund Rundfunkfreiheit, aber auch in Schutzpflichtenkonstellationen wie dem Nachbarschutz gegen Hochrisikoanlagen und abwehrrechtlichen Konstellationen wie im Zwangsvollstreckungs- und Prüfungsrecht erhebliche Bedeutung erlangt hat. Besonders interessant ist die Fortentwicklung der Gleichheitsdogmatik. Im Wege der Weiterentwicklung der Neuen Formel hat das Bundesverfassungsgericht den Prüfungsmaßstab für den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gerade dort intensiviert, wo Differenzierungen an Persönlichkeitsmerkmale anknüpfen, insbesondere wenn sie denen des Art. 3 Abs. 3 GG nahe kommen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich auch aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben, wodurch Freiheits- und Diskriminierungsschutz sich im Gewährleistungsbereich des Grundrechtekatalogs gegenseitig ergänzen.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Insgesamt zeigt die Analyse, dass die jeweiligen Grundrechtsfunktionen in den verschiedenen grundrechtlichen Normbereichen unterschiedlich ausgeformt sind. Es wird erkennbar, dass diese differenzierte Ausprägung vor allem an die jeweiligen Strukturen des betroffenen Sachbereichs sowie die spezifischen grundrechtlichen Gefährdungs- und Problemlagen anknüpft. So sind die besonderen Merkmale rundfunk- und medienspezifischer Kommunikation und ihrer Einrichtungen und Organisation ausschlaggebend dafür, dass im Bereich der Rundfunkfreiheit – ebenso wie etwa im Bereich der Wissenschaftsfreiheit – die Ausgestaltungs- und Organisationskomponente wesentliche Bedeutung hat. Anders im Bereich der Meinungs- oder Pressefreiheit, wo vor allem die Ausstrahlungswirkung im Vordergrund steht, da diese Grundrechte in erster Linie dadurch beschränkt werden, dass Strafund Zivilgerichte relativ allgemein gehaltene und generalklauselartige einfachrechtliche Vorschriften anwenden (vgl. etwa §§ 185 ff. StGB, §§ 823 ff. BGB, §§ 23 ff. KunstUrhG) Diese Differenzierung lässt sich weder am Wortlaut der genannten Grundrechte (vgl. Art. 5 Abs. 1, Abs. 3 GG) noch an deren Entstehungsgeschichte oder Systematik festmachen, sondern ist Ausfluss der jeweiligen einfachrechtlichen wie tatsächlichen (sozialen) Problemkontexte, auf deren Steuerung hin die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ihre Dogmatik entwickelt hat. Der Möglichkeit einer Systematisierung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen auf einer abstrakten, das heißt von den jeweiligen grundrechtlichen Problembereichen abgelösten Ebene, sind deutliche Grenzen gesetzt. Das zeigen nicht zuletzt die vielen Überlappungen und Überschneidungen zwischen Abwehr-, Ausstrahlungs-, Schutz-, Ausgestaltungs-, Verfahrens- und Organisationsfunktion. Rationalisierbar werden die verschiedenen Funktionen daher nicht primär durch die Entwicklung funktionsspezifischer dogmatischer Maßstäbe, sondern primär durch ihre problembezogene Ausformung in den grundrechtlich geschützten Lebensund Regelungsbereichen unter Beachtung des Grundsatzes größtmöglicher praktischer Wirksamkeit.

II. Gewährleistungsgehalt und funktionale Grenzen der verfassungsrechtlichen Kontrolle 1. Gewährleistungsgehalt der Grundrechte Um der Mehrdimensionalität des Grundrechtsschutzes Rechnung zu tragen und den Auftrag der Grundrechte zur Sicherung realer Freiheit, ihren materialen Gehalt, angemessen zu umschreiben, hat Hoffmann-Riem vorgeschlagen, den durch das überkommene Abwehrrechtsdenken geprägten Begriff des „Schutzbereichs“ durch den des „Gewährleistungsgehaltes“ zu er-



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle365

setzen.278 Es gehe nicht nur um „Schutz“ von Freiheit gegen den Staat, sondern umfassender um die Gewährleistung von Freiheit in Staat und Gesellschaft, „zwar auch gegen den eingreifenden Staat, aber auch durch den die Freiheitsausübung aller sichernden Staat“. Auch die mit dem Begriff „Bereich“ verbundene räumliche Vorstellung des Schutzausmaßes als eines abgegrenzten, von staatlicher Ingerenz freien Raumes gesellschaftlicher Entfaltung sei irreführend. Angesichts der vielfältigen Vernetzungen von staatlichen und gesellschaftlichen Verantwortungen und Aktivitäten seien alle Bilder schief, die Staat und Gesellschaft als abgegrenzte Sphären darstellten. Mit der Anerkennung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte und in der Folge einer staatlichen Verantwortung für die Ermöglichung von Freiheit auch im Verhalten der Bürger untereinander haben nach HoffmannRiem Bilder ausgedient, die einen „Bereich“ (nur) auf „Schutz“ hin ausrichten und „dabei in der Tradition der Abwehr staatlicher Eingriffe in den Schutzbereich stehen“.279 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade von eben dieser abwehrrechtlich-liberalen Lesart aus Rusteberg den Terminus des Gewährleistungsgehalts aufgegriffen hat. Im Gegensatz zu Hoffmann-Riem möchte er nicht auf die hergebrachte Schutzbereichsdogmatik verzichten, sondern diese um die Bestimmung der grundrechtlichen Gewährleistungen im Sinne einer Art dogmatischer ‚Feinjustierung‘ ergänzen.280 Der Begriff des Gewährleistungsgehalts, der auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer häufiger Verwendung findet,281 erscheint grundsätzlich geeignet, als übergreifende Bezeichnung der verschiedenen grundrechtlichen Funktionen im Sinne des materialen Grundrechtsverständnisses zu fungieren. Hiervon ausgehend lassen sich bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts vor allem zwei unterschiedliche Richtungen in der grundrechtsdogmatischen Debatte ausmachen. Die eine plädiert in der Tradition der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung282 für eine weite Tatbestandsauslegung 278  Vgl. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 57; Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, 2004, S. 226. 279  Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, S. 57. 280  Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 231 ff. 281  Vgl. nur BVerfGE 99, 100 (122) – St. Salvator Kirche; BVerfGE 106, 28 (37) – Mithörvorrichtung; BVerfGE 109, 279 (311) – Großer Lauschangriff; BVerfGE 115, 097 (113) – Halbteilungsgrundsatz.; BVerfGE 116, 24 (53) – Einbürgerung; BVerfGE 116, 202 (226) – Tariftreueerklärung; BVerfGE 120, 180 (204) – Caroline von Monaco III; BVerfGE 125, 39 (51, 54) – Adventssonntage Berlin. 282  Vgl. auch Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 146.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

und den Ausgleich widerstreitender grundrechtlicher Schutzinteressen durch Abwägung. Die andere möchte das Problem der Ubiquität des Grundrechtsschutzes283 auf dem Weg einer einschränkenden Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Grundrechte lösen. Die genannten Grundpositionen lassen sich im Anschluss an Alexy als weite und enge Tatbestandslösung bezeichnen. a) Weites Tatbestandsmodell und allgemeine Abwägungsregel Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Dogmatik grundsätzlich für eine weite Interpretation der grundrechtlichen Schutz- und Gewährleistungsgehalte entschieden und ist nur bei einzelnen Grundrechten davon abgewichen;284 Alexy hat für dieses weite Schutzverständnis die rechts­ theoretische Kategorie der „weiten Tatbestandstheorie“ entwickelt. Diese soll zwei wesentliche Strukturmerkmale umfassen: (1) Alles, was eine Eigenschaft aufweist, die – isoliert betrachtet – für eine Subsumtion unter den Tatbestand hinreicht, ist tatbestandsmäßig, ganz gleich, welche Eigenschaften sonst noch vorliegen. […] (2) In den semantischen Spielräumen der Begriffe des Tatbestands sind weite Interpretationen vorzunehmen.285

So wird etwa der Begriff der „Presse“ vom Bundesverfassungsgericht weit und formal interpretiert und ist nicht auf die ‚seriöse‘ Presse oder bestimmte Informationsinhalte beschränkt,286 sondern erfasst zum Beispiel auch vornehmlich unterhaltende Inhalte.287 Er erfasst alle Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die zur pressespezifischen Arbeit, von der Beschaffung von Informationen über die presseinterne Aufbereitung bis zur Verbreitung der Nachrichten und Informationen, gehören288 einschließlich ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Grundlagen.289 Das weite Tatbestandsmodell hat den Vorteil, dass es einen umfassenden Grundrechtsschutz in einem konkreten Lebensbereich ermöglicht und nicht 283  Ausführlich

oben unter D. I. 1. b). oben unter C. I. 1. 285  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 291. 286  Grdl. BVerfGE 34, 269 (283) – Soraya. 287  Zum „Infotainment“ siehe BVerfGE 101, 361 (389 f.) – Caroline von Monaco II: „Daß die Presse eine meinungsbildende Funktion zu erfüllen hat, schließt die Unterhaltung nicht aus der verfassungsrechtlichen Funktionsgewährleistung aus. Meinungsbildung und Unterhaltung sind keine Gegensätze. Auch in unterhaltenden Beiträgen findet Meinungsbildung statt.“ 288  Grdl. BVerfGE 20, 162 (175  f.) – Spiegel; BVerfGE 66, 116 (137  f.) – Bild / Wallraff; BVerfGE 91, 125 (134) – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal I. 289  Wie etwa Werbeanzeigen; vgl. BVerfGE 64, 108 (114) – Zeugnisverweigerungsrecht von Presseangehörigen II; siehe auch Tabelle 2 unter D. I. 2. c), S. 323 f. 284  Vgl.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle367

von vornherein bestimmte Positionen und Belange, die sich (potentiell) als grundrechtsrelevant erweisen (können), aus ihm ausklammert. Es ermöglicht somit auch eine umfassende Steuerung der Rechtsordnung, soweit grundrechtliche Belange in einem bestimmten Bereich, wie etwa der Meinungsäußerung oder der Presse, betroffen sind. Dieses Modell erfordert dafür allerdings in Kollisionslagen auf der Ebene der Rechtfertigung in der Regel eine problembezogene Abwägung mit anderen Gütern, entweder den über Grundrechtsschranken begründeten öffentlichen Zwecken oder kollidierenden Verfassungswerten.290 Dieses Abwägungsmodell ist für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit der Lüth- und der ApothekenEntscheidung291 prägend, hat allerdings im Schrifttum aus ganz unterschiedlicher theoretischer Richtung immer wieder Kritik erfahren. Im Folgenden sollen einige dieser Kritiken – aus methodologischer, rechtshistorischer und rechtstheoretischer Perspektive – zusammenfassend dargestellt und bewertet werden. So weist Jestaedt in seiner Arbeit zur Grundrechtsmethodik darauf hin, dass, je „aufgeladener und je zahlreicher die Grundrechtsstellungen sind, die miteinander in Widerstreit geraten und dann im Einzelfall gegeneinander ­abgewogen werden müssen, desto stärker das aleatorische Moment in der Güterabwägungsentscheidung zu Tage tritt, daß also, anders gewendet, mit wachsender Zahl heteronomer, freilich konfligierender Determinanten die Entscheidungsautonomie des Grundrechtsanwenders beziehungsweise Grund­ rechtsinterpreten steigt.“ Je mehr die Gewichtungsentscheidung zu einer Sache „diskretionärer Beliebigkeit“ werde, so kritisiert er, gerate Grundrechtsdogmatik „zu einer Relativitätstheorie eigener, höchst subjektiver Art“.292 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Rückert, der einen rechtshistorischen Parforceritt durch die Auslegungsgeschichte macht, um die juristische Karriere eines an sich „unjuristischen“ Begriffs aufzuzeigen. So sieht Rückert den entscheidenden Einbruch des Abwägungsgedankens in die Rechtswissenschaft bei der Freirechtsschule293 und der antipositivistischen Strömung im Weimarer Methodenstreit,294 vor allem bei Smend. Das Bundesverfassungsgericht habe sich dann die Auflösung der Methodenstrenge durch den Abwägungsgedanken in seiner Rechtsprechung zu Eigen gemacht. Ungeachtet der ein wenig widersprüchlich anmutenden Feststellung, dass die Abwägung in der Jurisprudenz „Karriere“ gemacht habe, aber an sich „unjuristisch“ sei – was dann aber wohl auf ein positivistisches Verständnis Sachs, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Vor Art. 1, Rn. 98 ff. oben unter B. II. 4. d)–e). 292  Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 53. 293  Dazu oben unter B. I. 1. c). 294  Dazu oben unter B. I. 2. a) bb). 290  Dazu

291  Ausführlich

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

dessen hinausläuft, was „juristisch“ ist (soll die Konsequenz sein zu sagen: die Abwägungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts ist „unjuristisch“?) –, zielt seine Kritik der Sache nach darauf, dass mit der Abwägung die „Normstrenge“ und damit die Rechtssicherheit verloren gehe, da die Abwägung auf eine Billigkeitsentscheidung im Einzelfall hinauslaufe.295 Eine rechtstheoretische „Kritik der Abwägung“ führt Ladeur. Das Konzept der Abwägung unterstelle notwendigerweise, dass „die jeweils betroffenen Grundrechts- und Schrankenbelange kommensurabel und gegeneinander ausgleichsfähig“ seien.296 In komplexen Fällen bereite aber schon die Beschreibung der gegeneinander zu gewichtenden Interessen und der für die Abwägung zu berücksichtigen Folgen Probleme. Vor allem kritisiert Ladeur, dass den abwägenden Gerichten in komplexen Entscheidungssituationen das erforderliche Wissen fehle, das in Beziehungsnetzwerken von Individuen und Organisationen in der Gesellschaft automatisch akkumuliert werde.297 Letztlich läuft seine Kritik auf eine Stärkung der Kräfte gesellschaftlicher Selbstregulierung im Sinne einer (neo)liberalen Grundrechtstheorie hinaus. Das Modell der Abwägung hingegen wird in die Nähe eines wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus gerückt, wo die gerichtliche Abwägungsentscheidung die bessere soziale Problemlösung für sich beanspruchten will und damit zur Bevormundung wird.298 In Ladeurs Ausführungen kommt damit eine grundsätzliche Skepsis gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Interventionen zur Sicherung sozialer Freiheitsräume zum Ausdruck. Im theoretischen Ausgangspunkt nahe bei ihm liegend, in der inhaltlichen Zielrichtung indes konträr zu Ladeur argumentiert Fischer-Lescano. Kernpunkt seiner Kritik ist das harmonistische Denken der Abwägungslehre, das darauf abzielt, unterschiedliche grundrechtliche Belange auf dem Weg der „praktischen Konkordanz“ (Hesse) zu einem möglichst optimalen Ausgleich zu bringen. Hinter der „rhetorischen Fassade der Abwägung“ würden zum einen die eigentlichen Argumente und zum anderen die sozialen Verhältnisse verborgen, die der Entscheidung tatsächlich zugrunde lägen.299 Es seien nicht Prinzipien, die gegeneinander „abgewogen“ werden müssten, sondern gesellschaftliche Autonomiebereiche, die miteinander „kollidieren“.300 Für derartige „Kollisionen“ von sozialen „Rationalitätsbereichen“, das heißt „Kolli­ sionslagen zwischen Wirtschaft, Politik, Religion etc.“ müsse das Recht „In295  Rückert,

Abwägung, 2011. Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 12 f. 297  Ebd., S. 29. 298  Vgl. Ebd., S. 26 f.  299  Christensen / Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts – Vom hierarchischen zum reflexiven Verständnis deutscher und europäischer Grundrechte, 2007, S. 359. 300  Fischer-Lescano, Kritik der praktischen Konkordanz, 2008, S. 173. 296  Ladeur,



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle369

kompatibilitätsnormen“ bereitstellen, um einerseits Ursupationstendenzen von Systemen rechtlich entgegenzuwirken und andererseits Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen.301 So sei beispielsweise der Konflikt von Streik- beziehungsweise Demonstrationsrechten und Wirtschaftsinteressen ein gesellschaftlicher Konflikt, in dem es darum gehe, zu verhindern, „dass die Eigenrationalitätsmaximierung der Wirtschaftsrationalität alle anderen Sektoren der Gesellschaft ursupiert“. Es bedürfe darum der Anwendung einer Kollisionsnorm, „die eine Inkompatibilität formuliert und die kommunikativen Grundrechte als Möglichkeitsbedingung für die Selbstkonstituierung des Individuums und eine demokratische Öffentlichkeit zugleich begreift“.302 Ähnlich wie Ladeur geht es Fischer-Lescano also um eine Stärkung gesellschaftlicher Autonomiebereiche, allerdings mit dem großen Unterschied, dass bei Fischer-Lescano das Recht eine Art Garantenstellung dafür übernimmt, die gesellschaftlichen Autonomiebereiche zu stärken und gegenüber Ursupationstendenzen jeweils anderer Systeme (wie etwa Wirtschaft, Religion usf.) zu behaupten.303 Das Kollisionsdenken will dabei einen gedanklich-theoretischen Kontrapunkt zum Ausgleichsdenken der Abwägungslehre setzen. Die vielfältige Kritik am Abwägungsmodell legt durchaus einige Schwächen der abwägungsbezogenen Rechtsanwendung offen.304 Es mangelt allerdings an überzeugenden Alternativen.305 Ein wesentlicher Teil der Kritik liegt offensichtlich darin begründet, dass die Abwägungsdogmatik als rein einzelfallbezogen und damit kasuistisch wahrgenommen wird.306 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich aber, dass das Gericht darum bemüht ist, auf einer vom einzelnen Fall abstrahierenden dogmatischen Ebene problembezogene Maßstäbe für den Ausgleich der betroffenen Rechtspositionen zu entwickeln. Alexy nennt sie konkrete „Vorrangregelungen“307, Lepsius spricht von „Maßstäben“308, Fischer-Lescano würde wohl von „Kollisionsregeln“ sprechen. Diese dogmatischen Maßstäbe bewegen sich im Rahmen einer problembezogenen Konkretisierung 301  Ebd.,

S. 175. S. 176. 303  Fischer-Lescano entwickelt damit eine Variante der systemtheoretischen Grundrechtstheorie, die sich vom liberalen Paradigma bei Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, – im Sinne des Schutzes staatlicher Subsysteme allein vor staatlicher Politisierung – löst, indem sie den Schutz auf die Usurpation anderer gesellschaftlicher Subsysteme ausweitet. 304  Vgl. bereits Leisner, Der Abwägungsstaat – Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, 1997, S. 232 ff. 305  So auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 156 f. 306  So etwa auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S.  64 ff. 307  Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 123 f. 308  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 174 ff. 302  Ebd.,

370

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

der Gewährleistungsgehalte und zielen auf eine über den Einzelfall hinausgehende Steuerung von Fachgerichtsbarkeit, Verwaltung und Gesetzgebung.309 Gerade die Abwägung öffnet den Raum für eine solche Konkretisierung und Steuerung unterschiedlicher Problembereiche, da sie generelle Entscheidungsregeln vermeidet und den Blick auf die soziale Wirklichkeit der betroffenen Lebensbereiche zulässt (respektive fordert). b) Enges Tatbestandsmodell und generelle Vorrangsregel Das Gegenmodell zur Abwägungsdogmatik sind relativ starre und eindeutige Vorrangregelungen, wie wir sie etwa in der Grundrechtsrechtsjudikatur des US-amerikanischen Supreme Court finden. Dieser interpretiert die fundamental rights der US-Verfassung eng, stellt bei Eingriffen in der Regel allerdings sehr hohe Anforderungen an eine Rechtfertigung („compelling state interest“) im Sinne relativ starrer „Kategorisierungen“.310 So werden im Rahmen der Freedom-of-speech-Rechtsprechung Meinungsäußerungen und Werturteile, die andere Personen herabsetzen, in öffentlichen Auseinandersetzungen bis zu einer sehr weit gezogenen äußersten Grenze für zulässig erachtet, auch wenn sie in besonderer Weise kränkend oder schädigend sein mögen.311 Auch Tatsachenbehauptungen sind ohne Rücksicht auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit hinzunehmen, es sei denn, dass sie in Kenntnis der Unwahrheit oder in grob fahrlässigem Umgang mit der Wahrheit geäußert wurden (actual malice).312 Eine differenzierte Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, wie wir sie in der deutschen Judikatur kennen, findet nicht statt.313 Demgegenüber hat das Abwägungs309  Unter

E. I.

Schlink, Proportionality (1), 2012, S. 731: „demarcations and categorizations help to resolve the conflict. The jurisprudence draws lines“; Barak, Proportionality (2), 2012, S. 753 f.: „It is fair to assume that the two systems will converge in the future and US law is already showing the first signs of adopting proportionality.“ 311  Grdl. New York Times v. Sullivan, 376 U.S. 254 (1964); Cutis Publishing Co. v. Butts, 388 U.S. 130 (1967); Hustler Magazine v. Falwell, 485 U.S. 46 (1988); vgl. auch Bloom Jr., Methods of Interpretation – How the Supreme Court Reads the Constitution, 2009, S. 285 ff. 312  Zusammenfassend Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, 1995, S. 1701 f. 313  Dahinter steht die Überzeugung, dass gerade der unbegrenzte Meinungsmarkt wahrheitsfördernd und gemeinwohlstiftend wirkt, wie dies in der berühmten Äußerung von Justice Holmes vom „marketplace of ideas“ zum Ausdruck kommt: „the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competi­tion of the market“; Abram v. U.S., 250 U.S. 616 (1919), 630; vgl. auch Brandeis in Whitney v. California, 274 U.S. 357, 377; dazu Lieberman, A Practical Companion to the Constitution, 1999, S. 205. 310  Zusammenfassend



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle371

modell den Vorteil, dass es eine Standardbildung erst auf der Problemebene vornimmt, ohne dass bestimmte Positionen von vornherein für grundrechtlich schutzlos oder eben generell und bis zu einer äußeren Grenze vorbehaltlos schutzwürdig erklärt werden – beziehungsweise zunächst per se hinter ein anderes Prinzip zurücktreten.314 Das ‚Sowohl-als-auch‘ der Abwägungsentscheidung sichert die Zukunftsoffenheit und Problemlösungssensibilität der Entscheidung.315 Das enge Tatbestandsmodell hingegen zwingt zu einer einengenden Grundrechtsinterpretation mit der Folge, dass bestimmte grundrechtsrelevante Betätigungen von vornherein aus dem Gewährleistungsbereich eines Grundrechts ausgenommen werden. Die punktuelle und einschränkende Definition des sachlichen Anwendungsbereichs eines Grundrechts wird damit zu einem relativ groben Filter für den Grundrechtsschutz.316 Als Beispiel hierfür sei auf die US-amerikanische Rechtsprechung zur Religionsfreiheit hingewiesen. Anders als in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts317 stellte der Supreme Court in der Entscheidung Employment Division, Department of Human Resources of Oregon v. Smith in der von Justice Scalia formulierten Mehrheitsmeinung fest, dass religiös motiviertes Verhalten („behaviour driven by religious belief“) als solches anders als religiöse Praktiken im engeren Sinn nicht vom Grundrecht auf Religionsfreiheit geschützt sein soll beziehungsweise, dass eine Regelung allgemeinen Inhalts, die sich nicht spezifisch gegen die Ausübung religiösen Verhaltens richtet, keinen Eingriff in das Recht auf „free excercise of religion“ des 14th Amendment darstellt.318 Bei einem solch engen Verständnis wäre zweifelhaft, ob beispielsweise das Verbot für eine muslimische Kaufhausverkäuferin, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen, an der Glaubensfreiheit zu messen wäre, jedenfalls soweit dieses Verbot mit allgemeinen Bekleidungsvorschriften begründet lösung, wie es in der Literatur wird.319 Würde man die enge Tatbestands­ Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 296 ff. Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung, 2006, S. 17. 316  Vgl. auch oben unter C. IV. 2. d). 317  Grdl. BVerfGE 32, 98 (106) – Gesundbeter; BVerfGE 33, 23 (27 f.) – Eidesleistung. 318  Nicht untypisch für das US-amerikanische Grundrechtsverständnis verschwimmen in der Argumentation die im deutschen Verfassungsrecht getrennten Kategorien von Schutzbereich und Eingriff: 494 U.S. 872, 877 (1990); dazu sowie zu den in der Sache abweichenden concurring und den dissenting opinions Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika unter spezieller Berücksichtigung der jeweiligen Methodik der Verfassungsinterpretation, 2003, S. 144 ff. 319  Zur Bejahung eines Verstoßes gegen die Glaubensfreiheit der Kopftuch tragenden Angestellten bei Kündigung durch den Arbeitgeber siehe BAGE 103, 111, 314  Vgl.

315  Siehe

372

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

teilweise gefordert wird,320 auf den Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anwenden und seinen Schutzbereich auf die Manifestation religiöser Glaubensinhalte begrenzen, so käme der Kopftuchträgerin gegebenenfalls – wenn das Kopftuchtragen nicht als eine Manifestation in diesem Sinn verstanden wird –, neben Art. 3 Abs. 2 und 3 GG321, nur Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht zugute.322 In der Gesamtbetrachtung gibt es also gute Gründe, sich nicht vorschnell auf eine Einschränkung der Schutz- beziehungsweise Gewährleistungsbereiche einzulassen und prinzipiell am Abwägungsmodell festzuhalten,323 das heißt die Lösung grundrechtlicher Konfliktlagen unter Einbeziehung der verschiedenen Schutzpositionen zu entwickeln.324 Dies ermöglicht es auch, solche mehrdimensionalen Grundrechtskonflikte angemessen zu lösen, in denen unterschiedliche grundrechtliche Schutzgehalte berührt sind.325 bestätigt durch BVerfG-K, NJW 2003, 2815 ff.; ausführlich zur Problematik des Kopftuchs Kokott, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 4, Rn. 63 ff. m. w. N. 320  Unter anderem Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 549 ff. Vgl. die Nachweise bei Morlok, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Rn. 63; dagegen überzeugend Heinig / Morlok, Von Schafen und Kopftüchern, 2003, S. 779, ebenfalls m. w. N. 321  Zur Geschlechterdimension des Kopftuch-Falls Baer / Wrase, Zwischen Integration und „westlicher“ Emanzipation, 2006, S. 376 ff.; siehe jetzt auch BVerfGE, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn.  142 ff. 322  Dies wiederum müsste nach der deutschen Dogmatik zu der wenig überzeugenden Konsequenz führen, dass die Besonderheiten der glaubensmäßigen Überzeugung der Grundrechtsträgerin quasi als Einfluss ihrer Glaubensfreiheit inzident im Rahmen der Art. 2 Abs. 1 GG-Prüfung zu berücksichtigen wären. So etwa (wenig überzeugend) BVerfGE 104, 337 (345 f.) – Schächten: „Prüfungsmaßstab ist in erster Linie Art. 2 Abs. 1 GG. […] Das Schächten ist allerdings für den Beschwerdeführer nicht nur Mittel zur Gewinnung und Zubereitung von Fleisch für seine muslimischen Kunden und für sich selbst. Es ist vielmehr nach seinem in den angegriffenen Entscheidungen nicht in Zweifel gezogenen Vortrag auch Ausdruck einer religiösen Grundhaltung […] Dem ist, auch wenn das Schächten selbst nicht als Akt der Religionsausübung verstanden wird, dadurch Rechnung zu tragen, dass der Schutz der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verstärkt wird.“ 323  So dezidiert aus komparativer Perspektive auch Barak, Proportionality (2), 2012, S. 754: „Proportinality is not beyond critisism, but categorization is not the answer.“ 324  Vgl. auch Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, 2009, S. 16 ff. 325  So sind zum Beispiel im Fall der Kopftuch tragenden Lehramtsbewerberin neben Art. 4 Abs. 1, 2 GG auch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG einschlägig; dazu Baer / Wrase, Staatliche Neutralität und Toleranz: Das Kopftuch-Urteil des BVerfG, 2003; siehe jetzt auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 77 ff.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle373

Ein bekanntes Modell einer grundrechtsdogmatisch engen Interpretation des Gewährleistungsgehalts stellt Friedrich Müllers „Theorie der sachlichen Reichweite“326 dar, die auf seinem Normbereichskonzept beruht.327 Aus der Analyse des vom Normprogramm eines Grundrechts in Bezug genommenen Normbereichs (Lebensbereichs) sollen sich dabei Vorgaben für die Konkretisierung seines Geltungs- und Gewährleistungsgehalts ergeben.328 Zum Normbereich gehören sollen dabei nur „grundrechtsspezifische“, nicht aber „unspezifische Modalitäten der Grundrechtsausübung“.329 Eine Handlungsmodalität soll dann für die Grundrechtsausübung unspezifisch sein, wenn sie „austauschbar“ ist, das heißt wenn nach der Sachstruktur des Normbereichs „typische“ gleichwertige Möglichkeiten der Grundrechtsausübung offen bleiben.330 Was dies konkret bedeutet, demonstriert Müller am Beispiel der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG. So meint er, dass das Malen auf Straßenkreuzungen nicht in den Schutzbereich der Kunstfreiheit falle. Nach Müllers Verständnis ergibt sich dies eben aus der „Struktur“ des Normbereichs, der nur „typische Ausübungsformen“ des Grundrechts erfassen soll. Das Malen auf Straßenkreuzungen gehört seines Erachtens nicht typischerweise zu den Möglichkeiten, wie sich die Freiheit der Kunst im öffentlichen Raum verwirklicht, da dem Künstler andere Orte offen stünden, ohne dass das Spezifische der künstlerischen Betätigung des Malens verloren gehe. Das System der Kunstproduktion sei auf das Malen auf Straßenkreuzungen nicht angewiesen, weshalb diese Ausübungsform von Art. 5 Abs. 3 GG nicht geschützt sein soll.331 Dass das Malen auf Straßenkreuzungen nicht zu den allgemein üblichen „Ausübungsformen“ der Kunstfreiheit gehört, ist natürlich kaum bestreitbar. Sollte einer solchen Form künstlerischen Handelns deshalb von vornherein der Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG entzogen werden? Schließlich kann es sehr wohl Fälle geben, in denen etwa die besondere Bedeutung des Ortes oder die spezifische Kunstform („Kunstperformance“) auch das Malen auf einer Straßenkreuzung als individuell geprägte Ausdrucksform von Kunst erscheinen lassen.332 Der von Müller gebildete Fall stellt sich danach eher als ein Konflikt unterschiedlicher grundrechtlich geschützter Belange dar, wobei nach Müller der Belang künstlerischer Betätigungsfreiheit von vornherein 326  Alexy,

Theorie der Grundrechte, 1985, S. 280. dazu oben unter B. III. 4. a) aa). 328  Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 281. 329  Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 88. 330  Ebd., S.  100 f. 331  Ebd., S.  64 ff. 332  So hat etwa der Aktionskünstler und Aktfotograf Spencer Tunick 1997 den Times Square in New York mit nackten Menschen gepflastert, siehe zum Künstler www.spencertunick.com (Juli 2015). 327  Ausführlich

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

zurücktreten soll, da er üblicherweise mit Eigentumsrechten anderer oder dem öffentlichen Nutzungsinteresse gar nicht kollidiert. Gehen wir demgegenüber davon aus, dass der künstlerische Wert des Malens im konkreten Fall plausibel gemacht werden kann, also die Schutzposition des Art. 5 Abs. 3 GG – entgegen Müller – eröffnet ist, so ist erst auf der zweiten Stufe die Frage nach dem Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu stellen. Auf der Abwägungsebene wäre dann auch zu berücksichtigen, dass der Regelfall künstlerischer Betätigung die Inanspruchnahme der dem Gemeingebrauch gewidmeten Straße nicht erfordert. Die allgemein-funktionale Nutzungszuweisung reserviert die Straßenkreuzung grundsätzlich dem Verkehr. Demgegenüber wird Malerei in der Regel in Ateliers oder an anderen privaten Orten beziehungsweise – wenn es sich beispielsweise um „Straßenkunst“ handelt – auch auf öffentlichen Plätze ausgeübt. So ist der Konflikt dahin zu lösen, dass der grundrechtlich geschützte Belang, auf der Straßenkreuzung zu malen, regelmäßig hinter dem Interesse der anderen Verkehrsteilnehmenden und der Allgemeinheit an einem sicheren und (möglichst) ungehinderten Straßenverkehr zurücktreten muss. Dies entspricht der üblichen rechtlichen Steuerung derartiger Nutzungskonflikte.333 Der Fall kann aber dennoch anders zu entscheiden sein, wenn besondere Gesichtspunkte – wie etwa die Bedeutung des Ortes, die Art der Kunstausübung oder eine besonderer Öffentlichkeitsbezug334 – ausnahmsweise für die Kunstfreiheit streiten und ihr besonderes Gewicht verleihen. Dann muss diese geschützte (Rechts-)Posi­tion bei der Entscheidung über eine mögliche Sondernutzungserlaubnis zumindest berücksichtigt, das heißt in die Abwägung eingestellt werden.335 Gleiches hätte etwa für die (straf)rechtliche Beurteilung zu gelten, wenn eine spontane Kunstperformance zu einer nur geringfügigen und zeitlich eng begrenzten Behinderung des Straßenverkehrs führt.336 Müllers aus der „Struktur“ des Normbereichs, das heißt des in Bezug genommenen Lebensbereichs, abgeleitete „wesensimmanente“ Begrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs erinnert zumindest in einigen Punkten an die der Naturrechtslehre entlehnte Figur der „Natur der Sache“.337 Sie zeigt 333  Vgl.

BVerwGE 84, 71 – Straßenkunst; ähnlich BVerwG, NJW 1987, 1836. etwa zum politischen Straßentheater BVerfGE 67, 213 (224 ff.) – Anachronistischer Zug. 335  Vgl. die Nachweise zur Rspr. oben in Fn. 333. 336  Ähnlich hat das Bundesverfassungsgericht in einem anderen Kontext in Bezug auf politische Blockadeaktionen entschieden, vgl. BVerfGE 104, 92 (104 ff., 105) – Blockadeaktion: „Die beabsichtigte Unterbrechung der Bauarbeiten war nicht Selbstzweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung ihres Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit.“ 337  Diese Lehre hatte im Zusammenhang mit der Naturrechtsrenaissance im Deutschland der Nachkriegszeit gewissen Zuspruch erfahren. Sie geht aus von einem 334  Vgl.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle375

nochmals die schon beschriebenen Schwierigkeiten, die mit einer per-se-Einengung grundrechtlicher Schutzbereiche verbunden sind. Das Abwägungsmodell hat demgegenüber erhebliche Vorteile, da es problembezogene Lösungen unter Abwägung unterschiedlicher Schutzpositionen mit Blick auf soziale Zusammenhänge ermöglicht und nicht von vornherein auf starre Lösungen – wie: „geschützte Kunst“ oder „nicht geschützte Kunst“ – fixiert ist. Auf der Problemebene können dabei abstrakte dogmatische Maßstäbe für die Anwendung entwickelt werden, welche die Gefahr einer kasuistischen Rechtsprechung bannen. c) Abwägung: Rationalität der Kontrolle durch Verhältnismäßigkeitsprüfung Eine zentrale Bedeutung für die Rationalisierung der Prüfung von Grundrechtsbeschränkungen kommt in der heutigen Rechtsprechung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu, wie er vom Bundesverfassungsgericht – angefangen mit der Apotheken-Entscheidung von 1958 – (fort)entwickelt worden ist.338 Danach müssen Eingriffe in den Schutzbereich eines Grundrechts zur Erreichung eines mit der staatlichen Maßnahme verfolgten legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und in Abwägung mit den Belangen des Grundrechtsträgers verhältnismäßig im engeren Sinn sein.339 Dabei kommt in der Praxis gerade der Abwägung als letzter Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine überragende Bedeutung zu.340 Auf der anderen Seite werden von Kritikern, wie dargestellt, gerade hier die größten Gefahren für eine unkontrollierte und nicht rationalisierbare Grundrechtsanwendung gesehen.341 Um diesen Unwägbarkeiten zu entgehen, wird auch eine Verstärkung der vorausliegenden Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gefordert bis hin zu der Forderung nach einem gänzlichen Verzicht auf die Abwägungsstufe. Gelänge auf diesem Weg tatsächlich eine rationale Einhegung der Schrankenkontrolle bei Grundrechtsbeschränkungen, so wäre dies ein möglicherweise durchbestimmten Sinn oder einer Ordnung, die bestimmten Lebensverhältnissen immanent sei und deshalb vom Recht beachtet werden müsse; siehe etwa Larenz, Methodenlehre, 1991, S. 417 ff.; vgl. auch Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, 1960; Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, 1976. 338  Vgl. BVerfGE 7, 377 (407); 8, 71 (80); 17, 306 (314); 21, 150 (155); ausführlich Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 19 ff. Zum Apotheken-Urteil siehe oben unter B. II. 4. e). 339  Zusammenfassend Jarass in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Vorb. vor Art. 1 Rn. 45 ff. 340  Vgl. Clemens, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz Mitarbeiterkommentar, 2002, Vor Art. 2 ff. Rn. 77. 341  Siehe oben unter D. II. 1. a); vgl. auch Hillgruber, § 201 Grundrechtsschranken, 2011, Rn. 72 ff.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

greifender Einwand gegen das vom Bundesverfassungsgericht verfolgte Abwägungsmodell, das die Grundlage für seine problembezogene Dogmatikbildung darstellt. Der Frage, ob ein Verzicht auf die Abwägungsstufe denkbar ist, soll daher im Folgenden nachgegangen werden, indem die ersten drei Stufen der Verhältnismäßigkeitskontrolle untersucht werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Kontrolle von Einschätzungsund Prognoseentscheidungen gelegt, da diese, wie gezeigt werden soll, der entscheidende Punkt für die Effektuierung der Erforderlichkeitsprüfung ist. aa) Legitimer Zweck und Geeignetheit Mit dem Eingriff muss zunächst ein legitimer Zweck verfolgt werden. Legitim ist dabei jeder vom Staat verfolgte Zweck, der nicht durch das Grundgesetz verboten ist.342 Schon dieses Kriterium bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Denn ausdrücklich verbotene Zwecke enthält das Grundgesetz nur wenige; eine Begrenzung der zulässigen Zwecke ergibt sich hauptsächlich aus den Grundrechten mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt.343 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht teilweise auch aus dem jeweils eingeschränkten Grundrecht heraus bestimmte Zweckbegrenzungen aufgestellt, bei denen aber letztlich bereits auch Abwägungsgesichtspunkte zum Tragen kommen.344 Die mit der jeweiligen Maßnahme verfolgten (legitimen) Zwecke müssen jedenfalls möglichst präzise ermittelt werden, um die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne einer genauen Zweck-MittelKontrolle durchführen zu können.345 An die Feststellung, dass die zu kontrollierende Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgt, schließt sich die Prüfung der Geeignetheit dieser Maßnahme an. Das Bundesverfassungsgericht setzt hier die Anforderungen 342  Vgl.

BVerfGE 80, 137 (159); 104, 337 (347); 107, 299 (316). Pieroth et al., Grundrechte, 2014, Rn. 290. 344  So etwa im Rahmen der sog. „Stufenlehre“ zu Art. 12 Abs. 1 GG, grdl. BVerfGE 7, 377 – Apotheken; dazu ausführlich oben unter B. II. 4. e). Das Bundesverfassungsgericht prüft bei berufsregelnden Maßnahmen regelmäßig, ob sie durch „hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden“, BVerfGE 81, 156 (188 f.); 86, 28 (41). Der Abwägungscharakter der Zweckprüfung wird besonders deutlich in BVerfGE 124, 300 (331 ff.): Die nach Art. 5 Abs. 2 GG legitimen Zwecke seien im Rahmen der „Wechselwirkungslehre“ zu bestimmen. Für Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 GG folge daraus, dass ihre Zielsetzung nicht darauf gerichtet sein dürfe, Schutzmaßnahmen gegenüber rein geistig bleibenden Wirkungen von bestimmten Meinungsäußerungen zu treffen. Legitim sei es demgegenüber, Rechtsgutsverletzungen zu unterbinden. Vgl. auch Schlink, Proportionality (1), 2012, S. 723: „Sometimes when deciding the legitimacy of a particular end courts move into some kind of balancing“. 345  Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Vorb. vor Art. 1 GG, Rn. 146. 343  Vgl.



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oft relativ niedrig an, indem es lediglich fragt, ob mithilfe des gewählten Mittels „der gewünschte Erfolg gefördert werden kann“346 oder ob dies von vornherein auszuschließen ist. Das Gericht legt sich also in der Regel bewusst große Zurückhaltung auf und anerkennt damit insbesondere bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle von Gesetzen den grundsätzlichen Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers. So kommt es überaus selten zur Feststellung der Ungeeignetheit einer gesetzgeberischen Maßnahme.347 Andererseits zeigen unter anderem zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2004 zur Nichtgewährung von Kinder- beziehungsweise Erziehungsgeld für Ausländer, die nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen,348 dass die im Rahmen der Geeignetheit vorzunehmende Prüfung des Zweck-MittelZusammenhangs gerade bei diskriminierenden staatlichen Maßnahmen ein effektives Instrument der rationalen Grundrechtskontrolle sein kann.349 Stellen die angelegten Unterscheidungskriterien – in den genannten Fällen die Anknüpfung an einen bestimmten Aufenthaltsstatus – mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel – Förderung nur bei zu erwartendem dauerhaften Aufenthalt in Deutschland – keinen sachgerechten Differenzierungsmaßstab bezüglich des betroffenen Personenkreises dar, dann sind sie ungeeignet.350 Bei der Geeignetheitsprüfung spielt dann auch der gesetzgeberische Einschätzungs- und Prognosespielraum eine wichtige Rolle,351 der bei einer strengen Gleichheitsprüfung deutlich enger gefasst ist.352 Jedenfalls fallen von vornherein nicht belegte empirische Annahmen durch das Raster der Geeignetheitsprüfung. So heißt es im Kindergeld-Beschluss: Ungeeignet war die Regelung auch zur Erreichung des in der Stellungnahme der Bundesregierung genannten Regelungszwecks, vermeintlich vorhandene Zuwanderungsanreize für – insbesondere kinderreiche – Ausländer abzubauen. Dass die Frage des Kindergeldes für die hier betroffene Gruppe Einfluss auf das Zuwanderungsverhalten hatte, ist weder belegt noch nachvollziehbar.353

346  BVerfGE 30, 292 (316); 115, 276 (308); st. Rspr., dazu Sodan, in: Sodan, Grundgesetz Kompakt-Kommentar, 2009, Art. 1 Vorb. Rn. 64 m. w. N. 347  Siehe die ausführlich Analyse der Rspr. bei Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 50 ff. 348  BVerfGE 111, 160; 111, 176. 349  Vgl. Baer, Equality, 2012, S. 994: „concept of equality as a guarantee of rational­ity“, speziell mit Blick auf soziale Rechte. 350  BVerfGE 111, 160 (174 f.); 111, 176 (185 ff.). 351  Im Folgenden unter D. II. 1. c) cc) 352  BVerfGE 111, 160 (170 f.). 353  BVerfGE 111, 160 (175).

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

bb) Erforderlichkeit Das Gebot der Erforderlichkeit wiederum verlangt, dass die staatliche Maßnahme nicht über das zur Verfolgung ihres Zwecks notwendige Maß hinausgeht. Das Erforderlichkeitskriterium wurde im Polizeirecht entwickelt und bildet den Ursprung des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder Übermaßverbots.354 Das Gebot ist verletzt, wenn das Ziel auch durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, welches das betreffende Grundrecht nicht oder deutlich weniger einschränkt.355 Wie Hirschberg herausgearbeitet hat, entfaltet das Erforderlichkeitskriterium seine Wirkung als Zweck-Mittel-Bindung vor allem in Konstellationen, in denen der Kreis der von der staatlichen Maßnahme Betroffenen von vornherein begrenzt ist. So lässt sich beispielsweise feststellen, dass ein Verwaltungsakt erforderlich ist, der einem Hauseigentümer die Reparatur des schadhaften Giebeldachs aufgibt, nicht aber ein solcher, der unter den gleichen Gegebenheiten die Ersetzung des Giebeldachs durch ein Flachdach oder gar den Abbruch des ganzen Hauses anordnet.356 Ebenso lässt sich die Erforderlichkeit von Auflagen (Zeit, Ort, Kontrollen, polizeilicher Schutz) bejahen, wenn sie die Sicherheit einer Demonstration gewährleisten – als milderes Mittel zu einem Verbot der gesamten Versammlung.357 Schwieriger ist es hingegen, wenn zur Erreichung eines Zwecks mehrere gleich geeignete Mittel in Frage kommen, die verschiedene Personen oder Personengruppen unterschiedlich belasten. Hier versagt der Grundsatz insoweit, als er gerade nichts über die richtige Lastenverteilung aussagt.358 354  Es war Otto Mayer, der dem Grundsatz der Erforderlichkeit beziehungsweise des mildesten Mittels im Polizeirecht den Namen „Verhältnismäßigkeit“ gab, vgl. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 4. Sehr gebräuchlich ist gerade im Polizeirecht auch die Bezeichnung „Übermaßverbot“; vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht 1961 (Neudruck 1999); Gusy, Polizeirecht, 2006, Rn.  396 ff. 355  Vgl. BVerfGE 67, 157 (177); 90, 145 (172); 92, 262 (273); 102, 197 (217); 113, 167 (259); siehe auch Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 20, Rn.  85 m. w. N. 356  Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 65. 357  Vgl. BVerfGE 69, 315 (353) – Brokdorf; ausführlich Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 8, Rn. 90 ff. m. w. N.; Dietel / Gintzel / Kniesel, Versammlungsgesetz – Kommentar zum Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 2008, § 15, Rn. 138  ff.; siehe auch Kniesel / Poscher, Versammlungsrecht, 2007, Rn.  283 ff. 358  Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 70; so fordert BVerfGE 113, 167 (259) – Risikostrukturausgleich, dass das mildere Mittel Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belasten darf. In mehrpoligen Rechtsverhältnissen verlangt das Gericht, dass die Erforderlichkeitsprüfung „für jedes der kollidierenden Rechtsgüter zu einem positiven Ergebnis“ führen muss, BVerfGE 115, 205



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle379

cc) Erforderlichkeitskontrolle bei Einschätzungs- und Prognoseentscheidungen Noch vertrackter ist die Sache bei gesetzgeberischen Maßnahmen, die in der Regel eine Vielzahl von Personen(gruppen) betreffen und oft auf komplexen Prognosen über soziale Wirkungszusammenhänge (legislative facts) beruhen. Das betrifft, wie gesehen, die Frage der Geeignetheit, aber auch die Frage der gleichen Wirksamkeit von möglichen Alternativmaßnahmen, die in Erwägung zu ziehen sind. Welcher Aufwand (insbesondere finanzieller und sachlicher Mehraufwand) beispielsweise für eine alternative Lösung betrieben werden kann oder muss, ist letztlich eine Frage der Abwägung der Bedeutung des geschützten Grundrechtsinteresses mit anderen Gütern.359 Demgegenüber meint Schlink, das Notwendigkeitskriterium sei ein rein empirisch-rational kontrollierbares Kriterium. Es werde zur Geltung gebracht, indem Hypothesen über den empirischen Zusammenhang zwischen dem vorgenommenen oder vorzunehmenden Eingriff und dem angestrebten Zustand und zwischen alternativen Maßnahmen und demselben angestrebten Zustand aufgestellt und überprüft würden.360 Prognosen über soziale Kausalzusammenhänge, die sowohl im Rahmen der Geeignetheits- als auch der Erforderlichkeitsprüfung eine wichtige Rolle spielen, sind allerdings, wie Theoretiker im Bereich der Rechtstatsachen- und Wirkungsforschung feststellen, keinesfalls einfach empirisch zu überprüfen,361 und am wenigsten unter dem ‚Druck‘, einen Fall zu entscheiden, dem sich das Bundesverfassungsgericht regelmäßig ausgesetzt sieht. Die empirische Feststellung der Wirkungen oder auch der Wirksamkeit (Effektivität) von Gesetzen, gemessen an den vom Gesetzgeber vorausgesetzten Zielen, bereitet oft erhebliche Schwierigkeiten, da komplexe Kausalitätsnachweise zu führen sind.362 Zudem ist leider festzustellen, dass die in (233 f.) – Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in Wettbewerbsverfahren. 359  So darf das alternative Mittel nicht zu größeren Unsicherheiten, zu deutlich erhöhtem Aufwand oder höheren finanziellen Belastungen für den Staat führen, vgl. BVerfGE 81, 70 (91 f.); 109, 64 (86); 116, 96 (127). Andernfalls wären beispielsweise gegenüber pauschalierenden Regelungen, die ein einheitliches Verwaltungshandeln fördern, Einzelfallprüfungen wohl fast immer das mildere Mittel. 360  Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 460 f.; ausführlich Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 192 ff. 361  Vgl. Blankenburg, Rechtssoziologie und Rechtswirksamkeitsforschung – Warum es so schwierig ist, die Wirksamkeit von Gesetzen zu erforschen, 1984; Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, 1987, S. 71 ff. 362  Ausführlich Rottleuthner / Rottleuthner-Lutter, Recht und Kausalität, 2010; siehe auch Baer, Komplizierte Effekte – Zur Wirkung von Recht, 2011, S. 250:

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

diesem Bereich notwendige rechtssoziologische Grundlagen- wie Anwendungsforschung bis heute den Kinderschuhen kaum entwachsen ist und in den letzten Jahren wenig gefördert wurde.363 Doch auch in der Praxis bleiben Gesetzesevaluationen, die eine empirisch fundierte Alternativenbewertung überhaupt ermöglichen würden, die Ausnahme. In den seltensten Fällen werden die möglichen Wirkungen und Alternativen von Regelungsvorhaben bereits im politischen Verfahren prospektiv untersucht, und auch eine retrospektive Wirkungsanalyse ist selten,364 auch wenn diese heute vermehrt gefordert wird.365 Dieses Defizit der Wirkungsforschung kann das Bundesverfassungsgericht mit eigenen Ressourcen in der (nachträglichen) Entscheidungssituation nicht ausgleichen.366 So stellt auch Schlink fest: „Often experience, science and scholarship do not provide the information necessary to determin wether a means works and wether it is necessary.“367 Soweit jedenfalls die Wissenschaft nicht bereits eingehende empirische Analysen zu den Auswirkungen eines Gesetzes vorgelegt hat, was weiterhin ein sehr seltener Ausnahmefall ist,368 muss sich das Gericht darauf beschränken, die bereits verfügbaren Daten und Erfahrungswerte zu sammeln, sorgfältig zu prüfen und problembezogen zu bewerten.369 Das spielt in der „Effekte von Recht sind […] vielgestaltige, theoretisch wie empirisch schwer zu fassende Wesen“. 363  Zu den wenigen Ausnahmen gehören die von der Volkswagen-Stiftung geförderten Beiträge in Hof / Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 1 – Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 2004; Karpen, Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 4 – Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Wirkungskontrolle von Gesetzen, 2003; ein, wenn auch nicht unumstrittenes Modell haben Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, 1980, und Opp, Soziologie im Recht, 1973, entwickelt. 364  Ein guter Überblick findet sich bei Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 156 ff. 365  Das ist sozusagen das Idealbild der Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), vgl. Böhret / Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung, 2001; zur „Notwendigkeit“ einer Gesetzgebungslehre lesenswert Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, S. 210 ff.; mit Beiträgen von unterschiedlichem Erkenntniswert: Karpen, Gesetzgebungslehre – neu evaluiert, 2006; zum Impact Assessment auf EU-Ebene siehe Meuwese, Impact Assessment in EU Lawmaking, 2008. Was zumindest geleistet werden kann und sollte, ist eine möglichst frühzeitige Sammlung von Daten und Erfahrungswerten im Rahmen der begleitenden Evaluationsforschung. Damit können zwar keine völlig ‚sicheren‘ Prognosen geliefert werden, aber wertvolles Material für die sachgemäße Beurteilung, Wertung und Argumentation. 366  Das liegt nicht zuletzt in der Natur der Entscheidungssituation, dazu Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, S. 289 ff. 367  Schlink, Proportionality (1), 2012, S. 733. 368  Zum Programm einer zielgruppenorientierten Gesetzesfolgenabschätzung Baer / Lewalter, Zielgruppendifferenzierte Gesetzesfolgenabschätzung, 2007.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle381

Praxis der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung eine bedeutende Rolle.370 Vorsicht ist jedoch geboten, wenn dem Bundesverfassungsgericht ganz allgemein eine hohe Kompetenz bei der Ermittlung genereller Annahmen über soziale und ökonomische Entwicklungen bescheinigt wird.371 Die Rechtsprechung ist insoweit nicht frei von Irrtümern, mag sie auch generell hohen Standards folgen. So hat sich etwa, worauf Landfried hingewiesen hat, die Prognose des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zur Wehrpflichtnovelle vom April 1978 über die Entwicklung der Zivildienstplätze im Verhältnis zur Zahl der Wehrdienstverweigerer letztlich nicht bestätigt; es ist vielmehr das genaue Gegenteil eingetreten.372 Anders als das Gericht in seiner damaligen Entscheidung unter Berufung auf Darlegungen in der mündlichen Verhandlung angenommen hatte, gab über Jahre deutlich zu viele und nicht zu wenige Zivildienstplätze.373 Eine folgenreiche Fehleinschätzung unterlief dem Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung zur Arbeitnehmerüberlassung aus dem Jahr 1967. Dort erklärte das Gericht das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit bei der Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit) für verfassungswidrig. Es ging dabei von einem nur sehr geringen Umfang der Verleihtätigkeit aus. Dafür, dass in Betrieben längere Zeit hindurch fremde Arbeitnehmer tätig seien, die ihnen von anderen Unternehmern überlassen würden, spreche kaum Lebenserfahrung.374 Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellen sollte. Denn infolge der durch das Urteil bewirkten Öffnung des Arbeitsvermittlungsmarktes stieg das Leiharbeiterwesen sprunghaft an. Gleichzeitig häuften sich Missstände im Bereich der Leiharbeit: Vorenthaltung von Sozialversicherungsverträgen, Verletzung arbeitsrechtlicher Pflichten, illegale Beschäftigung von Ausländern, Steuerhinterziehung usf.375 Ein Rechtsgutachten von Pieroth aus dem Jahr 1982 wies en detail nach, dass sich die grundlegende 369

Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 207. stellt Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 929, die These auf, dass Gesetze häufiger an abweichenden tatsächlichen Einschätzungen des Bundesverfassungsgerichts scheitern als an divergierenden Rechtsauffassungen. 371  So im Anschluss an Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, unter anderem Kluth, Beweiserhebung und Beweiswürdigung durch das Bundesverfassungsgericht, 1999, S. 3516; vgl. auch Bryde, Tatsachenfeststellungen und so­ ziale Wirklichkeit, 2001, S. 538: Philippis Urteil, das Gericht sei dem Gesetzgeber bei Tatsachenfeststellungen überlegen, werde in der Literatur regelmäßig wiederholt. 372  Vgl. BVerfGE 48, 127 (171 ff.) – Wehrpflichtnovelle; das Gericht ging davon aus, dass ein Großteil der Zivildienstleistenden ihren Dienst mangels verfügbaren Plätzen nicht ableisten müsse. 373  Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 68 f. 374  BVerfGE 21, 261 (268 f.) – Arbeitsvermittlungsmonopol. 375  Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 127 ff. 369  Vgl. 370  So

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Annahmen der Entscheidung als falsch herausgestellt hatten.376 Als es zur Neuregelung der Arbeitsvermittlung im Baugewerbe kam und das Bundesverfassungsgericht abermals über die Frage des Verbots der Arbeitnehmer­ überlassung zu entscheiden hatte, verwarf es daher zurecht seine alte Rechtsprechung und sah den Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet. Seine diesbezüglichen Ausführungen verband das Gericht mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die „besondere Verantwortung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für die Anpassung der Rechtsordnung an wechselnde soziale Anforderungen und veränderte Ordnungsvorstellungen“.377 Prognosen über Wirkungen von Regulierungen378 basieren, wie gesehen, auf vielfältigen theoretischen und empirischen Annahmen. Daher ist es notwendig, dass das Bundesverfassungsgericht zumindest dann, wenn es sich anhand der vorliegenden Daten und Erfahrungswerte nicht ausreichend sicher sein kann,379 seine Einschätzungen und Wertungen im Rahmen der Abwägung offen legt und damit überprüfbar macht, anstatt bereits bei der Erforderlichkeitsprüfung darauf zu vertrauen, die Wirkungen eines Gesetzes – auch im Hinblick auf mögliche Regulierungsalternativen – in empirischer Sicht besser einzuschätzen zu können als der Gesetzgeber.380 Aufgrund der vielen 376  Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz – Ein Rechtsgutachten zur berufs- und arbeitsrechtlichen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zum Übermaßverbot und zu den Bindungswirkungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1982. 377  BVerfGE 77, 84 (104) – Arbeitnehmerüberlassung. 378  Vgl. zur Regulierungs- und Governance-Forschung Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, 2006; Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 181 ff. 379  Ein Beispiel, in dem das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Regelung an der Erforderlichkeitshürde scheitern ließ, ist – neben dem neuen Beschluss zur gemeinsamen Sorge bei nichteheblichen Kindern (dazu im Folgenden unter D. II. 1. c) dd) – die Entscheidung BVerfGE 103, 1 zur Singularzulassung von Rechtsanwälten bei den Oberlandesgerichten. Hier hatte schon der Gesetzgeber selbst Zweifel bekundet, ob die Beschränkung des § 25 BRAO a. F. überhaupt der Verbesserung der Rechtspflege dienen konnte. Weiterhin konnte sich das Bundesverfassungsgericht darauf stützen, dass in den anderen Gerichtszweigen außerhalb der Zivilgerichtsbarkeit eine vergleichbare Beschränkung schon früher nicht bestand und die Rechtspflege daran ersichtlich keinen Schaden genommen hatte, vgl. BVerfGE 103, 1, (17 ff.). Insofern hat die Entscheidung Ähnlichkeit mit dem Apotheken-Urteil, dazu oben unter B. II. 4. e). Es handelte sich um einen sehr offensichtlichen Fall einer fragwürdigen Zweck-Mittel-Relation. Im Regelfall sind die Zusammenhänge erheblich komplexer und schwieriger einzuschätzen, vgl. die Studie von Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, zur frühen Rspr. des Bundesverfassungsgerichts. 380  Die Erforderlichkeit eines Gesetzes wurde vom Bundesverfassungsgericht dementsprechend nur in wenigen Fällen verneint. In den Senatsentscheidungen der Bände BVerfGE 111–121 findet sich beispielsweise keine einzige Entscheidung, in der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenüber der Erforderlichkeit ei-



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle383

wertenden Elemente betrachtet auch Barak den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerade nicht als ein rein rational-empirisches Kontrollinstrument, sondern als ein Schema, das bestimmte rationale Prüfungsschritte, aber auch Wertungen voraussetzt und gerade auf diesem Weg eine transparente Gesetzeskontrolle ermöglicht: Proportionality is based on structured discretion, a process offering numerous advantages. It requires the agent exercising that discretion to think in an orderly manner, overlooking nothing that should be taken into account. It makes the process transparent, allowing its stages to be traced.381

Vor diesem Hintergrund ist die Rahmen der Abwägung, also auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn vorzunehmende wertende Prüfung und Gewichtung praktisch unverzichtbar. Eine von Schlink angedeutete Verschiebung der Argumentationslast382 auf den Erforderlichkeitsnachweis wird sich hierbei kaum anhand allgemeiner Maßstäbe, sondern nur problembezogen und mit Blick auf die Schwere des jeweiligen Grundrechts­ eingriffs differenzierend entwickeln lassen.383 Eine generelle Verlagerung der objektiven Beweislast auf den Staat, der die Erforderlichkeit einer Regelung jeweils im Vergleich mit anderen ihm zur Verfügung stehenden regulatorischen Instrumentarien nachweisen müsste, hätte demgegenüber eine Verengung des politischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums für die Gesetzgebung zur Folge.384 ner Regelung durchgreifende Zweifel geäußert wurden. In der Regel wird die Erforderlichkeit in wenigen Sätzen bejaht, zum Beispiel BVerfGE 112, 368 (398); 113, 348 (385); 115, 276 (309); 116, 69 (127); 118, 15 (24); eine eingehendere Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung erfolgt in BVerfGE 117, 163 (182 ff.), wo aufgrund der Prüfung einzelne gesetzgeberische Zwecke ausgeschlossen wurden. Zum Problem der Tatsachenermittlung im verfassungsgerichtlichen Verfahren auch Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 937 ff. 381  Barak, Proportionality (2), 2012, S. 741. 382  Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 207 ff. 383  Die maßgeblichen Kriterien hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Mitbestimmungsurteil entwickelt, BVerfGE 50, 290 (332 f.), dazu Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 291; so betont das Gericht in ständiger Rechtsprechung, dass der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers „von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter“ abhängt, vgl. BVerfGE 50, 290 (332 f.); 57, 139 (159); 62, 1 (50); 90, 145 (173); 104, 337 (347 f.); 113, 348 (386). Letztlich kommt es auch hier zu einer Abwägung: Je gewichtiger das gefährdete Rechtsgut ist und je stärker es beeinträchtigt werden kann, desto höhere Anforderungen sind an den Grad der notwendigen Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Sicherheit von Prognosen zu stellen, vgl. Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 20, Rn. 87 m. w. N.; vgl. auch Schlink, Proportionality (1), 2012, S. 734: „Decision-makers find more flexible approaches […]“. 384  Dazu Bräunig, Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung – Zur Funk-

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Eine Kritik des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat jüngst Lepsius geführt. Seines Erachtens hat die Bindung der Gesetzgebung an einen empirisch-rational nachprüfbaren Zweck-Mittel-Zusammenhang zur Folge, dass die Funktionsbedingungen der Politik, die auf öffentlicher Rechtfertigung, Aushandlung und Kompromissbildung beruhen, geschwächt werden. Der politische Prozess werde mit Rationalitätserwartungen belastet, „die quer zu seinen Funktionsbedingungen verlaufen und seine Handlungsfähigkeit nicht stärken.“385 Diese Kritik von Lepsius kulminiert bei Lichte betrachtet in einer grundlegenden Kritik der verfassungsgerichtlichen Kontrolle legislativen Handelns, was so nicht zu überzeugen vermag. Es ist ja gerade Sinn der Mittel-Zweck-Bindung, die freiheitsbeschränkende Gesetzgebung zu kontrollieren und nachvollziehbare und begründete Entscheidungen einzufordern; schließlich geht es um den Schutz der Grundrechte, also von Rechten, auf die sich eine im Gesetzgebungsverfahren nicht zum Zuge gekommene ‚Minderheit‘ gegenüber der Gesetzgebung der (parlamentarischen) Mehrheitsentscheidung berufen kann. Durch die Verhältnismäßigkeitsprüfung wird die spezifische Grundrechtsbindung des parlamentarischen Gesetzgebers aktualisiert, der damit nicht an Rationalitätserwartungen gebunden wird, sondern dem Begründungs- und Rechtfertigungspflichten auferlegt werden. Das klassische Beispiel ist die Apotheken-Entscheidung:386 Hier hat das Bundesverfassungsgericht durch eine sorgsam durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung das subjektive Recht der Berufsfreiheit der nicht zugelassenen Apotheker gegenüber wirtschaftlichem Protektionismus zur Geltung gebracht, indem es die offiziellen gesetzgeberischen Motive für die Zulassungsbeschränkung in Bezug auf ihre tatsächlichen Annahmen als nicht hinreichend belegt entlarvte.387 Durch die Heranziehung von empirischen Daten und praktischen Erfahrungen (etwa aus anderen Staaten) und ihre sorgsame problembezogene Bewertung lässt sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung folglich zu einem scharfen Schwert der Grundrechtskontrolle machen. Ihr praktischer Wert hängt allerdings davon ab, inwiefern belastbares Daten- und Erfahrungsmaterial vorliegt, das vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Prüfung herangezogen und bewertet werden kann.

tion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele, 2007; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum – Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischen Supreme Court bei der Normenkontrolle, 1999; vgl. auch unter D. II. 2. a). 385  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 212. 386  Vgl. BVerfGE 7, 377; dazu ausführlich oben unter B. II. 4. e). 387  So auch Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, 2011, S. 32.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle385

dd) Überprüfungs- und Kontrollaufträge – am Beispiel der Rechtsprechung zur gemeinsamen elterlichen Sorge bei nichtehelichen Kindern Ein probates Mittel für eine Wirksamkeits- und Alternativenprüfung bei unsicherer oder nicht geklärter Tatsachengrundlage, dessen sich das Bundesverfassungsgericht heute vermehrt bedient, sind an den Gesetzgeber gerichtete Überprüfungs- und Kontrollaufträge.388 Ein gutes Beispiel findet sich in der Entscheidung zur elterlichen Sorge bei nichtehelichen Kindern aus dem Jahr 2003389 und der späteren Entscheidung hierzu aus dem Jahr 2010390, die eine Wende in der Rechtsprechung vollzieht. Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung stand in der ersten wie in der zweiten Entscheidung § 1626a BGB in der Fassung des Kindschaftsrechtsreformgesetzes 1998.391 Das Bundesverfassungsgericht hatte zu prüfen, ob es mit Art. 6 Abs. 2 GG vereinbar war, dass erstens das nichteheliche Kind zunächst sorgerechtlich allein der Mutter zugeordnet wurde (und nicht beiden Elternteilen) und zweitens die gemeinsame Sorge einer einvernehmlichen Sorgeerklärung bedurfte mit der Folge, dass gegen den Willen der Mutter keine gemeinsame Sorge begründet werden konnte. Das Bundesverfassungsgericht setzte sich in seiner Entscheidung von 2003 eingehend mit sozialwissenschaftlichen Studien zur Situation nicht­ ehelicher Kinder in der Bundesrepublik auseinander.392 Die vorliegenden empirischen Daten belegten nach Ansicht des Gerichts, dass nichteheliche Kinder nicht nur in feste Partnerschaften, sondern in eine Vielzahl familiärer Konstellationen hineingeboren würden. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse, so meinte das Bundesverfassungsgericht in seiner damaligen Entscheidung, sei es gerechtfertigt, das Sorgerecht grundsätzlich der Mutter und nicht beiden Elternteilen gemeinsam zuzuordnen.393 Die gemeinsame Sorge setze im Kindeswohlinteresse voraus, dass zwischen den Eltern ein Mindestmaß an Übereinstimmung bestehe. Fehle es daran, und 388  Vgl. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 208 m.  w. N.; dafür bereits Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 208. 389  BVerfGE 107, 150. 390  BVerfGE 127, 132. 391  Vorher stand die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind allein der Mutter zu; eine gemeinsame Sorgetragung war gesetzlich nicht vorgesehen. Dieser Zustand wurde vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 61, 358 für mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar erklärt. 392  Unter anderem Vaskovics / Rost / Rupp, Lebenslage nichtehelicher Kinder – Rechtstatsächliche Untersuchung zu Lebenslagen und Entwicklungsverläufen nicht­ ehelicher Kinder, 1997; Kardas / Langenmayr, Familien in Trennung und Scheidung, 1996; Furstenberg / Cherlin, Geteilte Familien, 2002. 393  BVerfGE 107, 150 (170).

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

seien die Eltern zur Kooperation weder bereit noch in der Lage, könne die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entgegenlaufen. Der Gesetzgeber habe infolgedessen davon ausgehen dürfen, dass eine gegen den Willen der Mutter erzwungene gemeinsame Sorge regelmäßig mit mehr Nachteilen als Vorteilen für das Kind verbunden sei.394 Träfe diese Annahmen allerdings nicht (mehr) zu, so meinte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2003, sollte sich insbesondere herausstellen, dass es auch bei einem einvernehmlichen Zusammenleben der Eltern mehrheitlich nicht zur gemeinsamen Sorgerechtserklärung komme, auch wenn das Kindeswohl dem nicht entgegenstehe, so würde sich die Regelung des § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 2 GG erweisen. Da der Gesetzgeber somit Regelungen getroffen habe, die nur bei Bestätigung seiner prognostischen Annahmen verfassungsgemäß seien, war er nach dem Bundesverfassungsgericht verpflichtet, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten und zu überprüfen, ob seine Annahmen vor der Wirklichkeit (weiterhin) Bestand haben würden.395 Mit seiner Entscheidung in der Rechtsache Zaunegger  . / .  Deutschland vom Dezember 2009 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Regelung des § 1626a Abs. 2 BGB a. F. – nach welchem der Vater keine Möglichkeit hatte, gegen den Willen der Mutter die gemeinsame Sorge zu erlangen – für mit Art. 8 in Verbindung mit Art. 14 EMRK unvereinbar.396 Der Gerichtshof stellte dabei vor allem darauf ab, dass die bisherigen Untersuchungen keine klaren Ergebnisse gebracht hätten, welche die Annahme des Gesetzgebers stützten.397 Die Motive der Mütter für die Ablehnung der gemeinsamen Sorge beruhten „nicht notwendigerweise“ auf kindeswohlbezogene Erwägungen. Einen weitergehenden Einschätzungsund Beurteilungsspielraum wollte der Gerichtshof, anders als das Bundesverfassungsgericht 2003, dem Gesetzgeber nicht zugestehen. Denn es sei nicht gerechtfertigt, den nichtverheirateten Vater anders zu behandeln als den bei der Geburt des Kindes mit der Mutter verheirateten.398 Im Gegen394  BVerfGE

107, 150 (173). 107, 150 (178 f.). Abwehrrechtlich gesehen würde es nach dieser Argumentation an der Erforderlichkeit beziehungsweise sogar an der Geeignetheit der Regelung zur Förderung des Kindeswohls fehlen, mit der Folge, dass der Eingriff in das Recht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG nicht (mehr) gerechtfertigt ist. 396  EGMR, FamRZ 2010, 103 ff.; dazu Henrich / Scherpe, Anmerkung zum Urteil des EuGHMR vom 03.12.2009, Beschwerde Nr. 22028 / 04, 2010. 397  Bereits eine im Vorfeld aufgrund der Entscheidung im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durchgeführte Umfrage bei Jugendämtern sowie Anwälten und Anwältinnen weckte Zweifel daran, ob die Annahme des Gesetzgebers zutraf; siehe  BT-Drucks. 16 / 10047, S. 8–14. 398  EGMR, FamRZ 2010, 103 (105 f.). 395  BVerfGE



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle387

satz zum Bundesverfassungsgericht berücksichtigte der Gerichtshof hierbei auch die europäische Entwicklung, wonach Deutschland mit seiner ausgesprochen restriktiven Haltung zur Beteiligung des nicht verheirateten Vaters in Europa weitgehend alleine stand.399 In seinem Beschluss vom August 2010 setzte sich das Bundesverfassungsgericht dann – vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäi­ schen Gerichtshofs für Menschenrechte – abermals mit der fraglichen Regelung auseinander, und kam nun gegenüber seiner Entscheidung von 2003 zu einem anderen Ergebnis. Wiederum befasste sich das Gericht eingehend mit empirischen Daten. So stellte es zu Beginn seiner Prüfung fest, dass der Anteil der minderjährigen Kinder, die nichtehelich geboren werden, weiter angestiegen sei. In ungefähr der Hälfte dieser Fälle würde eine gemeinsame Sorge der Eltern bestehen.400 Das Kindeswohl verlange, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person habe, die für das Kind rechtsverbindlich handeln könne. Daher könne der Gesetzgeber das Sorgerecht weiter allein der Mutter und nicht dem Vater oder beiden gemeinsam zuweisen, denn diese sei die einzige sicher feststehende Bezugsperson des Kindes bei der Geburt. Das Recht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG sei jedoch dadurch verletzt, dass er die gemeinsame Sorge gegen den Willen der Mutter nicht durchsetzen könne, selbst wenn diese dem Kindeswohl entspreche. Während das Gericht den legitimen Zweck und die Geeignetheit des § 1626a BGB a. F. mithin weiter bejaht, sieht es nun erhebliche Zweifel, ob der generelle, gerichtlich nicht überprüfbare Ausschluss des Vaters eines nichtehelichen Kindes von der elterlichen Sorge aus Gründen des Kindeswohls erforderlich und damit verhältnismäßig ist: Vor allem […] bestätigen neuere empirische Erkenntnisse die Annahme des Gesetzgebers nicht, dass die Zustimmungsverweigerung von Müttern in aller Regel auf einem sich nachteilig auf das Kind auswirkenden elterlichen Konflikt basiert und von Gründen getragen ist, die nicht Eigeninteressen der Mutter folgen, sondern der Wahrung des Kindeswohls dienen. […] Inzwischen liegt hinreichendes Datenmaterial vor, aus dem sich ergibt, dass sich die damaligen Annahmen des Gesetzgebers nicht als zutreffend erwiesen haben. Dies betrifft zum einen die Anzahl der von Eltern nichtehelicher Kinder begrün399  In der Mehrzahl der Rechtsordnungen wird beiden unverheirateten Elternteilen von Geburt an eine Beteiligung an der elterlichen Sorge zuerkannt; wo das nicht so ist, kann aber überwiegend dem Vater auch gegen den Willen der Mutter eine Beteiligung an der Sorge zugesprochen werden, wenn dies dem Kindeswohl entspricht; dazu Henrich / Scherpe, Anmerkung zum Urteil des EuGHMR vom 03.12.2009, 2010, S. 108. 400  BVerfGE 127, 132 (147 f.).

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

deten gemeinsamen Sorgetragungen. Den statistischen Erhebungen ist zu entnehmen, dass sich lediglich knapp über die Hälfte der Eltern darauf verständigen, entsprechende Sorgeerklärungen abzugeben (vgl. Statistisches Bundesamt 2009, Statistisches Jahrbuch 2009, Tab. 2.23). Eine gemeinsame Sorge wird in relevantem Umfang auch dann nicht begründet, wenn die Eltern zusammenleben (vgl. BTDrucks 16 / 10047, S. 11 f.). Zum anderen hat sich die Vermutung des Gesetzgebers – wie auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ausführt – nicht bestätigt, dass die Ablehnung einer gemeinsamen Sorgetragung seitens der Mütter in aller Regel von Gründen getragen wird, die sich am Kindeswohl orientieren. Die hierzu durchgeführten Befragungen von Institutionen und Experten, die aufgrund ständiger Befassung mit der Sorgetragung von Eltern nichtehelicher Kinder über Erfahrungen zur Motivation von Müttern verfügen, die einer gemeinsamen Sorge nicht zustimmen, aber auch die bisher vorliegenden Ergebnisse der Befragungen von Müttern lassen erkennen, dass neben Kindeswohlerwägungen häufig auch persönliche Wünsche der Mütter zu deren Ablehnung einer gemeinsamen Sorge mit dem Vater des Kindes führen. So wurde oftmals als Begründung angegeben, man wolle die Alleinsorge behalten, um allein über die Angelegenheiten des Kindes entscheiden zu können, wolle sich also nicht mit dem Vater darauf verständigen müssen oder nichts mit dem Vater zu tun haben (vgl. BTDrucks 16 / 10047, S. 12 ff.).401

Dieses Beispiel zeigt, dass im Rahmen von Überprüfungs- und Kontrollaufträgen des Bundesverfassungsgerichts sich die Einschätzung einer zur Prüfung stehenden Norm ändern kann, wenn die dahinter stehenden Wirklichkeitsannahmen des Gesetzgebers durch empirische Studien in Zweifel gezogen werden oder sich als unzutreffend erweisen. Allerdings sind dabei normative Wertungen erforderlich, nach denen bestimmten empirischen Annahmen rechtfertigende Wirkung zu- oder abgesprochen wird. Im Fall des Sorgerechts der Mutter war es der Gesetzgeber selbst, der seine Regelung mit Wirklichkeitsannahmen zur Situation von getrennt lebenden Eltern und deren mutmaßliche Auswirkungen auf das Kindeswohl begründete. Diese Rechtfertigung der weitgehenden Beschränkung der Väterrechte akzeptierte das Bundesverfassungsgericht in seiner früheren Entscheidung, allerdings nur mit der Maßgabe, dass der Gesetzgeber zu überprüfen hatte, ob seine Annahmen auch tatsächlich zutrafen. Wesentlich ist, ob der Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung vom Gericht weiter oder enger gezogen wird. Muss der Gesetzgeber beweisen, dass eine von ihm gemachte Wirklichkeitsannahme zutrifft, muss er dies lediglich plausibel machen; oder reicht es gar aus, wenn sich seine Annahmen nicht eindeutig widerlegen lassen? Dieses sind Wertungsfragen, und insoweit ist Lepsius zuzustimmen, wenn er feststellt, dass aus empirischen Daten unmittelbar keine normativen Entscheidungen abgeleitet werden können, sondern immer (zugleich) verfassungsrechtliche Wertungen, hier über den 401  BVerfGE

127, 132 (157 ff.).



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle389

Spielraum der Gesetzgebung bei grundrechtseinschränkenden Maßnahmen, zu treffen sind.402 Die Judikatur zur gemeinsamen Sorge bei unverheirateten Eltern, bei der klare empirische Annahmen, auf die der Gesetzgeber seine Regelung gestützt hatte, zur Überprüfung standen, ist in der Praxis der Verfassungsjudikatur allerdings eher eine Ausnahme. In der Regel finden sich solche eingrenzbaren Fragestellungen nicht. Denn zum einen kann das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische Regelungsentscheidungen oft gerade nicht auf einzelne (isolierbare) Wirklichkeitsannahmen beziehungsweise Wirkungsprognosen zurückführen.403 Zum anderen fehlt es meist, wie bereits erwähnt, an unmittelbar verfügbaren empirischen Erhebungen und Daten, die eine Untermauerung oder Widerlegung der gesetzgeberischen Wirklichkeitsannahmen erlauben.404 Zuletzt kann das Gericht auch nicht ständig Prüfaufträge an den Gesetzgeber erteilen und damit die Verfassungsgemäßheit von Gesetzen gleichsam unter einen Vorbehalt der fortwährend verfassungsrechtlichen Supervision stellen. Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit von Gesetzen sollen, wenn möglich, abschließend sein. So setzen es die §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG voraus. Das Verdikt „noch verfassungsge­ mäß“405 sollte jedenfalls nicht inflationär ausgesprochen werden. Das Instrument will sachgerecht und behutsam eingesetzt sein.406 ee) Zwischenfazit: Rationale Kontrolle durch Prüfung von gesetzgeberischen Wirklichkeitsannahmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Wenn mit Blick auf die Unwägbarkeiten des Abwägungsprozesses mitunter vorgeschlagen wird, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die letzte Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn zu verzichten, dann erscheint dies mit Blick auf die Wertungen, die unweigerlich mit der rechtlichen Relevanz von Wirklichkeitsannahmen verbunden sind, als problematisch. Jedenfalls lässt sich die These, dass über das Kriterium der Erforder402  Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, 2005, S.  11 f. 403  Zu den „angestrebten Wirkungen“ beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Baer, Zur Wirkung von Recht, 2011, S. 246 ff. 404  Vgl. zum Bereich der Presse- und Rundfunkfreiheit Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften in der Rechtsanwendung – am Beispiel der Nutzung der Medienforschung in der Rechtsprechung zum Mendienrecht, 2001, S. 14 f. 405  Etwa BVerfG, NJW 2014, 3425 (3434) – Regelsätze. 406  Vgl. auch Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, 1996, S. 94 ff.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

lichkeit eine ‚empirisch-rationale‘ Kontrolle gesetzgeberischer Zielvorstellungen möglich sei,407 für den Regelfall nicht bestätigen. Unberücksichtigt bleibt vor allem, dass mehrere verglichene Mittel auch „gleich wirksam“ sein müssen, was bereits verschiedene Prognosen und Wertungen impliziert. Zum anderen ist die empirische Wirkungsforschung häufig nicht in der Lage, im Rahmen der Entscheidungssituation eine eindeutige und abschließende Aussage über die Wirkungen beziehungsweise die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit von staatlichen Regulierungen und möglichen Alternativen oder über die Richtigkeit von, generellen, Wirklichkeitsannahmen des Gesetzgebers zu treffen. Prüf- oder auch Nachbesserungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber sind hier zwar ein probates Mittel, um mit solchen Unklarheiten umzugehen, sie können aber nicht in jedem Fall und fortlaufend eingesetzt werden. Bei einer Verkürzung der Verhältnismäßigkeitsprüfung besteht folglich die Gefahr, dass bereits im Rahmen der Erforderlichkeit implizit Wertungsund Abwägungsgesichtspunkte zum Tragen kommen oder andererseits das Prüfkriterium entweder überdehnt oder zu einem ‚stumpfen Schwert‘ wird. Die Frage der Argumentationslasten ist dabei weit weniger vordringlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag.408 Entscheidend ist vielmehr, inwiefern der Gesetzgeber, wenn er seiner Darlegungslast genügt hat, auch die (objektive) Beweislast für das Vorliegen der von ihm aufgestellten Wirklichkeitsaussagen trägt. Die Bedeutung dieser Frage wird im Fall der gemeinsamen Sorge nichtverheirateter Eltern anschaulich: Während das Bundesverfassungsgericht in seiner früheren Entscheidung davon ausging, dass sich die Annahmen des Gesetzgebers (noch) im Rahmen des Vertretbaren hielten, jedenfalls aufgrund der vorhandenen Studien nicht widerlegt waren, reichten dem Europäischen Gerichtshof in seiner Entscheidung bereits Zweifel an der Richtigkeit der vom Gesetzgeber aufgestellten Behauptungen über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Alleinsorge und Kindeswohl aus. Dem ist das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Entscheidung beigetreten, nachdem empirische Studien die Zweifel untermauert haben.

407  Dezidiert unter Aufgabe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn: Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, 1984, S. 460 ff.; vgl. auch Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 78 f.: „praktische Entbehrlichkeit des Gewichtens, Ordnens und Vergleichens von Gemeinschafts- und Individualgütern“; ausführlich ebd., S.  192 ff. 408  Anders offenbar Schlink, ebd., S. 192 ff. Es wird dort allerdings nicht recht deutlich, unter welchen Bedingungen der eingreifende Gesetzgeber seiner Argumentationslast genügt, das heißt inwiefern er seine Annahmen auch belegen muss. Schlink verweist insoweit auf das „Abwägungsmodell mit seinen für die verschiedenen sozialen Bereiche verschiedenen Interpretationen“, ebd., S. 196.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle391

Ähnlich flexibel zeigt sich im Allgemeinen auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die den Einschätzungs- und Prognosespielraum der gesetzgebenden Organe problem- und bereichsspezifisch definiert. Im Einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers danach „von Faktoren verschiedener Art ab, im Besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“.409 Infolgedessen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.410 Damit sind Wertungsfragen angesprochen, die sich kaum nach allgemeinen Regeln lösen lassen, sondern eine funktionell-rechtliche Betrachtungsweise geradezu herausfordern.411 Dies betrifft, wie gesehen, sowohl die Geeignetheits- als auch die Erforderlichkeitsprüfung. In der Rechtsprechungspraxis erweist sich im Regelfall jedoch erst die letzte Prüfungsstufe, die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, auch als Zumutbarkeit und Angemessenheit bezeichnet, als die entscheidende.412 Hier findet eine Abwägung zwischen der Intensität des Eingriffs und den zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten (beziehungsweise denkbaren) Gründen statt.413 An dieser Stelle sind auch empirische Daten, Sachverständigenaussagen und Erfahrungswerte heranzuziehen, um Prognosen über voraussichtliche Entwicklungen und (mögliche) Wirkungszusammenhänge zu bewerten.414 Hier ist auch deshalb der richtige (Prüfungs-)Ort dafür, weil das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht gezwungen ist, eine gesetzgeberische Wirklichkeitsannahme vollständig zu widerlegen (mit der Gefahr, dass es am Ende doch falsch liegt415). Hat es Zweifel an einer rechtfertigenden Annahme und hält es die gesetzgeberischen (Rechtfertigungs-)Erwägungen daher für nicht vollständig überzeugend, so vermindert sich vielmehr deren Gewicht im Rahmen der Abwägung mit den durch den Eingriff betroffenen Belangen des Grundrechtsträgers. 409  Grdl.

BVerfGE 50, 290 (332 f.) – Mitbestimmung. auch BVerfGE 57, 139 (159); 62, 1 (50); 90, 145 (173); st. Rspr.; ausführlich zum Gesetzgebungsermessen Raabe, Grundrechte und Erkenntnis – Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, 1998; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000. 411  Siehe auch im Folgenden unter D. II. 2. 412  Vgl. Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 20, Rn. 86: „in vielen Entscheidungen das wichtigste Teilgebot der Verhältnismäßigkeit“. 413  Ausführlich Grimm, Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence, 2007, S. 388 ff. 414  Vgl. nur BVerfGE 90, 145 (173); 102, 197 (220); 104, 337 (349); st. Rspr. 415  Vgl. nur die Beispiele aus der Rspr. oben unter D. II. 1. c) cc). 410  Vgl.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

So bekundet der Erste Senat in seinem Kopftuch-Beschluss vom März 2015 erhebliche Zweifel an der Annahme des nordrhein-westfälischen Schulgesetzgebers, dass durch eine muslimische Lehrerin, die aus Glaubensgründen ein Kopftuch trägt, eine abstrakte Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität hervorgerufen werden könne, der durch ein allgemeines Verbot zu begegnen sei. Wie das Gericht ausführt, erscheint ihm die Gefährdungsannahme aufgrund des Verbreitungsgrades des islamischen Kopftuchs in Deutschland und der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten dieses religiösen Symbols als „fraglich“.416 Letztlich hinterfragt das Gericht die Annahme des Gesetzgebers jedoch nicht weiter, da nach seiner Ansicht das im nordrhein-westfälischen Schulgesetz vorgesehene pauschale Verbot jeder religiösen Bekundungen unabhängig vom Vorliegen einer tatsächlichen, sprich konkreten Gefahr für den Schulfrieden das Recht auf Glaubensfreiheit der Kopftuch tragenden Lehrerin unverhältnismäßig beschneidet.417 In Bezug auf das Erforderlichkeitskriterium hätte sich auch hier wieder mit dem Topos der gleichen Wirksamkeit argumentieren lassen. So legen der Richter Schluckebier und die Richterin Hermanns in ihrer abweichenden Meinung gut nachvollziehbar dar, dass eine Gefahrbeurteilung im Einzelfall Probleme mit sich bringt und in erheblichem „Maße Befunderhebungs- und Beweisführungsprobleme erwachsen“.418 Mit Recht hat demgemäß die Senatsmehrheit nicht bereits die Erforderlichkeit, sondern erst die Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) eines generellen Kopftuchverbots verneint. Denn die Einzelfallprüfung ist für den Staat mit Blick auf das Ziel, Konflikte im Schuldienst zu vermeiden, belastender als ein generelles Verbot. Befunderhebungs-, Beweisführungs- und sonstigen Probleme, die durch eine einzelfallbezogene Verbotsregelung entstehen können (und sicher in bestimmten Fällen auch entstehen werden), sind gerade die spezifischen Belastungen, die dem Staat daraus erwachsen, dass er die Glaubensfreiheit der Kopftuch tragenden Lehrerin zu respektieren hat und dem Zweck, eine Störung des Schulfriedens um jeden Preis zu vermeiden, nicht generell Vorrang gegenüber den Rechten der Lehrerin einräumen darf.419 416  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 100. 417  BVerfG, ebd., Rn. 101 ff. 418  Abweichende Meinung zum Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 16. 419  Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung mit Recht darauf ab, ob eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden belegt und begründet werden kann. Dies soll etwa der Fall sein, wenn ältere Schüler oder Eltern ihre Position gegen das religiöse Symbol mit Nachdruck vertreten und damit Konflikte „in einer Weise in die Schule hineingetragen würden, welche die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags ernsthaft beeinträchtigte“,



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle393

2. Funktionell-rechtliche Grenzen der verfassungsrechtlichen Kontrolle Das weite Tatbestandsmodell sowie die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit favorisierte Abwägungslösung tragen zu einer Ausdehnung der Kontrolle materialer Grundrechtsgehalte bei. Diese ist einerseits, wie gezeigt wurde, zur Sicherung realer grundrechtlicher Freiheit in den verschiedensten Lebensbereichen notwendig. Sind Grundrechte in diesem Sinne zugleich objektive Grundsatznormen, dann ebnet sich die herkömmliche Unterscheidung von Grundrechten und Staatszielbestimmungen zu einem gewissen Maße ein.420 Verbunden mit dem vom Bundesverfassungsgericht favorisierten weiten Tatbestandsmodell im Sinne der Abwägungsjudikatur ergreift die Konstitutionalisierung weite Teile der Rechtsordnung und macht es im Prinzip möglich, jedes einfachgesetzliche Regelungs- beziehungsweise Anwendungsproblem zu einer Frage des Verfassungsrechts hochzustilisieren.421 Hier müssen Sicherungen eingebaut werden, um die funktionelle Aufgabenverteilung zwischen Politik beziehungsweise fachgerichtlicher Rechtsprechung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu wahren.422 Es ist infolgedessen zur Wahrung der Gewaltenteilung essen­tiell, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung die Funktion und die Grenzen der Verfassungskontrolle (judicial review) beachtet. Hierfür lassen sich sowohl materiell-rechtliche als auch funktionell-rechtliche Maßstäbe fruchtbar machen. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes gegenüber Maßnahmen (oder Unterlassung) der staatlichen Organe. Entsprechend überprüft das Gericht staatliche Maßnahmen und Entscheidungen funktional immer im Blick darauf, ob grundrechtlich geschützte Belange ausreichend beachtet und zur Geltung gebracht wurden. Grundsätzlich gilt: Je intensiver eine Regelung oder Maßnahme in den Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts eingreift, desto mehr gewinnt, wie Hesse formuliert, „der dem Bundesverfassungsgericht aufgetragene Schutz an Notwendigkeit und Gewicht, desto umfassender ist das Gericht zur BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 113, 116. 420  Vgl. Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn. 55. 421  Vgl. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 146  f.; Wahl, § 19 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, 2004, Rn. 23; vgl. auch Bryde, Einfaches Recht und Verfassungsrecht, 2003, S. 238 f.; zur Gefahr der Ubiquität des Grundrechtsschutzes oben unter D. I. 1. b). 422  Vgl. auch von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 381.

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Nachprüfung verpflichtet, ob jene Regelung oder Entscheidung vor dem Grundgesetz Bestand haben kann“.423 So hängt der vom Eigentumsgrundrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistete Schutz und damit auch die Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle davon ab, welche Funktion das in Rede stehende Eigentumsrecht für die individuelle Freiheitsentfaltung hat und welche sozialen Bezüge der Eigentumsgegenstand aufweist.424 In der Praxis führt dies, wie Lepsius zusammenfasst, „zu einer höchst ausdifferenzierten Eigentumsrechtsprechung, in der dann Grundeigentum, Anteilseigentum an Produktionsmitteln oder das Eigentum juristischer Personen geringer geschützt wird als etwa das Eigentum an beweglichen Sachen […] [Es] wird nach der sozialen und individuellen Funktion des Eigentumsrechts differenziert, was im Übrigen auch angesichts der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) geboten ist.“425 Entsprechend dem materialen Schutzbedürfnis der betroffenen Grundrechtsträger geringer oder intensiver fällt die Prüfungsintensität im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle aus. Mit den materiell-rechtlichen Maßstäben zur Bestimmung der Kontrollintensität korrespondiert die funktionell-rechtliche Seite. Die Frage der funktionell-rechtlichen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und den von ihm kontrollierten Staatsorganen wird spätestens seit den 1970er Jahren intensiv diskutiert.426 Aus funktionell-rechtlicher Sicht „ist dasjenige Organ für eine bestimmte Aufgabe legitimiert, das ausgehend vom arbeitsteiligen Funktionsgefüge des Grundgesetzes von seinem gesamten Leistungsprofil her der zu treffenden Entscheidung ‚strukturell am nächsten steht‘ und zu ihrer Bewältigung am besten in der Lage“ ist.427 Es geht also um eine Betrachtung der spezifischen Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen, wobei auch die Verfassungspraxis Berücksichtigung findet. Damit werden, worauf Haltern hinweist, interdisziplinäre, insbesondere politikwissenschaftliche Dimensionen in die juristische Analyse einbezogen.428 Ausgangspunkt für die Bestimmung der Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts ist seine Stellung als Gericht für Verfassungsfragen und sein justizielles Entscheidungsverfahren.429 Dabei können die materiell423  Hesse,

Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1981, S. 266. nur aus der jüngeren Rspr. BVerfGE 101, 54 (75 f.); 102, 1 (17); 104, 1 (9); 112, 93 (109 f.); 126, 331 (360); zusammenfassend Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 14 Rn. 14 ff. 425  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 217 f. 426  Maßgebliche Anstoßfunktion hatte hierbei das Referat von Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963; dazu ausführlich oben unter B. III. 3. 427  Voßkuhle, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 3, Art. 93, Rn. 40. 428  Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998, S. 220 ff. 429  Vgl. Voßkuhle, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 3Art. 93, Rn. 40. 424  Vgl.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle395

rechtlichen Fragen nicht streng von der funktionell-rechtlichen Betrachtung getrennt werden. Wenn das Bundesverfassungsgericht funktionell das Organ ist, das Grundrechtsschutz gewährleisten soll, dann ist die Frage nach der Grundrechtsinterpretation und dem dadurch bestimmten Gewährleistungsgehalt gleichzeitig funktionell-rechtlich relevant. Denn wie gezeigt wurde, haben die Begründung eines lückenlosen Grundrechtsschutzes über Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht, das Verständnis der Grundrechte als (auch) objektive – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „wertentscheidende“ – Grundsatznormen sowie die Ausstrahlungswirkung in das einfache Recht zu einer erheblichen Bedeutungs- und institutionellen Machtsteigerung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen. Auf der anderen Seite hat die Machtposition des Gerichts, wie gesehen, die institutionellen Bedingungen für eine selbst­bewusste Grundrechtsjudikatur geschaffen, die zuvor kaum denkbar erschien.430 Die funktionell-rechtlichen Grenzen im Sinne des judicial (self-)restraint grundrechtlicher Kontrolltätigkeit hat das Bundesverfassungsgericht auf dogmatischer Ebene entlang verschiedener „Argumentationsfiguren“431 beziehungsweise Formeln entwickelt. Die wichtigsten seien im Folgenden dargestellt und in Bezug auf ihre spezifische Funktion und Bedeutung hin eingeordnet. a) Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Zur Wahrung dieser Aufgabenverteilung im Verhältnis zur Legislative kommt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Figur des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers eine zentrale Bedeutung zu. Dies wurde in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits ausführlicher dargelegt.432 Besonders relevant ist diese Frage aber auch mit Blick auf die weitergehenden objektiv-rechtlichen Gehalte. Grundrechte geben danach im positiven Sinne, das heißt wenn sie Schutz-, Leistungs- oder Ausgestaltungsaufträge formulieren, zunächst lediglich „Richtlinien und Impulse“433 für die Legislative, die weitgehend frei darin bleibt, wie sie ihren Gestaltungsauftrag konkret wahrnimmt. Nur in besonderen Fällen verdichtet sich der grundrechtliche Gewährleistungsauftrag zu einer konkreten verfassungs430  Oben

unter B. II. 2.–5. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung – Zur Funktionsgerechtigkeit von Kontrollmaßstäben und Kontrolldichte verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1980, S. 2109. 432  Siehe unter D. II. 1. c) cc). 433  So die berühmte Formulierung im Lüth-Urteil BVerfGE 7, 198 (205); dazu ausführlich oben unter B. II. 4. d) bb); Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 50, sprechen von „Anstoßfunktion“. 431  Schneider,

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

rechtlich einklagbaren Gewährleistungspflicht.434 Die Grundrechte reichen somit als objektive Handlungs- oder Auftragsnormen deutlich weiter als sie dies als verfassungsgerichtliche Kontrollnormen tun.435 Daraus ergibt sich eine funktionale Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgebung und Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht ist gerade nicht dazu aufgerufen, Programmatiken für eine möglichst gute (‚optimale‘) Grundrechtspolitik zu entwerfen, sondern Vorgaben für Mindestgewährleistungen zu entwickeln, die den subjektiven Grundrechtsschutz einzelner Grundrechtsträger sicherstellen. Dies lässt sich an der Entscheidung des Ersten Senats zum Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetz vom Februar 2012 illustrieren, wo es im Kern um eine Diskriminierungsproblematik ging. In der Entscheidung führt das Gericht aus, dass „der besondere Gewährleistungsgehalt der ausdrücklichen Schutzverpflichtung des Art. 6 Abs. 1 GG eine über die allgemeine grundrechtliche Schutzpflicht noch hinausgehende objektive Förder- und Schutzpflicht des Staats für die Familie“ umfasse.436 Aus dieser Schutz- und Förderpflicht ergebe sich die Aufgabe des Staats, die Pflege- und Erziehungstätigkeit der Eltern durch geeignete wirtschaftliche Maßnahmen zu unterstützen und zu fördern. Konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen ließen sich aus diesem (objektiven) verfassungsrechtlichen Gebot jedoch nicht herleiten. Allerdings ist der Gesetzgeber, so stellt das Bundesverfassungsgericht fest, im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG zur Gleichbehandlung von Nicht-EU-Staatsangehörigen bei der Leistungsgewährung verpflichtet. Der Maßstab für mögliche Ungleichbehandlungen sei im Rahmen der Umsetzung des Grundrechtsauftrags dabei strenger als das Willkürverbot. An eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit sei außerdem wegen der Personenbezogenheit des Differenzierungsmerkmals „strenge verfassungsrechtliche Anforderungen“ zu stellen.437 Darüber hinaus erwägt der Erste Senat, dass das Recht der Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, dadurch beeinträchtigt sein könnte, dass eine finanzielle Förderung nach dem Bayerischen Erziehungsgeldgesetz nur für den Fall der persönlichen Kinderbetreuung durch ein Elternteil vorgesehen ist.438 434  Eingehender zu den Schutzpflichten im Privatrecht Wallrabenstein, Verfassungsrechtliche Schutzpflichten im Privatrecht, 2008, S. 19 f. 435  Vgl. Bryde, § 17 Programmatik und Normativität der Grundrechte, 2004, Rn.  56 ff.; auch Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 50 f., die zwischen Anstoß- und Kontrollfunktion unterscheiden. 436  BVerfGE 130, 240 (252). 437  BVerfGE 130, 240 (254 f.). 438  BVerfGE 130, 240 (251); über diese Frage war im vorliegenden Fall jedoch nicht zu entscheiden.



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle397

Der Beschluss zum Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetz veranschaulicht, wie der grundrechtliche Handlungsauftrag, der aus dem objektiven Gehalt des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgt, durch die Politik im Rahmen ihres Gestaltungsermessens eigenständig ausgefüllt werden kann. Gleichzeitig sind die verfassungsrechtlichen Grenzen, vor allem der Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung, im Rahmen des objektiven Gestaltungsauftrags in besonderer Weise zu beachten. Eine funktionelle Grenze der verfassungsrechtlichen Kontrolle wäre sicher überschritten gewesen, hätte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Bayerischen Gesetzgebers zur Einführung eines Landeserziehungsgeldgesetzes beispielsweise unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunkten auf ihre politische Zweckmäßigkeit überprüft oder im Einzelnen Vorgaben für die gesetzliche Ausgestaltung gemacht.439 Im Rahmen der grundrechtlichen Kontrolle von Gesetzen räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber für die Verfolgung seiner Regelungsziele grundsätzlich einen erheblichen Einschätzungs-, Prognose- und Gestaltungsspielraum ein.440 Die Intensität der Nachprüfung hängt nach der Rechtsprechung erstens von der „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs“, zweitens „den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden“ und drittens „der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter“ ab.441 Die verfassungsgerichtliche Kontrollintensität variiert also nach dem betroffenen Sachgebiet. So soll sie etwa zurückhaltend sein auf den Gebieten der Wirtschaftspolitik, der Außenpolitik und der Bildungspolitik442 und strenger beispielsweise im Bereich des Strafrechts.443 Bei Prognoseentscheidungen variiert die Kontrollkompetenz und reicht von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven inhaltlichen Kontrolle.444 Wie Voßkuhle feststellt, kommt der 439  Vgl.

auch oben unter D. I. 1. b). zum Gesetzgebungsermessen Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, 1998; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000. 441  BVerfGE 50, 290 (332 f.) – Mitbestimmungsgesetz. 442  Vgl. BVerfGE 40, 141 (178) – Ostverträge; BVerfGE 50, 290 (336  ff.) – Mitbestimmungsgesetz; BVerfGE 34, 165 (198) – Hochschulurteil. 443  Vgl. BVerfGE 45, 187 (238) – Lebenslange Freiheitsstrafe; vgl. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG Kommentar, 2014, Art. 93 Rn. 4 m. w. N. zur Rspr. 444  Grdl. BVerfGE 50, 290 (333) – Mitbestimmungsgesetz: „Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe angelegt, die von einer Evidenzkontrolle (etwa BVerfGE 36, 1 [17] – Grundvertrag; 37, 1 [20] – Stabilisierungsfonds; 40, 196 [223] – Güterkraftverkehrsgesetz) über eine Vertretbarkeitskontrolle (etwa BVerfGE 25, 1 [12 f.] – Mühlengesetz; 30, 250 [263] – Absicherungsgesetz; 39, 210 [225 f.] – Mühlenstrukturgesetz) bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (etwa BVerfGE 7, 440  Ausführlich

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D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

Kontrolle von Prognosen des Gesetzgebers in der Praxis eine „kaum zu überschätzende Bedeutung“ zu.445 Entscheidend ist vor allem, inwiefern sich das Gericht jeweils aufgrund vorhandener Daten zutraut, die Einschätzung des Gesetzgebers en detail nachzuprüfen und gegebenenfalls auch zu widerlegen.446 Der Umfang der Nachprüfung wird dabei, wie Schlaich und Korioth feststellen, „problembezogen“, auch mit Blick auf die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit bestimmt.447 Einen Zwischenweg geht das Gericht, wie gesehen, wenn es dem Gesetzgeber sogenannte Kontroll- und Nachprüfungspflichten auferlegt.448 b) Verfassungskonforme Auslegung Eine funktionell-rechtliche Grenze der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsprüfung bewirkt in besonderer Weise auch der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung449: Ein Gesetz darf nicht für nichtig erklärt werden, wenn es im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen ausgelegt werden kann.450 Ähnlich wie bei der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das einfache Recht451 versucht das Bundesverfassungsgericht, grundrechtliche Gewährleistungen zunächst im bereits bestehenden Normengefüge über die Rechtsanwendung der Fachgerichte zur Geltung zu bringen. Allerdings ist die Kritik an diesem Instrument der verfassungsgerichtlichen Kontrolle über die Jahre nicht verstummt, sondern eher stärker geworden. So wird sogar von einer „eleganten, gleichwohl sehr wirkungsvollen Methode der Bevormundung von Regierung und Parlament“ durch das Bundesverfassungsgericht gesprochen. Hinter der Absichtserklärung, das Maximum der gesetzgeberischen Intention aufrechterhalten zu wollen, verberge sich „die autoritative Feststellung dessen, was das Parlament bei Beachtung des Grundgesetzes hätte wollen dürfen“.452 Die Kritik entzündet 377 [415] – Apotheken; 11, 30 [45] – Kassenärzte; 17, 269 [276 ff.] – Arzneimittelgesetz; 39, 1 [46, 51 ff.] – § 218 StGB; 45, 187 [238] – Lebenslange Freiheits­ strafe)“; vgl. auch oben unter D. II. 1. c) cc). 445  Voßkuhle, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 3, Art. 93, Rn. 44; ähnlich bereits Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 926 ff. 446  Grdl. ist die Apotheken-Entscheidung, dazu ausführlich unter B. II. 4. e). 447  Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 2010, Rn. 537. 448  Dazu ausführlich oben unter D. II. 1. c) cc) m. w. N. 449  Grdl. BVerfGE 8, 28 (34 ff.) – Besoldungsrecht. 450  Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1981, S. 268; Simon, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, 1974. 451  Dazu unter D. I. 3. a). 452  Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 7; kritisch auch Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung – Grenzen und



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle399

sich dabei vor allem an solchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die über den Weg der verfassungskonformen Auslegung selbst eindeutige gesetzgeberische Entscheidungen korrigieren.453 Wird indes seitens des Bundesverfassungsgerichts funktionale Zurückhaltung im Sinne des judicial restraint gewahrt,454 dann erweist sich die verfassungskonforme Auslegung gegenüber einer Aufhebung der fraglichen Norm regelmäßig als das mildere Mittel und stellt einen ungleich geringeren Eingriff in die Verantwortungssphäre der Legislative dar; denn das Gesetz wird punktuell in eine bestimmte Richtung ausgelegt, bleibt aber als Ganzes unangetastet.455 Hält sich das Bundesverfassungsgericht dabei, wie es grundsätzlich betont, innerhalb der auch fachgerichtlich üblichen Auslegungsspielräume, dann realisiert sich für den Gesetzgeber folglich letztlich nicht mehr und nicht weniger als das übliche ‚Risiko‘, nämlich dass die Gerichte seine Gesetze in einer bestimmten Art und Weise interpretieren, die vielleicht nicht die Vorstellungen einzelner am Gesetzgebungsverfahren beteiligter Personen und Organe widerspiegelt.456 Immerhin bleibt den gesetzgebenden Organen prinzipiell die Möglichkeit, auf die Verfassungsjudikatur durch eine Gesetzesänderung zu reagieren, die den konkreten Verfassungsverstoß in der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Auslegungsvariante vermeidet. c) Folgenverantwortung Ein weiterer Gesichtspunkt der funktionell-rechtlichen Begrenzungen der Verfassungsjudikatur im Grundrechtsbereich ist die Folgenverantwortung, die sich aus der notwendigerweise politischen Natur457 verfassungsgerichtlicher Entscheidungstätigkeit ergibt. Das Bundesverfassungsgericht muss Gefahren, 1986; jüngst wiederum Lembke, Einheit aus Erkenntnis? Zur Unzulässigkeit der verfassungskonformen Gesetzesauslegung als Methode der Normkompatibilisierung durch Interpretation, 2009; differenzierend Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, 2000. 453  Vgl. die Nachweise zur Rspr. bei Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 2010, Rn. 450. 454  So wird in der Rspr. beteuert, die Auslegung dürfe mit „[…] dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht in Widerspruch treten“; BVerfGE 69, 1 (55); 71, 81 (105); 95, 64 (93). 455  Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, 2000, S. 198, schlägt vor, das Bundesverfassungsgericht könne sich im Tenor seiner Entscheidungen darauf beschränken, einzelne Auslegungsvarianten für verfassungswidrig zu erklären, anstatt eine bestimmte Auslegung positiv vorzuschreiben. 456  Zur objektiven Auslegungstheorie, zu der sich das Bundesverfassungsgericht in st. Rspr. bekennt, ausführlich oben unter C. I. 2. 457  Zur entsprechenden Formulierung im Statusbericht siehe oben unter B. II. 3. a).

400

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

stets auch die Folgen eines Entscheidungsausspruchs für das Staatshandeln insgesamt im Blick haben, vor allem wenn es die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellt. Hierfür hat das Gericht ein Repertoire an in ihrer Intensität abgestuften Tenorierungen entwickelt, das von der klassischen Nichtig- oder Teilnichtigerklärung (§ 78 Satz 1, § 95 Abs. 3 BVerfGG) über eine „Soweit“-Nichtigkeit, eine Beschränkung auf den Ausspruch der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz bis zur Hinnahme eines verfassungs­ widrigen Zustands für eine Übergangszeit reicht.458 Hinzu kommen Übergangsregelungen und sogenannte Appellentscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Regelung beispielsweise als „noch verfas­ sungsgemäß“ hinnimmt und eine Neuregelung nur anregt.459 Auf die einzelnen Steuerungsmöglichkeiten wird im folgenden Abschnitt genauer eingegangen.460 d) Prüfung spezifischen Verfassungsrechts Das Bundesverfassungsgericht beschränkt seine Grundrechtskontrolle gegenüber den Fachgerichten auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.461 Die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts fällt grundsätzlich nicht in seine Kompetenz. Die verfassungsrechtliche Prüfung ist demnach auf die Frage beschränkt, ob durch eine bestimmte fachgerichtliche Rechtsanwendung spezifisch grundrechtlich geschützte Belange verkannt oder unverhältnismäßig eingeschränkt werden. In der 1964 vom Gericht entwickelten und nach dem Berichterstatter der Entscheidung benannten Heckʼ­schen Formel462 beschreibt das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollkompetenz im Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit wie folgt: Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung 458  Dazu

ausführlich unter E. I. 1. d). guter Überblick über die verschiedenen Entscheidungsarten mit Tenorierungsmustern findet sich bei Graßhof, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 78, Rn. 11 ff.; Voßkuhle, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 3, Art. 93, Rn. 46; ausführlich dazu unter E. I. 1. e). 460  Insbesondere unter E. I. 1. d). 461  Eine der frühen Entscheidungen, in denen der Begriff eingeführt wird, ist das Elfes-Urteil BVerfGE 6, 32 (43): „Das [Bundesverfassungsgericht, d. Verf.] hat des öfteren ausgesprochen, daß es auf Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen diese nicht in vollem Umfang nachprüft, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist“; zur Elfes-Entscheidung ausführlich unter B. II. 4. b). 462  Vgl. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 85 ff.; vgl. auch oben unter D. I. 3. b). 459  Ein



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle401 durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (vgl. BVerfGE 1, 418 [420]). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Freilich sind die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht immer allgemein klar abzustecken; dem richterlichen Ermessen muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht. Allgemein wird sich sagen lassen, daß die normalen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.463

Damit wird auch klar, worin ein mögliches Missverständnis des vielfach zu hörenden Vorwurfs liegt, das Bundesverfassungsgericht habe sich entgegen der eigenen Vorsätze zu einer „Superrevisionsinstanz“ entwickelt.464 Gegen die These der Superrevisionsinstanz spricht nämlich bereits die geringe Quote erfolgreicher Verfassungsbeschwerden, vor allem solcher gegen Entscheidungen der obersten Bundesgerichte.465 Im Vordergrund steht hingegen eine „selektive Einzelfallkontrolle“ mit Signal- und Steuerungswirkung.466 Mit der Bezugnahme auf die „grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts“ ist das Bundesverfassungsgericht bestrebt, seine Kontrollbefugnis in einer Weise zu bestimmen, dass es einerseits die Effektuierung der Grundrechte im einfachen Recht entsprechend seiner Konstitutionalisierungsrechtsprechung betreiben kann, dabei aber andererseits die funktionelle Eigenständigkeit der Fachgerichtsbarkeit bei der Anwendung des Fachrechts gewahrt bleibt.467 Bei der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts geht es folglich um die Nachprüfung der Verletzung grundrechtlich geschützter Belange, für die das Bundesverfassungsgericht jeweils gewährleistungsspezifische Kontroll- und Steuerungsmaßstäbe entwickelt.468 463  BVerfGE

18, 85 (92 f.) – Patent-Beschluss. vieler Großfeld, Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz, 1999, S. 21 f. 465  Ausführlich unter E. I. 1. b); vgl. auch die eingehende Analyse bei Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011 S. 117 f. 466  Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 114. 467  Vgl. Düwel, Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen, 2000, S. 55; siehe auch Robbers, Grundrechtsschutz durch Bundesverfassungsgericht, Landesverfassungsgerichte und Revisionsgerichte, 1999, S. 58 f. 468  Vgl. Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 114. 464  Statt

402

D. Die Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte

So interessierte das Gericht, um dies an einem Beispiel aus der Entscheidungspraxis zu illustrieren, die (möglicherweise) fehlerhafte Auslegung des § 611a BGB a. F. durch die Fachgerichte im Einzelnen nicht. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte, in Fällen einer Geschlechterdiskriminierung bei Stellenbewerbungen den benachteiligten Bewerber / innen lediglich das negative Interesse als Schadensersatz zuzusprechen, war für die verfassungsrechtliche Kontrolle nur insofern relevant, als sie darauf hinauslief, den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz entgegen der Gewährleistung des Art. 3 Abs. 2 GG wirkungslos zu machen, ihn gleichsam ‚leerlaufen‘ zu lassen. In Anbetracht einer allgemeinen Praxis der Fachgerichte, § 611a BGB a. F. zu einem „Portoparagrafen“ (Ersatz des Portos für die Versendung der Bewerbungsunterlagen als „negatives Interesse“) zu degradieren,469 stärkte das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung den Schutzgehalt des Grundrechts auf Nicht-Diskriminierung in der arbeitsgerichtlichen Rechtsanwendung.470 Durch diesen gezielten verfassungsgerichtlichen ‚Eingriff‘ in die fachgerichtliche Rechtsprechung wurden die Arbeitsgerichte dazu angehalten, § 611a BGB a. F. effektiver im Sinne des Diskriminierungsschutzes auszulegen und anzuwenden. 3. Zwischenfazit: Funktionelle Aufgabenverteilung und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vor dem Hintergrund eines materialen Grundrechtsverständnisses und der damit verbundenen funktionalen Ausdifferenzierung des Grundrechtsschutzes wird im Anschluss an die Rechtsprechung – und in Abgrenzung zu einem engen Tatbestandsmodell – ein prinzipiell weites Verständnis des Gewährleistungsgehalts der Grundrechte befürwortet. Dies hat zur Folge, dass grundrechtliche Konfliktsituationen nicht bereits durch Aussonderung freiheitsrelevanter Positionen aus dem grundrechtlichen Gewährleistungsbereich, sondern in der Regel erst durch Abwägung auf der Rechtfertigungsebene gelöst werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, starre Präferenzregeln im Rahmen der Gewährleistungsdefinition zu vermeiden und dogmatische Maßstäbe problembezogen mit Blick auf den betroffenen Lebensbereich zu entwickeln. Die Unverzichtbarkeit einer Abwägung zeigt sich besonders im 469  Dazu Wrase, Gleichheit unter dem Grundgesetz und Antidiskriminierungsrecht, 2006, Rn. 26; siehe auch EuGH, 10.4.1984, Rs.  14 / 83  – von Colson und Kamann, NJW 1984, 2021; EuGH, 22.4.1997, Rs.  C-180 / 95 – Drahmpaehl, NJW 1997, 1839. 470  BVerfGE 89, 276 (286) – § 611a BGB: „Bei Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen, ist das maßgebende Grundrecht dann verletzt, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt.“



II. Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Kontrolle403

Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die entgegen der Annahme von Abwägungskritikern eben keine rein ‚empirisch-rational‘ durchführbare Kontrolle ermöglicht, sondern in aller Regel wertende Vergleiche und Gewichtungen erfordert, die erst auf der letzten Stufe, der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, im Rahmen einer problembezogenen Abwägung vollständig zum Tragen kommen (und ansonsten nur verdeckt würden). Das weite Tatbestandsmodell sowie die Lösung von Grundrechtskonflikten durch Abwägung eröffnen dem Bundesverfassungsgericht einen weiten Raum grundrechtlicher Kontrolle in den verschiedenen Rechts- und Lebensbereichen. Dies darf aber aus Gewaltenteilungsgründen nicht dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht – gleichsam in den Mantel grundrechtlicher Kontrolle gehüllt – seine Auffassung in politisch strittigen Themen an die Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers oder seine Gesetzesauslegung an die Stelle der zuständigen Fachgerichte setzt. Insofern ergibt sich ein Modell der funktionellen Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Fachgerichten auf der einen Seite und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen. Während die Politik grundsätzliche Entscheidungen über die Regelung verschiedener Bereich des staatlichen Gemeinwesens trifft und die Fachgerichte die formell ordnungsgemäß erlassenen Normen im Einzelnen auslegen und anwenden, beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht auf eine verfassungsrechtliche Kontrolle, die materiell-rechtlich durch den Gewährleistungszweck der Grundrechte und gleichzeitig durch funktionellrechtliche Erwägungen näher bestimmt und begrenzt wird. Die funktionellrechtlichen Grenzen seiner Grundrechtskontrolle hat das Gericht anhand einzelner Argumentationsfiguren und Formeln entwickelt, insbesondere des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, der verfassungskonforme Auslegung, der Folgenverantwortung sowie der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts, die im vorliegenden Abschnitt genauer dargestellt wurden. Maßgebend ist die problemangemessene Anwendung dieser Begrifflichkeiten und Instrumente in der verfassungsgerichtlichen Kontrollpraxis. In jeder Hinsicht exakt nachprüfbare Maßstäbe können hierfür zwar nicht angeführt werden. Gerade die dogmatische Konstruktion der genannten Figuren ermöglicht aber eine fortwährende Austarierung und Überprüfung anhand einzelner Problembereiche. Sie eröffnet die Möglichkeit, an einer (zu) weit in die Sphäre der Politik übergreifenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – wie sie etwa bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle steuerrechtlicher Regelungen zu beobachten ist – unter materiell- wie funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten Kritik zu üben.

E. Grundrechtsinterpretation als Konkretisierung zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit I. Normkonkretisierung und Steuerung durch problembezogene Entwicklung von Grundrechtsdogmatik Wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung grundsätzlich an einem mate­ rialen Grundrechtsverständnis, das die verschiedenen Bereiche der Rechtsordnung in einem Konstitutionalisierungsprozess überformt. Das weite Verständnis der Grundrechte als subjektive Rechte und zugleich objektive Normen sowie die damit verbundene funktionale Ausdifferenzierung des Grundrechtsschutzes bedingen eine weit ausgreifende Kontrolltätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Über die Ausstrahlungswirkung und die verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts sowie die Entwicklung weiterer Grundrechtsfunktionen wie Schutz- und Ausgestaltungspflichten oder organisations- und verfahrensrechtliche Gewährleistungen dringen materiale Grundrechtsgehalte in nahezu alle Bereiche der Rechtsordnung vor,1 die damit gleichzeitig zu „konkretisiertem Verfassungsrecht“2 werden. Durch die Entwicklung gewährleistungs- und bereichsspezifischer dogmatischer ‚Maßstäbe‘ durch das Bundesverfassungsgericht3 werden dabei einerseits die Gewährleistungsgehalte der Grundrechte konkretisiert; zugleich findet ein Prozess der Steuerung statt, bei dem die Gesetzgebung und Rechtsanwendung auf diese Maßstäbe – wie es im Lüth-Urteil heißt – „inhaltlich ausgerichtet“ wird.4 Die Grundrechtsjudikatur zielt demgemäß darauf, die Rechtsordnung so ‚auszurichten‘, dass sie in ihrer sozialgestaltenden Wirkung das verwirklicht, was die Grundrechte in ihrem materialen Gehalt vorgeben. Im Folgenden soll das Konzept der problembezogenen Methodik der Grundrechtsaulegung weiter vertieft werden. Dabei soll im folgenden Abschnitt vor allem auf die Steuerung der Rechtsprechung und Gesetzgebung durch die Entwicklung und Durchsetzung problembezogener dogmatischer 1  Ausführlich

oben unter B. II. 4.–5. und D. I. Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, 1959. 3  Vgl. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011 ff. 4  BVerfGE 7, 198 (205) dazu oben unter B. II. 4. d). 2  Werner,



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik405

Maßstäbe eingegangen werden. Konkretisierung meint in diesem Zusammenhang die fortschreitende Deutung eines Grundrechts auf einer problembezogenen Ebene und das sich in der hiermit verbundenen Dogmatikbildung widerspiegelnde Verständnis der angewendeten (Grundrechts-)Norm.5 Dieses soll am Beispiel der Rechtsprechung zur Privatautonomie exemplarisch verdeutlicht werden. 1. Steuerung in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts a) Steuerung der Rechtsordnung als Mittel der Sozialsteuerung Die verfassungsgerichtlichen Judikatur zielt wesentlich auf die Steuerung der Rechtsordnung mittels der Konkretisierung grundrechtlicher Gewährleistungsgehalte. Unter Steuerung wird dabei die „erfolgreiche Einflußnahme auf […] Institutionen“ und Akteure verstanden, „um bestimmte Ziele zu verwirklich­en“.6 Insofern beschränkt sich der hier verwendete Steuerungsbegriff auf die intentionale Einflussnahme des Bundesverfassungsgerichts auf von ihm adressierten staatlichen Instanzen, insbesondere die Fachgerichte und die Organe der Gesetzgebung in Bund und Ländern. Das so zugrunde gelegte Steuerungsverständnis grenzt sich bewusst von dem steuerungstheoretischen Paradigma der 1970er Jahre ab, das politische Steuerung weitgehend mit der hierarchischen und konzeptionell orientierten Gestaltung der Gesellschaft durch dazu legitimierte staatliche Instanzen gleichgesetzt hat.7 Vor dem Hintergrund empirischer Erkenntnisse über Adressatenverhalten, Steuerungsdefizite des politisch-administrativen Verfahrens sowie Prozesse gesellschaftlicher Selbstregulierung hat sich die Steuerungstheorie perspektivisch gewandelt und betrachtet heute – verstärkt unter der Bezeichnung Governance – Regelungsstrukturen und Institutionen, die das soziale Handeln von Akteuren beeinflussen.8 Wie Mayntz feststellt, ist damit der Steuerungsbegriff allerdings nicht obsolet geworden, vielmehr ist eine „Ak5  Das dritte Element, das für das hier vertretene Verständnis problembezogener Auslegung relevant ist, die Kontextualisierung, wird später unter E. II behandelt. 6  Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 37; zur Steuerung durch Verfassungsrecht vgl. bereits Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht – Überlegungen zur Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in normalen wie in „schwierigen“ Zeiten, 1995, S. 60 ff. 7  Vgl. Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, 2005, S. 12. 8  Ebd., S. 14 ff.; häufig wird Governance auch als ‚Gegenbegriff‘ zur hierarchischen Steuerung verwendet, indem der Blick unter anderem auf kooperative Strukturen, Märkte, Verbände und Netzwerke gerichtet wird.

406 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

zentverschiebung“ zu konstatieren.9 Das Steuerungshandeln des Bundesverfassungsgerichts ist demgemäß nur ein „Teilprozess“ im rechtlichen und politischen System, der „mit vielen anderen Teilprozessen interferiert und so zum sozialen Wandel beiträgt, ohne ihn lenken zu können. Auf der Ebene des Gesamtsystems findet keine Steuerung statt, sondern lediglich Strukturbildung und Strukturwandel.“10 Auf eben solche normative Strukturbildung (beziehungsweise einen Strukturwandel) zielt auch die Konkretisierung der materialen Grundrechtsgehalte in der Verfassungsjudikatur. Es geht um eine durch die Rechtsordnung vermittelte Sozialsteuerung11, welche darauf abzielt, die Grundrechte auch in der gesellschaftlichen Realität wirksam werden zu lassen. Was damit im Kern gemeint ist, lässt sich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht aus Art. 8 GG verdeutlichen.12 Durch die Steuerung der fachgerichtlichen Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht hier die Demonstrations-, Protest- und Versammlungskultur in der Bundesrepublik justiziell, also auf Seiten der Rechtsordnung und ihrer Anwendungsorgane, zur Geltung gebracht. Dies geschah vor allem durch Einflussnahme auf die straf- und verwaltungsgerichtliche Judikatur, die Versammlungen und anderen öffentlichen Protestformen zuvor teilweise restriktiv mit Verboten und Strafen begegnet ist.13 Indem das Bundesverfassungsgericht vor allem in seiner grundlegenden Brokdorf-Entscheidung und vielen weiteren Entscheidungen die Fachgerichte dazu angehalten hat, das Versammlungsgesetz „im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 GG im freiheitlich demokratischen Staat“ auszulegen,14 ist das Versammlungsrecht, wie Kniesel und Poscher bemerken, von „einer ursprüng9  Im Rahmen eines akteuerszentrierten (Neo-)Institutionalismus werden beide theoretische Perspektiven miteinander verbunden. Recht erscheint dann etwa im Interpretationsvorgang durch das Bundesverfassungsgericht als „diskursives Medium judizieller Governance“, durch das Akteurshandeln beeinflusst wird; so Lhotta, Die konstitutive Wirkung des Rechts und seiner Sprache, 2012, S. 51 f. 10  Mayntz, Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, 1995, S. 165. 11  Vgl. die berühmte Aussage von Roscoe Pound, wonach Richter bei ihren Entscheidungen social engineering betreiben; Pound, Social Control Through Law, 1942 (Neudruck 2002), S. 64 f. 12  Einen instruktiven Überblick bieten Kniesel / Poscher, Versammlungsrecht, 2007, Rn.  39 ff. 13  Vgl. etwa BVerfGE 104, 92 (112 ff.) – Blockadeaktion: Bei der Anwendung von Strafrechtsvorschriften müssen die Gerichte die demonstrationsspezifischen Umstände und das Kommunikationsanliegen der Demonstrierenden berücksichtigen und gegen die kollidierenden Rechtsgüter, die strafrechtlich geschützt werden, abwägen; jüngst auch BVerfG-K, EuGRZ 2011, 405 – Sitzblockade auf öffentlicher Straße gegen Irakkrieg. 14  BVerfGE 69, 315 (349).



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik407

lich klassischen Polizeirechtsmaterie zu einem Kernstück demokratischen Lebens und sozialer Konfliktbewältigung“ avanciert.15 Auch wenn die Wirkung der Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit auf das Verhalten von (potentiellen) Versammlungsteilnehmenden, Organisatoren und Polizei kaum unmittelbar gemessen werden kann, so lässt sich doch feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht auf die einfache Rechtsordnung im Rahmen der Konstitutionalisierung derart Einfluss genommen hat, dass eine lebendige Versammlungskultur in der sozialen Wirklichkeit durch die grundrechtsorientierte Ausrichtung der Rechtsordnung gefördert und unterstützt,16 jedenfalls aber staatliche Restriktionstendenzen eingedämmt wurden, die einer solchen hätten abträglich sein können.17 Das Versammlungsrecht ist folglich ein gutes Beispiel für die freiheitsermöglichende Veränderung von Regulierungsstrukturen18 im Wege der institutionellen Steuerung von Justizakteuren, Verwaltung und Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht. In diesem Sinn wird der Steuerungsbegriff hier und im Folgenden verwendet.

15  Kniesel / Poscher, Versammlungsrecht, 2007, Rn. 194. So hat das Bundesverfassungsgericht in der Brokdorf-Entscheidung eine Reihe von Maßstäben entwickelt, die den spezifischen Erfordernissen und Gefährdungslagen von Großdemonstrationen Rechnung tragen. Es konnte dabei auf die praktischen Erfahrungen mit den Protestbewegungen der 1970er und -80er Jahre aufbauen. Die Behörden sind nach den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen verpflichtet, nach Möglichkeit mit den Veranstaltern zu kooperieren, um die Sicherheit und Gewaltfreiheit der Versammlung zu gewährleisten. Ein Versammlungsverbot ist nur als ultima ratio statthaft. Vorhandene Verfahrensvorschriften sind grundrechtsfreundlich anzuwenden, sowie unzumutbare vorbeugende Kontrollen oder exzessive Observa­ tionen und Registrierungen durch die Polizei zu unterlassen; BVerfGE 69, 315 (348 ff.) – Brokdorf. 16  Beispiele aus den letzten Jahren sind die Occupy-Bewegung, die wiederkehrenden Proteste gegen Castor-Transporte in das (potentielle) „Atomendlager“ in Gor­ leben und die Proteste gegen „Stuttgart 21“, zu letzterem die Beiträge in Kappus, Bürger, Macht, Politik – Der Protest gegen Stuttgart 21 als Chance für die Demokratie, 2011. 17  Siehe zuletzt etwa BVerfGE 128, 226 – Fraport: Meinungskundgabe und Demonstration auf dem Frankfurter Flughafen, insbesondere zum „Leitbild des öffentlichen Forums“, ebd., 253, 224: „Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet den Bürgern für die Verkehrsfläche solcher Orte das Recht, das Publikum mit politischen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Konflikten und sonstigen Themen zu konfrontieren.“ 18  Zu Prozessen und Regulierungsformen Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 187 ff.

408 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

b) Steuerung der fachgerichtlichen Rechtsprechung und (mittelbar) der Verwaltung aa) Steuerung der Verwaltung über die Steuerung der Fachgerichtsbarkeit Neben den Gesetzgebungsorganen wichtigster Adressat der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist das Justizsystem, das heißt vor allem die Fachgerichte. Damit korrespondiert die hohe Zahl der Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen.19 Da die zulässige Erhebung einer Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG grundsätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs voraussetzt und sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Kontrolle in der Regel auf die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung konzentriert, werden Maßnahmen der Verwaltung auch dann nicht aufgehoben, wenn sie vom Beschwerdeführer neben den fachgerichtlichen Entscheidungen angegriffen werden. Vielmehr wird bei begründeten Verfassungsbeschwerden nach der heutigen Praxis in der Regel nur die Verletzung des Grundrechts durch die behördliche Maßnahme festgestellt und die Entscheidungen der Fachgerichte, die über die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahme zu entscheiden hatten (in der Regel auch hier nur der letztinstanzlichen Entscheidung)20 gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Insoweit erfolgt die Steuerung der Verwaltung als unmittelbar grundrechtsgebundener Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) in praxi mittelbar über die Steuerung der sie kontrollierenden Fachgerichtsbarkeit.21 Das hat ver19  So richteten sich im Jahr 2013 5.780 der insgesamt 6.112 eingereichten Verfassungsbeschwerden, also 94,57 Prozent, unmittelbar gegen Gerichtsentscheidungen und weniger als 5 Prozent gegen Gesetze und andere Hoheitsakte, vgl. amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts, www.bundesverfassungsgericht.de / DE /  Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-IV-8.html (Juli 2015). Von 1991 bis 2013 wurden insgesamt 113.735 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen eingereicht, siehe Tabelle 3, S. 411. 20  Die Praxis des Bundesverfassungsgerichts hierzu war lange Zeit schwankend, vgl. Starck, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 95, Rn. 50, 52 ff., der zwischen der Verletzung von Verfahrensgrundrechten (dann Aufhebung und Zurückverweisung an die unterste Instanz) und der Verletzung materieller (Grund-)Rechte (dann Zurückverweisung nur an die höchste Instanz) differenziert. 21  Würde das Bundesverfassungsgericht hingegen alle Entscheidungen bis hin zur verfassungswidrigen Verwaltungsmaßnahme aufheben, so wäre eine Zurückverweisung an die zuständige Behörde entbehrlich, da mit der Aufhebung der Maßnahme nach § 95 Abs. 2 BVerfGG das Verwaltungsverfahren automatisch wieder bei der Stelle anhängig wird, die den aufgehobenen Hoheitsakt erlassen hat; Hömig, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 2, § 95, Rn. 28 (Lfg. Oktober 2009) m.  w.  N.; zur früheren Praxis des Bundesverfassungsgerichts Stark, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 95, Rn. 50.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik409

schiedene Vorteile: Zum einen gelangt die Beschwerdeführerin schneller an eine unanfechtbare fachgerichtliche Entscheidung über ihr Begehren, sie muss also gegebenenfalls nicht noch einmal den gesamten Rechtsweg beschreiten, wenn die Verwaltungsbehörde an ihrer ursprünglichen Maßnahme trotz Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht festhalten sollte.22 Zum anderen setzt die Steuerungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung, die nur die letztinstanzliche Entscheidung der Fachgerichte aufhebt, auf der höchsten Instanz-Ebene an, wo gegebenenfalls auch eine grundsätzliche (Neu-)Ausrichtung der fachgerichtlichen Judikatur erfolgen kann. Allerdings weisen neue Studien darauf hin, dass die Steuerungswirkung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise die Verwaltungen nicht (mehr) in ausreichendem Maße erreicht, das heißt, dass trotz festgestellter Verletzung von Grundrechten weiter an einer bestimmten Verwaltungspraxis festgehalten wird. Ein Grund hierfür könnte gerade im mittelbaren Steuerungsmodell – über den ‚(Um-)Weg‘ der Fachgerichtsbarkeit – liegen, dessen mehrfacher Steuerungsfilter ein Durchdringen der verfassungsgericht­ lichen Maßstäbe bis in die Verwaltungspraxis gegebenenfalls abschwächt beziehungsweise verhindert, außerdem auch in der mangelnden Rezeption der Verfassungsrechtsprechung in der Verwaltung.23 Sollten sich diese vermuteten Steuerungsdefizite bestätigen, so könnte dies durchaus ein Anlass für das Bundesverfassungsgericht sein, seine heutige Tenorierungspraxis bezüglich der Nichtaufhebung von Verwaltungsmaßnahmen in bestimmten Konstellationen zu überdenken und wieder direkt auf die Verwaltungsentscheidung durchzugreifen.24

Stark, in: Umbach / Clemens / Dollinger, ebd., § 95, Rn. 53. Gawron, Das ferne Gericht – Wirkungsanalysen zum Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Verwaltungsbehörden, 2011, S. 229 ff. 24  So BVerfGE 84, 1 – Kindergeld für Besserverdienende: „Die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde hat die Aufhebung sämtlicher angegriffener Entscheidungen zur Folge. Die notwendig werdende Neuentscheidung hat – im Anschluß an die gebotene Neuregelung durch den Gesetzgeber – die Verwaltungsbehörde zu treffen. An das Bundessozialgericht ist die Sache nur zur Entscheidung über die Kosten des gerichtlichen Ausgangsverfahrens zurückzuverweisen.“ Vgl. auch H ­ ömig, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 2, § 95, Rn. 24 (Lfg. Oktober 2009), der auf den Gestaltungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts hinweist, der „je nach Art der gestellten Verfassungsverletzung, der Konstellation im behördlichen und / oder fachgerichtlichen Ausgangsverfahren und unter Berücksichtigung verfahrensökonomischer Erwägungen in unterschiedlicher Weise genutzt werden kann.“ 22  Vgl. 23  Vgl.

410 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

bb) Steuerung der Fachgerichtsbarkeit Betrachtet man die Statistik der eingegangenen Verfassungsbeschwerden in den Jahren 1991 bis einschließlich 2013, so zeigt sich eine recht unterschiedliche ‚Streuung‘ zwischen den Fachgerichtszweigen, deren Entscheidungen von den Beschwerdeführern angegriffen wurden. Recht hoch ist der Anteil von Beschwerden gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, der im Durchschnitt bei etwa 40 Prozent aller angegriffenen Gerichtsentscheidungen liegt.25 Dies zeigt, dass die von den Beschwerdeführern wahrgenommene Grundrechtsrelevanz zivilgerichtlicher Entscheidungen nicht (mehr) hinter der Relevanz öffentlich-rechtlicher Gerichtszweige und der Strafgerichtsbarkeit zurückbleibt.26 An einer ausdifferenzierten verfassungsgerichtlichen Mobilisierungsforschung fehlt es allerdings,27 weshalb sich über den unterschiedlichen Mobilisierungsgrad in Bezug auf einzelne Fachgerichtszweige (weitgehend) nur spekulieren lässt.28 Betrachten wir den Anteil der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen fachgerichtliche Entscheidungen und setzen diesen ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Urteilsverfassungsbeschwerden, so ergibt sich für den Erhe25  Vgl. die amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts, Tabelle 3, S. 412; so wurden zwischen 1991 und (einschl.) 2013 insg. 113.735 Gerichtsentscheidungen mit Verfassungsbeschwerden angegriffen, wovon 45.352 auf die Zivilgerichtsbarkeit (einschließlich freiwillige Gerichtsbarkeit) entfielen, was einen Anteil von 39,85 Prozent ausmacht. 26  Insoweit ist über die Jahre eine Entwicklung erkennbar. Während Verfassungsbeschwerden gegen zivilgerichtliche Entscheidungen von im Durchschnitt 344 in den Jahren 1960–1979 auf 1.780 in den Jahren 1991‒2006, also über das Fünffache gestiegen sind, liegt die Steigerung bei den Strafgerichten im gleichen Zeitraum nur bei etwa dem Zweieinhalbfachen; vgl. Tabelle 4‒5 bei Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 99; vgl. auch die grafische Darstellung bei Blankenburg, Unsinn und Sinn des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden, 1998, S. 44 f. 27  Ausführlich, auch zu den ‚subjektiven Faktoren‘ der Rechtsmobilisierung wie Rechtsbewusstsein, Rechtskenntnis und Anspruchswissen Baer, Rechtssoziologie, 2011, S.  209 ff. 28  So erstaunt zumindest auf den ersten Blick etwa die relativ geringe Zahl von Verfassungsbeschwerden gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen, wenn man diese der Zahl an Eingängen in diesem Fachgerichtszweig gegenüberstellt. So stehen 461.776 vor bundesdeutschen Arbeitsgerichten im Jahr 2007 eingegangenen Klagen beziehungsweise Anträgen im Beschlussverfahren (bei einer angenommenen Verfahrensdauer von drei Jahren bis zur letztinstanzlichen Entscheidung) im Jahr 2010 lediglich 116 Verfassungsbeschwerden gegen arbeitsgerichtliche Urteile und Beschlüsse gegenüber, vgl. Ergebnisse der Statistik der Arbeitsgerichte 2010, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.8., 2010, abrufbar unter www.bmas.de /  DE / Themen / Arbeitsrecht / Statistik-zur-Arbeitsgerichtsbarkeit / inhalt.html (Juli 2015) und Tabelle 3, S. 411.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik411 Tabelle 3 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen seit 199129

bungszeitraum der vergangenen 21 Jahre eine Erfolgsquote von etwa 2,5 Prozent. Mit anderen Worten: Von hundert Verfassungsbeschwerden führen nur zwei bis drei zu einer stattgebenden Bundesverfassungsgerichtsentscheidung und in der Regel zur Aufhebung der fachgerichtlichen Entscheidung(en), wobei mit zunehmenden Verfahrenseingängen in den letzten Jahren noch eine deutliche Abnahme dieser Erfolgsquote zu verzeichnen ist.30 29  Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 /  gb2013 / A-IV-4.html (Juli 2015). 30  So wurden in den Jahren 1991 bis einschließlich 2013 113.735 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen erhoben; aufgehoben wurden vom Bun-

412 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit Tabelle 4 Aufgehobene Gerichtsentscheidungen seit 199131

Bei Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der obersten Bundesgerichte ist die Quote übrigens noch geringer und liegt in der Langzeitperspektive bei gerade einmal 1,6 Prozent.32 Wie Jestaedt feststellt, dürfen sich die obersten Bundesgerichte über die aufgehobenen Entscheidungen „unbeschadet spektakulärer Einzelfälle in Summe nicht beklagen“.33 Hieran wird etwas sehr Wesentliches deutlich: Die Steuerung der Fachgerichtsbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht erfolgt nicht durch eine ständige Revision, wie es mit dem oft kritisch verwendeten Begriff der „Super­ revisionsinstanz“ unterstellt wird, sondern durch gezielte Steuerungseingriffe in die fachgerichtliche Rechtsprechung.34 Bryde spricht dementsprechend von einer „edukativen Kontrolle“ durch das Bundesverfassungsgericht.35

desverfassungsgericht mittels (teilweise) stattgebender Entscheidungen im selben Zeitraum 2.861; vgl. Tabellen 3, S. 411 und 4, oben. 31  Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 /  gb2013 / A-IV-5.html (Juli 2015). Wurden in einem Verfahren mehrere Gerichtsentscheidungen des Instanzenzuges aufgehoben, so wurde nur die letzte Instanz gezählt. Wurden in einem Verfahren mehrere Gerichtsentscheidungen verschiedener Instanzenzüge aufgehoben, so wurde in jedem Instanzenzug die letzte Entscheidung gezählt. Wurde nach Verbindung mehrerer Verfahren dieselbe angefochtene Gerichtsentscheidung aufgehoben, so wurde nur ein Mal gezählt. 32  Vgl. die amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts unter www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-IV-6.html sowie www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb 2013 / A-IV-7.html (Juli 2015). Danach stehen bis von 1991 bis einschließlich 2013 21.623 Urteilsverfassungsbeschwerden 365 (Teil-)Aufhebungen gegenüber. 33  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 118. 34  Vgl. auch Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 114; siehe auch oben unter D. II. 2. d). 35  Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit, 2001, S. 551.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik413

c) Dogmatische Maßstäbebildung als Mittel der problemorientierten Steuerung aa) Dogmatische Maßstabsbildung im Rahmen spezifischen Verfassungsrechts Das dogmatische Mittel für diese Steuerung der Fachgerichtsbarkeit ist die Maßstabsbildung im Rahmen der Entwicklung spezifischen Verfassungsrechts.36 Hierfür bedient sich das Bundesverfassungsgericht einer „spezifischen Entscheidungs- und Begründungstechnik, die sich im Laufe der Jahre herausgebildet hat und die heute nahezu standardisiert verwendet wird“.37 So generiert das Gericht aus seiner Rechtsprechung allgemeine dogmatische Aussagen, die vom Kontext des einzelnen Falls gelöst werden und in der weiteren Rechtsprechung als abstrahierte dogmatische Formeln Verwendung finden. Derartige dogmatische „Maßstäbe“, wie Lepsius sie bezeichnet, sind „Zwischenkonkretisierungen“38, die ein bestimmtes Normverständnis konkretisieren und zugleich die spezifische Steuerungsleistung der verfassungsrechtlichen Dogmatik erbringen.39 Meist wiederholt das Bundesverfassungsgericht seine einmal aufgestellten dogmatischen Sätze abstrakt in einem ersten Teil der Entscheidung, dem „Maßstäbeteil“, der häufig (aber keineswegs immer) unter der Gliederungsziffer „C.I.“ zu finden ist.40 Allerdings darf die Darstellung des Maßstäbeteils am Anfang der Entscheidung natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dogmatischen Maßstäbe nicht abstrakt entwickelt und erst dann auf den konkret zu entscheiden Fall (deduktiv) angewendet werden – wie es das juristische Subsumtionsmodell vorgibt.41 Vielmehr sind es die im Fall in Erscheinung tretenden Problemlagen, auf welche die dogmatische Maßstäbebildung zugeschnitten wird. bb) Problembezogene Entwicklung von dogmatischen Maßstäben am Beispiel der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit Anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit lässt sich illustrieren, wie dogmatische Maßstabsbildung in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts in dieser Weise problembezogen 36  Zum Prüfungsmaßstab des „spezifischen Verfassungsrechts“, der für Kontrolle sowohl der Zivil- als auch sonstigen Fachgerichtsbarkeit gilt, oben unter D. II. 2. d). 37  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 168. 38  Ebd., S. 175. 39  Zur Wertungs- und Steuerungsfunktion der Dogmatik siehe unter C. III. 2. d). 40  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 170. 41  Vgl. oben unter C. II.

414 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

erfolgt. So hat das Bundesverfassungsgericht die in der Lüth-Entscheidung grundlegend entwickelte Lehre von der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts nach Art. 5 Abs. 1 GG und damit verbundenen Forderung nach einer Güterabwägung eine Reihe von „Vorrangregelungen“42 zur Steuerung der Rechtsprechung der Zivil- und Strafgerichte entwickelt. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden veranschaulicht werden. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung zeigte sich etwa, dass die rechtliche Beurteilung einer als ehrenrührig empfundenen Äußerung entscheidend davon abhängen kann, welcher konkrete Bedeutungsinhalt der jeweiligen Äußerung von den Gerichten beigelegt wird. Der Inhalt einer Äußerung, so stellte das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen fest, sei immer das Ergebnis einer Deutung. Welche Deutung einer rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen sei, könne jedoch nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes bestimmt werden.43 Gegenüber einer verbreiteten Tendenz der Fachgerichte, bereits auf der Deutungsebene dem Ehrenschutz Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit einzuräumen, indem sie in ihren Entscheidungen von einem für den Grundrechtsträger ungünstigen Deutung der inkriminierten Äußerung ausgingen, verlangte das Bundesverfassungsgericht, auch die für den Sich-Äußernden jeweils günstige Deutungsmöglichkeiten angemessen in Betracht zu ziehen. Geschehe dies nicht, liege eine Grundrechtsverletzung vor. Die Fachgerichte, so die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Formel, dürfen bei mehrdeutigen Äußerungen nur dann von einer zur Verurteilung führenden Äußerung ausgehen, wenn sie zuvor andere, für den Äußernden günstigere Deutungsmöglichkeiten mit überzeugenden beziehungsweise nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen haben.44 Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Meinungsfreiheitsjudikatur über die Jahre eine ausdifferenzierte dogmatische Maßstabsbildung betrieben, also geradezu ein System von abstrakten Prüfungsschritten respektive Vorrangregelungen entwickelt. Diese hat es im Maßstäbeteil seiner „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung vom Oktober 1995 wie folgt zusammengefasst (Überschriften vom Verf.): 42  Alexy,

Theorie der Grundrechte, 1985, S. S. 123 f. BVerfGE 43, 130 (136 f.) – Flugblatt, sowie insbesondere BVerfGE 82, 43 (52) – Strauß-Transparent, und BVerfGE 82, 272 (280 f.) – Zwangsdemokrat, in beiden Verfahren ging es um Äußerungen, die sich gegen den CSU-Politiker F. J. Strauß richteten. 44  So auch unter anderem BVerfGE 93, 266 – Soldaten sind Mörder; BVerfGE 94, 1 – Gesellschaft für Humanes Sterben; BVerfGE 102, 347 – Schockwerbung I; BVerfGE 107, 275 – Schockwerbung II; einschränkend für die nachträgliche Bewertung bei zivilrechtlichen Unterlassungsklagen BVerfGE 114, 339 – IM Stolpe; kritisch dazu Grimm, Der Stolpe-Beschluss des BVerfG – eine Rechtsprechungswende?, 2008. 43  Grdl.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik415 Menschenwürdeverletzung – äußerste Grenze der Abwägung So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. […] Schmähkritik – vorsichtige Handhabung Desgleichen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (vgl. BVerfGE 61, 1 [12]). Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat das Bundesverfassungsgericht den in der Fachgerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Schmähkritik aber eng definiert. Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen (vgl. BVerfGE 82, 272 [283 f.]). Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen […] Abwägung – Vermutungsformel Läßt sich die Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Dabei spielt es aber, anders als im Fall von Tatsachenbehauptungen, grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil „richtig“ ist (vgl. BVerfGE 66, 116 [151]; 68, 226 [232]). Dagegen fällt ins Gewicht, ob von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 [208, 212]; 61, 1 [11]). […] Sinnerfassung – Berücksichtigung von Deutungsalternativen Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist allerdings, daß ihr Sinn zutreffend erfaßt worden ist. Fehlt es bei der Verurteilung wegen eines Äußerungsdelikts daran, so kann das im Ergebnis zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung führen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß sich eine solche Verurteilung nachteilig auf die Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit im allgemeinen auswirkt, weil Äußerungswillige selbst wegen fernliegender oder unhaltbarer Deutungen ihrer Äußerung eine Bestrafung riskieren (vgl. BVerfGE 43, 130 [136]). Da unter diesen Umständen schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen fallen, ergeben sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern auch an die Deutung umstrittener Äußerungen.45 45  BVerfGE

93, 266 (292 ff.).

416 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Grafik 2: Vereinfachtes Prüfungsschema zur Meinungsfreiheitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts46

Der damals im Ersten Senat für das Sachgebiet des Rechts auf freie Meinungsäußerung zuständige Berichterstatter Grimm hat im selben Jahr, herausgefordert durch eine teilweise heftige (fach)öffentliche Kritik an einzelnen Entscheidungen47, die weitgehend48 bis heute gültigen dogmatischen Maßstäbe beziehungsweise Regeln für die Abwägung zusammengefasst und in einem Schaubild grafisch dargestellt. Das Schaubild veranschaulicht, wie durch eine problembezogen ausdifferenzierte Judikatur ein systematisches Muster für eine in der Praxis handhabbare und steuerungsorientierte Grundrechtsanwendung entstanden ist. Dogmatische Systematik ist hier bereichsspezifisch und problembezogen anhand konkreter Rechtsanwendungspraxis entwickelt worden.49 46  Grimm,

Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, 1995, S. 1705. Isensee, Grundrecht auf Ehre, 1997; den historischen Hintergrund des Tucholsky-Zitats „Soldaten sind Mörder“ sowie die öffentliche Debatte über die Bundesverfassungsgerichtentscheidungen von 1994 und 1995 dokumentieren Hepp / Otto, „Soldaten sind Mörder“ – Dokumentation einer Debatte 1931–1996, 1996. 48  Einschränkend für die nachträgliche Bewertung bei zivilrechtlichen Unterlassungsklagen nunmehr BVerfGE 114, 339 – IM Stolpe. 49  Zum notwendigen Problembezug dogmatischer Systematisierung siehe ausführlich oben unter C. III. 3. 47  Vgl.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik417

In Bezug auf die Maßstäbebildung des Bundesverfassungsgerichts spricht Voßkuhle im Anschluss an H.-P. Schneider von einem „offenen System“ verfassungsrechtlicher Dogmatik, „von unterschiedlichen Entscheidungsregeln, Argumentationsmustern, Rechtsfiguren und Prozeduren“, die problembezogen gehandhabt werden.50 Dieses Verständnis von Dogmatik entspricht auch den unterschiedlichen Funktionen der Konkretisierung und Steuerung. Die Konkretisierung erfolgt mit Blick auf die aktuelle Anwendung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG: Das Grundrecht soll einen ausreichenden Freiheitsraum für die Meinungsbetätigung in der sozialen Wirklichkeit sichern, und zwar auch dann, wenn bestimmte Meinungen als inopportun, falsch oder belästigend empfunden werden. Dieser Freiheitsraum darf durch die Rechtsprechung nicht einseitig zurückgedrängt werden, sondern muss im Rahmen der Anwendung des einfachen Rechts, etwa bei Unterlassungsklagen oder in strafrechtlichen Beleidigungsverfahren, ausreichend Geltung erhalten. Hierfür hat das Bundesverfassungsgericht vom Einzelfall abstrahierende Maßstäbe aufgestellt, mit denen die Fachgerichte in ihren Entscheidungsbegründungen arbeiten müssen. Die so aufgestellten Maßstäbe steuern die Rechtsanwendung der Gerichte im Sinne einer Effektuierung der Meinungsfreiheit. Bei ihrer Nichtbeachtung kann das Verfassungsgericht, wenn Betroffenen Verfassungsbeschwerde erheben, durch die Prüfung von Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts intervenieren. Man mag die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze und Prüfungsregeln zur Stärkung der Meinungsfreiheit der Sache nach für angemessen oder auch für kritikwürdig halten oder auch Alternativen vorschlagen;51 von einer bloß „reaktiven, situativen Kasuistik“52 kann jedenfalls keine Rede sein. Die Maßstäbe sind nicht „situativ“, da sie grundsätzlich und generell für alle Fälle, in denen Meinungsäußerungen von den Fachgerichten bewertet werden, Geltung beanspruchen und beachtet werden müssen. An einer unkalkulierbaren Kasuistik kann das Bundesverfassungsgericht auch gar kein Interesse haben, da damit eine umfassendere Steuerung der Fachgerichtsbarkeit, auf die seine Judikatur zu den Grundrechten abzielt, von vornherein nicht erreichbar wäre. Die Entscheidungen blieben auf die Besonderheiten des Einzelfalls beschränkt und könnten keine weitergehenden dogmatischen Maßstäbe für die fachgerichtliche Rechtsprechung hervorbringen.53 Das schließt allerdings nicht aus, dass Abwägungs50  Voßkuhle, in: Mangoldt et al., GG Kommentar, 2010, Bd. 3, Art. 93, Rn. 42 unter Verweis auf Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, 1980, S. 2104. 51  Umfassende Nachweise zur Kritik bei Isensee, Grundrecht auf Ehre, 1997. 52  So aber Schlink, Abschied von der Dogmatik, 2007, S. 160. 53  Vgl. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, 2011, S. 200  ff., der die Unterschiede in der Begründungstechnik des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem distinguishing im angloamerikanischen case law herausarbeitet.

418 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

entscheidungen im Einzelfall unterschiedlich ausfallen können: Die Grundrechtskontrolle verlangt von den Fachgerichten in der Regel kein bestimmtes ‚Ergebnis‘, sondern die Beachtung der grundrechtlichen Maßstäbe (auch wenn deren Anwendung gegebenenfalls auf eine bestimmte Entscheidung eines Falles hinausläuft). cc) Verfassungsgerichtliche Interventionen und ihre Fortentwicklung in der fachgerichtlichen Rechtsprechung Durch die Bildung allgemeiner, das heißt vom einzelnen Fall und seinem unmittelbaren Kontext abstrahierender54 dogmatischer Maßstäbe erzielt das Bundesverfassungsgericht eine Steuerungswirkung, die bewusst oder gezielt über die konkrete Entscheidung hinausgeht. In seiner Lüth-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht von „Richtlinien und Impulsen“ gesprochen, die die Grundrechte in das einfache Recht hinein aussenden.55 Insofern hat die Maßstäbebildung durch das Bundesverfassungsgericht eine Anstoßfunktion. Durch Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden in der fachgerichtlichen Rechtsprechung mitunter Richtungsentscheidungen herausgefordert beziehungsweise neue Entwicklungen angestoßen, die sich dann ganz ohne weitere verfassungsgerichtliche Interventionen in der höchstrichterlichen Judikatur der Fachgerichte fortentwickeln.56 Das zeigen beispielhaft die beiden Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Prüfungsrecht vom April 1991.57 In dem einen Verfahren ging es um die Frage, inwiefern die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von berufsbezogenen Prüfungsentscheidungen unter Berufung auf den Beurteilungsspielraum der Prüfer eingeschränkt werden darf. Zuvor hatten die Verwaltungsgerichte im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Prüfungsentscheidungen lediglich darauf kontrolliert, ob die Prüfer bei der Feststellung und Benotung der Leistung von falschen Tatsachen ausgegangen waren beziehungsweise „allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder sachfremde Erwägungen angestellt“ hatten, wobei diese Kriterien in der Praxis weitgehend auf eine formale Verfahrens- beziehungsweise inhaltliche Willkürkontrolle reduziert wurden.58 Unter Beru54  Ebd.,

S.  171 ff. 7, 198 (205). 56  Auch insoweit, als die Fachgerichte die vom Bundesverfassungsgericht geprägten dogmatischen Maßstäbe aufgreifen, konkretisieren, fortentwickeln und ergänzen, sind sie, wie Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 56 f., bemerken, maßgebliche Akteure bei der Konstitu­tionalisierung der einfachen Rechtsordnung. 57  BVerfGE 84, 34 – Juristische Staatsprüfung; BVerfGE 84, 59 – Multiple Choice. 58  Vgl. BVerfGE 84, 34 (54); 84, 59 (78 f.). 55  BVerfGE



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik419

fung auf Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG sowie den Grundsatz der „Chancengleichheit aller Berufsbewerber“, den das Gericht in Art.  3 Abs. 1 GG verortete, verlangte der Erste Senat eine weitergehende verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen, die auch die fachliche Bewertung einschließen sollte.59 Eine intensivere fachgerichtliche Kontrolle als bislang mahnte das Bundesverfassungsgericht auch in seiner zweiten Entscheidung vom selben Tag an, in der es um einen multiplechoice-Test im Medizinstudium ging.60 Die Entscheidungen, in denen der Erste Senat somit allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben für die Kontrolle von berufsrelevanten Prüfungsentscheidung aufstellte, haben dann tatsächlich zu einer Intensivierung der Kontrollmaßstäbe in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geführt und eine Reihe von grundlegenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nach sich gezogen.61 Die Konstitutionalisierung62 des Prüfungsrechts wurden damit vom Bundesverfassungsgericht ‚angestoßen‘ und vom Bundesverwaltungsgericht konkretisiert und weiterentwickelt, ohne dass das Bundesverfassungsgericht (bislang) nochmals in größerem Umfang in die fachgerichtliche Rechtsprechung eingegriffen hätte. Eine ähnliche Anstoßfunktion zur Weiterentwicklung spezifisch verfassungsrechtlicher Maßstäbe kann den Entscheidungen Kalkar I63 und Mülheim-Kärlich64 vom Ende der 1970er Jahre zugesprochen werden. Während der Zweite Senat in der Kalkar-I-Entscheidung (1978) zwar die Verlagerung der Konkretisierungskompetenz bei der Gefahrenvorsorge auf die Atomaufsichtsbehörden unter Berufung auf einen „dynamischen Grundrechtsschutz“ billigte, verlangte er doch zugleich eine Auslegung des Atomgesetzes, nach der die Behörden auf den „Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge“ festgelegt waren.65 Die ein gutes Jahr später ergangene Mülheim-Kärlich-Entscheidung (1979) des Ersten Senats erweiterte die in der Kalkar-I-Entscheidung begründete grundrechtliche Schutzposition66 59  Vgl. BVerfGE 84, 34 (54 ff.): Beurteilungsspielraum nur, soweit es um „prüfungsspezifische Wertungen“ geht. 60  Vgl. BVerfGE 84, 59 (78  ff.): Auch fachwissenschaftliche Einschätzungen und Bewertungen sind der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht grundsätzlich entzogen. 61  Vgl. nur BVerwGE 91, 262; 92, 132; 98, 324; 99, 74; 99, 185; BVerwG, DVBl. 1996, 1382; BVerwG NVwZ 1997, 503; siehe auch Niehues / Fischer, Prüfungsrecht, 2010, Rn.  128 ff. m. w. N. 62  Vgl. oben unter B. II. 5. 63  BVerfGE 49, 89. 64  BVerfGE 53, 30. 65  BVerfGE 49, 89 (134 ff.). 66  Zur Schutzpflichtenjudikatur oben unter D. I. 3. c).

420 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

durch Einbeziehung von Verfahrensvorschriften in den Drittschutz.67 In seiner grundlegenden Whyl-Entscheidung aus dem Jahr 1985 konkretisierte das Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäbe, indem es forderte, Schutzmaßnahmen auch „anhand bloß theoretischer Überlegungen und Berechnungen“ in Betracht zu ziehen, und damit den Bereich der Gefahrenvorsorge deutlich weiter fasste als den Bereich der Gefahrenabwehr.68 Dies hat in der Praxis tatsächlich zu einer intensiveren Kontrolle von atomrechtlichen Genehmigungsverfahren durch die Verwaltungsgerichte geführt mit der Folge, dass einige Atomkraftwerke, wie das AKW Mülheim-Kärlich oder das AKW Krümmel, wegen Mängeln bei der Gefahrenvorsorge entweder gar nicht ans Netz gehen konnten69 oder ihren Betrieb einstellen mussten.70

dd) ‚Nachfassen‘ bei Nichtumsetzung durch die Fachgerichte In aller Regel setzen die Fachgerichte die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe in ihrer Rechtsprechung um beziehungsweise entwickeln diese, wie die vorgenannten Beispiele zum Prüfungs- und zum Atomrecht gezeigt haben, in ihrer Judikatur weiter fort. Nur in wenigen Fällen treten die Fachgerichte in offenen Widerspruch zum Bundesverfassungsgericht oder übergehen stillschweigend dessen Vorgaben. In derartigen Fällen hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zum Nachfassen und zur verfassungsgerichtlichen Feinsteuerung über stattgebende Kammerentscheidungen oder, was bei Entscheidungen der obersten Bundesgerichte, die von der vorgegebenen Linie des Bundesverfassungsgerichts abweichen, in der Regel der probate Weg ist, durch eine die vorgegebene Linie bestätigende Senatsrechtsprechung. Aufsehenerregende Fälle betrafen Anfang 2001 die Auseinandersetzung der 1. Kammer des Ersten Senats mit dem Oberverwaltungsgericht Münster, das, entgegen der klaren Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Senatsrechtsprechung,71 behördliche Verbote von Aufzügen und Versammlungen neonazistischer Gruppen wegen 67  BVerfGE

53, 30 (57 ff.). 72, 300 (315 ff.) – Whyl; vgl. bereits BVerwGE 61, 256 (264 ff.)

68  BVerwGE

– Stade. 69  BVerwGE 80, 207 – Mülheim-Kärlich I, BVerwGE 92, 185 – Mülheim-Kärlich II; BVerwGE 116, 115 – Mülheim-Kärlich III. 70  BVerwGE 101, 347 – Krümmel; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2001, 567 – Obrigheim III (wegen von Genehmigung abweichender Errichtung des AKW); großzügiger bei der Gefahrenvorsorge noch BVerwGE 88, 286 – Obrigheim I, BVerwGE 104, 36 – Obrigheim II. 71  Grdl. BVerfGE 69, 315 (353) – Brokdorf; dazu oben unter E. I. 1. a).



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik421

Gefahr für die „öffentliche Ordnung“ als gerechtfertigt ansah,72 was auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur eine Reihe von Kontroversen und Abhandlungen nach sich zog.73 Ein weiteres Beispiel ist der Fall Görgülü, wo es um die Umsetzung der gleichnamigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte74 ging, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von den Fachgerichten im Rahmen der Gesetzesauslegung „zu berücksichtigen“ war.75 Der zuständige Senat des Oberlandesgerichts Naumburg widersetzte sich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die dem türkischen Vater des bei Pflegeeltern untergebrachten unehelichen Sohns ein Umgangsrecht zusprach, in mehreren Entscheidungen, die dann von der 3. Kammer des Ersten Senats mit Blick auf die in der Rechtsprechung des Zweiten Senats entwickelten Maßstäbe jeweils aufgehoben wurden.76 In solchen Fällen, in denen von einem bestimmten fachgerichtlichen Spruchkörper zu erwarten ist, dass er den verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht folgt, kann das Bundesverfassungsgericht die Sache auch gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an einen anderen Spruchkörper des zuständigen Fachgerichts zurückverweisen.77 Ein Beispiel für eine bestätigende Senatsrechtsprechung ist der Beschluss des Ersten Senats vom März 2003 zur Benetton-„Schockwerbung“.78 Der Senat bekräftigte darin seine frühere Entscheidung, wonach diese Form der 72  OVG Münster, DVBl. 2001, 584, aufgehoben durch BVerfG-K, NJW 2001, 1407; OVG Münster, NJW 2001, 2111, aufgehoben durch BVerfG-K, NJW 2001, 2069; OVG Münster, NJW 2001, 2113, aufgehoben durch BVerfG-K, NJW 2001, 2075; OVG Münster, NJW 2001, 2114, aufgehoben durch BVerfG-K, NJW 2001, 2076; zusammenfassend Battis / Grigoleit, Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes – Eine Analyse der neuen BVerfG-Entscheidungen, 2001, S.  2052 f. 73  So sind zwischen 2003 und 2005 im Nachgang zur gerichtlichen Kontroverse vier juristische Dissertationen zu diesem Themenkreis erschienen: Hader, Extremistische Demonstrationen als Herausforderung des Versammlungsrechts, 2003; Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, 2003; Bühring, Demonstrationsfreiheit für Rechtsextremisten?, 2004; Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, 2005. 74  EGMR, FamRZ 2004, 1456 – Görgülü. 75  BVerfGE 111, 307 – EGMR-Entscheidungen; dazu Lübbe-Wolff, ECHR and national jurisdiction – The Görgülü Case, 2006. 76  BVerfGK 4, 339; 5, 161; 5, 316; vgl. auch Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010, S. 361. 77  Hierbei verwendet das Bundesverfassungsgericht in der Regel die Formulierung: „es ist angezeigt, die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an eine andere Kammer / einen anderen Senat des […] zurückzuverweisen“, und verzichtet auf eine weitergehende Erklärung dieser Entscheidung; vgl. Stark, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 95, Rn. 51. 78  BVerfGE 107, 275 – Schockwerbung II.

422 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Werbung dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterfiel und wettbewerbsrechtlich nicht verboten werden durfte,79 entgegen einer zwischenzeitlich ergangenen weiteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die bei bestimmten Formen der Schockwerbung (nacktes Gesäß mit Aufdruck „H.I.V. positiv“) sogar von einer Verletzung der Menschenwürde ausgehen wollte.80 Hier stellte das Bundesverfassungsgericht sogar ausdrücklich im Leitsatz fest, dass es sich um eine „Fortführung“ der begonnenen Rechtsprechung han­ dele.81 d) Direkte Steuerung der Gesetzgebung über Normenkontrolle Die anderen primären Steuerungsadressaten bundesverfassungsrechtlicher Entscheidungen sind die zur Gesetzes- und Normgebung berufenen Organe des Bundes und der Länder. Ein parlamentarisches Gesetz oder eine untergesetzliche Rechtsnorm kann wegen einer behaupteten Grundrechtsverletzung dabei über drei unterschiedliche Verfahrenswege vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden: Erstens über die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Nr. 2 GG) durch Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestags; zweitens über die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) durch Vorlage eines Gerichts oder drittens über die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Nr. 4a GG). aa) Abstrakte Normenkontrolle Die abstrakte Normenkontrolle ist dabei ein im Vergleich selten genutztes Verfahren: So wurden zwischen 1951 und einschließlich 2013 insgesamt nur 178 solcher (abstrakten) Normenkontrollanträge beim Bundesverfassungsgericht gestellt.82 Das sind durchschnittlich gerade einmal drei Anträge pro Jahr.83 Nimmt man die letzten zehn Jahre84 zum Maßstab, so werden vom 79  BVerfGE

102, 347 – Schockwerbung I. 149, 247 – H.I.V. positiv. 81  BVerfGE 107, 275 – Amtlicher Leitsatz. 82  Siehe die amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts, www.bundes verfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-I-4.html (Juli 2015); vgl. auch Tabelle 5, S. 425. Zur Verteilung auf die Jahre Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 2009, Abbildung 5.10, S. 215. 83  Darunter befinden sich jedoch auch Anträge, die von unterschiedlichen Antragsstellern gegen dasselbe Gesetz erhoben worden sind oder sich im weiteren Verfahrenslauf erledigen. So wurden gegen die 11. Änderungsnovelle zum Atomgesetz 2011 (Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke) Normenkontrollanträge sowohl von fünf Bundesländern (gemeinsam) als auch (gesondert) von den Bundestagsfraktionen SPD und Bündnis 90 / Die Grünen eingereicht; letzterer Antrag erstreckte sich 80  BGHZ



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik423

Ersten und Zweiten Senat zusammen durchschnittlich nur zwei abstrakte Normenkontrollverfahren jährlich verhandelt und entschieden.85 Allerdings betreffen abstrakte Normenkontrollen mitunter politisch besonders umstrittene Parlamentsgesetze, weshalb ihnen auch in der (Fach-)Öffentlichkeit häufig besondere Aufmerksamkeit zuteilwird.86 Mit dem zurückhaltenden Gebrauch dieser Verfahrensart durch die antragsberechtigten Organe oder Organteile korrespondiert eine vergleichsweise hohe Erfolgsquote: In über einem Drittel der Fälle ist vom Bundesverfassungsgericht die (zumindest teilweise) Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Normen oder Normkomplexe festgestellt worden.87 84

bb) Konkrete Normenkontrolle Deutlich relevanter für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung sind die Vorlagen der Fachgerichte nach Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle). Von den (gerechnet auf die letzten zehn Jahre) durchschnittlich mehr als dreißig Normenkontrollvorlagen der Gerichte erledigt sich jedoch pro Jahr deutlich mehr als die Hälfte „auf sonstige Weise“, das heißt nicht durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.88 Dahinter steht zum einen die Praxis des Bundesverfassungsgerichts, dass der jeweilige Berichterstatter das vorlegende Gericht in einem „Belehrungsschreiben“ darauf hinweist, wenn der Vorlagebeschluss den hohen Darleauch auf das 12. Änderungsgesetz; vgl. Schneider, Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegen das Atomgesetz – Folgerungen aus den Ereignissen in Japan, 2011. 84  Die Häufigkeit von Normenkontrollanträgen variiert allerdings leicht, je nach politischer Konstellation und Aktivierungsbereitschaft der Opposition; ausführlich Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 2009, S. 248 ff., siehe dort auch Abbildung 5.12, S. 266. 85  Vgl. Tabelle 5, S. 425. 86  Vgl. Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 130, die von einem „höheren Aufmerksamkeitsgrad“ sprechen. Erinnert sei nur an die zwei heftig umstrittenen Urteile zum Schwangerschaftsabbruch BVerfGE 39, 1 und BVerfGE 88, 203; in der jüngeren Rechtsprechung sorgten etwa die Entscheidungen zur Legehennenhaltung, BVerfGE 127, 293, und zum Gentechnikgesetz für Aufsehen, obwohl das Gericht in der letztgenannten Entscheidung sämtliche angegriffenen Normen für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte, vgl. BVerfGE 128, 1; dazu Rath, Umweltschutz vor Berufsfreiheit, 2010: „Grundsatzurteil, das mutigen Umweltschutz verfassungsrechtlich absichert“. 87  Siehe Tabelle 5, S. 425. 88  Siehe Tabelle 5, S. 425; dies übersehen Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 130, wenn sie irrtümlicherweise meinen, bei Normenkontrollverfahren würden lediglich „35 % der eingereichten Anträge im Vorfeld scheitern“.

424 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

gungserfordernissen, wie sie das Bundesverfassungsgericht nach §  80 Abs. 2 BVerfGG aufgestellt hat, nicht genügt.89 Die vorlegenden Gerichte können unzureichend begründete Vorlagebeschlüsse zwar durch Ergänzungsbeschluss heilen.90 Meist kommt es aber dazu, dass die Fachgerichte ihre Vorlagebeschlüsse aufheben beziehungsweise nicht mehr daran festhalten, wenn sie vom Bundesverfassungsgericht auf entsprechende Darlegungsdefizite hingewiesen worden sind.91 Eine Erledigung tritt etwa auch dann ein, wenn die Entscheidungserheblichkeit im Ausgangsverfahren entfällt, eine Rechtsänderung (zum Beispiel Aufhebung des vorgelegten Gesetzes) eintritt oder das Bundesverfassungsgericht die beanstandete Norm in einem anderen Verfahren für mit dem Grundgesetz vereinbar oder für verfassungswidrig erklärt hat; der Vorlagebeschluss wird dann gegenstandslos.92 Die Quote von konkreten Normenkontrollanträgen, die zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des beanstandeten Gesetzes führt, ist im Verhältnis zu den durchschnittlichen jährlichen Eingängen mit unter zehn Prozent erstaunlich gering.93 In Bezug auf die Senatsrechtsprechung, die nur einen sehr kleinen Teil der jährlich anhängig gemachten Verfahren ausmacht, ist die Bedeutung von konkreten Normenkontrollen jedoch nicht zu unterschätzen: sie machen in etwa ein Sechstel der gesamten Senatsjudikatur aus;94 das sind, bezogen auf die letzten zehn Jahre (2004 bis 2013), im Durchschnitt etwas mehr als sechs Senatsentscheidungen pro Jahr.

89  Vgl. Dollinger, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 80, Rn. 79: Insbesondere erstinstanzliche Gerichte sind mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Vorlagebeschlusses oft überfordert. 90  Vgl. etwa BVerfGE 82, 156 (158); 85, 161 (163 ff.); 102, 147 (166). 91  Vgl. Dollinger, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 80, Rn. 79, 89; bereits Bethge, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 2, Rn. 325 (Lfg. Oktober 1985): „Es sollte ein selbstverständliches nobile officium sein, daß ein Gericht eine unzulässige oder sonst unhaltbare Vorlage, sobald es dies erkennt, aufhebt und nicht das Bundesverfassungsgericht zur förmlichen Verwerfung zwingt. In diesen Fällen wird das Bundesverfassungsgericht in der Regel durch ein Belehrungsschreiben die Aufhebung anregen“. 92  Zu den verschiedenen Fallkonstellationen Dollinger, in: Umbach / Clemens /  Dollinger, ebd., § 80, Rn. 88. 93  Siehe Tabelle 5, S. 425; hier gerechnet auf den Zeitraum zwischen 2004 und 2013, wobei Verschiebungen durch die Verfahrensdauer außer Acht gelassen werden, da es um einen ungefähren Durchschnittswert geht. 94  Vgl. Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 130.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik425 Tabelle 5 Normenkontrollen durch das Bundesverfassungsgericht seit 200495

95  Quelle: Erstellt auf der Grundlage der amtlichen Jahresstatistiken des Bundesverfassungsgerichts der Geschäftsjahre 2004 bis 2013, www.bundesverfassungs gericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken / 2013 / statistik_2013_node.html (Juli 2015).

426 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

cc) Unmittelbare und mittelbare Überprüfung von Gesetzen im Verfassungsbeschwerdeverfahren Wie die Zusammenstellung in Tabelle 5 zeigt, richten sich von den durchschnittlich zwischen 5.000 und 6.000 im Verfahrensregister eingetragenen Verfassungsbeschwerden pro Jahr96 zwischen 300 und 500 unmittelbar oder mittelbar gegen ein Gesetz oder eine Rechtsnorm. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen ein formelles Gesetz setzt im Rahmen der Beschwerdebefugnis voraus, dass der Beschwerdeführer durch das Gesetz „selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen“ ist.97 Die Unmittelbarkeit der Betroffenheit ist dabei zu verneinen, wenn das Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Praxis einen besonderen Vollzugsakt voraussetzt, also nicht self-executing ist.98 In diesem Fall muss die Beschwerdeführerin zunächst diesen Vollzugsakt angreifen und gegen ihn den fachgerichtlichen Rechtsweg beschreiten sowie gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG grundsätzlich auch ausschöpfen.99 Im Rahmen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus, dass Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz zumutbare fachgerichtliche Möglichkeiten der inzidenten Normenkontrolle in Anspruch nehmen, und zwar selbst dann, wenn das angegriffene Gesetz der Verwaltung und den Gerichten keinen Auslegungs- und Entscheidungsspielraum belässt.100 Damit sind Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen ein Gesetz richten (sogenannte Rechtssatzverfassungsbeschwerden), im Regelfall unzulässig. Relevante Ausnahmen bestehen vor allem bei straf- oder bußgeldbewehrten Normen; hier kann dem Beschwerdeführer ein Verstoß 96  Die Zahl ergibt sich für den Zeitraum von 2004 bis 2013 aus der amtlichen Statistik des Bundesverfassungsgerichts, www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Ver fahren / Jahresstatistiken / 2013 / gb2013 / A-I-4.html (Juli 2015). 97  St. Rspr. seit BVerfGE 1, 97 (101 f.) – Hinterbliebenenrente I; zusammenfassend zur Rspr. Lechner / Zuck, BVerfGG Kommentar, 2011, § 90, Rn. 128 ff. 98  Vgl. Bethge, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, § 90, Rn. 372 ff. (Lfg. März 2010). 99  Zusammenfassend Lechner / Zuck, BVerfGG Kommentar, 2011, § 90, Rn. 131. 100  Dadurch soll gewährleistet werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht über eine abstrakte Rechtsfrage, sondern auf der Grundlage umfassender fachgerichtlicher Vorklärung entscheidet. Über die Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG beziehungsweise die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung ist sichergestellt, dass der Beschwerdeführer letztlich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erlangen kann. Grdl. BVerfGE 74, 69 (74 ff.) – Subsidiarität der Gesetzesverfassungsbeschwerde; sehr weitgehend jetzt BVerfGE 115, 81 (92 ff.) – Rechtsschutz gegen Verordnungen; dazu ausführlich Schenke, Zulässigkeitsprobleme der Rechtssatzverfassungsbeschwerde – Unmittelbare Betroffenheit, Subsidiarität, Rechtswegerschöpfung, Verfassungsbeschwerdefrist, 2009, S. 696 ff.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik427

gegen die fragliche Norm mit der Rechtsfolge einer Strafe oder eines Bußgeldes nicht zugemutet werden.101 Eine gerade in jüngerer Zeit bedeutsame Fallgruppe der mangelnden Zumutbarkeit des fachgerichtlichen Rechtsschutzes betrifft Regelungen zu präventivpolizeilichen Standardmaßnahmen, vor allem, wenn sie heimlich durchgeführt werden beziehungsweise nicht sichergestellt ist, dass die betroffene Person von der Maßnahme überhaupt Kenntnis erlangt.102 Dem Beschwerdeführer werden auch keine Dispositionen zugemutet, die er später nicht rückgängig machen kann;103 auch wird ihm nicht angesonnen, den Erlass unnötiger Vollzugsakte herauszufordern.104 Indem das Bundesverfassungsgericht zudem die Regelung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entsprechend heran­ zieht,105 eröffnet es sich über das Merkmal der „allgemeinen Bedeutung“ einen flexiblen Steuerungszugriff auf unmittelbar angegriffene Normen und Normkomplexe. So hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel im Rahmen eines „Gesamtpakets“ mehrere unmittelbar gegen Regelungen des SGB XI (Pflegeversicherung) erhobenen Verfassungsbeschwerden für zulässig erachtet,106 ohne dies in seinen abschließenden Entscheidungen mit einem einzigen Wort näher zu begründen.107 Die weit überwiegende Zahl der zulässigen Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze und andere Rechtsnormen greifen diese nur mittelbar an, das heißt sie wenden sich unmittelbar gegen Vollzugsakte beziehungsweise fachgerichtliche Entscheidungen, die die beanstandeten Gesetze anwenden. Entsprechend lautet der Antrag nach §§ 90 Abs. 1, 23 Abs. 1 BVerfGG korrekt auf Erhebung einer Verfassungsbeschwerde „unmittelbar gegen das a) Urteil des … vom … – Az. … –, b) Urteil des … vom … – Az. … –, 101  Grdl. BVerfGE 81, 70 (82  f.) – Rückkehrgebot für Mietwagen; vgl. auch BVerfGE 98, 265 (296) – Bayrisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz. 102  Vgl. aus der jüngeren Rspr. nur BVerfGE 109, 279 (307) – Großer Lauschangriff; BVerfGE 113, 348 (362) – Vorbeugende Telekommunikationsüberwachung; BVerfGE 120, 378 (396) – Automatisierte Kennzeichenerfassung; BVerfGE 125, 260 (305) – Vorratsdatenspeicherung. 103  Vgl. BVerfGE 43, 291 (387) – numerus clausus II; BVerfGE 60, 360 (372) – Beitragsfreie Krankenversicherung. 104  Vgl. etwa BVerfGE 110, 370 (382) – Klärschlamm; BVerfGE 123, 148 (172) – Förderung jüdischer Gemeinden in Brandenburg. 105  Vgl. BVerfGE 84, 90 (116  ff.) – Bodenreform I; BVerfGE 90, 128 (137); BVerfGE 93, 319 (338) – Wasserpfennig; BVerfGE 108, 370 (386) – Exklusivlizenz. 106  BVerfGE 103, 242 (257) – Pflegeversicherung III; BVerfGE 103, 271 (286) – Pflegeversicherung IV. 107  Sehr kritisch Bethge, in: Maunz et al., BVerfGG Kommentar, Bd. 2, § 90, Rn. 412 (Lfg. Oktober 2013): nicht flexibles, sondern „beliebig handhabbares, also letztlich manipulierbares Steuerungsprogramm“; dagegen ausführlich Schenke, Zulässigkeitsprobleme der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, 2009, S. 710 ff.

428 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

mittelbar gegen die Bestimmung des § …“.108 Im Erfolgsfall wird das angegriffene Gesetz für (teilweise) nichtig oder mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, die fachgerichtliche Entscheidung gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben und die Sache an das Fachgericht, das heißt in der Regel nur das letztinstanzlich entscheidende Gericht, zurückverwiesen.109 dd) Praxis der Steuerung durch verfassungsgerichtliche Normenkontrolle Nach der amtlichen Statistik des Bundesverfassungsgerichts hat dieses in den sechzig Jahren seiner Judikatur (1951 bis 2013) insgesamt 476 Normen oder Normkomplexe in Bundesgesetzen und -verordnungen sowie 192 Normen der Bundesländer für verfassungswidrig erklärt.110 Allerdings betraf dabei lediglich ein sehr geringer Teil die (teilweise) Nichtig- beziehungsweise Unvereinbarkeitserklärung eines ganzen Gesetzes oder einer Verordnung (nur 48 auf Bundesebene); der Großteil betraf Einzelnormen. Für die ersten zehn Legislaturperioden des Deutschen Bundestages (das heißt von 1949 bis 1987) haben Gawron und Rogowski statistisch ermittelt, dass in etwa jedes achte in dieser Zeit erlassene Bundesgesetz Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung war, wovon wiederum ein Drittel in zumindest einer Einzelnorm vom Bundesverfassungsgericht für ganz oder teilweise verfassungswidrig, das heißt nichtig oder mit dem Grundgesetz unvereinbar, erklärt wurde; letztlich also cum grano salis jedes vierundzwanzigste erlassene Gesetz.111 Gerade wenn man berücksichtigt, dass neue Gesetze und Novellierungen bestehender Gesetze teilweise eine ­große Zahl von unterschiedlichen Vorschriften umfassen und sich die verfassungsgericht­liche Beanstandung ganz überwiegend auf Einzelnormen beschränkt, wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht alles andere als eine umfassende Nachprüfung und Korrektur der Gesetzgebung betreibt, sondern sich ganz im Gegenteil im Rahmen der bei ihm anhängig werdenden Verfahren auf punktuelle Eingriffe beschränkt. Allerdings kamen politisch besonders umstrittene und wichtige Gesetze deutlich häufiger vor das Bundesverfassungsgericht: hier lag die Quote nach von Beyme 108  Gegebenenfalls wird der Antrag vom Bundesverfassungsgericht entsprechend ergänzt. 109  Vgl. zur Frage der Aufhebung und Zurückverweisung bei „Rechtsschutzketten“ Stark, in: Umbach et al., BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 2005, § 95, Rn. 46; vgl. auch oben unter E. I. 1. b). 110  Siehe Tabelle 6, S. 429. 111  Vgl. Gawron / Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S.  133 f.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik429 Tabelle 6 In der Zeit von 1951 bis Ende 2013 als verfassungswidrig beanstandete Normen (nichtig, unvereinbar und nichtig, nur unvereinbar ohne Nichtigerklärung)112

112  Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de / DE / Verfahren / Jahresstatistiken /  2013 / gb2013 / A-VI.html (Juli 2015).

430 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

sogar bei vierzig Prozent.113 Von einem „Jurisdiktionsstaat“114 kann, wie auch die Statistik zeigt, dennoch keine Rede sein. Betrachtet man die Politikfelder, in denen das Bundesverfassungsgericht Gesetze für nichtig oder unvereinbar erklärt hat, so lag im Zeitraum von 1951 bis 1991, für den entsprechende Auswertungen existieren, die Sozialpolitik mit Abstand vorn (61 beanstandete Gesetze), gefolgt von der Steuer- und Finanzpolitik (35) und der Rechtspolitik (29). Die Bereiche der Wirtschafts(12), Verkehrs- (9) und Bildungspolitik (7) bleiben ebenso wie die Arbeitsmarktpolitik (6) weit hinter den drei großen Feldern verfassungsgerichtlicher ‚Intervention‘ zurück.115 Leider liegen keine aktuellen Erhebungen vor, die den Zeitraum seit 1991 aussagekräftig erfassen. Allerdings dürften sich die Gewichte nochmals deutlich in Richtung der Steuerpolitik verschoben haben, da seit Beginn der 1990er Jahre ein „steuerpolitischer Aktivismus“116 des Bundesverfassungsgerichts zu beobachten ist. Obwohl gerade bei Steuerverfahren seit jeher ein relativ hoher Mobilisierungsgrad besteht,117 waren Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen gegen steuerrechtliche Entscheidungen bis in die 1990er Jahre nur durchschnittlich erfolgreich.118 Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber in Bezug auf Steuererhebung und -bemessung einen recht weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum belassen.119 Seit den 1990er Jahren wurden dann hauptsächlich vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts grundlegende verfassungsrechtliche Neuerungen und Verschärfungen der Kontrollmaßstäbe im Steuer- und Abgaben(verfassungs)recht vorgenommen,120 welche unter anderem die Frei113  von

Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 302 ff. oben unter C. IV. 2. c). 115  von Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 303, Tabelle 17.1. 116  Deters / Krämer, Der steuerpolitische „Aktivismus“ des Bundesverfassungsgerichts als pfadabhängige Entwicklung, 2011, S. 8; vgl. auch Köppe, Bundesverfassungsgericht und Steuergesetzgebung – Politik mit Mitteln der Verfassungsrechtsprechung?, 2006. 117  Vgl. Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, 1995, S.  110; siehe bereits Blankenburg / Treiber, Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1982, S. 544. 118  Vgl. Blankenburg, Unsinn und Sinn des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden, 1998, S. 49, Tab. 5; die Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden gegen Steuerentscheidungen lag zwischen 1955 und 1995 bei 2 Prozent und damit sogar unter dem Durchschnitt von 2,57 Prozent aller erfolgreichen Verfassungsbeschwerden. 119  Vgl. unter anderem BVerfGE 21, 12; 43, 58; 43, 108; 48, 102; 50, 386; 65, 325; 74, 182; siehe aber auch die Fälle, in denen das Gericht die Verfassungswidrigkeit von Steuerbestimmungen festgestellt hat, insbesondere bei Verstoß gegen Art. 3 GG, unter anderem BVerfGE 23, 1; 25, 101; 28, 227; 30, 90; 47, 1; 61, 319; 68, 143; 66, 217. 120  Vgl. die Darstellung bei Deters / Krämer, Der steuerpolitische „Aktivismus“ des Bundesverfassungsgerichts als pfadabhängige Entwicklung, 2011, S. 18 ff. 114  Siehe



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik431

stellung des steuerrechtlichen Existenzminimums,121 die verfassungsrecht­ lichen Grenzen der Vermögens- und Erbschaftssteuer,122 Abfallabgaben und kommunale Verpackungssteuer123 sowie verschiedene Entscheidungen zur horizontalen und vertikalen Steuergerechtigkeit, insbesondere die weitergehende Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten,124 betrafen. Eine ganze Reihe von abgaben- und steuerrechtlichen Vorschriften wurde für verfassungswidrig erklärt.125 Diese Tendenz hat sich bis in jüngste Zeit fortgesetzt,126 sodass die Steuer- und Finanzpolitik bei den vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Unvereinbarkeits- und Nichtigkeitserklärungen heute mit der Sozialpolitik zumindest gleichauf liegen dürfte.127 e) Weitergehende Steuerung: Gesetzgebungsaufträge und Vorwirkungen im parlamentarischen Verfahren aa) Primär- und Sekundäradressaten von Gesetzgebungsaufträgen Soweit das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz gemäß § 78 BVerfGG für nichtig oder mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, tritt die Rechtsfolge der Nichtigkeit beziehungsweise Unanwendbarkeit automatisch ein und hat „Gesetzeskraft“ im Sinne von § 31 Abs. 2 BVerfGG. Ebenso verbindlich sind die Gesetzgebungsaufträge, die mit einer Unvereinbarkeitserklärung verbunden sind. Primäradressat ist hier ‚der‘ Gesetzgeber, das heißt der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung als zur Gesetzgebungsinitiative berechtigte Verfassungsorgane (beziehungsweise bei Länder121  BVerfGE 122  BVerfGE

87, 153 – Einkommenssteuerrechtliches Existenzminimum. 93, 121 – Einheitswerte Vermögensteuer; BVerfGE 92, 165 – Erb-

schaftssteuer. 123  BVerfGE 98, 83 – Abfallabgaben; BVerfGE 98, 106 – Kommunale Verpackungssteuer. 124  BVerfGE 99, 214 – Kinderbetreuungskosten; BVerfGE 99, 273 – Kinderleistungsausgleich. 125  Weitere Entscheidungen unter anderem: BVerfGE 84, 239 – Zinsbesteuerung; BVerfGE 91, 186 – Kohlepfennig; BVerfGE 99, 88 – Verlustabzug. Diese Rechtsprechung hat natürlich eine ganze Reihe neuer Richtervorlagen und Verfassungsbeschwerden geradezu herausgefordert, vgl. zu dieser „verstärkenden Tendenz“ auch Deters / Krämer, Der steuerpolitische „Aktivismus“ des Bundesverfassungsgerichts als pfadabhängige Entwicklung, 2011, S. 18. 126  Etwa BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale; BVerfGE 122, 316 – Absatzfondsgesetz; BVerfGE 125, 1 – Halbeinkünfteverfahren; BVerfGE 126, 268 – häusliches Arbeitszimmer; BVerfGE 127, 1 – „Spekulationsfrist“ bei Veräußerung von Grundstücken; BVerfGE 127, 31 – steuerliche Entlastung von Entschädigungen für entgangene Einnahmen. 127  Zur Kritik siehe oben unter D. I. 3. g).

432 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

gesetzen die entsprechenden Landesverfassungsorgane). Gawron und Rogowski weisen allerdings mit Recht darauf hin, dass die Gesetzgebungsorgane in erster Linie in „symbolischer Weise“ angesprochen werden, während die instrumentelle Seite des Gesetzgebungsauftrags auf Sekundäradressaten zielt, welche „die eigentlichen Umsetzungsakteure darstellen“.128 Dies sind die Bundesregierung, das Fachministerium und hier besonders das im jeweiligen Ministerium zuständige Fachreferat. So stellen die Autoren fest: „Mit dem instrumentellen Teil des Gesetzgebungsauftrags wird somit das Verfahren gesteuert, das vom Fachreferat ausgehend zur Erstellung des neuerlichen Regierungsentwurfs führt.“129 In diesem Verfahren kommt auch den sogenannten Verfassungsrechtsreferaten der Bundesministerien der Justiz und des Inneren eine herausgehobene Bedeutung zu: Sie treten, aufgrund ihrer genauen Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit einer hohen Kompetenz in verfassungsrechtlichen Fragen ausgestattet, sozusagen als unmittelbare Interpreten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachreferaten des eigenen Hauses und anderer Ministerien auf und sind daher wesentliche Akteure bei der Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht erteilten Gesetzgebungsaufträge.130 Auch in Bezug auf die Vorwirkungen131 der verfassungsrechtlichen Bewertung in anderen Gesetzgebungsverfahren haben sie eine nicht zu unterschätzende Funktion. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einer (möglichen) Gesetzesvorlage ist ein zentraler Punkt der Rechtsförmlichkeitsprüfung, bevor eine Gesetzesinitiative der Bundesregierung in das parlamentarische Verfahren eingebracht wird.132 Verfassungsrechtsreferate leisten dabei eine ‚Risikoabschätzung‘ im Hinblick auf die Angreifbarkeit geplanter Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht und tragen damit die vom Gericht entwickelten Maßstäbe in den sehr wichtigen Bereich der ministerialen Vorbereitung und Ausarbeitung von Gesetzesvorhaben, noch bevor sie in das parlamentarische Verfahren eingebracht werden. bb) Vorwirkungen im politischen Prozess Auch im parlamentarischen Verfahren selbst kann es zu entsprechenden Vorwirkungen der verfassungsrechtlichen Kontrolle kommen. So können 128  Gawron / Rogowski,

Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 144 f. S. 145. 130  Ebd., S. 146. 131  Vgl. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 51 f. 132  Bundesministerium der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 2009, Teil A, Rn. 51.; siehe dazu auch Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 305. 129  Ebd.,



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik433

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit zu Entwurfsänderung im Zuge der Ausschussberatungen führen; oft bleiben sie aber ohne „legislatorische Durchschlagskraft“.133 Die „Drohung mit dem Gang nach Karlsruhe“ gehört bei wichtigen politisch umstrittenen Gesetzen zum argumentativen Repertoire der Opposition,134 wenngleich – wie gesehen – abstrakte Normenkontrollanträge in der Praxis äußerst selten vorkommen. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass derartige politische ‚Drohungen‘ selten geeignet sind, Gesetzesinitiativen schon im parlamentarischen Verfahren zum Scheitern zu bringen. Sie können sogar, im Gegenteil, zu einer „Selbstvergewisserung des Parlaments“ gegenüber dem „Gegen-Gesetzgeber“ aus Karlsruhe führen.135 Die Konstellation, in der eine Vorwirkung und Beeinflussung des parlamentarischen Prozesses tatsächlich, und zwar in gravierendem Maße, stattfindet, sind Fälle, in denen das Parlament vom Bundesverfassungsgericht explizit zu einer Neuregelung unter Beachtung der von ihm entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe verpflichtet wird, wie es beispielsweise bei der Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsverfahrens nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1978136 oder der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB)137 jeweils der Fall war. Eine ähnlich gravierende Wirkung auf den weiteren politischen Prozess hatte, wenn auch nicht explizit vom Gericht vorgegeben, die Unvereinbarkeitserklärung der Einheitswertbesteuerung im Vermögenssteuergesetz durch den Beschluss des Zweiten Senats vom Juni 1995.138 Infolge der Entscheidung wurde die Erhebung der Vermögensteuer ausgesetzt und – unter Berufung auf die vom Bundesverfassungsgericht in obiter dicta geforderten Ausgestaltungsrestriktionen (Sollertragssteuer, Halbteilungsgrundsatz) – auf eine Wiedereinführung durch Neuregelung verzichtet.

133  Schulze-Fielitz, Parlamentarische Gesetzgebung, 1988, S. 543 ff., mit etlichen Beispielen aus der 9. Legislaturperiode. 134  von Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 306 f. 135  So ebd., S. 309 f. 136  BVerfGE 48, 127; ausführlich dazu Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 63 ff., 69: „Über eine Neuregelung der Kriegsdienstverweigerung konnten sich nach dem Veto aus Karlsruhe SPD / FDP und CDU / CSU nicht einigen. Über Jahre war damit eine Reform auf Eis gelegt und die Parlamentarier stritten sich darum, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren sei.“ 137  Vgl. zur Neuregelung nach der ersten Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung 1976 BVerfGE 39, 1, Landfried, ebd., S. 93 ff.; zur politischen Debatte nach der zweiten Entscheidung 1993, BVerfGE 88, 203, von Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S.  308 f. 138  BVerfGE 93, 121 – Einheitswerte Vermögensteuer.

434 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

f) Zwischenfazit: Die spezifische Steuerungsfunktion gegenüber Fachgerichten und Gesetzgebung Halten wir fest: Durch die Konkretisierung der Grundrechte entfaltet das Bundesverfassungsgericht eine spezifische Steuerungswirkung gegenüber der Gesetzgebung beim Erlass von Normen beziehungsweise der Fachgerichtsbarkeit bei deren Auslegung und Anwendung. Diese Steuerung der Rechtsordnung zielt mittelbar auf eine Sozialsteuerung im Sinne der rechtlichen Effektuierung materialer Grundrechtsgehalte. Am Beispiel der Judikatur zur Versammlungsfreiheit wurde aufgezeigt, dass die Steuerung der Rechtssetzung und -anwendung insofern sozialsteuernde Wirkung entfaltet, als sie auf der Ebene von Regelungsstrukturen die Bedingungen des Freiheitsgebrauchs festlegt und absichert. Nach der vom Bundesverfassungs­ gericht geforderten Auslegung im Sinne höchstmöglicher „rechtlicher Wirkungskraft“139 soll die Rechtsordnung in der Weise an den Zielen der Grundrechte „ausgerichtet“140 werden, dass sie auch in der sozialen Wirklichkeit wirksam werden (können). Die Steuerung der Verwaltung erfolgt in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts in der Regel mittelbar über die Steuerung der fachgerichtlichen Rechtsprechung, wobei sich mitunter Steuerungsdefizite zeigen, die zu einem Überdenken der Tenorierungs- und Zurückverweisungspraxis führen könnten. Die inhaltliche Steuerung der Fachgerichtsbarkeit erfolgt über die Entwicklung dogmatischer Maßstäbe, wie dies am Beispiel der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit illustriert wurde. Dabei entstehen praktisch handhabbare dogmatische Anwendungs- und Entscheidungsregeln, die den Fachgerichten bereichs- und problembezogene Vorgaben machen und im Rahmen der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden. Verfassungsgerichtliche Interventionen in die Rechtsprechung der Fachgerichte beschränken sich in der Regel auf punktuelle, richtungsweisende Eingriffe im Sinne der dogmatischen Maßstabsbildung, welche dann von den Gerichten oftmals ohne weitere Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht umgesetzt und konkretisierend fortentwickelt wird. Nur selten kommt es dazu, dass die Fachgerichte sich bestimmten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts widersetzen, wobei diesem dann die Möglichkeit offensteht, im Zuge weiterer Entscheidungen, insbesondere über die Kammern, seine Rechtsprechungslinie und damit seine verfassungsrechtliche Deutungsmacht durchzusetzen.

139  Zur Entwicklung dieses Grundsatzes im Haushaltsbesteuerungsbeschluss siehe oben unter B. II. 4. c). 140  Siehe oben unter B. II. 5.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik435

Die Steuerung der Gesetzgebung erfolgt im Rahmen der Normenkontrolle, wobei abstrakte Normenkontrollverfahren im Verhältnis selten vorkommen. Deutlich häufiger sind Kontrollvorlagen der Fachgerichte, wobei die weit überwiegende Anzahl dieser Vorlagen an den hohen Darlegungserfordernissen scheitert. Dennoch machen Verfahren der konkreten Normenkontrolle einen bedeutenden Anteil an der Senatsrechtsprechung zu den Grundrechten aus. Hingegen scheitern Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten, in der Regel am Grundsatz der Subsidiarität, da das Bundesverfassungsgericht hier eine Anrufung der Fachgerichte – mit Ausnahmen, etwa für straf- oder bußgeldbewehrte Gesetze – auch dann verlangt, wenn die angegriffenen Normen keines weiteren Anwendungsaktes durch die Verwaltung bedürfen. In der Regel sind daher nur mittelbare Angriffe gegen Normen zulässig, wobei sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die normanwendenden Gerichtsentscheidungen richtet. Hält das Bundesverfassungsgericht die angegriffenen Normen für ganz oder teilweise verfassungswidrig, so kann es für die Steuerung des Gesetzgebers mittlerweile auf eine Vielzahl von Instrumenten zurückgreifen, die teilweise im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen sind und im Übrigen vom Gericht selbst in seiner Entscheidungspraxis entwickelt wurden. Diese reichen von der (teilweisen) Nichtigerklärung über die Unvereinbarkeitserklärung bis hin zu Gesetzgebungs-, Kontroll- und Prüfungsaufträgen und Appellentscheidungen. Insgesamt gesehen zeigt sich, dass sich das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen der Normenkontrolle auf einzelne verfassungsrechtliche Interventionen beschränkt und der Politik in der Regel einen weiten Gestaltungsspielraum belässt. Als Politikfelder, in denen das Bundesverfassungsgericht besonders häufig Gesetze für verfassungswidrig erklärt hat, sind in erster Linie die Sozialpolitik und die Steuer- und Finanzpolitik, gefolgt von der Rechtspolitik zu nennen, wobei die verfassungsgerichtlichen Interventionen im Bereich der Steuerpolitik in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben. Primäradressaten der Steuerung durch Normkontrollen sind die Gesetzgebungsorgane beziehungsweise die Regierungen als berechtigte Initiativorgane. Sekundäre Adressaten sind die jeweiligen Fach- sowie die Verfassungsrechtsreferate, die die Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht erteilten Gesetzgebungsaufträge inhaltlich vorbereiten. Schon im Vorfeld von Gesetzesvorhaben wird im Rahmen der Rechtsprüfung die Frage der Verfassungsmäßigkeit der beabsichtigten Regelungen behandelt, wobei den Verfassungsrechtsreferaten wiederum eine wichtige Position zukommt. Auch kann es zu Vorwirkungen im parlamentarischen Prozess kommen. Auf den beschriebenen Wegen gelingt es dem Bundesverfassungsgericht mittels seiner Deutungsmacht das Handeln der Fachgerichte und der ver-

436 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

schiedenen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Akteure anhand der von ihm entwickelten Maßstäbe zu steuern. 2. Normkonkretisierung als Vermittlungsaufgabe zwischen Normdeutung und dogmatischer Steuerung – am Beispiel der Rechtsprechung zur Privatautonomie Als wesentliche Bestandteile der Grundrechtsinterpretation wurden mit Blick auf die Methodik in den vorangehenden Abschnitten die Elemente der Konkretisierung und Steuerung herausgearbeitet. Im Folgenden sollen diese Elemente anhand einer konkreten Entwicklungslinie in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, der Rechtsprechung zur Privatautonomie, in ihrem Zusammenspiel und ihrer praktischen Relevanz näher dargestellt werden. Hierbei sollen die grundrechtsdogmatischen und -theoretischen Fragen der Privatautonomie-Rechtsprechung nicht im Vordergrund stehen,141 sondern vielmehr der Prozess der Herausbildung einer bestimmten maßstabsetzenden grundrechtlichen Dogmatik, die, wie gezeigt werden soll, auf eine problembezogene Vermittlung zwischen Normkonkretisierung und Steuerung der fachgerichtlichen Rechtsprechung angelegt ist. Während schon früh weitgehende Einigkeit dahingehend bestand, dass die Vertragsfreiheit auch ohne normtextliche Erwähnung im Grundgesetz grundrechtlich gewährleistet ist, war die verfassungsgerichtliche Kontrolltätigkeit in diesem Bereich bis Ende der 1980er Jahre relativ gering.142 Normativ verankert sah das Bundesverfassungsgericht die Vertragsfreiheit bereits in seiner frühen Rechtsprechung in Art. 2 Abs. 1 GG,143 in Bezug auf Dienst- und Arbeitsverträge sowie vergütungsrechtliche Regeln für Berufsgruppen betrachtete es sie auch als Bestandteil der (spezielleren) Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.144 In der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG verortete das Bundesverfassungsgericht die Vertragsfreiheit in Bezug auf Nutzungs- und Veräußerungsverträge wie die Wohnraummiete.145 Bis zur Handelsvertreter141  Vgl. hierzu aus der jüngeren staatsrechtlichen Literatur nur Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 131 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 53  ff.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S.  165 ff.; Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 22 ff., 57 ff. 142  Vgl. die ausführlich Darstellung bei Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 280, 283 ff. 143  Vgl. BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 25, 371 (407); st. Rspr.; weitere Nachweise bei Dreier, in: Dreier, GG Kommentar I, 2004, Art. 2 I, Rn. 38. 144  Vgl. BVerfGE 47, 285 (318 ff.); 53, 1 (15 ff.); 57, 139 (158 ff.); st. Rspr.; weitere Nachweise bei Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 285: Nicht immer ist ausdrücklich, wohl aber der Sache nach von Vertragsfreiheit die Rede.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik437

Entscheidung im Jahr 1990 hatte das Bundesverfassungsgericht indes keinen Anlass, sich zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Vertragsfreiheit und den daraus folgenden Anforderungen ausführlicher zu äußern. 145

a) Semantische Kämpfe um das ‚richtige Verständnis‘ der Privatautonomie in der Zivilrechtswissenschaft In der Zivilrechtswissenschaft war das Konzept der Vertragsfreiheit oder weitergehend der Privatautonomie seit den 1960er und -70er Jahren im Wandel. Vereinfacht lässt sich sagen, dass dem überkommenen formal-liberalen Verständnis eine an materialer Gerechtigkeit ausgerichtete Lesart im Sinne einer „sozialen Vertragsethik“ (Wieacker146) gegenüber gestellt wurde, die ökonomische und soziale Gleichheit der Vertragspartner (etwa Zweigert147) oder die Möglichkeit tatsächlicher Selbstbestimmung (etwa Flume148) als notwendige Voraussetzung privatautonomen Handelns ansah.149 In diesem Sinne wurde hervorgehoben, dass der privatautonome Wille des Schutzes durch die Rechtsordnung bedürfe, weshalb bei fehlender tatsäch­ licher Selbstbestimmung eine Inhaltskontrolle von Verträgen beziehungs­ weise zwingende Vorschriften zum Schutz eines Vertragspartners erforderlich seien. Das Prinzip ausgleichender Vertragsgerechtigkeit, das die Vertragsfreiheit trage, fordere prinzipiell eine Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung sowie die gerechte Verteilung der mit einem Austauschvertrag verbundenen Lasten.150 Die Vertreter eines formal-liberalen Verständnisses, das vor allem in den 1980er und -90er Jahren, einer Phase der „Rückbesinnung des Zivilrechts auf das liberale Modell der Vertragsfreiheit“151, wieder deutlichen Zuspruch erfuhr, betonten und betonen demgegenüber den formalen Charakter der Selbstbestimmungsfreiheit im Rechtsverkehr, die durch eine Aufladung mit materialen Gerechtigkeitsprinzipien überladen werde, sodass sie ihre Entlastungsfunktion für den Staat, ihre Antriebs- und Selbstverwirklichungsfunktion für Private und ihr Potential für flexible, individuellen Bedürfnissen gerecht wer145  Vgl. BVerfGE 21, 87 (90 f.); 37, 132 (140 ff.); 49, 244 (247 ff.); st. Rspr.; eine knappe Zusammenfassung der eigentumsgrundrechtlichen Anforderungen an das Mieterschutzrecht bietet Wendt, in: Sachs, GG Kommentar, 2011, Art. 14, Rn. 137 ff. 146  Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 47. 147  Zweigert, „Rechtsgeschäft“ und „Vertrag“ heute, 1969, S. 503 f. 148  Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, 1960, S. 141 ff.; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2 – Das Rechtsgeschäft, 1979, § 1, 7. 149  Vgl. die Nachweise bei Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S.  141 ff. 150  Limbach, Das Rechtsverständnis in der Vertragslehre, 1985, S. 13 m. w. N. 151  Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 153.

438 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

dende Regelungen verliere.152 Der materialen Konzeption wird von dieser Richtung vor allem entgegengehalten, dass sie zu einer sozialstaatlichen ‚Überfrachtung‘ des Zivilrechts führe und geradezu beliebige Forderungen materialer Gerechtigkeit an dieses herantrage, die es nicht oder nur unter Aufgabe tragender Prinzipien wie Autonomie und Rechtssicherheit erfüllen könne.153 Auch von den Vertretern der formal-liberalen Lesart wird zwar die soziale Bedingtheit selbstbestimmten rechtsgeschäftlichen Handelns grundsätzlich nicht in Abrede gestellt, die Aufgabe der sozialpolitischen Korrektur wird allerdings hauptsächlich beim Gesetzgeber im Rahmen seines sozialstaatlichen Auftrags, etwa in den Bereichen der Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung, verortet;154 jenseits davon vertraut man auf die selbstregulierenden Kräfte eines funktionierenden Marktes.155 Einer weitergehenden Inhaltskontrolle von Verträgen stehen die Vertreter dieser Konzeption von Privatautonomie skeptisch bis klar ablehnend gegenüber.156 Zwingende Regelungen zum Schutz bestimmter Gruppen wie auch Verbraucherschutzvorschriften erscheinen dann auch nicht als inhärenter Bestandteil der Verwirklichung von Privatautonomie im Sinne der Sicherung tatsächlicher Entscheidungsfreiheit, sondern als rechtfertigungsbedürftige normative Grenzsetzungen.157 Die Auseinandersetzung um das „richtige Verständnis der Vertragsfrei­ heit“158 stellt damit geradezu ein Paradebeispiel eines ‚semantischen Kampfes‘ im juristischen Diskurs159 dar, in welchem die Parteien jeweils versuchen, den normativen Begriff der Privatautonomie im Sinne einer bestimmten Deutungsvariante zu konkretisieren und die jeweilige Deutung „als Ausdruck spezifischer, interessengeleiteter und handlungsleitender Denkmuster durchzusetzen“.160 152  Vgl. Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 18 ff. 153  s. die Nachweise bei Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 153 ff. 154  Zur Verlagerung der staatlichen Gewährleistung von Bedingungen zur Ausübung realer Freiheit in das objektive Sozialstaatsprinzip im Sinne der liberalen Abwehrrechtstheorie vgl. oben unter C. IV. 2. f). 155  Statt vieler Wackerbarth, Unternehmer, Verbraucher und die Rechtfertigung der Inhaltskontrolle vorformulierter Verträge, 2000, S. 56. 156  Etwa Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, 1996, S. 31  ff. m. w. N. 157  In diesem Sinne statt vieler etwa Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2006, Rn. 104 f.; Paulus / Zenker, Grenzen der Privatautonomie, 2001, S.  2 ff. 158  Limbach, Das Rechtsverständnis in der Vertragslehre, 1985, S. 10. 159  Vgl. oben unter C. II. 4. 160  Felder, Semantische Kämpfe außerhalb und innerhalb des Rechts, 2010, S. 544; zum Konzept des semantischen Kampfes auch Felder, Juristische Textarbeit, 2003, S. 180 ff. anhand eines Beispiels aus dem Strafrecht.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik439

b) Die Handelsvertreter-Entscheidung vom 7. Februar 1990 Vor dem Hintergrund der kontroversen zivilrechtlichen Diskussion um Inhalt und Grenzen der Privatautonomie ist der Handelsvertreter-Beschluss des Ersten Senats vom Februar 1990, der von Richter Dieterich, zuvor Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht und dessen späterer Präsident, als Berichterstatter vorbereitet wurde, von richtungsweisender Bedeutung. Der Senat hatte in diesem Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit des § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB in der damals geltenden Fassung zu befinden.161 Die Vorschrift des § 90a HGB sieht grundsätzlich zwingende Regelungen für den Fall einer Vereinbarung vor, mit der sich ein Handelsvertreter gegenüber seinem Auftraggeber verpflichtet, nach Beendigung des Vertragsverhältnisses nicht in Konkurrenz zu diesem tätig zu werden (sogenannte Wettbewerbsabrede). Da Handelsvertreter in der Regel von den Unternehmern, für die sie tätig werden, mehr oder weniger wirtschaftlich abhängig sind, sah es der Gesetzgeber als erforderlich an, sie vor nachteilhaften vertraglichen Abreden zu schützen.162 So ist die vertragliche Vereinbarung eines Wettbewerbsverbots nach § 90a Abs. 1 HGB nur für einen Zeitraum von höchstens zwei Jahren und grundsätzlich nur gegen Zahlung einer „angemessenen Entschädigung“ seitens des Unternehmers zulässig. Eine Ausnahme statuierte der zur Überprüfung stehende § 90 Abs. 2 Satz 2 HGB a. F. indes für den Fall, dass der Unternehmer das Vertragsverhältnis „aus wichtigem Grund wegen schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters“ kündigte; hier sollte der Handelsvertreter keinen Anspruch auf Entschädigung erhalten.163 Die Vorschrift wurde vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung für mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Der Entscheidung lag die Verfassungsbeschwerde eines Mannes zugrunde, der als Handelsvertreter bei dem im Ausgangsverfahren klagenden Unternehmen tätig gewesen war. Im Rahmen des Handelsvertretervertrags hatte er eine Klausel unterzeichnet, wonach er sich verpflichtete, für den Fall der Kündigung aus einem von ihm verschuldeten wichtigen Grund für die Dauer von zwei Jahren „jede Tätigkeit für ein Konkurrenzunternehmen zu unterlassen“. Als er Anfang des Jahres 1980 zu einem Konkurrenzunternehmen wechselte, ohne zuvor den Vertrag mit dem bisherigen Unternehmer zu kündigen, kündigte ihm dieser seinerseits aus wichtigem Grund und nahm den Beschwerdeführer auf Unterlassung in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab der Klage in zweiter Instanz statt. Die Revision des Beschwerdeführers wurde vom Bundesgerichtshof mit der Begründung zurück161  BVerfGE

81, 242. 81, 242 (256 f.). 163  BVerfGE 81, 242 (244). 162  BVerfGE

440 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

gewiesen, die Konkurrenzklausel sei formgültig vereinbart worden und auch insoweit rechtswirksam, als sie eine Karenzentschädigung nicht vorsah. Dass ihr Anwendungsbereich von vornherein auf Fallgestaltungen beschränkt worden sei, für die nach § 90 Abs. 2 Satz 2 HGB keine Entschädigung geschuldet werde, halte sich in dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Interessenausgleich.164 Zu Beginn seiner Entscheidungsbegründung stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die angegriffenen Urteile des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs den Beschwerdeführer in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG beschränken und als zivilgerichtliche Entscheidungen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, wie es seit Lüth ständige Rechtsprechung ist.165 Das Bundesverfassungsgericht beschränke seine Prüfung dabei auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.166 In diesem Zusammenhang hebt der Erste Senat hervor, dass die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers durch das Wettbewerbsverbot und die es bestätigenden Gerichtsentscheidungen in besonders starker Weise betroffen sei. In Wirklichkeit komme die Unterlassungspflicht wegen ihrer gegenständlichen und räumlichen Weite für den Beschwerdeführer einem Berufsausübungsverbot innerhalb der Branche gleich.167 Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Beeinträchtigung kommt das Bundesverfassungsgericht dann auf den Kernpunkt des Falles zu sprechen, die inhaltliche Kontrolle des vom Beschwerdeführer mit dem Unternehmer abgeschlossenen Handelsvertretervertrags. Denn der Beschwerdeführer hatte der „entsprechenden Verpflichtung“ selbst „vertraglich zuge­ stimmt“.168 Auf einer grundsätzlichen Ebene argumentiert nun das Bundesverfassungsgericht, dass eine berufliche Tätigkeit in der Regel damit verbunden sei, Bindungen auf Zeit oder auf Dauer einzugehen. Im Rahmen des Zivilrechts geschehe das typischerweise durch Verträge, in denen die Vertragspartner ihre Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich regelten. Der Staat habe diese Regelungen im Rahmen der Privatautonomie grundsätzlich zu respektieren.169 An dieser Stelle der Begründung beginnt der eigentliche Maßstäbeteil der Entscheidung,170 in welchem sich der Senat eingehend mit 164  BVerfGE

81, 242 (245 ff.). Lüth-Entscheidung, insbesondere auch zur Grundrechtsgeltung im Privatrecht oben unter B. II. 4. d) bb). 166  Dazu unter D. II. 2. a). 167  BVerfGE 81, 242 (253); zur Entwicklung der Stufentheorie in der Apotheken-Entscheidung oben unter B. II. 4. e). 168  BVerfGE 81, 242 (253 f.). 169  BVerfGE 81, 242 (254). 170  Vgl. dazu oben unter E. I. 1. b). 165  Zur



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik441

der verfassungsrechtlichen Bedeutung und den daraus folgenden Bindungen der Privatautonomie befasst. In dem semantischen Feld möglicher (Be-) Deutungen der Privatautonomie entscheidet sich das Gericht für ein Verständnis, das die sozialen Bedingungen des Freiheitsgebrauchs – in der Terminologie der Bundesverfassungsgerichtentscheidung: „die Bedingungen freier Selbstbestimmung“171 – zentral in den normativen Gehalt der Grundrechtsgewährleistung einbezieht. Es konkretisiert sein materiales Grundrechtsverständnis für den Bereich des rechtsgeschäftlichen Handelns, indem es die objektiven Grundrechtsgehalte als Ausgestaltungsauftrag für die Gesetzgebung und Fachgerichte hervorhebt.172 Diese hätten zu gewährleisten, dass nur solche rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen vor der Rechtsordnung Anerkennung finden, die „grundsätzlich auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhen“ – hier wird der funktionale Freiheitsbezug der objektiven Gehalte deutlich herausgearbeitet173 – und unter diesen Bedingungen einen „sachgerechten Interessenausgleich ermöglichen“. Im Einzelnen heißt es in der Entscheidung: Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Wo es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt, ist mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten. Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtlich verbürgte Positionen verfügt wird, müssen staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern (vgl. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 37 f.; Badura, Arbeit als Beruf [Art. 12 Abs. 1 GG], in: Festschrift für Wilhelm Herschel, 1982, S. 21 [34]). Gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, verwirklichen hier die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1  GG).174

Die verschiedenen Elemente der problembezogenen Vorgehensweise werden bei der Maßstabsbildung des Bundesverfassungsgerichts deutlich sichtbar: So nimmt es im Wege der Konstitutionalisierung175 des Vertragsrecht eine Konkretisierung176 des Begriffs „Privatautonomie“ in seinem grundrechtlich-normativen Gehalt vor. Es setzt im semantischen Kampf177 um das richtige Verständnis der Privatautonomie im Rahmen seiner Deutungs171  BVerfGE

81, 242 (255). oben unter D. I. 3. e). 173  Vgl. oben unter D. I. 2. 174  BVerfGE 81, 242 (255). 175  Vgl. oben unter B. II. 5. 176  Vgl. oben unter C. II. 1. 177  Vgl. oben unter C. II. 4 und E. I. 2. a). 172  Vgl.

442 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

macht178 und im Einklang mit seinem materialen Grundrechtsverständnis179 eine im juristischen Diskurs180 vertretene materiale Bedeutungsweise gegenüber dem Gesetzgeber und den Fachgerichten durch. Zugleich trifft das Gericht eine Steuerungsentscheidung181, mit der es die Gesetzgebung, aber auch die Fachgerichte dazu verpflichtet, die (formale) Vertragsfreiheit bei Vorliegen „realer Ungleichgewichtslagen“ zwischen den Vertragspartnern zu begrenzen beziehungsweise derartige Ungleichgewichte zu kompensieren. Die Einbeziehung realer Ungleichgewichtslagen, also des sozialen Kontextes der zu bewertenden vertraglichen Interaktion – hier der Machtasymmetrie zwischen den Vertragsschließenden –, verweist bereits auf das dritte zentrale Element der problembezogenen Vorgehensweise, die Kontextualisierung.182 Bei seiner Maßstäbebildung183 folgt das Gericht dem dargestellten Modell der funktionellen Aufgabenteilung184, indem es dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seines (objektiven) Ausgestaltungsauftrags grundsätzlich einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum185 einräumt und seine Kontrolle auf „offensichtliche Fehlentwicklungen“ beschränkt: Der Verfassung läßt sich nicht unmittelbar entnehmen, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, daß die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden muß. Auch lassen sich die Merkmale, an denen etwa erforderliche Schutzvorschriften ansetzen können, nur typisierend erfassen. Dem Gesetzgeber steht dabei ein besonders weiter Beurteilungs- und Gestaltungsraum zur Verfügung. Allerdings darf er offensichtlichen Fehlentwicklungen nicht tatenlos zusehen. Er muß dann aber beachten, daß jede Begrenzung der Vertragsfreiheit zum Schutze des einen Teils gleichzeitig in die Freiheit des anderen Teils eingreift. Wird die Zulässigkeit von Vertragsklauseln mit Rücksicht auf die Berufsfreiheit der für einen Unternehmer tätigen Vertragspartner eingeschränkt, bewirkt das einen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung des Unternehmers. Der Gesetzgeber muß diesen konkurrierenden Grundrechtspositionen ausgewogen Rechnung tragen. Auch insoweit besitzt er eine weite Gestaltungsfreiheit.186

Auf der Rechtsanwendungs-Ebene nimmt das Bundesverfassungsgericht zugleich die Fachgerichte im Rahmen der Ausstrahlungswirkung187 über die verfassungsgerichtliche Kontrolle von spezifischem Verfassungsrecht188 178  Vgl.

oben unter B. II. 3. oben unter B. II. 4. 180  Vgl. oben unter C. II. 4. 181  Vgl. oben unter E. I. 1. 182  Dazu im Folgenden unter E. II. 183  Vgl. oben unter E. I. 1. c). 184  Vgl. oben unter D. II. 2. 185  Vgl. oben unter D. II. 2. a). 186  BVerfGE 81, 242 (255). 187  Vgl. oben unter D. I. 3. b). 188  Vgl. oben unter D. II. 2. d). 179  Vgl.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik443

in die Verantwortung und verweist dabei nochmals explizit auf die Grundsätze der Lüth-Entscheidung: Selbst wenn der Gesetzgeber davon absieht, zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche oder für spezielle Vertragsformen zu schaffen, bedeutet das keineswegs, daß die Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre. Vielmehr greifen dann ergänzend solche zivilrechtlichen Generalklauseln ein, die als Übermaßverbote wirken, vor allem die §§ 138, 242, 315 BGB. Gerade bei der Konkretisierung und Anwendung dieser Generalklauseln sind die Grundrechte zu beachten (grundlegend BVerfGE 7, 198 [206]). Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat und diese Aufgabe auch auf vielfältige Weise wahrnimmt (zu Wettbewerbsklauseln in Lebensbereichen, für die spezielle Schutzvorschriften fehlen, vgl. BGHZ 91, 1 [4] = NJW 1984, S. 2366 [2367]; NJW 1986, S. 2944). Nach diesen Grundsätzen mußten die Zivilgerichte im Ausgangsverfahren prüfen, ob die Parteien die umstrittene Wettbewerbsklausel wirksam vereinbaren konnten. Die zivilrechtliche Lage war dabei im Lichte der grundrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit zu würdigen.189

In der Anwendung dieser problembezogen entwickelten Maßstäbe auf die konkret zu entscheidende Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 90 Abs. 2 Satz 2 HGB und seiner Anwendung durch die Zivilgerichte stellt das Bundesverfassungsgericht zunächst fest, dass sich für den wirtschaftlich abhängigen Handelsvertreter bei der Unterwerfung unter eine Konkurrenzklausel in der Regel „kaum ein Verhandlungsspielraum“ gegenüber dem Unternehmer biete, sodass in diesem Verhältnis von einer strukturellen Ungleichgewichtslage auszugehen sei.190 Dem habe der Gesetzgeber durch die nach § 90a Abs. 4 HGB zwingende, das heißt unabdingbare, Regelung Rechnung getragen, wonach entsprechende Wettbewerbsabreden auf zwei Jahre nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses begrenzt werden und dem Handelsvertreter ein Anspruch auf eine angemessene Karenzentschädigung eingeräumt wird. Diese Regelung ermögliche grundsätzlich einen sachgerechten Interessenausgleich, da der Unternehmer die wirtschaftlichen Nachteile, die dem Handelsvertreter durch das Wettbewerbsverbot entstehen, im Wege der Zahlung einer Entschädigung auszugleichen habe.191 Von dieser Regelung mache § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB allerdings eine Ausnahme, indem er im Falle einer Kündigung des Unternehmers wegen schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters den Anspruch auf Karenzentschädigung vollständig entfallen lässt. Nach eingehender Auseinanderset189  BVerfGE

81, 242 (255 f.). 81, 242 (257). 191  Vgl. BVerfGE 81, 242 (257 f., 261). 190  BVerfGE

444 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

zung mit der Vorschrift und ihrer Entstehungsgeschichte gelangt das Bundesverfassungsgericht dann zu dem Schluss, dass der „undifferenzierte und vollständige“ Ausschluss des Entschädigungsanspruchs im Falle der außerordentlichen Kündigung des Unternehmers keinen „verhältnismäßigen“ Interessenausgleich mehr darstelle und daher mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar sei.192 c) Die Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 In der viel beachteten Bürgschaftsentscheidung, wiederum unter Vorbereitung durch den Richter Dieterich, entwickelte der Erste Senat im Jahr 1993 seine Rechtsprechung zur grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie in Bezug auf die vertragliche Inhaltskontrolle der Zivilgerichte fort.193 Seit Beginn der 1980er Jahre wurden die Zivilgerichte zunehmend mit Fällen befasst, in denen erwachsene Kinder beziehungsweise Ehepartner durch die Inanspruchnahme aus Bürgschaften für Bankkredite ihrer Eltern oder Partner in wirtschaftliche Not geraten waren.194 Hintergrund war eine Sicherungspraxis der Kreditinstitute, nach der bei Konsumenten- und Geschäftskrediten mit mittelständischen Unternehmen Bürgschaftsverträge mit Familienangehörigen geschlossen wurden, und zwar in der Regel unabhängig von deren tatsächlichen oder zu erwartenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Der Zweck derartiger Verträge bestand nicht so sehr darin, die Haftungsmasse zu erweitern, sondern vornehmlich, Vermögensverschiebungen innerhalb der Familie zu begegnen und die Kreditnehmer durch die Einbeziehung ihrer Angehörigen in die Haftung zu sorgfältigem Wirtschaften zu veranlassen.195 Die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Frage der Rechtswidrigkeit derartiger Bürgschaftsverträge mit Angehörigen war zunächst uneinheitlich. Während eine Reihe von Instanzgerichten entweder unter bestimmten Voraussetzungen die Sittenwidrigkeit derartiger Bürgschaftsübernahmen annahm beziehungsweise von einer Haftung der Banken aus vorvertraglichen Rücksichts- und Aufklärungspflichten ausging, wurde eine Inhaltskontrolle von dem damals für das Bürgschaftsrecht zuständigen IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs grundsätzlich verworfen.196 Die Freiheit der Vertragsgestaltung umfasse für jeden voll Geschäftsfähigen die Rechtsmacht, auch Verpflichtungen zu übernehmen, die nur unter besonders günstigen Bedingungen 192  BVerfGE

81, 242 (260 ff.). 89, 214. 194  Vgl. Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaftsrecht, 2000, S. 13. 195  Zusammenfassend BVerfGE 89, 214 (215). 196  Siehe die Nachweise bei BVerfGE 89, 214 (215 f.). 193  BVerfGE



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik445

erfüllbar seien. Ein volljähriger Mensch wisse im Allgemeinen auch ohne besondere Hinweise, dass die Abgabe einer Bürgschaftserklärung ein riskantes Geschäft darstelle. Eine besondere Aufklärungspflicht treffe die Banken nicht, denn das Vertrauen in die Bonität des Hauptschuldners sei das typische Bürgenrisiko. Eine weitergehende Begrenzung nach § 138 Abs. 1 BGB würde hingegen zu einer „Einschränkung der Privatautonomie ganzer Bevölkerungskreise“ führen, da diesen ohne anderweitige Sicherungsmittel die Kreditchancen genommen würden, und sei daher „mit den Grundanforderungen an eine Gesellschaft von Freien und Gleichen unvereinbar“.197 Diese Rechtsprechung war allerdings schon damals auch innerhalb des Bundesgerichtshofs selbst umstritten; so ging der für das Bankenrecht zuständige XI. Zivilsenat im Anschluss an die Handelsvertreter-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zumindest dann von einer Sittenwidrigkeit von Mithaftungsverträgen naher Angehöriger aus, wenn zur finanziellen Überforderung des Sicherungsgebers weitere Geschäftsumstände hinzutraten.198 Vor diesem Hintergrund stellt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine richtungsweisende verfassungsgerichtliche Intervention dar.199 Das Gericht hatte zwei Verfassungsbeschwerden gegen zivilgerichtliche Urteile, des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zum einen und des Oberlandesgerichts Hamburg zum anderen, zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Im ersten Verfahren hatte sich die Beschwerdeführerin im Alter von 21 Jahren der Höhe nach unbeschränkt für Geschäftskredite ihres Vaters verbürgt. Sie selbst verfügte über kein Vermögen, hatte keine Berufsausbildung und verdiente zur Zeit der Bürgschaftserklärung im Jahr 1982 in einer Fischfabrik 1150 DM monatlich netto. Vor Unterzeichnung der Bürgschaftserklärung hatte sie der zuständige Bankangestellte mit dem Hinweis beschwichtigt: „Sie gehen keine großen Verpflichtungen ein, ich brauche das für meine Akten.“ Dennoch hielt der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Bürgschaft für rechtsgültig. Jeder Volljährige wisse, dass Bürgschaften riskant seien, außerdem hätte die Beschwerdeführerin die Bonität ihres Vaters prüfen und beobachten müssen.200 Im zweiten Verfahren ging es um 197  So ausdrücklich BGH NJW 1991, 2015 (2017); vgl. auch unter anderem BGHZ 106, 269; 107, 92; BGH ZIP 1989, 629. 198  Vgl. BGH NJW 1991, 923 (925); BGH ZIP, 1993, 26; vgl. auch Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaftsrecht, 2000, S. 13. 199  Abwiegelnd Schimansky, Aktuelle Rechtsprechung des BGH zur krassen finanziellen Überforderung von Mithaftenden bei der Kreditgewährung, 2002: Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts sei „relativ früh“ gekommen und habe zur Verlagerung des Streits „auf Neben-Kriegsschauplätze“ geführt. 200  Kurz: „Vertrag ist Vertrag“, so die prägnante Zusammenfassung der Argumentation des IX. Zivilsenats durch den damaligen Berichterstatter beim Bundesverfassungsgericht Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaftsrecht, 2000, S. 13; siehe BVerfGE 89, 214 (218 ff.).

446 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

die selbstschuldnerische Bürgschaft einer Ehefrau für das Versicherungsdarlehen ihres Mannes in Höhe von 30.000 DM, die vor dem Landgericht und Oberlandesgericht nach Prüfung der Umstände des Vertragsschlusses Bestand hatte.201 Auffällig an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zunächst, wie ausführlich im Tatbestand die Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums, aber auch der Banken- und der Verbraucherverbände wiedergegeben werden; offensichtlich kam es dem Gericht auch auf eine umfassende Kenntnis der Kreditsicherungspraxis an.202 Die Entscheidungsbegründung beginnt dann mit grundsätzlichen Ausführungen zum verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstab. Unter Berufung auf die Ausführungen in der LüthEntscheidung203 hebt das Gericht die Ausstrahlungswirkung204 der Grundrechte hervor, die „sich durch das Medium derjenigen Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen“, entfalte. Indem die Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB ganz allgemein auf die guten Sitten, die Verkehrssitte sowie Treu und Glauben verwiesen, verlangten sie „von den Gerichten eine Konkretisierung am Maßstab von Wertvorstellungen, die in erster Linie von den Grundsatzentscheidungen der Verfassung bestimmt werden“.205 Ein wenig ungewöhnlich ist sodann der weitere Gang der Begründung. Bevor das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen (Prüfungs-) Maßstäbe näher darlegt, geht es auf die Besonderheiten der Umstände im ersten Verfahren näher ein. Erkennbar kommt es dem Gericht darauf an, die soziale Unausgewogenheit der Bürgschaftsübernahme in aller Deutlichkeit herauszustellen.206 So wird betont, dass die Beschwerdeführerin in dem Bürgschaftsvertrag „ein außerordentlich hohes Risiko“ eingegangen sei, ohne an dem Kredit ein eigenes wirtschaftliches Interesse zu haben. Unter Verzicht auf nahezu alle abdingbaren Schutzvorschriften der Bürgerlichen Gesetzbuchs habe sie sich für das Unternehmensrisiko ihres Vaters verbürgt „in einem Umfang, der ihre wirtschaftlichen Verhältnisse weit überstieg“. Sie würde voraussichtlich bis an ihr Lebensende nicht in der 201  BVerfGE

89, 214 (221 f.). BVerfGE 89, 214 (222 ff.). 203  Dazu oben unter B. II. 4. d) bb). 204  Ausführlich dazu oben unter D. I. 3. a). 205  BVerfGE 89, 214 (229). 206  Vgl. auch die Darstellung der Umstände des Vertragsschlusses von Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaftsrecht, 2000, S. 13: Beschwerdeführerin „ohne Erfahrung und Schulbildung“, „komplizierter und umfangreicher Formulartext voller Fußangeln“, „praktisch ungelesen unterschreiben müssen“, nach dem Hinweis des Bankangestellten: „ich brauche das nur für meine Akten“. Vertragsschluss daher „kaum mehr als eine Farce“. 202  Vgl.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik447

Lage sein, sich aus eigener Kraft aus der Schuldenlast zu befreien, was für das Kreditinstitut auch leicht feststellbar und „von vornherein abzusehen“ gewesen sei.207 In den nun folgenden Ausführungen zur grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG rekurriert das Gericht weitgehend auf die tragenden Elemente der Handelsvertreter-Entscheidung und übernimmt in abstrakter Form die dort entwickelten Maßstäbe,208 wobei sich die Akzente leicht verschieben. So verwendet das Bundesverfassungsgericht nunmehr die Formel von der Privatautonomie als „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“,209 die sich erkennbar an die Terminologie von Flume anlehnt.210 Es betont die (objektive) Ausgestaltungsbedürftigkeit der Privatrechtsordnung, und macht deutlich, dass Art. 2 Abs. 1 GG insoweit keine „natürliche Freiheit“ des Einzelnen schütze, sondern eine solche, die von vornherein auf die Anerkennung und Ausgestaltung der Rechtsordnung angewiesen sei.211 Mit der Wahrnehmung des Ausgestaltungsauftrags stellt sich dem Gesetzgeber nach dem Bundesverfassungsgericht „ein Problem praktischer Konkordanz“212, da „alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können“. Die kollidierenden Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie „für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden“.213 Dabei dürfe nicht das „Recht des Stärkeren“ gelten. Habe einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen könne, bewirke das für den anderen Teil Fremdbestimmung. Hier müssten die Zivilgerichte im Rahmen der Inhaltskontrolle eingreifen. Allerdings sieht das Bundesverfassungsgericht, dass ein Vertrag „nicht bei jeder Störung des Verhandlungsungleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert“ werden kann: 207  BVerfGE

89, 214 (230 f.). Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 292; zur Entwicklung und Anwendung dogmatischer Maßstäbe in der verfassungsgerichtlichen Rspr. oben unter E. I. 1. b). 209  BVerfGE 89, 214 (231). 210  Vgl. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerliches Rechts II, 1979, § 1, 7; die Entscheidung selbst verweist allerdings unmittelbar nur auf den Beitrag von Erichsen in der Vorauflage des Handbuchs des Staatsrechts von Isensee / Kirchhof, siehe BVerfGE 89, 214 (231). 211  Vgl. Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 292. 212  Zum Grundsatz praktischer Konkordanz als Ausfluss der einheitlichen Verfassungsauslegung und des Abwägungsprinzips siehe oben unter B. III. 4. a) bb), C. I. 4. b), D. II. 1. a). 213  BVerfGE 89, 214 (232). 208  Vgl.

448 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1  GG).214

Mit dieser Formel versucht das Bundesverfassungsgericht, dogmatische Maßstäbe für die grundrechtliche Steuerung der Fachgerichtsbarkeit bei der Inhaltskontrolle von Rechtsgeschäften und Verträgen festzulegen. Es hält eine inhaltliche Prüfung und gegebenenfalls Korrektur vertraglicher Vereinbarungen nicht generell, sondern nur dort für sinnvoll und geboten, wo von einer strukturellen Ungleichgewichtslage zwischen den Vertragspartnern auszugehen ist, die in typisierbaren Fallgestaltungen auftritt. Damit wird erkennbar auf die im Zivilrecht gerade bei der Konkretisierung der Generalklauseln verbreitete Technik der dogmatischen Fallgruppenbildung Bezug genommen.215 Insoweit stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass im Rahmen der Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB Instrumente zur Verfügung stehen, „die es möglich machen, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren“, und hält die Zivilgerichte zur entsprechenden Inhaltskontrolle an: Ist […] der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen: „Vertrag ist Vertrag“. Sie müssen vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.216

Einen solchen Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht hat das Bundesverfassungsgericht im Fall der für ihren Vater bürgenden Beschwerdeführerin bejaht. Der Bundesgerichtshof hätte sich angesichts der offensichtlichen Unausgewogenheit des Vertrags nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, die voll geschäftsfähige Beschwerdeführerin hätte das übernommene Risiko überschauen können. Auch die Nichtberücksichtigung der konkreten Umstände des Vertragsschlusses wie den Hinweis des Bankangestellten auf 214  BVerfGE 215  Zum

89, 214 (232). typisierenden Fallvergleich Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2006,

S.  71 ff. 216  BVerfGE 89, 214 (234).



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik449

die reine „Formalität“ der Unterschrift, sei nicht hinnehmbar. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs verfehle „die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie so prinzipiell, daß die Entscheidung keinen Bestand haben kann“.217 Hingegen sah das Bundesverfassungsgericht im zweiten Verfahren, wo es um die Haftung des Ehepartners für einen Konsumentenkredit in der begrenzten Höhe von 30.000 DM ging, keinen Anlass, die ausführlich begründeten fachgerichtlichen Entscheidungen zu beanstanden.218 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Bürgschaftsverträgen ist vor allem in Teilen der Zivilrechtswissenschaft auf heftige Kritik gestoßen. Das nimmt nicht so sehr Wunder angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in einem sensiblen und umstrittenen Bereich des Kreditsicherungsrechts eindeutige Maßstäbe zugunsten eines materialen Verständnisses privatautonomer Geschäftsgestaltung aufgestellt hat.219 So wurde dem Bundesverfassungsgericht vorgehalten, es habe in den autonomen Bereich der Privatrechtsordnung eingegriffen und sich damit sozusagen zum „obersten Zivilgericht“ aufgeschwungen.220 Diese Kritik kann aber wohl nur als ein später Reflex einiger Zivilrechtswissenschaftler auf die Konstitutionalisierungsrechtsprechung und die Durchsetzung von Deutungsmacht gegenüber den Zivilgerichten durch das Bundesverfassungsgericht angesehen werden, die es bereits in der Lüth-Entscheidung begründet und seither beständig weiterentwickelt hat.221 Versteht man die Verfassung mit dem Bundesverfassungsgericht als eine Grundordnung des staatlichen Gemeinwesens, die – wie es im Lüth-Urteil heißt – „keine wertneutrale Ordnung sein will“222, sondern auf einem materialen Grundrechtsverständnis beruht,223 dann werden auf verfassungsrechtlicher Ebene die Grundentscheidungen getroffen, an denen sich die gesamte Rechtsordnung, auch das Privatrecht, auszurichten hat.224 Die Entscheidung für das ‚richtige Verständnis‘ 217  BVerfGE

89, 214 (235). 89, 214 (235 f.); vgl. auch Dieterich, Bundesverfassungsgericht und Bürgschaftsrecht, 2000, S. 13: Die „ebenfalls angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg war […] viel sorgfältiger begründet. […] das Gericht hatte die Umstände des Vertragsschlusses und die beiderseitige Interessenlage am Maßstab des § 138 BGB recht eingehend erörtert.“ 219  Zum Kampf um das ‚richtige‘ Verständnis der Privatautonomie oben unter E. I. 2. a). 220  So dezidiert etwa Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, 1998. 221  Vgl. oben unter B. II. 222  BVerfGE 7, 198 (205). 223  Ausführlich oben unter B. II. 224  Vgl. etwa Ruffert, Vorrang der Verfassung, 2001, S. 58 f., 287 ff., unter Bezugnahme auf die von Isensee konzipierte verfassungstheoretische Kategorie der 218  BVerfGE

450 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

der Privatautonomie ist daher, soweit grundrechtliche Gewährleistungen berührt sind, eine verfassungsrechtliche. Dabei geht es auch nicht um eine ‚Unterwerfung‘ des Zivilrechts unter das Regime des öffentlichen Rechts, sondern – im Rahmen der funktionell-rechtlichen Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle225 – um grundrechtliche Mindestgewährleistungen, die bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung sowie fachgerichtlichen Konkretisierung und Anwendung des Zivilrechts zu beachten sind. Im Rahmen der Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung besteht auch für das Privatrecht – ebenso wie für alle anderen Rechtsgebiete – kein Raum für eine Regelungsautonomie gegenüber dem Verfassungsrecht. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat – im Sinne der fachgerichtlichen Steuerung – maßgeblich dazu beigetragen, dass sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, seit 2011 unter alleiniger Federführung des XI. Zivilrechtssenats,226 eine umfassende und ausdifferenzierte Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Schutz von Angehörigen und nahe stehenden Personen bei der Übernahme von Bürgschafts- und Mithaftungsverpflichtungen entwickelt hat. Entscheidend wird dabei nun – in typisierender Form – auf die zwischen dem finanziell überforderten Bürgen und dem Hauptschuldner bestehende emotionale Verbundenheit abgestellt, wobei die Zivilgerichte mit der (widerleglichen) Vermutung operieren, dass bei einer krassen finanziellen Überforderung des Bürgen die Mithaftung ohne rationale Einschätzung der Interessenlage und wirtschaftlichen Risiken nur aus Verbundenheit übernommen wurde.227 Nach einer Phase der Neuorientierung entwickelten die Zivilsenate des Bundesgerichtshofs einheitliche Kriterien für die Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen und Haftungsübernahmen, die den Vorgaben der Grundentscheidung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen beziehungsweise diese konkretisiert und sogar deutlich fortentwickelt haben.228

„Verfassungserwartung“; vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S.  57 ff. 225  Vgl. oben unter D. II. 2. 226  Vgl. Nobbe / Kirchhof, Bürgschaften und Mithaftungsübernahmen finanziell überforderter Personen, 2001. 227  Ausführliche Darstellung der Rspr. bei Sack / Fischinger, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Allgemeiner Teil 4a §§ 134–138; Anh zu § 138: ProstG, Neubearbeitung 2011, § 138, Rn. 370 ff.; Ellenberger, in: Palandt, Kurz-Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 2012, § 138, Rn. 38 ff.; Armbrüster, in: Säcker / Rixecker, Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2012, § 138, Rn. 92: „Die zunächst sehr wechselhaft verlaufene Rspr. zu Bürgschaften und Schuldbeitritten nahe stehender Personen ist inzwischen gefestigt“. 228  Vgl. Nobbe / Kirchhof, Bürgschaften und Mithaftungsübernahmen finanziell überforderter Personen, 2001.



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik451

d) Die Unterhaltsverzichtsentscheidung vom 6. Februar 2001 Die Übertragung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe auf das Ehevertragsrecht wurde infolge der Handelsvertreter- und vor allem der Bürgschaftsentscheidung zunächst im zivilrechtlichen Schrifttum vorangetrieben.229 Der Bundesgerichtshof hatte bis in die 1990er Jahre an einer Rechtsprechung festgehalten, die selbst bei einem weitgehenden Ausschluss von Unterhaltsansprüchen für den Fall der Scheidung grundsätzlich keine Inhaltskontrolle und -korrektur von ehevertraglichen Vereinbarungen vorsah. Diese Rechtsprechung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Ehepartner – in aller Regel der Mann –, der auf einer solchen ehevertraglichen Abrede bestanden habe, unter Berufung auf seine Eheschließungsfreiheit auch ganz von der Ehe hätte absehen können.230 Unter diesen Umständen würde die Ehefrau aber ohne jeglichen Schutz einer rechtsverbindlichen Ehe dastehen. In dem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall wandte sich die Beschwerdeführerin gegen ein Oberlandesgerichtsurteil, durch das sie zur weitgehenden Freistellung ihres geschiedenen Ehemanns von Unterhaltspflichten gegenüber ihrem gemeinsamen Sohn verurteilt worden war. Die Beschwerdeführerin hatte den Kläger des Ausgangsverfahrens im Jahr 1976 im Alter von 26 Jahren geheiratet, als sie von ihm schwanger war. Sie brachte bereits aus erster Ehe ein fünfjähriges Kind mit in die Beziehung. Die Ehe wurde auf ihr Drängen noch vor der Geburt geschlossen, um eine eheliche Geburt des Kindes sicherzustellen. Damit ihr Partner, der ursprünglich keine Heirat wollte, in die Eheschließung einwilligte, hatte die Beschwerdeführerin einen Ehevertragsentwurf ausarbeiten lassen, den die Ehepartner unterzeichneten. Darin verzichteten sie gegenseitig auf jegliche Unterhaltsleistungen im Falle der Scheidung. Gleichzeitig verpflichtete sich die Beschwerdeführerin, ihren Partner von Unterhaltsansprüchen des gemeinsamen Kindes freizustellen, soweit diese einen monatlichen Betrag von 150 DM überstiegen. Die Ehe wurde 1989 geschieden und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn der Beschwerdeführerin übertragen, die später wieder heiratete. Der von seinem Sohn erfolgreich auf Auskunft und Zahlung von Kindesunterhalt in Anspruch genommene Vater erhob gegen die Beschwerdeführerin Klage auf Freistellung, die in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht erfolgreich war. Das Oberlandesgericht hielt die Vereinbarung der Ehegatten 229  Grdl. Schwenzer, Vertragsfreiheit im Ehevermögens- und Scheidungsfolgenrecht, 1996. 230  Zusammenfassend BVerfGE 103, 89 (91  ff.); siehe auch Schwenzer, ebd., S.  95 ff.

452 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

für wirksam, da sie im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit auch schon vor der Eheschließung die Lasten des Kindesunterhalts nach Belieben zwischen sich hätten aufteilen können.231 Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte in seiner Entscheidung über die gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde im Jahr 2001 eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 2 GG fest. Die Entscheidung wurde von der Richterin Hohmann-Dennhardt als Berichterstatterin vorbereitet. Der Erste Senat nimmt in seinem Beschluss zentral auf die in der Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidung entwickelten Maßstäbe zur grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie Bezug und entwickelt diese für Eheverträge problembezogen fort, indem er sie den spezifischen Fragen im Bereich des Scheidungsfolgenrechts anpasst. Während die Bürgschaftsentscheidung die Ausstrahlungswirkung des Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Gewährleistung der Privatautonomie zum Ausgangspunkt der Maßstabsetzung genommen hat, betont die Unterhaltsverzichtsentscheidung stärker die grundrechtliche Schutzdimension.232 Die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie setze voraus, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben seien. In Fällen erheblich ungleicher Verhandlungspositionen und einseitiger Aufbürdung vertraglicher Lasten zuungunsten einer Vertragspartei seien die Zivilgerichte im Rahmen ihres Schutzauftrags zur Korrektur verpflichtet, „um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.233 Dies gelte auch für Eheverträge. Hier stellt das Gericht nun – im Sinne des Grundsatzes der Einheit der Verfassung234– die Verbindung zum Grundrecht des Schutzes der Ehe und seiner diesbezüglichen Rechtsprechung her. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet danach, dass die Eheleute „ihre jeweilige Gemeinschaft nach innen in ehelicher und familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei […] gestalten“.235 Die verfassungsrechtliche Prägung erhalte die eheliche Gemeinschaft dabei auch durch Art. 3 Abs. 2 GG, der die Ehe als gleichberechtige Partnerschaft schütze.236 Der Staat habe infolgedessen der Freiheit der Ehegatten, mit Hilfe von Verträgen die ehelichen Beziehungen zu gestalten, dort Grenzen 231  Vgl.

BVerfGE 103, 89 (94 f.). sowie zur (fließenden) Abgrenzung gegenüber der Ausstrahlungswirkung oben unter D. I. 3. c). 233  BVerfGE 103, 89 (100 f.). 234  Zur Auslegungsmaxime von der Einheit der Verfassung oben unter C. I. 4. b). 235  BVerfGE 103, 89 (101). 236  Grdl. bereits die Entscheidung des Ersten Senats zur steuerlichen Zusammenveranlagung von Eheleuten aus dem Jahr 1957, dazu oben unter B. II. 4. c). 232  Dazu



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik453

zu setzen, „wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft ist, sondern auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegelt“.237 In diesem Argumentationsgang wird das Zusammenspiel der unterschiedlichen grundrechtlichen Gewährleistungen und ihrer dogmatischen Konkretisierungen in der methodischen Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts anschaulich: Ausgehend von seiner zu Art. 2 Abs. 1 GG entwickelten Rechtsprechung zur Privatautonomie (Vertragsgleichgewicht) wird die Verbindung zum Ehegrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG (Ehegestaltungsfreiheit) hergestellt, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Einheit der Verfassung mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 GG als „gleichberechtigte Partnerschaft“ versteht. Daraus leitet das Gericht überzeugend ab, dass der Gestaltung von Eheverträgen, die erkennbar nicht Ausdruck einer gleichberechtigten Lebensgemeinschaft sind, sondern auf der sozialen Übermacht eines Partners beruhen, von der Rechtsordnung Grenzen gesetzt werden müssen. Die unterschiedlichen normativen Elemente und dogmatischen Konkretisierungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbinden sich hier folglich zu einer problembezogenen grundrechtlichen Maßstäbebildung für den Bereich des Ehevertragsrechts. Auf der nächsten Ebene der Maßstäbebildung wendet sich das Gericht der Frage zu, inwiefern die Schwangerschaft der Beschwerdeführerin in typisierender Betrachtung auf eine besondere Ungleichgewichtslage bei der inhaltlichen Gestaltung des Ehevertrags hindeutet. In diesem Zusammenhang hebt es den speziell in Art. 6 Abs. 4 GG gewährleisteten Anspruch auf Schutz und Fürsorge der werdenden Mutter hervor, durch den der in Art. 2 Abs. 1 GG enthaltene und durch Art. 6 Abs. 1 GG für den Bereich des Ehevertragsrecht allgemein konkretisierte Schutzauftrag der Zivilgerichte noch verstärkt werde. Dabei zieht das Gericht sozialwissenschaftliche und (sozial)psychologische Erkenntnisse darüber heran, inwiefern sich die Situation der Schwangerschaft nachteilig auf die Verhandlungsposition der Partnerin auswirken kann: Schwangerschaft bedeutet für jede Frau einen existenziellen Umbruch in ihrem Leben. Die Schwangere durchläuft einen Entwicklungsprozess, der sie körperlich Veränderungen erfahren lässt und für ihre eigene Gesundheit sowie die des Kindes Risiken in sich birgt. Unweigerlich kommt auf sie mit dem Kind eine Umstellung ihrer Lebensführung und Lebensplanung zu. Neue Aufgaben, Pflichten und Verantwortlichkeiten entstehen. Dies geht gerade bei unverheirateten Müttern häufig einher mit dem Scheitern der Beziehung zum Vater des Kindes (vgl. Vaskovics / Rost / Rupp, Lebenslage nichtehelicher Kinder, 1997, S. 59 ff.). Darüber hinaus bestehen auch heute noch gesellschaftliche und soziale Zwänge, auf Grund 237  BVerfGE

103, 89 (101).

454 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit derer sich eine werdende Mutter – nicht zuletzt auch gegenüber dem Kind – für ihre Nichtheirat unter Rechtfertigungsdruck fühlen kann. Für den Zeitpunkt des Abschlusses des hier strittigen Ehevertrages sprechen wissenschaftliche Untersuchungen sogar noch vom Stigma der ledig bleibenden Mutter und ihrer deutlich höheren psychischen Belastung gegenüber verheirateten Müttern, mit der auch das Phänomen der höheren Sterblichkeit nichtehelicher Säuglinge erklärt wird (vgl. Anthes, Vorurteile gegenüber ledigen Müttern, in: Neumann, Sozialforschung und soziale Demokratie, Festschrift für Blume, 1979, S. 157 [162 ff.]). […] Eine nicht verheiratete Mutter sieht sich insofern schon im frühen Alter des Kindes generell vor das Problem gestellt, Kinderbetreuung und eigene Existenzsicherung gleichermaßen sicherzustellen. Besonders gravierend ist in der Regel die ökonomische Perspektive für Mütter nichtehelicher Kinder. Nach der Geburt des Kindes sinkt ihr Einkommen wegen der alleinigen Verantwortung für das Kind meist auf weniger als die Hälfte ihres vorherigen Einkommens. Dies führt dazu, dass etwa ein Drittel von ihnen für sich und ihre Kinder nur eine finanzielle Absicherung hat, die unter oder auf Sozialhilfeniveau liegt, während lediglich 15% der ehelichen Kinder in ebenso beengten Verhältnissen leben (Vaskovics / Rost / Rupp, a. a. O., S. 126). Zusätzlich belastet wird diese Situation durch eine deutlich schlechtere Zahlungsmoral von Vätern gegenüber nichtehelichen Kindern. In der Folge sind nichteheliche Kinder unter den Berechtigten nach dem Unterhaltsvorschussgesetz weit überrepräsentiert (s. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [Hrsg.], Die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung, 2000, S. 139 f.). Die besondere und schwierige Situation nicht verheirateter Schwangerer, die nicht vergleichbar ist mit der verheirateter Schwangerer oder der nicht verheirateter Frauen ohne Kinder, wirkt sich auch auf die Gegebenheiten bei Abschluss eines Ehevertrages aus, der die Voraussetzung für eine Eheschließung bilden soll. Gerade wegen ihrer Sorge auch um die Zukunft des Kindes und unter dem Druck der bevorstehenden Geburt befindet sich die Schwangere typischerweise in einer dem Vertragspartner gegenüber weit unterlegenen Position.238

Zwar betont der Erste Senat vor dem Hintergrund seiner eingehenden Auseinandersetzung mit den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, dass die Schwangerschaft einer Frau bei Abschluss eines Ehevertrags nur ein „Indiz“ für eine vertragliche Disparität sein könne, dass sie aber jedenfalls Anlass dazu gebe, den Vertrag einer stärkeren richterlichen Kontrolle zu unterziehen. Gerade wenn die Lebensplanung der Ehepartner vorsehe, dass sich in der Ehe einer der beiden Partner unter Aufgabe der Berufstätigkeit im Wesentlichen der Kinderbetreuung und Haushaltsführung widme, bedeute der vollständige oder weitgehende Verzicht auf nachehelichen Unterhalt eine klare Benachteiligung der die Kinder betreuenden Person. So war es im Fall der Beschwerdeführerin, weshalb das Bundesverfassungsgericht durch die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 4 GG als verletzt ansieht. 238  BVerfGE

103, 89 (103 f.).



I. Normkonkretisierung und Steuerung durch Grundrechtsdogmatik455

Darüber hinaus nimmt das Bundesverfassungsgericht auch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG an, der „vertraglichen Abreden von Eltern im Interesse des Kindeswohls Grenzen setzt“239. Denn zur Verantwortung der Eltern gegenüber ihrem Kind gehöre es auch, für einen ihrem eigenen Vermögen gemäßen und zugleich angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen und seine Betreuung sicherzustellen. Werde nach der ehevertraglichen Abrede im Fall der Scheidung der nicht sorgeberechtigte Elternteil vom Kindesunterhalt (weitgehend) freigestellt, so würden die Eltern ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Kind nicht gerecht, „wenn dadurch eine den Interessen des Kindes entsprechende Betreuung und ein den Verhältnissen beider Eltern angemessener Barunterhalt nicht mehr sichergestellt sind“.240 Auch das war vorliegend der Fall, da die Freistellung des Ehemanns von den Unterhaltsleistungen durch die gering verdienende Ehefrau das für den gemeinsamen Haushalt von betreuendem Elternteil und Kind zur Verfügung stehende Einkommen weiter schmälerte. Der Ehemann wurde durch die ehevertraglich vereinbarte Freistellung sogar besser gestellt als der Vater eines unehelichen Kindes. Darin erkennt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss eine klare Abrede zum Nachteil des Kindes.241 Beeindruckend an der Entscheidung ist nicht nur, wie es dem Bundesverfassungsgericht gelingt, die in der Handelsvertreter- und in der Bürgschaftsentscheidung entwickelten dogmatischen Maßstäbe auf den Bereich des Scheidungsfolgenrechts zu übertragen, problembezogen – also gerade nicht nur einzelfallbezogen242 – zu modifizieren und fortzuentwickeln. Hervorzuheben ist vor allem die Einbeziehung von Erkenntnissen über die tatsäch­ lichen Verhältnisse und Umstände, denen sich werdende Mütter ausgesetzt sehen und die in der sozialen Wirklichkeit oft entscheidend sind dafür, dass Frauen für sie ungünstige ehevertragliche Abreden eingehen. Die Zivilgerichte dürfen gegenüber dieser Wirklichkeit nicht blind sein. Denn die Grundrechte verlangen in ihrem materialen Gehalt nach einer Ausrichtung der (Zivil-)Rechtsordnung, die dem tatsächlichen Machtungleichgewicht Rechnung trägt und gegebenenfalls entsprechende Korrekturen durch eine (eingeschränkte) vertragliche Inhaltskontrolle vornimmt. Über die Entwicklung problembezogener dogmatischer Maßstäbe steuert das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung der Zivilgerichte und stellt damit sicher, dass die Rechtsordnung in ihrer Interpretation und Anwendung durch die Fachgerichte in einer Weise ‚ausgerichtet‘ wird, die die Selbstbestimmung beider Eheleute als gleichberechtigte Partner auch mit Blick auf ihre sozia239  BVerfGE

103, 89 (107). 103, 89 (108). 241  BVerfGE 103, 89 (107 ff.). 242  Vgl. oben unter E. I. 1. c). 240  BVerfGE

456 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

len Verhältnisse möglichst effektiv gewährleistet. Die frühere Zivilrechtsprechung zugunsten des (verhandlungs)stärkeren Ehepartners war danach wegen Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aufzugeben. e) Zwischenfazit: Problembezogene (Fort-)Entwicklung der Rechtsprechung zur Privatautonomie Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie wurde exemplarisch gewählt, um die problembezogene methodische Vorgehensweis anhand einer konkreten Rechtsprechungsentwicklung zu illustrieren. Ausgehend von der Handelsvertreterentscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht – im Einklang mit seinem seit der Lüth-Entscheidung entwickelten Grundrechtskonzept – ein materiales Verständnis der Privatautonomie propagierte und damit zugleich im semantischen Kampf um das ‚richtige Verständnis‘ der Vertragsfreiheit Stellung bezog, wurden die dogmatischen Maßstäbe in der Bürgschaftsentscheidung für die vertragliche Inhaltskontrolle der Zivilgerichte weiter konkretisiert. Damit setzte das Bundesverfassungsgericht die materiale Deutung der Privatautonomie gegenüber den Zivilgerichten durch und traf eine Steuerungsentscheidung zugunsten einer stärkeren inhaltlichen Kontrolle von Kreditsicherungsverträgen, bei denen der Sicherungsgeber sich in einer strukturell unterlegenen Position befindet. Infolge dieser verfassungsgerichtlichen Grundentscheidung haben die Zivilgerichte, allen voran der Bundesgerichtshof, differenzierte Maßstäbe für die Kontrolle von Bürgschafts- und Mithaftungsverträgen von nahen Angehörigen entwickelt. Der Unterhaltsverzichtsbeschluss wiederum des Ersten Senats hat die Maßstäbe der Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidung auf den Bereich der ehevertraglichen Scheidungsfolgenabreden übertragen, wobei den Spezifika der dort auftretenden Ungleichgewichtslagen durch eine Bezugnahme auf die zu den Gewährleistungen der Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 GG sowie Art. 3 Abs. 2 GG entwickelten dogmatischen Maßstäben Rechnung getragen wurde. Die tatsächliche Ungleichgewichtslage bei ehevertraglichen Abreden einer schwangeren Frau hat das Gericht unter Bezugnahme auf verschiedene sozialwissenschaftliche Studien untermauert und dabei Vorgaben für eine typisierende Fallbetrachtung entwickelt. Auf diesem Weg haben die zuständigen Zivilgerichte nicht nur allgemeine Leitlinien, sondern dogmatische Maßstäbe erhalten, mit denen sie auf strukturelle Ungleichgewichtslagen im ehevertraglichen Bereich durch typisierende Fallbetrachtung (Fallgruppenbildung) im Wege der Inhaltskontrolle und -korrektur reagieren können – und müssen.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes457

II. Grundrechtsinterpretation als problembezogene Konkretisierung unter Einbeziehung des sozialen Kontextes Als Elemente der Rekonstruktion einer problembezogenen Methode der Grundrechtsauslegung wurden im vorhergehenden Abschnitt einerseits die Konkretisierung von abstrakten Grundrechtsbestimmungen durch die Bildung von dogmatischen Maßstäben und andererseits die spezifische Steuerung von Gesetzgebung und Fachgerichten herausgearbeitet. Wie aber bereits die Analyse der Rechtsprechung zur Privatautonomie in den Bereichen der Kreditsicherungsvereinbarungen und des Scheidungsfolgenrechts gezeigt hat, nimmt das Verfassungsgericht im Rahmen seines materialen Grundrechtsverständnisses maßgeblich auf den sozialen Kontext des angewendeten Rechts Bezug und fragt danach, wie dieser durch rechtliche Regelungsstrukturen beeinflusst wird, teilweise unter eingehender Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Daten und Erkenntnissen. Soziales Kontextwissen zieht das Bundesverfassungsgericht explizit (oder implizit) heran, um die Gewährleistungen individueller Freiheitsausübung oder auch die Grenzen staatlichen Eingriffshandelns zu konkretisieren. Dieser Konkretisierungsprozess unter Vermittlung normativer Maßstäbe und der Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse soll im Folgenden zunächst auf einer theoretischen Ebene und anschließend anhand einzelner Rechtsprechungsentwicklungen betrachtet werden. 1. Die Einbeziehung von Sozialwirkungen in die Interpretation: Theoretische (Re-)Konstruktion des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit Die „wesentliche wissenschaftstheoretische Lektion des gesamten 20. Jahrhunderts“ ist die Vermitteltheit von Erkenntnis und Erkenntnissubjekt.243 Auch die ‚Wirklichkeit‘ wird in der Sprache nicht ‚neutral‘ abgebildet, sondern ist selbst ein soziales Konstrukt.244 In der modernen konstruktivistischen Soziologie wird soziale Wirklichkeit als etwas „hoch dynamisches angesehen, das ständig durch das Handeln der Menschen und deren darauf bezogene Interpretation und ihr Wissen produziert und reproduziert wird“.245 Das schwierige Verhältnis zwischen Recht und Wirklichkeit bedarf 243  Augsberg, Von einem neuerdings erhobenen empiristischen Ton in der Rechtswissenschaft, 2012, S. 119. 244  Für die Soziologie grdl. Berger / Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruk­tion der Wirklichkeit, 1980 (engl. Originalausg. 1966); für die Staatsrechtswissenschaft etwa Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S. 28 ff. 245  Stegmaier, § 3 Recht und Normativität aus soziologischer Perspektive, 2010, Rn. 15.

458 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

daher einer differenzierteren (rechts)theoretischen Re-Konstruktion als sie die herkömmliche juristische Unterscheidung zwischen normativen und Wirklichkeitsaussagen liefert, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann und soll. Allerdings muss – wie gesehen – vor allem die Einsicht der modernen Sprachphilosophie zur Kenntnis genommen werden, dass angesichts der sozialen Natur des Mediums Sprache246 das Recht nicht als eine geistig-sprachlichen Erscheinung von der sozialen Welt getrennt werden kann, sondern selbst ein funktional mehr oder weniger autonomer Bestandteil der ‚sozialen Wirklichkeit‘ ist und in der sozialen Praxis der (juristischen) Sprachgemeinschaft immer aufs Neue hergestellt wird.247 Welchen theoretischen Ausgangspunkt man zur Erschließung des Verhältnisses von Recht und seiner sozialen Umwelt schließlich wählt, hängt vom konkreten Erkenntnisinteresse und vom theoretischen Standpunkt ab. Im Folgenden möchte ich drei bekannte (rechts)theoretische Konzepte ansprechen. So lässt sich das Recht beispielsweise systemtheoretisch mit Luhmann als ein autonomes (autopoietisches) Subsystem der Gesellschaft betrachten, das als sich selbst verknüpfendes Netzwerk bestimmte Rechtskommunikationen erzeugt und sich an einem spezifischen Code von „Recht“ und „Unrecht“ orientiert.248 Dieses System ist zwar grundsätzlich operativ geschlossen, verfügt aber zugleich über eine kognitive Offenheit, mit der es Umwelteinflüsse wahrnimmt. Dabei werden Einflüsse anderer Gesellschaftssysteme und ihre Kommunikationen über rechtsinterne Normprogramme in das Recht eingeführt und mittels des systeminternen Codes verarbeitet.249 Mit anderer Akzentsetzung betrachtet Bourdieu das Recht als ein soziales Feld, „un univers social relativement indépendant“,250 das geprägt ist von spezifischen sozialen Strukturen und Praktiken der Rechtsakteure und sich damit von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgrenzt.251 Gegenüber dem Kon246  Grdl.

C. II.

Vesting, Die Medien des Rechts: Sprache, 2011; siehe auch oben unter

247  Vgl. Stegmaier, § 3 Recht und Normativität aus soziologischer Perspektive, 2010, Rn.  18 ff. 248  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, insbesondere S. 54 ff.; vgl. auch Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986; zusammenfassend Luhmann, Recht als soziales System, 1999. 249  Vgl. Vesting, Kein Anfang und kein Ende – Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, 2001, S. 302. 250  Bourdieu, La force du droit, 1986, S. 3; ins Englische übersetzt in Bourdieu, The Force of Law: Toward a Sociology of the Juridical Field, 1986. 251  Ähnlich wie die Systemtheorie geht Bourdieu davon aus, dass die Felder ihre relative Autonomie daraus gewinnen, dass sie eine Art eigenes „Grundgesetz“, einen Nomos ausbilden, der sie von anderen Feldern unterscheidet. Dieses „Grundgesetz“ konstituiert die spezifische Logik eines Feldes, die sich nicht auf andere Felder reduzieren oder von diesen herleiten lässt. Der Nomos ist stets eine feldspezifische



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes459

zept der operativen Geschlossenheit und Selbstreferenz sozialer Systeme bei Luhmann hebt Bourdieu die Relationalität der sozialen Felder hervor. Das juristische Feld bleibe in den sozialen Raum mit seinen Machtstrukturen eingebettet, verfüge daher nur über eine relative Autonomie und werde von den sozialen Strukturen der gesellschaftlichen Umwelt (mit)beeinflusst.252 Diese Sichtweise ermöglicht es beispielsweise, soziale und politische Vorverständnisse der handelnden Akteure wie etwa der Richter und Richterinnen aufzudecken, die in die Rechtsanwendung auf indirektem Weg hineinwirken.253 Schließlich lässt sich Recht etwa auch im Anschluss an Foucault als einen Diskurs betrachten, der durch organisiertes Wissen konstituiert und durch Einbeziehung und Ausschließung möglicher Beteiligter kontrolliert wird.254 Recht ist in diesem Verständnis ein Modus der Regulierung von Wissen durch Macht und damit auch der Subjektkonstruktion.255 Gemeinsam ist den genannten gesellschaftstheoretischen Ansätzen die Erkenntnis, dass sich Recht als soziales System, Feld beziehungsweise Diskurs als ‚Innen‘ gegenüber einem ‚Außen‘, das heißt seiner sozialen Umwelt, abgrenzt und Ereignisse, Phänomene oder Zustände des ‚Außen‘ nach eigenen spezifischen Codes, Regeln oder Praktiken verarbeitet.256 Hierin liegt ein Erkenntnisfortschritt etwa gegenüber normativ-strukturalistischen Konzepten wie der Normbereichslehre von Friedrich Müller.257 Während die traditionelle Methodenlehre eine strenge Grenze zwischen der Norm als geistig-sprachlicher Entität und den Tatsachen, der Lebenswirklichkeit, zieht, auf welche die Norm lediglich anzuwenden ist, nimmt Müller die von der Norm in Bezug genommene Lebenswirklichkeit unmittelbar in den Normbegriff auf. Dieser Ansatz produziert allerdings insofern einen ‚Kurzschluss‘ zwischen Recht und Wirklichkeit als er nicht hinreichend beachtet, dass Recht seine soziale Umgebung nach spezifisch eigenen expliziten und Selbstverständnis- und Selbstbeschreibungskategorie, die eine vereinheitlichende Kraft auf die Praktiken der Akteure ausübt, die sich in dem jeweiligen Feld bewegen; vgl. Barlösius, Pierre Bourdieu, 2006, S. 94; auch Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, 2006, S. 106. 252  Vgl. Bourdieu / Wacquant, Reflexive Anthropologie, 1996, S. 134 f. 253  Vgl. wiederum Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972; zur hermeneutischen Rechtstheorie ausführlich oben unter B. I. 4. 254  Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1972 (9. Aufl. 2003), S. 32 f. 255  Vgl. Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006, S. 28; auch Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel „des“ demografischen Wandels, 2010, S. 187: Foucault versucht, „mit der Analyse von Diskursen und Dispositiven den Wissenskomponenten nachzugehen, die sich institutionell verfestigen, sich jedoch zudem auf die Selbstwahrnehmung der Einzelnen und die Wahrnehmung von Kollektiven auswirken“. 256  Vgl. Schauer, Aufforderung zum Spiel – Foucault und das Recht, 2006, S. 113. 257  Dazu ausführlich oben unter B. III. 4. a) aa).

460 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

impliziten Regeln wahrnimmt und verarbeitet. Es unterscheidet sich dabei etwa von den Sozialwissenschaften und anderen Disziplinen in seinem (erkenntnis)theoretischen Zugriff in dem Sinne, dass zwischen Norm und Wirklichkeit eine Art Filter der juristischen Mediatisierung eingebaut ist, der die Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit durch das Recht erst ermöglicht und selbst(reflexiv) strukturiert.258 Um in der Terminologie der Systemtheorie zu bleiben: Das Recht verarbeitet seine Umweltbeobachtungen auf spezifisch eigenrationale Weise, nämlich in Form juristischer Begriffsbildungen, welche die Wirklichkeit nicht lediglich abbilden, sondern in spezifisch eigener Weise konstruieren.259 Soziale Problemlagen werden dabei im Sinne vorhandener Begriffe und Kriterien des Rechts reformuliert und einem Selektionsmechanismus unterworfen, in dem bestimmte Wirklichkeitsannahmen für rechtlich relevant und andere für irrelevant erklärt werden.260 So wird einerseits nach dem normativen Programm die Erhebung und Verarbeitung bestimmter Realdaten261 ausdrücklich gefordert. Wenn das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in seinem Apotheken-Urteil262 im Rahmen der Verhältnismäßigkeit prüft, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele eines Gesetzes von diesem auch tatsächlich gefördert werden und in einem erforderlichen und angemessenen Verhältnis zum damit verbundenen Grundrechtseingriff stehen, verweist es unmittelbar auf Annahmen und Prognosen über die Wirkung staatlicher Regulierung und damit auf soziale Fakten.263 Die Argumentation mit Realdaten war hier also über den juristischen Filter des Verhältnismäßigkeitsprinzips264 unmittelbar Teil der verfassungsrechtlichen Argumentation. Allerdings kommen hierbei nur die Wirklichkeitsannahmen in den Blick, die in der verfassungsrechtlichen Argumentation explizit Verwendung finden, weil ein dogmatischer Grundsatz wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip als 258  Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 66 ff., spricht im Anschluss an Luhmann von „Umweltbeziehungen des Rechtssystems“; vgl. auch Drosdeck, Der Rechtsfall als Konstrukt, 1997. 259  Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 352 ff. 260  Vgl. Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006, S. 29. 261  Diesen anschaulichen Begriff verwenden Müller / Christensen, Juristische Methodik I, 2004, Rn. 13, in Abgrenzung zu Sprachdaten. Realdaten bezeichnet dabei „die empirischen Elemente, die als natürliche oder soziale Fakten primär nichtsprachlich konstituiert sind, die aber gleichwohl, damit juristische Praxis und Wissenschaft mit ihnen arbeiten können, sekundär sprachlich vermittelt sein müssen“. 262  BVerfGE 7, 377 – Apotheken; ausführlich dazu oben unter B. II. 4. e). 263  Ausführlich oben unter B. II. 4. e). 264  Dazu ausführlich oben unter D. II. 1. c); vgl. auch Führ, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als methodischer Brückenschlag, 2001. Der im Titel genannte „Brückenschlag“ erfolgt nach Führ zwischen dem Recht und den Verwaltungswissenschaften.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes461

Teil des normativen Programms die Ermittlung und Einbeziehung derartiger Realdaten fordert, also direkt auf Annahmen über die soziale Umwelt verweist. Nicht in den Blick geraten jedoch die sozialen Wirklichkeitsannahmen, also Grundverständnisse und Annahmen über soziale Zusammenhänge, die bildlich gesprochen ‚hinter‘ Normen, dogmatischen Konstruktionen und Begriffen stehen, also in der Regel nicht expliziert werden, aber das jeweilige Normverständnis und die Rechtsanwendung mit beeinflussen.265 Jede Normsetzung oder auch dogmatische Konstruktion setzt Vorstellungen darüber voraus, was und wie die jeweils in Bezug genommene soziale Situation angemessen geregelt werden soll, verweist also vom Recht hinaus auf seine soziale Umwelt. Wie es Esser in seiner Monografie Vorverständnis und Methodenwahl ausdrückt: „In diesem Sinne ist der Anwendungsakt von der Verständnismöglichkeit abhängig und die Verständnismöglichkeit von der Anwendungsvorstellung“.266 So ist in der Begründung der sogenannten Kopftuch-Entscheidung aus dem Jahr 2003267 erkennbar, dass die Richtermehrheit und -minderheit im Zweiten Senat mehr trennt als nur ‚rein‘ juristisch-normative Wertungen und Argumente. Es geht zentral auch um die Bedeutung des Kopftuchs als Symbol eines fundamentalistischen Islam, die Wirkungen dieses Symbols auf seine Umwelt, die Konstruktion von Geschlechter(rollen)bildern und – nicht zuletzt – um die Frage, ob und wie die Integration des muslimischen Glaubens im traditionell stark christlich beeinflussten bundesdeutschen Schulwesen sinnvoll geleistet werden kann und soll.268 Hier werden eine Reihe von Vorannahmen über gesellschaftliche Zusammenhänge bedeutsam, die, wie Baer feststellt, oft auch auf unhinterfragten ‚Vorurteilen‘ im Sinne von ‚Denkmustern‘269 beruhen und hinter den abstrakten dogmatischen Konstruktionen wie dem Neutralitätsgrundsatz mehr oder weniger deutlich aufscheinen. Dass solche Vorannahmen eine Rolle spielen, zeigt sich etwa wenn die Senatsmehrheit feststellt, das Tragen religiöser Symbole könne das Konfliktpotential in der Schule erhöhen und daher in Anbetracht zunehmender religiöser Pluralität eine Gefahr begründen, andererseits aber auch die Möglichkeiten der Einübung toleranten Verhaltens durch Konfrontation mit religiöser Vielfalt hervorhebt.270 Es zeigt sich erst recht, wenn die dissentierenden Richter das 265  Vgl. auch Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 62  ff.; Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit, 2001, S. 538 f. 266  Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972, S. 139. 267  BVerfGE 108, 282; siehe nunmehr aber BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris. 268  Ausführlich Wrase, Die Kontroverse um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin, 2010, S. 366 ff. 269  Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 54 f. 270  Vgl. BVerfGE 108, 282 (310).

462 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Kopftuch als eine „kompromisslose Erfüllung“ des „islamischen Verhüllungsgebotes der Frau“ betrachten und damit eine Ablehnung des „westlichen Wertesystems“ und die „Unterordnung der Frau unter den Mann“ in Verbindung setzen.271 Um es in knappen Worten zuzuspitzen: Das Recht verarbeitet die Erkenntnisse über die soziale Wirklichkeit nach eigenen Operationen. Es nimmt aber keinen ‚neutralen‘ Zugriff auf die dem Recht vorausliegende Realität, sondern ist seinerseits bereits von Vorverständnissen über soziale Zusammenhänge beeinflusst.272 Es richtet seine normativen Vorgaben mit Blick auf seinen sozialen Steuerungszweck aus. Geht das Recht davon aus, dass Menschen beim Eingehen rechtsgeschäftlicher Verbindlichkeiten ‚frei‘ und selbstbestimmt handeln, dann muss es sich, um Freiheit zu gewährleisten, an einem formalen Modell privatautonomen Handelns ausrichten. Erweist sich dieses Sozialmodell allerdings – generell oder in bestimmten Bereichen – als unzutreffend, was sich (nur) mithilfe historischer Erfahrung oder empirischer Einsicht nachweisen lässt, dann muss das Recht gegebenenfalls – genau im Gegenteil – bestimmte Regulierungen und Kontrollen vorsehen, um Freiheit in einem materialen Sinn zu ermöglichen. Das Recht zielt darauf ab, menschliches Verhalten zu regeln. Daher muss es sich notwendigerweise Vorstellungen über das menschliche Verhalten machen, das es regeln möchte. Damit sind Vorannahmen über soziale Zusammenhänge, auch wenn sie nicht expliziert werden, bereits unausweichlich im Recht enthalten und bestimmen dessen Interpretation und Anwendung (mit). Recht ist in diesem Sinne also gegenüber seiner sozialen Umwelt nicht autonom, sondern wird maßgeblich von dieser (mit)beeinflusst. Bei kritischer Betrachtung ist in Bezug auf die Verarbeitung von Wirklichkeitsannahmen, sprich Umweltinformationen, im juristischen Diskurs vor allem die Frage nach dessen selektiver Wahrnehmung aufgeworfen, also danach, wessen Perspektiven – durch die normative ‚Brille‘ des Rechts gesehen – (bewusst oder unbewusst) privilegiert und welche ausgeblendet werden.273 Diese Frage stellt sich, weil das Recht nicht schlicht Wirklichkeit ‚spiegelt‘, sondern Perspektiven auf diese Wirklichkeit einnimmt, die häufig von einer dominanten Sicht geprägt sind. In dem im 271  Abw.

Meinung BVerfGE 108, 282 (333). auch Petersen, Avoiding the Common Wisdom Fallacy: The Role of Social Sciences in Constitutional Adjudication, 2011, S. 4: „[…] our normative beliefs are also shaped by our knowledge of the world. Making a normative choice between different options presupposes that we are aware of the available options. Furthermore, normative models are often based on empirical assumptions. There­ fore, a practical conclusion of a normative argument may be misleading if the normative argument is based on unrealistic empirical assumptions.“ 273  Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 159 ff. 272  Vgl.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes463

vorhergehenden Abschnitt behandelten Beispiel der Rechtsprechung zur Privatautonomie hat das Bundesverfassungsgericht bewusst die Perspektive des unterlegenen Vertragsteils hervorgehoben, um die Korrektur einer rein wirtschaftsliberalen Betrachtungsweise des Kreditsicherungsrechts vorzunehmen.274 Bewegt man sich, wie hier vorgeschlagen, methodisch auf der Problemebene und stellt damit die jeweils aufgeworfene Fallfrage in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext, dann lässt sich der konstruktive Umgang des Rechts mit der jeweils relevanten sozialen Wirklichkeit in kritisch-rekonstruktiver Absicht analysieren. Da Recht auf soziale Konflikte und Problemlagen reagiert, die es in bestimmter Weise juristisch bewältigen (‚lösen‘) will, kann und muss die Frage nach der material angemessenen rechtlichen Definition und Verarbeitung der zugrunde liegenden sozialen Problemlage gestellt werden. Das kritische Potential, das etwa eine interdisziplinäre Betrachtung in den juristischen Diskurs einbringen kann, liegt dann mit anderen Worten in der Prüfung der juristischen Konstruktionsbildung darauf, ob das dem Fall zugrunde liegende soziale Problem vom Rechtssystem (wirklichkeits)adäquat verarbeitet worden ist.275 Basieren die Vorannahmen, auf die sich das Recht für die Regelung eines lebenswelt­ lichen Problems stützt, auf einer angemessenen Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit? Oder werden bestimmte Aspekte, Sichtweisen oder gar wissenschaftliche Einsichten bewusst oder unbewusst ausgeklammert, übersehen oder nicht in der erforderlichen Weise einbezogen? 2. Juristische Mediatisierung grundrechtlicher Problemlagen Rechtskonflikte entstehen als soziale Konflikte: Eine Lehreramtsbewerberin muslimischen Glaubens möchte im Unterricht auf das Tragen ihres Kopftuchs aus kulturellen und religiösen Gründen nicht verzichten. Die zuständige Schulbehörde des betreffenden Bundeslandes möchte ihr dies nicht gestatten; sie sieht die religiöse Neutralität und den Schulfrieden beeinträchtigt und lehnt ihren Antrag auf Einstellung in den Schuldienst ab.276 Ein an einer seltenen und in der Regel tödlich verlaufenden Krankheit leidender junger Mann unterzieht sich einer Therapie, deren Wirksamkeit zwar nicht ausgeschlossen, aber schulmedizinisch auch nicht allgemein anerkannt ist. Die gesetzliche Krankenkasse lehnt es ab, die Kosten der Therapie zu übernehmen.277 Eine Zeitschrift druckt Werbeanzeigen eines Textilherstel274  Ebd.,

S. 159. auch im Folgenden unter E. II. 3. 276  Vgl. BVerfGE 108, 282 (284 f.) – Kopftuch. 277  Vgl. BVerfGE 115, 25 (30 ff.) – Krankenversicherung; die Entscheidung vom 6. Dezember 2005 wird heute im rechtswissenschaftlichen Schrifttum im Anschluss 275  Vgl.

464 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

lers, der auf Fotos unter seinem Logo in sehr offener („schockierender“) Weise auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam macht, und wird von der Wettbewerbszentrale vor den Zivilgerichten erfolgreich auf Unterlassung in Anspruch genommen.278 Grundrechtliche Konflikte entstehen in sozialen Kontexten, sie sind Ausdruck sozialethischer Konfliktlagen. Zu spezifisch rechtlichen Konflikten werden sie dann, wenn die betroffenen Personen oder Personengruppen einer tatsächlichen Handlung oder rechtlichen Entscheidung ausgesetzt sind, sich dagegen wehren und hierfür auf ‚ihre Rechte‘ berufen, diese gegenüber dem Staat oder anderen ‚geltend machen‘ und sie durch Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen und Verfahren ‚mobilisieren‘.279 Durch die Geltendmachung von Rechten und deren Aktivierung in einem spezifisch juristischen Verfahren, unter Berufung auf Rechte und Normen, wird der lebensweltliche Konflikt in einen rechtlichen Problemlösungsmechanismus transformiert.280 Aus dem ‚Streit‘ wird ein ‚Rechtsstreit‘. Die nicht eingestellte Lehrerin mit Kopftuch erhebt gegen den Bescheid des Oberschulamts, der ihr die Übernahme in den Schuldienst rechtlich versagt, Widerspruch und anschließend Klage vor den Verwaltungsgerichten. Sie beruft sich dabei auf ihr Grundrecht auf Glaubensfreiheit. Der Krankenversicherte streitet für die Übernahme der Therapiekosten auch im Widerspruchsverfahren und dann vor den Fachgerichten unter Berufung auf sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Zeitschrift wehrt sich vor den Zivilgerichten vergeblich gegen die Unterlassungsverfügungen und erhebt schließlich unter Berufung auf ihre Pressefreiheit Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. a) Transformation in einfach-rechtliche Rechtskonflikte Die justizförmige Bearbeitung und Entscheidung des Konflikts bestimmt sich zunächst nach den Vorgaben und Strukturen des einfachen Rechts. Durch die Transformation in einen Rechtskonflikt setzt ein Vorgang der an Kingreen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, 2006, S. 880, als „Nikolaus-Beschluss“ bezeichnet. 278  BVerfGE 102, 347 – Schockwerbung I; BVerfGE 107, 275 – Schockwerbung II. 279  Zum Begriff der Rechtsmobilisierung siehe Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, 1995, S. 27: „Als gemeinsame Erkenntnis können wir allen Studien über Inanspruchnehmen und Vermeiden von Rechten im Alltag entnehmen, daß es der Akteure bedarf, um aus einem Problem oder Konflikt im sozialen Kontext ein ‚Rechtsproblem‘ zu machen.“ 280  Blankenburg / Treiber, Interpretationsherrschaft über die Grundrechte, 1981, S. 21.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes465

„Schließung nach außen“ ein.281 Der Konflikt wird nach spezifisch juristischen Formen, Arbeits- und Argumentationsweisen behandelt. So wird die Frage, ob die Nichteinstellung einer Lehrerin mit Kopftuch an einer öffentlichen Schule zulässig ist, von den Gerichten zunächst anhand der Normen und dogmatischen Maßstäbe des Beamtenrechts beurteilt. Je genauer die dort vorfindliche Regelung oder anerkannte Dogmatik auf das Problem oder den angesprochenen Problemkreis zugeschnitten ist, desto weniger Konkretisierungsspielraum verbleibt den Gerichten bei ihrer Entscheidung. Umgekehrt ist ihr Entscheidungsspielraum umso größer, je weniger das einschlägige Fachrecht einen Problembereich bereits normiert. So hatten vor der Entscheidung des Zweiten Senats zum Kopftuch-Fall die Fachgerichte die Nichteinstellung der Lehrerin allein am unbestimmten Rechtsbegriff der beamtenrechtlichen „Eignung“ zu beurteilen,282 während seither in den meisten Bundesländern Gesetze erlassen wurden, die das Tragen „religiöser Symbole“ oder „Kleidungsstücke“ im Schuldienst verbieten.283 Das Problem hat sich damit von der Rechtsanwendungsebene auf die Rechtssetzungsebene verlagert.284 b) Mediatisierung und sozialer Bezug der Grundrechte Die Grundrechte haben nun eine besondere Struktur: Indem die sie unmittelbar auf einzelne Lebensbereiche (wie Familie, Schule, Kommunikation oder Beruf) und die darin geschützten individuellen und kollektiven Interessen verweisen, nehmen sie die durch das einfache Recht bewirkte juristische Mediatisierung des Konflikts sozusagen ein Stück weit zurück. Zahlreiche grundrechtliche Sicherungen wie Art. 4, 5 Abs. 3 GG und teilweise Art. 2, 5 Abs. 1, 8, 11, 13 GG schützen „elementare Lebensbedürfnisse oder grundlegende soziale Handlungskomplexe“, die „ihre wesentlichen Strukturmerkmale“ nicht vom Recht selbst empfangen.285 Andere Grundrechte wie vor allem Art. 5 Abs. 1, 6, 7, 9, 12 und 14 GG sind zwar rechtlich ausgestaltet und daher auch normativ mitgeprägt, bleiben aber ihrer Zwecksetzung auf individuell-soziale Freiheitsausübung ausgerichtet.286 Schon der Begriff 281  Ebd., S. 24  f., unter Bezugnahme auf Max Webers Konzept der sozialen Schließung. 282  Nachweise bei Battis, Kopftuchverbot im Schuldienst, 1998. 283  Vgl. die Übersicht bei Baer / Wrase, Staatliche Neutralität und Toleranz in der „christlich-abendländischen Wertewelt“, 2005. 284  Und nunmehr, mit der neuen Entscheidung des Ersten Senats, wieder zurück auf die Rechtsanwendungsebene, siehe BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.  Januar 2015 – 1 BvR 471 / 10 u. a., juris, Rn. 113 ff. 285  Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 44. 286  Vgl. oben unter D. I. 2. b).

466 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

der „freien“ Persönlichkeitsentfaltung in Art. 2 Abs. 1 GG verweist auf die Möglichkeit(en) sozialen Handelns. Die Konkretisierung des Gewährleistungsziels im Sinne eines materialen Grundrechtsverständnisses erfordert somit explizit einen Rückgriff auf materiale Wertungen und damit auch auf das Wissen über die sozialen Zusammenhänge des jeweils grundrechtlich geschützten Lebensbereichs, also die Zustände und Handlungsbedingungen, unter denen grundrechtliche Freiheitsausübung in gesellschaftlichen Kontexten stattfindet. Denn das Recht muss in seinen Regelungsstrukturen so ausgerichtet werden, dass es Freiheitsausübung ermöglicht und möglichst effektiv sichert.287 Steuerungsentscheidungen, die aus einer bestimmten Freiheitsgewährleistung erwachsen, lassen sich vor diesem Hintergrund erst in Ansehung der sozialen Bedingungen des Freiheitsgebrauchs treffen.288 Dies hat das Beispiel der Rechtsprechung zur Privatautonomie anschaulich gemacht. Wird das Vertragsrecht allein aus dem Blickwinkel eines formalen Freiheitsverständnisses betrachtet, ist gegen die Formel „Vertrag ist Vertrag“ nichts einzuwenden; sie erscheint sogar als zwingender Ausfluss einer liberalen Freiheitsgarantie, die es ‚den Bürgern‘289 überlässt, ihre rechtlichen Beziehungen eigenverantwortlich zu regeln. Betrachtet man hingegen die sozialen Machtungleichgewichte, die bewirken, dass eine Partei ihre Interessen zum Nachteil der anderen faktisch durchsetzen kann, dann verkehrt sich, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen prägnant formuliert, formale Selbstbestimmung in (soziale) Fremdbestimmung. Dies lässt sich auch anhand von rechtstatsächlichen Erhebungen, etwa im Bereich des Ehevertragsrechts, plausibel belegen.290 Eine weitergehende Inhaltskontrolle derartiger Verträge erscheint dann nicht mehr (nur) als (rechtfertigungsbedürftiger) Freiheitseingriff, sondern als materiale Notwendigkeit zur Gewährleistung realer Selbstbestimmung.291 287  Vgl.

oben unter E. I. 1. a). nur Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 55; in diesem Sinne auch Petersen, Avoiding the Common Wisdom Fallacy: The Role of Social Sciences in Constitutional Adjudication, 2011, S.  3 f. 289  Zur Konstruktion „des Bürgers“ im Recht siehe Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2006. 290  Vgl. die jeweiligen Nachweise in der Unterhaltsverzichtsentscheidung BVerfGE 103, 89 (91, 103 f.); vgl. auch Schwenzer, Vertragsfreiheit im Ehevermögens- und Scheidungsfolgenrecht, 1996, S. 91 f. 291  Vgl. auch Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 45 f.: „In der Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft greift […] der überkommene Gegensatz von Freiheit und Bindung, von individuellem Belieben und Gemeinschaftsinteressen zu kurz. Die Sozialität vermag die individuelle Freiheit zu steigern, sie über das Potential eines isoliert gedachten Individuums hinauszuheben und zusätzliche Chancen zu eröffnen. Man muß die Möglichkeiten individueller 288  Vgl.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes467

Verfassungsrechtliche Steuerung im Rahmen einfach-rechtlicher Kontexte muss sich hierauf einstellen und, wie es Hoffmann-Riem formuliert, die Betrachtung des jeweiligen „Realbereichs“ in ihre Analyse und dogmatische Konstruktionsbildung einbeziehen.292 Damit wird der von der Grundrechtsnorm in Bezug genommene Wirklichkeitsausschnitt jedoch nicht zu einem Bestandteil der Norm selbst.293 Vielmehr geht von der Norm und ihrer Interpretation eine Steuerungsentscheidung aus, die – wie dargelegt – mediatisiert über die (einfache) Rechtsordnung auf die soziale Wirklichkeit einwirkt, indem sie die rechtlichen Handlungsbedingungen in den betroffenen gesellschaftlichen Bereichen festlegt. Die Steuerungsrichtung und Maßstäbebildung der verfassungsrechtlichen Dogmatik setzt folglich Wissen darüber voraus, welche sozialen Bedingungen für den Freiheitsgebrauch notwendig sind und woher unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Freiheitsgefährdungen drohen. Ein prägnantes Beispiel hierfür aus dem Bereich der Pressefreiheit hat Grimm gebildet: Existiert eine inhaltlich pluralistische, wirtschaftlich kräftige und journalistisch verantwortungsvolle Presse, kann die Gewährleistung der Freiheit im laissez faire, also einer eher liberalen Ausrichtung des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts bestehen.294 Ist dieser Zustand jedoch bedroht oder im Schwinden begriffen, so kann das grundrechtliche Freiheitspostulat gerade eine verfassungsgerichtliche Gegensteuerung erfordern.295 Denkbar wären spezifische Maßnahmen zur Verhinderung von Presse- und Meinungsmonopolen, etwa die Begrenzung der Anteilseignerschaft für Einzelpersonen und Konzerne an Presseunternehmen.296 Entsprechend muss die Verfassungsjudikatur bei der Analyse der relevanten Wirklichkeitsausschnitte auch kontextrelevante Realdaten erheben und hierfür gegebenenfalls auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen, um ihre Steuerungsentscheidungen im Rahmen der grundrechtlichen ÜberprüEntfaltung deshalb aus dem sozialen Kontext heraus verstehen, um sie in ihrem Gehalt und Sinn angemessen zu erfassen“; ähnlich bereits Suhr, Freiheit durch Geselligkeit, 1984, S. 534 ff. und Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976. 292  Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 56. 293  Daher kann dem Normbereichskonzept von F.Müller hier nicht in Gänze gefolgt werden; dazu ausführlich oben unter B. III. 4. a) aa). 294  Insofern hat die Pressefreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine ganz andere funktionale Ausprägung und dogmatische Struktur erhalten als die Rundfunkfreiheit, obwohl beide Grundrechte gleichberechtigt in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG genannt werden; siehe oben unter D. I. 2. c). 295  Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 46. 296  Vgl. auch oben unter D. I. 2. c).

468 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

fung der Regelungsstrukturen des einfachen Rechts entsprechend fundiert zu treffen.297 Eine rechtliche Definition sozialer Wirklichkeit kann die Lebensverhältnisse und Handlungsweisen allerdings niemals in ihrer Totalität erfassen, sondern produziert notwendigerweise selbst Ausschlüsse. Sie überträgt, wie Baer angemerkt hat, soziale Verhältnisse auf eine andere, normativ-regelnde Ebene und macht es erforderlich, „widerstreitenden Erfordernissen von Rechtssicherheit und begrifflicher Flexibilität, von Gleichheit und größtmöglicher Selbstbestimmung, von Partikularem und Allgemeinem gerecht zu werden“. Damit stellt sich die schon angesprochene Frage nach der eingenommenen Perspektive des Rechts und speziell der Grundrechte bei der Sicherung sozialer Freiheitsoptionen. Es geht in diesem Sinn nicht nur um die Diskrepanz zwischen Recht und einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern auch „um die Diskrepanz zwischen Recht und unterdrückter Realität“,298 also fehlendes spezifisches Kontextwissen. Ein formales Verständnis der Vertragsfreiheit ‚unterdrückt‘ in diesem Sinne die Realität sozial ungleicher Verhandlungspositionen, indem es idealtypisch davon ausgeht, dass sich ein angemessener Interessenausgleich im Rahmen eines möglichst unreglementierten Aushandelns zwischen den Parteien quasi von selbst einstellt oder ‚im Einzelfall‘ bestimmte ‚Härten‘ in Kauf zu nehmen sind.299 c) Problembezogene Entwicklung des Gewährleistungsbereichs – am Beispiel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Die Wahrnehmung von Bedingungen sozialer Freiheitsausübung und deren Gefährdungen können dazu führen, auf einer Problemebene weitere spezifische Gewährleistungsgehalte der Grundrechte anzuerkennen, wenn sich der grundrechtliche Gewährleistungszweck anders nicht oder nicht effektiv erreichen lässt. Neue oder neu erkannte Gefährdungslagen erfordern daher gegebenenfalls eine normative Reaktion im Wege der Grundrechtskonkretisierung. Spezifische Gewährleistungsgehalte hat das Bundesverfassungsgericht vor allem in Fortentwicklungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) anerkannt. Die Notwendigkeit, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht das Recht auf informationelle 297  Vgl. Petersen, Avoiding the Common Wisdom Fallacy: The Role of Social Sciences in Constitutional Adjudication, 2011, S. 3 f.; siehe auch Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1996, S. 167 f. 298  Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 159 f. 299  In diesem Sinne BGH, 1991, 2015 (2017); ausführlich oben unter E. I. 2.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes469

Selbstbestimmung zu entnehmen, hat es ausdrücklich mit dem technischen Fortschritt und den daraus resultierenden Persönlichkeitsgefährdungen begründet und dafür spezifische Anforderungen aufgestellt, die insbesondere den Schutz vor unbegrenzter Datenerhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe betreffen.300 In seinem Volkszählungsurteil vom Dezember 1983 hat der Erste Senat, dessen Entscheidung durch den Berichterstatter Heußner vorbereitet worden war, hierzu grundlegende Ausführungen gemacht: Das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht sei gerade mit Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit zu betrachten. Die bisherigen Konkretisierungen durch die Rechtsprechung würden den Inhalt des Persönlichkeitsrechts nicht abschließend festlegen.301 Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich also explizit um ein entwicklungsoffenes und damit dynamisch zu betrachtendes Grundrecht, das mit Blick auf soziale Gefährdungslagen zu konkretisieren ist. Es umfasse auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.302 Weiter führt das Gericht aus: Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes. Sie ist vor allem deshalb gefährdet, weil bei Entscheidungsprozessen nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene Karteien und Akten zurückgegriffen werden muß, vielmehr heute mit Hilfe der automatischen Datenverarbeitung Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person (personenbezogene Daten [vgl. § 2 Abs. 1 BDSG]) technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Sie können darüber hinaus – vor allem beim Aufbau integrierter Informationssysteme – mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, ohne daß der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann. Damit haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsichtnahme und Einflußnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen.303 300  Zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und seine Entwicklung allgemein Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 152 ff.; Holz­ nagel, Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, 2000; Gusy, Informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz – Fortführung oder Neuanfang?, 2000. 301  BVerfGE 65, 1 (41). 302  BVerfGE 65, 1 (42). 303  BVerfGE 65, 1 (42).

470 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Individuelle Selbstbestimmung setze aber unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien voraus, dass die Datenerhebung und -nutzung begrenzt bleibe. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen könne, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt seien, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermöge, könne in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens sei.304 Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus.305

Bei der damit begonnenen problembezogenen Konkretisierung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung konnte sich das Bundesverfassungsgericht auf die seit den 1970er Jahren zu beobachtende Entwicklung eines Datenschutzrechts stützen, vor allem auch auf Vorarbeiten durch ein soziologisch-kybernetisches Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Datenschutz aus dem Jahr 1971.306 Die Gruppe unter Leitung von Steinmüller hatte in diesem Gutachten die Kenntnisse, welche die soziale Umwelt über eine Person hat, als ein wesentlichen Element sozialen Handelns identifiziert und in Bezug auf die öffentliche Datenverarbeitung den Begriff der „informationellen Selbstbestimmung“ geprägt, der in verschiedene Gefährdungsrichtungen (Ermittlung, Erfassung, Speicherung, Veränderung, Weitergabe, Verarbeitung und Löschung von Informationen) ausdifferenziert wurde.307 Ersichtlich orientierte sich die Entscheidung des Ersten Senats an der Terminologie und den inhaltlichen Leitlinien dieses Gutachtens und hat damit unmittelbar die sozialwissenschaftliche Analyse der persönlichkeitsrelevanten Gefährdungslage für die problembezogene Entwicklung spezifischer Grundrechtsgehalte übernommen.308 304  BVerfGE

65, 1 (43). 65, 1 (43). 306  Kötter, Pfade des Sicherheitsrechts, 2008, S. 144  f.; zu den Anfängen des Datenschutzes in Deutschland grdl. Simitis, Chancen und Gefahren der elektronischen Datenverarbeitung – Zur Problematik des „Datenschutzes“, 1971; Löchner / Steinmüller, Datenschutz und Datensicherung, 1975; vgl. auch die Beiträge in Kilian / Lenk / Steinmüller, Datenschutz – juristische Grundsatzfragen beim Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen in Wirtschaft und Verwaltung, 1973. 307  Steinmüller et al., Grundfragen des Datenschutzes – Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, 1971. 308  Ausführlich Kötter, Pfade des Sicherheitsrechts, 2008, S. 144 ff. 305  BVerfGE



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes471

An dem Beispiel eines so verstandenen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, an das die Väter und Mütter des Grundgesetzes niemals gedacht hatten und – vor dem Hintergrund des Stands der technischen Entwicklung 1949 – auch nicht hätten denken können, wird auch der dynamische Charakter der Grundrechtsinterpretation als „unabgeschlossene Lern­ geschichte“ (Bielefeldt) besonders deutlich,309 die auch zur Entwicklung gänzlich neuer Gewährleistungsgehalte führen kann.310 3. Soziologische Verfassungsrechtswissenschaft? a) Problembezogene Grundrechtsinterpretation und soziale Wirkungsanalysen Das vom Bundesverfassungsgericht begründete materiale Grundrechtsverständnis betrachtet den grundrechtlichen Freiheitsgebrauch somit auch in seinen sozialen Voraussetzungen und Bedingungen des jeweilig in Bezug genommenen Lebensbereichs („Realbereich“311). Das gilt etwa bei der Begründung von objektiven Gewährleistungsgehalten wie Teilhabe und gleichberechtigtem Zugang zu Ausbildungseinrichtungen, wenn dies „notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten“ ist.312 Gleiches gilt etwa im leistungsrechtlichen Bereich für die Gewährleistung eines physischen und sozio-kulturellen Existenzminimums.313 Annahmen über die soziale Wirklichkeit finden vor diesem Hintergrund in unterschiedlicher, direkter wie indirekter Weise in den Prozess der grundrechtlichen Konkretisierung und Maßstabsbildung Eingang. Ein zentrales methodisches Element der Grundrechtsinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht stellen soziale Wirkungsanalysen dar.314 Die grundrechtliche Steuerung der 309  Siehe

oben unter C. I. 3. allerdings einer spezifischen Gefährdungslage im Rahmen bestehender und dogmatisch bereits weitgehend konkretisierter Gewährleistungsmaßstäbe angemessen Rechnung getragen werden kann, bedarf es einer solchen Erweiterung im Sinne neuer Grundrechtsgewährleistungen nicht. Kritisch zur Entwicklung eines „neuen Grundrechts“ auf „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ durch BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchungen unter anderem Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, 2008. 311  Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, 2004, S. 55. 312  BVerfGE 33, 303 (330 ff.) – numerus clausus. 313  BVerfGE 125, 175 (222) – Hartz IV; vgl. auch Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, 1995. 314  Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, spricht von „Folgenargumenten“. 310  Soweit

472 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

Rechtsordnung erfolgt dabei mit Blick auf die intendierten Ziele und tatsächlichen Sozialwirkungen der Gesetzgebung und Rechtsanwendung. So prüfte der Erste Senat in seinem grundlegenden Apotheken-Urteil 1958 erstmals im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele der Zulassungsbegrenzung des Bayerischen Apothekengesetzes 1952 von diesem auch tatsächlich gefördert wurden und in einem erforderlichen und angemessenen Verhältnis zum damit verbundenen Grundrechtseingriff standen.315 Die Apotheken-Entscheidung ist dabei, wie bereits dargelegt, geradezu ein Paradebeispiel für die Berücksichtigung und Nachprüfung von (angenommenen) Sozialwirkungen zur Sicherung einer liberalen Wirtschaftsordnung.316 Auch im Rahmen der Abwägung unterschiedlicher Grundrechtsgüter haben Wirkungsannahmen und -analysen eine erhebliche Bedeutung.317 So verwies der Erste Senat bereits in seinem Lüth-Urteil zentral auf die Gefahr der abschreckenden Wirkung, die sich aus einer (zu) restriktiven Unterlassungsjudikatur für die tatsächliche Bereitschaft der Bürger zur öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen ergeben könnte.318 In seiner Lebach-Entscheidung, die als exemplarisch für eine umfassende Abwägungsjudikatur angeführt werden kann,319 argumentierte der Senat 1973 maßgeblich mit der Bedeutung einer freien Berichterstattung für die Information und Meinungsbildung der Bürger einerseits und den negativen Wirkungen, die von der Berichterstattung für die betroffenen Personen und deren (Re-)Sozialisierung ausgehen können, andererseits.320 Ein materiales Grundrechtsverständnis, das die sozialen Bedingungen der Freiheitsausübung in die Konkretisierung grundrechtlicher Gewährleistungs315  Vgl. BVerfGE 7, 377 (412): „Der Inhalt des zur Prüfung stehenden Gesetzes und die für seine Gestaltung maßgebend gewesenen Erwägungen des Gesetzgebers müssen […] im einzelnen analysiert werden. Das setzt naturgemäß voraus, daß das Gericht ‒ notfalls mit Hilfe von Sachverständigen ‒ sich einen möglichst umfassenden Einblick in die durch das Gesetz zu ordnenden Lebensverhältnisse verschafft. Gerade dadurch wird sich oft ergeben, daß es möglich ist, größere Lebenszusammenhänge, die bisher in begrifflich undeutlicher Zusammenfassung als ‚Gegenstand‘ einer gesetzgeberischen Regelung angegeben waren, in einzelne klarer erfaßbare Sachverhalte aufzulösen und sie so unter Ausschaltung subjektiver Wertungen auch für ein Gericht beurteilbar zu machen“. 316  Siehe oben unter B. II. 4. e); vgl. hierzu Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, S. 57 ff. 317  Zur Abwägung als wesentliches Element der problembezogenen Methodik siehe oben unter D. II. 1. 318  BVerfGE 7, 198 (211 f.); zur Meinungsfreiheits-Rspr. ausführlich oben unter E. I. 1. c) bb). 319  Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 84 ff. 320  BVerfGE 35, 202 (225 ff.); siehe auch oben unter C. IV. 3. c).



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes473

gehalte einbezieht, setzt ein vertieftes Verständnis gesellschaftlicher Handlungsbedingungen im jeweils grundrechtlich geschützten Bereich voraus.321 Ohne ein (Vor-)Verständnis der sozialen Bedeutung beispielsweise von „Religion“ und „Glaubensausübung“ kann eine sachgerechte Konkretisierung des Schutzinhalts von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht gelingen.322 Eine problemorientierte Maßstäbebildung323 verlangt darüber hinaus, den sozialen Kontext, innerhalb dessen die Freiheitsausübung stattfindet, in die Betrachtung einzubeziehen. Nur vor diesem Hintergrund kann man sich die Verfassungsinterpretation der Reaktion der Rechtsordnung, das heißt der einfach-rechtlichen ‚Verarbeitung‘ des Problems zuwenden und eine adäquate Steuerungsentscheidung treffen.324 Der jeweilige Wirklichkeitsbezug kann dabei je nach Grundrecht und Problemlage unterschiedlich bedeutsam sein; er ist, wie gesehen, verfassungsdogmatisch grundsätzlich auf allen Ebenen der Grundrechtskonkretisierung zu beachten:325 Er kann, bei der Eröffnung des Gewährleistungsbereichs, etwa bei der Feststellung, ob ein Verhalten freiheitsschützende oder persönlichkeitsbildende Bedeutung hat und daher in den Schutzbereich einzubeziehen ist,326 ebenso relevant sein wie auf der Rechtfertigungsebene bei der Prüfung von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer beschränkenden Maßnahme.327 Die konstatierte Bedeutung von Wirklichkeitsannahmen bei der Grundrechtskonkretisierung wirft dann aus einer wissenschaftlichen Perspektive die Frage auf, inwiefern Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der Sozial-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften im weitesten Sinn, in die rechtliche Betrachtung einzubeziehen sind.328 Während die kontinentaleuropäische (Verfassungs-)Rechtswissenschaft hier traditionell zurückhaltend ist, 321  Vgl.

oben unter E. II. 2. b). zum Vorverständnis oben unter E. II. 1. 323  Vgl. oben unter E. I. 1. c). 324  Vgl. oben unter E. I. 1. und E. I. 2. 325  Vgl. auch Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 49. 326  Vgl. etwa BVerfGE 79, 256 (269  f.) – Kenntnis der eigenen Abstammung; BVerfGE 65, 1 (42 f.) – Volkszählung; siehe dazu auch im Folgenden unter E. II. 3. c). 327  Vgl. oben unter D. II. 1. c). 328  Die Sozialwissenschaften umfassen traditionell unterschiedliche Fächer, dazu gehören insbesondere Soziologie, Ethnologie, Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaften und (Sozial-)Psychologie. Inwiefern die seit den 1970er Jahren zunächst in Großbritannien und den USA und dann auch an kontinentaleuropäischen Hochschulen neu entstehenden Kulturwissenschaften (cultural studies) als Sozialwissenschaft angesehen werden können, ist fraglich, da sie sich (bewusst) einer disziplinären Einordnung weitgehend entziehen. Jedenfalls sind die Verknüpfungen zu den Sozialwissenschaften sehr eng, da sich cultural studies mit der Kultur als Ausdruck sozialen Lebens („particular way of life“, Raymond Williams) befassen und sich auch sozialwissenschaftlicher, zum Beispiel ethnografischer Methoden bedienen; 322  Vgl.

474 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

hat sich die Rechtswissenschaft in den Vereinigten Staaten unter dem Einfluss des Rechtsrealismus auf breiter Front sozialwissenschaftlichen und interdisziplinären Einflüssen geöffnet.329 Lepsius hat vor diesem Hintergrund die Frage gestellt, ob die Vereinigten Staaten von Amerika auch für die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft in dieser Hinsicht ein „Vorbild“ sein können.330 Brauchen wir also entsprechend der sociological jurisprudence in den USA eine interdisziplinäre Öffnung der Verfassungsrechtswissenschaft? Da die Notwendigkeit von Interdisziplinarität weiterhin ein „Grundproblem der Rechtstheorie“ und vor allem der Verfassungstheorie ist,331 soll im Folgenden ein Blick auf die US-amerikanischen Entwicklung gerichtet werden. b) Zum Vergleich: Die sozialwissenschaftliche und interdisziplinäre Öffnung der Rechtswissenschaften in den Vereinigten Staaten von Amerika Im Gegensatz zum europäischen Rechtsdenken gibt es in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft deutlich weniger Berührungsängste vor den Sozialwissenschaften. Die durch das neukantianische Ideal geborene Trennung zwischen ‚Sollen‘ und ‚Sein‘ hat in der Rechtskultur der Vereinigten Staaten keine vergleichbare Bedeutung erlangt. Maßgeblich war hier vielmehr der Einfluss von pragmatischer Philosophie332, sociological jurisprudence und legal realism. Häufig wird auch von einer „Revolte“ gegen den Formalismus gesprochen.333 In der juristischen Literatur dominiert heute ein gegenüber anderen Disziplinen offenes und problembezogenes Denken.334 vgl. Darity Jr., International Encyclopedia of the Social Sciences, 2008, Vol. 2: Cultural Studies, S. 198 ff.; Vol. 7: Social Science’s Branches, S. 616 f. 329  Vgl. den komparativen Beitrag von García-Villegas, Comparative Sociology of Law: Legal Fields, Legal Scholarships, and Social Sciences in Europe and the United States, 2006. 330  Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005; ausführlicher im Folgenden unter E. II. 3. c). 331  Ebd., S. 1; vgl. auch Morlok, Verfassungstheorie, 1988, S. 73 ff. 332  Vgl. Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, S. 37 ff.: Aichele, Legal Realism, 1990, S. 34 f.; vgl. Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006, S. 62 f.: „ ‚Instrumentalism‘ was another label for pragmatic philosophy, the label preferred by John Dewey (following Peirce and James, the most important early contributor to pragmatism), who for a time cotaught a seminar on jurisprudence at Columbia Law School and wrote several important articles that influenced Legal Realism. Pragmatism builds on the notion that truths are established in the course of the pursuit of collective projects in the world.“ 333  Aichele, ebd., S. 52, 123: der Ausdruck wurde von G. Edward White geprägt. 334  Vgl. Hesselink, The New European Legal Culture, 2001, S. 26: „Today, in American legal discourse, policy issues are at the core of legal debate. The pragma-



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes475

Eine erste Weichenstellung in Richtung eines realistischen Rechtsverständnisses erfuhr die amerikanische Rechtswissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch Oliver Wendell Holmes.335 Seine methodologische Neuausrichtung vollzog einen Bruch mit der analytischen Jurisprudenz Austinʼscher Prägung, die quasi das Gegenstück zum deutschen Rechtspositivismus im angloamerikanischen Rechtskreis darstellte, und eine Bewegung hin zu einer im Kern gesellschaftswissenschaftlich fundierten Betrachtung des Rechts.336 Als Methode propagiert Holmes eine historische Vorgehensweise; anders als bei Savigny sollte diese jedoch nicht der Systematisierung des Rechts dienen, sondern als tatsächliche Erfahrungsbasis Prognosen für richterliches Entscheiden ermöglichen.337 Anschaulich kommt das in seinem berühmten Zitat zum Ausdruck: The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.338

Bedeutenden Einfluss übte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Roscoe Pound mit dem Programm einer sociological jurisprudence aus. In Auseinandersetzung unter anderem mit Jhering propagierte Pound – ähnlich wie auch Benjamin M. Cardozo und Louis D. Brandeis – eine pragmatische Sicht der Rechtsanwendung.339 Es ging ihm darum, die in der Gesellschaft tic focus is on consequences of legal decisions. Although it is very much disputed what exactly the significance and success of the realist movement has been, and what their legacy is, their anti-formalist (in European terms: anti-dogmatic) approach, their pragmatic focus on consequences of rules, their external and critical perspective of the law and their removal of artificial boundaries between the social sciences, paved the way for such varied disciplines and movements as law & economics, law & society, law & literature, critical legal studies (cls), law & gender and law & race et cetera. The typical first reaction of the European who opens an American law journal is that it contains hardly any articles on ‚law‘. Indeed, these journals are dominated by economic, political, sociologic, behavioural and other analyses of specific problems rather than by articles on the relationship between concepts.“ 335  Eine biografische Darstellung stammt von White, Oliver Wendell Holmes, Jr., 2006. 336  Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd.  2, 1975, S. 169: „Holmes verstand sich selbst als Anti-Savigny und als Anti-Kant. Die Wendung Holmesʼ gegen Begrifflichkeit und System im Recht zu einem historischen Verständnis des Rechts ist untrennbar von seiner Kriegserklärung gegen die ‚German metaphysics‘, mit denen er sich anscheinend jahrelang auseinandergesetzt hat.“ 337  Holmes Buch The Common Law begann mit der Bemerkung: „The live of the law has not been logic: It has been experience.“, Alschuler, Law without Values, 2000, S.  84 ff. 338  Holmes, The Path of the Law, 1897, S. 461; zusammenfassend Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 50 f. 339  Aichele, Legal Realism, 1990, S. 30 ff.

476 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

vorhandenen Interessen zu bestimmen und zu untersuchen, wie das Recht zu einer optimalen Bedürfnisbefriedigung eingesetzt werden konnte. Regelungen sollten darauf geprüft werden, inwiefern ihre „sozialen Wirkungen“ (social effects) zu gerechten Ergebnissen führten. Der rapide gesellschaft­ liche und ökonomische Wandel jener Zeit verlangte auch vom Recht neue Antworten, sodass sich eine Soziologisierung des Rechts aufdrängte.340 Ähnlich wie bereits Holmes kritisierte Pound das aus England importierte starre Rechtsdenken und die analytische Jurisprudenz. Insbesondere beklagte er die mangelnde Fähigkeit des überkommenen Rechtsdenkens, angemessene Antworten auf die gewandelten sozialen Verhältnisse zu finden.341 Im Sinne der sociological jurisprudence waren bereits in den Jahren 1907 / 08 Louis D. Brandeis und Josephine Goldmark tätig geworden, deren Brandeis brief in die US-amerikanische Rechtsgeschichte einging. Maßgeblich unterstützt und motiviert durch die Arbeitsrechtlerin Goldmark, seine Schwägerin, verteidigte Brandeis als Anwalt des Staates Oregon die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes über die Begrenzung der Arbeitszeit von Frauen. Zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Vertragsfreiheit der arbeitgebenden Unternehmen legte er einen Schriftsatz (brief) vor, der auf über hundert Seiten empirisches Material über die Auswirkungen längerer Arbeitszeiten auf Gesundheit und soziale Lage der arbeitenden Frauen in Form von Statistiken, medizinischen Gutachten und soziologischen Feldstudien aufführte. Auf diese Weise konnte die Vernünftigkeit (reasonableness) der Arbeitsschutzregelung dargelegt werden. Das Gesetz wurde für verfassungsgemäß erklärt, womit der Supreme Court eine jahrzehntelange Rechtsprechung eines laissez-faire im Sinne einer formalisierten wirtschaftsliberalen Vertragsfreiheit einschränkte.342 Die ‚Revolte‘ gegen den Rechtsformalismus fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt im legal realism. Protagonisten wie Karl N. Llewellyn und Jerome Frank gingen davon aus, dass Gesetze und Präjudizien eine Entscheidung nicht determinieren könnten, dass es keine ‚neutrale‘ Methode gäbe, um aus abstrakten Regeln konkrete Entscheidungen abzuleiten. Auch bezweifelten sie, dass Tatsachenermittlung ein objektiver 340  Vgl. Trevino, Transaction Introduction, 2002, S. xxiii; siehe ausführlich Hull, Roscoe Pound and Karl Llewellyn – Searching for an American Jurisprudence, 1997, S.  17 ff. 341  Vgl. Pound, Social Control Through Law, 1942 (Neudruck 2002). 342  Supreme Court 208 U.S. 412 (1908); der Brandeis Brief ist in Auszügen abgedruckt in Brandeis / Goldmark, Muller v. Oregon 208 U.S. 412 (1908) Brief for Defendant in Error, 1993; siehe ausführlich Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005, S. 6. Darin lag nicht zuletzt auch ein Bruch mit dem traditionellen, von der analytischen Jurisprudenz geprägten Rechtsdenken, vgl. Trevino, Transaction Introduction, 2002, S. xxiv.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes477

Vorgang sei.343 Versuchte die sociological jurisprudence, die in Rede stehenden sozialen Bedürfnisse und Interessen in die rechtliche Argumentation einzubeziehen, nahmen die Vertreter der legal realism eine dezidiert kritische Haltung gegenüber der Normativität des Rechts ein. Den Realisten ging es – ganz im Sinne des Prophecy-Zitats von Holmes – um die Erwartung menschlichen Verhaltens für die Rechtsgewinnung.344 Während der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt der USA sich in den aufstrebenden Sozialwissenschaften an den Universitäten widerspiegelte, erschien die traditionelle Jurisprudenz rückständig und reformbedürftig. Nicht zuletzt stellte sich eine Reihe von Richtern des Supreme Court der Reformpolitik der damaligen US-amerikanischen Regierung entgegen (New-Deal-Rechtsprechung). Dies alles war Nährboden einer empiristischen Rechtskritik, wie sie von den Realisten propagiert wurde.345 Letztlich entwarf der legal realism das Programm einer „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“,346 die später im deutschsprachigen Rechtsraum zwar von Vertretern der Rechtssoziologie ebenfalls mit Nachdruck betrieben wurde, aber – anders als in den USA – immer in einer Außenseiterposition blieb.347 Der endgültige Durchbruch gelang dem sozialwissenschaftlichen Rechtsverständnis in der amerikanischen Rechtswissenschaft in den 1960er und -70er Jahren. Die politische Situation, die durch die Bürgerrechtsbewegung und den Kampf gegen Kriminalität, Armut und Rassendiskriminierung geprägt war, begünstigte den weiteren Aufstieg der Sozialwissenschaften an 343  Ausführlich Aichele, Legal Realism, 1990, S. 57 ff. Als weitere Charakteristika der legal realism-Bewegung fasst Hesselink, The New European Legal Culture, 2001, S. 27, zusammen: „their pragmatic functional approach, their emphasis on the connection between law and other social sciences; their attack on the private / public law dichotomy (‚all law is public law‘); their interest in law in action rather than law in the books; their scepticism concerning (the need for) legal certainty; their focus on those who make the law (‚men-of-law‘); and their interest in practice, especially in conflict resolution.“ 344  Fikentscher, Methoden des Rechts II, 1975, S. 283: „Die Kernfrage lautet: Was werden die Richter tun im Hinblick auf das, was die Leute tun? Der rechts­ realistische Versuch, für die Kunst dieser Voraussage sichere Maßstäbe zu gewinnen, die nicht von vorgefaßten abstrakten Rechtsbegriffen und Dogmen beeinflußt sind, fußt unmittelbar auf dem Pragmatismus Peirces, Jamesʼ und Deweys“. 345  Aichele, Legal Realism, 1990, S. 52: „Realism, like its predecessor sociological jurisprudence, is best understood as an intellectual movement committed to establishing a more dynamic understanding of the social functions of law. As ­extreme social conditions began to result in political crisis, the rhetoric of those favouring a dynamic legal system became more urgent and radical.“ 346  Ausführlich Reich, Sociological Jurisprudence and Legal Realism, 1967, S.  104 ff. 347  Programmatisch unter anderem Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1971; Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973.

478 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

den Universitäten.348 Die Kritik am liberalen Rechtsdenken bildete sich an zwei Fronten: zum einen bei den Konservativen, die den progressiven judicial activism des damaligen Supreme Courts als „links“ und „politisch“ ablehnten; zum anderen bei den liberal-progressiven Kräften, die darauf hofften, mit Hilfe des Rechts soziale Bedürfnisse gesellschaftlich benachteiligter Gruppen besser zur Geltung zu bringen. In der amerikanischen Rechtswissenschaft hat sich seither eine Reihe von Strömungen oder Richtungen entwickelt, deren Gemeinsamkeit in einem sozialwissenschaftlichen oder interdisziplinär offenen Rechtsverständnis besteht, darunter etwa das Law & Economics movement349, die Critical Legal Studies (CLS)350 und das Law and Society movement351. Die weniger ausgeprägte Trennlinie zwischen Recht und Politik, das aktivere Rollenverständnis der Gerichte352 und die vorherrschende Pragmatik innerhalb der Rechtstheorie bedingten ein offeneres Rechtsverständnis. Das Recht wird seitdem als ein Mittel der Sozialsteuerung angesehen. Die USamerikanische Juristenausbildung an den Universitäten ist nicht so sehr an festen Ausbildungsvorgaben, sondern stärker an den Bedürfnissen des Marktes orientiert.353 Sie ist deutlich interdisziplinärer und flexibler ange348  Vgl. Garth / Sterling, From Legal Realism to Law and Society – Reshaping Law for the Last Stages of the Social Activist State, 1998, S. 456; Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006, S. 110. 349  Eine Zusammenstellung der grundlegenden Werke findet sich bei Parisi /  Rowley, The Origins of Law and Economics – Essays by the Founding Fathers, 2005; siehe auch Mercuro / Medema, Economics and the Law, 2006. Auch im deutschsprachigen Raum hat die ökonomische Analyse des Rechts mittlerweile an Einfluss und prominenten Vertretern gewonnen; etwa von Aaken, Rational Choice, 2003; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip – Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 1995; vgl. auch Petersen / Towfigh, Ökonomische Methoden im Recht, 2010. 350  Vgl. etwa Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1986 und Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 97 ff.; zusammenfassend: Frankenberg, Der Ernst im Recht, 1987, und Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., 2009; einen Überblick über verschiedene ‚postmoderne‘ Strömungen in der amerikanischen Rechtstheorie bietet Minda, Postmodern Legal Movements – Law and Jurisprudence at Centuryʼs End, 1995. 351  Vgl. Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006, S. 123; Munger, Mapping Law and Society, 1998, S. 28 ff.; zusammenfassend auch Wrase, Rechtssoziologie und Law and Society – Die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, 2006, S. 301 ff. 352  Vgl. Jacob, Courts and Politics in the United States, 1996, S. 22. 353  Der Zugang zum Berufsfeld der Rechtsanwältin wird durch ein bar exam erlangt, also eine Prüfung der rechtsanwaltlichen Standesorganisation des jeweiligen Bundesstaates. Voraussetzung ist die Graduiertenausbildung an einer law school, die in der Regel nach drei Jahren mit einem J.D. abgeschlossen wird. Der vorhergehende undergraduate-Studiengang, dessen Abschluss ein Bachelor ist, wird naturgemäß



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes479

legt als in Kontinentaleuropa.354 So fasste Joseph W. Singer den Einfluss des legal realism auf die amerikanischen law schools in einem programmatischen Beitrag 1988 mit der Bemerkung zusammen: „We are all Realists now“355. c) Arbeitsteiliger und integrativer Ansatz Vor dem Hintergrund der Entwicklung in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft unterscheidet Lepsius zwischen einem arbeitsteiligem und einem integrativen interdisziplinären Grundverständnis der Rechtswissenschaft.356 Für das arbeitsteilige Grundverständnis führt Lepsius als Beispiel aus der Rechtsprechung des Supreme Court die Entscheidung Muller v. Oregon357 an, in der, wie gesehen, die Vorlage umfassender empirischer Nachweise über die negativen Auswirkungen längerer Arbeitszeiten im Brandeis brief die Entscheidung maßgeblich beeinflusst hatte.358 In diesem Fall wurde aus Sicht von Lepsius klar zwischen rechtlicher Bewertung (im Sinne der reasonableness-Formel) und sozialempirischer Faktenerhebung unterschieden.359 Ganz ähnlich finden wir dieses Verständnis im deutschen Verfassungsrecht vor allem bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Regelung. Dort werden, wie gezeigt, im Rahmen der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) genauere Darlegungen über die Wirksamkeit einer Maßnahme mit Blick auf das angestrebte Ziel in unterschiedlichen Fächern belegt, sodass (spätere) Rechtsstudierende ihren B.A. zunächst in Fächern wie etwa Soziologie, Psychologie, Biologie oder Kulturwissenschaften erwerben (müssen), bevor sie die law school besuchen. 354  Vgl. García-Villegas, Comparative Sociology of Law, 2006, S.  364: „In short, the prestige of American professors is linked less to membership in a priestly caste – guardians of a body of knowledge […] – than to their capacity to operate in a competitive and hierarchical market producing legal understandings and solutions to the most various problems. 355  Singer, Legal Realism Now, 1988, S. 467. 356  Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005, S. 3 f. Als Drittes führt er ein deligierendes Grundverständnis ein. Dabei wird die Erhebung der generellen Sozialtatsachen (legislative facts) dem Gesetzgeber im Rahmen seines Einschätzungs- und Prognosespielraums überantwortet, wobei das Gericht nur die Art und Weise überprüft, wie die Gesetzgebung die sozialen Tatsachen ermittelt und gewichtet hat; diesen Weg ist das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in BVerfGE 125, 175 (224 ff.) – Hartz IV gegangen, ausführlicher oben unter D. I. 3. d). 357  208 U.S. 412 (1908). 358  Oben unter E. II. 3. b). 359  Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005, S. 6 f.

480 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

sowie – im Rahmen der Abwägung – die Berücksichtigung sonstiger Sozialwirkungen verlangt.360 Das integrative Grundverständnis sieht Lepsius demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass an soziale Erkenntnisse unmittelbar rechtliche Wertungen geknüpft werden. Als ein Beispiel für ein solches integratives Vorgehen führt er die Entscheidung in der Sache Brown v. Board of Education of Topeka361 aus dem Jahr 1954 an, eines der „meistgeschätzten“ Urteile des Supreme Court „überhaupt“.362 In dieser Entscheidung erklärte der Supreme Court die Rassentrennung in Schulen für gleichheitswidrig und verwarf damit seine 1896 in der Entscheidung Plessy v. Ferguson363 aufgestellte Doktrin des „separate but equal“, mit der er die Rassentrennung gerechtfertigt hatte. Lepsius kritisiert dabei selbstverständlich nicht das Ergebnis der Brown-Entscheidung, wohl aber die Begründung, die vornehmlich auf ‚soziale Tatsachen‘ und weniger auf normative Erwägungen Bezug nahm. Entscheidend war für das Gericht die Feststellung, dass die Rassentrennung in den Schulen im Ergebnis zu geringeren Berufschancen, psychischen Schäden und Minderwertigkeitsgefühlen der schwarzen Schulkinder führte.364 Die Kritik von Lepsius setzt nun dort an, wo der Supreme Court in der von Chief Justice E. Warren verfassten opinion of the court zur Stützung seiner Argumentation unmittelbar auf sozialwissenschaftliche Erhebungen verweist. In einer Fußnote zitierte das Gericht die Schriften bekannter Psychiater, Psychologen, Soziologen und Anthropologen.365 Es bediente sich damit (auch) einer sozialpsychologischen Begründung, indem es von einer veränderten Wahrnehmung der Rassentrennung durch die betroffenen Schulkinder ausging.366 Die Entscheidung basierte auf der Evidenz der diskriminierenden Wirkung von „separate but equal“, doch gerade diese Evidenz, so meint Lepsius, habe sozialwissenschaftlich gar nicht schlüssig nachgewiesen werden können. Eine normative Begründung, die von den Wahrnehmungen der schwarzen Schulkinder oder der weißen Südstaatengesellschaft abstrahiert hätte, hätte sich aus seiner Sicht „viel leichter“ getan. Die Entscheidung zeige daher, dass normative Bewertungen nicht durch einen arbeitsteiligen oder integrativen Ansatz ersetzt werden könnten. Sozialwissenschaftliche Erträge könnten die Plausibilität juristischer Theorien erhöhen (integ360  Ausführlich oben unter B. II. 4. e) (zum Apotheken-Urteil) und D. II. 1. c) cc), dd). 361  347 U.S. 483 (1954), zusammenfassend Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 1997, S. 51 ff. 362  Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005, S. 9. 363  163 U.S. 537 (1896). 364  Vgl. 347 U.S. 483, 494. 365  347 U.S. 483, 495 f. 366  Vgl. auch Tribe, American Constitutional Law, 1988, § 16, S. 1477 f.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes481

ratives Modell) und zur Faktenerhebung beitragen (arbeitsteiliger Ansatz). Begründungen aber, das sei die Lehre aus Brown, könnten sie nicht liefern.367 Die Ausführungen von Lepsius vermögen in ihrer grundsätzlichen Zielrichtung, die sich gegen einen integrativen Ansatz interdisziplinären Arbeitens in der Verfassungsrechtswissenschaft wendet, nicht zu überzeugen. Das zeigt sich nicht zuletzt an seiner Kritik der Brown-Entscheidung. Auch wenn heute weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die vom Gericht angeführten sozialwissenschaftlichen Erhebungen methodische Mängel aufwiesen beziehungsweise möglicherweise sogar ergebnisorientiert geschrieben waren,368 so wird doch nicht in Frage gestellt, dass die vom Supreme Court getroffene Wirklichkeitsbeschreibung das Problem der Rassentrennung zutreffend erfasst hat. Hatte der Supreme Court in seiner Plessy-Entscheidung noch ein formales Gleichheitsverständnis zugrunde gelegt und betont, dass „soziale Gleichheit“ nicht durch das Recht erreicht werden könne,369 stellt er in Brown entscheidend auf die sozialen Bildungschancen der Schulkinder ab: Does segregation of children in public schools solely on the basis of race, even though the physical facilities and other „tangible“ factors may be equal, deprive the children of the minority group of equal educational opportunities? We believe that it does.370

Darin kommt sehr wohl ein gewandeltes normatives Verständnis der equal protection clause zum Ausdruck, das sich nunmehr an den realen Bildungschancen orientiert. Indem das Gericht die unterschiedlichen sozialen Entwicklungschancen von weißen und schwarzen Schulkindern in den Blick genommen hat, enttarnte es die allein unter einem streng formalen Blickwinkel zu rechtfertigende Segregationspolitik als rassistische Diskriminierung und Stigmatisierung der farbigen Bevölkerung. Auch wenn die wissenschaftlich-theoretische Aufarbeitung von Diskriminierungen zur damaligen Zeit noch wenig vorangeschritten war, konnte das Gericht damit wesentliche Gesichtspunkte der Diskriminierungsproblematik herausarbeiten. Das macht Brown, was Lepsius selbst unumwunden einräumt, gerade zu einer der bedeutendsten Gerichtsentscheidungen in der US-amerikanischen Geschichte. Als ein Manko der Entscheidung lässt sich sicher betrachten, dass der Supreme Court den normativen Aspekt diskriminierender Wirkung nicht noch deutlicher hervorgehoben hat. Das liegt auch darin 367  Lepsius,

Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht, 2005, S. 10. Stone et al., Constitutional Law, 2009, S. 469 m. w. N. 369  Vgl. 163 U.S. 537, 553: „If one race be inferior to the other socially, the Constitution of the United States cannot put them upon the same plane.“ 370  347 U.S. 483, 494. 368  Vgl.

482 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

begründet, dass die Richter, was für den Supreme Court durchaus ungewöhnlich ist, von Anfang an eine möglichst einstimmige Entscheidung angestrebt hatten, weshalb die Entscheidungsgründe im Verhältnis zur Bedeutung des Verfahrens recht knapp ausfallen.371 Vor dem Hintergrund von Plessy und den heute wieder vertretenen Ansätzen eines originalism372 sind allerdings auch die Aussagen zur Methodik in der Brown-Entscheidung ­interessant, die – besonders angesichts des Alters und der schweren Abänderbarkeit der US-amerikanischen Verfassung373 – ein erstaunlich klares Bekenntnis zu einer dynamischen Verfassungsauslegung enthält: In approaching this problem, we cannot turn the clock back to 1868 when the Amendment was adopted, or even to 1896 when Plessy v. Ferguson was written. We must consider public education in the light of its full development and its present place in American life throughout the Nation. Only in this way can it be determined if segregation in public schools deprives these plaintiffs of the equal protection of the laws.374

Die Behauptung in der Kritik von Lepsius, das Gericht hätte in Brown aus sozialen Fakten normative Schlussfolgerungen gezogen, vermag nicht 371  Zu den Hintergründen siehe Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985, S. 138 ff. 372  Dazu oben unter C. I. 2. 373  Drei Gesichtspunkte sind für die Praxis der Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von besonderer Bedeutung, Tushnet, The United States: Eclecticism in the Service of Pragmatism, 2006, S. 17 ff.: (1.) Das Alter der meisten Verfassungsbestimmungen. Die Verfassung trat 1789 in Kraft, wichtige Änderungen und Ergänzungen folgten 1791, als die sogenannte Bill of Rights in den ersten zehn Amendments aufgenommen wurde. Bedeutende Änderungen in Bezug auf den Grundrechtsschutz gab es in den Jahren nach dem amerikanischen Bürgerkrieg 1865 bis 1870, in denen insbesondere die Abschaffung der Sklaverei (13th Amendment) sowie die Rechte auf due process of law und equal protection für alle amerikanischen Bürger (14th Amendment) aufgenommen wurden.  (2.) Die schwere Abänderbarkeit der Verfassung. Insgesamt wurde die Verfassung in den über 220 Jahren ihres Bestehens nur 27-mal geändert, davon seit 1795, das heißt in den letzten zwei Jahrhunderten, nur noch 16-mal. Das Verfahren ist ausgesprochen kompliziert, jede Änderung muss zunächst mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses oder von zwei Dritteln der Parlamente der Bundesstaaten vorgeschlagen werden; vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S.  46 f.  (3.) Die hohe Abstraktion und Allgemeinheit der Verfassungsbestimmungen, insbesondere bei den Grundrechten. So enthält der Verfassungstext beispielsweise die Garantie der Meinungs- und der Religionsfreiheit oder garantiert due process und equal protection to any person, enthält aber zumindest in Bezug auf diese fundamentalen Rechte keine Schrankenregelungen oder ähnliche Vorgaben für staatliche Eingriffsmaßnahmen, wie wir sie aus dem Grundgesetz und anderen modernen Verfassungen und Menschenrechtskonventionen kennen. 374  347 U.S. 483, 493 f.



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zu überzeugen. Allein damit, dass es die Auswirkungen der Segregationspolitik auf die sozialen Bildungs- und Entwicklungschancen der Schulkinder zur entscheidenden Frage machte, hat das Gericht eine normativ-wertende Entscheidung in Bezug auf die Interpretation der equal protection clause getroffen. Die Auseinandersetzung mit den sozialen Implikationen der Rassentrennung haben offensichtlich unter den Richtern die Überzeugung reifen lassen,375 an einem formalen Verständnis des Gleichheitsgrundrechts im Sinne der separat but equal doctrine nicht weiter festhalten zu können.376 Die Brown-Entscheidung stellt daher im Vergleich zu Plessy, wo allein die privilegierte Perspektive der weißen Bevölkerungsmehrheit zum Maßstab gemacht wurde, den bemerkenswerten Versuch dar, einen Teil „unterdrückter Realität“377 im Recht sichtbar zu machen und daraus normative Folgerungen zu ziehen, die bis heute Wirkung zeigen.378 d) Sollen und Sein in der Grundrechtsinterpretation Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit kann maßgebliche Auswirkungen auf das normative Verständnis grundrechtlicher Gewährleistungen haben. Eine strenge Trennung zwischen normativer, das heißt wertender Entscheidung und empirischer Tatsachenerhebung, wie sie Lepsius im Zuge des von ihm favorisierten „arbeitsteiligen Grundverständnisses“ fordert, erweist sich in dieser Grundsätzlichkeit als rechtstheoretisch undurchführbar. Denn der Gegensatz von Sein und Sollen besagt zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger, als daß es keinen logischen (unmittelbaren, direkten) Übergang von deskriptiven zu normativen Aussagen gibt. Aus dem, was ist, lässt sich nicht ohne weitere schließen, was sein soll, sprich: wie man sich verhalten soll.379 Aus deskriptiven Aussagen – ein Beispiel aus einer schon erwähn375  Der Entscheidung waren sehr intensive Beratungen der Richter vorausgegangen; vgl. die Erinnerungen von Earl Warren bei Millgramm, Seperate Opinion und Sondervotum, 1985, S. 137 f. 376  Im Wege einer (ab)gestuften Gleichheitsprüfung hat der Supreme Court die equal protection clause weiter konkretisiert; zusammenfassend Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 1997, S. 48 ff.; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1996, S. 208 ff. 377  Dazu oben unter E. II. 2. b). 378  Vgl. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 159 ff., die herausarbeitet, wie einzelne US-amerikanische Gerichte einen Maßstab für Diskriminierungsrecht entwickelt haben, der eine auf materiale Gleichheit zielende Perspektive einnimmt. Zur Perspektivenfrage auch oben unter E. II. 1. sowie E. II. 2. b). 379  Die Dichotomie von Sollen und Sein wurde erstmals von Hume dargelegt. Sie besagt „nicht mehr und nicht weniger, als dass es keinen logischen (unmittelbaren, direkten) Übergang von deskriptiven zu normativen Aussagen gibt“, Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 129; Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 79: „In der

484 E. Grundrechtsinterpretation zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit

ten380 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: „Der Großteil der Bevölkerung kann zur Deckung seines Wohnbedarfs nicht auf Eigentum zurückgreifen, sondern ist gezwungen, Wohnraum zu mieten“ – lassen sich (sprach)logisch keine präskriptiven Sätze – wie etwa: „Deshalb ist mit Blick auf Art. 14 GG die Miete dem Sacheigentum gleichzustellen.“ – ableiten. Notwendig ist immer ein normativer Zweck, eine funktionale Gewährleistung, auf die hin das Grundrecht interpretiert wird. Um beim Beispiel des eigentumsrechtlichen Mieterschutzes zu bleiben, umschreibt das Gericht hier den funktionalen Gewährleistungsgehalt wie folgt: Die Eigentumsgarantie soll dem Grundrechtsträger einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich erhalten und dem Einzelnen damit die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens ermöglichen. […] Die Wohnung ist für jedermann Mittelpunkt seiner privaten Existenz. Der Einzelne ist auf ihren Gebrauch zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse sowie zur Freiheitssicherung und Entfaltung seiner Persönlichkeit angewiesen. Der Großteil der Bevölkerung kann zur Deckung seines Wohnbedarfs jedoch nicht auf Eigentum zurückgreifen, sondern ist gezwungen, Wohnraum zu mieten. Das Besitzrecht des Mieters erfüllt unter diesen Umständen Funktionen, die typischerweise dem Sacheigentum zukommen.381

Verweist aber die Gewährleistungsfunktion der Grundrechte im materialen Sinn auf die soziale Funktion des Freiheitsschutzes, dann ist mit einer Veränderung der sozialen Wirklichkeit (des „Realbereichs“ im Sinne Hoffmann-Riems) oder ihrer Wahrnehmung gegebenenfalls auch eine Veränderung der normativen Grundrechtsverständnisses verbunden. Mit anderen Worten: Die veränderte beziehungsweise bessere Kenntnis von den sozialen Bedingungen des Freiheitsgebrauchs verändert die eingenommene Perspektive im Rahmen der normativen Konkretisierung der Grundrechte. Sie bedingt daher gegebenenfalls andere rechtliche Wertungen – oder fordert doch zumindest dazu heraus, die bekannten Maßstäbe zu prüfen und anhand der gewonnen Einsicht über soziale Zusammenhänge kritisch zu überdenken.382 Um dem Fortschreiten des Rechtslebens Rechnung zu tragen, ist es wesentlich, die Wechselbeziehungen zwischen Recht und Wirklichkeit differenziert zu betrachten. Diesen Anforderungen wird, wie Morlok bemerkt, die Philosophiegeschichte ist der Gegensatz von Sein und Sollen zur Grundlage des Kantischen Systems geworden, wo Logik und Empirie der reinen Vernunft und Werturteile der praktischen Vernunft zugeordnet werden.“ Vgl. auch Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, S. 25 ff. 380  Vgl. oben unter C. I. 1. 381  BVerfGE 89, 1 (6) – Besitzrecht des Mieters. 382  Es geht also um ‚interdisziplinäre Reflektion‘, Baer, Rechtssoziologie, 2011, S.  45 f.



II. Grundrechtsinterpretation unter Einbeziehung des sozialen Kontextes485

(neukantianische) Trennung von Sein und Sollen nicht gerecht, vor allem wenn diese als Dualismus zweier Wirklichkeitsbereiche verstanden wird: Dies ist, wenn nicht von Anfang an ein Missverständnis, jedenfalls wissenschaftstheoretisch überholt. Die Geschiedenheit von Sein und Sollen ist vielmehr zu begreifen als Unterscheidung von deskriptiven und präskriptiven Sätzen, die nicht ineinander überführbar sind. Diese Trennung im Sinne einer logischen Unabhängigkeit beider Arten von Aussagen sei als solche unbestritten. Allein, sie trägt nicht den Ausschluß von Feststellungen über die soziale Wirklichkeit aus dem juristischen Argumentationshaushalt. [Sie] setzt einen falschen Schwerpunkt und ist unfruchtbar, jedenfalls wenn es wie in der Jurisprudenz um die Orientierung im Handeln: um praktische Fragen geht. Auch ist eine pauschale Antwort, welcher Art auch immer: Orientierung „an der Wirklichkeit“ oder nur „am Recht“, verfehlt. Möglich und geboten ist vielmehr eine – nach Akteuren, Situationen und Kontexten, auch institutioneller Art – differenzierende rationale Erörterung, wie die normativen Vorgaben (präskriptive Sätze) im Einzelfall zu verstehen und anzuwenden sind.383

Wie Morlok an anderer Stelle darlegt, stützen sich Wahrnehmungen und Beurteilungen gleichermaßen „auf Konzepte, auf Theorien, auf Modelle der betrachteten Welt“. Kraft ihrer „unvermeidlichen Selektivität“ haben sie aber wesentliche Bedeutung für das Ergebnis der Betrachtung. Ein wichtige Form der Reflexion besteht also „darin, dass man die wahrnehmungsleitenden Modelle austauscht, sich einer anderen ‚Brille‘ bei der Betrachtung der Welt bedient“.384 Hierin liegt, wie gesehen, ein wesentliches Element einer problembezogenen Methodik der Grundrechtsinterpretation. Denn nur mit Blick auf die von den Grundrechten in Bezug genommenen Lebensbereiche lässt sich bestimmen, was selbstbestimmte und (einigermaßen) gleichberechtigte Freiheitsübung für den Einzelnen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet und was zu ihrer Sicherung notwendig ist. Die grundrechtliche ‚Ausrichtung‘ der Rechtsordnung, die durch das Bundesverfassungsgericht kontrolliert und gesteuert wird, muss sich hieran orientieren, will sie in ihrer dogmatischen Maßstäbebildung den Zweck der Ermöglichung und Sicherung von Freiheitsausübung nicht verfehlen. Eine ‚Rückkehr‘ zu einem rein formalen Freiheitsverständnis kann es unter dem Grundgesetz nicht geben. Denn dieses will eine Grundordnung für das Staatswesen sein. Ihre Normen müssen über die gesamte Rechtsordnung und ihre Rechtsanwender auch in die soziale Wirklichkeit hinein ausstrahlen. Die Sicherung formaler Handlungsfreiheit durch die Gerichte ist letztlich nicht mehr als ein wertloses Versprechen, wenn die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ in der Realität nicht gelebt werden kann.

383  Morlok, 384  Morlok,

Verfassungstheorie, 1988, S. 66 f. Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, 2007, S. 63.

F. Fazit In der vorliegenden Untersuchung wurde nicht der Versuch unternommen, eine neue Methodik der Grundrechtsinterpretation zu entwickeln. Vielmehr wurden die wesentlichen methodischen Entwicklungen in der Rechtswissenschaft und im Besonderen in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts nachgezeichnet. Die Zäsur, die das Bonner Grundgesetz für das Verständnis der Grundrechte mit sich brachte, wird vor dem Hintergrund des bis in die Weimarer Staatsrechtslehre fortwirkenden staatsrechtlichen Positivismus deutlich. Dieser richtete sich gegen die Einbeziehung materieller Gehalte in die Verfassungsinterpretation und zugleich gegen die Berücksichtigung geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen wie Philosophie, (National-) Ökonomie oder später auch Soziologie bei der juristischen Interpretationstätigkeit. Im Rahmen der antipositivistischen Strömung innerhalb der Weimarer Staatsrechtswissenschaft sah sich der in der Rechtsprechungspraxis weiterhin vorherrschende Positivismus zwar erheblichem Druck ausgesetzt. Allerdings gingen die damaligen Versuche der inhaltlichen Konkretisierung von Grundrechtsgehalten – etwa durch C. Schmitt und Smend – nicht über erste Ansätze hinaus und waren zudem von den gesellschaftspolitischen Tendenzen ihrer Zeit geprägt. Zur Entfaltung materieller Grundrechtsbindungen auch in der Rechtsprechung kommt es erst unter dem Grundgesetz und seinem maßgeblichen Interpreten, dem Bundesverfassungsgericht. Diesem gelingt es, in Disputen mit der Regierung und den Bundesgerichten seine Deutungsmacht über die neue Verfassung durchzusetzen und zu festigen. In seiner frühen Rechtsprechung legt das Gericht, aufbauend auf nur wenige Vorarbeiten der sich neu formierenden Staatsrechtswissenschaft, in geradezu fulminanter Weise die Basis für sein materiales und multifunktionales Grundrechtsverständnis. Dieses baut wesentlich auf dem Konzept auf, dass die Grundrechte über ihren subjektiv-rechtlichen Gehalt hinaus wertentscheidende Grundsatznormen darstellen, deren materiale Gehalte in alle Bereiche der Rechtsordnung hinein ausstrahlen und dort jeweils von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung zur Geltung gebracht werden müssen. Die vor allem Ende der 1960er und in den 1970er Jahren geführte Debatte über die Prinzipien der Verfassungsinterpretation erweist sich vor diesem Hintergrund vor allem als methodologische Verarbeitung der durch das



F. Fazit487

Grundgesetz und die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts vorgegebenen Innovationen. Zugleich werden durch die Topik, die hermeneutische Rechtstheorie und in der Verfassungsrechtswissenschaft vor allem durch die Vertreter der Smend-Schule wesentliche methodologische Einsichten entwickelt, insbesondere zum Problembezug der Verfassungsinterpretation (Ehmke) und zur Einbeziehung sozialer Wirklichkeitsannahmen in die Norminterpretation (F. Müller), die sich zu einem allgemeinen theoretischen Konzept der Normkonkretisierung (Hesse) verbinden lassen. Dabei zeigt sich nicht zuletzt mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Canones der Auslegung wie Wortlaut, Entstehungsgeschichte, historische Interpretation, Systematik und Teleologie ihre Bedeutung für die Verfassungsinterpretation keineswegs verloren haben. Sie dienen weiterhin als maßgeblicher Ausgangspunkt des Interpreta­ tionsvorgangs, vermögen diesen aber nicht vollständig zu erfassen. Es bedarf daher eines weitergehenden Ansatzes, der die überkommenen Methoden ergänzt. Dieser lässt sich nur mit Blick auf die Praxis der Interpretation erfassen, denn (Be-)Deutung von Normtexten – und dies gilt für die sehr offenen Begriffe des Grundrechtsteils des Grundgesetzes in besonderer Weise – wird über soziale Praktiken der Sprachanwendung hergestellt. Sinn und Bedeutungen sind nicht in den Normen selbst enthalten (und werden daher auch daraus nicht ‚entnommen‘)1, sondern werden in einem juristischen Diskurs, an dem unterschiedliche Akteure wie Gerichte, Rechtsanwälte und (Verfassungs-)Rechtswissenschaftler / innen teilhaben, rezipiert, produziert und reproduziert. Dieser Diskurs ist kein vollständig autonomer, sondern bleibt in die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge eingebettet. So kann, wie es Leibholz in dem von ihm verfassten Statusbericht des Bundesverfassungsgerichts ausgedrückt hat, auch Verfassungsinterpretation niemals vollständig entpolitisiert werden. Dann ist allerdings zu fragen, wie dieser Diskurs funktioniert, auf welche Vorannahmen er aufbaut, auf welche Wissensbestände er Bezug nimmt (und auf welche nicht) usf. Maßgebliches Medium und Instrument des juristischen Diskurses ist die Dogmatik, in dem untersuchten Feld spezieller die Grundrechtsdogmatik. Dogmatik hat dabei verschiedene Funktionen, welche die Geschlossenheit und Offenheit des juristischen Diskurses widerspiegeln. Auf der einen Seite, der Schließung nach außen, stehen die Stabilisierungs-, Rationalisierungsund Entlastungsfunktion, die mit der Dogmatikbildung einhergehen. Dogmatische Sätze und Regeln werden regelmäßig angewendet, machen Rechtsanwendungsprozesse in bestimmter Weise vorhersehbar und kontrollierbar und müssen nicht immer aufs Neue begründet werden. Im Übrigen ermög1  Siehe

das Zitat von Rüthers oben unter A. II.

488

F. Fazit

licht Dogmatikbildung die Systematisierung von wiederkehrenden Entscheidungssätzen und -regeln, sodass übergreifende Konstruktionen entwickelt werden können, welche die Rechtsanwendung strukturieren und leiten (zum Beispiel die Abwehrrechtsdogmatik, die Verhältnismäßigkeitsprüfung, aber etwa auch spezielle dogmatische Maßstäbe im Bereich der Meinungsfreiheit). Damit eng verbunden ist die spezifische Wertungs- und Steuerungsfunktion der Dogmatik. Indem Rechtsdogmatik allgemein gefasste Normen wie die Grundrechte konkretisiert und Vorgaben für deren Anwendung macht, nimmt sie Wertungen vor und steuert die rechtsanwendenden Organe in deren Sinn. Auf der anderen Seite, der Offenheit von Dogmatik, steht die Kritik- und Fortbildungsfunktion, die es ermöglicht, einmal entwickelte dogmatische Maßstäbe zu hinterfragen, zu kritisieren, Alternativen zu einer bestehenden Dogmatik vorzuschlagen und deren Anerkennung im juristischen Diskurs zu erreichen. Bei Auseinandersetzungen um (Be-)Deutungen im juristischen Diskurs lässt sich auch von „semantische Kämpfen“ sprechen, wenn etwa, wie gesehen, um das ‚richtige‘ Verständnis der Privatautonomie beim rechtsgeschäftlichen Handeln von Verbrauchern gerungen wird. Entscheidend dafür, dass die Dogmatik ihre genannten Funktionen auch tatsächlich erfüllen kann, ist ein angemessener Abstraktionsgrad, der sich nicht zu weit vom zu regelnden Problem(bereich) entfernen darf. Aus allgemeinen ‚Großtheorien‘ – wie der Abwehrrechts- oder Prinzipientheorie – konkrete dogmatische Maßstäbe zu gewinnen erweist sich beim genaueren Hinsehen als problematisch. Entweder entstehen neue Konstruktionsprobleme, welche den heuristischen Wert der Theoriebildung in Frage stellen (zum Beispiel bei der Einbeziehung von Drittwirkungskonstellationen in die Abwehrrechtsdogmatik). Oder es entsteht – gewollt oder ungewollt – eine implizite Wertungsrichtung, die sich gegen ein materiales Grundrechtsverständnis wendet. Dann ist sie jedenfalls nicht dogmatisch ‚neutral‘, sondern propagiert inhaltlich ein anderes Grundrechtsverständnis (zum Beispiel die Rückkehr zum klassisch-liberalen Grundrechtsdenken). Das mehrdimensionale Grundrechtsverständnis, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung entwickelt hat, ist daher am besten geeignet, den unterschiedlichen Problemlagen, die sich im Rahmen eines materialen Grundrechtsverständnisses stellen, durch die Entwicklung dogmatischer Maßstäbe Rechnung zu tragen. Die Grundrechte machen in ihrer objektiven Dimension Vorgaben, nach denen die staatliche Rechtsordnung im Sinne von (Staats-)Abwehr, Schutz, Leistung und Teilhabe, Organisation, Verfahren und nicht zuletzt Gleichbehandlung auszurichten ist. Welche Anforderungen sich für die Grundrechtsinterpretation konkret ergeben, lässt sich nur in Ansehung der jeweils existierenden Gefährdungslagen und ihrer



F. Fazit489

rechtlichen Bewältigung mit Blick auf den zu regelnden Lebensbereich (den „Realbereich“) erschließen. Entsprechend stehen etwa bei Grundrechten wie der Rundfunk- oder Wissenschaftsfreiheit Organisations-, Verfahrens- und Ausgestaltungspflichten und daraus resultierende Rechte der Grundrechtsträger im Vordergrund, während im Bereich der Meinungsfreiheit vor allem Abwehr- und Ausstrahlungsfunktion zum Tragen kommen. Entscheidend für den Prozess der Grundrechtsanwendung ist damit die problemangemessene Konkretisierung der materialen Grundrechtsgehalte. Frage: „Durch die Effektuierung welcher Gewährleistungsgehalte ist das Grundrecht unter den gegebenen Voraussetzungen in der Rechtsanwendung am wirksamsten zu sichern?“ Daraus resultieren bestimmte Steuerungsentscheidungen in der Form dogmatischer Maßstäbebildung, etwa die Entwicklung spezifischer Vorgaben für die Fachgerichte zur Sicherung der Meinungsfreiheit. Insofern erweist sich Normkonkretisierung, wie auch am Beispiel der Rechtsprechung zum Privatautonomie exemplarisch dargestellt wurde, methodisch als Vermittlungsaufgabe zwischen Normdeutung und dogmatischer Steuerung der rechtsanwendenden Organe. Die Rechtsordnung ist in diesem Prozess der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte so ‚auszurichten‘, dass die grundrechtlichen Gewährleistungen möglichst auch in der sozialen Wirklichkeit zur Geltung kommen. Es sind Regelungsstrukturen zu schaffen, die soziales Handeln im Sinne grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit ermöglichen und sichern. Wer Angst haben muss, seine Meinung in der Öffentlichkeit frei zu äußern, kann sein Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht effektiv wahrnehmen. Das gilt unabhängig davon, ob staatliche Organe selbst mit repressiven Mitteln gegen den Sich-Äußernden vorgehen, ob sie diesen nicht angemessen vor Übergriffen oder (auch wirtschaftlichem) Druck Dritter schützen oder ob der Staat dem Grundrechtsträger etwa die Mittel nicht gewährt, die ihm ein Mindestmaß sozialer Teilhabe am Prozess der Meinungsbildung erst ermöglichen (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip). Die objektive Verpflichtung des Staates korrespondiert dabei jeweils mit einem subjektiv-rechtlichen Gewährleistungsanspruch des betroffenen Grundrechtsträgers, der für sich Abwehr, Schutz oder Teilhabe begehrt. Wenn Grundrechtsgewährleistungen und ihre Konkretisierung auf die Schaffung von Regelungsstrukturen zielen, die in der sozialen Wirklichkeit gleichberechtigte Freiheitsausübung ermöglichen und sichern, dann ist es augenfällig, dass der soziale Kontext dieser Freiheitsausübung bei der Konkretisierung der jeweiligen Grundrechtsgehalte berücksichtigt werden muss. Die Rechtsordnung nimmt dabei die soziale Wirklichkeit in spezifischer Form, nämlich durch die Fragen der Rechtsanwendung mediatisierten Form wahr. Die Grundrechte öffnen diesen Mediatisierungsprozess, indem sie auf

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F. Fazit

grundlegende soziale Handlungskomplexe wie etwa Glaube, Beruf oder Geschlecht verweisen, die dem Recht ‚vorausliegen‘. Die notwendige Berücksichtigung von Kontextwissen kann einerseits durch feststehende dogmatische Regeln, die die Einbeziehung empirischer Erkenntnisse in die Prüfung erforderlich machen, geschehen, wie etwa bei der Erforderlichkeitsund Abwägungsprüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (arbeitsteiliger Ansatz). Es muss aber andererseits auch dann geschehen, wenn normativen Aussagen bestimmte Vorannahmen über soziale Zusammenhänge zugrunde liegen, (integrativer Ansatz). Grundrechtsinterpretation muss gegenüber den Fragen der sozialen Wirklichkeit offen und sensibel sein, damit sie zu adäquaten grundrechtsdogmatischen Ergebnissen führt. Wenn auch die spezifisch dogmatische Ausrichtung der deutschsprachigen Verfassungsrechtswissenschaft unbestritten ist, so bleibt ihre Ergänzung um interdisziplinäre Ansätze auch aus methodologischer Sicht erforderlich.

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Sachwortverzeichnis Abwägungslehre  76, 149, 151, 155, 157, 159, 197, 233–234, 239, 289, 303–310, 319, 366–376, 382–383, 389–391, 393, 402–403, 414–416, 472 Abwehrfunktion der Grundrechte  88–89, 159, 276–301, 311–312, 314–316, 328–329 Abwehrrechtstheorie  79–81, 273–301, 309–310 Angemessenheitsprüfung  siehe Verhältnismäßigkeitsprüfung Antipositivismus  64, 70–75, 77, 88 Apotheken-Entscheidung  139, 146, 152–157, 223, 367, 375–376, 384, 460, 472 Arbeitsvermittlungsmonopol-Entscheidung  381–382 Asylbewerberleistungsgesetz-Entscheidung  314, 342 Ausgestaltungsfunktion der Grundrechte  276, 316–327, 336–338, 343–352, 363–364, 441–442, 447 Auslegung –– objektive  siehe Methode, objektive Auslegungsmethoden  29–32, 172–173, 182, 191, 214–240 –– bei Savigny  46 Ausstrahlungswirkung der Grundrechte  150–152, 158–159, 281, 292–294, 329–331, 336–337, 351–352, 362, 364, 395, 398, 404, 414, 442–443, 446 Autorität des Bundesverfassungsgerichts  siehe Deutungsmacht des Bundes­ verfassungsgerichts Begriffsjurisprudenz  18, 46–50

Berichterstatter  120, 138, 146, 330, 400, 416, 423‒424, 439, 452, 469 Berufsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Brokdorf-Entscheidung  227, 354–355, 378, 406–407, 420 Bundesverfassungsgericht –– Entstehung  95–102 –– Erstbesetzung  102–107 –– methodologisches Vorverständnis  107–114 –– Rechtsprechung  siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –– Verfahrenseingänge  105–106, 411 –– Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit  126–129, 132–133, 140, 148–149, 151, 158–160, 261–262, 329–331, 354–356, 362, 398–403, 408–425, 434–457 Bundesverfassungsgerichtsgesetz  siehe Bundesverfassungsgericht – Entstehung Bürgschaftsentscheidung  336, 444– 450, 455 Canones  siehe Auslegungsmethoden Caroline-von-Monaco-II-Entscheidung  233, 306, 366 Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts  114–129, 140, 253, 258, 434–436 Drittwirkung, mittelbare  siehe Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Eigentumsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eingriffsbegriff  267, 270–271

Sachwortverzeichnis539 Einheit der Verfassung  144–145, 183, 194–197, 231–234, 236‒237, 239, 304–305, 452–453 Einrichtungsgarantien  81, 143, 198‒199, 318–319, 343–348, 363 Einschätzungsprärogative des Gesetz­ gebers  314, 334–340, 377, 379–384, 391–392, 395–398 Elfes-Entscheidung  131–132, 136–140, 223, 400 Entlastungsfunktion der Dogmatik  260 Erforderlichkeitsprüfung  siehe Verhältnismäßigkeitsprüfung Ermächtigungsgrundlage  siehe Vorbehalt des Gesetzes Evidenzkontrolle  siehe Willkürprüfung Ewigkeitsklausel  91, 232 Existenzminimum  siehe Hartz-IVEntscheidung Freiheitsbegriff, positiver  151–152, 159, 295‒296 Freirechtsbewegung  57–60, 71–72, 367 Freizügigkeit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsrechtsprechung  68–69, 393–403, 450 G-131-Entscheidung  163 Garantien, institutionelle  siehe Instituts­ garantien Geeignetheitsprüfung  siehe Verhältnismäßigkeitsprüfung Gesetzesfolgenabschätzung  379–381 Gesetzesvorbehalt  76, 94, 138, 223, 234–236, 268–272, 287–290, 376 Gesetzgebungsaufträge  431–432, 435 Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers  317–207, 341, 395–397, 441–442 Gestapo-Entscheidung  127–128, 163 Glaubensfreiheit  siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Gleichheitssatz  siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Grundrechtskollision  197, 233–234, 236–237, 303–304, 366–370 Gutachtenstreit  126–129, 148 Handelsvertreter-Entscheidung  336, 439–444, 447, 451–452, 456 Handlungsfreiheit, allgemeine siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Hartz-IV-Entscheidung  230, 299, 341–342, 355 Haushaltsbesteuerungsentscheidung  141–145, 151, 159, 197‒198, 233, 452 Heckʼsche Formel  329–331, 400–401 Hermeneutik, Neue  28, 184–190, 196, 212, 230, 242 Herrenchiemseer Verfassungsentwurf  91, 97–98, 132, 224 Historische Schule  45–47 Hochschulentscheidung 176, 283, 325–326, 347–348, 353, 397 Hüter der Verfassung  siehe Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts industrielle Revolution  49–50 Institutsgarantien  81, 86–89, 199, 343–348 Integrationslehre  81–85, 167–168, 172, 176, 207 Josefine-Mutzenbacher-Entscheidung  355 judicial restraint  siehe funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsrechtsprechung Kalkar-I-Entscheidung  333–334, 419–420 Kindergeld-Entscheidung  377 Kleinbetriebsklausel-Entscheidung  335–336 Kodifikationsstreit  44–45 Konkordanz, praktische  197, 233–234, 239, 350, 368, 447

540 Sachwortverzeichnis Konstitutionalisierung der Rechtsordnung  157–160, 285, 298–299, 393, 401, 404, 407, 419, 441, 449–450 Konstitutionalismus  283 Kopftuch-I-Entscheidung  251‒252, 362, 461–462, 465 Kopftuch-II-Entscheidung  251‒252, 362, 392 Kriegsdienstverweigerungsrecht  siehe Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts Kunstfreiheit  siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Lagerung-von-C-Waffen-Entscheidung  331, 334 Lebach-Entscheidung  303–304, 306, 472 Lebenspartnerschaftsgesetz-Entscheidung  345–347 Legal Realism  57, 181, 476–479 Legalismus  283–284 Liberalismus  45, 48, 50–51 Lüth-Entscheidung  145–152, 158, 167, 170–171, 279, 282, 292–293, 311, 315, 317, 328–329, 404, 414, 443, 449, 472 Maßstabsbildung durch das Bundes­ verfassungsgericht  23, 158, 271–272, 359–360, 362, 369–370, 404–405, 413–422, 434–436, 440–443, 448–449, 452‒453, 456–457, 467, 473, 485, 488–489 Mehrdimensionalität des Grundrechtsschutzes  143, 275, 286, 311–364, 487‒488 Meinungsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Menschenrechte  90–93, 228 Menschenwürde siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Methode –– Begriff  18–19, 26 –– juristische – Entstehung  42–56

–– objektive  31, 220–222 Methodenstreit  64–75 Methodik  siehe Methode Mülheim-Kärlich-Entscheidung  334, 352, 354, 419–420 Multifunktionalität von Grundrechten  siehe Mehrdimensionalität des Grundrechtsschutzes Nachtarbeitsverbot-Entscheidung  142, 335 Nationalsozialismus  61–62, 89, 102–104, 149, 160–164 Naturrechtsdenken  51, 71–73, 108, 128, 374–375 Neue Formel  357–363 Nichtigerklärung von Gesetzen  400, 428–431 Nikolaus-Entscheidung  342–343, 463‒364 Normbereichslehre  190–196, 207, 212, 218–219, 327, 373–375, 459–460 Normenkontrolle  126–129, 132–133, 422–425, 428–431, 433–435 –– in der Weimarer Republik  85–88 Numerus-clausus-Entscheidung  338–340 Offene Gesellschaft der Verfassungs­ interpreten  200–206 Organstreitverfahren  100–101 Originalism  187, 221–222, 483 Pandektenlehre  siehe Historische Schule Parlamentarischer Rat  37, 90–99, 217–218, 223–225, 234–235, 238 Persönlichkeitsrecht, allgemeines siehe Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts Praktische Konkordanz  siehe Konkordanz, praktische Pressefreiheit  siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Prinzipientheorie  301–310

Sachwortverzeichnis541 Rasterfahndungsentscheidung  279 Rationalisierung der Grundrechts­ interpretation  17–20, 24, 259–260, 273–310 Recht auf informationelle Selbst­ bestimmung siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechtsfortbildung  35, 47, 55, 59, 182 Rechtspositivismus  42–56, 60–61, 64–70, 72‒73, 82, 88–89, 108, 170–176, 277, 475 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu –– allgemeinem Persönlichkeitsrecht  140, 233, 306, 468–471 –– allgemeiner Handlungsfreiheit  136–140, 223–224 –– Arbeitnehmerschutz  335, 381–382 –– Berufsbeamtentum  163, 351 –– Berufsfreiheit  152–157, 439–444 –– Eigentumsgarantie  219–220, 235, 318, 344–345, 394, 484 –– Freizügigkeit  136–139 –– Glaubensfreiheit  201, 246, 254, 3662, 392, 461–462 –– Gleichheitssatz  141–142, 144–145, 233, 339–141, 356–362 –– Kernkraftwerken  333–334, 354, 419–420 –– Kriegsdienstverweigerung  245 –– Kunstfreiheit  355 –– Meinungsfreiheit  150–152, 261–262, 413–418, 489 –– Menschenwürde  229–231, 341–342, 415 –– Pressefreiheit  321–325, 467 –– Recht auf informationelle Selbstbestimmung  468–741 –– Rundfunkfreiheit  320–327, 353, 363 –– Schutz der Ehe  141–145, 233, 344–347, 356, 452–456 –– Schutz der Familie  385–389, 396–397 –– Sozialstaatsprinzip  299, 341–343

–– Versammlungsfreiheit  354–355, 406–407. –– Vertragsfreiheit  436–457, 463, 466–467 –– Wissenschaftsfreiheit  317, 325–327, 347–348, 352–353, 356 Rechtssoziologie  55, 57–58, 478 siehe auch Sociological Jurisprudence Reine Rechtslehre  65–70 Reiten-im-Walde-Entscheidung  223–224 Restauration  51–52 Revolution, deutsche  siehe Restaura­ tion Richterkönig  siehe Freirechtsbewegung Rundfunkfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schutz der Ehe siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schutz der Familie siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schutzauftrag  siehe Schutzpflichten Schutzbereich 218–220, 226, 270, 289–290, 305, 364–365, 373–375, 473  siehe auch Normbereichslehre Schutzpflichten  280, 331–338, 354, 362–363, 443, 453 Schwangerschaftsabbruch-I-Entscheidung  208, 331–333 Schwangerschaftsabbruch-II-Entscheidung  208, 313, 315, 334–335 Sociological Jurisprudence  475–479 „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung 414–416 Sozialstaatsprinzip siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spezifisches Verfassungsrecht  138‒139, 158, 262, 329–330, 362, 400–402, 413, 417, 419 Sphärentheorie  140 sprachtheoretische Wende  240–242, 254 Staatslehre  50–56, 73–74, 82 Staatszielbestimmungen  27, 215–216, 297, 300, 316, 393

542 Sachwortverzeichnis Statusbericht  68, 107–111, 114, 117, 120–123, 158, 167, 175 Stufentheorie  153–154, siehe auch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Berufsfreiheit Superrevisionsinstanz  siehe spezifisches Verfassungsrecht Tatbestandsmodell –– enges  370–375, 402 –– weites  366–370, 393, 403 Theologie, politische  77–78 Topik  177–184, 192, 196, 198, 208–210, 212 Übermaßverbot  siehe Verhältnismäßigkeitsprüfung Unterhaltsverzichtsentscheidung  329–330, 336, 451–456 Untermaßverbot  siehe Schutzpflichten Unvereinbarerklärung von Gesetzen  400, 428–431, 435 Verfassungsbeschwerde  98–99, 105–106, 131–133, 205, 426–431 –– Rechtsatzverfassungsbeschwerde  426–427, 435 –– Urteilsverfassungsbeschwerde  410–412, 427–428 verfassungskonforme Auslegung  183, 331, 354, 398–399 Verhältnismäßig­keit im engeren Sinne siehe  Verhältnismäßigkeitsprüfung – Angemessenheit Verhältnismäßigkeitsprüfung  154–157, 303–304, 350, 358–359, 375–384, 389–392, 402–403, 406, 460–461, 473, 479‒480

–– Angemessenheit  383, 389–392, 479‒480 –– Erforderlichkeit  378–384 –– Geeignetheit  376–377 –– legitimer Zweck  376–377 Versammlungsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Vertragsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Vertretbarkeitskontrolle  siehe Willkürprüfung Vorbehalt des Gesetzes  53, 61, 76, 80–81, 88, 267–272, 287–288, 293–294, 351 Vorverständnis  siehe Hermeneutik, Neue Wehrpflichtnovelle-Entscheidung  245 Weimarer Reichsverfassung  62–65, 74, 76, 79–80, 86–88, 91, 217, 223, 347 Wertejudikatur  130–131, 133–139, 141, 143–145, 150–152, 157, 159, 168, 170–176, 183, 197, 217, 231, 283, 316, 327–329, 395 Wesensgehaltsgarantie  94–95, 135, 138, 155 Whyl-Entscheidung  420 Willkürprüfung  357–358, 391, 396 Wissenschaftsfreiheit siehe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wortlaut  siehe Auslegungsmethoden Zirkel, hermeneutischer  siehe Hermeneutik, Neue Zusammenveranlagungsentscheidung  siehe Haushaltsbesteuerungsentscheidung Zweck, legitimer  siehe Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung