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German Pages 488 Year 2018
Sarah Czirr »Arbeitende Bilder«
Image | Band 135
Sarah Czirr, geb. 1979, ist promovierte Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts Moderne im Rheinland an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Von 2011 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der ZERO-Foundation Düsseldorf.
Sarah Czirr
»Arbeitende Bilder« Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich zwischen künstlerischer Aneignung und sozialer Wirklichkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Johannes Röttger/August Bauer, Personifikation der Industrie, Bismarck-Denkmal (Ausschnitt), Düsseldorf, 1899. © Jürgen Wiener Satz: Hannah Schiefer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4373-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4373-6 https://doi.org/10.14361/9783839443736 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt 1 Vorwort | 7 2 Einleitung | 9
2.1 Fragestellung | 19 2.2 Methodischer Zugriff | 22
3 Systeme und Diskurse | 35 3.1 Sozialgeschichte | 35 3.1.1 Wirtschaft | 37 3.1.2 Gesellschaft | 39 3.1.3 Politik | 46 3.2 Diskursformationen | 49 3.2.1 Arbeit | 54 3.2.2 Körper | 60 3.2.3 Geschlecht und Rasse | 67 3.3 Kunstsystem | 80 3.3.1 Diskursakteure | 80 3.3.2 Gattungsübergreifende Diskurse | 98 3.3.3 Diskurse zur Gattung Skulptur | 131
4 Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich | 161 4.1 Stil | 161 4.1.1 Stilwahl zwischen Historismus und Abstraktion | 161 4.1.2 Fallbeispiel: Adolf Simatschek, Bauskulptur Stahlhof, Düsseldorf | 210
4.2 Material und Produktion | 257 4.2.1 Entstehungskontexte zwischen akademischer Tradition, individueller Auftragsarbeit und Massenfertigung | 257 4.2.2 Fallbeispiel: Gerhard Janensch, Der Schmied | 279 4.3 Ikonografie der Arbeit | 300 4.3.1 Ein Bildthema zwischen Tradition und Moderne | 300 4.3.2 Fallbeispiel: Bernhard Hoetger, Menschliche Maschine | 355 4.4 Die Aufgabe Denkmal | 365 4.4.1 Die Rolle des Denkmals zwischen Omnipräsenz und Ambivalenz | 365 4.4.2 Fallbeispiel: Reinhold Felderhoff, Bismarck-Denkmal, Essen | 397
5 Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ | 423 5.1 Im Reich der Arbeit | 424 5.2 Das Reich der Freiheit | 428 5.3 Das Reich der Notwendigkeit | 432 5.4 Im Deutschen Kaiserreich – Gattungswesen Skulptur | 437 5.5 Kunstwirklichkeit – Die produktive Materialität der Gattung Skulptur | 439 5.6 Ästhetik des Widerstands | 441 5.7 Das Dritte Reich | 443
6 Zusammenfassung | 447 7 Literatur- und Quellenverzeichnis | 451 7.1 Primär- und Sekundärliteratur | 451 7.2 Internetquellen | 483
1 Vorwort
Das Vorwort – und so ist es auch in diesem Fall – steht zwar zu Beginn einer Schrift, wird aber zumeist zuletzt geschrieben: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Die vorliegende Publikation wurde im Mai 2016 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vom Institut für Kunstgeschichte als Dissertation angenommen. Der Weg dahin begann beim Grabmal für Victor Noir von Jules Dalou und der Frage nach dem Vorkommen sozialkritischer Skulptur. Die Zuspitzung auf das konkrete Thema – Skulptur im Deutschen Kaiserreich – verdanke ich dem Austausch mit den ProfessorInnen und DoktorandInnen im Kolloquium am Institut für Kunstgeschichte, namentlich seien hier Hans Körner, Stefan Schweizer, Iris Metje, Saskia Werth, Nina Kloth-Strauß, Bianca Bocatius, Jennifer Schlecking, Sukmo Kim und Manuela Klauser erwähnt. Mit dieser Perspektivierung wurde die Forschungs- und Quellenlage eingehend studiert und nach jeder Skulptur Ausschau gehalten, die ›arbeitet‹. Sehr hilfreich hierfür waren die Forschungen von Klaus Türk, der mich freundlicherweise auch in seinem Archiv empfangen hat. Produktive Diskussionen im Graduiertenkolleg Materialität und Produktion, das die Veröffentlichung gefördert hat, haben meine Arbeit ebenfalls bereichert. Hier sei stellvertretend Andrea von Hülsen-Esch gedankt. Wichtige Anregungen erhielt ich auch aus dem DoktorandInnenkolloquium von Timo Skrandies, dem ich herzlich dafür danke, dass er die Aufgabe des Zweitbetreuers übernommen hat. In der anstrengenden Phase vor der Abgabe haben mir vor allem Beate Kolodziej, Sandra König, Ilka Brinkmann, Hannah Schiefer und Johanna Masurek zur Seite gestanden – vielen herzlichen Dank hierfür. Meiner Familie danke ich für das liebvolle Vertrauen und dass sie mir stets alle Freiheiten ließ.
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Die Ehre, am Ende genannt zu werden, gebührt zwei Menschen: Jürgen Wiener, der diese Arbeit als Erstgutachter betreut hat, begleitet mich nun schon über einen langen Zeitraum und hat mich in vielerlei Hinsicht unterstützt – sei es bei konkreten inhaltlichen Problemen, sei es bei formalen Hürden. Ich danke ihm ganz herzlich, dass er seine Aufgabe als Betreuer so ernst genommen hat und ich bei ihm immer ein offenes Ohr gefunden habe. Martin Lange, dem Mann an meiner Seite, gilt mein größter Dank. Ohne ihn wäre dies alles so nicht möglich gewesen. In den Jahren meiner Promotion habe ich viel über das Thema Arbeit gelernt – und das nicht nur auf inhaltlicher Ebene. Im Laufe der Zeit hatte sich der Fokus von einer Ikonografie der Arbeit auf die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ verlagert. Zu meinen Ergebnissen zähle ich, dass die Worte Voltaires »Arbeit ist das einzige Mittel, um das Leben erträglich zu machen« auch aus (kunst-) historischer Perspektive mehr als ein Fragezeichen verdienen. Da schließe ich mich lieber dem oft zitierten, aber für diese Publikation besonders treffenden Bonmot von Karl Valentin an: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit«.
2 Einleitung
»Kaum hat ein Jahrhundert die Welt so verändert wie das neunzehnte, und wenn man einen raschen Blick darauf wirft, wirkt es so überfüllt wie die Zimmer eines schnell reich gewordenen Mannes um 1880. Da steht neben seiner schier die Natur überwindenden Größe sein soziales Elend, neben der Erfüllung jahrtausendalter Menschheitsträume platte Geldgier. Sein monumentaler Pessimismus beschattet es wie die Rauchwolken, die aus Fabrikschloten dringen, hysterische Überheblichkeit reißt sich zu funkelnder Gottähnlichkeit empor, und bei aller ungeheuren Arbeitsleistung tönt immer das Schubertmotiv auf: ›Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!‹«1
Auch noch ein Historiker2 wie Jürgen Osterhammel spricht jüngst noch von der Geschichte des 19. Jahrhunderts als von einer Verwandlung der Welt.3 Es ist vom Verlust der Mitte und vom nervösen Zeitalter die Rede.4 Teil dieser Geschichte ist die sogenannte industrielle Revolution, die weitreichende Folgen für die soziale Wirklichkeit hatte – so die Fokussierung der zeitgenössischen und aktuellen Historik, wie sie stellvertretend Carlo Cipolla zum Ausdruck bringt: »Keine Revolution war je so dramatisch revolutionär wie die Industrielle Revolution.«5 »›Die Kunst ist tot.‹ […] Unsere Epoche gehört den Ingenieuren, den Großkaufleuten und Fabrikbesitzern, aber nicht den Künstlern.«6 Diese Worte stammen von einem Künstler, der als der wichtigste Bildhauer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gilt: Auguste Rodin. Sein Werk regte deutsche Intellektuelle wie Rainer Maria 1 | Ahlers-Hestermann 1956, S. 16. 2 | In dieser Arbeit wird von einer Geschlechtsspezifizierung abgesehen und die verallgemeinerte Variante verwendet, so lange es nicht um eine konkrete Beschreibung geht. Dies entspricht in sehr vielen Fällen der historischen Realität des Deutschen Kaiserreichs, da es sich bei den Bildhauern, Theoretikern, Politikern, Industriellen etc. in den meisten Fällen um Männer gehandelt hat. 3 | Osterhammel 2009. 4 | Vgl. Sedlmayr 1998 und Steiner 1964. 5 | Cipolla zit. n.: Großbölting 2008, S. 15. 6 | Rodin zit. n.: Wenk 1996, S. 295 f.
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Rilke oder Georg Simmel in ihren Schriften zu tiefgehenden Auseinandersetzungen an. Simmel schreibt über Rodin: »Das trasmutabile per tutte guise, das Dante von sich aussagt, […] ist mehr ein Hin- und Herpendeln zwischen verschieden gefärbten Seinszuständen, […] – während die moderne trasmutabilità ein kontinuierliches Gleiten ohne feste Ausschlagspole und Haltpunkte ist, weniger ein Wechseln zwischen dem Ja und dem Nein, als eine Gleichzeitigkeit von Ja und Nein. Mit alledem hat nun Rodin den entscheidenden Schritt über den Klassizismus und eben damit über den Konventionalismus hinaus getan. Da wir weder die Seinseinfachheit der Antike besitzen noch die renaissancemässige Harmonie des Lebensideales, die unbeschadet des schliesslichen Gleichgewichtes aller Elemente von der antiken Norm ausgehen konnte – so ist das Beharren der klassischen Form in der Skulptur eine klaffende Diskrepanz gegen das Lebensgefühl des gegenwärtigen Menschen und kann gar nicht vermeiden, ein Konventionalismus zu sein. Dieser, in der Plastik mehr als in irgendeiner Kunst der Gegenwart herrschend, drückt aus, dass sie die spezifisch unmoderne Kunst ist. Als Zertrümmerer der Konvention bietet sich zunächst der Naturalismus an. Allein schließlich ist er doch nur das Pendant des Konventionalismus. Beide empfangen die Norm ihrer Gestaltungen von aussen, der eine schreibt den Natureindruck ab, der andere die Schablone; beide sind sie Abschreiber (was natürlich nur der extreme Grenzbegriff ist) gegenüber dem eigentlichen Schöpfer, für den die Natur nur Anregung und Material ist, um die Form, die sich in ihm bewegt, in die Welt hinein zu gestalten. Naturalismus und Konventionalismus sind nur die künstlerischen Reflexe der beiden Vergewaltigungen des neunzehnten Jahrhunderts: Natur und Geschichte.«7
In diesen Zeilen wird das Spannungsfeld deutlich, in dem sich die Gattung Skulptur8 in dieser Zeit bewegt: Antike, Naturalismus, Konventionalismus, Moderne, Form – vor allem Körperform – und (Lebens-)Gefühl. Skulptur ist »spezifisch unmoderne Kunst«9 zwischen Natur und Geschichte. Ob dieser Diagnose mag es nicht verwundern, wenn sie auf den ersten Blick wenig von den sozialen Veränderungen infolge der industriellen Revolution erzählt. Dietrich Schubert wagt sich an eine Zusammenfassung der Situation der Skulptur dieser Zeit: »Die Lage war mehr als ein Stilpluralismus; sie war aufgrund verschiedener Angebote (Traditionen), verschiedener Kritiken und der Abweisung herrschender Formen durch jüngere Künstler, die ›neue Möglichkeiten‹ (Obrist) des Ausdrucks und Stils suchten, eine krisenhafte. Die spätere
7 | Simmel, Rodin 1919, S. 179 f. 8 | Skulptur wird im Folgenden in Hinblick auf eine internationale Fachsprache und trotz der sprachlichen Differenzierungsmöglichkeiten im Deutschen als Überbegriff für beide Formen, das heißt Skulptur und Plastik, verwendet, sofern nicht explizit Plastik gemeint ist. 9 | Simmel, Rodin 1919, S. 179.
Einleitung Kunstgeschichte hat aus dieser krisenhaften Situation heraus zwei Stränge vor allem sehen mögen: die Weiterführung des Bronzestils Rodins mit allen seinen transitorischen Momenten als eine Kunst des modernen Heralditismus und des modernen, auf Bergson und Nietzsche fußenden Vitalismus; zum anderen die gegenüber der naturalistischen ,Fotografenplastik‹ und auch (wie bereits Rodin) gegen den Historismus gerichtete Tendenz zu schöpferischer Verdichtung und Konzentration auf die geschlossene große Form […]. Diese zweite Möglichkeit ist vor allem dem aus dem Nabis-Kreis wachsenden Aristide Maillol und dem Frühwerk Hoetgers zu danken. Wie man aber betonen muß, spielte dabei die Primitivierung eine Rolle, die Gauguin in Malerei und Plastik mit exotischen Figuren eingeleitet hatte: […]. Jedenfalls kommt gerade auch der Plastik Gauguins mit ihrer Formvereinfachung eine Sattelstellung zu. Maillols Konzentration auf die blockhafte große Form und seine Besinnung auf geschlossene Kompositionen des einzelnen Leibes, der Verzicht auf historische Themen und auf naturalistische Präzision bedeutete im Grunde nicht nur einen zweiten Weg neben Rodin, sondern bereits eine Absage an Rodins vitalistische Plastik. […] Zum bereits Angesprochenen trat nun der noch 1906 dem Vitalismus Rodins verpflichtete Rumäne Constantin Brancusi hinzu, der offenbar durch Figuren Gauguins und die Kunst der Naturvölker zu einer radikalen Abwendung, ja Kontradiktion zu Rodins Transitorik und Lebendigkeit inspiriert wurde […]. Brancusis Radikalisierung der Formgeschlossenheit der Gaugin-Maillol-Hoetger-Linie führte in Kürze von um 1908–1910 bis um 1916 zu einer kontrastlosen Formreduktion und Autonomisierung der ›reinen‹ Form […], derart, daß hier der Beginn der Gegenstandslosigkeit liegt, die zur Entgrenzung wesentlicher menschlicher Gehalte und zur Austauschbarkeit gewisser symbolischer Bezüge führen sollte.«10
Viele der im Rheinland tätigen Bildhauer veranschaulichen »die im ersten Teil primär durch Berlin bestimmte Entwicklung vom Naturalismus über den Neubarock zum Neoklassizismus und Jugendstil, den Übergang vom Individuellen ins Pathetisch-Sentimentale, dann Sachliche und Ornamentale.«11 Zwei Dinge werden hier deutlich: Zum einen wird die Geschichte der Bildhauerei im 19. Jahrhundert nicht als eine Geschichte begriffen, in der Deutschland eine große Rolle zukommt. Zum anderen ist diese Geschichte in erster Linie Stil- beziehungsweise Formgeschichte. Modernität heißt moderne Formen oder zumindest die Suche nach modernen Formen. Formal betrachtet, folgt man Trier, stellt sich die Bildhauerei im Deutschen Kaiserreich nicht sonderlich fortschrittlich. Als Marker für Modernität gilt im Avantgarde-Diskurs auch das verwendete Material – weniger hingegen der Produktionsprozess. Die Moderne nach 1900 praktizierte einen Materialstil. Dieser Stilbegriff war schon damals old-fashioned, da er bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Diskursformation prägte, und der sich wesentlich über den Einsatz neuer Materialien definierte. Neu konnten hier auch konventionelle Materialien wie Holz sein, wenn
10 | Schubert 1984, S. 115 f. 11 | Trier und Puls 1990, S. 156.
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man an den Expressionismus denkt, oder Industrieerzeugnisse wie Glas und Stahl. Wenn dieselben modernen, industriellen Produktionsformen massenhaft Statuetten in Galvanobronze hervorbrachten, wurde dies mit abschätzigen Begriffen wie »Talmi-Kunst«12 erfasst, da die »Materialgerechtigkeit«13 hier zum »Lügen-Styl«14 verkam. Material wurde Teil einer moralisierenden Ideologisierung und dies auch in einem nationalistisch-völkischen Kontext, wie am Beispiel Granit im Folgenden gezeigt wird. Ideologische Bekenntnisse – ob nun zu einem bestimmten Weltbild oder zu einem Kunstbegriff – prägten auch die Diskurse um die Ikonografie von Skulptur und die ihr zugeschriebenen Aufgaben. Ethos und Pathos, so lautet der Titel einer der immer noch wichtigsten Publikationen zur Skulptur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Die Pole Ethos und Pathos beschreiben hier die Zeitspanne zwischen Aufklärung und Fin de siècle15: »Und wie das proklamierte Ethos der Frühzeit nicht ohne Pathosformeln auskam, so waren in der Epoche von Wilhelm I. zu Wilhelm II. ethische Impulse nicht außer Kraft gesetzt – erinnert sei etwa an soziale Fragen, die erstmals ernst genommen wurden. So intendiert unser Titel Ethos und Pathos Widersprüchlichkeiten, die auch in der Ausstellung wahrgenommen werden sollten.«16
Der Buchdeckel soll diese Widersprüchlichkeiten verbildlichen: links die kranzwerfende Viktoria des Klassizisten Christian Daniel Rauch, rechts der Schmied des vom Neobarock beeinflussten Gerhard Janensch. Die zweibändige Publikation, gegliedert in einen Beitrags- und einen Katalogband, erschien anlässlich einer der wenigen Ausstellungen zur Skulptur dieser Epoche 1990 in Berlin (im Hamburger Bahnhof) und sollte »die Quersumme einer 20jährigen Beschäftigung mit dieser Materie« dokumentieren.17 Im Katalogteil werden zu diesem Zweck 387 Bildbeispiele angeführt, von denen dem Autor zufolge nur zwei – ja, genauer betrachtet, sogar nur ein Beispiel – dem ikonografischen Feld der sozialen Frage zugeordnet werden können. Rechnet man die Vergleichsbeispiele aus dem Begleitband hinzu, so kommt man auf ein Ergebnis von 737 zu 8. Wurden bei gerade einmal einem Prozent der Skulpturen die Wissenschaftler und Kurator der Ausstellung tatsächlich ihren Ansprüchen gerecht, Widersprüchlichkeit wahrzunehmen und einen Querschnitt der bildhauerischen Produktion dieser Epoche zu zeigen?
12 | Vgl. Bandmann 1971, S. 152. 13 | Vgl. Ciré 1993, S. 164. 14 | Vgl. Hübsch 1828, §11. 15 | Vgl. Bloch, Bildhauerschule 1990, S. 6. 16 | Ebd. 17 | Ebd.
Einleitung »Über Pradier als Mittelsmann fand die ›edle Kunst‹ eines Canova und Thorvaldsen einen natürlichen Weg bergab zur sogenannten ›Genreplastik‹. In diesem Zusammenhang sei als Kuriosum erwähnt, wie ein Geschichtsschreiber der Epoche die verschiedenen Themen im Werk eines Künstlers klassifizierte: ›Antike Themen. Biblische und christliche Themen. Philosophische Themen. Soziale Themen. Moderne Themen oder ›Genre‹.«18
»Die Hauptlinie der idealplastischen Tradition verläuft freilich innerhalb der Grenzen von Antikenrezeption und Genrekunst«19, meint auch Bernhard Maaz. Karl Eugen Schmidt schreibt 1902 in Die Kunst-Halle anlässlich des Pariser Salons: »Ich wollte die Bildhauer fänden endlich einmal ein anderes Thema als ihre ewige nackte Dame, die einmal als Musik, dann als Friede, dann Amazone, dann Danae heißt und sich sonst immer so fürchterlich ähnlich bleibt […].«20 Die Ikonografie der Skulptur des Kaiserreiches ist so vielfältig – oder einfältig, vertraut man dem Urteil der Zeitgenossen – und traditionell wie ihre Aufgaben. Wobei es gerade im Bereich des Denkmals eine Produktionsfülle wie nie zuvor gab und dieses zur bestimmenden Aufgabe wurde. Für die Zeit zwischen 1865 und 1900 führt Bloch Werke von Berliner Bildhauern auf, die für die Berliner Nationalgalerie angekauft wurden.21 Dabei handelte es sich zunächst hauptsächlich um Werke, die von ihrer Ikonografie dem klassizistischen Ideal entsprachen, etwa Johann Gottfried Schadows Ruhendes Mädchen, Begas’ Merkur und Psyche, Eberleins Dornauszieher oder Siegesbote von Marathon von Max Kruse. Um 1880 bemerkt man Veränderungen in der Themenwahl der Bildhauer, die sich in Werken wie Karl Cauers Hexe, Dornröschen von Louis Sussmann-Hellborn, Adolf Brütts Gerettet oder Zwei Pelikane von August Gaul zeigen. Im Aufgreifen von Motiven wie Nixen, Zwergen oder Hexen wendet man sich von den akademischen Prinzipien Klassizität und Mythologie ab.22 Maaz sieht noch einen weiteren Grund für diese Themenwahl: »[…] die Künstler opponierten eben gerade gegen diesen Utilitarismus und entwickelten aus jener Nüchternheit heraus ihre Poetisierungsstrategien, die in Werken wie Dornröschen von Louis Sußmann-Hellbron kulminierten.«23
18 | Selz 1963, S. 37. 19 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 50. Zum Komplex Idealplastik bemerkt Maaz: »Jeder Bildhauer strebt nach dem höchsten Ideal, der freien Plastik, die – ohne Bindung an einen dekorativen Zweck – allein historische, mythologische oder biblische und somit letztendlich allgemein-menschliche Sujets verhandeln sollte.« (Ebd. S. 23) 20 | Kähler 1996, S. 74. 21 | Vgl. Bloch, Kunst 1990, S. 295 f. 22 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 80. 23 | Ebd., S. 84.
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Diese Ikonografien wurden gerne für Brunnen24 aufgegriffen, besonders aufwendig bei Ignatius Taschner, beim Heinzelmännchenbrunnen in Köln, beim Wolfsbrunnen in München oder beim Gänsediebbrunnen in Dresden. Hier ist Maaz’ Bemerkung in besonderem Maße zutreffend: »Die Vielfalt und Einfalt narrativer Skulpturen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ließ sich zweifellos ins Uferlose fortschreiben.«25 In der anthropozentrischen Kunstgattung, als die die Skulptur Jutta Held und Norbert Schneider zufolge wesentlich begriffen wurde, dominiert der männliche Mensch. In der Gattung des Porträts finden sich vornehmlich Personen höheren sozialen Ranges, weil diese als Auftraggeber fungieren konnten.26 Vermehrt finden sich nun Darstellungen bürgerlicher oder arbeitender Personen beziehungsweise allegorischer Erfindungen, etwa im Bereich neuer Techniken wie Elektrizität. Berühmte und weniger berühmte Personen (Adelige, Könige, Politiker, Bürger, Gelehrte, Industrielle, Geistliche usf.) und Ereignisse (Krieg, Einigung, Entwicklung einer Stadt) fanden ihre Verarbeitung in Denkmälern27 oder denkmalhafter Bauskulptur28. Bürgerliche Geschichte wurde an Rathäusern wie in Berlin, München oder Aachen zum Thema
24 | Brunnen boten ein schier unendliches Möglichkeitsfeld der Ikonografie dieser Zeit: Mutter-Kind-Szenen mit Anklängen an Mariendarstellungen wie bei Adolf Donndorfs Werk in Weimar, die Personifikation der Hygieia von Johannes Hirt in Karlsruhe, der Gänsediebbrunnen von Robert Diez, Flussgötter und Kinder wie bei Hugo Hagens Wrangel-Brunnen in Berlin, weitere Wasserikonografien wie Neptun (Reinhold Begas), Nymphen (Nymphenbrunnen von Alexander Calandrelli), Fischfang durch einen Kentaur (Stuhlmann-Brunnen von Paul Türpe), auf Hippokampen reitende Wassergötter (Wittelsbacher Brunnen von Hildebrand) oder Fang einer Nixe (Herter), aber auch Rettung aus Seenot von Hugo Berwald oder Sintflut von Paul Aichele, Fechterbrunnen von Hugo Lederer, Rolandsbrunnen von Otto Lessing für Berlin, Siegfried-Brunnen von Emil Cauer, Brunnen für Heilige (Hubertus-Brunnen von Hildebrand, Kriegerdenkmalbrunnen, Entwurf von Georg Wrba) usf. 25 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 85. 26 | Vgl. Held und Schneider 1993, S. 78. 27 | Hier konstatiert Reuße eine sich verändernde Entwicklung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts: »Die Demontage einer verbindlichen Ikonographie geht auch mit dem Auftreten neuer Inhalte (Französische Revolution) einher, die sich besonders deutlich im Bereich des Denkmals manifestieren: Das zu Erinnernde selbst hat sich zunehmend gewandelt. Der einzelne wurde spätestens seit dem Ausgang des 19. Jh. nicht mehr als abgehobenes, losgelöstes Individuum oder gar Genie, sondern als Teil einer Entwicklung, als gesellschaftlich determiniertes Wesen gesehen. [...] Stattdessen ging es zunehmend mehr um Inhalte überindividueller Natur.« (Reuße 1995, S. 40) 28 | Nach Feist offenbaren diese bauplastischen Programme im ikonologischen Sinn Weltbild und Geschichtsbild. Deren Motive, etwa das ›Verpacken‹ bestimmter Szenen in Personifikationen oder Putten, prägten maßgeblich den Zeitstil (vgl. Feist 1987, S. 324).
Einleitung
der bauplastischen Ausstattung. Zahlreiche Skulpturen (Relieffriese und Statuen) schmücken etwa die Alte Nationalgalerie.29 Zu sehen sind Szenen der nationalen Kunst- und Kulturgeschichte sowie politische Ereignisse. Bildnisse von Künstlern verschiedener Jahrhunderte wurden an zahlreichen Museen und Ausstellungsbauten wie etwa am Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum angebracht. Personifikationen traditioneller Art – ob von Flüssen, Städten, Berufen, Tugenden etc. – kann man vor allem bei Denkmälern, aber auch in der Bauskulptur (mit jeweiligem Bezug zum Ort) oder an Gräbern finden. Bibliotheken wie die Berliner Staatsbibliothek (Haus Unter den Linden) wurden mit Personifikationen von Kunst, Technik, Wissenschaft, anderen preußischen Bibliotheksstädten sowie Statuen von Philosophen im Innenhof ausgestattet. An Gerichtsgebäuden tauchen sinnfälligerweise Justitia oder Unschuld und Laster auf. Zur größten Bauaufgabe gehörte der Berliner Reichstag, 30 der mit zahlreichen Skulpturen (etwa Personifikationen von Kunst, Wissenschaft, Handel, Gewerbe, Germania, Flüssen, einem Heiligen Georg mit Bismarcks Gesichtszügen, dem deutschem Kaiser etc.) ausgestattet wurde. Weitere wichtige Repräsentationsbereiche waren vor allem Porträtbüsten oder Gräber, erstere zählten zu den häufigsten Auftragsarbeiten im 19. Jahrhundert.31 Bis 1900 gehörte die Porträtbüste zu den unangefochtenen Aufgaben in Deutschland, danach begann nach Maaz ihre Ironisierung.32 Um 1900 nahmen Bildnisbüsten für Frauen deutlich zu. Sie wurden selten wegen ihrer Verdienste, allenfalls wegen ihres Standes porträtiert.33 Dementsprechend gab es nahezu keine Personendenkmäler für Frauen. Mit der Reichsgründung orientierten sich Bildhauer wie Reinhold Begas oder Gustav Eberlein an französischen Vorbildern wie Jean-Baptiste Carpeaux, doch der bald schon überbordende Bildnisstil wurde um 1900 durch reduziertere Formen ersetzt.34 So konstatiert Ursula Merkel zur Entwicklung des Porträts: »[…] die Authentizität individueller Existenz im künstlerischen Porträt wurde daher in erster Linie durch das Konkurrenzverhältnis mit der Wirklichkeit angestrebt. […] So spiegelt sich in diesem allgemein vorherrschenden Porträtverständnis, das exemplarisch an Beispielen aus dem Werk von Carriere-Belleuse und Dalou in Frankreich sowie – mit zeitlicher Verzögerung – von
29 | Die Ausstattung mit Bauskulptur ging für Museen ab den 1870ern stark zurück (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 311). Maaz bietet mit seiner Publikation reiches Bildmaterial, auf das auch in dieser Arbeit zurückgegriffen wurde (vgl. ebd.). 30 | Die Skulpturen von Walter Schott mit Putten und Göttern in Anlehnung an barocke Vorbilder waren einer der letzten großen Zyklen des fürstlichen Schlossbaus (vgl. ebd., S. 285). 31 | Vgl. Kähler 1996, S. 19. 32 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 220. 33 | Vgl. ebd., S. 218 f. 34 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 214.
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»Arbeitende Bilder« Begas in Deutschland dargelegt worden ist, das zunehmend naturwissenschaftlich bestimmte und positivistisch ausgerichtete Weltbild des 19. Jahrhunderts wider.«35
Engel, Genien, Trauereroten oder Trauernde gehörten neben Kindern und Personifikationen sowie Darstellungen von Verstorbenen zum Repertoire der Sepulkralskulptur. Grab- und Denkmalsgestaltung wurden nach 1914 in kombinierten Formen von zahlreichen Bildhauern als Aufgabe wahrgenommen – wenn auch teilweise nur Entwürfe entstanden. Adolf von Hildebrand machte hierfür in seinem Text Über das Kriegsgrab von 1915 Vorschläge.36 Hans Hildebrandt forderte für die Kriegsdenkmäler in seiner Schrift Krieg und Kunst von 1916 vor allem das gestalterische Prinzip der Ordnung.37 Das Nationale wurde über Symbole, Personifikationen und historische Personen vor allem im Bereich des Denkmals ikonografisch aufgearbeitet. Erst ab der Jahrhundertmitte können sich nach Maaz auch in den übrigen Aufgaben der Skulptur vermehrt politische Bezüge zeigen.38 Zum Werk Hunne zu Pferd bemerkt Maaz: »Die Hunnen verkörperten im damaligen Deutschland archaische Kraft und Gefahr. Kaiser Wilhelm II. forderte angesichts des Boxeraufstands im Jahre 1900, die Deutschen sollten in China einen Schrecken verbreiten wie einst die Hunnen. Hösels Gruppe zielt in diesem Sinne auf den Ausdruck politisch-militärischer Superiorität und gewinnt somit einen nationalistischen Kontext. […] Damit verstand sich die Idealplastik als Instrument ideologischer Selbstdarstellung des preußischen Staates und der konservativen Kräfte.«39
Darstellungen zu Berufen und ihren Produkten häuften sich – teils als szenische Erzählungen (Rotes Rathaus Berlin) und teils als Einzelfiguren (Lotse von Julius Robert Hannig) oder Personifikationen beziehungsweise Allegorien (die Telegrafie von Joseph Kaffsack). Hinzu kamen Neuerungen im Bereich der Allegorie, die vorher nicht gekannte Techniken oder Erfindungen repräsentierten. Bahnhöfe wurden mit Allegorien der Macht oder des Verkehrs ausgestattet, Fabrikstätten mit genrehaften Figuren zu den jeweiligen Industrien. Die für dieses ikonografische Feld vermeintlich typischen Orte konnten aber auch mit ganz anderen Themen versehen werden: Postgebäude wie die in Berlin und Magdeburg wurden mit gotisierenden Skulpturen von Herrschern wie Otto I. bestückt.40 Auch zahlreiche Brücken erhielten plastischen Schmuck. Zentrale Themen von Skulpturen sind auch Liebe und Schönheit, personi-
35 | Merkel 1995, S. 225. 36 | Vgl. Ende 2015, S. 223 f. 37 | Vgl. ebd., S. 249. 38 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 50. 39 | Ebd., S. 50. 40 | Vgl. ebd., S. 340.
Einleitung
fiziert durch Amor, Psyche und Venus (etwa bei Begas). Ein weiterer – nach Maaz die Darstellung weiblicher Tugenden – Themenkomplex widmet sich Lieblichkeit, Schönheit und Häuslichkeit.41 Dazu gehören Personifikationen wie die der Gastfreundschaft von Gustav Blaeser aus dem Jahr 1868. In diesen Bereich fallen ebenso die Darstellungen von Kindern.42 »Im 19. Jahrhundert entstanden und in der Jahrhundertmitte mehrten sich die idealen Statuen, die die Jugend oder Kindheit des Menschen feierten und darin eine neue ›Konfession‹ postulierten, nämlich das bis heute weiterwirkende Diktat der Jugend und Schönheit, weshalb diese Werke auch von einer weit höheren Relevanz sind als allgemein begriffen wird.«43
Um 1900 häuften sich die Kinderporträts.44 Kinder waren wie Putten auch beliebte Assistenzfiguren für alle Aufgabenbereiche – gerne an Brunnen oder auch als Friese an Gebäuden wie etwa von Ernst Herter an seinem Wohn- und Atelierhaus angebracht. Der ›häusliche‹ Bereich konnte durch verstärkte Betonung des Genrehaften oder durch Anleihen aus der antiken Ikonografie präsentiert werden. Beispielhaft stehen hierfür das Werk Venus und Amor von Begas und Verbot von Eberlein in Anlehnung an Begas. Mutter-Kind-Darstellungen waren ebenfalls sehr beliebt. Weibliche Figuren konnten – oft wenig bekleidet – alle Rollen der Mythologie, der Allegorie, des Religiösen, des Literarischen oder allgemeiner Themen ausfüllen. Männliche Figuren wurden für annährend alle ikonografischen Bereiche genutzt, wobei der Bereich des Familiären nahezu nicht vorkommt. Eine Ausnahme bildet etwa der alte Schmied mit Knabe, auch als Großvater und Enkel angesehen, am Moltke-Denkmal in Düsseldorf. ›Rollenkonforme‹ Entscheidungen im ikonografischen Bereich – ausgenommen Denkmal und Büste – äußern sich wie folgt: »Wurden für die weiblichen Gestalten Motive der Märchenwelt bemüht, wenn man die literarischen Themen auf ein Höchstmaß treiben wollte, so waren es für die männlichen Statuen bevorzugt patriotisch konnotierte Gestalten aus den deutschen Heldensagen.«45
Maaz führt weitere ›männliche‹ Bereiche an:
41 | Vgl. ebd., S. 26. 42 | Das Thema Kind verbunden mit der Idee von Unschuld war in der ersten Jahrhunderthälfte ein oft gewähltes Motiv (vgl. ebd., S. 31). 43 | Ebd., S. 48. 44 | Vgl. ebd., S. 222. 45 | Ebd., S. 84.
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»Arbeitende Bilder« »Verläßt man nun die Fülle weiblicher Sujets und wendet sich hin zu den männlichen Ausdrucksfiguren jener Jahrzehnte um 1900, so sind auffällig viele Themen des Sports, der Kraft, der Gewalt und sogar des Martialischen darunter.«46
Im Bereich des Sports (Kugelspieler von Nikolaus Friedrich, Bogenschütze von Fritz Heinemann) oder anderer Freizeitaktivitäten (Leseratte von Arthur Lewin-Funcke) werden zum Teil zeitgenössische Beispiele repräsentiert, zumeist aber knüpfen die Darstellungen an antike Sportdarstellungen im Sinne einer historistischen Suche nach ikonografischen Gelegenheiten an. Der Mensch blieb bis zum Jahrhundertende das wichtigste Motiv: »[…] zuweilen auch androgyn anmutende Figuren bevölkerten die Ausstellungen und vermittelten Bilder ephebenhafter Jugend und mädchenhafter Blüte. In anderen Fällen waren es schwerblütige, schicksalsbeladene, metaphorisch ebenso wie buchstäblich geknickte und gebrochene Gestalten, die der Skepsis, dem Nihilismus oder der Lebensschwere im Geiste eines Strindberg oder Nietzsches Ausdruck verliehen.«47
Dazu gehören Werke wie Kauernde von Hugo Lederer, Trauernder Jüngling von Ernesto de Fiori oder Gestürzter von Wilhelm Lehmbruck. Diese Werke erhielten oftmals psychologisierende Titel wie Schuld, Reue etc. »Das Pathos des, wie Sibylle Einholz das in anderem Kontext trefflich nannte, ›gezwängten Menschen‹ ist in seiner Ambivalenz von Gedrücktheit und Verklemmung einerseits und von Integrität oder Abschirmung andererseits ein wohl unausgeschöpfter Gegenstand für die Interpretation der Ausdrucksplastik um 1900.«48
Daneben reihen sich viele weniger existenzielle Themen, etwa Genregruppen wie Knabe mit Ziegenbock von August Kraus oder Abschied von Otto Geyer sowie tätige (Krugträgerin von Rudolf Küchler) und untätige (Stehender Jüngling von Julius Paul Schmidt-Felling) Einzelfiguren oder solche wie Sieger von Louis Tuaillon. Erotische Motive fanden oftmals in Kleinstatuetten Verwendung. Das Bacchantische in der Nachfolge Theodor Kalides – wenn auch weniger sinnlich – ist ein überaus präsentes Thema etwa bei Carl Begas oder Moritz Schulz.49 Für die Themen in Parks und Gärten spielten vor allem vier Bereiche eine Rolle:
46 | Ebd., S. 72. 47 | Ebd., S. 65. 48 | Ebd., S. 68. 49 | Vgl. ebd., S. 57.
Einleitung »Für das sogenannte lange 19. Jahrhundert sind im wesentlichen zwei Epochen einer blühenden Praxis von Skulpturenaufstellungen in Parks und Gärten zu benennen, nämlich einerseits die Jahrzehnte um 1800, als Denksteine, Büstendenkmäler und Skulpturentempel weithin gebräuchlich waren, und andererseits die Jahrzehnte um 1900, in denen die Gattung des Denkmals nach ihrer innerstädtischen ›Abnutzung‹ gleichsam in den Kontext der Parks zurückkehrte.«50
Beispielhaft stehen hierfür die Werke von Fritz Schaper und Gustav Eberlein für Johann Wolfgang von Goethe und Richard Wagner. Sie konnten aber auch mit lyrischen Schöpfungen51 (zum Beispiel das Volkslied von Sußmann-Hellborn) bestückt werden – ab 1900 ergänzt um kämpferische Figuren (Bogenspannerin von Ferdinand Lepcke) und traditionellen Themen wie Flora (von Wolf von Hoyer für den Park Schloss Weesenstein). Traditionell waren auch die Jagdgruppen (etwa eine altgermanische Büffeljagd von Schaper) vertreten. Auch Skulpturen von Tieren – ob heimische oder exotische – außerhalb von Gärten gehörten zum Werkbestand des Kaiserreiches (Fritz Behn, Johann Heinrich Kureck, Ernst Moritz Geyger und vor allem Friedrich Wilhelm Wolff und August Gaul)52. Reiter konnten auf Pferden (etwa Wilhelm I. von Begas oder Der junge Reiter von Hermann Hahn) oder auch auf Eseln (von Gaul oder Neger auf Esel von Rudolf Maison) Platz nehmen. Im Bereich der Sakralskulptur wurden wie seit jeher architekturbezogene Arbeiten geschaffen, aber auch Altäre oder Statuen. Daneben finden sich biblische Einzelfiguren (Eva von Schaper oder Kain von Heinemann) oder Gruppen (Hagar und Ismael von Begas).
2.1 Fragestellung Wie nun lässt sich der Befund zur Skulptur im Deutschen Kaiserreich mit den allseits konstatierten sozialen Wandlungen dieser Zeit zusammenbringen? »Daß die Industrielle Revolution als radikaler Eingriff in sozialgeschichtliche Strukturen gesehen werden muß, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Auch die Behauptung, das System der Künste und Diskurse habe darauf irgendwie reagieren müssen, stößt auf hohe Zustimmungsbereitschaft. Angesichts des Arsenals historiographischer Kategorien mag man darüber streiten, ob man die Industrielle Revolution besser als geschichtlichen Prozeß, als geschichtliches Ereig-
50 | Ebd., S. 417. 51 | Vgl. ebd., S. 412. 52 | Mit Gaul entsteht das autonome Tierbild losgelöst von einer (mythologischen) Geschichte (vgl. Bloch, Kunst 1990, S. 297).
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»Arbeitende Bilder« nis oder gar Krise oder als evolutionären Einschnitt beschreibt. Aber dies ändert nichts an einem Konsens, dessen Vorstellungsfundus so unvermeidbar zu sein scheint, daß man die inzwischen zwangsläufig abgedroschen wirkenden Topoi der Beschreibung (›stürmische Entwicklung‹ usw.) hinnimmt. Man befindet sich in einer gänzlich anderen Lage, wenn man sich daran macht, Reaktions- und Verarbeitungsweisen der Künste und Diskurse zu untersuchen.«53
In Anlehnung an Helmut Pfeiffer lässt sich die Fragestellung formulieren: Wie gestalten sich diese Reaktions- und Verarbeitungsweisen der Kunst beziehungsweise Skulptur im Deutschen Kaiserreich? Jennifer Schlecking bemerkt zur Situation der Malerei dieser Zeit: »Im November 1877 beklagt ein zeitgenössischer Kritiker anlässlich der akademischen Kunstausstellung in Berlin, es falle der Umstand ins Auge, ›[…] daß die bedeutsamen Kulturerscheinungen der Gegenwart, die Umwälzungen und Veränderungen im bürgerlichen Leben, welche mehr oder minder schätzbare Errungenschaften der jüngsten Vergangenheit sind, von unseren Malern beinahe völlig ignoriert werden.‹ Von der offiziellen Kunstkritik und dem Publikum wurde an die deutsche Malerei der Gegenwart die Anforderung gestellt, modernes Leben zu thematisieren.«54
Hieran anschließend gilt es, zwei Dinge zu klären: Wurden an die Skulptur andere Anforderungen gestellt und was verbindet sich mit dem Themenkreis der »Umwälzungen und Veränderungen im bürgerlichen Leben«55 – etwa auch der Bereich der Arbeit? »Doch noch vor Marx’ utopischem Entwurf vom Ende des Reichs der Notwendigkeit und dem Beginn des Reichs der Freiheit entsteht um 1800 mit dem Ideal des Künstlers und seiner ›Arbeit am Werk‹ ein ästhetischer Gegendiskurs, der sich als Alternative zur einsetzenden arbeitsteiligen Gesellschaft geriert und daher geeignet scheint, die Utopie vom Reich der Freiheit mit ästhetischem Material anzureichern. Im Rahmen der Neudefinition der ›schönen Künste‹ entstehen in der Klassik und Romantik eine Reihe von ästhetischen Entwürfen, in denen Kunst zu dem Ort wird, an dem sich ein autonomes, geniales, unabhängiges und selbstbestimmtes Individuum im und durch das Werk selbst eine Form gibt. Die Idee der unentfremdeten Arbeit als Garant für die Subjektbildung, die bereits im Moment ihrer Entstehung durch die einsetzende Arbeitsteilung im 18. Jahrhundert mit der Wirklichkeit kollidiert, soll sich in der Arbeit des Künstlers realisieren.«56
53 | Pfeiffer 1987, S. 273. 54 | Schlecking 2016, S. 12. 55 | Ebd. 56 | Lemke und Weinstock 2014, S. 12.
Einleitung
Diese Vorstellung von Künstlern, die durchaus auch dem Selbstverständnis derselben entsprechen konnte und kann, berechtigt zu der Frage, ob ein durch Kunst entworfenes Bild von Arbeit per se ein alternatives zum herrschenden Verständnis von Arbeit ist. Ist der Blick des Künstlers aus dieser alternativen, und als solche in gewisser Weise immer auch weltfremden Sphäre der Kunst als einer idealen Arbeitswelt – ob nur als solche gedacht und konzipiert oder wirklich gelebt gilt es ebenfalls zu hinterfragen – für das, was als reale Verhältnisse bezeichnet wird, verstellt? Wie lässt es sich sonst erklären, dass in den Skulpturen des Deutschen Kaiserreiches das gesamte Thema Arbeit marginalisiert wurde, obwohl zu jener Zeit Arbeitslosigkeit, Verarmung, Hunger und Krankheit nahezu unübersehbar waren? Oder ist es gerade das Reich der Freiheit der Kunst, das es ermöglicht, einen alternativen Entwurf von Arbeit zu schaffen? Sind es nur die Künstler, die in ihrer schöpferischen Kraft die Arbeiter als ebenbürtig erkennen und ein ihnen angemessenes Bild erschaffen? Die – insbesondere jüngere – Forschung hat sich einigen Aspekten der hier gestellten Fragen gewidmet. In Überblickswerken zum 19. Jahrhundert57 oder zu einzelnen Stilen beziehungsweise Zeitabschnitten58 wird der Skulptur meist weniger als mehr Platz eingeräumt. In Werken zur Geschichte der Skulptur im 19. und 20. Jahrhundert59 wird die Skulptur im Deutschen Kaiserreich dem Format entsprechend als ein Kapitel innerhalb einer Gesamtentwicklung bearbeitet. Dabei konzentrieren sich die Darstellungen beispielsweise auf stilistische Entwicklungslinien – im Sinne eines Weges der Skulptur zur Moderne.60 Grundlagenforschung zur Skulptur im Deutschen Kaiserreich wurde vorwiegend betrieben von Peter Bloch, Eduard Trier und Bernhard Maaz. Sie setzen einen wichtigen Schwerpunkt auf die Berliner Bildhauerschule.61 Monografische Werke zu einzelnen Bildhauern leisten neben ihrer biografischen Zuspitzung dennoch immer wieder grundlegende Beiträge.62 Dasselbe gilt für Studien, die sich bestimmten Aufgaben dieser Zeit widmen, etwa der Bauskulptur oder der Sepulkralskulptur.63 Einen Großteil der Publikationen – oftmals auch vonseiten der
57 | Vgl. Haack 1907; Kohle und Dorgerloh 2008; Klotz 2000; Kuhn 1922; Weyres und Trier 1980; Mai et al.1982; Mai und Waetzoldt 1981; Feist 1987; Meier-Graefe 1904. 58 | Vgl. Ahlers-Hestermann 1956; Beeh 1976; Berger et al. 2014; Tümpel 1992; Felix 1984. 59 | Vgl. Guerrisi 1930; Heilmeyer 1907; Kuhn 1922; Janson 1985; Rheims 1977; Seuphor 1959; Feist 1987; Feist 1996; Baumgart 1957. 60 | Vgl. Hammacher 1973; Read und Hundt 1966; Selz 1963. 61 | Vgl. Hentzen 1934; Hofmann 1974; Maaz 2010; Wolfradt 1920; Werner 1940; Bloch 1975; Bloch und Hüfler 1984; Bloch und Grzimek 1978; Peter Bloch et al. 1990; Kähler 1996. 62 | Vgl. Pötzl-Malikova und Metzner 1977; Afuhs et al. 2009; Ende 2015; Gensel 1905; Goetz 1984; Jochum-Bohrmann 1990; Schmidt 2001. 63 | Vgl. Boeck 1961; Zacher 1980; Eppler 2009; Meyer-Woeller 1999; Berman, 4. Bde. 1974, 1976 und 1977; Türk 2009; Merkel 1995; Thiemann und Desczyk 2012.
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Geschichtswissenschaften – beschäftigt sich mit dem Denkmal.64 Publikationen etwa zu Darstellungen des Krieges65 oder der Allegorien66 beleuchten ikonografische Einzelthemen67. Zahlreich sind inzwischen die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Arbeit in der bildenden Kunst.68 Neben zeitgenössischen Zeitschriften (etwa Kunst für Alle) oder Kunstpublikationen (etwa von Karl Scheffler oder Julius Langbehn) bieten Quellensammlungen69 wichtiges Forschungsmaterial zur Erschließung zeitgenössischer Diskurse. Hierzu zählen auch Publikationen zu Bildhauertheorien.70
2.2 M ethodischer Z ugriff »Kunstwerke setzen eine kognitive und praktisch-sinnliche Aneignung der Welt voraus; diese Aneignung geschieht dadurch, daß die Welt wahrgenommen, gedeutet (d. h. in einen für die jeweilige Gesellschaft bedeutsamen Sinnzusammenhang gestellt) und im Vollzug willentlicher Einwirkung, Umwandlung und Bearbeitung gestaltet wird.«71
Diese von Reinhard Alings zitierte Passage entspricht Grundannahmen der Kunstsoziologie: Kunst ist eine Auseinandersetzung mit Welt und nicht unabhängig von Welt zu denken. Peter Thurn beschreibt das Vorgehen der Kunstsoziologie so: Es gehe darum, »Kunst von der Seite ihrer Wirkung her zu untersuchen« und »Kunst auch von der Seite ihrer Entstehung her sozialwissenschaftlich zu durchleuchten. Dies jedoch nur insoweit, als soziale Determinanten die Kunstschöpfung mitbestimmen. Nicht Re-
64 | Vgl. Laumann-Kleineberg 1989; Mittig und Plagemann 1972; Reuße 1995; Alings 1996; Koselleck 1994; Nipperdey 1968; Scharf 1983; Scharf 1984; Keller und Schmid 1995; Krauskopf 2002; Meißner 1985. 65 | Vgl. Berding et. al. 2000; Müller 1980. 66 | Vgl. Meurer 2014; Wenk 1996. 67 | Vgl. Bayl 1964. 68 | Vgl. Beneke und Ottomeyer 2002; Fürst und Goerke 1912; Brandt 1928; Pohl 1986; Hütt 1974; Großbölting 2008; Herbert 1961; Pfeiffer et al. 1987; Lemke und Weinstock 2014; Spilker 2001; Wiener 2014; Türk 2000; Schlecking 2016. 69 | Vgl. Bischoff 1985; Ebertshäuser 1983. 70 | Vgl. Hildebrand 1901; Körner 1990; Trier 1999; Baur 1975. 71 | Meyers Enzyklopädisches Lexikon zit. n.: Alings 1996, S. V.
Einleitung duktion von Kunst auf Gesellschaftliches ist hier das Ziel, sondern Klärung des Anteils der Gesellschaft an der Entstehung und Ausgestaltung von Kunst.«72
Weit stärker sieht Arnold Hauser die Bedingtheit von Kunst und Gesellschaft: »Kunstwerke sind Sedimente von Erfahrungen und richten sich, wie alle Kulturleistungen, auf praktische Ziele. Die Kunst läßt sich nur mit besonderer Anstrengung und unter besonderen geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Lebenszusammenhang, in dem sie wurzelt, herausreißen, von der allgemeinen Praxis und Noesis, mit der sie verwachsen ist, scheiden, und als selbständige, eigengesetzliche und eigenwertige Tätigkeit betreiben und beurteilen.«73
Thurn verweist hingegen stärker auf die Eigengesetzlichkeiten von Kunst: »Beide Thesen, diejenige von der Notwendigkeit der totalen Anpassung der Kunst an die Gesellschaft wie auch diejenige von der Notwendigkeit eines unbedingten Widerstandes der Kunst gegen die Normen der Gesellschaft, müssen überwunden werden zugunsten einer soziologisch präzisen Klärung, des jeweils mitwirkenden Maßes an Anpassung bzw. Nichtanpassung des Künstlers und ihrer Produkte und Wertvorstellungen der sie umgebenden Gesellschaft.«74
Hans Dieter Huber betont trotz kunstsoziologischer Perspektive den ›Eigenwert‹ von Kunst und bemerkt dazu, »dass Kunst ein soziales Phänomen ist und keine nur subjektive Angelegenheit eines einzelnen Beobachters […], eine bewusste und aktive Konstruktionsleistung«75. Kunst als Konstruktionsleistung ist eine Sichtweise, die auch Klaus Türk vertritt: »Die konstruktivistische Perspektive ernst nehmen heißt nun aber nicht, danach zu fragen, wie in unterschiedlichen Bildern, Bildfeldern, Diskursen die ›Wirklichkeit‹ – also etwa die Natur, das menschliche Subjekt oder für unseren Zusammenhang die Industrie – verschieden interpretiert wird. Ein solcher Ansatz setzt voraus, dass wir auf der einen Seite die Bildvorwürfe als objektive Fakten erkennen könnten, um dann in einem zweiten Schritt die ›Interpretation‹ dieser Gegenstände mit ihnen zu vergleichen. […] Ein strikter Konstruktivismus geht demgegenüber von der diskursiven Produktion der Gegenstände selbst aus. Ein Vergleich von ›Gegenstand‹ und Bild kann nur als Vergleich von zwei Konstruktionen verstanden werden. Eine ›Übereinstimmung‹ ist kein Indikator für Wahrheit, sondern lediglich eine Verstärkung etablierter Sichtweisen, und eine Differenz ist kein Indikator für Unwahrheit, sondern ein Angebot, das Spektrum des Wis-
72 | Thurn 1973, S. 9. 73 | Hauser 1983, S. 5. 74 | Thurn 1973, S. 21. 75 | Huber 2007, S. 11.
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»Arbeitende Bilder« sens zu erweitern. […] So können wir […] nicht einfach davon ausgehen, dass wir bereits vorab über das ›richtige‹ historische Wissen verfügen, um dann feststellen zu wollen, inwieweit die Bildproduktion diesem entspricht oder vielleicht ›Ideologie‹ im Sinne ›falschen Wissens‹ präsentiert. […] Vielmehr müsste versucht werden, die Entstehungs- und Wandlungsgeschichte dessen, was ›Industrie‹ jeweils genannt wird, auch anhand von Bildern zu rekonstruieren. Michel Foucault nennt diese Vorgehensweise ›Genealogie‹ anstelle von ›Archäologie‹. Dabei ist damit zu rechnen, dass in Diskursen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden; Erzeugung und Kommunikation von ›Wissen‹ sind mit Macht besetzte und um Macht ringende Prozesse der ›Wahrheitspolitik‹ (Foucault) einer Gesellschaft.«76
Türk erläutert den Konstruktionismus77 weiter: »Für Menschen scheint dieser Konstruktionismus in besonders ausgeprägter Weise zu existieren, da sie nicht nur Wahrnehmungen, Handlungen und Artefakte konstruieren, sondern zur Konstruktion von Konstruktionen in der Lage sind, also zu Konstruktionen zweiter Ordnung. […] Gegenüber und ergänzend zu diesem ›produktionistischen Konstruktivismus‹ betont der kognitive Konstruktivismus die Abhängigkeit jeder Wirklichkeitswahrnehmung von den Strukturen des jeweiligen Beobachters. Danach gibt es keine ›objektive‹, abbildhafte Wirklichkeitserkenntnis, jede Erkenntnis ist vielmehr ein konstruktiver Akt, eine Herstellung. […] Ein drittes Feld bilden die Prozesse der konstruktiven Arbeit; das heißt die Erzeugungspraktiken der gesellschaftlichen und materiellen Artefakte sowie die Erzeugungspraktiken von Erkenntnissen, Deutungen, Reflexionen etc. […] Aber auch die Erzeugung von Wissen über diese Wissensproduktion erfolgt in Arbeitsweisen, die teils sogar institutionalisiert sind etwa in der Soziologie oder der Kunstwissenschaft. Die Gesellschaft insgesamt ist damit in vielfach verschachtelter und reflexiver Weise mit ihrer Selbstreproduktion beschäftigt.«78
Thomas Großbölting verweist in seinen Forschungen zu den Gewerbe- und Industrieausstellungen deshalb auf Folgendes: »Nichts ›läßt sich begreifen, beschreiben oder erklären, ohne die Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der zeitgenössischen Menschen in das Verstehen, Beschreiben oder Erklären einzubeziehen‹, so hat Ute Daniel ihr kulturgeschichtliches Credo formuliert. ›Wie zu verschiedenen Zeiten und Orten eine gesellschaftliche Realität faßbar, denkbar, denkbar
76 | Türk 2002, S. 37. 77 | »›Konstruktionismus‹ meint das Faktum der konstruktiven Tätigkeit von Lebewesen, ›Konstruktivismus‹ meint die diesbezügliche wissenschaftliche Lehre.« (Ebd., S. 39) 78 | Ebd., S. 34 f. Das Wissen der Wissenschaften als Konstruktion offenbart sich beispielsweise auch durch die Sprache von Wissenschaften. In der Kunstgeschichte sind Beschreibungskate-
Einleitung geworden ist‹ – diese Aufgabenstellung hat der Annales-Historiker Roger Chartier zur Grundfrage einer Geschichte der Repräsentationen erklärt: Wenn die neue Kulturgeschichte ›nach den Prozessen [forscht], durch die ein Sinn gebildet wird‹, muss die Tätigkeit des Historikers konsequenter als bisher auf eine rückwärts gerichtete Konstruktion von Weltauslegung zielen. […] Die Vorstellung von einer Kluft zwischen der Objektivität von Strukturen und der (vermeintlichen) Subjektivität von Vorstellungen lässt Chartier nicht gelten und wendet sich deshalb gegen eine erkenntnistheoretische Abwertung der Repräsentationen gegenüber sozialen und ökonomischen Faktoren.«79
In dem Sinne betrachtet Großbölting Ausstellungen nicht als Zeichen für Industrialisierung, sondern als Vehikel für gesellschaftlichen Wandel80 und als Deutungsangebote für Wirklichkeit.81 Als historische nahezu zeitgenössische Position zum Untersuchungszeitraum ist die von beispielsweise Emma Simon zu nennen: »Sozial im weiteren Sinne ist ›alles, was die gesellschaftlich-kulturellen Beziehungen zwischen Menschen betrifft.‹ Dies auf die Kunst übertragen, ist jede Kunst, die auf Menschen wirken will, sozial. […] Aber auch, wenn man unter sozial so viel wie ›menschenfreundlich‹ verstehen will, so ist die Spiegelung dieses Gefühls im Kunstwerk ebenfalls keine Errungenschaft der Moderne.«82
Das praktische Ziel der sozialen Kunst ist nach Simon also:
gorien Hilfskonstruktionen, um Kunst durch Sprache zu erfassen. Es ist ein Transformationsprozess, ohne den die Kunstgeschichte nicht auskommt, aber auch einer, der in seiner sprachlichen Verfasstheit zu betrachten ist. Denn das Sprechen über Kunst offenbart sich als zeitgenössische Sprache fast immer auch im Sinne eines normativen Diskurses. Ebenso ist es interessant zu beobachten, wie sehr einmal etablierte Formulierungen weitergetragen werden. Mit (scheinbar) objektiven Kategorien wie Namen oder Epochenbezeichnungen verbinden sich damals wie heute auch Begriffe wie Staatsstil, erzählerisch, geschwätzig, malerisch, Tendenzkunst, Arme-Leute-Kunst, weiblich, Krise, krank, geistig, Lüge, modern, abstrakt, überindividuell, tektonisch, deutsch, männlich, heroisch, martialisch, monumental usw. Der diskursanalytischen Herangehensweise folgend kommt dem wörtlichen Zitat – sowohl heutiger als auch zeitgenössischer Positionen – in dieser Arbeit deshalb eine große Rolle zu. Einzelfiguren (etwa Scheffler) oder Einzelwerke (etwa Rembrandt als Erzieher) werden exemplarisch immer wieder herangezogen, um den ›Originalton‹ der Zeit und damit die Diskursfelder zu dokumentieren. 79 | Großbölting 2008, S. 33 ff. 80 | Vgl. ebd., S. 14. 81 | Vgl. ebd., S. 34. 82 | Simon 1932, S. 5.
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»Arbeitende Bilder« »Eigentlich soziale Kunst aber, das heißt Kunst im Dienste der Allgemeinheit mit der Tendenz Notstände zu beseitigen, die die niedrigsten Schichten und Klassen aus wirtschaftlichen, gesundheitlichen, geistigen, sittlichen Gründen treffen, ist ein durchaus modernes Gebilde.«83
Methodische Zugriffe auf die Prozesse des Konstruktionismus bieten die Diskursanalyse beziehungsweise ideologiekritische Methoden oder die Geschlechterforschung84. »Der Diskurs als historisches Phänomen läßt sich in seiner Gesamtheit als die Menge all jener schriftlichen, mündlichen, bildlichen oder sonstigen zeichenhaften Hervorbringungen und Praktiken beschreiben, die das Thema des Diskurses streifen.«85
So bestimmt Achim Landwehr den Begriff Diskurs. Michel Foucault zielt in seinen Analysen vor allem auf die Ordnung der Diskurse: »Die Veränderung der Analyse des Diskurses in eine Analytik der Endlichkeit hat jedoch eine andere Folge. […] Die Analytik der Endlichkeit hat eine genau umgekehrte Rolle. Indem sie zeigt, daß der Mensch determiniert ist, handelt es sich für sie darum, hervorzuheben, daß die Grundlage dieser Determinationen das Sein des Menschen selbst in seinen radikalen Grenzen ist. Sie muß ebenfalls offenlegen, daß die Inhalte der Erfahrung bereits ihre eigenen Bedingungen sind, daß das Denken im voraus das Ungedachte heimsucht, das jenen entgeht und das stets wiederzuerfassen es die Aufgabe hat.«86
In der Nachfolge Foucaults definiert Reiner Keller die Aufgabe der Diskursforschung folgendermaßen: »Die Diskursforschung interessiert sich nicht nur für die im Zeichengebrauch konstruierten Gegenstände, sondern auch für den Konstruktionsprozess selbst, also die Bedeutungsgenerierung als strukturierten Aussagezusammenhang und regulierte Handlung. […] Im Anschluss an Foucault beschäftigt sie sich mit den gesellschaftlichen Effekten von Diskursen. Als Diskurse bezeichne ich institutionell-organisatorisch regulierte Praktiken des Zeichengebrauchs.«87
83 | Ebd., S. 6. 84 | Eine Erweiterung der Geschlechterforschung stellen die Ansätze der Queer Studies dar (vgl. hierzu Kraß 2003). Ansätze der Postcolonial Studies oder der Kritischen Weißseinsforschung eröffnen weitere Perspektiven, um sich den Konstruktionsprozessen von race und gender zu nähern (vgl. hierzu Karentzos 2012). 85 | Landwehr 2001, S. 106. 86 | Foucault 1971, S. 409. 87 | Keller 2005, S. 10.
Einleitung
Siegfried Jäger konstatiert, Diskursanalyse sei per se kritisch und kein Verfahren, in dem Diskurse ›nur‹ beschrieben werden.88 Hier zeigt sich die Nähe zur Ideologiekritik: »Will man eine allgemeine Bestimmung des Gegenstandes der Ideologiekritik geben, dann wird man vor allem eingehen müssen auf den Aspekt der Legitimation irgendwie gearteter Regelungen sozialer Beziehungen einer ganzen Gesellschaftsordnung oder kleinerer Teilbereiche innerhalb dieser Ordnung oder im Grenzfall auf den Aspekt der Rechtfertigung einzelner Handlungen und Tatbestände im Rahmen eines Systems, sei es in ein jeweils herrschendes oder gewünschtes. Gegenstand der Ideologiekritik wäre in diesem Sinne alle Gedankensysteme, die eine solche Legitimation explizit oder implizit leisten.«89
Die Ordnung der Diskurse ist neben den Kategorien Rasse und soziale Klasse maßgeblich durch die Kategorien Körper und Geschlecht geprägt: »Körper, Geschlecht, Bewegungskulturen, Gesundheit und Krankheit lassen sich nicht auf biologische Determinanten und objektive ›Wahrheiten‹ reduzieren. [...] Dabei ist weitgehender Konsens, dass der Körper in der Doppelfunktion von ›Körper sein‹ und ›Körper haben‹ den Bezug des Ichs zur Welt herstellt und Medium der Selbstdarstellung, aber auch Ort sozialer Kontrolle und Ausdruck kultureller Überformung ist.«90
Foucault hat sich den diskursiven Machtstrategien dieser Kategorien gewidmet: »Sein Erklärungsmodell von Macht und Einflußnahme auf den Körper untersuchte die Verankerung des Wissens um den Körper in den unterschiedlichen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen und in den durch sie festgelegten Praktiken, die sich u. a. im 19. Jahrhundert entwickelten.«91
88 | Vgl. Jäger 2008, S. 24. 89 | Münch 1973, S. 152. Flecker formuliert zur Praxis der Gesellschaftskritik: »Stärker als mit Beschreibung wird Gesellschaftskritik mit Analyse und Erklärung in Verbindung gebracht, insofern dabei scheinbar natürliche Zusammenhänge hinterfragt und tatsächliche Ursachen bloßgelegt werden.« (Flecker 1995, S. 127) 90 | Pfister 2002, S. 77. 91 | Genge 2000, S. 13.
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Körper beziehungsweise Geschlecht ist damit zum einen Kategorie der Analyse – die Genderperspektive eröffnet einen fokussierten Blick etwa auf Kunst92 – und zum anderen eine Kategorie des Wissens – Kunstproduktion und -rezeption sind durch eine historische Geschlechterkonstruktion geprägt.93 Diese methodischen Anmerkungen leiten ebenso wie genuin kunsthistorische Methoden den Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand. Diese Arbeit stellt keine Sozialgeschichte der Bilder dar, sondern untersucht die Skulptur des Deutschen Kaiserreichs als Kunstwerke. Dazu werden Skulpturen als Werke einer Kunstgeschichte in ihrer Entwicklungsgeschichte – das heißt unter Berücksichtigung der Kategorien Stil und Epoche – betrachtet; Denkmuster einer Kunstgeschichte als Fortschrittsoder gar Überwindungsgeschichte gilt es dabei zu vermeiden, da »die Kunst […] stets am Ziel ist, die Wissenschaft dagegen bloß unterwegs zu einem nie erreichbaren Ziel […]«94. Im Fokus steht ein Teil der Kunstproduktion des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, dessen geografische wie temporale Begrenzung, wie es das Deutsche Kaiserreich markiert, zunächst pragmatischen Erwägungen geschuldet ist. Letztlich sind beide Grenzziehungen Setzungen, da weder räumlich noch zeitlich von einem homogenen Gefüge gesprochen werden kann – Stichwort das sogenannte lange 19. Jahrhundert.95 Es gibt jedoch für beide Zäsuren auch gute Gründe: Die Daten 1871 und 1918 stehen für epochale geschichtliche Ereignisse (Gründung des Deutschen Kaiserreichs und Ende des Ersten Weltkriegs sowie Gründung der Weimarer Republik) mit weitreichenden Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung. Sie markieren Grenzpunkte: Innerhalb der Kunstgeschichte kann man feststellen, dass sich die Künstler im Medium Skulptur vermehrt ab den 1870ern sozialen Themen zuwenden. Nach 1918 – in Verarbeitung des Ersten Weltkrieges – gehören solche Ikonografien zu den bestimmenden innerhalb der Kunst. Es werden klare Positionen und Konzepte entwickelt,96 die sich aus den Entwicklungen der Zeit davor ableiten lassen. Hiermit wird ein Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Skulptur im Kaiserreich als Kunst – und nicht nur als historisches Dokument wie in der Vielzahl der Forschungen zum Denkmal – geleistet.
92 | In der 2015 publizierten Arbeit zu Wilhelm Lehmbruck merkt Ende an, die Kategorie Geschlecht gehöre immer noch nicht zum selbstverständlichen Analysekanon der Kunstgeschichte (vgl. Ende 2015, S. 42). 93 | Vgl. ebd., S. 41 94 | Hauser 1983, S. XII. 95 | Kohle dehnt in diesem Sinne den Untersuchungszeitraum der Publikation Vom Biedermeier zum Impressionismus auch bis zum Ersten Weltkrieg aus (vgl. Kohle 2008, S. 10). 96 | Man denke an die Werke der Neuen Sachlichkeit beziehungsweise des Verismus oder an DADA, aber auch an expressionistische Künstler wie Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach.
Einleitung
Als Erkenntnisfolie, die einer diskursgeschichtlichen Betrachtungsweise folgt, werden der analytischen Auseinandersetzung mit Skulptur Überlegungen zu sozialgeschichtlichen Entwicklungen und zum Begriff der Arbeit beziehungsweise zu Kategorien wie Körper, Geschlecht und Rasse dieser Zeit vorangestellt. Ebenso erfolgt eine Darlegung der für das Deutsche Kaiserreich bestimmenden Diskurse im Kunstsystem. Es werden Akteure (zum Beispiel Institutionen), Medien (zum Beispiel Kunstzeitschriften) und inhaltliche Schwerpunkte vorgestellt. Hierbei wird zwischen den grundsätzlichen und den die Bildhauerei betreffenden Diskursen differenziert, um so Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb der Gattungen herauszustellen. Auf diese Rekonstruktion bestimmender Diskursformationen und -inhalte folgt die Analyse der künstlerischen Praxis der Bildhauerei dieser Zeit. Zu den primären Untersuchungsgegenständen gehören Groß- und Kleinskulpturen in Sammlungen und im öffentlichen Raum. Ziel ist nicht eine vollständige Erfassung im Sinne einer Katalogisierung, sondern das Aufspüren von Grundtendenzen, die aufgrund einer gegebenen Rezipierbarkeit zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses werden konnten: Die Fokussierung auf Abweichungen beziehungsweise auf das Unbekannte tritt zugunsten der Ähnlichkeiten respektive des Etablierten zurück. Nur überblicksweise wird hierfür der gesamte Bildkomplex des Deutschen Kaiserreiches herangezogen, denn erst in der vergleichenden Betrachtung – das schließt sowohl den retrospektiven als auch den zeitgenössischen, aber auch den gattungsübergreifenden Blick mit ein – ist eine hinreichende Bedingung gegeben, das spezifische ›Was‹ und ›Wie‹ der Werke zu decodieren. Fallbeispiele dienen der tiefergehenden Betrachtung und dokumentieren allgemeine Tendenzen und Besonderheiten am konkreten Werk. Sie wurden so ausgewählt, dass verschiedene Bildhauer, Entstehungskontexte, Stile und Aufgaben berücksichtigt wurden. Sie sind repräsentativ, das heißt nicht beliebig, aber keineswegs singulär. Die Analyse der Werke wird von der Annahme geleitet, dass das, was dargestellt ist, erst daraus resultiert, wie es dargestellt wird.97 In diesem Sinne wird Skulptur als künstlerische Gestaltung betrachtet. Gestaltung beziehungsweise Gestalt ist das, was das Kunstwerk zum Kunstwerk macht: »Wir dürfen uns durch die oft wiederholten Definitionen: ›das Ästhetische (die Kunst) ist Spiel und Schein‹ nicht verführen lassen. Spiel und Schein sind charakteristische, aber nicht konstitutive Bestimmungen der freien Kunst und der damit verwandten Spielgestaltung in der Tektonik. Das Wesen des Ästhetischen überhaupt aber ist und bleibt Gestaltung.«98
97 | In diesem Sinne schließe ich mich der Kritik an der konventionellen ikonologischen Betrachtung an, weil diese das Formale kaum berücksichtigt (vgl. Schulz 2005, S. 42). 98 | Schmied-Kowarzik 1925, S. 82.
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Gestaltung umfasst Ikonografie, Form und Material in Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe und einen spezifischen Ort innerhalb einer künstlerischen Gattung unter bestimmten Produktionsbedingungen – alles ließe sich auch unter dem (erweiterten) Begriff Stil fassen. Für die Skulptur des Kaiserreiches bedeutet dies eine Auseinandersetzung im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, konkret: eine Ikonografie zwischen antiker Mythologie und Industriearbeit, Formen zwischen Historismus als bewusstem Rückgriff und (monumentaler) Abstraktion, klassische Auftragsarbeit für Staat und Privatpersonen und auftragsfreien Arbeiten für Salons oder Bronzegießereien, Großskulptur und Kleinskulptur und deren Präsentation in Ausstellungen beziehungsweise in Verkaufskatalogen, die Verwendung ikonologischer und industrieller Materialien wie Marmor, Bronze oder Granit und industrieller Galvanobronze oder Steinpappe, Entstehungskontexte im akademischen Künstleratelier und als fabrikmäßige Massenproduktion. Die Erweiterung der ikonografischen zur ikonologischen Methode bedeutet, die dargestellten Inhalte im Werk nicht nur zu benennen, sondern sie auch kontextuell und intentional zu deuten: »Ikonologie ist eine Variante der Kulturgeschichte, in der das Studium der Kunstwerke dazu bestimmt ist, aus ihnen Schlüsse über die Kultur zu ziehen«99. Nach Oskar Bätschmann hat Erwin Panofsky »nicht eine Methode der Interpretation vorgelegt […], sondern ein Modell entworfen […], in dem Verstehen von Zeichen und Erklären der Werke als einander ergänzende und begrenzende Tätigkeit aufeinander bezogen sind«100 . Dabei denkt Panofsky in seinem dritten Schritt, der Interpretation, auch das grundsätzliche Verhalten der Künstler zur Welt mit.101 Das Bild, selbst wenn es den Weltbezug der Künstler einschließt, ist als Ausdruck von Zeit (Kunstbegriff der Moderne) für Panofsky wesentlicher Ausdruck von vorgängigen Texten und nicht eine einmalig eigensinnige, medienspezifische Auseinandersetzung mit der Welt, die nicht nur Texten folgt, sondern solche auch provoziert. Diese mediale Eigensinnigkeit – und hierin unterscheidet sich der ikonologische Ansatz – wird wesentlich in der künstlerischen Bewältigung des Themas geleistet. Ikonografie meint daher nicht ein Thema, das schon vor seiner Realisierung da ist. Ikonografie und Ikonologie als methodische Zugriffe sind daher nicht nur eine kunsthistorische Hilfswissenschaft zum Identifizieren und Interpretieren von Bildinhalten, sondern sie sind – und zwar nur in ihrer spezifischen Ausformung – auch an der Produktion der kulturellen Wirklichkeit einer bestimmten Epoche oder Topografie beteiligt. Sie drücken eine vorgängige Wirklichkeit nicht nur aus – in dieser Hinsicht wird die Abhängigkeit der Ikonologie von Panofsky von der modernen Stilanalyse etwa eines Alois Riegl deutlich –, sondern arbeiten an der Wirklichkeit mit.
99 | Bätschmann 1985, S. 90. 100 | Ebd., S. 93. 101 | Vgl. ebd., S. 94.
Einleitung
Die im künstlerischen Prozess verarbeiteten Themen sind dabei zunächst und in erster Linie Teil einer künstlerischen und daher semiotischen Produktion und können auf dieser Basis überhaupt erst eine mehr oder weniger chiffrierte Aussage über eine Realität jenseits der künstlerischen leisten (beispielsweise einer politischen, sozialen oder ökonomischen). In einem Prozess künstlerischer Aneignung weisen die Künstler ihrem Gegenstand durch bewusste (und mitunter auch unbewusste) Gestaltung Bedeutung(en) zu. In der Auswahl ihrer Themen und Formen offenbaren sie daher eine eigene Produktionswirklichkeit: »Es gibt keine feststehenden ikonographischen Bedeutungen. Sinnpotentiale werden vielmehr durch Strukturen generiert, die im sozialen Handlungsaustausch entstehen. Die Kunstwerke sind im jeweiligen historischen Kontext als positionsgebundene Formulierung von politischen Ansprüchen und sozialen Hoffnungen identifizierbarer gesellschaftlicher Gruppen zu verstehen. Auch die Künstler waren in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit auf vielfältige Weise involviert. Ihre Werke kennzeichnet daher ein aktives, partizipatorisches Moment, freilich selten als radikale Intervention, sondern in der Regel als distanzierter Kommentar oder als nahezu unbewußt einfließende Konnotation.«102
Die Untersuchung einer Ikonografie der Arbeit in der Skulptur des Deutschen Kaiserreichs bietet in besonderer Weise die Möglichkeit, um zum einen etwas über die gattungsimmanenten Bedingungen innerhalb einer kunstsystemischen Diskurskonstellation in Erfahrung zu bringen und zum anderen das Verhältnis von Kunst beziehungsweise Skulptur und (sozialer) Wirklichkeit103 näher zu ergründen. Gerhart Kapners Ansatz, der die »Ästhetik nicht nur um die Dimension der Historik, sondern auch um die der Soziologie«104 erweitert, soll dann dazu dienen, der These zu folgen, »daß Kunst weder überzeitlichen noch außergesellschaftlichen Gesetzen gehorchte, weil ihre Gattung selbst aus den historischen Bewegungen bestimmter gesellschaftlicher Grundkonflikte entsprang.«105 Kunst wird damit keinesfalls auf die Rolle einer Illustration dieser Grundkonflikte reduziert, sondern als Akteur begriffen. Kunst, beispielsweise im Sinne von William J. T. Mitchell, ist an der visuellen Konstruktion des Gesellschaftlichen beteiligt.106 Die Skulptur des Deutschen Kaiserreichs wird deshalb – ähnlich wie die Fotografie bei
102 | Held und Schneider 1993, S. 10 f. 103 | Wirklichkeit kann mit Berger und Luckmann als Qualität von Phänomenen definiert werden, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind (vgl. Berger und Luckmann 1977, S. 1 f.). 104 | Kapner 1991, S. 20. 105 | Bredekamp 1975, S. 12. 106 | Vgl. Holert 2005, S. 233. Vgl. ebenso Mitchell und Belting 2008.
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Philippe Dubois – nicht ›nur‹ als Kunst ernst genommen, sondern auch als ›soziale Plastik‹, als ›arbeitende Bilder‹: »Das Foto ist nicht nur ein Bild (das Produkt einer Technik und einer Aktion, das Resultat eines Tuns und eines Könnens, eine Gestalt aus Papier, die man einfach als ein in sich geschlossenes, endliches Objekt betrachtet), es ist zunächst einmal auch ein richtiggehender ikonischer Akt, ein Bild, wenn man so will, aber ein arbeitendes Bild, etwas, das man nicht denken kann, ohne seine Umstände zu berücksichtigen, ohne das Spiel, das es belebt, mitzudenken, ohne es buchstäblich nachzuvollziehen: es ist etwas, das zugleich und konsubstantiell ein Bild-Akt, ein Bild und ein Akt (image-acte) ist, wobei sich von selbst versteht, daß sich dieser Akt nicht banal auf die bloße Geste der eigentlichen Produktion des Bildes (die Geste des Aufnehmens) beschränkt, sondern auch den Akt der Rezeption und der Betrachtung des Bildes einschließt.«107
Der Gattung Skulptur kommt also ein produktiver Wert zu. Skulptur produziert künstlerische Werte in einem System Kunst, sie produziert den ideellen Kunstwert, der Kunsthaftigkeit als künstlerische Gemachtheit unter Verwendung rein künstlerischer Paradigmen wie Form und Inhalt umfasst, ebenso wie den materiellen Wert von Kunst. Skulptur produziert aber auch gesellschaftliche Werte und hat damit beispielsweise Anteil an den Ausformungen des Arbeitsbegriffes. Die vorliegende Untersuchung nimmt deshalb eine doppelte Perspektivierung vor: Zum einen sollen Aussagen über Skulptur als Kunst in einer spezifischen historischen Konstellation getroffen werden und zum anderen Aussagen über eine Ikonografie der Arbeit als Teil des Gesellschaftlichen. Die Ikonografie der Arbeit wird ikonologisch unter dem Aspekt des Gattungsprimats von Skulptur ausgedeutet und die für die Kunst bestimmenden Paradigmen Stil, Material und Produktion, Ikonografie und Aufgabe werden mit Blick auf eine Ikonografie der Arbeit in den einzelnen Unterkapiteln fokussiert untersucht, bei der das jeweils andere Paradigma stets mitgedacht wird – es erfolgt lediglich eine andere Gewichtung. Das Begriffspaar Kunst und Wirklichkeit ist nicht nur als (post-)modernes retrospektives Beschreibungsmodell fruchtbar, sondern auch historisch von Bedeutung, etwa im Diskurs um Realismus beziehungsweise Naturalismus und Idealismus. Hiermit verbinden sich einmal mehr Fragen des Normativen: Was soll Kunst? Es bietet aber auch die Möglichkeit von Erklärungsmustern, wenn man die Gegenüberstellung beider Begriffe dialektisch und – wie im Begriff selbst angelegt – produktiv begreift. Das jeweils Andere ist dann nicht als Gegenspieler zu betrachten, sondern beide können als eigengesetzliche Formen von Realität analysiert werden. Das geschichtsphilosophische Dogma Riegls vom Kunstwollen – Kunst sei per se immer die Rolle des
107 | Dubois 1998, S. 19. Solche Positionen bilden wichtige Vorläufer für die Bild-Akt-Theorien Horst Bredekamps.
Einleitung
produktiven Anderen zuzuschreiben, was zu einseitigen Aufklärungserwartungen an Kunst führt – gehört zu den blinden Flecken von Kunstbetrachtung, so wie die Produktion von gesellschaftlichen blinden Flecken zur Kunst gehört: »Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen. Und nur so ist es möglich, die Differenz zwischen der Welt und dem beobachtenden Bewußtsein in der Welt einzurichten. […] Die Einheit der Welt ist unerreichbar, sie ist weder Summe, noch Aggregat, noch Geist. Wenn eine neue Operationsreihe mit einer Differenz beginnt, die sie selber macht, beginnt sie mit einem blinden Fleck.«108
108 | Luhmann 1997, S. 15 und S. 51.
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3 Systeme und Diskurse 3.1 sozialgeschichte »Ich bin ein Gründer, froh und frisch, schon heute setz ich mich zu Tisch, als dürft ich weiter mich nicht quälen, als meine Zinsen nur zu zählen. […] Was gehet das Verdienst mich an? Nur der Verdienst ist noch mein Mann: Ich will mir flechten selbst zum Lohne aus Aktien eine Bürgerkrone.«1
»Dieses Geschichtsbuch ist kein Thesenbuch.«2 Im Sinne dieses Zitates wird hier ein deskriptiver Abriss der sozialen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 unter Zuhilfenahme einschlägiger Standardwerke der Geschichtswissenschaften geboten,3 um darzustellen, welche Strukturen und Ereignisse, Personen und Lebensumstände diese Zeit geprägt haben. Das ist nicht ohne thesenhafte Zuspitzung möglich. Der Abriss bildet gewissermaßen eine Folie für eine kunsthistorische Analyse in dem Bewusstsein, dass das Wissen beider Disziplinen Konstruktionen unterliegt, die um die Unmöglichkeit objektiv historischer Wahrheit und Vollständigkeit wissen, und dass das, was wir über das Kaiserreich wissen, sowohl durch Bilder als auch durch andere Medien und Quellen produziert wurde. Geschichte und Kunstgeschichte entwerfen gleichermaßen ihre Bilder dieser Zeit und beeinflussen sich dabei wechselseitig.
1 | August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zit. n.: Mahal 1973, S. 225 f. 2 | Nipperdey 1998, S. 838. 3 | Wehler 1983; Nipperdey 1998; Berghahn 2003; Ritter und Kocka 1974; Hertz-Eichenrode 1992.
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»Arbeitende Bilder«
Als einleitende Bemerkungen sind die historischen Ausführen für die kunsthistorische Perspektive auf soziale Wirklichkeit in doppeltem Maße sinnvoll: Zum einen soll dokumentiert werden, wie tiefgreifend sich die sozialen Veränderungen – so auch der in der Einleitung bereits dargestellte Forschungskonsens – in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs infolge der industriellen Revolution darstellen, und zum anderen, welche konkreten sozialen Bereiche betroffen waren. Diese Ergebnisse werden bei der kunsthistorischen Betrachtungsweise stets mitgedacht, ohne jedoch von einem Abbildverhältnis von sozialer Wirklichkeit und Kunst auszugehen. Ziel ist es, kunstimmanente Erklärungsmuster – ausgehend beispielsweise von der Gattung Skulptur – zu finden und zu erklären, warum bestimmte Themen der Sozialgeschichte ausgeblendet werden und andere nicht. Des Weiteren soll die Frage beantwortet werden, wie durch konkrete Gestaltung – oftmals ein gesteuertes Ergebnis von Abstraktion im neutralen, aber auch von Pointierung im propagandistischem Sinne – komplexer Ereignisse oder Sachverhalte etwa für Skulpturen das Potenzial zu ›arbeitenden Bildern‹ geschaffen wird. Der Ansatz der Sozialgeschichte – insbesondere im Gegensatz zur Ereignisgeschichte (oder Politikgeschichte), wie sie etwa in Denkmälern dieser Zeit zum Tragen kommt – fragt nach den Bedingungen und Folgen historischer Ereignisse und fühlt sich daher einer problemorientierten Strukturanalyse verpflichtet.4 Sie widmet sich der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen wie Klassen, Schichten und Gruppen und deren Bewegungen, Konflikten und Kooperationen.5 Starke Bezugspunkte gibt es zur Wirtschaftsgeschichte.6 Letztlich kann man Geschichte als eine Struktur verstehen, als ein Gewebe, in dem alles ineinandergreift. Eine retrospektiv analytische Betrachtung muss aus pragmatischen Gründen Komplexitätsverlust in Kauf nehmen. Deshalb wird die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches hier als ein System aus Makrostrukturen (Organisationsformen und Ereignisse) und Mikrostrukturen (Menschen und ihre ganz eigenen Biografien) begriffen, als ein Netzwerk aus Handlungen und Handelnden, das produziert und reproduziert, um handlungsfähig zu sein und zu bleiben – im Bewusstsein, dass topografische und chronologische Grenzen mal mehr und mal weniger Hilfskonstruktionen der Erfassbarkeit und Beschreibung sind. Das Kapitel ist in die drei Schwerpunktbereiche gegliedert – Wirtschaft, Gesellschaft und politische Maßnahmen von staatlicher und nicht-staatlicher Seite –, auch wenn eine Abgrenzung der Bereiche oftmals kaum möglich ist. Die Wahl der Reihenfolge folgt der Annahme, dass Politik und Gesellschaft in Zeiten des Kapitalismus das Produkt wirtschaftlicher Veränderungen sind. Von linearen und kausal verlaufenden Prozessen darf jedoch nicht ausgegangen werden.
4 | Vgl. Wehler 1983, S. 11. 5 | Vgl. Kocka 1986, S. 82. 6 | Vgl. ebd., S. 142.
Systeme und Diskurse
3.1.1
Wirtschaft
Die rechtlichen Bedingungen für freie Märkte wurden größtenteils schon im Vormärz durch die Bauernbefreiung sowie die Einführung der Gewerbefreiheit und der Freiheit von Berufs- und Wohnortwahl geschaffen.7 Maßgeblich trug hierzu der Deutsche Zollverein bei. Zwar war die deutsche Entwicklung in der Zeit von 1850 bis 1873 im europäischen Vergleich noch rückständig, doch hatte man so die Chance, aus den Fehlern der Nachbarstaaten zu lernen, zum Beispiel in Bezug auf das Patentrecht.8 Entscheidende Faktoren für den Aufschwung waren die modernen Produktionsmethoden, aber auch neue Finanzierungsmodelle durch Aktiengesellschaften und Großbanken. Auch die Generierung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch eine Gewerbeordnung, ein Handelsgesetzbuch oder die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten waren entscheidend. Zusammenfassend sind drei wichtige Entwicklungsschritte der deutschen Wirtschaftsgeschichte zu nennen: eine ruckartige Steigerung des Bruttosozialproduktes und des Pro-Kopf-Einkommens, ein großes Wachstum in strategisch wichtigen Industriezweigen9 und das Ansteigen der Nettoinvestitionen der Volkswirtschaft.10 Der Ausbau der Eisenbahn, der sich von 1870 bis 1913 um das Dreifache gesteigert hatte, war ebenfalls ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland.11
Arbeitswelt Das sozioökonomische System in Deutschland war durch ein Nebeneinander alter und neuer Wirtschaftszweige bestimmt. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage speiste sich nicht nur aus der Industrie, sondern weiterhin auch aus Landwirtschaft, Handwerk und Handel. In den beiden letzteren Sektoren überwogen die kleinen und mittleren Betriebe. Dort arbeitete ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung.12 Es vollzog sich infolge der Industrialisierung eine eindeutige Umgewichtung der Sektoren, wobei dennoch von einem Industriestaat mit starker agrarischer Basis gesprochen werden kann.13 Der Prozess der Rationalisierung und Mechanisierung, der keineswegs auf die Fabrik beschränkt blieb, ließ auch die Produktion im Agrarsektor erstarken. Dennoch befand sich die Landwirtschaft seit den 1860ern in einer doppelten Strukturkrise, die
7 | Vgl. Berghahn 2003, S. 159. 8 | Vgl. Wehler 1983, S. 29. 9 | Wehler nennt hier Eisenverarbeitung, Bergwerk und Maschinenbau (vgl. ebd., S. 26). 10 | Vgl. ebd., S. 25 f. 11 | Vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 91. 12 | Vgl. ebd., S. 90. 13 | Vgl. Berghahn 2003, S. 42.
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zum einen durch ein Überangebot aus dem Ausland und zum anderen durch die hohe Produktivität der Industrie verursacht wurde. Dies führte bei vielen Arbeitern zur Landflucht.14 Ab 1890 stand die Landwirtschaft damit nicht mehr an erster Position der Wirtschaftsbereiche,15 sondern um 1900 arbeiteten nun mehr Menschen im Industriesektor.16 Die Anzahl der Arbeiter im Industriesektor stieg erheblich. Großbetriebe, das heißt Fabriken mit mehr als tausend Mitarbeitern, bildeten nicht länger die Ausnahme. Im metallerzeugenden Sektor verdreifachte sich zwischen 1875 und 1913 das Personal.17 Von den Industriebetrieben verzeichnete der Produktionsbereich der Konsumgüter die meisten Arbeiter.18 1907 boten Industrie und Handwerk bereits 42,2 Prozent der Bevölkerung eine Arbeitsstelle.19 Aktiengesellschaften wurden zu einem wichtigen Bestandteil des neuen Systems. Wenn auch nicht flächendeckend, so regelten oftmals Syndikate und Kartelle Preis- und Absatzstrukturen.20 Doch nicht in allen Wirtschaftssektoren regelten Kartelle die Preisstrukturen gleichermaßen stark.21 Die gefällten Entscheidungen riefen gerade bei den kleineren Betrieben Unmut hervor, während unter anderem die Sozialdemokraten ihre Arbeit begrüßten.22 Planung und Lenkung in der Betriebswirtschaft blieb unumgänglich, da sich die hier getroffenen Maßnahmen zunehmend auf die Volkswirtschaft auswirkten. Banken nahmen dabei eine besondere Rolle ein, 23 sodass sich zwischen Banken und
14 | Vgl. ebd., S. 43 f. 15 | Vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 91. 16 | So war das Verhältnis 1907 zum Beispiel 42,2 zu 28,4 Prozent (vgl. Epkenhans und Seggern 2007, S. 114). Der kleine, handwerkliche Betrieb spielte weiterhin eine wichtige Rolle in der Wirtschaft (vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 96). Teilweise wurden bestimmte Betriebe miteinander kombiniert und es kam so zur Konzentration produktiver Wirtschaftskräfte (vgl. ebd., S. 91). 17 | Vgl. Berghahn 2003, S. 44. In der Eisen- und Stahlindustrie rückte man sogar hinter die USA und noch vor England auf die zweite Stelle (vgl. ebd.). 18 | Vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 95. Die immer technisch ausgereiftere Fabrikarbeit erforderte Facharbeiter und konnte immer weniger Arbeiter auf Tagesbasis beschäftigen (vgl. Berghahn 2003, S. 69). 19 | Vgl. ebd., S. 91. 20 | Vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 93. 21 | Vgl. Berghahn 2003, S. 76. 22 | Vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 94. Sie waren verbraucherfeindlich und verlangsamten den Massenkonsum (vgl. Berghahn 2003, S. 77). 23 | Ihnen wurde sogar eine unmittelbare Bedeutung für die Außenpolitik zugesprochen (vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 95).
Systeme und Diskurse
Industrie eine enge Beziehung entwickelte.24 Durch Genossenschaftsbanken konnte etwa das Handwerk oder die Landwirtschaft an Kredite gelangen.25 Im Kreditwesen sorgte vor allem die Aufhebung der innerdeutschen Zollschranken für einen Aufschwung: Der Handel entwickelte sich im weltweiten Wettbewerb bis zur Spitze, 26 und das Kaiserreich wurde zur Exportnation.27 Unterbrochen wurde diese prosperierende Entwicklung durch zahlreiche Krisen. Der Wiener Börsenkrach 1873, auch Gründerkrach genannt, bildet eine Zäsur des seit den 1840ern andauernden Wirtschaftswachstums in Deutschland.28 Diese schwere Depression, die längste und stärkste Wachstumsstörung der deutschen Industrialisierung, sollte bis 1879 anhalten. In dieser Zeit verringerten sich die Wachstumsraten bis auf die Hälfte und es folgten viele Jahre wirtschaftlicher Krisen hintereinander, so von 1882 bis 1886 und von 1890 bis 1895. Zu den Gründen gehörten etwa die Ablösung klassischer Leitsektoren (Eisen, Bergbau, Eisenbahn) durch neue Technologien (Elektronik, Motorentechnik, Großchemie), die strukturelle Agrarkrise von 1876, aber auch die Einfuhr billiger Exportgüter (zum Beispiel amerikanischer Weizen). Die Reallöhne stiegen nur sehr schleppend.29 In der Zeit von 1895 bis 1914 kann jedoch, bis auf die Jahre 1900 bis 1902, 1907/08 und ab 1913, von einer Hochkonjunktur der deutschen Wirtschaft gesprochen werden.30
3.1. 2
Gesellschaft
Die Bevölkerung31 stieg in der Zeit von 1866 bis 1914 schnell und kontinuierlich an, insgesamt um 28 Millionen Menschen.32 Die Sterblichkeitsrate war abhängig von sozialen Komponenten wie Wohnort – auf dem Land war sie bis ungefähr 1900 deut-
24 | Diese war aus heutiger Sicht für beide Seiten wirtschaftlich förderlich (vgl. Berghahn 2003, S. 71). 25 | Vgl. ebd., S. 73. 26 | Vgl. ebd., S. 46. 27 | Sie belieferte in besonderem Maße die Eisenbahnindustrie (vgl. ebd., S. 45). 28 | Vgl. Epkenhans und Seggern 2007, S. 89 f. 29 | Die Löhne im Bergbau wurden zum Beispiel halbiert, nahezu alle Bereiche der Gesellschaftlich waren davon betroffen (vgl. Wehler 1983, S. 42-46). 30 | Vgl. ebd., S. 50-56. 31 | Die durch die Französische Revolution ausgelösten Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen führten auch im Kaiserreich zur Auflösung der alten Ständegesellschaft (vgl. Epkenhans und Seggern 2007, S. 72-77). Definiert wurde die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht über die kulturelle Leitfunktion, das heißt Lebensart, Anschauungen, Verhaltenskodex, aber auch Beruf (vgl. ebd., S. 108-111). 32 | Vgl. Nipperdey 1998, S. 9.
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lich geringer als in der Stadt – und Beruf, aber auch Geschlecht. Viele Frauen starben beispielsweise aufgrund von Schwangerschaft und Geburt, dennoch waren die geschlechterspezifischen Zahlen weitestgehend ausgeglichen, da Männer oft einem höheren Berufsrisiko ausgesetzt waren.33 Der steigende Standard in Bezug auf Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung wirkte sich ebenfalls positiv aus. So ging die Säuglingssterblichkeit ab den 1880ern zurück.34 Die Anzahl der Rentner verdreifachte sich auch aufgrund der Sozialversicherung.35 Insgesamt war der Altersdurchschnitt in den Städten niedriger als auf dem Land.36 Integraler Bestandteil der Industrialisierung war die Urbanisierung, also die Ausweitung der städtischen Lebensform. Großstädte mit über 100.000 Einwohnern waren 1910 mit 21,3 Prozent vertreten, wohingegen die Zahl 1871 lediglich bei 4,8 Prozent lag. Durch die örtliche Industrie kam es rasch zu zahlreichen Großsiedlungen.37 Die Verstädterung war letztlich Resultat einer Binnenwanderung zu den Arbeitsplätzen. Man spricht hier vom Gesetz des doppelten Stellenwertes: Durch die Industrialisierung in oder nahe von Städten entstehen auch im Handwerk und im Dienstleistungssektor neue Arbeitsplätze. Die gegenteilige Situation auf dem Land lässt die Menschen in die Städte abwandern.38 Die regionalen und die Unterschiede von Stadt und Land wirkten sich auch auf die Einkommen aus.39 Voraussetzung für eine neue Form des Pendlerwesens und damit einer neuen Flexibilität bei der Arbeitsplatzwahl war der Ausbau und die Verbilligung des öffentlichen Nahverkehrs.40 Dennoch gab es starke regionale Unterschiede im Bevölkerungswachstum – im Westen war es stärker als im Osten, wobei der Unterschied zwischen Stadt und Land im Westen auch davor schon geringer war.41 Städte wie Gelsenkirchen wuchsen innerhalb von 40 Jahren um das Zehnfache.42 Die Industrialisierung und Verstädterung führte damit nicht nur zu radikalen wirtschaftlichen, sondern auch zu gesellschaft-
33 | Vgl. ebd., S. 13. 34 | Vgl. ebd., S. 14. Im ›neuen Mittelstand‹ ging die Kinderzahl aufgrund von Geburtenkontrolle zurück. Verhütungsmittel waren damals stark verbreitet (vgl. ebd., S. 25 ff.). 35 | Vgl. ebd., S. 25. 36 | In den Städten gab es einen sehr hohen Anteil junger Menschen, auf dem Land kehrte sich das Verhältnis um (vgl. Berghahn 2003, S. 99). 37 | Vgl. ebd., S. 97 f. 38 | Damit lebten 1910 nur noch zwei Fünftel der Bevölkerung auf dem Land, wohingegen es vor 1871 noch zwei Drittel waren (vgl. Nipperdey 1998, S. 34). 39 | Vgl. Ritter und Tenfelde 1992, S. 150. 40 | Vgl. ebd., S. 40. 41 | Vgl. ebd., S. 35. 42 | Vgl. ebd., S. 36.
Systeme und Diskurse
lichen Veränderungen.43 Auf die Not der Großstädte reagierten manche Kommunen mit Modellen wie der Gartenstadt. Viele dieser Reformvereine bildeten sich aufgrund der Furcht vor dem Anwachsen des Industrieproletariats und seines umstürzlerischen Potenzials.44 Soziale Ungleichheit45 war ein gravierendes Problem. Die Einkommen der höheren Schichten blieben weitgehend stabil, wohingegen von einer Verschlechterung der unteren Einkommensschichten ausgegangen wird.46 Ein immer größerer Anteil der Bevölkerung zählte zur Arbeiterklasse. Bis zur Jahrhundertwende verschärften sich so die Klassengegensätze. Danach stabilisierten sich die Zustände wieder, wobei innerhalb der unteren Schichten die soziale Ungleichheit zunahm.47 Auf Notsituationen (vor allem durch Arbeitsmangel) reagierten viele Menschen nicht nur mit Binnenmigration, sondern auch mit Auswanderung.48 Ab den 1890ern wanderten zudem vermehrt ausländische Arbeitskräfte zu, vor allem Saisonarbeiter aus Polen. Auch dadurch kam es einmal mehr zum Wettstreit um Arbeitsplätze.49
Arbeiterschaft 50 Durch die Industrialisierung kam es zur Bildung einer neuen Schicht: die Arbeiterschaft. Sie arbeitete lange Zeit unter schlechten Bedingungen, die sich bis 1918 langsam verbesserten. So wurde beispielsweise die Wochenarbeitszeit reduziert. Viele Arbeiter sahen das als großen Erfolg an: Die Gewerkschaften hatten hunderte von Streiks (es waren 631 in den ersten drei Jahren des Reiches)51 organisiert. Freizeit gab es trotzdem kaum und Urlaub war bis zum Ersten Weltkrieg eine Ausnahme. Damit waren Arbeiter erheblich schlechter gestellt als Beamte oder Angestellte. Durch die
43 | Vgl. Berghahn 2003, S. 101. 44 | Vgl. ebd., S. 99 f. 45 | Soziale Ungleichheit beschreibt den gesellschaftlichen Zustand, »[…] in dem die Zugangschancen zu wichtigen Sozialbereichen (z. B. Bildung und Ausbildung, Beruf) für einzelne Personen oder Sozialgruppen erschwert sind und die ungleiche Verteilung von ökon. und sonstigen Ressourcen, von sozialen Positionen und Rängen als ein soziales Problem angesehen wird. Mit den als ungleich bewerteten sozialen Positionen und Rängen sind unterschiedliche Möglichkeiten der Ausübung von Macht und Herrschaft und der Aneignung von Ressourcen verbunden.« (Schäfers und Lehmann 2010, S. 331) 46 | Vgl. Ritter und Tenfelde, S. 149. 47 | Vgl. ebd., S. 153. 48 | Von 1880 bis 1893 wanderten 178.400 Menschen – vornehmlich in die USA – aus, sodass man durchaus von einem Massenphänomen sprechen kann (vgl. Nipperdey 1998, S. 30). 49 | Vgl. ebd., S. 33 f. 50 | Vgl. das Folgende nach Epkenhans und Seggern 2007, S. 114 ff. 51 | Vgl. Wehler 1983, S. 27.
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Gewährung von Urlaubstagen sollte das Unterschiedsbewusstsein gegenüber den Arbeitern verstärkt werden. Hinsichtlich der Löhne, die stark von Konjunkturschwankungen und Branchenzugehörigkeit abhängig waren, verbesserte sich die Lage nur schleppend.52 Des Weiteren bestand ein extremes Gefälle bei der Bezahlung von Frauen und Männern: Männer verdienten oftmals mehr als das Doppelte. Schlusslicht bildeten bei der Entlohnung Kinder und Jugendliche. Bei den Kapitalbesitzern konnte dagegen ein überproportionaler Einkommenszuwachs festgestellt werden. Dennoch war die Entwicklung der Nominallöhne im europäischen Vergleich durchaus positiv: Das real zur Verfügung stehende Einkommen verdoppelte sich zwischen 1871 und 1913. Besserung brachte auch das Sozialversicherungssystem. Dennoch konnten selbst gelernte Arbeiter nur vier Fünftel des Familienbudgets erarbeiten. Damit waren viele auf einen Nebenerwerb sowie den Verdienst der Frau angewiesen. Folge waren zum Beispiel gesundheitsgefährdende Wohnverhältnisse oder Unter- und Fehlernährung, die erst nach 1900 nur noch Randgruppen betrafen. Aufgrund der Wohnungsnot nahmen Arbeiterfamilien häufig Schlafgänger in die viel zu kleinen Wohnungen auf – 1871 wohnten durchschnittlich vier Personen in einer Einraumwohnung. Doch auch hier verbesserte sich die Lage: Die Zahl der Wohnungen mit zwei beheizbaren Zimmern stieg. Um 1900 hatten 90 Prozent aller Wohnungen in München einen Wasseranschluss, wohingegen nur 19 Prozent eine eigene Toilette besaßen.53
Handwerk 54 Handwerk war zum großen Teil gebunden an Heimarbeit, Landwirtschaft und kleine Fabriken. Obwohl es infolge der Industrialisierung stark bedroht war, konnte es sich – wenn auch erst nach tiefgreifenden Umstrukturierungsprozessen – gegen die Industrie behaupten. Insgesamt entwickelten sich die einzelnen Handwerkszweige sehr unterschiedlich. Das Einkommen von Handwerkern war im Vergleich zu dem von Fabrikarbeitern um ein Fünftel bis Viertel niedriger. Viele Familienmitglieder halfen bei der anfallenden Arbeit im Handwerk mit. Doch mehr und mehr lösten sich die familiären Strukturen auf, in die über die Arbeit zum Beispiel auch der Lehr-
52 | Der Verdienst eines Bergarbeiters lag 1913 durchschnittlich bei 1.946 Mark, wohingegen ein Arbeiter in der Textilindustrie nur 786 Mark verdiente (vgl. Epkenhans und Seggern, S. 115). 53 | Vgl. ebd., S. 116. 54 | Strukturell ist das Handwerk vor allem durch die Hierarchie aus Lehrling, Geselle und Meister bestimmt, für die jeder Handwerker ein ausgeprägtes Bewusstsein hatte. Ein starker Rückgang des Handwerks (zum Beispiel der Ein-Mann-Betrieb) war nicht aufzuhalten (vgl. das Folgende nach Nipperdey 1998, S. 253-260).
Systeme und Diskurse
ling eingebunden war.55 »Gerade im Bau-, im Holz- und im Metallhandwerk bildete sich die Scheidung von ›Unternehmern‹ und Arbeitern aus; der ›Stand‹ spaltete sich in Klassen.«56 Die sozialen Spannungen entluden sich in marktbedingten Arbeitskämpfen wie Gesellenstreiks.57 Der Staat versuchte durch Innungsschiedsgerichte zu vermitteln. Durch die Krise der 1870er entstand eine Handwerkerbewegung, deren Ziel vor allem Innungen und kontrollierte Befähigungsnachweise waren, die ab 1908 eingeführt wurden. Von staatlicher Seite reagierte man darauf mit Konzessionen.58
Landwirtschaft 59 Trotz der fortschreitenden Industrialisierung war das Kaiserreich noch lange Zeit ein vorwiegend agrarisch strukturiertes Land, so arbeitete 1871 noch jeder zweite Erwerbstätige in der Landwirtschaft. Die Arbeitsprozesse in der Landwirtschaft hatten sich durch Mechanisierung, neue Formen der Viehhaltung und Pflanzenzüchtung und den Einsatz von Kunstdünger unter ökonomischen Prämissen optimiert.60 Die Anzahl der Beschäftigten konnten durch diese Neuerungen gesenkt werden, woraus eine noch stärkere Landflucht in die industriellen Ballungsräume resultierte.61 Die Einfuhr immer größerer Mengen amerikanischen Getreides führte seit Mitte der 1870er zur Agrarkrise. Kleinbauern konnten nur selten über die Selbstversorgung hinaus produzieren. Die alten Strukturen auf dem Land blieben trotz der großen Umwälzungen weitestgehend unverändert.62 Die prekärste Beschäftigungsform war die der Tagelöhner. Ihr gesellschaftliches Ansehen war sehr niedrig. Arbeitsrechtlich war ihre Situation höchst problematisch, da sie jederzeit kündbar waren.
55 | Dennoch rekurrierte das Handwerk zum größten Teil auf sich selbst (vgl. ebd., S. 257). 56 | Vgl. ebd. 57 | Als Reaktion darauf führten Meister sogenannte schwarze Listen (vgl. ebd., S. 253-260). 58 | Freiwillige Innungen gab es ab 1881, seit 1897 Handwerkskammern (vgl. ebd.). 59 | Vgl. das Folgende nach Epkenhans und Seggern 2007, S. 78-83. 60 | Zum Beispiel konnte die Produktion von Getreide und Kartoffeln von 1880 bis 1914 um 50 Prozent gesteigert werden (vgl. ebd., S. 78-83). 61 | In Krisenzeiten mussten deshalb viele Menschen ein neues Leben als Fabrikarbeiter in den Industriestädten beginnen, obwohl sie stark im ländlichen Milieu verwurzelt waren. Vor allem in dieser Gruppe sind zahlreiche Auswanderer zu finden (vgl. ebd.). 62 | So lebten viele Landarbeiter immer noch häufig in einem postfeudalen Knechtschaftsverhältnis zum Gutsherrn, der oftmals dem Adel angehörte. Die kleine, bürgerliche Schicht im Dorf setzte sich aus Gutsverwalter, Lehrer, Pfarrer und Kaufmann zusammen. Die Vorteile der Indus-
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Bürokratie, Angestellte und Selbstständigkeit 63 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte die Arbeit im bürokratischen Bereich einen großen Aufschwung, weil Reformen eine zuverlässige staatliche Organisation verlangten. Mit der Hochphase der Industrialisierung ab 1870 verstärkte sich die Spezialisierung im Dienstleistungssektor einmal mehr. Das wachsende Gesundheitsbewusstsein und die Entwicklungen in der pharmazeutischen Industrie ließen die Anzahl der Ärzte und Apotheker ansteigen. Auch der Bedarf an Anwälten nahm zu. In der Büround Verwaltungsarbeit von Unternehmen und Staat kam es jedoch zu den größten Veränderungen und es entstand eine neue bürgerliche Schicht. Aufgrund der immer komplexer werdenden Organisationsstrukturen wurde ihre Arbeit unerlässlich, auch wenn sie im genuinen Sinn keinen Mehrwert produzierte. Die neue Warenwelt der Kaufhäuser forderte immer mehr Verkaufspersonal. Angestellte unterlagen einer strengen Hierarchie.64 Körperlichen Anstrengungen waren sie selten ausgesetzt, ihr Arbeitsplatz und äußeres Erscheinungsbild waren stets sauber. Obwohl es sich bei ihnen freilich nicht um eine in sich geschlossene Gruppe handelte,65 hatten sie eine Sonderstellung inne und betonten stets die Zugehörigkeit zum Mittelstand. Eine eigene Angestelltenversicherung war Ausdruck des Staates von Loyalität und gleichzeitig ein Mittel, diese Gruppe gegen die Sozialdemokratie an sich zu binden. Die Trennung von Fabrik- und Büroarbeiter wurde damit noch verstärkt, obwohl beide materiell oftmals gleichgestellt waren. Die fortwährende Standardisierung und Mechanisierung von Arbeitsschritten eröffnete auch vielen Frauen66 diesen Arbeitsbereich, wenn auch am unteren Ende der Hierarchie und unter ständiger männlicher Aufsicht.67
trialisierung bestanden auch für die Landbevölkerung in mehr Freizeit. Es entstand eine zuvor kaum vorhandene Vereins- und Festkultur, in der sich die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft widerspiegelten (vgl. ebd.). 63 | Vgl. das Folgende nach ebd., S. 102-107. 64 | Diese war in erster Linie männlich dominiert (vgl. ebd.). 65 | Die Spanne von der angelernten Kraft mit niedrigem Gehalt und dementsprechend sozial niedrigem Status bis zum leitenden Angestellten, der dem wohlhabenden Bürgertum angehörte, war groß (vgl. ebd.). 66 | Man nahm eine höhere Fingerfertigkeit an. Schreibmaschine und Fernsprechapparat wurden zum Arbeitsgerät der modernen Frau. Höhergestellte Töchter qualifizierten sich durch ihre Ausbildung in Fremdsprachen und Rechtschreibung insbesondere für die neuen Berufe (vgl. ebd.). 67 | Die »Bureau-Ordnungen« regelten die Arbeitsabläufe betreffenden Belange, etwa die Aufnahme von Nahrung. Sie war nur gestattet, solange die Arbeit nicht unterbrochen wurde (vgl. ebd.). In Ritter und Kocka ist eine solche Ordnung abgedruckt (vgl. Ritter und Kocka 1974, S. 164 f.).
Systeme und Diskurse
Bürgertum 68 Die ökonomisch und politisch heterogene Gruppe der Bürger machte 1914 nur knapp 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das gehobene Bürgertum setzte sich aus wohlhabenden Großbürgern, die ihren Aufstieg beispielsweise der Industrialisierung verdankten, und dem klassischen Bildungsbürgertum wie Professoren, Gymnasiallehrer, Beamte oder Pfarrer, aber auch Ärzte, Rechtsanwälte oder Architekten zusammen. Seit dem 19. Jahrhundert gehörte es sowohl wirtschaftlich als auch geistig zur führenden Schicht. Das niedere Bürgertum umfasste sowohl (fast ausschließlich männliche) Bauern, Handwerker, Kaufleute und andere Gewerbetreibende als auch Angestellte und Beamte. Sie waren nicht vermögend, verfügten aber über ausreichend finanzielle Mittel. Ziel war der soziale Aufstieg: für Jungen durch eine gute Ausbildung, für Mädchen durch Heirat.
Adel 69 Der Einfluss des Adels70 auf Politik und Gesellschaft war vergleichsweise groß. Er war in allen zentralen Stellungen – König und Hof, Regierung und Diplomatie, Justiz und vor allem Militär – vertreten71 und verfügte über Privilegien, etwa Sonderregelungen für Heirat und Vererbung. Der Adel dominierte die Erste Kammer in allen Bundesstaaten. Auch der konservative Adel suchte dem Zeitgeist entsprechend den Anschluss an politische Vereine und Parteien zur Vertretung seiner Interessen.72 Bürgerliche Berufe – Berufe ohne Nähe zum Staatsdienst – wurden vom Adel kaum ergriffen. Die Wertschätzung von Landbesitz als Ausdruck von Status und Vermögen nahm insgesamt verstärkt zu, sodass die ertragreichen Güter innerhalb des Reiches nicht nur in den Händen des Adels verblieben, sondern auch die Stellung adeliger Grundherren teilweise beträchtlich ausgebaut wurde. Auch Gruben und Hütten waren im Besitz des Adels. Durch sie erwirtschaftete er ein großes Vermögen, das durch Schutzzölle gesichert wurde. Zunehmend verstärkte sich die Kluft zwischen armen und reichen Adeligen, was auch mit der strukturellen Krise der Landwirtschaft erklärt werden kann. Die adelige Elite bemühte sich, bewusst unter sich zu bleiben, sodass es nicht
68 | Vgl. das Folgende nach Epkenhans und Seggern 2007, S. 108-111. 69 | Vgl. das Folgende nach ebd. 70 | 1915 machte er gerade mal 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (vgl. ebd.). 71 | So waren zum Beispiel 1914 in Ostpreußen noch 90 Prozent der Landräte aus dem Adel. In der liberaleren Rheinprovinz waren es nur 40 Prozent (vgl. ebd., S. 72). 72 | Vor allem die Deutsch-Konservative Partei fand hier und im Bund der Landwirte zahlreiche Anhänger. Sprachorgane waren in erster Linie die Neue Preußische Zeitung und die Kreuz-Zeitung (vgl. ebd., S. 108-111).
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zur Vermischung mit dem Bürgertum kam, obwohl viele Adelige dennoch aus finanziellen Gründen Töchter reicher Großbürger heirateten.
3.1.3
Politik
Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus sind ideologische Anschauungsformen, die nicht nur, aber auch in einzelnen Parteien ihren Ausdruck fanden. Alle drei Ansätze haben Vorstellungen von der Organisation der Gesellschaft und bieten Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme wie die soziale Frage, wobei sie dieser unterschiedlich viel Bedeutung beimessen. »Der Sozialismus ist die Antwort auf die soziale Frage par excellence«73, so Gerhard Göhler. Der Liberalismus nimmt ihr gegenüber eine ambivalente Haltung ein, was in der absoluten Befürwortung der Freiheit des Individuums gründet.74 Ob staatliche oder gesellschaftliche Intervention – sie widerspricht diesem Prinzip und hemmt den Fortschritt. Unter einigen Liberalen vertrat man aber die Meinung, dass Chancengleichheit für alle Bürger nicht nur aus dem Abbau von klassischen Herrschaftsformen resultieren konnte. Daraus ergab sich historisch die Spaltung in Wirtschaftsliberale und Sozialliberale. Letztere forderten das Eingreifen des Staates bei ungleichen Marktchancen, die soziale Marktwirtschaft. Man propagierte die Hilfe zur Selbsthilfe, etwa über die Genossenschaften und den Ausbau von Bildung auch für die ärmeren Schichten. Der Konservatismus wollte die gesellschaftlichen Entwicklungen, etwa die vom Liberalismus präferierte mobile bürgerliche Leistungs- und Klassengesellschaft, wieder rückgängig machen und übte scharfe Kritik am Kapitalismus, indem er Religion und sittliche Werte proklamierte.75 Der soziale Konservatismus wollte beispielsweise die Führung der Arbeiterschaft durch Priester und befürwortete soziale Maßnahmen durch den Staat. Sicherung des adeligen und kirchlichen Grundeigentums, Rückkehr zur organisch gegliederten, hierarchischen Ständegesellschaft und Verhinderung von Modernisierungen waren die Grundanliegen. Aufgrund des gefürchteten Revolutionspotenzials des Proletariats vertraten Theoretiker wie Lorenz von Stein76 die Idee, der arbeitenden Klasse zu Besitz und Bildung zu verhelfen, wie es ein aufgeklärtes Königtum umsetzen würde.
73 | Göhler 2000, S. 15. Göhler vermerkt es als Neuartigkeit, dass sich das 19. Jahrhundert erstmals nicht nur mit dem Politischen, sondern auch mit dem Sozialen auseinandersetzt (vgl. ebd., S. 11). 74 | Vgl. ebd., S. 18 f. 75 | Vgl. ebd., S. 19 ff. 76 | Seine Ideen werden auf politischer Ebene durch Hermann Wagener, dem sozialpolitischen Berater Otto von Bismarcks, vermittelt (vgl. ebd., S. 21).
Systeme und Diskurse
Auch die Kirchen setzten sich mit der sozialen Frage auseinander. Im nicht-staatlichen Bereich wuchs die soziale Fürsorge, etwa vonseiten der Caritas. Es entstand der Beruf des Sozialarbeiters, der vor allem von Frauen aus dem Bürgertum als Alternative zum ›Tochter-Sein‹ ausgeübt wurde.77 Zwischen Konservatismus und Sozialismus bezog die Kirche eine christlich-soziale Position. So sah etwa der Protestant Johann Hinrich Wichern in der Förderung christlich-sozialer Zwecke einen Gegenentwurf zum Kommunismus und wurde darin auch von Katholiken unterstützt. Die Lösung der sozialen Frage wird von der katholischen Kirche in der Enzyklika Rerum novarum aus dem Jahr 1890 als notwendige Voraussetzung für die menschliche Würde, dem Ebenbild Christi auf Erden, gesehen.78
Parteien Die offiziellen Parteien vertraten die Interessen ihrer Wähler. Die SPD setzte sich für politische Gleichberechtigung und die Verbesserung der sozialen Lage benachteiligter Bevölkerungsgruppen ein, etwa der Arbeiter. Man stellte sich damit in die Tradition sozialistischer Ideen, wie sie von Karl Marx und Friedrich Engels formuliert worden waren. Die Zahl ihrer Wähler stieg kontinuierlich an. Und schon 1877 konnte die SPD die vierthöchsten Wählerzahlen aufweisen. 1912 war sie die stärkste Fraktion im Reichstag. August Bebel und später Friedrich Ebert waren die führenden Köpfe in dieser Zeit.79 Das protestantische Besitz- und Bildungsbürgertum wählte die Nationalliberalen und bildete zeitweise die stärkste Fraktion. Es stand Reformen nicht aufgeschlossen gegenüber. Die linksliberale Partei war geprägt von Vielfalt und vertrat die Interessen der protestantischen Mittelschicht. Die Zentrumspartei hingegen machte sich für die Belange der katholischen Bevölkerung stark, trat für den katholischen Glauben in einer Zeit des kirchenfeindlichen Liberalismus ein und setzte sich mit sozialpolitischen Konzepten80 auseinander. Als einzige Partei vereinigte sie alle Schichten und konnte somit immer auf eine hohe Anzahl von Wählern bauen. Die Interessen des ostelbischen Adels und Teile des Wirtschaftsbürgertums wurden von den Konservativen vertreten. Reformen lehnten sie aus Angst vor Machtverlust ab.81
77 | Vgl. Ritter 1998, S. 62. 78 | Vgl. Göhler 2000, S. 21 f. 79 | Vgl. Wehler 1983, S. 46. 80 | Vgl. hierzu beispielsweise Ayaß 2006, S. 37-56. 81 | Vgl. Epkenhans und Seggern 2007, S. 9.
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Weitere Organisationsformen 82 Neben den parteilich organisierten Interessenvertretungen gab es weitere Organisationsformen, die sich für die Belange der jeweiligen Bevölkerungsgruppen einsetzten. Das politische Bewusstsein und die Teilnahme am politischen Leben nahm auf Seiten der Bevölkerung nach 1871 stetig zu. Man organisierte sich sowohl auf konservativer wie auch auf progressiver Seite in Vereinen und Verbänden. Den Gewerkschaften kam dabei eine zentrale Rolle zu. Schon vor ihrem Verbot, aber erst recht danach, stiegen die Mitgliederzahlen, vor allem in der gelernten Arbeiterschaft. So zählten etwa die sozialdemokratischen83 Freien Gewerkschaften 1913 zwei Millionen Mitglieder. Alle Gewerkschaften standen für die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiterschaft ein und man wollte mal mehr, mal weniger mit der Arbeitgeberschaft kooperieren. Streik wurde oft zur Durchsetzung von Forderungen eingesetzt. Die Mittelklasse schloss sich in Berufsverbänden zusammen, das Handwerk blieb in Innungen organisiert und freie Berufe gründeten Vereinigungen.84 Der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller von 1873 oder der Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen sind Beispiele für die vielfältigen Vereinigungen dieser Zeit in allen Schichten. Allen waren die Aufwertung des sozialen Ansehens und die Anerkennungen ihrer Leistungen für die Gesellschaft wichtig. Dies war Ausdruck einer Aufsteigermentalität, die auch zum Lobbyismus führte. Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, wie stark die industrielle Revolution zur Modifikation der gesellschaftlichen Strukturen beigetragen hat. Status und Rolle der jeweiligen Schicht lassen sich wesentlich über ihr Verhältnis zum Bereich der Arbeit beschreiben. Hieraus leitet sich nicht nur die Bezeichnung der einzelnen Schicht ab, sondern es verweist auch auf ihr finanzielles Kapital – damals wie heute ist es das nahezu wirkmächtigste. Aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Schicht erfolgt eine je eigene Perspektive auf Arbeit, sodass der Begriff der Arbeit als semantisches Feld mit einer historischen Vorgeschichte und einer zeitgenössischen Diskursivierung zu verstehen ist, in diesem Fall die Zeit des Deutschen Kaiserreichs. Diese Diskursivierung soll mit dem Konzept der ›arbeitenden Bilder‹ erfasst werden, das nicht nur eine kunsthistorische Entwicklung der Darstellung von Arbeit, sondern auch die Wirkmacht von Kunst in den Blick nimmt.
82 | Vgl. das Folgende nach Berghahn 2003, S. 332 ff. und S. 336-339. 83 | Die Gewerkschaften waren nicht alle sozialistisch. Es gab auch katholische Gewerkschaften (vgl. Hertz-Eichenrode 1992, S. 186). Mit Ende des Kulturkampfes entwickelte sich eine katholische Arbeiterbewegung, die den katholischen Arbeitern beistehen und religiös erzieherisch – wie auch die Kolpingschen Gesellenvereine – einwirken sollte (vgl. Nipperdey 1998, S. 462). 84 | Vgl. Berghahn 2003, S. 333 f.
Systeme und Diskurse
3.2
Diskursformationen
Die Schriften von Karl Scheffler, einflussreicher Kunstkritiker und Publizist des Deutschen Kaiserreiches, bieten – wie auch die stark rezipierte Schrift Rembrandt als Erzieher des nationalistischen Kulturkritikers Julius Langbehn85 – als Fallbeispiele einen Einblick in die verschiedenen Felder des Diskurses um Arbeit außerhalb wissenschaftlich-philosophischer oder soziologischer Betrachtungsweisen und sind damit wesentlicher Ausdruck der bürgerlichen Mentalität der Zeit. Die damals wie heute von Texten und Bildern einschließlich ihrer unterschiedlichen medialen Bedingtheiten ausgehende Suggestivkraft86 reflektiert und bildet zugleich das Rezipientenbewusstsein. Daher sollen diese zeitgenössischen Stimmen – einer diskursanalytischen Betrachtungsweise folgend – ausführlich durch Zitate Gehör finden, um über die zeitgenössischen Umgangsweisen mit dem Begriff der Arbeit die an späterer Stelle vorgenommenen Analysen der Werkbeispiele aus der Gattung Skulptur zu kontextualisieren und die Lesbarkeit dieser Werke als ›arbeitende Bilder‹ durch Textmedien zu spezifizieren. »Die Arbeit kann ihrem Wesen nach beides sein: edel und würdelos; sie enthält, wie jede Naturkraft, Elemente des Erhabenen und Gemeinen. […] Alle Tätigkeit ist einmal um des Erwerbs willen da, als Waffe der Notdurft im Kampf ums Dasein; und sie ist zum andern das einzige Mittel, um den der Menschheit eingeborenen Idealtrieben sinnliche Wirklichkeit zu geben. Sie ist ohne höhere Würde, insofern sie nichts tut als die nackte Existenz zu sichern; aber sie strebt auf den untersten Stufen gleich auch schon über das unbedingt Notwendige hinaus, weil sich der Mensch mit ihrer Hilfe erst zum Gefühl seines Selbst bringt. Selbstgefühl aber ist Ziel und Zweck allen Daseins, weil entwicklungsfähiges Leben nur ist, wo das Individuum sich selbst fühlt und in sich die Welt.«87
Es wird deutlich, wie sehr Arbeit in Anlehnung an Karl Marx als Teil der menschlichen Existenz betrachtet wird und dass sie in ihren konkreten historischen Ausformungen oftmals als entfremdet erscheint. Scheffler widmet sich diesem Aspekt unter dem Schlagwort ›Würde der Arbeit‹:
85 | Der streng protestantisch erzogene, später zur Katholischen Kirche konvertierte Julius Langbehn, promovierter Archäologe und fanatischer Bewunderer von Friedrich Nietzsche, hatte Unterstützung von namhaften Kunsthistorikern wie Wilhelm Bode und Cornelius Gurlitt. Zu dem Buch vgl. Heinßen 2009. Eine immer noch grundlegende Analyse nationaler Ideologie in Deutschland bietet Stern 1963. 86 | Hier sei erneut auf Dubois und Bredekamp verwiesen, die Bildern als autonomen Akteuren eine Wirkmacht zuschreiben (vgl. Dubois 1998 und Bredekamp 2010). 87 | Scheffler 1909, S. 51 f.
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»Arbeitende Bilder« »Als ein Zeichen, daß dem Lebenden das Vertrauen zur Sittlichkeit des menschlichen Tätigkeitstriebes erschüttert worden ist, muß man die immer wiederkehrenden Diskussionen über die ›Würde der Arbeit‹ betrachten. Denn man theoretisiert nur über Dinge, die man nicht mehr oder noch nicht hat. Regungen eines schlechten sozialen Gewissens sind es, wenn von den einen mit selbstgerechter Moral der sittliche Adel schlechterdings jeder wirtschaftlichen Tätigkeit proklamiert und wenn von anderen mit einer literarischen Grimasse von der Niedrigkeit der Arbeit gesprochen wird. Es ist durchaus charakteristisch, daß es Friedrich Nietzsche war, ein Mann, dessen zum Heroischen reichende Sensibilität sich für jede Schwäche, Krankhaftigkeit und Niedrigkeit seiner Zeit schuldig glaubte und sich der Fehler der Allgemeinheit schämte, wie man sich sonst nur eines persönlichen Fehlers schämt, der das Wort von der Unwürde der Arbeit wie eine Brandrakete ins Lager des materialistisch entartenden Bildungsphilisteriums schleuderte.«88
Arbeit ist in Schefflers Schriften Teil einer umfassenden Kritik am Materialismus seiner Zeit: »Die sozialen Erneuerungen eines revolutionären Jahrhunderts, die allgemeine Demokratisierung und die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen haben unser Leben in verwirrender Weise vielfältig gemacht. Große Scharen primitiver Menschen, mit rücksichtslosen Willensinstinkten, sind aus den Niederungen des Volkslebens emporgestiegen, Anteil am Lebensgenuß fordernd, an alten Schranken und ehrwürdigen Grenzzäunen ungeduldig rüttelnd und sich wahren und künstlichen Bedürfnissen gleich leidenschaftlich hingebend. Notwendiges und Überflüssiges wird mit rastlosem Fleiß ersonnen und produziert, damit nur alle Hände zu tun, alle Mäuler zu essen haben. In bewunderungswürdiger Weise hat sich die Zeit der Aufgabe, die sich drängenden Scharen von Produzenten und Konsumenten, den ganzen Arbeitsmarkt wirtschaftlich zu organisieren, gewachsen gezeigt. Das unendlich komplizierte moderne Wirtschaftsleben funktioniert, wenn man nur das Mechanische betrachtet, exakt wie eine gut berechnete Maschinerie. […] Es ist eine Zeit, alles in allem, die große Worte und mächtige epische Lebensempfindungen rechtfertigt und deren groteske Monumentalität etwas wie Ehrfurcht einzuflößen imstande ist. Und doch sind die Menschen dieser mächtig emporschwellenden Zeit nicht glücklich. […] Aus dem Zentrum der raffiniert vervielfältigten Zivilisation heraus erschallen leidenschaftliche Schreie nach lebendiger Schönheit, nach neuer Idealität und erziehender Sittlichkeit, nach Haltung gebender Form und charaktervoller Beschränkung.«89
Dieser soziale Wandel hat verschiedene Auswirkungen: »Es ist von den Pseudo-Idealismen der immer dem nächsten Profit nachrennenden, auf Gedeih und Verderb wirtschaftenden Spekulation zu sprechen, die uns gewissenlos die Städte verbaut,
88 | Ebd., S. 50. 89 | Ebd., S. 63–66.
Systeme und Diskurse bis ihre scheußliche Häßlichkeit Ekel einflößt, das Wohnbedürfnis der Massen rücksichtslos ausnützt, immer nur von heute bis morgen denkt, die Gesundheit der Nation mißachtet und das reinlich ästhetische Empfinden in barbarischer Weise durch einen ekelhaften Reklameunfug überall mißhandelt.«90
Und weiter: »Es ist die Frauenbewegung zu nennen, die immer noch unsere Töchter verführt, sich einer zurzeit unausweichlichen aber schädlichen sozialökonomischen Konstellation mit fast religiöser Inbrunst hinzugeben.«91
Er kommt zu dem Schluss: »Und es könnte von einer ganzen Moral materialistischer Schwäche gesprochen werden, die eine ewige Kriegsfurcht mit armen Phrasen zu verklären sucht und einen unnatürlich übertriebenen Nachdruck auf die Grundsätze von Treu und Glauben zu legen gezwungen ist, weil in einer Zeit, wo die Erwerbsschwierigkeiten alle zu Feiglingen machen, die Eigentumsvergehen vom Gesetz, im Verhältnis zu anderen Verbrechen, unnatürlich streng bestraft werden müssen. Aber es wäre ein Buch zu schreiben, wenn die charakteristischen Entartungsmerkmale nur registriert werden sollten.«92
Die negativen Folgen des historischen Wandels haben für ihn viele Gesichter beziehungsweise »raubtierartige Masken«93. Dazu gehört auch die Produktion falscher Bedürfnisse: »Der ganze Wirrwarr nervös überreizter Tätigkeit ist nur des Kunden wegen da. Der Kunde allein ist heilig. Ihn anzulocken, zu fesseln, ihn den anderen abzujagen, ihn zu überlisten, zu beschwatzen, sei es mittels der Lüge oder der Wahrheit, mittels des Guten oder Schlechten: das ist das eigentliche Arbeitsziel der Zeit. […] Man wartet nicht einmal, bis dieser seine Bedürfnisse anmeldet, sondern suggeriert dem Konsumenten alle Tage neue Bedürfnisse, die dem Produzenten Profit verschaffen. Der Kunde wird verleitet, verführt, zu ungesunden, maßlosen Wünschen
90 | Ebd., S. 88 f. 91 | Ebd., S. 89. 92 | Ebd., S. 89 f. 93 | Als Folge der herrschenden Arbeitsverhältnisse für die Mädchen nennt Scheffler bezeichnenderweise »frivolen Leichtsinn« (Scheffler 1909, S. 74 ff.).
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»Arbeitende Bilder« gereizt und wenn seinen niederen Trieben das Angebot dann jederzeit bereit ist, so nennt man das moderne Kultur.«94
All diese Bemühungen, die dieses nervöse Zeitalter bestimmten, bleiben jedoch ohne Erfolg, wenn folgende Punkte nicht beachtet werden: »Niemals war es nötiger, den Deutschen an die sittliche Natur der Arbeit zu erinnern als heute, wo die ungeheure materielle Arbeitsleistung der Nation die idealen Endziele immer mehr verbaut.«95
Er führt dies weiter aus: »So kommt es dann, daß diese ungeheure Arbeitsmenge dem Staat nicht bleibenden Nutzen bringt. Die Rechenexempel sind klar und einfach. Jeder Arbeiter, zum Beispiel, kostet den Staat eine bestimmte Summe. […] Diese Summe ist ein Anlagekapital, das unbedingt von dem so Ausgebildeten dem Staat wieder zurückgezahlt werden muß, wenn der Nationalwohlstand nicht leiden soll. Es kann nur zurückgezahlt werden durch mehrende Arbeit. Mehren tut nun aber auf die Dauer nur Qualitätsarbeit.«96
Und weiter: »Der Fehler Deutschlands ist es, daß der sorgsam genug vorgebildete, sehr intelligente Arbeiter, sobald er erzogen ist, unter seinem Wert, unter seiner Fähigkeit und Kenntnis beschäftigt wird. Wo er fähig wäre, die Qualität zu steigern, da wird er meist sklavisch benutzt, um große Quantitäten mittelmäßiger, schlechter oder doch rein materieller Werte zu produzieren. Er ist unter seinem geistigen Stand beschäftigt. Fähigkeiten aber zu entwickeln, die nicht genutzt werden, die zur Hälfte verkümmern müssen: das ist fast ein nationaler Selbstmord. Das züchtet den Geist der Revolution.«97
Im Angesicht einer globalen Wirtschaft formuliert Scheffler:
94 | Scheffler 1909, S. 73 f. Interessant ist festzustellen, wie die Denkfigur von der Unterscheidung wahrer und falscher Bedürfnisse im Zeitalter des Kapitalismus – später ausführlich von Herbert Marcuse behandelt – hier schon gedacht wird. 95 | Ebd., S. 52. 96 | Ebd., S. 76. 97 | Ebd., S. 77 f. Um den »Geist der Revolution« auszutreiben, helfe auch kein gutgemeinter bürgerlicher Aktionismus (vgl. ebd., S. 74 und S. 98 f.).
Systeme und Diskurse »Die Zeit verlangt mit eben derselben Logik, wie sie Arbeitergenossenschaften in den verschiedenen Berufen will, auch nach Arbeitgebergenossenschaften; der Konkurrenzkampf muß mit innerer Notwendigkeit den Zusammenschluß, den Trust in allen Verhältnissen hervorbringen. Das heißt: die Zeit will eine neue Machtgruppierung, eine neue Organisation der wirtschaftlichen und sozialen Energie. Die Unkultur unserer Zeit besteht eben darin, daß die Macht zersplittert, daß sie an alle unordentlich verteilt und nicht organisiert ist. Die Macht neu zu organisieren: das ist die Aufgabe der Zeit. Denn organisierte, bewußt gewordene Macht ist Kultur und ihrem Wesen nach ideal, weil sie ohne Verantwortlichkeitsgefühl nicht existieren kann.«98
Am Ende steht folgende Aufforderung: »Und das eben hat sich der Deutsche dieser Zeit zu fragen: ob er im merkantilischen Wettbewerb um die Arbeits- und Warenmärkte der Welt von seinen höchsten Gütern schon Unersetzliches geopfert hat. Die nächsten Jahrzehnte müssen die Antwort bringen. Das Vertrauen zum gesunden Selbsterhaltungsinstinkt unseres Volkes hofft, daß diese Schicksalsfrage wird verneint werden können. Und geschehe es auch erst nach schrecklichen, männermordenden Schlachten, daß uns die Göttin des Krieges, sei es nach Siegen oder nach Niederlagen, mit dem unverwelklichen Kranz höherer Gesittung wieder schmückt.«99
In der Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit innerhalb einer industriellen, materialistisch bestimmten Gesellschaft macht Scheffler verschiedene, hiermit verknüpfte Diskursfelder aus: Nation/Volk, Geschlechterrolle, Gesundheit/Krankheit und Krieg. Seine Position ist beispielhaft für die Verhandlung des Arbeitsbegriffes seiner Zeit und dokumentiert, dass Arbeit, Körper sowie Geschlecht und Rasse als Einheit gedacht werden.
98 | Ebd., S. 97 f. 99 | Ebd., S. 101 f.
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3.2.1 Arbeit »Wo immer Arbeit ruft – Nicht die schwerste schlag‘ ich aus! Ich steh‘ meinen Mann, ich greif‘ sie an, Zu entgehn dem Armenhaus:«100
Das Thema Arbeit gehört zu den bestimmenden Diskursen des 19. Jahrhunderts101 – nicht nur bei Scheffler, sondern auch in Kunst und Literatur. Es stellt sich die Frage von Kunst und Wirklichkeit oder die Frage nach Mensch und Wirklichkeit, etwa in philosophischen, historischen, religiösen oder psychologischen Betrachtungsweisen. In Politik und Ökonomie ist es ohnehin omnipräsent. Der Mensch wird dort zum ›Arbeitenden‹, etwa zum Homo oeconomicus, Homo faber oder Animal laborans.102 Hiermit verbindet sich die Annahme, dass Arbeit ein den Menschen von Grund auf prägendes Element ist. Arbeit wird unter den Paradigmen von Sinn und Zweck betrachtet.103 Dementsprechend bietet die Betrachtung dieser Diskurse nicht nur die Möglichkeit, historische Konstellationen von Sozialgeschichte104 ablesen zu können, sondern verweist auf den spezifisch historischen Begriff von Arbeit in theoretischen Auseinandersetzungen, der auch zur Grundlage argumentativer Verfahren werden konnte und in normativen Prozessen zum Tragen kommt – etwa der Sozialpolitik des Kaiserreichs, aber auch in Forderungen der sich organisierenden Arbeiterschaft. Für das 19. Jahrhundert müssen für diese Diskursformation wohl an erster Stelle Karl Marx und Friedrich Engels genannt werden.105 Arbeit ist bei ihnen bestimmt durch das Verhältnis des Menschen zur Natur. Sie wird beschrieben als ein Akt der
100 | Freiligrath 1851, S. 71. 101 | Zur historischen Entwicklung des Arbeitsbegriffes sei auf Kosellecks Geschichtliche Grundbegriffe verwiesen. Er stellt etwa für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert die Positionen von Francis Bacon, Thomas Hobbes und John Locke vor (vgl. Koselleck 1997, S. 166–174). Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird vermehrt der Zusammenhang von Glück beziehungsweise Würde und Arbeit propagiert, etwa in Friedrich Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke (vgl. ebd., S. 172). 102 | Hannah Arendt sprach in den 1950ern von der Ablösung des Homo faber durch das Animal laborans (vgl. Lemke und Weinstock 2014, S. 9). 103 | Krempl 2011, S. 45. Die Frage nach dem Sinn und damit auch dem Wert von Arbeit ist von jeher einer der Kernpunkte des Diskurses um Arbeit (vgl. Postel 2006, S. 7). 104 | Die Arbeiten von Marx sind schließlich auch empirische Analysen einer historischen Konstellation (beispielsweise der Phase der Frühindustrialisierung in England). 105 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel – wichtiger Bezugspunkt für Marx – zum Begriff von Arbeit: »Was hierbei näher die Arbeit anbetrifft, so ist dieselbe ebensosehr das Resultat der Entzweiung
Systeme und Diskurse
Aneignung des Naturstoffes durch den Menschen, als zweckmäßige Tätigkeit, in der sich der Mensch im Produkt seiner Arbeit vergegenständlicht – die ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens.106 In ihrer historischen Form der entfremdeten Lohnarbeit im Kapitalismus – gekennzeichnet durch einen Akkumulationsprozess des Kapitals durch die Kapitalisten auf Kosten eines verarmenden Proletariats infolge kapitalistischer Aneignung – ist sie Ausdruck und Mittel eines sich selbst reproduzierenden Ausbeutungsverhältnisses, in dem Arbeiter und Arbeiterinnen von ihrem Gattungswesen und ihren Mitmenschen entfremdet sind:107 »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«108
Der Arbeitsbegriff ist bei Marx und Engels Teil einer Analyse der Ist-Zustände, die zu einer revolutionären Aufforderung – formuliert im Manifest der Kommunistischen Partei – der Auflehnung gegen die Klassengesellschaft gewendet wird: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt […].«109 Dieses politische Potenzial des
als auch die Überwindung derselben.« (Hegel 1970, S. 89) Dem gehen theoretische Auseinandersetzungen wie die von John Locke (Two Treatises of Government), David Hume (Political Discourses), Adam Smith (Theorien des Außenhandels), Anne Robert Jacque Turgot (Betrachtungen über die Bildung und Verteilung des Reichtums), Justus Möser (Gebundene oder freie Wirtschaft) oder David Ricardo (Wert, Rente, Arbeitslohn und Profit) voraus. Zu Locke bemerken Lemke und Weinstock: »Durch die anthropologische Wende wird Arbeit zudem zum herausragenden Merkmal moderner Subjektwerdung. Der bürgerlichen Arbeitsmoral liegt die entscheidende Prämisse zugrunde, dass ich mich erst, indem ich mir mit meiner Hände Arbeit Welt aneigne, gegenüber dieser Welt als unabhängiges, souveränes Individuum konstituiere.« (Lemke und Weinstock 2014, S. 11 f.) 106 | Friedrich Engels »[…] stilisiert […] die Arbeit sogar zu einer metaphysischen Urgröße, die den Menschen erst zu dem gemacht habe, was er sei.« (Ullrich, Arbeit 2003, S. 132) 107 | Marx 1971, S. 56-61. 108 | Ebd., S. 15. 109 | Marx 1976, S. 385.
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marxistischen Arbeitsbegriffes und seine weitreichende Rezeption macht die Analysen von Marx und Engels zu weit mehr als einer reinen philosophischen Theorie. Ihr Arbeitsbegriff wurde zur entscheidenden Referenz, an der sich nicht nur nachfolgende Theoretiker ›abarbeiteten‹ und zu der man sich – nicht nur theoretisch, sondern auch ideologisch – positionieren musste. Mit der Etablierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin zum Ende des 19. Jahrhunderts wird das Thema Arbeit in Deutschland vor allem bei Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber – auch in der Auseinandersetzung mit Marx – weiterer Studien unterzogen. So geht Tönnies in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft auf verschiedene Aspekte von Arbeit ein: Arbeitskraft – etwa die Möglichkeiten der Ausbeutung von Arbeitskraft oder Wert und Preis von Arbeitskraft – wird ebenso behandelt wie die »Reciprocität des Genusses und der Arbeit« oder das »Handwerk als Kunst«.110 Sein Begriff von Arbeit entwickelte sich – der Untertitel des Werkes Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen zeigt es bereits an – in der Auseinandersetzung mit Marx und Engels: »[…] so ist die wesentliche Structur der Gesellschaft durch die drei Acte beschrieben, deren Subject die Kapitalistenclasse ist, welche als solche mit dem Vermögen an Arbeitsmitteln ausgestattet gedacht wird […]: 1) Einkauf von Arbeitskräften, 2) Anwendung von Arbeitskräften, 3) Verkauf von Arbeitskräften (in Gestalt von Werththeilen der Producte). An dem ersten Acte hat auch die Arbeiterclasse ihren wesentlichen Antheil, wenn auch nur, indem sie sich ihres Ueberflüssigen um des Nothwendigen willen entledigt. An dem zweiten Acte hat sie scheinbar nur als Object (als angewandte) Antheil, in Wirklichkeit liegt in ihr alle materiale, in der Kapitalistenclasse alle formale Causalität desselben. Im dritten Acte agirt diese wirklich ganz und gar allein, und jene ist nur noch in Gestalt des ihr gleichsam ausgepressten Werthes vorhanden. Insofern als die Arbeiterclasse agirt, so ist sie frei: und ihre Arbeit ist nur die Realisirung ihres Contractes, also Tausches, den sie aus erkannter Nothwendigkeit vollzieht. Aller Tausch (und zwar Verkauf) ist aber die Form selber des Willküractes, während der Handel seine materielle Vollkommenheit ist. Demnach ist die Arbeiterclasse halb-frei – nämlich bis zur Mitte der drei Acte – und formal willkürlich; im Unterschiede von einer supponirbaren Sklavenclasse, welche formal nur als Werkzeug und als Substrat in dem Process vorkommen würde. Hingegen ist die Kapitalistenclasse ganzfrei und materiell willkürlich.«111
110 | Tönnies 1887, S. V f. 111 | Ebd., S. 94 f. Tönnies bezieht sich in seiner Arbeit auch auf den Sozialökonomen Gustav Schmoller (vgl. ebd., S. 45). Dieser veröffentlichte neben zahlreichen Schriften zu volkswirtschaftlichen Themen auch eine unter dem Titel Die Arbeiterfrage.
Systeme und Diskurse
Pointiert bemüht Tönnies sich zum Ende seiner Abhandlung um eine weitere Dimension des Arbeitsbegriffes, die gleichzeitig die Hinwendung zu seinem zweiten Buch (Wesenswille und Willkür) darstellt: »Es ist diejenige Construction, welche sich ergibt aus der Voraussetzung des Handels, wenn derselbe auf dasjenige Object eingeschränkt wird, welches allein – abgesehen von seinem Charakter als dienstleistende Thätigkeit, demnächst aber auch in Bezug auf dieselbe – seinen Zweck und sein Lebensprincip, den Profit, aller zufälligen Bedingungen entkleidet und durch seine eigene Essenz als nothwendigen und regelmässigen Erfolg garantirt: nämlich jene rein fictive, durch menschlichen Willen gesetzte, unnatürliche Waare: Arbeitskraft. So finden alle diese Begriffe ihre Lösung und Scheidung in der Theorie des individuellen menschlichen Willens, worauf daher diese ganze Erörterung hindrängt.«112
Nur drei Jahre später erscheint Simmels Buch Über sociale Differenzierung. Hierin beschreibt er Arbeit im marxistischen Sinn als entfremdet: »In je weiteren Verhältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht in der Bearbeitung äußerer und hauptsächlich menschlicher Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurückwirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein – zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen.«113
Auch in der Philosophie des Geldes konstatiert er für diese Arbeitsform: »Insoweit der Wunsch nach Muße oder einem bloßen sich selbst genügenden Spiel der Kräfte oder der Vermeidung der an sich lästigen Anstrengung besteht, ist jede Arbeit unbestreitbar eine Aufopferung. Allein neben diesen Antrieben liegt ein Quantum latenter Arbeitsenergie, mit dem wir entweder von ihm aus nichts anzufangen wüßten, oder das sich durch einen Trieb zu freiwilligem, weder durch Not noch durch ethische Motive hervorgerufenem Arbeiten zeigt. Um dieses Quantum Arbeitskraft, dessen Hingabe an und für sich keine Aufopferung ist, konkurrieren eine Mehrzahl von Anforderungen, für deren Gesamtheit es nicht zureicht.«114
112 | Ebd., S. 95. 113 | Simmel 1890, S. 42. 114 | Ebd., S. 37. In ihrer ahistorischen Form ist Arbeit sowohl bei Simmel als auch bei Marx positiv gedacht (vgl. Faath 1998, S. 92). Faath kommt zu folgendem Schluss: »So scheint der Begriff der Arbeit weitgehend die Vorstellung künstlerischer Produktion zugrundezuliegen. Kunstschaffen und Kunstwerk stellen dann zwangsläufig die Idealtypen der Produktion und des Produktes dar, an welche die spezialisierten Arbeitsprozesse der Moderne nicht mehr heranreichen.
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Auch Marx’ Begriff des Warenfetisches115 zeigt sich in Simmels Überlegungen: »Es ist sehr mißverständlich, daß die Bedeutsamkeit und geistige Potenz des modernen Lebens aus der Form des Individuums in die der Massen übergegangen wäre; viel eher ist sie in die Form der Sachen übergegangen, lebt sich aus in der unübersehbaren Fülle, wunderbaren Zweckmäßigkeit, komplizierten Feinheit der Maschinen, der Produkte, der überindividuellen Organisationen der jetzigen Kultur. Und entsprechend ist der ›Sklavenaufstand‹, der die Selbstherrlichkeit und den normgebenden Charakter des Einzelnen zu entthronen droht, nicht der Aufstand der Massen, sondern der der Sachen. Wie wir einerseits die Sklaven des Produktionsprozesses geworden sind, so andererseits die Sklaven der Produkte […].«116
In seinem Text zu Rodin – denn hier befinden wir uns im Reich der Kunst – schlägt Simmel fast schon poetische Töne an: »Das ist das Wunder der Arbeit: dass sie das Tun des Subjekts den Forderungen eines Stoffes untertan macht (denn sonst brauchten wir nicht zu arbeiten, sondern könnten träumen oder spielen) und zugleich damit den Stoff in die Sphäre des Subjekts hineinzieht.«117
Weber wendet sich in seiner Betrachtung der Arbeit den Zusammenhängen zwischen Kapitalismus und Protestantismus zu: »Ein Blick in die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes pflegt mit auffallender Häufigkeit eine Erscheinung zu zeigen, welche mehrfach in der katholischen Presse und Literatur und auf den Katholikentagen Deutschlands lebhaft erörtert worden ist: den ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kaufmännisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen.«118
Einen Kernpunkt bildet dabei die Frage nach den Ursachen für die Entwicklung eines Arbeitsethos – Tüchtigkeit und Pflicht im Beruf – als Voraussetzung für den Kapitalismus:
Der Produktionsprozeß der Kunst bleibt von den Produktionsformen der Industriegesellschaft unberührt.« (Ebd., S. 96) 115 | Vgl. Marx 1974, S. 86. 116 | Simmel 1900, S. 449 f. 117 | Simmel 1919, S. 169. 118 | Weber 2002, S. 150.
Systeme und Diskurse »Der Gelderwerb ist – sofern er in legaler Weise erfolgt – innerhalb der modernen Wirtschaftsordnung das Resultat und der Ausdruck der Tüchtigkeit im Beruf […]. In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner ›beruflichen‹ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht, gleichviel insbesondere ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als ›Kapital‹) erscheinen muß: – dieser Gedanke ist es, welcher der ›Sozialethik‹ der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist.«119
Im Jahr 1911 erscheint mit Werner Sombarts Abhandlung Die Juden und das Wirtschaftsleben ein weiterer Versuch, die kapitalistische Gesellschaft infolge ›religiöser Ethiken‹ zu deuten: »Max Webers Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Puritanismus und Kapitalismus mußten mich notwendig dazu führen, dem Einflusse der Religion auf das Wirtschaftsleben mehr nachzuspüren, als ich es bisher getan hatte, und dabei kam ich zuerst an das Judenproblem heran.«120
Alle Autoren fokussieren Arbeit in ihrer zeitgenössischen Ausprägung und nicht nur als theoretisches Konzept. Theorien zur Arbeit werden in der historischen Konstellation des Kaiserreichs unweigerlich auf eine reale Situation von Arbeit hin überprüft beziehungsweise provoziert diese Theorien zur Arbeit. Es wird deutlich, dass Arbeit »[…] eine der produktivsten, destruktivsten und permanentesten Handlungsformen des Menschen ist, die nur in der Praxis, genauer: als Praxis kulturelle und anthropogene Bedeutung gewinnt, hervorbringt und genießt […].«121
119 | Ebd., S. 165. 120 | Sombart 1911, S. V. Das ›Judenproblem‹ oder die ›Judenfrage‹ ist neben der ›Arbeiterfrage‹, der ›sozialen Frage‹ und der ›Frauenfrage‹ bezeichnenderweise symptomatisch für die Zeit – und das im ganz pathologischen Sinne. Rürup dazu: »Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen dieser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Diskussion von heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. […] Ausgangspunkt unserer Überlegung ist die These, daß erst mit dem Beginn des bewußt vorangetriebenen Transfomationsprozesses von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert eine ›Judenfrage‹ entstanden ist.« (Rürup 1975, 74 f.) 121 | Skrandies 2014, S. 316.
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Im zeitgenössischen Diskurs stellt Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes ein Problemfeld dar.
3.2.2 Körper »Gegen die Gesetze. Von heut an hängt an härner Schnur Um meinen Hals die Stunden-Uhr: Von heut an hört der Sterne Lauf, Sonn’, Hahnenschrei und Schatten auf, Und was mir je die Zeit verkünd’t, Das ist jetzt stumm und taub und blind: − Es schweigt mir jegliche Natur Beim Tiktak von Gesetz und Uhr.«122
Arbeit formt schon 1792 bei Christian Garve den (sozialen) Körper: »Jede Classe derselben hat einen übeln Anstand anderer Art [...]. Diese Eigenheiten kommen nirgends anders her, als von der Stellung, welche der Körper jedes Handwerkers bey seinen Arbeiten annehmen muß, und von den Bewegungen, welche er am öftesten bey denselben zu machen genöthiger ist. Aber auch die Schreib- und Studierstube [...] drücken doch beyden gewisse Eigenthümlichkeiten ein, die an sich nicht schön sind [...]. [...] Und nicht bloß die Stellung und die Figur des Körpers, sondern auch die Art zu denken, der Ausdruck, die Neigung, das Interesse, alles das wird bey dem Menschen durch die Beschäftigung bestimmt, die er unabläßig treibt.«123
Teil der Theoriekonstellation von Arbeit ist Arbeit als körperlicher Prozess: »In dem durch Smith, Ricardo, Hegel und Marx sichtbar gemachten kapitalistischen Produktionssystem wird ›Arbeit‹ als der Ort erkannt, an dem durch die sinnliche Praxis des Einzelnen zugleich ökonomischer, sittlicher und anthropologischer Wert produziert wird. Das führt einen neu entstehenden Blick auf Arbeit mit sich und legt eine der Moderne eigene Widersprüchlichkeit oder Antinomie frei.«124
Timo Skrandies führt dies weiter aus:
122 | Nietzsche 1887, S. 16 f. 123 | Garve zit. n.: Körner 1990, S. 78. 124 | Skrandies 2014, S. 326.
Systeme und Diskurse »Während seit um 1800 ein poietisches Arbeits-Paradigma sich formiert, das in der Produktivität der sinnlichen Praxis des Menschen den Kern des gesellschaftlichen Wirtschaftens und der Hervorbringung von Wert(en) erkennt, stellt sich um 1900 immer drängender die – nicht nur mechanistisch, sondern ebenso psycho-physiologisch, mithin biopolitisch verstandene – Frage, wie jene Produktivität gesteigert werden kann. […] Zur Produktions- und Produktivitätssteigerung werden höhere Maschinen- und Prozess-Effizienz, betriebliche Reformen mit der Messbarkeit der Elastizität, der Rhythmisierbarkeit und der Mechanisierbarkeit des menschlichen Leistungs-Körpers gekoppelt.«125
Zeitgenössische Verse wie »Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie«126 sind Ausdruck einer Epoche, die sich selbst als das nervöse Zeitalter begreift, überlastet von den Anforderungen der Moderne. Diese Anforderungen entspringen aus damaliger Sicht auch einer neuen Arbeitswelt. Arbeit, Geschlecht, Rasse, Gesundheit und auch Sport sind wichtige Bestandteile der Diskursivierung von Körper im 19. Jahrhundert.127 Vor allem Sport gilt etwa als Gegenpol zu Arbeit im Sinne von Freizeit und Vergnügen, als Reaktion auf Arbeit im Sinne von Stärkung und Pflege des Körpers, als Erholung und Kurierung, als Präventionsmaßnahme128 und sogar als (utopischer) Gegenentwurf129 zu Arbeit. »Nur in einem gesunden Körper kann ein gesunder Geist
125 | Skrandies 2014, S. 329 f. 126 | Otto Erich Hartleben zit. n.: Wöckel 2014, S. 67. 127 | Wie für das Thema Arbeit – und dies wohl nicht zufällig – wurden entscheidende und die Folgezeit prägende Theorien zum Körper bereits im 18. Jahrhundert entwickelt (vgl. Kanz 2006, S. 239). Zu der Entwicklung vor allem im 18. Jahrhundert siehe Lemke und Weinstock 2014, S. 10. Pfister nennt in diesem Zusammenhang die Philanthropen (vgl. Pfister 2002, S. 81). Auch Kant hat die Notwendigkeit von Disziplinierung durch Erziehung hervorgehoben (vgl. Dülmen 1998, S. 220). Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Diskurse, auf die an späterer Stelle dieser Arbeit weitergehender eingegangen wird, ist unter anderem Norbert Elias und Michel Foucault zu verdanken. Während Elias die Sittenverfeinerung als Resultat von im Laufe der Geschichte zunehmender affektiver Selbstkontrolle analysiert, untersucht Foucault das Wissen um den Körper in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und die Entwicklung von Praktiken zur Machtausübung auf den Körper vor allem seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Lorenz 2000, 59 f.; Genge 2000, S. 13; Lorenz 2000, S. 96). 128 | Prävention kann auch unter dem Aspekt der Disziplinierung erfolgen (vgl. Reulecke 1982, S. 87). 129 | Hier sei vor allem auf die Lebensreformbewegung hingewiesen. Sie hatte eine völkische Ausrichtung, in der »die Fortpflanzungsfähigkeit und -bereitschaft der Frauen eine bedeutsame Rolle« spielte (Planert 1998, S. 83). »So konnte auch die Aufsehen erregende Lebensreformbewegung nur in kleinen Elitekreisen die Frauen- und Männerrollenklischees aufbrechen (Frei-
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wohnen«130, so das dem antik-römischen Dichter Juvenal entlehnte Credo des deutschen Bodybuilders Lionel Strongfort. »Innerer Wert reicht nicht aus«131, sprach der Arzt und erfolgreiche Autor Wilhelm Walter Gebhardt etwa in seinen Publikationen Wie werde ich energisch? Vollständige Beseitigung körperlicher und seelischer Hemmnisse, Praktische Anleitung zum imponierenden Auftreten im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben oder Energie, Freude am Schaffen, Erfolg. Gebhardt und viele andere132 reagierten damit auf die Anforderungen, die der Homo hygienicus133 an sich und seinen Köper stellte beziehungsweise die an ihn gestellt wurden.134 Der moderne Mensch musste sich mental und körperlich auf seine schöne neue Welt einstellen und fühlte sich dabei größtenteils überlastet: »In den 1880er Jahren kam der Begriff des ›nervösen Zeitalters‹ zur Titulierung der neuen Zeit auf; 1893 erwähnt der Neurologe Wilhelm Erb die Meinung, daß in unseren Tagen die Menschheit mehr oder weniger ›nervös‹ geworden sei, […]; noch Sigmund Freud geht von dieser Ansicht aus.«135
körperkultur und natürlich fallende Kleider statt Korsett und Reifrock etc.) und war dabei selbst von etablierten Identifikationen von Weiblichkeit mit Natur, Männlichkeit mit Potenz und Stärke etc. durchsetzt.« (Ende 2015, S. 19) 130 | Strongfort zit. n.: Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 380. 131 | Gebhardt zit. n.: ebd., S. 380. 132 | Vgl. hierzu vor allem Kapitel 2 in Sarasin 2001. 133 | »Der ›homo hygienicus‹ als Mensch, der Gesundheit als oberstes Lebensziel ansieht und seine Lebensführung völlig gesundheitlichen, aus der Medizin abgeleiteten Prinzipien unterwirft, wird zunächst als wissenschaftlich konzipierte Sinnwelt des im Zivilisations- und Rationalisierungsprozeß fortgeschrittenen Bürgertums geschaffen.« (Labisch 1985, S. 61) 134 | Bezeichnenderweise gab es für Männer viel mehr Ratgeber zur Erhaltung und Erlangung von Energie und gegen die Neurasthenie als für Frauen. Männer sollten fit für den Arbeitsmarkt sein und bleiben. Nur ihnen stand dieser Bereich offen (vgl. Osietzki 2001, S. 14 f.). Der Mann litt an Neurasthenie, die Frau an Hysterie. 135 | Radkau 1994, S. 63. Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht spricht vom »Zeitalter der Reizbarkeit« (ebd.). Reizüberflutung und die Überforderung durch Ausfüllung zahlreicher Rollen charakterisieren die moderne Zeit (vgl. Nipperdey 1998, S. 186-191). Wichtig ist auch die Studie von Sarasin 2001. Heute unter dem Begriff Burn-out gefasst, bezeichnete man das ›Krankheitsbild‹ in dieser Zeit als Neurasthenie.
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Man propagierte Willensgymnastik136 – denn Wille137 ist Macht138 – und »[…] eine permanente Körperkontrolle, die über den Einsatz autosuggestiver Verfahren, Askesevorschriften und Affektkontrollen zu erreichen sei […].«139 Scheffler forderte noch weitere ›Tugenden‹: »Der Mann lerne gehorchen. Gehorsam ist seine edelste Tugend; denn sie ist das sicherste Mittel, um das Leben in die Gewalt zu bekommen und darüber zu herrschen. […] Gehorsam sein heißt, das Verhältnis der Persönlichkeit zum Weltganzen empfinden; heißt Verantwortlichkeitsgefühl haben. […] Er reicht vom Machtwillen bis zur Treue, vom fanatischen Erkenntnisdrang des Forschers bis zur Schönheitsempfindung, von der Mitleidlosigkeit des Helden bis zum Opfermut des Märtyrers. Wer diesen Gehorsam hat, gibt sich nie einem falschen Stolz hin […]. Dieser intelligente Gehorsam, den man ruhig Gottesfurcht nennen mag, ist es, der Einen in großen Künstlern und Tatmenschen die geistig gewordene Natur verehren läßt und der Einen alles Gemeine, Halbe und Unwahre verächtlich macht.«140
Auch Langbehn äußerte konkrete Vorstellungen zur Stärkung des ›Volkskörpers‹: »Jeder Mensch und jeder Deutsche sollte zunächst vorbeugend sein eigener Arzt sein; die streng wissenschaftliche Heilkunde aber sollte stets den ganzen Menschen im Auge haben; ohne ein solches Verfahren zersplittert sie sich ins Endlose. […] Man wird umkehren müssen in bezug auf den Spezialismus und wird abschwenken müssen nach der Seite des Individuellen, Subjektiven, Menschlichen hin. […] Massage, Terrainkur, Kaltwassermethode, schwedische Gymnastik nehmen hiezu schon einen Anlauf; […] Sie behandelt den Menschen im ganzen und als Ganzes und
136 | Cowan spricht im Zusammenhang mit dem Diskurs zur Nervosität von einem Kult des Willens (vgl. Cowan 2008, S. 2). 137 | »Relevant wurden [nach 1900] Kategorien wie ›Wille‹ und ›Geist‹, die als psychische Potentiale zur Beherrschung nicht nur von Natur und Leiblichkeit, sondern auch von Technik und Kultur aufgerufen wurde.« (Osietzki 2001, S. 25) 138 | Seifert hebt die Rolle Nietzsches und seinen Begriff vom »Willen zur Macht« in Bezug auf den Körperdiskurs dieser Zeit hervor (vgl. Seifert 2004, S. 76). Mit Nietzsche und Freud, so Seifert, werde das Subjekt radikal infrage gestellt (vgl. ebd., S. 33). 139 | Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 382. Auch das entspricht Nietzsches Konzept vom Übermenschen: »Nietzsche geht gedanklich gar so weit, sich eine Züchtungsmethode, eine Lehre, die stark genug ist, ›züchtend zu wirken‹ und den Entwicklungsprozeß für den ›wahren‹ Menschen voranzubringen, zu imaginieren. […] Die Askese wird von ihm zum Ideal erklärt, die höchste Ausformung der Macht liegt somit in der höchsten Form der Selbstbeherrschung, der Asket gehört in diesem Sinne zu den mächtigsten Menschen.« (Seifert 2004, 78 f.) 140 | Scheffler 1909, S. 9 f. Die christliche beziehungsweise mönchische Tugend Oboedientia – man denke etwa auch an ora et labora – kommt hier in säkularisierter Form zum Tragen.
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»Arbeitende Bilder« deshalb richtig; […] Vielleicht und hoffentlich bildet jene den Übergang zu einer teilweise psychischen Heilmethode. Und gerade in diesem Sinne kann man recht wohl von einer christlichen Medizin reden; ja sie als die feinste und innerlichste und geistvollste Art von Medizin – als eine tief aristokratische Heilmethode ansehen; daß sie zugleich eine echt volkstümliche ist, braucht nicht erst gesagt zu werden.«141
Krankheit, mangelnde Fitness und Schwäche galten im 19. Jahrhundert – und das hält sich auch heute noch – als Resultat körperlicher Vernachlässigung und damit als selbstverschuldet.142 Gesundheit wurde in ähnlicher Weise bereits im 18. Jahrhundert von den Philanthropen propagiert143 und zur Pflicht erhoben, da »[…] Krankheit die Wirtschaft des Menschen wie des Staates zerstöre […].«144 Der Mensch fand sich in einer durchaus paradoxen Lage wieder: Einst wurden die Maschinen als Produktionsmittel (vermeintlich) zur Befreiung des Menschen von der schweren Arbeit erfunden,145 nun muss er – der ›Büromensch‹ – in seiner Freizeit in der Fitnessmaschinerie146 schwitzen, um sich selbst für den Arbeitsmarkt zu reproduzieren. Er sollte sich
141 | Langbehn 1922, S. 152 f. 142 | Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 482. 143 | Vgl. Pfister 2002, S. 81. 144 | Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 378. 145 | Aus Sicht der Kapitalismuskritik liegt der Erfindung der Maschinen lediglich der Wille zur Produktionssteigerung zugrunde. 146 | Um 1800 kam es verstärkt zu Bestrebungen, die männliche Jugend körperlich zu ertüchtigen, etwa durch die von ›Turnvater Jahn‹ propagierte Form des Turnens als Volkserziehung, womit auch politische Ziele verbunden waren (vgl. Pfister 2002, S. 82). Die Deutsche Turnerschaft war die Organisationsform der bürgerlichen Sporttreibenden, die der Bewegung um Jahn folgte. Sie war auch Ausdruck nationaler Gesinnung (vgl. Nipperdey 1998, S. 172). Nicht zuletzt haben sich zahlreiche zum Teil heute noch bestehende Fußballvereine (beispielsweise Schalke 04 oder 1860 München) im 19. Jahrhundert gegründet.
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– frei nach Weber – ein stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit147 zulegen. Auch die Arbeiterschaft trieb Sport,148 doch meist war hierfür weder Zeit, noch Geld, noch Kraft.149 Die Zeit nach der Aufklärung war, wie Horst Bredekamp treffend formuliert, bestimmt von den Polen Antikensehnsucht und Maschinenglauben.150 An antiken Idealen geschult151 modellierte der moderne Mensch seinen Körper, bis er zu einer gut funktionierenden Maschine wurde. Der Mensch als Maschine wurde zu einem Topos der Moderne, der noch bis ins 21. Jahrhundert nachwirkt: »Das für die Industriegesellschaft typische Körperverständnis, das als funktional oder instrumentell bezeichnet werden kann, beurteilt die nach mechanischen Gesetzen arbeitende Maschine ›Körper‹ im Hinblick auf die Erfüllung der von außen gesetzten Ziele.«152
147 | »Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen […] mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird […]. Nur wie ›ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‹, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. […] Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr.« (Weber 2002, S. 223 f.) Weber bezieht sich hier auf den puritanischen Pfarrer Richard Baxter und seine Schriften Ewige Ruhe der Heiligen und Christian Directory aus dem 17. Jahrhundert. 148 | Die Arbeiterschaft organisierte sich Ende des 19. Jahrhunderts in der Arbeiter-Turnbewegung und trat nicht der Deutschen Turnerschaft bei, was von dieser auch nicht gewünscht war. Vonseiten der Partei gab es Vorbehalte gegen den Sport: Er sei unpolitisch und lenke von den Zielen der Arbeiterbewegung ab (vgl. Nipperdey 1998, S. 174). 149 | Angesichts dieser Zustände klingt es fast schon zynisch, wenn Jürgen Osterhammel schreibt: »Die Moderne war zunächst ungesund.« (Osterhammel 2009, S. 264) 150 | Bredekamp 1993. 151 | Dies wird nicht nur aus dem eingangs angeführten Zitat des Bodybuilders deutlich. Bei den Fotografien für die Bodybuilding-Zeitschriften galten die gleichen Ablichtungsmodalitäten wie bei den in dieser Zeit zahlreich publizierten Fotos antiker Skulpturen: Sie standen isoliert und waren stark beleuchtet, sodass die Muskeln gut zur Geltung kamen, und wurden vor dunklem Hintergrund aufgenommen. Als Ideal galt einmal mehr der griechische Athlet. Zum modernen Männlichkeitsbild gehörte auch eine fest definierte Körperlichkeit. Die Begeisterung der Upperclass für das Boxen oder Ringen, beides antike Sportarten, ist Ausdruck hiervon (vgl. Garb 1998, S. 30). 152 | Wetterich 1993, S. 25.
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Anja Seifert hierzu: »Diese Bilder sind nicht neu, bereits Karl Marx spricht im Kapital vom Subjekt als ›Automat‹ und Mary Wollstonecraft-Shelley kreiert im Frankenstein ein Mensch-Tier-Monstrum mit übermenschlichen Kräften. Seit dem 18. Jahrhundert findet in der Kunst eine Auseinandersetzung mit Automaten, Puppen und Menschmaschinen statt, die dem Menschen als Spiegelwesen dienen und ihn stets faszinieren.«153
Der Mensch – nicht nur als Körper – wurde infolge kapitalistischer Gesellschaftsformen einer starken Disziplinierung unterworfen: »Erst die Errungenschaften der industriellen Revolution, Maschine und Fabrik, oder, anders formuliert, die geistigen Kräfte der Erfinder und Konstrukteure im Verein mit der Willensstärke und Unbeugsamkeit der Unternehmer hätten es endlich vermocht, die arbeitenden Klassen zur Ordnung zu bringen.«154
153 | Seifert 2004, S. 107. Seifert weiter dazu: »Schon früh analysierte Karl Marx für das beginnende Industriezeitalter das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. Erkennend, daß mit der Einführung der Maschine der Industrialisierung der traditionelle Arbeitskörper in vielen Bereichen überflüssig wird, charakterisiert Marx die Maschine als Transformator menschlicher Arbeitskraft. Der Industrialisierungsprozeß mit seinen Maschinenparks dient nach Marx der Akkumulation des Reichtums einiger Industrieller, während das Gros der Arbeiter zur Maschine degradiert wird.« (Ebd., S. 12) 154 | Ehmer und Gutschner 1998, S. 301. Auch Gilles Deleuze sieht unter Bezugnahme auf Foucault die Fabrik als das Signum moderner Disziplinierung und spricht von der Fabrik als Körper: »Das ideale Projekt der Einschließungsmilieus [ist] in der Fabrik besonders deutlich sichtbar: konzentrieren; im Raum verteilen; in der Zeit anordnen; im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammensetzen, deren Wirkung größer sein muß als die Summe der Einzelkräfte […]. […] Die Fabrik war ein Körper, der seine inneren Kräfte an einen Punkt des Gleichgewichts brachte, mit einem möglichst hohen Niveau für die Produktion, einem möglichst tiefen für die Löhne; in einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas. […] Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, […] das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet.« (Deleuze 2005, S. 7 ff.)
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3.2. 3 Geschlecht und Rasse »Und er schaudert, wenn er ausmalt / Seiner eignen Zukunft Nacht [...] / Während Mutter Auf dem Kutter / Eine Forschungsreise macht. / Kinder wird er nicht nur wiegen: Nein, wenn die Natur geht mit / Der Kultur in gleichem Schritt / Wird er sie auch selber kriegen [...] / Und er wird die Klöße kneten / Und die Stuben fegen rein / Und die Strümpfe stopfen fein! / Kurz, der Herr des Erdplaneten/ Einst despotisch / Wird helotisch / Eine olle Tunte sein.«155
Körper als sozialer Körper ist auch immer Geschlechtskörper. Der Diskurs um Arbeit steht demnach – und hierbei handelt es sich nicht um eine zufällige Koinzidenz – unter dem Vorzeichen der Geschlechterfrage, dasselbe gilt umgekehrt genauso: »In der Phase des liberalen Aufbruchs formierten sich seit den 1860er Jahren gegen solche reaktionären Zumutungen gleich zwei soziale Bewegungen: Arbeiterbildungsvereine und später der Lassallesche Arbeiterverein auf der einen Seite, Louise Ottos überregional ausgerichteter Allgemeiner Deutscher Frauenverein auf der anderen. Ablesbar an den Titeln von Neuerscheinungen, mutierte die alte Diskussion um das Geschlechterverhältnis nach dem Auftritt der ersten organisierten Frauenvereine schon bald zur ›Frauenfrage‹. […] Die Verantwortung für Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern wurde damit einseitig den Frauen angelastet. Die sprachliche Parallele zur gleichzeitig diskutierten ›sozialen Frage‹ leistete in der Folge einer thematischen Einengung Vorschub. Denn mit der Begriffsverschiebung ging auch ein Bedeutungswandel einher: Gegenüber der von Louise Otto und ihren Mitstreiterinnen geforderten politischen Emanzipation traten verstärkt soziale Aspekte in den Vordergrund.«156
Die Festschreibung von geschlechtsspezifischen Rollenmustern ist so Bestandteil von Disziplinierungsmaßnahmen, wenn man Disziplinierung als Instrument der Sicherung von Herrschaftssystemen begreift. Thomas Walter Laqueur verdeutlicht in seiner Studie zur Zweigeschlechtlichkeit, dass Frauen bis ins 18. Jahrhundert hinein als unvollkommene Männer galten beziehungsweise angenommen wurde, es gebe nur ein
155 | Fritz Engel zit. n.: Planert 1998, S. 39. 156 | Planert 1998, S. 24 f. Und weiter heißt es: »Seit antisemitische und nationalistische Verbände in der Verbreitung des Gespenstes vom ›Geburtenrückgang‹ von Wissenschaftlern, Politikern und Behördenvertretern unterstützt wurden, geriet die bürgerliche Frauenbewegung in die Defensive.« (Ebd., S. 16) Alle drei Formen der Diskriminierung – die von Arbeitern, Juden und Frauen – entsprang denselben gesellschaftlichen Schichten und Ideologien.
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anatomisches Geschlecht.157 Im 19. Jahrhundert wurden männlich und weiblich dann als zwei biologische Geschlechter festgelegt. Definitionen zu männlich und weiblich entspringen einem dichotomen Denken, dass männlich immer in Abgrenzung beziehungsweise im Gegensatz zu weiblich beschreibt, obwohl beides gleichermaßen Ausprägungen des Menschen sind: Männlich bedeutet demnach nicht-weiblich.158 Bestimmt wurde der Diskurs jedoch nicht nur durch diese starren Bilder von männlich und weiblich, sondern auch durch eine Abwertung des Weiblichen auf der einen und eine Aufwertung des Männlichen auf der anderen Seite. Simmel bemerkt zum Verhältnis von Geschlechtlichkeit und Herrschaft: »Die Grundrelativität im Leben unserer Gattung besteht zwischen der Männlichkeit und der Weiblichkeit; […] Wir messen die Leistung und die Gesinnung, die Intensität und die Ausgestaltungsformen des männlichen und des weiblichen Wesens an bestimmten Normen solcher Werte; aber diese Normen sind nicht neutral, dem Gegensatz der Geschlechter enthoben, sondern sie selbst sind männlichen Wesens. […] Die künstlerischen Forderungen und der Patriotismus, ebenso wie der Kosmopolitismus, die allgemeine Sittlichkeit und die besonderen sozialen Ideen, die Gerechtigkeit des praktischen Urteils und die Objektivität des theoretischen Erkennens, die Kraft und die Vertiefung des Lebens – all diese Kategorien sind zwar gleichsam ihrer Form und ihrem Anspruch nach allgemein menschlich, aber in ihrer tatsächlichen historischen Gestaltung durchaus männlich. […] Dass das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum Allgemein-Menschlichen wird, das die Erscheinungen des einzelnen Männlichen und des einzelnen Weiblichen gleichmässig normiert – dies wird, in mannigfachen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen.«159
Simmel nennt verschiedene Beispiele patriarchaler Herrschaft in der Geschichte:
157 | Vgl. Ende 2015, S. 23. 158 | Simmel zeigt dies auch am Beispiel Arbeit: »Ist der Mann – was erst später zu seinen tieferen Folgen kommen wird – das im äusseren und inneren Sinne zur Arbeitsteilung und durch Arbeitsteilung bestimmte Wesen, so wird der so vereinseitigte Einzelne in der Frau die Ergänzung seiner einseitigen Qualitäten suchen, also auch in ihr ein differentielles Wesen, das diese Ergänzung durch die mannigfaltigsten Grade von annähernder Gleichheit bis zu radikaler Gegensätzlichkeit zu leisten hat: die inhaltliche Besonderheit der Individualität fordert eine ihr korrelative inhaltliche Besonderheit von der Frau.« (Simmel, Relative 1919, S. 62) 159 | Ebd., S. 58 f. Simmel formuliert es in einem anderen Text ähnlich: »Dass man an eine, nicht nach Mann und Weib fragende, rein ›menschliche‹ Kultur glaubt, entstammt demselben Grunde, aus dem eben sie nicht besteht: der sozusagen naiven Identifizierung von ›Mensch‹ und ›Mann‹, die auch in vielen Sprachen für beide Begriffe das gleiche Wort setzen, lässt. Ich lasse für jetzt dahingestellt, ob dieser maskuline Charakter der Sachelemente unserer Kultur aus
Systeme und Diskurse »Die Geschichte der Politik, des Priestertums, der Wirtschaftsverfassungen, des Familienrechts ist voll von Beispielen. Insofern der Wille des pater familias, der dem Hause auferlegt ist, als ›Autorität‹ erscheint, ist er nicht mehr willkürlicher Ausnutzer der Macht, sondern der Träger einer objektiven Gesetzlichkeit, die auf das Überpersönlich-Allgemeine der Familieninteressen geht. Nach dieser Analogie und oft in eben diesem Zusammenhang entwickelt sich die psychologische Superiorität, die das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen den männlichen Wesensäusserungen verschafft, sozusagen in eine logische; […]. Dass so das Männliche zu dem schlechthin Objektiven und sachlich Massgebenden verabsolutiert wird – und zwar nicht nur dessen empirische Gegebenheit, sondern so, dass auch die aus dem Männlichen und für das Männliche erwachsenden Ideen und idealen Forderungen zu übergeschlechtlich-absoluten werden – das hat für die Beurteilung der Frauen verhängnisvolle Folgen.«160
Ute Planert macht jedoch deutlich, dass diese Klischees nicht alle weiblichen Entwicklungsmöglichkeiten hemmten – beispielsweise der Zugang zu Universitäten – auch wenn sie Teil eines weitgreifenden Diskurses waren.161 Die Kategorien männlich und weiblich wurden dennoch auf nahezu alle Bereiche der Wirklichkeit übertragen.162 Maria Osietzki verdeutlicht den Einfluss dieser Denkmuster anhand der Ingenieurswissenschaften: »›Kraft‹ und ›Arbeit‹ waren zentrale Begriffe der Mechanik, mit denen diese Lehre für den Maschinenbau nutzbar zu machen war. Es handelte sich dabei allerdings auch um Konzepte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu zentralen Merkmalen von Männlichkeit wurden, mit denen die Polarisierung der Geschlechtscharaktere begründet wurde. […] Während Männlichkeit mit
dem inneren Wesen der Geschlechter hervorgegangen ist oder nur einem, mit der Kulturfrage eigentlich nicht verbundenen Kraft-Übergewicht der Männer. Jedenfalls ist er die Veranlassung, weshalb unzulängliche Leistungen der verschiedensten Gebiete als ›feminin‹ deklassiert und hervorragende weibliche Leistungen als ›ganz männlich‹ gerühmt werden.« (Simmel, Weiblich 1919, S. 256) 160 | Simmel, Relative 1919, S. 60 f. Simmel nennt beispielsweise auch die »mystisierende Überschätzung der Frau« (ebd., S. 60 f.). 161 | Vgl. Planert 1998, S. 11. 162 | Vgl. ebd., S. 20. Planert verweist hier einmal mehr auf die Medizin: »Während aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Frau als Gegenstand der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften in den Hintergrund trat und ›der Mensch als Mann‹ zentrale Aufmerksamkeit beanspruchte, floß die ›weibliche Sonderanthropologie‹ (Claudia Honegger) in einen Wissenszweig ein, der um die Erklärung der Abweichung von der männlichen Norm eine ganze Profession institutionalisierte: die Gynäkologie.« (Ebd.)
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»Arbeitende Bilder« ›Kraft‹ assoziiert wurde, haftete Weiblichkeit in den Schriften der bürgerlichen ›Meisterdenker‹ das Merkmal ›Masse‹ an.«163
Und weiter: »Es war allerdings nicht nur die ›Kraft‹, die den männlichen Sozialcharakter auszeichnete. Auch die Kategorie der ›Arbeit‹ wurde in den Sprachregelungen der bürgerlichen Gesellschaft dem Geschlecht zugeordnet, von dem die größte Kraftanstrengung erwartet wurde. Semantisch waren insofern beide Kategorien verbunden. […] Die Arbeitsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, die männlich dominiert war, gehörte technisch eine ›Hochenergiekultur‹ an, in der Energie, Macht und Männlichkeit sich wechselseitig symbolisch stabilisierten.«164
Den Bereich der Arbeit als Bereich des Männlichen auszuweisen, ist eine durchgängig propagierte Auffassung nicht nur des vermeintlich konservativen Lagers.165 Der Mann wurde vornehmlich zum Subjekt der (industriellen) Revolution, und so be-
163 | Osietzki 2001, S. 14. 164 | Ebd. 165 | Auch Weber reproduziert das Bild der zur Arbeit unfähigen Frau: »Ein Bild rückständiger traditionalistischer Form der Arbeit bieten heute besonders oft die Arbeiterinnen, besonders die unverheirateten. Insbesondere ihr absoluter Mangel an Fähigkeit und Willigkeit, überkommene und einmal erlernte Arten des Arbeitens zugunsten anderer, praktischerer, aufzugeben, sich neuen Arbeitsformen anzupassen, zu lernen und den Verstand zu konzentrieren oder nur überhaupt zu brauchen, ist eine fast allgemeine Klage von Arbeitgebern, die Mädchen, zumal deutsche Mädchen, beschäftigen.« (Weber 2002, S. 172) Schmidt-Linsenhoff führt an, Frauen aus besitzlosen Schichten würden arbeiten, um ihre Existenz zu sichern, bürgerliche Frauen hingegen würden sich emanzipieren wollen. Es gab typische Frauenindustrien wie die Textilindustrie. 1907 arbeiteten zum Beispiel 25 Prozent Frauen als Angestellte im Kontor (vgl. Schmidt-Linsenhoff 1981, S. 37). Obwohl sich das real zur Verfügung stehende Einkommen zwischen 1871 und 1913 verdoppelte, konnten selbst gelernte Arbeiter nur vier Fünftel des Familienbudgets erarbeiten. Damit waren sie auf einen Nebenerwerb sowie den Verdienst von Frau und Kindern angewiesen. Es bestand ein extremes Gefälle bei der Bezahlung von Frauen und Männern: Männer verdienten oftmals mehr als das Doppelte. Schlusslicht bildeten bei der Entlohnung Kinder und Jugendliche (vgl. Epkenhans und Seggern 2007, S. 115). Zur Lage der Frauenarbeit führt Planert an: »Ging die vor allem für Handwerker und Kaufleute gedachte Krünitzsche ›Encyklopädie‹ 1786 noch davon aus, daß Frauen bei gleicher Erziehung ebensoviel wie Männer zu leisten vermochten, weswegen (Gewerbe-)Schulen für den bürgerlichen Mittelstand sich an Jugendliche beiderlei Geschlechts zu wenden hätten, wollte der ›Brockhaus‹ vierzig Jahre später den weiblichen Bevölkerungsteil nur noch zu ›Gattinnen, Mütter und Hausfrauen bilden‹. Während Ende des 18. Jahrhunderts ›Geschlecht‹ noch ausschließlich im Sinne biologischer Klassifikati-
Systeme und Diskurse
merkte das Frauenreferat des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wenige Jahre nach seiner Gründung 1863: »Die Frauen arbeiten heute wie die Männer in den Werkstätten der großen Industrie. Die Frauen sind heute auf den Arbeitsmarkt geworfen. Mit der steigenden Einführung der Maschinen und mit der steigenden Teilung und Vereinfachung der Arbeit hat man gefunden, daß die Frauen stark und geschickt genug sind, um die früher von Männern allein verrichteten Arbeiten zu einem großen Teile zu übernehmen […]. Denn, meine Herren, die Löhne der Frauen sind billiger, als die Löhne der Männer, und wenn die heutigen Unternehmer billiger produzieren können, so tun sie es […]. Und endlich, meine Herren, achten Sie dabei auf die ungeheure Mangelhaftigkeit der Erziehung. Von Vater und Mutter fern, sind die Kinder, so weit sie nicht die Schule besuchen, oder, was das Schlimmste ist, selbst in Fabriken tätig sind, sich selbst überlassen. Mit Notwendigkeit müssen sie verkommen und verwildern […]. […] Sie wissen alle, wie gerade der Einfluß der Mutter bei der Erziehung ein so außerordentlich wohltätiger ist. […] Wir, meine Herren, sind nicht der Meinung, daß die Familie zerstört werden müsse, sondern wir wollen sie beibehalten, ihr Wesen nur noch vertiefen und veredeln. […] Durch das Zusammenleben beider Geschlechter in denselben Räumen, wo die zarten Mädchen jedem groben unlautern Worte, jedem unanständigen Witze, jedem gemeinen Liede die Ohren öffnen müssen, geht dem weiblichen Geschlechte sein höchstes Kleinod, die Keuschheit verloren, und beide Geschlechter verfallen dem Taumel wüster Unsittlichkeit.«166
Im letzten Satz kommt zum Tragen, wie sehr der Bereich der Sexualität durch geschlechterspezifische Zuschreibungen (etwa weibliche Keuschheit) geprägt war. Dies zeigt sich auch, wenn Ernst Engel, Direktor des Statistischen Büros, 1875 die Maschine mit einer Frau und den aufbrausenden Dampf, der in die Maschine eindringt, mit einem Mann vergleicht.167 Sexualität war ein stark mit Macht oder auch Potenz verknüpfter Bereich:
on verstanden wurde, war 1824 bereits vom ›Geschlechtscharakter‹ die Rede – ein Wort, das die jeweils gängige Auffassung vom Wesen des Mannes und der Frau offenbar so gut zu transportieren vermochte, daß es noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Konjunktur hatte. Der Begriff koppelte äußerliche Verschiedenheit an moralische Befunde, wies Frauen die Sphäre der Liebe zu, Männern dagegen das Reich des Rechts.« (Planert 1998, S. 21) Im Angesicht des Ersten Weltkrieges wurde die Frage zur Arbeitskraft der Frauen noch einmal besonders virulent. Es wurde sogar eine eigene Abteilung im Kriegsamt eingerichtet, um den systematischen Einsatz von Frauen in der Kriegswirtschaft voranzutreiben (vgl. ebd., S. 179). 166 | Tennstedt 1983, S. 196. 167 | Vgl. Osietzki 2001, S. 14. Wilhelm von Humboldt hatte zuvor schon bei der Frau ein Übermaß an Stoff, Trägheit und Schlaffheit konstatiert. Kant verglich den Körper der Frau mit einer Maschine, in die die Natur mehr Kunst gelegt habe, während der Mann mit Kraft ausgestattet sei (vgl.
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»Arbeitende Bilder« »Massenhafte Prostitution in den Großstädten und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten ließen die Besorgnis wachsen, daß Promiskuität, durch Pornographie noch angestachelt, die Lebenskraft und militärische Stärke der Nation angreifen würde. Solche Ängste waren gekoppelt mit dem Wunsch, die Familie vor einer Reihe angeblicher Gefahren zu schützen – Alkoholismus, Verhütungsmittel, Frauenemanzipation etc. – und die Selbstdisziplin zu stärken […]. Im Kaiserreich war die Ansicht verbreitet, daß Bildpropaganda […] zivilisierte Werte schaffen könne. Aber diese Ansicht war mit der Überzeugung gekoppelt, daß schändliche Bilder um jeden Preis kontrolliert werden müßten.«168
So galt es, einer entfesselten169 Sexualität Vorschub zu leisten. Dies geschah etwa durch den Sittlichkeitsparagrafen Lex Heinze, zu dem sich der Kunsthistoriker Konrad von Lange 1901 folgendermaßen äußerte: »Die Fruchtlosigkeit dieser Debatten erklärt sich einfach daraus, dass weder die Anhänger noch die Gegner der Lex Heinze dabei von der richtigen Auffassung des Wesens der Kunst ausgegangen sind. […] Soll man nun, weil eine unästhetische Auffassung des Nackten möglich ist, das Nackte überhaupt aus der Kunst verbannen? Das hiesse soviel wie einem Menschen den Gebrauch des Messers verbieten, nur weil er sich damit allenfalls die Kehle durchschneiden könnte.«170
Sexualität galt als die Achillesferse des Mannes: »Die Schwäche des Mannes ist zu allererst seine erotische Sehnsucht, und hier ist gleichzeitig die Stärke des Weibes«171, so Eduard Fuchs 1912 in seiner Sittengeschichte. Auch Scheffler sieht die gefährliche Macht der Frauen über Männer: »Das Verhältnis der Frau zum Mann ist von je durch zwei Formen bestimmt worden, die sich scheinbar widersprechen und doch nebeneinander bestehen: Der Mann hat die Frau entweder gering geschätzt und mehr oder weniger unterdrückt, oder er hat sie idealisiert und vergöt-
ebd.). Nicolai bemerkt zu diesem Aspekt: »Das Bild der erotisierten Frau wird im 19. Jahrhundert dämonisiert und eignet sich nicht nur zur literarischen oder künstlerischen Femme Fatale, sondern auch zur Darstellung noch nicht restlos beherrschbarer Bereiche der maschinellen und industriellen Revolution. […] Verherrlichung der Maschinenkraft und Negativseite der industriellen Revolution sind hier als ein sich bedingendes Zusammenspiel aufgefasst.« (Nicolai 2004, S. 210 f.) 168 | Lenman 1994, S. 25 f. Lenman weist darauf hin, dass es einen großen Markt für erotische Fotografien gab, die massenhaft von der Polizei konfisziert wurden (vgl. ebd., S. 24). 169 | Auch diese Denkmuster finden sich in anderen Bereichen wieder. So wird etwa die Angst vor einem entfesselten Proletariat geschürt. 170 | Lange, Bd. 2 1901, S. 157 f. 171 | Fuchs zit. n.: Schmidt-Linsenhoff 1981, S. 24.
Systeme und Diskurse tert. Manchmal hat er beides zugleich getan. Das ist noch heute so, obwohl sich alles geändert zu haben scheint. […] Auf der anderen Seite fühlt der Mann aber dauernd, welche Macht die Frau über ihn hat […], er fühlt ihre seelische Unentbehrlichkeit und erfährt, daß er sich an ihrem Wesen dauernd korrigiert. […] Die Frau kann dem Mann alles sein: eine Dienerin, eine Heilige, ein Kind, zugleich verehrungswürdig und erziehungsbedürftig; eines nur ist die Frau dem Manne nie gewesen und kann sie nie dauernd sein: eine vollkommen Gleichberechtigte. […] Jede menschliche Seele ist ein kleines Universum, jede ist Anlage nach eine Totalität. Während der Mann aber aus dieser Ganzheit bestimmte Kräfte hervorhebt, […] ist der Lebensinstinkt der Frau darauf gerichtet, die seelische Ganzheit, den Gleichklang aller Kräfte hinauswachsen zu lassen. In der Mutternatur der Frau suchen alle Triebe und Willensregungen harmonischen Bezug. […] Darum erscheint die Frau dem Manne gegenüber passiv.«172
Planert analysiert anhand des eingangs zitierten Gedichtes hierzu treffend: »Den ausschließlich männlichen Autoren des Karikaturenbandes war ebenso wie ihrem Publikum bewußt, daß Männlichkeit Herrschaft bedeutete, […]. Nicht umsonst kristallisierten sich die Männerphantasien vom Machtverlust im Bild des verachteten, weil unmännlichen, seinen Penis verleugnenden Mannes: der Tunte, des weibischen Homosexuellen. Ganz unverblümt brachte Stefan von Kotze, bei den Zeitgenossen vor allem als Reiseschriftsteller beliebt, den Zusammenhang von Macht, Sexualität und männlicher Potenz zum Ausdruck: ›Alle männliche, aktive Potenz ist abhängig vom Selbstvertrauen. […] Sollte die jetzige Ordnung der Dinge sich also ändern und die Frau dauernd, Generationen hindurch dominieren, so muß das Selbstvertrauen und damit die Potenz des Mannes bedenklich geschwächt werden.‹«173
Dieser Antifeminismus174, der Einfluss auf grundlegende Lebensbereiche wie Politik, Kultur, Bildung usw. hatte, wurde in großen Teilen durch die Medizin etabliert: »Die Wissensbestände der weiblichen Sonderanthropologie, die aus physiologischen Merkmalen psychische und soziale Normen ableitete, gehörten als ›Lehre von den Geschlechtsunter-
172 | Scheffler, Kampf 1932, S. 130 f. 173 | Planert 1998, S. 40. Sexualität als Ausdruck der Potenz des Mannes wurde auch im Hinblick auf die Heldenmuster wichtiger (vgl. Schilling 2002, S. 173). 174 | »Neben Antisemiten, völkischen Lebensreformern und Rassenideologen stellten deutschvölkische und nationalistische Interessenverbände eine weitere wichtige Bastion des wilhelminischen Antifeminismus dar, neben den Alldeutschen allen voran die im Bund der Landwirte zusammengeschlossenen Agrarier.« (Planert 1998, S. 93) Einen seiner ›Höhepunkte‹ hatte der Antifeminismus im Deutschen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, der 1912 mit der Parole »Echte Männlichkeit für den Mann, echte Weiblichkeit für die Frau!« antrat und Frauen aus allen Gebieten zurückdrängen wollte, um »eine Bewegung einzudämmen, die der Gesamtheit
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»Arbeitende Bilder« schieden‹ zum Curriculum der Medizinstudenten. […] In dem Maße, wie das Gehirn als Nachweis menschlicher Singularität und Überlegenheit zum Zentralorgan aufstieg, nahmen die Versuche zu, dort auch den Unterschied der Geschlechter zu lokalisieren.«175
Die ›Erkenntnisse‹ zur Minderwertigkeit weiblicher Gehirne wurden in gleicher Weise auch für Schwarze und Juden bestätigt.176 Dies blieb jedoch keineswegs Expertenwissen »Entscheidend war, daß die Ergebnisse dieser Arbeiten nicht allein im medizinisch-psychologischen Spezialdiskurs zirkulierten, sondern über die Medien einer breiten Öffentlichkeit vermittelt und gezielt zur Diskreditierung weiblicher Leistungen und Forderungen der Gegenwart eingesetzt wurden.«177
Der Frau als Mängelwesen – ganz im gehlischen Sinne als biologische Unangepasstheit gedacht – wurde dementsprechend eine eher passive Rolle in der Gesellschaft zugeschrieben und ihr Wirken ihren Fähigkeiten entsprechend im privaten Bereich gesehen: »Der rechte Ort der vorbildlichen Frau war die Familie. Hier im ›innigen, schönen Familienkreise‹, wo die ›lieben Weiberchens‹ in ›unendlicher Liebe und Verehrung‹ zu ihren Männern ›aufblickend‹ um deren und der Kinder Wohl besorgt waren, konnten Männer fern von einer sie fordernden, bedrohlichen Außenwelt entspannen. […] Die Familie als Idyll durfte jedoch nicht dazu dienen, den Mann als potentiellen ›Helden‹ an das Haus zu ketten.«178
Auch Planert spricht von einer propagierten Trennung von weiblicher und männlicher Sphäre.179 Jede Abweichung von diesen Strukturen wurde nicht als das Andere, sondern stets als das Schlechte diffamiert, wie das Beispiel der Femme fatale
zum Verderben, dem Manne zum Unsegen, der Frau zum Fluch gereichen muß.« (Deutscher Bund zit. n.: Planert 1998, S. 121) 175 | Planert 1998, S. 79. 176 | Planert führt dazu das prominente Beispiel Paul Julius Möbius und seine Schrift Über den Physiologischen Schwachsinn des Weibes an. Sie sollte »[…] den sichtbaren Beweis für die Devianz von Frauen, Juden und Schwarzen gegenüber dem männlich-weißen ›Herrenmenschen‹ erbringen. Damit fungierte die Naturwissenschaft als Instrument der Absicherung von Herrschaftsansprüchen: innenpolitisch gegen weibliche und jüdische Emanzipationstendenzen, außenpolitisch gegen kolonialisierte Völker.« (Planert 1998, S. 79 f.) 177 | Ebd., S. 80. 178 | Schilling 2002, S. 204 f. 179 | Vgl. Planert 1998, S. 38 f.
Systeme und Diskurse
demonstriert. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war in vielen westlichen Ländern gar von der ›Krise der Männlichkeit‹ die Rede.180 Trotz dieser ›Krise‹ kam es nicht zur einer grundlegenden Modifikation des Rollenbildes. Stattdessen wurden hegemoniale Männlichkeitskonzepte der Zeit von 1800 angeglichen und radikalisiert.181 Beide Geschlechter mussten sich den starren Rollenmustern fügen. Schilling analysiert dies am Beispiel des heldenhaften Soldaten: »Die ›stählerne‹ Panzerung der Heldengestalt, die sich die männlichen Verehrer ebenso verschaffen sollten, stellte zugleich den Gegensatz zur Weichlichkeit her, womit gemäß den Koordinaten der zeitgenössischen Geschlechterordnung die Frau identifiziert wurde.«182
Das ›stählerne Gehäuse‹ erlangte der soldatische Mann vor allem durch Sport: »Wenke und andere reagierten damit auf die zeitgenössischen vor allem von Militärmedizinern geäußerten Warnungen vor einem ›einseitigen Intellektualismus, der auf Kosten des Körpers‹ in den höheren Lehranstalten ›getrieben‹ werde. Aufgrund einer Neigung zur ›Uebertreibung geistiger, oft zu formaler Dressur‹ und einem ›Untermaß körperlicher Erziehung‹ drohe, so der Stabsarzt Munter, der ›Rassetod‹ und die ›völkische Degeneration‹.«183
Dem Äußeren entsprachen selbstverständlich auch die inneren Werte.184 Langbehn stilisiert einmal mehr Bismarck zum Vertreter wahrer Mannhaftigkeit: »Mann und Masse gehören zusammen, wie Schwert und Schild; in dem Manne schlägt der nationale Geist zu, durch die Masse deckt er sich. […] Zwischen Gott und dem Volk steht – der Mann. Mann und Masse verhalten sich zueinander wie das männliche und weibliche Prinzip innerhalb der gesamten Welt: jenes wird aus diesem geboren, und befruchtet es dann seinerseits wieder.
180 | Vgl. Schilling 2002, S. 194 f. 181 | Vgl. Ende 2015, S. 19. 182 | Schilling 2002, S. 196. Nicolai bemerkt in diesem Zusammenhang: »Diese beiden Pole [Triebregulierung gegenüber Frauen und Männern und Triebregulierung des männlichen Egos, Ergänzung von S. C.] ermöglichten es, dass sich um 1900 die männliche Dominanz in der Gesellschaft auch im künstlerischen Bereich niederschlug. Der Körperpanzer, wie in Theweleit in seiner Entwicklung beschrieben hat, wird zum erstenmal [sic!] seit der Renaissance ästhetisches Thema.« (Nicolai 2004, S. 209) 183 | Schilling 2002, S. 181 f. Schilling bemerkt, im Jahr 1913 gehorche die körperliche Ausbildung einzig militärischen Erfordernissen – im Gegensatz zur Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd.). 184 | Vgl. ebd., S. 182.
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»Arbeitende Bilder« Der Mann lebt in der ›Masse‹ und die Masse erkennt sich in dem ›Mann‹. Das Männliche ist der höchste Ausdruck des Menschlichen; denn es ist schöpferisch, künstlerisch, aufbauend.«185
Otto Weiningers Geschlecht und Charakter, das 1903 zum ersten Mal und 1920 bereits in seiner 19. Auflage erschien, ist eine umfassende Studie zu allen mit diesen Diskursen verbundenen Komplexen – hier im ganz psychopathologischen Sinn gemeint. Sie hat maßgeblich zur Verfestigung antifeministischer und antisemitischer Denkweisen beigetragen. Die Kapitelüberschriften geben an, welche vielfältigen Aspekte von ihm ›behandelt‹ werden: Sitz des Geschlechtes, Homosexualität und Päderastie, Der Mann als Psychologe des Weibes, Das Genie und die Nation, Die Frau alogisch und amoralisch, Mutter und Dirne, Anlage zur Prostitution angeboren, aber nicht allein entscheidend, Nochmals der ›Willensmensch‹ und sein Verhältnis zum Genie, Die Dirne als Feindin, Die Liebe des Mannes zum Weibe als Spezialfall, Warum die Frauen Menschen sind, Wesen des Geschlechtsgegensatzes, Gegensätze: Subjekt – Objekt = Form – Materie = Mann – Weib, Einzige Art einer Lösung der Judenfrage.186 Auch im Bereich der Kunst kommen solche Geschlechter- und Rassenkonstruktionen187 zum Tragen. Julius Meier-Graefe charakterisierte etwa die englische Kunst als weiblich und die französische als männlich,188 während andere Autoren – und dies zeigt die Willkür der Argumentation – genau dies der französischen Kunst abspre-
185 | Langbehn 1922, S. 350 f. Parr widmet sich ausführlich den Bismarck zugeschriebenen Rollenbildern und verweist auf die Schrift des Psychiaters und Essayisten Georg Lomer Bismarck als Nervenmensch (vgl. Parr 1992, S. 129 ff.). Obwohl auch Bismarck mit einem Künstler verglichen wurde, stellte man ihn ebenso als tatkräftig-sachlichen Realisten dar: »Er ist derjenige, der das deutsche Volk zu Realisten gemacht hat, der ›es zu Thaten erzogen‹ hat, der den ›Wendepunkt‹ markiert [...]. Zugleich ist er aber auch stets derjenige, der den für Preußen-Deutschland neu entdeckten Realismus mythisch mit der alten, idealistisch-romantischen Position der ›Dichter und Denker‹ vermittelt, so daß von der idealistischen Grundlage seines Wesens die Rede ist, die ihn zum ›Realidealisten‹ macht.« (Ebd., S. 140 f.) Parr erläutert diese zeitgenössische Sichtweise am Beispiel des völkischen Ideologen Friedrich Lienhard: »Ähnlich führt Lienhard selbst an anderer Stelle den Begriff der ›Reichsbeseelung‹ in Analogie zur ›Reichsgründung‹ ein […]. In einem weiteren Aufsatz, der am Beispiel des Übergangs von Schelling zu Darwin den Untergang des Idealismus alter Provenienz konstatiert, heißt es entsprechend: ›Der Reichsgedanke, diese Hochburg des deutschen Idealismus nach Zersetzung der philosophisch-religiösen Ideale, wurde dann im stürmischen Siegeslauf der Kriege von 1866 und 1870 in Tat umgesetzt. Bismarck schuf den Reichskörper. Aber welche Seele zog in das Reich ein?‹« (Ebd., S. 186) 186 | Weininger 1920, S. XIII-XXII. 187 | Dieser Begriff findet bei beispielsweise bei Robert Miles Verwendung (vgl. Miles 2000, S. 21). 188 | Vgl. Meier-Graefe 1904, S. 630.
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chen, wie im Folgenden noch gezeigt wird. Identische Argumentationsstereotypen sind auch und – kaum überraschend – in gesteigerter Form zu finden, wenn es um die Kunst von Frauen geht: Käthe Kollwitz’ künstlerische Arbeit wurde von Zeitgenossen als männlich und die Ausdrucksplastik dieser Zeit als weiblich stigmatisiert189. Nicht nur der expressionistische Kunstbegriff, sondern auch die künstlerische Praxis der Expressionisten wiederum trugen zur Festschreibung von Rollen- und Rassenbildern ihren Teil bei: Nackte Körper der sogenannten Primitiven übten im 19. Jahrhundert große Faszination aus, was sich in Schriften wie Die Rassenschönheit des Weibes aus dem Jahr 1901 des Gynäkologen Carl Heinrich Stratz niederschlug, in der es heißt: »Die weiße Rasse besitzt als höchststehende die vollkommenste Schönheit; je nach ihrer Entwicklungsstufe nähern sich ihr die anderen durch das Maß ihrer Vorzüge.«190 Völkische Aspekte spielten eine große Rolle im Diskurs um die Kunst im Kaiserreich: 1914 hieß es in Hinblick auf die Rolle der Frau und die Kunst in Zeiten des Krieges: »Der Pariser Dirne haben wir abgesagt […]. Die Kunst braucht Gunst und Eheglück und Nachwuchs, sie braucht die stille und sanfte Hilfe der deutschen Frau! […] Die unsagbaren Wehen der Mütter und Frauen während unserer Befreiungskämpfe verheißen eine freudebringende Neugeburt veredelter Menschheit.«191
Auch bei Langbehn erfolgt eine Abwertung französischer Kunst: »In Paris fehlt es dem Künstler durchweg an der äußeren und inneren Ruhe, welche die erste Vorbedingung für eine erfreuliche Tätigkeit ist. Gemessene und wirklich monumental wirkende Kunstwerke sind von Franzosen selten geschaffen worden; die gallische Unruhe verhindert sie daran; oder die letztere schlägt, als Gegenwirkung, in die heutzutage dort noch vorkommende akademische Steifheit und Glätte um. Durch keine dieser beiden Richtungen sollte der Deutsche sich beeinflussen lassen.«192
Den Makel deutscher Kunst sieht Langbehn in der Verweiblichung der Kunst: »Hier kann die Gegenwart lernen, wie man klassisch wird, ohne sich von den Klassikern beeinflussen zu lassen; indem man nämlich aus der eigenen angeborenen Natur schöpft, wie sie es taten. Folgt der Deutsche ihnen darin, so wird auch er sich mit der Zeit wieder zu einem klaren, festen, monumentalen, neuen Kunststil emporringen. Es gilt der männlichen Natur des Deut-
189 | Vgl. Ende 2015, S. 23. 190 | Stratz zit. n.: Ende 2015, S. 154. 191 | Zeitgenössische Person zit. n.: Ende 2015, S. 234. 192 | Langbehn 1922, S. 95.
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»Arbeitende Bilder« schen auch innerhalb der heimischen Kunst gerecht zu werden; hier wird in bezeichnender aber nicht erfreulicher Weise vielfach ein allzuweiblicher Ton angeschlagen. Weibliche Typen dominieren durchaus in der heutigen deutschen Malerei und Plastik; […] Eher hält man sich noch an weibliche Nudität, nach den bekannten Pariser Mustern. Kurz, man meidet das Heroische und liebt das Sentimentale. […] Es fehlt den betreffenden Künstlern an Weite des Horizonts und noch mehr an Tiefe; darum verfallen ihre Leistungen so gern ins Weichliche und Kleinliche.«193
An der Ikonografie der Allegorie weisen Silke Wenk und Teresa Ende die für diese Kunstform prägenden Geschlechterbilder nach. Wenk macht hierbei auf verschiedene Aspekte aufmerksam: »Man kann die Repräsentationsverhältnisse der Bilder des Weiblichen nur paradox beschreiben. Bilder des Weiblichen repräsentieren in zweifacher Weise: gesellschaftliche Bereiche, aus denen Frauen ausgeschlossen sind, und nicht Abbildbares – Werte, Normen, Institutionen dieser Bereiche. Sie ›re-präsentieren‹ insofern in doppelter Hinsicht: Sie stellen – stellvertretend – etwas Abwesendes vor, und sie machen Vorstellung, stellen sich vor, indem sie uns Gestalt einer ›Frau‹ etwas vorstellen, was dort, wo Frauen sind, nicht zu sehen ist. […] Gehen wir davon aus, daß der Ausschluß von Frauen aus den Bereichen, zu deren Repräsentation ihr Bild dient, Bedingung dafür ist, daß ihr Bild benutzt werden kann – wofür vieles spricht –, so ist es unsinnig nach der ›Ähnlichkeit‹ der weiblichen Gestalt in der Allegorie ›mit den Entwürfen und Ansprüchen, die sie im Laufe der Geschichte darstellte‹, zu fragen.«194
Den weiblichen Allegorien in der Kunst steht nach Ende der männliche Körper als Verbildlichung hegemonialer Männlichkeit entgegen.195 Nicolai fasst es folgendermaßen zusammen: »Die soldatische Zurichtung des Mannes vor dem Ersten Weltkrieg geht einher mit der Entwertung des Weiblichen in der Öffentlichkeit.«196 Die Entwertung des Weiblichen schlägt sich auch in der Wahrnehmung von Künstlerinnen nieder. Scheffler tut sich einmal mehr hervor, wenn es etwa darum geht, Erklärungen für den Umstand zu liefern, warum es so wenige Künstlerinnen gibt: »Wäre Kunst in diesem Sinne der Frau lebensnotwendig, wäre ihr von der Natur aufgegeben, ihre Gefühle mittelbar, stilisiert und nicht unmittelbar naturalistisch zu äußern, so wäre ihr auch das Organ des Talents verliehen worden. Das ist nicht geschehen; wenigstens nicht, soweit das Talent als ein kreatives Vermögen angesprochen werden muß.«197
193 | Ebd., S. 110 f. 194 | Wenk 1996, S. 61 ff. 195 | Vgl. Ende 2015, S. 24. 196 | Nicolai 2004, S. 214. 197 | Scheffler, Frau 1932, S. 158.
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Und weiter: »Es läßt sich beobachten, daß Frauen, die sich zu Kunst zwingen, dafür mit Verkümmerung oder Hypertonie des Geschlechtsgefühls, mit Perversion oder Impotenz bezahlen müssen.«198 Zu den unterschiedlichen Gattungen bemerkt er: »Am meisten versagt die Frau in den Künsten, die einen starken Sinn für abstrakte Formen, für die versinnlichte Mathematik des Kontrapunktes fordern: in Musik und Architektur.«199 Oder: »Wo dennoch Fähigkeiten der Verwandlung und Charakterisierung sichtbar werden, nimmt die Frau leicht Züge des Männischen an. […] Oder es schlägt die Anlage ins Nervöse und selbst Hysterische um.«200
Scheffler sieht nur eine Kunstform, in der Frauen bestehen können: »Eins mag die Frau ursprünglich zu sein: Tänzerin. […] Im Tanz zeigen sich nahezu alle künstlerischen Grundinstinkte, ohne aber zu bleibenden Gebilden zu gelangen; […] er ist elementar und aus dem Instinkt geboren. […] Nicht nur um der körperlichen Gewandtheit willen, die er fordert, ist der Tanz eine Domäne der Jugend, […]. Die Werdenden, Wachsenden und Hoffenden tanzen.«201
Wolfgang Ullrich versucht sich ebenfalls an einer Klärung der Frage zur Unterrepräsentation von Frauen im Kunstbereich: »Man kann spekulieren, warum die Kunst dann doch noch lange von Männern beherrscht blieb und sogar als Metier definiert wurde, in dem sich allein zu bewähren vermochte, wer ›männliche‹ Tugenden vorzuweisen hatte. Vielleicht liegt es daran, daß sich in der gesamten Moderne immer wieder ein – im weitesten Sinn – expressionistischer Kunstbegriff durchsetzte. Danach heißt Kunst zu machen, sich selbst auszudrücken und eine Einheit von Leben und Werk anzustreben. Diese Vorstellung setzt für den Künstler einerseits eine markante, unverwechselbare Persönlichkeit voraus – sonst wären unprofilierte, durchschnittliche Werke die Folge –, andererseits ist viel Energie und Entschlossenheit erforderlich, um nicht nur stark fühlen und erleben, sondern das ›Eigene‹ auch übertragen, in eine andere Gestalt transformieren, Außenstehenden gegenwärtig machen zu können. Beides aber, die interessante Biographie und die resolute Willenskraft, wurde eher Männern attestiert, weshalb es zuerst fast undenkbar, dann lange noch Gegenstand
198 | Ebd., S. 169 f. 199 | Ebd., S. 161. 200 | Ebd., S. 167. 201 | Ebd., S. 160 f.
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»Arbeitende Bilder« einer von traditionellen Geschlechterbildern genährten Skepsis war, wenn Frauen sich der Kunst verschreiben wollten.«202
Die etwa aus den in der Biologie beziehungsweise Medizin konstruierten Körpern abgeleiteten Rollen- und Rassenbilder präsentierten im öffentlichen Diskurs fitte und nervenstarke Männer, die in Beruf und Staat mit sachlichem Verstand 203 ihren Platz fanden, sowie weiche,204 zur Lohnarbeit unfähige Frauen, die in ihrer Rolle als liebende Ehefrau205 und Mutter aufgingen. Diese Vorstellungen wurden auch an die Kunst dieser – und späterer – Zeit herangetragen, von dieser reproduziert und damit festgeschrieben – und sie wurden nicht zuletzt von der Kunst auch produziert und das nicht in einem Akt der Reproduktion schon vorhandener Diskurse, sondern als Neuschöpfung mit ihren eigenen Mitteln. Kunst produziert im Rahmen von Kunstwirklichkeit eigene Diskurse über gesellschaftliche Belange, ohne außerhalb des Gesellschaftlichen zu stehen. Und gerade für die Skulptur im Deutschen Kaiserreich werden – auch aufgrund ihrer Gattungstradition – die hier aufgezeigten (semantischen) Verknüpfungen von deutsch, männlich und gesund/kraftvoll zu entscheidenden Referenzen. Umgekehrt bot gerade die Materialität und Medialität von Skulptur beste Möglichkeiten, Bilder in diesem Sinne zu produzieren.
3.3 Kunstsystem
3.3.1 Diskursakteure Institutionen und Personen sind Akteure in einem System, die über dessen Inhalte maßgeblich bestimmen. Im System Kunst prägen Diskursakteure die Kunstproduktion, indem sie inhaltliche Vorgaben machen (beispielsweise im akademischen
202 | Ullrich, Geschlechtsumwandlung 2003, S. 154 f. 203 | »Insofern die Frauen die Vorgaben des weiblichen Geschlechtscharakters vorbildlich erfüllten, durften sie sich auch durch geistige Fähigkeiten auszeichnen. Dieses Vermögen war jedoch in der Regel immer mit dem Hinweis auf die eher gefühlsbestimmte Annäherung der Frauen an intellektuelle Themen verknüpft. […] Die überlegene sachlich-analytische Herangehensweise blieb immer noch Männersache.« (Schilling 2002, S. 202) 204 | »Weichlichkeit als solche war, solange sie der Frau eigen blieb, nicht negativ, sondern positiv, weil dem weiblichen Geschlechtscharakter gemäß. Wenn sie jedoch auf den Mann übergriff und ihn verweiblichte, wurde sie als Bedrohung empfunden.« (Ebd., S. 196) 205 | »Als ausdrücklich positive Frauengestalten posierten in den Helden-Biographien die Mütter und Geliebten der ›Helden‹. Auch sie qualifizierten sich dadurch, daß sie sich ›mütterlich und
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Betrieb oder in der Kunstpolitik) oder einzelne künstlerische Ausdrucksformen protegieren beziehungsweise ablehnen (etwa durch Ausstellungen, den Kunstmarkt oder die Kunstpublizistik). Das 19. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Institutionalisierung von Kunst.206 Nach Hubert Locher erfährt der Sektor Kunst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Demokratisierung: Kunstkenntnis, Geschmacksbildung und dazugehörige Institutionen wie Museen und Kunstliteratur werden Teil der bürgerlichen Gesellschaft oder vielmehr zu einer wichtigen Aufgabe.207 Dies kommt nicht an allen Orten gleich stark zum Tragen: »Wenn auch Berlin die wichtigste deutsche Stadt der Kunst war, musste sie sich ihre Rolle – anders als Paris – mit Düsseldorf, München, Weimar und Dresden teilen.«208 Die Rolle einer Stadt – oder auch eines Landes – als Kunststadt ergab sich aus den dort ansässigen Institutionen (Kunstakademien, Kunstgewerbeschulen, Museen und weitere Ausstellungsräume wie Kunstvereine, aber auch indirekt durch Universitäten oder Publikationsorgane wie Zeitschriften), ihrer Förderung durch Staat und private Initiativen, einem florierenden Kunstmarkt und nicht zuletzt aus den dort beheimateten Künstlern – die auch in Gruppen entscheidende Impulse lieferten – sowie dem Publikum. Dieses Kunstsystem bildete ein Diskursfeld verschiedener Akteure, das normative Inhalte festlegte, die entweder zur Stabilisierung oder zur Infragestellung von Deutungs- und Handlungsmacht führten. Kunst, so Ekkehard Mai und Stephan Waetzold, wurde im 19. Jahrhundert in einem besonderen Ausmaß öffentlich und politisch.209 Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die für die Kunstproduktion – die Produktion von Skulptur ist als Teil hiervon inbegriffen – wichtigen Diskursak-
hausfraulich‹ verhielten.« (Ebd., S. 200) Zum Thema Ehe bemerkt Planert: »Mit dieser Auffassung stand der Ordinarius in der Tradition einer Logik von Staat und Ehe, wie sie der Auslegung des Naturrechts in der bürgerlichen Gesellschaft immanent und schon im preußischen Allgemeinen Landrecht juristisch kodifiziert worden war. Grundlage dafür war eine analoge hierarchische Beziehung von Staat und Bürger einerseits, Ehemann und Ehefrau andererseits. Vertraglich durch den ›contract social‹ bzw. den Ehevertrag geregelt, wurde damit die Unterwerfung unter eine Obergewalt Staatsoberhaupt oder Haupt der ehelichen Gemeinschaft – festgelegt, um so Positionskämpfe auszuschließen und ›Ruhe und Ordnung‹ zu gewährleisten.« (Planert 1998, S. 37) 206 | Vgl. Jooss 2008, S. 189. 207 | Vgl. Locher 2008, S. 555. 208 | Schmied 1986, S. 21. Die Brücke-Maler zog es ab 1908 von Dresden nach Berlin und auch die Sozialkritiker unter den Malern, etwa John Heartfield, George Grosz, Ludwig Meidner oder Käthe Kollwitz, kamen aus der Berliner Avantgarde (vgl. Klotz 2000, S. 243). München, die Heimat der Gruppe Blauer Reiter, gehörte um die Jahrhundertwende zu den innovativsten künstlerischen Zentren Deutschlands (vgl. ebd., S. 261). 209 | Vgl. Mai und Waetzoldt, Einleitung 1981, S. 10.
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teure im Deutschen Kaiserreich unter der Prämisse vorgestellt, dass Skulptur nur im Rahmen von systemimmanenten Strukturen zu ›arbeitenden Bildern‹ werden kann.
Künstlerische Ausbildung Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmten die aus Rom zurückgekehrten Nazarener den Betrieb an den neu gegründeten Akademien.210 Sie schufen das Bild der KünstlerIn als außerhalb der Gesellschaft stehendes Genie. Dieses Bild hat sich teilweise bis heute gehalten. Damit hing auch die Einführung der Meisterklassen zusammen, die erst in Düsseldorf, dann aber überall zum Akademiesystem gehörten. Die kostenlose Ausbildung wurde ab dem 19. Jahrhundert um das Erlernen von Malerei und Bildhauerei ergänzt. Wettbewerbe, Stipendien und Ausstellungen waren ebenfalls Teil des akademischen Lebens. Die Akademien in Deutschland zogen nicht nur Künstler – männliche, denn Frauen mussten sich privat ausbilden lassen – aus dem Inland, sondern auch aus anderen europäischen Ländern an, wo es an vergleichbaren Ausbildungsmöglichkeiten fehlte. Umgekehrt ließen sich deutsche Künstler von den Bildungsstätten im Ausland inspirieren, wie die in Berlin von Athur Lewin-Funcke gegründeten Studienateliers für Malerei und Plastik zeigen.211 Akademisch gebildete Künstler erhielten im Gegensatz zu privat ausgebildeten Künstlern das Privileg freier Berufsausbildung.212 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts spezialisierten sich die Ausbildungsstätten. Neben den Akademien etablierten sich Bauakademien und Kunstgewerbeschulen. Teilweise kam es zu Reorganisationen von Kunstakademien, die schon vor 1800 gegründet worden waren. Die Berliner Akademie beispielsweise konzentrierte sich nur noch auf die höheren Künste und schloss alle handwerklichen Bereiche aus. Bautechnische Zweige wurden ebenfalls aus den Akademien ausgegliedert.213 Infolge internationaler Ausstellungen wurde die Krise des deutschen Handwerks offenbar, sodass der Bereich des Kunstgewerbes nicht allein der Industrie überlassen bleiben durfte. Deshalb gründeten sich zahlreiche Vereine, Schulen und Museen. Der Konkurrenzdruck mit anderen Nationen forderte eine Verbesserung der Produktion technischer Erzeugnisse. In den 1860er und 1870er Jahren gründeten sich daher Gewerbemuseen und daran angeschlossene Schulen, um eine bessere handwerkliche Ausbildung zu gewährleisten. Mit dem Historismus, fortgeführt im Jugendstil, näherten sich Kunst und Handwerk einander wieder an, so beispielsweise in Darmstadt
210 | Vgl. das Folgende nach Jooss 2008, S. 190. 211 | Im 19. Jahrhundert waren nur wenige deutsche Künstler an der École des Beaux-Arts in Paris eingeschrieben (vgl. Kähler 1996, S. 122). Zu Lewin-Funcke vgl. ebd., S. 156. 212 | Vgl. Grzimek 1978, S. 357. 213 | Vgl. das Folgende nach Scheuner 1981, S. 28 f.
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oder München. Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang der 1907 gegründete Werkbund. Diese Entwicklungen änderten jedoch wenig daran, dass an den Akademien im Sinne der klassizistischen Kunsttheorie nur Malerei, Bildhauerei, Grafik und Architektur als hochwertige Kunst anerkannt wurden – einer der vielen Kritikpunkte am Akademiewesen, sodass ›akademisch‹ zum Schimpfwort wurde.214 Dieses undifferenzierte Bild, das selbst für die Jahrzehnte des Kaiserreichs nicht haltbar ist und im Zusammenhang mit der Historismuskritik der Moderne steht, wirkte noch sehr lange nach, etwa bei Fritz Baumgart, der noch 1957 davon spricht, die Akademie schaffe nichts Neues, sondern sei im Formalismus erstarrt,215 oder Abraham Marie Hammacher, der die Auflehnung gegen akademische Regeln folgendermaßen kommentiert: »Dieser Drang nach Vergessen und Neuerwachen war eine Art Katharsis.«216 Einhergehend mit der Kritik an den Akademien kam es auch zu Gründungen von Sezessionen.
Die Rolle des Staates Der Rückgang des höfischen und kirchlichen Einflusses auf die Kunstproduktion vollzog sich in Deutschland zwischen 1780 und 1850.217 Der Staat – und mit ihm das Bildungsbürgertum –, der das in napoleonischer Zeit erzeugte Vakuum herrschaftlicher Kunstrepräsentation zu füllen begann, löste sich mehr und mehr von der Kirche und wurde zum unabhängigen Förderer der Künste. Es gab stetig weniger fürstliche und kirchliche Auftraggeber.218 Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis der bürgerlichen Schichten nach kultureller Selbstgestaltung. Die Idee der Kulturnation war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Ersatz für den herbeigesehnten Nationalstaat. In dieser Zeit separierte man das Kultus- vom Innenministerium und maß ihm so mehr Bedeutung zu. Grundlage der Bildungsidee, die aufs Engste mit der Staatsidee verknüpft werden sollte, bildeten Wilhelm von Humboldts kulturpolitische Ziele, die eine Synthese der Humanitätsideen ästhetischer Freiheit von Goethe und Schiller sowie der sittlichen Strenge eines Idealismus von Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte vorsahen.219 Mit dem deutschen Idealismus wurde die Kunst selbst zum Träger ästhetischer und menschlicher Ideale. Gesellschaftliche Veränderungen ließen Gebildeten zu Hauptadressaten der Kunst werden, und Kunst wiederum wurde damit Ausdrucksmittel einer bürgerlichen Welt.220
214 | Vgl. Jooss 2008, S. 190. 215 | Vgl. Baumgart 1957, S. 186. 216 | Hammacher 1973, S. 82. 217 | Vgl. Scheuner 1981, S. 18. 218 | Vgl. ebd., S. 14. 219 | Vgl. Mai und Waetzoldt, Einleitung 1981, S. 9. 220 | Vgl. Scheuner 1981, S. 14.
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Im Deutschen Kaiserreich verschob sich die Sicht auf Kunst. Während Kunst zu Beginn des Jahrhunderts noch sittliche Bildung zur Aufgabe hatte, ging es später eher um die Veredelung des Lebens, wie es etwa Johann Caspar Bluntschli in Allgemeines Staatsrecht formuliert. Dennoch halten Autoren wie Heinrich von Treitschke am erzieherischen Potenzial von Kunst fest. So forderte er vom Staat, der Kunst große monumentale Aufgaben zu stellen.221 Kunst wurde zur Staatsaufgabe und es entstand beispielsweise in Preußen 1849 unter dem Kunstreferenten Franz Kugler ein Maßnahmenkatalog mit dem Titel Grundbestimmungen für die Verwaltung der Kunst-Angelegenheiten im Preußischen Staate222 in dem es hieß: »Die Ausübung der Kunst ist frei, mit Ausnahme derjenigen gesetzlich bestimmten Fälle, in welchen aus Rücksicht auf das Gemeinwohl Beschränkungen eintreten.«223 Dieser Gedanke setzte sich aber erst in der zweiten Jahrhunderthälfte durch, wenn auch nicht im rechtlichen Sinne. Die kulturelle Betätigung des Staates gehörte schon in der ersten Jahrhunderthälfte zur staatlichen Wohlfahrt. Lorenz von Stein beschreibt in seiner Verwaltungslehre den Wandel weg von einer auf höfischen Glanz gerichteten Tätigkeit hin zu einer neuen Bildungsvorstellung.224 1873 schreibt Heinrich von Mühler, die Pflege der Kunst durch den Staat gehöre zu seinen Pflichten, da Kunst keineswegs nur ein Luxusartikel sei. Denn: »Die Kunst ist vielmehr als Lehr- und Bildungsmittel für die Nation von größter Bedeutung.«225 Diese Gedanken wurden in ähnlicher Weise schon vorher von Georg Wilhelm Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling formuliert und kommen in einer Publikation zum sozialen Verwaltungsrecht von Hermann Roesler aus dem Jahr 1872 vor.226 Als Konzepte prägten sie stark die Einstellung von Wilhelm II. In seinen Reden wies er immer wieder auf die erzieherische Rolle der Kunst in einem patriotisch-idealistischen Sinne hin.227 Das staatliche und private Engagement blieb deshalb auch nach der Reichsgründung 1871 bestehen. Im Wilhelminischen Zeitalter wurde dieses zu einem Teil des Organisationswillens eines persönlichen Regiments. An die erste Stelle rückte im Konkurrenzkampf mit den anderen Nationen jedoch die Wirtschafts- und Wissen-
221 | Vgl. ebd., S. 27. 222 | Kuglers Schrift sah eine staatliche Tätigkeit für die Bereiche Malerei, Bildhauerei und Architektur nebst Gartenkunst, Denkmal, Dichtkunst, Literatur, Theater und Musik vor (vgl. ebd., S. 15). Seine Aufzählung der Betätigungsfelder des Staates im Kunstbereich wurde durch Friedrich Eggers Denkschrift über eine Gesammt-Organisation der Kunst-Angelegenheiten von 1851 nur noch bekräftigt (vgl. ebd. S. 24). 223 | Kugler zit. n.: ebd., S. 35. 224 | Vgl. ebd., S. 25. 225 | Von Mühler zit. n.: ebd., S. 19. 226 | Vgl. ebd., S. 19. 227 | Vgl. Kaiser Wilhelm II. nach Bischoff 1985, S. 252.
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schaftsförderung.228 Den Parlamenten kam bei der Bewilligung von Mitteln nur eine geringe Rolle zu. Entscheidungsmacht in Sachen Kunst hatten die Verwaltung, das Kultusministerium oder entsprechende Abteilungen der Innenministerien der Länder.229 Der Etat im Haushalt des Reichsamtes für Kunstförderung war sehr gering. Die Kosten für Denkmäler (etwa das Niederwalddenkmal) wurden oftmals durch Staatsgelder sowie durch private Spenden eigens gegründeter Vereine finanziert. Wilhelm II. hatte großes Mitspracherecht bei der Bewilligung der Mittel für Kunstprojekte eingefordert und betrieb somit stärker als Wilhelm I. reale Kunstpolitik.230 Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff ›Kulturstaat‹ geprägt.231 In dieser Zeit war die Zahl der Künstler, die sich staatlichen und offiziellen Anordnungen nicht unterordnen wollten, angewachsen. Im Gegensatz zu Wilhelm I. betrieb Wilhelm II. eine oftmals einseitige Kunstpflege, sodass es später zu ›Richtungskämpfen‹ kam. Der Einfluss von staatlicher Seite erstreckte sich auch auf die Kunstakademien. Ekkehard Mai sprach von der Berliner Akademie als einem »institutionelle[n] Instrument wilhelminischer Kunstpraxis«.232 Wilhelm II. wollte ein Mäzen von großem Maßstab sein und protegierte vor allem die Monumentalskulptur im Stile Reinhold Begas’ oder verurteilte öffentlich – verbreitet durch die Massenmedien – die Freiluftmalerei oder die Kunst einer Käthe Kollwitz, der er die Goldmedaille für ihren auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigten Grafikzyklus Ein Weberaufstand verweigerte.233 Denkmäler wurden aufgrund der Sparsamkeit von Kaiser Wilhelm I. zunächst wenig ausgeführt. Mit der Regierungszeit Wilhelms II. (ab 1888) setzte dann die sogenannte Denkmalflut ein.234 Der Kaiser mischte sich so stark in das Kunstgeschehen ein, dass Adolf Hildebrand einmal dazu bemerkte: »Die unglückselige Tatsache, daß die ganze englische Kunstfamilie Kunstdilettanten sind, hat auch bei dem jungen Kaiser die Folge, daß er Alles besser weiß und den Ton angibt.«235 Die Gunst des Staates galt Richtungen der Kunst, »deren eklektische Haltung historisierender Tendenz von der zeitgenössischen modernen Richtung abgelehnt wurde, während die
228 | Vgl. Mai und Waetzoldt, Einleitung 1981, S. 9. 229 | Ludwig I. von Bayern konnte beispielsweise sein Bauprojekt sowohl mit staatlichen als auch privaten Mitteln finanzieren. Die Förderung Richard Wagners und die Schlossprojekte durch Ludwig II. waren hingegen Privatsache. So bewilligte er im Gegensatz zu Bismarck weitere Mittel aus dem Dispositionsfond für die Ausgrabungen in Olympia (vgl. Scheuner 1981, S. 23). 230 | Vgl. Feldenkirchen 1982, S. 48 f. 231 | Das Folgende nach Scheuner 1981, S. 26 f. 232 | Mai 1981, S. 458. 233 | Vgl. Lenman 1994, S. 18. 234 | Vgl. Bloch 1978, S. 171. 235 | Hildebrand zit. n.: Lenman 1994, S. 18.
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von der Kunstkritik moderner Richtung anerkannten Künstler nicht herangezogen wurden.«236 Die moderne Kunst wurde vom Monarchen abgelehnt. Infolge der staatlichen Kunstpolitik spaltet sich die deutsche Künstlerschaft und »das Nebeneinander von Konformismus und Nonkonformismus wird das Kennzeichen der Zeit.«237 »Es ist bekannt, daß gegen diese persönlichen Interventionen des Kaisers nichts zu machen war, daß gegen seine Verdikte über ›Rinnsteinkunst‹ ›Elendskunst‹ und ›Armeleutemalerei‹ – womit er Max Liebermann ebenso wie Käthe Kollwitz meinte […] – kaum jemand unter den ›Offiziellen‹ den Mut zu opponieren hatte.«238
Im Jahr 1906 hieß es von anonymer Seite: »die Gesamtheit unserer Intellektuellen, auch die reifen und Alten, auch die Ruhigen und Besonnen, […] auch die überzeugten Feinde einer eruptiven, überstürzten, ›vulkanistischen‹ geistigen Entwicklung und die politisch rechts Stehenden, sehen mit wachsendem Unmut und mit tiefem Schmerz, daß die Ideale deutscher Bildung und Kultur vom Hofe her mehr Hemmung als Förderung erfahren.«239
Wilhelm II. verbot etwa auch eine offizielle Teilnahme an der Pariser Weltausstellung. Dem widersetzten sich aber viele Künstler und nahmen privat daran teil.240 Die sogenannte Frankophobie stigmatisierte die Franzosen als frivol, hohl und hyperrational. In den Vorkriegsjahren verschärfte sich der kulturelle Chauvinismus noch weiter.241 Museen mussten ebenso gegen die restriktiven Einstellungen des Kaisers ankämpfen.242 Auch strafrechtliche Verfolgung bei Sittenwidrigkeiten – hiervon waren am stärksten die Schriftsteller betroffen – durch Verstoß gegen die sogenannte Lex Heinze gehörte zum künstlerischen Alltag. Große Teile der Öffentlichkeit unterstützten die Ansichten des Kaisers, die der repressiven und fremdenfeindlichen Haltung
236 | Scheuner 1981, S. 36. 237 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 18. 238 | Düwell 1983, S. 26. Als Ausnahme nennt Düwell den Leiter der Berliner Nationalgalerie Hugo von Tschudi (vgl. ebd.). 239 | Lenman 1994, S. 19. 240 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 17. 241 | Vgl. Lenman 1994, S. 34 f. 242 | Vgl. Kähler 1996, S. 242.
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von reaktionären Kunstkritikern oder Sittlichkeitsvereinen entsprachen.243 Julius Langbehn – Vertreter einer völkischen Kulturkritik, die eine neue nationale Kunst forderte – schreibt zu diesem Thema: »Die Kunstpolitik ist eine Art von höherer Gärtnerkunst; Goethe selbst war ein solcher Kunstpolitiker und Kunstgärtner. Er und Schiller konnten nur darum echte Kunstpolitik treiben, weil sie echte Künstler waren. Wie ihre gemeinsame Tätigkeit im wesentlichen eine nationale, sittliche, aristokratische, deutsche war, so wird auch der künftige Kunstpolitiker auf die gleichen Eigenschaften sein hauptsächliches Augenmerk richten müssen. Wenn und indem die Deutschen sich politisch konsolidieren werden sie sich auch kunstpolitisch konsolidieren; […]. Ein in seiner Seele unruhiger Politiker taugt so wenig wie ein in seiner Seele unbewegter Künstler; die äußere Unruhe des ersteren muß auf innere Ruhe, wie die äußere Ruhe des zweiten auf innere Unruhe gegründet sein.«244
Langbehn ist ein Musterbeispiel dafür, dass – trotz aller staatlichen Intervention – eine reaktionäre Publizistik dem Autonomieanspruch der Kunst zusetzte.245
Kunstpublizistik Heute wie damals waren Medien entscheidend für den öffentlichen Diskurs, der auch maßgeblich durch die Kunstkritik bestimmt wurde. Diese informierte und wertete gleichermaßen auch damals schon über das, was sie schrieb oder eben nicht schrieb. Heinrich Klotz macht hierbei auf Folgendes aufmerksam: »Weit intensiver und ausführlicher als heute wurden im 19. Jahrhundert die Künstler als Versager oder Könner bewertet.«246 Kunstkritik war aber auch Folge eines Demokratisierungsprozesses, bei dem es jedem selbst überlassen blieb, die demokratischen ›Freiheiten‹ zu nutzen. Die Entstehung der Kunstkritik muss nach Jutta Held und Norbert Schneider im Zusammenhang mit der Entfaltung des Kunstmarktes gesehen werden. Kunstkritik ist von der Kunsttheorie zu unterscheiden, weil letzere an allgemeinen, überzeitlich ästhetischen
243 | Vgl. Lenman 1994, S. 19. 244 | Langbehn 1922, S. 232 f. 245 | »Rückblickend gesehen waren Künstler weniger vom Staatsapparat bedroht als von der Agitation durch Interessengruppen, die hin und wieder vom Kaiser angestachelt wurden. Besonders laut waren Gruppen wie die Allgemeine Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine, die die Schuld an den Problemen der modernen Gesellschaft den modernen Schriftstellern und Künstlern, den Atheisten, den Sozialisten und den Juden zuschoben.“ (Lenman 1994, S. 36) 246 | Klotz 2000, S. 203.
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Gesetzen interessiert war.247 Das Anspruchsniveau des Publikums bildete eine Norm, der die Kritiker mehr oder weniger verpflichtet waren.248 Für Künstler war es nicht nur wichtig, bei Ausstellungen präsent zu sein, sondern auch von Kritikern besprochen zu werden (am besten mit Abbildungen ihrer Werke).249 Technische und gesetzliche Neuerungen führten zu einem enormen Anstieg der Auflagen von Zeitschriften seit 1880 und es bildete sich eine Massenpresse für ein Massenpublikum aus.250 Das Publikum, auch das gebildete, war dem leichten Genre zugeneigt, so der Sozialist Karl Leuthner 1911.251 Ähnlich formuliert es der Theologe Adolf von Harnack: »In der Tat erblickte oft zu viel Kurzlebiges, Geschäftliches, mehr in die Breite als in die Tiefe dringendes das Licht der literarischen Welt.«252 Kunstkritik konnte zunächst durch Tageszeitungen verbreitet werden. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte gab es immer mehr spezialisierte Kunstzeitschriften,253 die sich auch den zahlreichen durch die Akademien oder Kunstvereine organisierten Ausstellungen widmeten. Nach der Reichsgründung erlebte der gesamte Publizistiksektor einen enormen Aufschwung, etwa mit einer Reihe von Kunstzeitschriften wie Pan, Atelier, Der Kunstwart oder Kunst für alle,254 die auch durch ausländische Publikationen beeinflusst waren.255 Zeitschriften wie Pan oder Atelier erschienen zwischen 1890 und 1900 neu und machten sich für die moderne Kunst, den Impressionismus und die sogenannte Armeleutemalerei stark.256 Der Kunstwart – und so auch sein Verleger Ferdinand Avenarius – wandte sich gegen den konservativen künstlerischen Ausdruck und oberflächliche, sinnentleerte Lebensgestaltung.257 Diese Zeitschrift sah sich als ›Trutzburg deutscher Kunst‹.258 Die Zeitschrift Kunst für Alle war vor allem mit Friedrich Pecht
247 | Vgl. Held und Schneider 2007, S. 215. 248 | Vgl. Laumann-Kleineberg 1989, S. 27. 249 | Vgl. Berger 1998, S. 13. 250 | Vgl. Bruch 1983, S. 314. 251 | Vgl. ebd., S. 322. 252 | Harnack zit. n.: ebd. 253 | Ein wichtiges Organ des Jugendstils war die Publikation des Verlegers Alexander Koch Deutsche Kunst und Dekoration. Während die Zeitschrift Jugend von Optimismus geprägt war, gesellten sich mit dem Simplicissimus schärfere, satirische Töne hinzu (vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 40). 254 | Vgl. Locher 2008, S. 561 f. 255 | Vgl. Bruch 1983, S. 320. 256 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 18. 257 | Vgl. Bruch 1983, S. 319. 258 | Vgl. Kratzsch 1983, S. 381.
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verbunden, einem der einflussreichsten Kritiker seiner Zeit, der von seinen Zeitgenossen der »Kunstpapst«259 genannt wurde und hauptsächlich in München tätig war. Pechts Einfluss auch auf den kommerziellen Erfolg von Künstlern war enorm.260 Auch die Zeitschriften Grenzboten und Neue Rundschau prägten den öffentlichen Kunstdiskurs. Im Grenzboten widmete man sich im besonderen Maße der zeitgenössischen Kunst.261 Es interessierten hierbei die politischen Faktoren wie »die Sogwirkung der neuen politischen Kapitale Berlin, die Hoffnung auf eine umfassende Kunstförderung, die Überzeugung von der Überlegenheit monarchischen Kunstsinns und Mäzenatentums und schließlich die Rechtfertigung eines vielfach zu beobachtenden Kolossalstils in einem Zeitalter, das durch ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Masse und großer Persönlichkeit bestimmt ist.«262
Einflussreichster Kunstkritiker des Grenzboten war Adolf Rosenberg.263 Seiner Vorliebe für den Kolossalstil entsprechend widmete er sich vorrangig der Skulptur und den Großbauten. Den geplanten Reichstag betrachtete er als monumentales Zeichen der deutschen Einheit. So passt es ins Selbstverständnis, dass die Zeitschrift unter Moritz Busch zum Sprachrohr Otto von Bismarcks wurde. Man stellte sich hinter den Kaiser, sowohl hinsichtlich seiner Äußerungen (beispielsweise im Fall der umstrittenen Rede Wilhelms II. von 1902) als auch seiner Projekte (etwa die Statuen der Siegesallee). Man lobte seine Art der Volkserziehung, so etwa die Skulpturen im Tiergarten als marmornes Volksbilderbuch, während die Kunst der Sezessionisten als undeutscher Import abgelehnt wurde. Politische Belehrung statt Analyse von Kunst wurde das eigentliche Ziel. Auch in der Neuen Rundschau – ehemals unter dem Namen Freie Bühne für modernes Leben publiziert – wurde die Bestimmung der deutschen Kunst zu einem Hauptthema. Oscar Bie, leitender Kopf der Zeitschrift, formulierte die nationale Aufgabenstellung der Kunst explizit. Gemeinsam mit Karl Scheffler hatte er etwa die führende Rolle der Malerei für die zeitgenössische Kunst betont. Man lehnte die Sezessionen nicht ab und verschloss sich auch gesellschaftlichen Themen wie dem Meinungsaustausch auf sozialem Gebiet nicht. Die soziale Frage und die moderne Kunst, somit das Ringen um eine Nationalkultur wurde zu den wichtigsten Problemfeldern der Neuen Rundschau. Die Kunstkritik nahm auch in diesem Prozess einen wichtigen
259 | Held und Schneider 2007, S. 226. 260 | Vgl. Bringmann 1983, S. 272. 261 | Vgl. Bruch 1983, S. 330. 262 | Ebd. 263 | Vgl. das Folgende nach ebd., S. 329-336.
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Stellenwert ein. Max Osborn analysiert in einem Aufsatz in der Neuen Rundschau von 1897 das Verhältnis von Kunst und Staat folgendermaßen: »Wir haben seit 26 Jahren endlich nach langen Kämpfen unseren nationalen Staat. Es ist kein Chauvinismus […], wenn man behauptet, daß uns erst damit die Möglichkeit gegeben wurde, eine wirkliche Kunst zu entwickeln […]. Immer stärker rücken am Ende des Jahrhunderts die bildenden Künste auf den ersten Platz im deutschen Leben. Sie lösen die Musik ab, die Vorläuferin der Literatur war.«264
Kunstsammlungen Im Zuge der Übertragung fürstlicher Sammlungen und der Säkularisation entstanden zunehmend öffentliche Sammlungen. Zunächst bestimmten ästhetische, später auch wissenschaftliche Gesichtspunkte die Sammlungspräsentation. Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln, aber auch Genuss und Erziehung wurden die Leitideen für Museen.265 Sie wurden damit zu bedeutenden Orten bürgerlicher Bildung und kultureller Identitätsstiftung.266 Kulturhistorische Museen entsprangen dem bürgerlichen Wunsch, seine Geschichte jenseits feudaler Herrschaftsverhältnisse zu konstruieren.267 Auch das Kunstgewerbe, für das spätestens seit der Weltausstellung in London 1851 ein neues Bewusstsein herrschte, fand seinen Platz in neu gegründeten Kunstgewerbemuseen.268 Bald schon galten Museen als anerkannte Fachinstitutionen.269
264 | Osborn zit. n.: Bruch, S. 329. 265 | Vgl. Jooss 2008, S. 191; Klotz 2000, S. 53. 266 | Vgl. Jooss 2008, S. 192. Dies sollte auch nach außen, das heißt konkret in der Architektur, demonstriert werden. Skulpturen- und Freskenprogramme sollten die Architektur in ihrer Aussagekraft unterstützen. Das Museum wurde zur wichtigen Aufgabe namhafter Künstler, etwa Leo von Klenze, Gottfried Semper, Peter von Cornelius und Ludwig Schwanthaler (vgl. ebd.). Der Aufbau von Kunstsammlungen gelang in Bremen, Frankfurt, Hagen, Hamburg, Köln oder Leipzig durch rein bürgerliches Engagement (vgl. ebd., S. 194). 267 | Vgl. ebd., S. 194. 268 | Vgl. Locher 2008, S. 558. 269 | Vgl. Jooss 2008, S. 194. Kritik kam ab den 1880ern vonseiten der Museumsreformbewegung, die die Masse der Exponate – systematische Vollständigkeit statt Anspruch auf Qualität – in den zu gleichförmig erscheinenden Museumsräumen bemängelte. Neuerungen aus dem Galeriebereich und den Sezessionen fanden dann auch im Museum der Jahrhundertwende ihre Anwendung. Zum ersten Mal wurden diese im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin umgesetzt (vgl. ebd.). Damit zeigte sich Berlin einmal mehr als progressive Kunststadt.
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Daneben wurden sie spirituell aufgeladen. Das Museum wurde zu einer ›Kirche der Ästhetik‹, 270 einem Ort der Erhebung.271 Für den Theologen Ulrich Barth drückt sich hierin sowohl eine Sakralisierung der Kunst als auch eine Ästhetisierung der Religion aus.272 Diese Ersatzfunktion für die verlorene Religion sieht Ernst Troeltsch auch noch 1913 in der Kunst: »Eine besonders wichtige Frage wäre es, der Bedeutung der Kunst in unserem Zusammenhange nachzugehen. Sie ist durch die Kunstliteraten und Ästhetiker nicht minder als durch die Künstler selbst zu einem der wichtigsten Religionssurrogate geworden.«273
Ausstellungswesen Als Ursprung der modernen, regelmäßig wiederkehrenden Kunstausstellung gelten die akademischen Salon-Ausstellungen, die ab 1737 in Paris stattfanden.274 Paris war – nicht nur zu Zeiten der Weltausstellungen275 – im gesamten 19. Jahrhundert vermutlich das wichtigste Zentrum für Ausstellungen: »Paris war um die Jahrhundertwende ein riesiger Supermarkt der Künste. Der Berichterstatter der Kunstchronik erläutert 1904: ›Es ist geradezu ungeheuerlich, wie viele Bilder und Statuen im Laufe des Jahres dem Pariser Publikum vorgeführt werden. Wenn man alle die großen und kleinen Salons und die Privatausstellungen ohne Zahl zusammenrechnen wollte, käme man sicher auf zwanzigtausend Nummern.‹ Es war nicht extrem schwierig, in einem oder mehreren der
270 | Vgl. Klotz 2000, S. 52. 271 | Vgl. ebd., S. 53. 272 | Vgl. Barth 2004, S. 225-256. 273 | Troeltsch zit. n.: Ulbricht 2006, S. 11. 274 | Vgl. das Folgende nach Jooss 2008, S. 194 f. 275 | Die Weltausstellungen zeigten eine Mischung aus Industrieprodukten, Kunst und Kunsthandwerk beziehungsweise Design in Länderpavillons. Die Tänzerin Loie Fuller bekam auf der Pariser Weltausstellung 1900 ein eigenes Theater, wo sie von elektrischem Licht in Szene gesetzt wurde (vgl. Osietzki 2001, S. 22). Krupp zeigte beispielsweise auf der Ausstellung in Chicago 1893 Kanonen, Geschosse, Panzerplatten und andere Fabrikate (vgl. Kellen 1902, S. 49 f.). Gessner erläutert zum Thema Weltausstellungen und Industrie: »Die Weltausstellung von 1867 in Paris hatte den Reigen der Monster-Ausstellungen, die nun bis zum 1. Weltkrieg folgen sollten, eröffnet. […] Die Firma Krupp übertrumpfte die ausländische Konkurrenz durch die Ausstellung eines Gußstahlblocks von 80 000 kg und einer bis dahin nicht gesehenen 1000pfündigen Kanone. Zum ersten Mal gab die Ausstellung nationalstaatlich akzentuierten sozialpolitischen und kolonialen Ambitionen Raum. So wurden in Paris ›Arbeiterfamilien‹ gezeigt, ›die unter den Augen des Publikums arbeiten und ihre natürliche Geschicklichkeit, sowie ihre Eigentümlichkeit‹ demonstrierten. Lappländer, Tartaren, Kabylen, Neger, Hottentotten, Inder, Chinesen und Japa-
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»Arbeitende Bilder« großen Salons, die jeweils mehrere Tausend Exponate zeigten, eine Ausstellungsmöglichkeit zu finden.«276
Die Weltausstellungen in Paris, wo Dieselmotoren ebenso wie Malereien gezeigt wurden, verstärkten den Eindruck von dieser Stadt als ›Kunstsupermarkt‹. 1867 vermerkten die Brüder Edmond und Jules Goncourt in ihrem Tagebuch: »Große Weltausstellung, letzter Schlag gegen die Vergangenheit. Amerikanisierung Frankreichs, Unterdrückung der Kunst durch die Industrie, wobei die kreischende Maschine die Stelle des Gemäldes (einnimmt), Nachtöpfe und Plastiken im Freien herrschen: mit einem Wort, Genossenschaft des Materialismus.«277
Weitere wichtige Großausstellungen waren der jährlich stattfindende Herbstsalon in Paris (seit 1903), aber auch die Biennale in Venedig (seit 1895).278 Ab den 1820ern boten Kunstvereine und ungefähr 30 Jahre später die Künstlergenossenschaften in Deutschland279 Ausstellungsmöglichkeiten.280 Letztere stellten den ökonomischen Aspekt des Ausstellens in den Vordergrund und präsentierten die von den Akademien wenig geschätzten Gattungen Landschaft, Genre, Stillleben und Porträt.281 Vor allem das Genre wurde hochgeschätzt, und so wurden diese Ausstellungen insgesamt als dem Zeitgeist entsprechend angesehen.282 Die Kunstvereine stärkten die Unabhängigkeit der Kunst, indem sie Ausstellungen, aber auch Ankäufe förderten.283 Großausstellungen wie im Münchener Glaspalast boten ein modernes Forum auf dem Kunstmarkt. Es entstand ein durch wenige Künstler dominierter Kunstbetrieb, der bald heftig kritisiert wurde.284 Die zentralen Kunstakademien in Berlin und Mün-
ner führten einheimische Handwerker vor, eine Entwicklung, die in der Angliederung kolonialer Sonderschauen wie z. B. 1904 in der Weltausstellung von St. Louis, wo drei Philippinen-Dörfer gezeigt wurden, gipfelte.« (Gessner 1982, S. 141 f.) 276 | Berger 1998, S. 13. 277 | Brüder Goncourt zit. n.: Thurn 1994, S. 114. 278 | Vgl. Feist 1996, S. 47. 279 | Der Eintrag zum Stichwort ›Kunstausstellung‹ in Meyers Konversations-Lexikon von 1905 fasst die Situation in Deutschland systematisch zusammen (vgl. Meyers großes Konversations-Lexikon 1905, S. 810). 280 | 1856 gründete sich die Deutsche Kunstgenossenschaft (vgl. Jooss 2008, S. 194 f.). 281 | Vgl. das Folgende nach ebd., S. 191. 282 | In den Kunstvereinen wurde vor allem die bei seinen bürgerlichen Mitgliedern beliebte Genremalerei gezeigt (vgl. Schlecking 2016, S. 23). 283 | Vgl. Scheuner 1981, S. 26. 284 | Vgl. Jooss 2008, S. 194 f.
Systeme und Diskurse
chen, aber auch in Dresden und Düsseldorf richteten jährlich große Kunstausstellungen aus, die zu den wichtigsten überregionalen Ausstellungen gehörten, auch wenn thematische Schwerpunkte der einzelnen Ausbildungsstätten präsent blieben.285 Fast gleichzeitig formierten sich in vielen europäischen Ländern Sezessionen, so etwa 1884 die Société des Artistes Indépendants in Paris und ab 1892 zunächst in München, dann in Berlin. Sie fanden ihre nationalistischen Kritiker, 286 doch bildete beispielsweise die Berliner Sezession – von der Gründung 1898 an gut besucht – wegen ihrer unabhängigen Ausstellungspolitik ein wichtiges Gegengewicht zu den staatlichen Institutionen der Akademie der Künste und dem Verein Berliner Künstler.287 Gegen den offiziellen Kunstbetrieb stellten sich auch Künstlervereinigungen wie die Gruppe der Elf, gegründet 1892 unter anderem von Max Liebermann. 1893 schlossen sich unter der Führung von Max Klein Künstler zusammen und es entstand 1896 die Ausstellungsgemeinschaft Freie Kunst.288 Außerdem veranstalteten auch Künstlerkolonien Ausstellungen – beispielsweise Ein Dokument deutscher Kunst 1901 in Darmstadt.289 Zu den Ausstellungsformen, die wie die Weltausstellungen nicht nur, aber auch Kunst zeigten, gehörten zudem Gewerbe- und Industrieausstellungen, etwa die Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung für Rheinland, Westfalen und benachbarte Bezirke 1902 in Düsseldorf.290 Dieter Gessner zu dieser Form der Ausstellungen: »Motivation, Gestalt und Funktion des modernen Ausstellungswesens sind Bestandteil des an Umfang und Intensität zunehmenden Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert. Mit der im-
285 | Vgl. Schlecking 2016, S. 23. 286 | So etwa Martin Feddersen 1894: »Dem Einfluß dieser modernen Richtung ist es zuzuschreiben, daß man für die Werke der fremden Nationen ein größeres Interesse hat, als für die Werke des eigenen Volkes, […]. Mich dünkt, es wäre doch endlich an der Zeit, mit den Sezessionisten eine ganz andere Sprache zu führen und ihnen ihren Künstlergrößenwahn und Hochmuthsteufel gehörig auszutreiben.« (Feddersen 1983, S. 161 f.) 287 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 18. 288 | Vgl. Bloch, Kunst 1990, S. 300. 289 | Neben der Ausstellung von 1901 kann auch die Ausstellung von 1914 angeführt werden (vgl. Ciré 1993, S. 460-464). Umfangreich dokumentiert und bearbeitet wurde diese Ausstellung im vierbändigen Katalog anlässlich einer Ausstellung hierzu (vgl. Darmstadt 1976). 290 | Vgl. Ciré 1993, S. 196-210, S. 244-252, S. 253-270. Koch zu dieser Form der Ausstellungen: »Das ungünstige Ergebnis der deutschen Abteilung auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 führte zu gesteigerten Anstrengungen, zunächst auf dem Binnenmarkt wieder neue Voraussetzungen für den internationalen Wettbewerb zu schaffen. Dies leistete vor allem die Gewerbeausstellung in Berlin 1879 und die im folgenden Jahr 1880 in Düsseldorf mehr als doppelt so umfangreiche Gewerbe- und Kunstausstellung der preußischen Provinzen Rheinland und
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»Arbeitende Bilder« mer stärkeren Durchdringung der Gesellschaft durch das ›Industriesystem‹ wird das ursprünglich der fördernden Schaustellung dienende gewerbliche Ausstellungswesen in einen komplexen kulturgeschichtlichen Prozess integriert. Damit werden die zu Beginn unterscheidbaren Repräsentations- und Präsentationswünsche des Staates einerseits und der Gewerbe andererseits unauflösbar miteinander verflochten.«291
Die Wandlungen infolge kapitalistischer Zeiten machten auch vor der Kunst nicht halt, wie schon die Brüder Goncourt kritisch bemerkt hatten. Neben der Heroisierung von Kunst im nationalen oder religiösen Sinne entwickelte sich mit der Präsentationsform Ausstellung eine unermessliche Schaulust, die eine – frei nach Guy Debord – Gesellschaft des Spektakels befriedigen musste.
Kunstmarkt Im Memorandum des Vereins bildende Künstler Münchens heißt es 1892: »Außerordentliche Wandlungen haben sich im letzten Jahrzehnt in der Kunstwelt vollzogen. An die Stelle behaglichen Schaffens ist ein rastloses Produzieren getreten, und die früher vereinzelten Ausstellungen folgen sich jetzt in ununterbrochener Reihe. […] Der am meisten gehörte Vorwurf, der gegen den internationalen Charakter der Ausstellungen erhoben wird, ist der der materiellen Schädigung der Münchener Künstlerschaft. […] Unterdessen hatte sich jedoch im Auslande ein mächtiger Aufschwung der Kunst vorbereitet und zahlreiche Künstler verschiedener Nationalitäten überraschten die Welt plötzlich durch eine außerordentliche Originalität
Westfalen […]. Einen neuen Wendepunkt […] stellt die 1902 wieder in Düsseldorf veranstaltete Industrie- und Gewerbe-Ausstellung für Rheinland, Westfalen und benachbarte Bezirke, verbunden mit einer Deutsch-Nationalen Kunstausstellung dar. Sie übertrifft nicht nur an Größe alle vorausgegangenen Unternehmen, sondern […] öffnet sich zugleich den neumodischen Tendenzen des Jugendstils.« (Koch 1982, S. 150) 291 | Gessner 1982, S. 145. An anderer Stelle erläutert Gessner die Anfänge dieser Verquickungen: »1835 im Zeitalter der aufsteigenden modernen Nationalstaaten war die erste belgische Gewerbeausstellung zum Symbol der soeben errungenen Unabhängigkeit geworden. Handel und Industrie repräsentierten zusammen mit der konstitutionellen Monarchie den ›esprit nationalité‹. 1847 wurden in Belgien und Frankreich an Arbeiter Medaillen mit der Aufschrift ›fraternité des classe‹ verliehen. 1849 erschienen bei der jährlichen französischen Industrie-Ausstellung – wenige Monate nach der Niederschlagung der Pariser Revolution – blumengeschmückte Transparente mit der Aufschrift ›fete du travail‹, ›culte du travail‹ und ›honneur aux travail‹. 1851 grassierte in London der Slogan von der ›dignity of labour‹, während gleichzeitig das ›Central Working Classis Commitee‹ als Auffangorganisation der zerschlagenen Chartistenbewegung vom offiziellen Organisationskomitee ausdrücklich von der Mitwirkung bei der Vorbereitung ausgeschaltet worden war.« (Gessner 1982, S. 145)
Systeme und Diskurse und Leistungsfähigkeit. […] Es galt nicht lange, so galt die Münchener Kunst im Ausland als veraltet.«292
An diesem Zitat zeigt sich, wie stark sich das Kunstsystem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verändert hatte. Die beginnende Kunstförderung durch den Staat – in Form von Akademien und Sammlungen – erschien Scheuner noch als eine Art Luxus.293 Die Entwicklung des Kunstmarktes ging mit einer grundlegenden Institutionalisierung des Kunstsystems einher, indem beispielsweise vonseiten der Künstlerschaft ab der Jahrhundertmitte eigene Publikationsorgane geschaffen und immer mehr Galerien gegründet wurden.294 Ab den 1860er Jahren wuchs nicht nur die Anzahl von Kunsthandlungen – sie spezialisierten sich etwa auf Stiche –, zur selben Zeit gründeten sich auch vermehrt Auktionshäuser.295 Für die Malerei gab es noch einige Freskenausstattungen für öffentliche Gebäude als Betätigungsfeld, zur Hauptaufgabe aber wurde der bürgerliche Wohnraum oder das Arbeiten für Ausstellungen.296 Die Salons der Akademien – vor allem in Berlin – gehörten zu den wichtigsten Verkaufsstellen für Kunst im Kaiserreich, ergänzt wurden sie später durch die Schauen der Sezessionen.297 Kunstvereine regten die bürgerliche Sammlertätigkeit an, indem sie an ihre Mitglieder Kunstwerke nach dem Lotteriesystem verlosten. Dadurch wurde die Künstlerschaft über längere Zeit unterstützt.298 Walter Grasskamp hebt die herausragende Rolle – auch als korporative Form der Kunstförderung – der Kunstvereine für den Kunstmarkt hervor.299 Der Erfolg auf Ausstellungen von Kunstvereinen galt als Indikator für den freien Markt. Der Kunstmarkt wurde im 19. Jahrhundert wie die übrige Wirtschaft auch stark internationalisiert: Zwischen 1890 und 1894 wurden 40 Prozent des Geldes während der Ausstellungen im Münchener Glaspalast von Ausländern ausgegeben, den enormen Anstieg der Preise für alte Meister schrieb man den Käufen amerikanischer
292 | Memorandum des Vereins bildender Künstler Münchens 1983, S. 158 f. 293 | Vgl. Scheuner 1981, S. 18. 294 | Vgl. Lenman 1994, S. 60. 295 | Vgl. Lenman 1993, S. 138 f. 296 | Vgl. Scheuner 1981, S. 20. 297 | Vgl. Lenman 1993, S. 135. Die Sezessionen bildeten beispielsweise einen guten Absatzmarkt für Druckgrafiken (vgl. ebd., S. 145). 298 | Vgl. ebd., S. 136. Die Kunstvereine bevorzugten hierfür in der Regel kleinere Genre- oder Landschaftsgemälde sowie Druckgrafiken als Jahresgaben für ihre Mitglieder. Kunstvereine sponserten aber auch monumentale Malerei (beispielsweise die von Alfred Rethel für das Aachener Rathaus) und Skulpturen. Sie boten vor allem Künstlern in ihren Anfängen oder halbprofessionellen Künstlern ein Forum (vgl. ebd., S. 136 ff.). 299 | Vgl. Grasskamp 1993, S. 107.
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Millionäre zu.300 Dieser kapitalistische Kunstbetrieb wurde schnell kritisch betrachtet, unter anderem vom Volkskundler Robert Mielke: »Die Kunst ist Gegenstand des Handels und der Spekulation geworden, die seinen Wert bald gewaltsam in die Höhe schrauben.« Die Kunst stehe unter der »Herrschaft modebedürftiger Industrie«301. Er konstatiert eine »starre Leblosigkeit«302 der Industriekunst. Die Kritik an den Bedingungen für die Kunst ist Teil seiner allgemeinen Modernekritik: »Mag auch die Industrie den Volkswohlstand gehoben, mag sie manchen Gegenstand der Behaglichkeit in die Hütte des Ärmsten getragen haben, den sich dieser früher selbst und unvollkommen herstellte: eine Kunst ist sie uns schuldig geblieben.«303 Die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt beeinflussten auch das Sammelverhalten der adeligen Schicht,304 an ihnen lassen sich also auch die Folgen des gesellschaftlichen Wandels ablesen. In den Anfängen der Gründerzeit spielte der Adel für die Kunstförderung noch eine wichtige Rolle.305 Ab der zweiten Jahrhunderthälfte wurde Kunst zunehmend zum Prestigeträger des Wirtschaftsbürgertums.306 Der Wandel des Lebensstils innerhalb des Bürgertums wirkte sich günstig auf die Kunstproduktion aus, da die Bürger etwa für die Ausstattungen ihrer Wohnhäuser Kunstwerke brauchten und dazu auf die billigen Angebote der Manufakturen und des Kunsthandels zurückgriffen.307 Solche privaten bürgerlichen Kunstrepräsentationen implizierten in der Regel eine Orientierung an den höfischen Geschmacksnormen.308 Das Bürgertum konnte seinem Engagement auch in Kunst- und Museumsvereinen Ausdruck verleihen. Man schloss sich in Genossenschaften oder Gemeinschaften zusammen, zu denen auch Künstler gehörten. Eine vorher nicht gekannte Medialisie-
300 | Vgl. Lenman 1993, S. 142. 301 | Mielke 1904, S. 52. 302 | Ebd., S. 58. 303 | Ebd., S. 55. Grzimek dazu: »So konnten denn die Manufakturen den Geschmack der Käuferschichten manipulieren, um sich einen Kunstmarkt zu sichern. […] Man vereinfachte eingewöhnte Motive vulgär und reagierte rasch auf alle schnell wechselnden Geschmackstendenzen. Angeboten wurden klassizistische, barocke, renaissance-inspirierte, naturalistische, jugendstilmäßige und auch sozial-kritische beziehungsweise genrehafte Bildmotive. Manufakturen kauften Modelle von Bildhauern und handelten ihnen das Recht auf Kopien nach Erfolgswerken ab. […] Die Verträge wurden so abgefaßt, daß der Künstler eine Ankaufssumme erhielt und danach mit Prozenten am Verkauf der einzelnen Ausformungen beteiligt war.« (Grzimek 1978, S. 399 f.) 304 | Vgl. Hardtwig 1993, S. 93. 305 | Vgl. Klotz 2000, S. 202. 306 | Vgl. Jooss 2008, S. 191. 307 | Vgl. Grzimek 1978, S. 389. 308 | Vgl. ebd., S. 373.
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rung und Kommerzialisierung prägte nun den Kunstbetrieb.309 Teil hiervon wurde ein bürgerliches Mäzenatentum, das nach Manuel Frey die Folge eines ausgeprägten Willens zur gemeinschaftlichen Teilhabe an öffentlichen Belangen war. Es gehörte zur allgemeinen Entwicklung des Bürgertums und seines Selbstverständnisses, dass Kunstförderung zu einem wichtigen Bestandteil seiner Identitätsfindung wurde. Frey betont, mäzenatisches Handeln sei abhängig von den Tugendvorstellungen des 19. Jahrhunderts, etwa von dem von zeitgenössischer Seite propagierten Bürgersinn.310 Das Bürgertum wollte sich beispielsweise durch das Mäzenatentum vom lasterhaften Adel abgrenzen311 – das mutet paradox an, da der Adel in anderen Belangen als Habitusvorbild diente. Das Bürgertum ließ in der Übernahme des adeligen Habitus Bilder von sich entwerfen, die einmal mehr Produkte künstlerischer beziehungsweise gesellschaftlicher Aneignung waren: Selbsterhöhung durch Pracht, aber gepaart mit vermeintlicher moralischer Integrität. Die gesellschaftliche Entwicklung schwankte zwischen den Polen Elitenbildung und Demokratisierung. Eliten dienten der Stabilisierung der eigenen sozialen Position und zur Abgrenzung nach unten und oben.312 Damit wurden dieselben hierarchischen Strukturen wie schon vor der bürgerlichen Gesellschaft gelebt.313 Der Künstlerberuf gehörte zu den freien, selbstständigen Berufen. »Die sozialen Erfahrungen des Künstlers resultieren nunmehr aus der Tätigkeit als Produzenten für den anonymen Kunstmarkt oder aus der direkten Begegnung mit bewundernden oder kritischen Käufern. Weitreichend lud sich die Produktionsform des Ästhetischen mit einer paradigmatischen Individualität schlechthin auf. Der von den neuen bürgerlichen Trägerschichten geprägte Markt verlangte nach der ästhetischen Darstellung des Idealen und erhob die in der bildungsbürgerlichen Kultur kommunizierten Bildwelten in den Rang eines Kultes.«314
309 | Vgl. Jooss 2008, S. 189. 310 | Vgl. Frey 1999, S. 13 f. 311 | Vgl. ebd., S. 232. Im Tugenddiskurs der Spätaufklärung suchte man in den Beziehungsnetzwerken ein Gegenmodell zum monarchischen Ständestaat (vgl. ebd., S. 234). Die Tugendhaftigkeit des Bürgertums war ein vielproklamiertes Prinzip, etwa in Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, der sich auch durch die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels und nicht nur durch das Thema abgrenzen wollte. 312 | Vgl. ebd., S. 233. 313 | Jooss sieht in der bürgerlichen Selbstorganisation im Kunstbereich einen Faktor zur Ausbildung moderner, demokratischer Strukturen (vgl. Jooss 2008, S. 190). 314 | Ruppert 1998, S. 85 f.
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Mit adeliger Patronage konnten nur wenige Künstler rechnen.315 Es existierte eine gewaltige Überproduktion von Kunst, sodass nur wenige Künstler (wirtschaftlich) erfolgreich waren, sich diese Kunst überwiegend käuferfreundlich geben musste und dem Experiment wenig Raum ließ. 316
3.3.2 Gattungsübergreifende Diskurse Die Diskursinhalte des Untersuchungszeitraums kreisen allgemein etwa um Fragestellungen zum Künstlerbild, aber auch um solche, die genuin mit dem 19. Jahrhundert verbunden sind, etwa die Theorien zum Naturalismus/Realismus oder zum Begriff des Stils. Kernpunkt dieser Untersuchung – Skulptur als Aktant und als Produzentin von Wirklichkeit – ist das Verhältnis von Kunst beziehungsweise Künstlern und Wirklichkeit. Dementsprechend wird im Folgenden dargestellt, welches Potenzial Künstlern beziehungsweise Kunst im zeitgenössischen Diskurs zugeschrieben wird. Dieser Diskurs ist geprägt von der Annahme, dass Künstler infolge eines immer noch virulenten Geniebegriffes als Weltveränderer, Schöpfer, gar Führer mittels Kunst agieren. Ausgehend von einer Wirkkraft der Kunst (sei es im Topos der Kunst als Erzieherin oder Erlöserin, sei es in ihrer suggestiven Schönheit) werden Inhalte und Formen – oftmals Ideale – von Kunst entworfen, die sich in Debatten über darstellenswerte Themen (Realismus/Naturalismus) und angemessene Ausprägungen (Stil) äußern und die zugleich auch die Funktion von Kunst in der Gesellschaft (Stichwort L’art pour l’art) verdeutlichen. Um diese Debatten für sich sprechen zu lassen, wird im Folgenden häufig das wörtliche Zitat verwendet.
Künstlerbilder »Uns sind die genialen Menschen die natürlichen Führer und Gesetzgeber ihres Volkes.«317
Die Neudefinition des künstlerischen Selbstverständnisses gilt gemeinhin als ein zentrales Thema der Romantik. Doch schon damals klafften nach Werner Busch Kunst und Wirklichkeit auseinander.318 Das Selbstbild moderner Künstler geht einher mit
315 | Vgl. Busch 1982, S. 9. 316 | Vgl. Klotz 2000, S. 202. Zu den erfolgreichen zählten beispielsweise Franz von Lenbach, Franz von Stuck oder Hans Makart (vgl. Klotz 2000, S. 198-202). 317 | Pecht zit. n.: Bringmann 1983, S. 265. 318 | Vgl. Metzger 2003, S. 9.
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der Entwicklung hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert.319 Wilhelm Arenhövel bespricht in seiner Dissertation von 1936 unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten, die etwa Teil einer bürgerlichen Welt sind. Er charakterisiert sie folgendermaßen: »Extravaganzen, Isolierung, Eigentümlichkeiten lagen ihnen ebenso fern wie überbetonter Persönlichkeitskult.«320 Schon in der folgenden Generation erkennt Arenhövel die Loslösung von gesellschaftlichen Strukturen wie Familie oder Volk.321 Er sieht eine direkte Beziehung zwischen der Anerkennung des künstlerischen Schaffens durch die Gesellschaft und der Stellung in der Gesellschaft.322 Sein Hauptaugenmerk legt er so auf das Verhältnis von Gesellschaft und Künstler. Deren Lebensanschauung beschreibt er so: »Die allgemeine Haltung der hier betrachteten Zeit wurzelte einerseits noch tief in dem klassizistisch-humanistischen Bildungsideal und andererseits in dem durch die Romantiker geschaffenen, in Kunst, Literatur und Philosophie noch herrschenden Gesetze von der Erhaltung und dem Werte der Schönheit. Aber auch materialistische Gedankengänge begannen bereits sichtbar zu werden. Die Künstler jedoch hatten noch lange dieser inneren Verflachung mancherlei Widerstände entgegenzustellen.«323
Die Folge davon beschreibt er im Kapitel Politik und Tagesprobleme: »Mit Politik pflegten sich die Künstler überhaupt nicht zu beschäftigen.«324 Künstler des 19. Jahrhunderts, anders als in der jüngsten Vergangenheit, seien unpolitisch, würden sich gegen das Profane, die innere Verflachung, wehren und arbeiteten unter der Maxime des L’art pour l’art: »So leben heute wie damals die Künstler mit einer oft kaum zu überbietenden Gleichgültigkeit in den Tag hinein. Und Armut und Reichtum sahen die Künstler wohl immer unter einem ganz eigenen Gesichtswinkel.«325 Eine Untersuchung zur ›Künstlerpersönlichkeit‹ in dieser Art mag heute befremdlich erscheinen, denn Arenhövel will Aussagen über die Entwicklung der Kunst des 19. Jahrhunderts fällen, um dabei »auf die rein formalistische Analyse von Kunstwerken zu verzichten und statt dessen zu versuchen, die Voraussetzungen und Hintergründe, die in der Persönlichkeit der Schöpfer dieser Werke liegen, herauszuarbeiten.«326 Als Quelle ist die Dissertation aus den beginnenden 1930ern von Aren-
319 | Vgl. Ruppert 1998, S. 85 und Hofstätter 1965, S. 19 f. 320 | Arenhövel 1936, S. 82. 321 | Vgl. ebd., S. 83. 322 | Vgl. ebd., S. 86. 323 | Ebd., S. 12. 324 | Ebd., S. 80. 325 | Ebd., S. 34. 326 | Ebd., S. 1.
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hövel, Schüler von Martin Wackernagel, der einer der Väter der Kunstsoziologie war, dennoch interessant. Es zeigt sich, dass auch in den 1930ern – beziehungsweise immer noch oder in diesem Fall: gerade in dieser Zeit – Künstler als ›Schöpfer‹ stilisiert wurden. In einer Zeit als die Avantgarde affektiert bescheiden die Rolle als Ingenieure einer Neuen Welt für sich beanspruchte und sich die Qualität von Kunst aus den darin verwirklichten höheren Zielen – etwa für die Volksgemeinschaft – ablesen lässt. Formulierungen wie die von Wolfgang Ruppert lassen indes auch noch viele Jahrzehnte später ein idealisierendes Künstlerbild erkennen: »Der moderne Künstler nahm die in der zeitgenössischen Kultur verborgenen Ambivalenzen auf und versuchte das Uneindeutige und Nichtaussprechliche zu artikulieren.«327 Ruppert definiert den ›modernen Künstler‹ »als ein Individuum, das seine gesteigerte subjektive Empfindung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht.«328 Er verweist wie viele andere auf die sozialen und damit auch ökonomischen Veränderungen, denen sich Künstler im 19. Jahrhundert stellen mussten: »Ihre schöpferische Einbildungskraft richtete sich auf die veränderten Bedingungen aus und schuf eine visuelle Kultur der Sinne, an der die Kunstkonsumenten als Käufer und, ihrer Bildung entsprechend, als Rezipienten teilhaben konnten.«329 Künstler mussten sich der Ästhetik des Durchschnittsbürgers und den Prinzipien wirtschaftlicher Tüchtigkeit beugen.330 Das künstlerische Genie blieb dennoch auch zum Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Topos: »Uns sind die genialen Menschen die natürlichen Führer und Gesetzgeber ihres Volkes, der große Meister ist uns die letzte und höchste Consequenz einer langen Entwicklung. […] Als solche wollen wir ihn auch in der Gallerie sehen, umgeben von all seinen Vorgängern und Genossen«331,
so der zeitgenössische Kunstschriftsteller Friedrich Pecht. »Anstelle des bislang hegemonialen Konzeptes der historistischen Geschichtlichkeit konsolidiert sich nun eine neue Version des Künstlerhabitus. Das ›Neue‹ als das noch nicht Dagewesene wurde vollends kultfähig und zu einem Prädikatskriterium für das künstlerische Werk erhoben.«332
327 | Ruppert 1998, S. 235. 328 | Ebd., S. 232 f. 329 | Ebd., S. 85. 330 | Vgl. Hofstätter 1965, S. 20. 331 | Pecht zit. n.: Bringmann 1983, S. 265. 332 | Ruppert 1998, S. 278.
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Geniekult – wie auch die Wissenschaften – wurde zu einem Argument gegen die Ständegesellschaft.333 Die Künstlerateliers konnten zu gesellschaftlichen Orten avancieren.334 Dazu gesellte sich das Bild von Künstlern als intellektuelle, sich selbst inszenierende Außenseiter.335 Die Selbst- und Fremddarstellung von Künstlern als Bohemiens entsprach jedoch oftmals nicht den realen Lebensumständen und war Teil einer inszenierten Weltflucht:336 »Man sah das ›Poetische‹ grundsätzlich im Gegensatz zur ›Prosa des täglichen Lebens‹, d. h. der Arbeit und des Geldverdienens. Man wollte auch nicht einfach ein Glas Wein trinken, sondern köstliches Naß aus güldenen Pokalen schlürfen.«337 Der Künstler als Lohnarbeiter stand dem Künstler als Genie gegenüber. Kunstgewerbler – ein neuer Berufszweig infolge der Industrialisierung – waren davon weniger betroffen,338 was sicherlich mit dem herrschenden Kunstbegriff zusammenhing, der eine Trennung von Kunsthandwerk und sogenannter hoher Kunst vorsah. Diese neue Bewegung verband sich vor allem mit einer Abkehr vom Historismus339 und vom Glauben an die Ästhetisierungsfähigkeit von Technik. »Der Künstler bemächtigte sich des Lebens«340, so Joseph August Lux 1908. Künstler dieser Generation, etwa Peter Behrens, suchten nach einem adäquaten ästhetischen Ausdruck für den modernen Menschen.341 »Der Künstler ist seiner innersten Essenz nach glühender Individualist, freier spontaner Schöpfer.«342 Sätze wie diese zeigen, dass zu dieser Zeit das Künstlergenie gefordert wurde und die Kunstgewerbebewegung dieselben, etablierten Rollenbilder für sich beanspruchten. Künstler waren aber keineswegs nur Individualisten, sondern schlossen sich wie schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vermehrt in Gruppen zusammen. Sie gründeten sich etwa in konkreter Abkehr zu Organisationsstrukturen, auch wenn sie dadurch wieder eine Organisationsform ausbildeten. Ein Beispiel dafür sind die
333 | Vgl. Grzimek 1978, S. 364. 334 | Vgl. Klotz 2000, S. 200. 335 | Vgl. Wittkower et al. 1989; vgl. auch Kris et al. 2008. 336 | Vgl. Ruppert 1998, S. 191. Gespeist wurden solche Vorstellungen durch Maler wie Franz von Stuck, der nur im Gehrock malte und den Malerkittel ablehnte (vgl. Klotz 2000, S. 198). 337 | Ahlers-Hestermann 1956, S. 21. 338 | Vgl. Ruppert 1998, S. 149. 339 | Ebd., S. 541. 340 | Lux 1908, S. 121. 341 | Vgl. Ruppert 1998, S. 278. 342 | Van de Velde zit. n.: Klotz 2000, S. 238.
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in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Künstlerkolonien.343 Sie werden als Gegenreaktion auf bestehende Verhältnisse gedeutet: »Maßstablosigkeit zeigte sich im politischen wie im künstlerischen Bereich, und daraus folgte eine allgemeine Unruhe. Im Bewußtsein dieser kritischen Situation fanden sich nach 1880 die ersten außerakademischen Gruppierungen von Malern und Bildhauern zusammen. Die Künstler stellten Harmonie und Pathos in Frage und suchten die Grenzen des Ästhetischen zu erweitern.«344
Positionen zum Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts »Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. […] Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, […] des Handelnden, […] des Leidenden.«345
Der Kunstbegriff ist fast immer ein Ideal von Kunst. Dementsprechend werden ganz allgemeine Aussagen über Kunst getätigt, deren Gehalt überzeitlich erscheint, die aber in ihrer Entstehung historisch sind. Zudem kommt es zu Aussagen, die sich in ihren Inhalten und Formulierungen als Reaktion auf konkrete Umstände lesen lassen und so eine kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Phänomen dokumentieren, die von den Autoren oftmals mit einer normativen Stoßrichtung verbunden wurden. Beide Formen sind nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden. Das konstatierte Ideal von Kunst berührt alle Bereiche: Gattung, Ikonografie, Gestaltung und das Verhältnis von Kunst zur Wirklichkeit, etwa im Sinne der Funktion von Kunst. Allgemeine Aussagen sind dabei eher bei Kunsttheoretikern und Künstlern zu finden, zeitbezogene Aussagen werden in erster Linie von der Kunstkritik formuliert. Nach Ingrid Koszinowski war der Kunstbegriff bestimmt durch eine »Neubestimmung des Inhaltes von Erziehung und Bildung auch unter dem nationalen Aspekt einer geistigen Identität nicht nur des Bürgertums, sondern der Nation im neuen deutschen Reiche […]. Denn entsprechend dem Kunstverständnis dieser Zeit wurde nicht allein das individuell-schöpferische Element, sondern auch der sich hierin äußernde ›Zeitgeist‹ betont, d. h. die
343 | Wietek spricht von einer ungewöhnlich großen Zahl von Künstlerkolonien in Deutschland (vgl. Wietek 1976, S. 6). 344 | Grzimek 1978, S. 391. 345 | Nietzsche zit. n.: Kultermann 1987, S. 187.
Systeme und Diskurse Funktion der Kunst als Kristallisierung gesellschaftlicher und politischer Ideale wurde von den damals führenden Kritikern mit allem Nachdruck hervorgehoben.«346
Die Verbildlichung des Zeitgeistes lässt sich auch mit den Idealen einer bürgerlichen Kunst verbinden. Für das bürgerliche Kunstverständnis waren vor allem Friedrich Schillers Ideal einer ästhetischen Gemeinschaft, die romantische Verklärung der Kunst und das aufkeimende Nationalbewusstsein von Bedeutung.347 Die Idee der Kulturnation war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Ersatz für den herbeigesehnten, aber erst viele Jahrzehnte später realisierten Nationalstaat.348 Pecht war von der Wirkkraft der Kunst, also ihrer Fähigkeit, Geist und Sinne der Betrachter zu bewegen, fest überzeugt. An dieser Wirkkraft lasse sich der Wert eines Kunstwerkes messen.349 Pecht, so Michael Bringmann, vertrat die Meinung, »Kunst müsse nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ›für Alle‹ da sein. Moderne Präsentationsformen von Kunst seien nicht nur ›die Wallfahrten der Unbemittelten‹ – also ohne großen Aufwand erreichbare Ansammlungen von Kunstwerken, sondern zugleich auch ›die Kirchen der modernen Zeit‹.«350
Im Grenzboten sprach man sich ebenfalls für eine Kunst für alle aus: »So wenig die Kunst ein bloßes Reizmittel für die blinde Menge ist, so wenig soll sie eine bloße Liebhaberei reicher Privatleute sein; sie ist vielmehr vor allem Angelegenheit des Volkes, das heißt nicht der Masse, sondern derjenigen, welche nicht in die kleinlichen Interessen des täglichen Daseins versunken, noch Sinn haben für die großen, das Einzelne in sich fassenden Züge des ganzen Menschenlebens.«351
Ganz im Sinne seiner Zeitschrift Kunst für Alle formulierte Pecht zudem: »Denn unsere Bevölkerung ist die Kunst Herzens- nicht Verstandessache, sie will sich an den Kunstwerken freuen, nicht ihren Witz auf Kosten derselben glänzen lassen.«352 Auch Maler wie Franz von Lenbach vertraten die Auffassung, Kunst sei in erster Linie des Genusses und erst in zweiter Linie der historischen Belehrung – diese galt als Aspekt
346 | Koszinowski 1983, S. 289 f. 347 | Vgl. Jooss 2008, S. 189. 348 | Vgl. Mai und Waetzold, Einleitung 1981, S. 9. 349 | Vgl. Bringmann 1983, S. 266. 350 | Pecht zit. n.: ebd. 351 | O. A. 1865, S. 9. 352 | Bringmann 1983, S. 269.
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des Verstandes – wegen zu schaffen.353 Hierzu konnte etwa die Genremalerei ihren Beitrag leisten, die von Jacob Burckhardt als Kunst für das Volk bezeichnet wurde. 354 Hans Tietze schreibt 1913 in seiner Methode der Kunstgeschichte: »[E]in objektiver Wertmaßstab ist also nur aus dem ursprünglichen Zweck des Kunstwerks zu finden. Dieser Zweck ist die Wirkung; um der Wirkung willen wird das Kunstwerk geschaffen. […] sie macht aus einer individuellen Tätigkeit eine soziale Funktion und bedingt erst den historischen Charakter eines Kunstwerks.«355
Der Kunstwart informierte seine Leser nicht nur über gesundheitsfördernde Maßnahmen wie das Rasten in der Natur, Sport oder Abstinenz, um sie lebenstüchtig zu machen, sondern strebte auch eine »gesunde Kultur [an], deren Erscheinung wahr und klar und erfreulich ausdrücke, was ist, die dadurch erkennen lasse, ob es auch gut sei, eine Kultur also, die unser Leben erfreulich, gesund und sittlich gestalte.«356 Eine Kunst fürs Volk zeichnete sich nach Julius Langbehn durch Folgendes aus: »Es ist nicht wünschenswert, daß Deutsche oder gar Ausländer sich mit Vorliebe in größeren Zentralpunkten der Kunst in Berlin oder Düsseldorf oder München zusammenfinden, zuweilen auch zusammenfilzen und dort nach der gerade herrschenden Mode malen: […]. Darin liegt nicht die wahre Methode. […] Eine rechte Kunst kann nur aus dem mannigfach nuancierten und doch in sich einheitlich verbundenen Volkscharakter erstehen. […] Die Pariser Kunst entbehrt sehr das französische Provinzleben; sie wechselt zwischen Demimonde und Proletariertum, zwischen Patchouli und Holzschuhen; und in der Münchener Kunst weiß man wenig von Hamburg. Es fehlen hier wie dort die innigen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Volksorganismus. Geist der Individualität ist Geist der Scholle. Die Kunst bedarf des Lokalismus und des Provinzialismus.«357
Und weiter heißt es: »Bisher hat man vielfach in Deutschland die Kunst von oben herab betrieben; versuche man es einmal von unten herauf; die Ergebnisse werden besser sein. […] Nicht oft genug kann es wiederholt werden: an die Kunstgesinnung der alten Zeiten soll man sich halten, nicht an ihre Kunstleistungen; man soll die letzteren niemals im einzelnen nachahmen. Die moderne Zeit
353 | Vgl. ebd., S. 265. 354 | Vgl. Genge und Stercken 1999, S. 50. 355 | Tietze zit. n.: Bringmann 1983, S. 267. 356 | Kratzsch 1983, S. 383. Für die Architektur forderte der Kunstwart eine auf Sachlichkeit ausgerichtete Gestaltung, wie sie ab 1907 im Werkbund vertreten wurde (vgl. ebd., S. 384). 357 | Langbehn 1922, S. 68.
Systeme und Diskurse hat moderne Bedürfnisse und braucht eine moderne Kunst. Eine moderne Kunst aber kann nur gedeihen, wenn sie zugleich in sich das Gegengewicht des Bleibenden, Festen, Notwendigen, Angeborenen, Ewigen trägt. Dies ist nicht in etwaigen früheren künstlerischen Erzeugnissen des Volkscharakters – welche auch ihre Zeit hatten, in der sie einmal modern waren – sondern nur in der lebendigen Quelle des heutigen deutschen Volkscharakters zu finden.«358
Formen und Inhalte vor allem von zeitgenössischer Kunst boten ständige Auseinandersetzungspunkte. Max Liebermann bemühte sich um einen differenzierteren Kunstbegriff: »[G]ute Malerei ist nur die, die gut gedacht ist.«359 Aber: »Die Phantasie in der bildenden Kunst geht von rein sinnlichen Voraussetzungen aus. […] Sie ist das notwendige Kriterium für jedes Werk der bildenden Kunst, für das idealistischste wie für das naturalistischste.«360 Der Redakteur der Deutschen Kunst- und Musikzeitschrift Otto von Kapff formulierte angesichts der für ihn abstoßend hässlichen, stumpfsinnigen Bauern eines Gustave Courbet 1884: »Wo ist die Wahrheit? lautet eine alte Frage. Wer möchte sie nicht wiederholen im Angesicht der verschiedenartigen, oft so wunderlichen Erscheinungen, welche das Bestreben nach Lebenswahrheit in unserer modernen Kunst, insbesondere in der Malerei hervorruft. Alle Kunst muss lebenswahr sein, steht auf dem geduldigen Papier der Lehrbücher über Ästhetik. Kein Postulat dieser im Ganzen recht unfruchtbaren Wissenschaft ist so ganz willkürlich ausgelegt worden, wie dieses.«361
Es setzten sich Begriffe wie ›Tendenzkunst‹ oder ›Armeleutemalerei‹ durch.362 »Haben wir überhaupt noch eine ideale Welt, oder den Glauben an eine ausgleichende Gerechtigkeit? […] Soll aber die Kunst ein Spiegel sein, so muß sie dasselbe mit seinen Idealen und seiner mehr oder weniger rauen Wirklichkeit nicht nur verstehen, sondern auch im Stande sein, es täuschend getreu und zugleich erfreulich wiederzugeben. Ihr Können ist also nicht weniger wichtig als ihr Wollen, der Spiegel muß klar, scharf und ungetrübt wiedergeben, wenn es seinen Beruf erfüllen soll.«363
So beschreibt es Pecht 1888 in einem ähnlichen Tenor. Kurz darauf formuliert er noch deutlicher, was er von den modernen Themen hält:
358 | Ebd., S. 88 f. 359 | Liebermann zit. n.: Imiela 1972, S. 261. 360 | Ebd., S. 262. 361 | Kapff 1983, S. 145. 362 | Vgl. Schlecking 2016, S. 287. 363 | Pecht 1888/89, S. 291.
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»Arbeitende Bilder« »Daß aber überhaupt so oft schmutzige Proletarier an die Stelle des einst so charakteristischen Bürger- und Bauernstandes getreten sind, daß die tragische Muse jetzt in Lumpen statt auf dem Kothurn einherschreitet, das ist offenbar nur eine Mode, denn Hunger und Elend sind an sich noch nicht tragisch, sie können nur bei hervorragenden Charakteren dazu gesteigert werden und diese sind dann eben keine Proletarier mehr, so wenig als Vollmar, Bebel oder Liebknecht.«364
Im Jahr 1895 hält Georg Hirth in seinem Text Wie Bilder betrachtet sein ›wollen‹ dem entgegen: »Die Zahl der künstlerischen ›Probleme‹ ist Legion, es ist falsch, diese Unzahl zu beschränken, die Kunst in ein ästhetisches Korsett einschnüren zu wollen«. 365 Diese Sichtweise lässt sich durchaus mit Arthur Schopenhauer vergleichen: »Weder irgend ein Individuum, noch irgend eine Handlung kann ohne Bedeutung seyn: […]. Darum ist kein Vorgang des Menschenlebens von der Malerei auszuschließen.«366 Die Gartenlaube berichtet 1883 über die Umnutzung von Schlössern als Fabriken und schreibt: »Lassen wir die Romantik in Frieden fahren. Dafür weht uns der Hauch einer gesünderen Poesie entgegen; es ist die Poesie der Arbeit.«367 Eine solche ›Poesie der Arbeit‹ erschien in dieser Zeit weit weniger problematisch als eine Poesie für die Arbeiter: »Künstlerische Produkte, eigener Umgang mit Kunst […] und Hilfen zum Kunstverständnis waren, wenn sie überhaupt bei den Erwägungen und Bemühungen der Sozialreformer eine Rolle spielten, Hilfsmittel im Rahmen einer umfassenden Arbeiterbildung. Diese wiederum sollte zur geistigen wie materiellen Hebung der Arbeiterschaft beitragen und gleichzeitig dem Ziel dienen, die neu entstandene, potentiell systemsprengende Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren.«368
Hierfür gründeten sich Gruppen, etwa die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, die sich für die Herstellung billiger Reproduktionen berühmter Kunstwerke und belehrender Bildserien einsetzte.369 1901 bemühte sich Max Osborn in seinem Text Das Volk und die bildende Kunst, eben jenes beispielsweise durch volkstümliche Kunstausstellungen für die Kunst zu gewinnen: »Denjenigen, welche ›im härtesten Lebenskampfe stehen‹, sollen sich nach Osborn mit der Kunst ›neue und edle Freuden‹
364 | Pecht 1890/92, S. 354. 365 | Hirth 1983, S. 164. 366 | Schopenhauer 2014, S. 174. 367 | Artikel Deutschlands große Industriewerkstätte in der Gartenlaube zit. n.: Kratzsch 1983, S. 372. 368 | Reulecke 1982, S. 83. 369 | Vgl. ebd., S. 88.
Systeme und Diskurse
erschließen.«370 1898/99 fand zum ersten Mal im Berliner Rathaus eine volkstümliche Kunstausstellung mit Gemälden statt, die bewusst soziale Themen ausschloss:371 »Doch bei all solchen und ähnlichen Versuchen einer ›Popularisierung der Kunst‹ betonten die bürgerlichen Volks- und Arbeiterfreunde immer wieder, daß es ihnen hierbei nicht um die Kunst als Kunst gehe, erst recht nicht um eine bloße Volksunterhaltung durch Kunst, sondern um Volkserziehung!«372
Hermann Schulze-Delitzschs (von Friedrich Engels spöttisch als ›Sparkassenmännchen‹ betitelt) Vorschläge, Arbeiter sollten ihre Lage durch Sparen verbessern und die bürgerliche Seite mehr Bildungsbemühungen zeigen, wurden 1862 von einem 23-jährigen Schuster folgendermaßen kommentiert: »Wir wollen der Fortschrittspartei sagen, daß sie sich nicht bloß um Volksbildung kümmern soll, daß sie in erster Linie auch die materiellen Interessen im Augen haben muß, […]. Es ist also hohe Zeit, daß die Fortschrittspartei, […] sagen wir, sich an die Lösung der sozialen Frage zu machen. […] Einige Gelehrte haben uns zwar bewiesen, der allgemeine Wohlstand wäre fort und fort im Zunehmen; wir vermögen nicht, ihnen bei ihren Theorien zu folgen, das aber wissen die Arbeiter genau, daß die Niedrigkeit ihres Verdienstes und die Höhe des Preises aller unentbehrlichen Lebensbedürfnisse mit jedem Jahre in ein größeres Mißverhältnis geraten. Fragen wir: was hat die Demokratie zur materiellen und geistigen Hebung des leidenden Volkes getan? Wir antworten: im Großen und Ganzen nichts. Manche werden sich freilich in die Brust werfen und sagen: wir haben viel zur Hebung des Arbeiterstandes getan, kennt ihr nicht die Volksbibliotheken, die Bildungs- und mildtätigen Vereine, die wir gegründet haben, kennt ihr nicht Schulze-Delitzsch und seine Theorien? Die Arbeiter kennen und schätzen das Alles, aber sie haben keine Zeit, die Volksbibliotheken zu benutzen, denn sie müssen um das tägliche Brot viel arbeiten. […] Die mildtätigen Vereine sind für Bettler und nicht für Arbeiter.«373
1896 verschriftlichte Franz Mehring die Ergebnisse des Gothaer Parteitages zum Thema Kunst und Proletariat, die im publizistischen Sprachorgan der SPD Die Neue Zeit veröffentlicht wurden:
370 | Schlecking 2016, S. 301. 371 | Vgl. ebd., S. 301 f. 372 | Reulecke 1982, S. 90. 373 | Unbekannter Schuster zit. n.: Tennstedt 1983, S. 175. Die Lage der Arbeiter wurde nach Nipperdey im Kaiserreich unter Bismarcks gemäßigter Sozialpolitik – vor allem das Versicherungswesen – und bürgerlicher Wohlfahrt allenfalls gemildert, aber keineswegs so grundlegend verbessert, dass nun die soziale Frage gelöst war (vgl. Nipperdey 1998, S. 352 f.).
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»Arbeitende Bilder« »Im Gegenteil: die Sorte der Kunst, an welcher sich die heutige Bourgeoisie vergnügt, verachten die Arbeiter schlechthin, während sie in der modernen Kunst doch immer eine sehr beachtenswerthe Erscheinung sehen, wofür nicht zuletzt gerade die leidenschaftliche Heftigkeit ihres Widerstandes spricht. […] Nach unseren praktischen Beobachtungen läßt sich der Gegensatz dahin zusammenfassen, daß die moderne Kunst einen tief pessimistischen, das moderne Proletariat aber einen tief optimistischen Grundzug hat. Jede revolutionäre Klasse ist optimistisch.«374
Und weiter: »In diesem Sinne ist jeder klassenbewußte Arbeiter ein Optimist: er sieht voll froher Hoffnung in die Zukunft, und er schöpft diese Hoffnung gerade aus dem Elend, das ihn umgiebt. Dagegen ist die moderne Kunst tief pessimistisch. Sie kennt keinen Ausweg aus dem Elend, das sie mit Vorliebe schildert. Sie entspringt aus bürgerlichen Kreisen und ist der Reflex eines unaufhaltsamen Verfalls, der sich in ihr getreu genug widerspiegelt. Sie ist in ihrer Weise, und soweit sie nicht bloße Modenarrheit ist, ehrlich und wahr; […] Was ihr vollständig fehlt, ist jenes freudige Kampfelement, das dem klassenbewußten Proletariat das Leben des Lebens ist. Wo es einmal auftaucht oder aufzutauchen scheint, wie in Hauptmanns Webern, da wird es sofort aufs Feierlichste verleugnet.«375
Auch Mehring sieht in der modernen Kunst eine ›Armeleutemalerei‹, zwar unter anderen Vorzeichen, aber doch mit demselben Ergebnis: einer Abwertung von Kunst. Kunst sei Ausdruck einer bürgerlichen Ideologie: »Das Ideal der ›reinen Kunst‹ ist überhaupt ein Erbtheil der reaktionärromantischen Schule, das jede revolutionäre Klasse nur sehr mit Vorbehalt antreten wird. Es ist mindestens ebenso einseitig, wie die Moralsexerei einseitig war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert begann. Sollte den ästhetischen Anschauungen der modernen Arbeiterklasse wirklich noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, so braucht sie sich dessen gar nicht zu schämen. […] Früher waren die Vertreter der ›reinen Kunst‹ auch offenherzige Reaktionäre und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß sie der Himmel weiß welche Revolutionäre seien.«376
Er fährt fort: »Wie soll sich das Proletariat für eine Kunst begeistern, die in sehr unkünstlerischer Tendenz nichts von dem wissen will, was sein eigenstes und ursprünglichstes Leben ist! […] Die moderne
374 | Mehring 1896-1897, S. 129. 375 | Ebd., S. 130. 376 | Ebd., S. 131.
Systeme und Diskurse Kunst ist bürgerlichen Ursprungs. Wir rechnen es ihr nicht zur Schande an, daß sie ihren Ursprung nicht verleugnet, daß sie sich je länger je mehr in die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft rückwärts konzentriert. […] Was wir verlangen, ist nur, daß die starken Vorbehalte, welche die arbeitende Klasse gegen die moderne Kunst macht, nicht an falschem Orte gesucht werden. Sie liegen nicht in irgend einer Rückständigkeit des Proletariats.«377
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral – in diesem Sinne hatte bereits der zitierte Schuster argumentiert und dementsprechend formuliert es auch Mehring: »Man muß sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen. Die Versuchung dazu liegt ja sehr nahe, wenn man die hohe Bedeutung erwägt, welche die Kunst für den Emanzipationskampf ganz besonders auch des deutschen Bürgerthums gehabt hat. Indessen wenn die bürgerliche Klasse in Deutschland ihr Heldenzeitalter auf künstlerischem Gebiete gehabt hat, so doch nur, weil ihr der ökonomische und politische Kampfplatz verschlossen war. Dagegen steht dieser Kampfplatz dem modernen Proletariat wenigstens bis zu einem gewissen Grade offen, und es ist ebenso natürlich wie nothwendig, daß es hier seine Kräfte zusammenfaßt. So lange es in diesem heißen Kampfe steht, kann und wird es keine große Kunst aus seinem Schooße gebären. […] Heute hat die arbeitende Klasse aber kein Geld, Theater zu bauen, und der moderne Absolutismus, der ihr den Kampf auf dem Gebiete der Wirklichkeit nicht mehr versagen kann, kühlt wenigstens sein Müthchen, indem er ihr die Welt des schönen Scheins hermetisch verschließt. Die Arbeiterklasse, die auf ökonomischem und politischem Gebiete täglich neue Siege über den Kapitalismus und die Polizei erficht, ist ohnmächtig gegen diese erhabenen Mächte auf künstlerischem Gebiete. […] Es steht dieser Kunst mit gelassener Kühle gegenüber, nicht weil es ihre hehren Geheimnisse nicht zu fassen vermag, sondern weil sie nicht entfernt heranreicht an die historische Größe des proletarischen Emanzipationskampfes.«378
Naturalismus/Realismus »Der realistische Maler. ›Treu die Natur und ganz!‹ − Wie fängt er’s an: Wann wäre je Natur im Bilde abgethan? Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! − Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. Und was gefällt ihm? Was er malen kann!«379
377 | Ebd., S. 132. 378 | Ebd., S. 132 f. 379 | Nietzsche 1887, S. 18.
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Zu den bestimmenden Diskursen der Kunst des 19. Jahrhunderts gehörten der um den Naturalismus/Realismus und Idealismus sowie die damit einhergehende Frage nach dem künstlerischen Zugriff auf Welt. Politisch formuliert ist damit die Frage nach Weltveränderung oder Weltflucht, Negation oder Affirmation gemeint, auch wenn Autoren wie Mehring der Kunst im Dienste des Klassenkampfes eine Absage erteilten. Künstler werden dennoch auch als Revolutionäre befragt – ein Topos, wie er schon bei Schiller auftaucht: »Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust […]. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.«380
Es entstand neben den Auseinandersetzungen in der Kunstkritik ein reger Theoriediskurs um die Bildwürdigkeit einzelner Sujets (zum Beispiel Arbeit) und die hierfür adäquaten Darstellungsmittel (etwa die traditionell akademische Konzeption der Gattungshierarchie) sowie um die grundlegende Frage nach der Autonomie von Kunst. Es kommt nicht von ungefähr, dass Udo Kultermann ein Kapitel seiner Geschichte der Kunsttheorie mit dem Titel Kunst als Arbeit – Die Kunsttheorie des Realismus381 überschreibt. Er verdeutlicht damit das neue Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit,
380 | Schiller 1795, S. 44. Schiller, so Ullrich, sei einer der ersten, der der Kunst politisch-revolutionäre Kraft zuspricht (vgl. Ullrich, Revolution 2003, S. 33). 381 | Vgl. Kultermann 1987, S. 151-188. Auch Ullrich wählt denselben Titel für seinen Aufsatz und bemerkt eingangs zu diesem Komplex: »[A]ußerdem erscheint es sinnvoll, verschiedene Versuche zu betrachten, bei denen Kunst in der Moderne gerade doch als Arbeit interpretiert wurde. Diese Versuche bilden immerhin auch den einzig nennenswerten Ansatz einer Opposition zum Kunstbegriff, wie er seit dem 18. Jahrhundert herrschte. […] So eröffnen die (wenigen) Experimente, Kunst als Arbeit zu begreifen, die Vision einer anderen Geschichte des modernen Begriffs von Kunst, und wer sich daran machen wollte, das Mysterium ›Kunst‹ zu entzaubern und ein nüchterneres Verständnis des Kunstschaffens sowie des Künstlers zu etablieren, müßte auf jene Experimente und ihre Argumente zurückgreifen.« (Ullrich, Arbeit 2003, S. 129) Im Hinblick auf die nachfolgenden Ausführungen zu diesem Thema, in denen Kunst als Arbeit oder sogar als politische Kunst besprochen wird, kann jedoch kaum von einer vollständigen Entzauberung der Kunst die Rede sein. Es kommt lediglich zu einer ideologischen Verschiebung von dem, was von Kunst erwartet wird – Gesellschaftsanalyse gepaart mit Erlösungsansprüchen.
Systeme und Diskurse
verweist auf die Parallelen der sich dazu entwickelnden Theorien und die Manifeste etwa von Karl Marx und Friedrich Engels.382 Marx hat keine eigens der Kunst gewidmete Schrift verfasst, sondern diese im Kontext seiner ökonomischen Betrachtungen berücksichtigt.383 Im Manifest der Kommunistischen Partei erklären Marx und Engels die Bedingungsgesetzlichkeit der Kulturentwicklung in ihrer Abhängigkeit von außerkünstlerischen Umständen.384 Kunst gehöre zum ideologischen Überbau385 und besitze demnach nur relative Autonomie.386 Marx erläutert in der Einleitung der Kritik der Politischen Ökonomie das Abhängigkeitsverhältnis des Künstlers von der ökonomischen Basis. Er beschreibt den Widerspruch zwischen Kunst und kapitalistischer Produktion als Entfremdung.387 Die Arbeitsspezialisierung sollte demnach auch im Bereich der Kunst überwunden werden: »In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens
382 | Vgl. Kultermann 1987, S. 151 f. Theoriebildungen erfolgen vonseiten der Künstler selbst sowie von Theoretikern und dies in einem wechselseitigen Prozess, wie das Beispiel Courbet zeigt, der das theoretische Werk von Proudhon, Champfleury, Castangnary, Thoré und Zola beeinflusste (vgl. ebd., S. 151). Diametral scheint dem die Idee von Kunst als Muße entgegenzustehen: »(Un)-Tätigkeit – Formen des Nicht(s)tuns fragt nach unterschiedlichen Strategien der Verweigerung, der Muße und des Entzugs, mit denen sowohl in der Kunst als auch in den Diskursen um die gegenwärtigen Umbrüche in den Arbeitsprozessen operiert wird. […] Muße hat dadurch zum einen immer schon einen entscheidenden Anteil an dem, was als künstlerische Arbeit im 18. Jahrhundert zum Ideal gelingender Selbsterzeugung erhoben wurde […]. Muße und Müßiggang oszillieren auch hier zwischen zwei Polen: der Befreiung und der Dekadenz, der Eröffnung von Möglichkeitsräumen und dem Stagnieren in Langeweile, Melancholie und Faulheit. Gleichzeitig, und dies macht die Frage nach der Rolle der Potentialität und des Nicht(s)tuns im Rahmen der hier diskutierten Diskursformation von Kunst und Arbeit so zentral, haben spätestens die immateriellen Produktionsformen einer postfordistischen Arbeitsgesellschaft die Verheißung des Potentiellen entdeckt.« (Lemke und Weinstock 2014, S. 14 f.) Das ist ein Ideal von Kunst, das auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch propagiert wurde: »Einst war jede Arbeit – soweit sie über das unmittelbare Bedürfnis hinwegging – Kunst, die mit dem Überschuß von Kraft- und Zeitleistung in der Wertschätzung stieg; heute ist manche Arbeit […] vorwiegend Leistung, die in ihrem Sachwerte von dem Mindestmaß der darauf verwandten Kraft und Zeit abhängig ist.« (Mielke 1904, S. 56) 383 | Vgl. Herbert 1961, S. 12 f. 384 | Vgl. Kultermann 1987, S. 160 ff. 385 | Vgl. Betzler 1998, S. XXVI. 386 | Vgl. Lotter 1998, S. 546. 387 | Dieser Betrachtung der Künstler durch Marx steht das romantische Ideal des Künstlers entgegen: »Doch noch vor Marx’ utopischem Entwurf vom Ende des Reichs der Notwendigkeit und dem Beginn des Reichs der Freiheit entsteht um 1800 mit dem Ideal des Künstlers und seiner
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Menschen, die unter anderem auch malen.«388 Marx und Engels formulierten das Problem der Kunstfeindlichkeit als Widerständigkeit der kapitalistischen Welt gegenüber ihrer künstlerischen Aneignung.389 Im Gegensatz zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel bedeutete Kunst nicht mehr die höchste Ausdrucksform in der Kultur.390 Dennoch befassten sich Marx und Engels mit den geeigneten Formen der Kunst, beispielsweise in der sogenannten Sickingen-Debatte mit Ferdinand Lassalle um eine sozialistische ästhetische Theorie beziehungsweise Praxis. Es ging ihnen vor allem um die Frage nach realistischer Kunst. Realistisch sind, wie Konrad Lotter anführt, bei Marx und Engels solche Kunstwerke, »[...] die über die Treue des Details hinaus ›typische Charaktere‹ unter ›typischen Umständen‹ wiedergeben. Der Künstler darf die Wirklichkeit nicht nach seinen (subjektiven) Wünschen, Vorstellungen, Hoffnungen modeln und keine ›Tendenz‹ von außen an sie herantragen. […] Eine direkte politische Wirkung im Sinne der Agitation erwarten M. und Engels ebenso wenig von der Kunst wie die Lösung gesellschaftlicher Konflikte. […] Es genügt ihrer Ansicht nach, durch realistische, wahre Darstellung die Erkenntnis der Wirklichkeit zu befördern.«391
Publikationen wie die von Kultermann und Dieter Scholz392, die sich der politischen Ikonografie im Allgemeinen und anarchistischen Kunsttheorien im Speziellen widmen, dokumentieren, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem Frankreich entscheidend an der Kunstdebatte um Realismus und Naturalismus beteiligt war. Auguste Comte und Hippolyte Taine stehen in diesem Zusammenhang für eine Entwicklung von der romantischen zu einer realistischen Kunstauffassung: Comte betrachtet Kunst nur vor einer Folie sozialer und religiöser Bedingtheiten. Für ihn ist Kunst eine ideale Darstellung von Wirklichkeit.393 Bei Taine spielen für die künstlerische Produktion die Faktoren Umwelt (gesellschaftliche Strukturen) und Moment (Tradition) eine entscheidende Rolle.394 Doch auch Literatinnen wie George Sand, um
›Arbeit am Werk‹ ein ästhetischer Gegendiskurs, der sich als Alternative zur einsetzenden arbeitsteiligen Gesellschaft geriert und daher geeignet scheint, die Utopie vom Reich der Freiheit mit ästhetischem Material anzureichern.« (Lemke und Weinstock 2014, S. 12) 388 | Marx und Engels, 1970, S. 373. 389 | Vgl. Lotter 1998, S. 545. 390 | Vgl. das Folgende nach: Kultermann 1987, S. 160 ff. 391 | Lotter 1998, S. 546 f. 392 | Scholz 1999. 393 | Vgl. Kultermann 1987, S. 169. 394 | Vgl. Pochat 1986, S. 562. Genge und Stercken weisen bei Taines Betrachtung von Kunst auf den sich daraus abgeleiteten Biologismus hin (vgl. Genge und Stercken 1999, S. 51 f.).
Systeme und Diskurse
ein frühes Beispiel zu nennen, befassten sich schon in den 1840ern mit dem Realismus in der Kunst. Über ihre diesbezügliche Haltung schreibt Wolfgang Drost: »Das Ziel des art social, der besitzenden Klasse die Augen für die Armut der Bauern und Arbeiter zu öffnen, ihr soziales Gewissen zu bewegen und sie dazu anzuregen, sich aktiv für mehr soziale Gerechtigkeit einzusetzen, war für George Sand über allen Zweifel erhaben.«395
Nahezu zeitgleich zur Sickingen-Debatte verfasste Courbet 1855 sein Realistisches Manifest.396 Ihm ging es um die Vergegenwärtigung realer und existierender Dinge, nicht um eine mechanische Nachahmung durch konkrete Kunst: Die Imaginationskraft der Künstler schaffe einen vollständigen Ausdruck der Wirklichkeit.397 Der als Theoretiker eines gewaltfreien Anarchismus bekannt gewordene und von Marx erst hofierte, dann scharf kritisierte Pierre-Joseph Proudhon, 398 der wie Courbet aus der Franche-Comté stammte, bezeichnete seinen Freund Courbet als den kritischen, synthetischen und mitfühlenden Maler. Ihm zufolge sei es die Aufgabe der Kunst, »die Spekulationen und Irrtümer, die der Idealismus und die Romantik um die Dinge gesponnen hätten, zu entlarven und den Menschen zu der nüchternen Erkenntnis seiner selbst zurückzuführen.«399 Seine Kerngedanken hat er in Du principe de l’art et de sa destination sociale niedergelegt: Kunst sei nur aufgrund ihrer sozialen Bestimmung und nicht um ihrer selbst willen wichtig. »Als revolutionäre Sozialisten sagen wir den Künstlern wie den Literaten: Unser Ideal ist das Recht und die Wahrheit. Wenn ihr daraus keine Kunst und keinen Stil machen könnt – hinweg.«400 Kunst und Arbeit sind laut Proudhon miteinander verknüpft.401 Auch der Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary setzte sich für die realistische Kunst seines Freundes Courbet ein. In Philosophie du Salon de 1857 – entstanden un-
395 | Drost 1987, S. 344. 396 | Die gemalte Variante stellt sein Werk Das Atelier des Malers dar. Man kann den vollständigen Titel des Bildes (Allégorie Réelle etc.) einmal mehr als Verweis auf den andauernden Diskurs um die Allegorie im 19. Jahrhundert sehen. 397 | Vgl. Kultermann 1987, S. 152. 398 | Marx lehnte die Gedanken Proudhons als kleinbürgerlich ab, obwohl er dessen Theorie der Arbeit übernehmen konnte (vgl. Kultermann 1987, S. 158). 399 | Pochat 1986, S. 556. 400 | Proudhon 1988, S. 271. An andere Stelle bemerkt Proudhon: »Die Kunst, ein Ergebnis und zugleich eine Anregung für unser Selbstverständnis, wird mit dem Menschen und der Gesellschaft geboren.« (Ebd., S. 251) 401 | Vgl. Kultermann 1987, S. 155 f. Ähnliche Formulierungen, die von Kultermann aufgeführt werden, findet man später bei Joseph Beuys. Proudhon spricht aber explizit auch vom Reich der Kunst (vgl. Proudhon 1988, S. 211).
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ter dem Einfluss Proudhons – konstatierte er, es seien erstmals Ansätze einer ›humanen Epoche‹ erreicht. Für ihn bedeutete Kunst, und dies muss man im Zusammenhang mit dem katholischen Sozialisten Henri de Saint-Simon402 sehen, die höchste Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit. Wie Théophile Thoré sah auch er in einer ›humanitären Kunst‹ die Möglichkeit zur Gesellschaftsveränderung.403 Charles Baudelaire setzte dieser Auffassung die Konzeption des L’art pour l’art entgegen:404 Das Lexikon der Natur solle den Künstlern als Vorbild dienen. Sie sollten diese aber nicht bloß kopieren, sondern durch Fantasie etwas Neues entstehen lassen.405 Baudelaire verband mit der Romantik die moderne Kunst und lehnte den Realismus ab.406 Er entwickelte einen bürgerlichen Idealtypus des peintre de la vie moderne, der als Weltbürger in allen Metropolen heimisch ist und das Typische seiner Zeit, nicht aber die Wirklichkeit an sich zu erfassen vermochte.407 In England waren es vor allem die Theoretiker im Umkreis der Arts and Craft-Bewegung, die sich mit der Bestimmung der Kunst im Zeichen der Moderne auseinandersetzten. In den Theorien zum Kunstgewerbe wird das neue Verhältnis von Wissenschaft, Industrie und Kunst diskutiert.408 Für William Morris war Kunst eine selbstverständliche Ausdrucksform der Gesellschaft. Sozialreform und Kunstreform seien, wie Nikolaus Pevsner sagte, für Morris eins.409 Morris sah in der ästhetischen Erfahrung die Möglichkeit, die sozialen Verhältnisse zu ändern.410 Er parallelisierte Kunst und Arbeit und konstatierte, Kunst sei der menschliche Ausdruck der Freude an der Arbeit.411 Kunst solle »den Fluch der Arbeit dadurch zerstören, daß Arbeit wieder zur erfüllten Befriedigung unserer Impulse zur Energie wird […], etwas zu produzieren, das der Anstrengung wert ist.«412
402 | Rheims zum Einfluss von Saint-Simon: »According to the advocates of Saint-Simon and Fourier, the artist should now collaborate with men of science and demonstrate through his images the benefits of progress, that is, the machine.« (Rheims 1977, S. 85) 403 | Vgl. Buchinger-Früh 1989, S. 76 f. 404 | Vgl. Betzler 1998, S. XXVIII. 405 | Vgl. Pochat 1986, S. 560. 406 | Vgl. Venturi 1972, S. 249. Baudelaire spricht von ihnen als »jenem Haufen vulgärer Künstler und Literaten […], deren kurzsichtige Intelligenz sich hinter dem vagen und dunklem Wort Realismus verbirgt.« (Baudelaire zit. n.: Herding 1984, S. 92). 407 | Vgl. Pochat 1986, S. 561. 408 | Vgl. Mundt 1971, S. 322. 409 | Vgl. Kultermann 1987, S. 163. 410 | Vgl. Pochat 1986, S. 552. 411 | Vgl. Kultermann 1987, S. 164. 412 | Morris zit. n.: ebd., S. 165.
Systeme und Diskurse
Auch in Deutschland begann man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das Verhältnis von Kunst und gesellschaftlicher Veränderung – gar Revolution – nachzudenken. Friedrich Theodor Vischer forderte in der Frühphase seines Schaffens eine im Volk begründete Ästhetik.413 Den nationalen Geschichtsprozess der modernen Welt wollte er anstelle der Religion wissen. Kunst solle Teil einer revolutionären Bewegung sein, in deren Folge eine Neukonstituierung der Wirklichkeit vollzogen werde. Schon in den 1840er Jahren konstatierte er: »Unsere Kunst hat alles verloren und dadurch alles gewonnen, verloren die ganze Fata Morgana einer transzendenten Welt, gewonnen die ganze wirkliche Welt.«414 Wie auch in Frankreich – dort fand dieser Prozess allerdings bereits um die Jahrhundertmitte statt415 – versuchte man sich in Deutschland an klaren Definitionen von Naturalismus und Realismus. Der Schriftsteller Arno Holz (1863-1929) und vor allem sein Werk Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze sind hier zu nennen. Holz entwickelt in der Auseinandersetzung mit Émile Zola folgende Formel: Kunstwerk = Stück Natur - x, oder auch Kunst = Natur - x.416 Kunst ist also ein Abbild von Natur, wobei der Abbildungsprozess einer Komplexitätsreduktion gleicht, bei der auf bestimmte Dinge und Erscheinungen bewusst verzichtet werden muss (-x), weil sonst Kunst und Natur identisch wären.417 Ein oft formulierter Vorwurf lautete, der Realismus bringe nur hässliche Kunst hervor, weshalb Charles Perrier von einem Kult der Hässlichkeit spricht.418 Vermutlich rief gerade deshalb der russische Theoretiker des kommunistischen Anarchismus, Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, 1885 die Künstler dazu auf, die Hässlichkeit des
413 | Vgl. das Folgende nach: ebd., S. 175 f. 414 | Vischer zit. n.: Pochat 1986, S. 568. Desillusioniert vom Scheitern nimmt er in seinen späteren Schriften eine andere Haltung ein und widmet sich in Über das Verhältnis von Form und Inhalt in der Kunst den symbolischen Aspekten von Kunst (vgl. Hübner 1994, S. 120). 415 | Herbert sieht im Jahr 1848 den entscheidenden Wendepunkt: »[T]he revolution of 1848 is a major dividing line. It marks the end of Romanticism and the triumph of naturalism among progressive artist and critics.« (Herbert 1962, S. 37) 416 | Vgl. Möbius 1980, S. 39. 417 | Holz wehrte sich entschieden gegen den Vorwurf, er setze Kunst und Natur gleich. Deshalb ist die Variable so entscheidend in dieser Formel (vgl. Brands 1978, S. 9). Schon Zeitgenossen wie Edmond Duranty sahen solche Begriffsdefinitionen kritisch (vgl. Herding 1984, S. 283). Die Formel von Holz deckt sich weitestgehend mit der Definition, wie sie auch von Fuller verwendet wird (vgl. Fuller 1977, S. 28). Zusammenfassend kann man mit Schmidt sagen: »Der Maßstab des Naturalismus ist die äußere Richtigkeit – der Maßstab des Realismus die innere Wahrheit. […] Äußere Richtigkeit ist keineswegs Garantie für innere Wahrheit.« (Schmidt 1966, S. 30) 418 | Vgl. Herding 1984, S. 101.
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zeitgenössischen Lebens und ihre Ursache zu zeigen419 und ihre Kunst in den Dienst der sozialen Revolution zu stellen.420 Naturalismus und Realismus waren genuine Diskursinhalte der Ästhetik. Schönheit als ästhetischer Wert schlechthin wurde und wird oftmals ahistorisch betrachtet. Einen anderen Ansatz bietet Heinrich Rickert: »Die Ästhetik [kann] ebenso wie die Ethik geschichtliche, psychologische, soziologische, vielleicht auch physiologische Tatsachen nicht entbehren. […] Aus der Fülle des wirklichen künstlerischen Lebens hat sie zu lernen […].«421 Das Kunstdenken der Jahrhundertwende wurde nach Kultermann maßgeblich durch ästhetische Überlegungen von Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Leo Tolstoi geprägt.422 Kierkegaard lehnte das Ästhetische als betrügerisch ab und sah in der erneuerten Religion das Reale.423 Eine Ästhetik des Hässlichen ist für Kierkegaard undenkbar, da Kunst an sich schön ist.424 Kunst besitzt das Potenzial, uns mit der Wirklichkeit zu versöhnen.425 Künstler werden in Kierkegaards Produktionsästhetik zum Pseudonym Gottes.426 Tolstoi kritisierte die Manipulierbarkeit der aktuellen Kunst.427 Die zeitgenössische Kunst wurde von ihm als frivol und dekadent abgelehnt. In Was ist Kunst? von 1898 bemühte er sich um eine umfassende Darlegung: Schönheit definierte er als das, was angenehm ist. Kunst sei eine Kommunikationsform, die die Möglichkeit der Beeinflussung von Menschen biete. Die Stärke des Einflusses sei dabei abhängig von der Qualität der Kunst. Für Tolstoi erfüllte Kunst keinen Selbstzweck, stattdessen hoffte er auf eine Kulturgemeinschaft, in der Kunst als religiöse Vereinigung erfahren werde.428 Bei Nietzsche wird Kunst zu einer Grundfrage nach dem Wesen des Seins. »Die neue Bestimmung der Kunst in ihrem Verhältnis zum ›Leben‹ kennzeichnet Nietzsche durch die Formel, die Kunst sei das ›Stimulans‹ des Lebens.«429 Der Begriff Arbeit – Nietzsche spricht von Handwerker-Ernst zugunsten von Begabung – spielte auch im künstlerischen Prozess eine Rolle.430 So kam der Kunst eine universelle Aufgabe zu:
419 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 257. 420 | Vgl. Scholz 1999, S. 187. 421 | Rickert zit. n.: Wolandt 1985, S. 242. 422 | Vgl. Kultermann 1987, S. 182. 423 | Vgl. ebd., S. 179. 424 | Vgl. Schulz 1998, S. 461. In seinen Überlegungen Ästhetik des Hässlichen (1853) begreift Karl Rosenkranz das Hässliche als ein vom Schönen Abhängiges (vgl. Pochat 1986, S. 565). 425 | Vgl. Pochat 1986, S. 463. 426 | Vgl. ebd., S. 466. Dies zeigt Bezüge zur romantischen Kunsttheorie. 427 | Vgl. das Folgende nach: Kultermann 1987, S. 182 ff. 428 | Vgl. Grübel 1998, S. 782. 429 | Jähnig 1972, S. 31. 430 | Vgl. Kultermann 1987, S. 186.
Systeme und Diskurse »Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. […] Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden. […] Die Kunst als die Erlösung des Handelnden. […] Die Kunst als die Erlösung des Leidenden.«431
Georg Simmel setzte sich intensiv mit Nietzsche auseinander, sodass Parallelen im Denken beider zu finden sind, und auch er spricht von einer Erlösung von der Wirklichkeit durch Kunst.432 Ute Faath erläutert dies: »Unter den autonomen Prinzipien, die kulturelle Wertreihen ausbilden, nennt Simmel in den kulturphilosophischen Schriften unter anderem Erkennen, Arbeit, Recht, Religion und Kunst. Sie verfügen über das jeweils gleiche Grundmaterial, aber unter den ihnen eigenen Voraussetzungen formen sie den gegebenen Weltstoff je anders.«433
Mit Die Kunst und die Gesellschaft unternahm Wilhelm Hausenstein zum Ende des Kaiserreiches einmal mehr einen Versuch, Kunst auf ihre gesellschaftliche Rolle hin zu befragen. Er grenzte sich damit von philosophisch-ästhetischen Überlegungen anderer Autoren ab: »Die Kunst ist eine Äußerung der Weltgeschichte. […] Die bewegende Endursache des kulturellen Geschehens ist die sozialökonomische Materie. […] Ältere Geschlechter suchten […] nach den Regungen des Individuellen. Wir suchen nach den Regungen des Sozialen. […] Eine Kunstbetrachtung, die grundsätzlich nur das Individuelle sieht, übertreibt die Macht des Persönlichkeit ebenso sehr wie eine Nationalökonomie, die nur die Initiative des Unternehmers wertet, oder eine Politik, die grundsätzlich nur an große Männer und nicht – ein schönes Wort Lamprechts zu gebrachen – an den ›entscheidenden Drang der Massen‹ glaubt.«434
Das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit – auch im Sinne von Bildwürdigkeit und unter den Prämissen Schönheit/Hässlichkeit oder Wahrheit/Falschheit – betrifft letztlich nicht nur die Bildinhalte, sondern ebenso ihre Formen. Im Laufe der kunsthistorischen Entwicklung – gemeinhin als Weg zur Abstraktion gedacht – kommt es zu einer immer stärkeren Abkehr von ikonografischen zugunsten formaler Fragestellungen, was sich auch in kunsttheoretischen Auseinandersetzungen wiederfindet. Kultermann fasst dies unter dem Kapitel Form und Symbol zusammen und nennt für
431 | Nietzsche zit. n.: Kultermann 1987, S. 187. 432 | Vgl. Faath 1998, S. 116. 433 | Ebd., S. 135. 434 | Hausenstein 1916, S. 1 f.
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Deutschland vor allem Fiedler, Hans von Marées und Adolf von Hildebrand.435 Statt Mimesis/Naturalismus oder Idealismus/Realismus wird nun die Form zum eigentlichen Prinzip der Kunst erklärt. Fiedler dazu: »Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätigkeit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streites nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst, als ein Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.«436
Form ist in dieser Zeit oftmals gleichzusetzen mit Stil und der Begriff des Stils produziert einen, wenn nicht gar den wichtigsten Diskurs des 19. Jahrhunderts in der Kunst: die Kunst als Produzentin von Wirklichkeit. Sie erfährt dadurch ihre Legitimation, dass sie Realität nicht nur reproduziert, sondern überhaupt erst die Auseinandersetzung mit und das Erkennen von Wirklichkeit ermöglicht.
Stilgeschichte als Denkfigur des 19. Jahrhunderts »Suchen wir erst wieder nach Stil und lernen ihn ertragen, so können wir auch alles ausdrücken, was uns erfüllt.«437
In welchem Style sollen wir bauen? Diese 1828 von Heinrich Hübsch verfasste Schrift wurde zur paradigmatischen – und oft auch falsch verstandenen – Fragestellung des 19. Jahrhunderts. Hübsch formulierte darin vor allem eine Kampfansage an den auf die Antike und den mediterranen Raum rekurrierenden Klassizismus, der seiner Meinung nach zu wenig die Bedürfnisse der aktuellen Gesellschaft berücksichtige. Gegen diese »Lügen« wollte er mit dem »deutschen« Rundbogen ein Element zum neuen Stil machen, das sowohl im Erscheinungsbild als auch im Konstruktionsprinzip stimmig war.438 Zum einen wurde der Begriff Stil mit einem historischen, das heißt zeitgenössischen Bewusstsein von Stil verbunden, das zur Auseinandersetzung – und kontextuell eben auch Ablehnung – mit historischen Stilen führte und in erster Linie auf materielle Bedingungen von Konstruktion abzielte (Backstein versus Marmor). Zum anderen wurde Stil unter der Prämisse der Angemessenheit – eine zeitgenössische
435 | Vgl. Kultermann 1987, S. 189. 436 | Fiedler 1983, S. 133. 437 | Seidlitz zit. n.: Hamann und Hermand 1967, S. 500. 438 | Vgl. Hammer-Schenk und Beyrodt 1985, S. 78.
Systeme und Diskurse
Frage des Dekorums – auch im Sinne von Funktionalismus betrachtet. Historismus und Funktionalismus bildeten etwa als Materialstile zwei der wichtigsten Inhalte einer Stilgeschichte, die nach Hubert Locher bereits mit Johann Joachim Winckelmann begann und als Personal-, National- und Epochenstil verhandelt wird.439
Historismus Die sich formierende Kunstgeschichte war vor allem auch Stilgeschichte. Als historische Wissenschaft untersuchte sie Stil als Ausdruck von Geschichte. Epochen bilden hierbei Ordnungsstrukturen, die gerade für das 19. Jahrhundert keineswegs inexistent waren, wie es Walter Benjamin gegenüber Theodor Adorno formuliert hatte. Die Einteilung in Epochen440 wurde zu einem der Kernthemen der sich etablierenden Universitätsdisziplin.441 Auf die Schwächen442 solcher Vereinfachungen – etwa die Annahme von Zäsuren – wird immer wieder hingewiesen.443 Wie kaum ein Jahrhundert zuvor ist das 19. Jahrhundert von einem historischen Bewusstsein der Dinge und einer historischen Auseinandersetzung mit den Dingen geprägt, und das auf einer vorher nicht praktizierten Metaebene. Wenngleich die Grundlagen dazu bereits Ende des 18. Jahrhunderts gelegt wurden und auch in dieser Zeit schon eine künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erfolgte (beispielsweise in Form des Klassizismus oder des Gothic Revival), das, was man mit dem Begriff Historismus greift, unterscheidet sich von früheren Auseinandersetzungen mit Geschichte. Hier ist nomen gleich omen: »›Historismus‹ definiert Troeltsch als ›die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Be-
439 | Vgl. Locher 2008, S. 555. 440 | Vgl. Held und Schneider 2007, S. 163. Heute wird in der Kunstgeschichte »nicht nur die Kontinuität zwischen den Epochen, der bruchlose Verlauf der geschichtlichen Entwicklungen in Frage gestellt, sondern auch die Idee der Totalität der einzelnen Epochen, die in der historischen Geschichtsschreibung vorausgesetzt war. […] Nicht die Prinzipien eines einheitlichen Stils sind der Schlüssel für das Verständnis einer kunsthistorischen Epoche, sondern Kontrapunktik der einander antwortenden und entgegengesetzten künstlerischen Gesten und Artikulationen. Ein Zeitraum kann auch kunsthistorisch nicht mehr als monolithene Ganzheit, sondern nur in seinen dialektischen Widersprüchen und Bewegungen begriffen werden.« (Ebd., S. 162 f.) 441 | Vgl. ebd., S. 157 f. 442 | Problematisch war hierbei beispielsweise die Vernachlässigung des Ungleichzeitigen, das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Stile (vgl. ebd., S. 159). 443 | Vgl. Schweizer 2011, S. 1047.
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»Arbeitende Bilder« stimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind im Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich.‹«444
Es kam zu einer exakten Erforschung und einem fast schon übersteigerten Interesse an der Vergangenheit. Man verband damit verschiedene Hoffnungen, etwa in das große Projekt der Vollendung des Kölner Doms der Brüder Melchior und Sulpiz Boisseree. Doch schon Zeitgenossen waren sich der Kluft zwischen Moderne und Vergangenheit bewusst, so etwa Vischer, der die Kunst der Nazarener unvereinbar mit dem Zeitalter der Industrialisierung betrachtete.445 Hegels Geschichtlichkeit der Kunst besagt, Kunst selbst sei ein Moment der Geschichte, sie sei in sich geschichtlich, das heißt genetisch gegliedert und die sachliche Folgeordnung – vom Elementaren zum Komplexen – sei an die geschichtliche Stufenfolge der Kunstformen gebunden.446 Teilweise distanzierte sich – zumal im Fall der Architektur und der Bildkünste – der Historismus des 19. Jahrhunderts vom teleologischen Historismus Hegels.447 Stattdessen sollte »jede Epoche in ihrer Individualität, aus ihren eigenen Bedingungen und Intentionen nach den Regeln der Hermeneutik verstanden werden. Ein Bezug auf überzeitliche Werte oder Ziele der Geschichte wurde damit tendenziell ausgeschlossen.«448 Hierin kommt nach Johannes Heinßen das Krisenhafte des Historismus in der Kunst zum Vorschein: »Die Krise des Historismus, wie sie sich in der bildenden Kunst bzw. ihrer theoretischen Reflexion spätestens ab 1890 mit wachsender Dynamik entfaltet, entsteht aus dem Zusammenbruch – oder besser: der Verflüchtigung totalitätssuggerierender Deutungsmuster idealistischer Provenienz, die sich unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Modernisierung als qualitativ untauglich erweisen, die vorhandene Wirklichkeit […].«449
Die Problematisierung des Historismus erfolgte nicht nur in der Kunst dauerhaft: »Es war Friedrich Nitzsche (1844-1900), der als erster alle diese Probleme des Historismus zur Sprache gebracht hatte, zuerst in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Le-
444 | Oexle 2007, S. 12. 445 | Vgl. Klotz 2000, S. 75. 446 | Vgl. Nachtsheim 1984, S. 47 f. 447 | »Hegel unterscheidet drei Großepochen der Künste, deren Unterschiede in dem Verhältnis der Idee (des Ideellen oder Geistigen) zur sinnlichen Gestalt des Kunstwerkes, seiner Materialität, zu sehen sind.« (Held und Schneider 2007, S. 153) 448 | Ebd., S. 156. Damit wurden auch die Annahmen des Materialismus verworfen. 449 | Heinßen 2007, S. 123.
Systeme und Diskurse ben von 1874. Nietzsche beklagte hier, daß die Historie eine Wissenschaft geworden sei, über das ›Leben‹ zu herrschen begonnen habe, eine ›Krankheit‹ des modernen Menschen geworden sei«.450
Mit Ernst Troeltsch wurde die ›Krise des Historismus‹ offiziell verkündet:451 »›Krise des Historismus‹ meint den Historismus, der als konstitutives Moment der Moderne sich in der Krise befindet; ›Krise des Historismus‹ meint aber auch die Krise der Moderne, die von diesem Historismus ausgelöst worden ist. […] Troeltsch […] sieht die Krise des Historismus durch drei Dimensionen gekennzeichnet: - (1) zum einen durch die Frage nach der ›Wirklichkeit‹, nämlich nach der Objektivität der Erkenntnis, […]; - (2) sodann durch das Problem der gesellschaftlichen Bedingtheit aller geistig-kulturellen wie staatlich-organisatorischen Erscheinungen […]; - (3) und schließlich durch das Problem der ›Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt‹.«452
Die kunsthistorische Krise des Historismus offenbarte sich etwa auch in der eingangs zitierten Frage von Hübsch, auch wenn sie gar nicht, wie meist angenommen wird, auf einen funktionalistisch ausdifferenzierten Stilpluralismus zielte (Gotik für Kirchen, Renaissance/Barock für Kultur und Politik, byzantinisch für Synagogen etc.), sondern auf die Erfindung eines eigenen Stils. »Die Entscheidungsfreiheit der Stilwahl ist das wesentlich Neue der heraufkommenden Moderne«,453 so Klotz. Freiheit und Wahl mussten jedoch erst als solche gedacht werden: »Der Historismus sagt: das Vergangene hat recht. Anfänglich meint er ein bestimmtes Vergangenes, da er sich zum Ideal erhebt, später läßt er jeder Vergangenheit ihr Recht«.454 Der Diskurs um die vermeintliche Stilfreiheit wird zum Kennzeichen einer ganzen Epoche, die sich in einem »Gänsemarsch der Stile«455 zu entwickeln schien. Historismus als die Wahl künstlerischer Stile im 19. Jahrhundert bedeutete aber keineswegs das exakte Kopieren von Stilen: »Es wäre ein Mißverständnis, die einzelnen Stiltendenzen als Stile zu begreifen. Klassizismus, Neugotik und Neu-Renaissance sind Zitate […]. Diese Zitate sind nicht mit der Stilgeschichte identisch und bleiben austauschbar.«456 Von wirklicher Wahlfreiheit zu sprechen, erscheint ebenfalls verfehlt, denn »Stilpluralismus heißt keineswegs Anarchie, sondern ist funktionsbeding-
450 | Oexle 2007, S. 13. 451 | Vgl. ebd., S. 11. 452 | Ebd., S. 12 f. 453 | Klotz 2000, S. 38. 454 | Hofmann 1974, S. 52. 455 | Wiener, Haus 2014, S. 38 mit Bezug auf Wilhelm Pinder. 456 | Bloch 1975, S. 9.
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te Wahl von Zitaten.«457 Man kann mit Günther Bandmann deshalb die Wahl des Vorbildes als schöpferischen Akt begreifen.458
Der Begriff des Stils »Styl, oder solches, was mir Styl heißt, entspringt also auf keine Weise, weder, wie bey Winckelmann und in anderen Kunstschriften, aus einer bestimmten Richtung oder Erhebung des Geistes noch, wie bey den Italienern, aus den eigenthümlichen Gewöhnungen der einzelnen Schulen und Meister, sondern einzig aus einem richtigen, aber nothwendig bescheidenen und nüchternen Gefühle einer äußeren Beschränkung der Kunst durch den derben, in seinem Verhältniß zum Künstler gestalt-freyen Stoff.«459
Diese Überlegungen aus dem Jahr 1827 stehen wie die Frage von Heinrich Hübsch – In welchem Style sollen wir bauen? – am Anfang einer Betrachtungsweise, die Stil und Material auch im Sinne des Funktionalismus zusammendenken. Johann Wolfgang von Goethe formulierte um 1830: »Alle Künste fangen mit dem Notwendigen an.«460 Funktionalismus als Zweckmäßigkeit steht dem Begriff des Schönen mal mehr, mal weniger gegenüber.461 Karl Friedrich Schinkel bemühte sich in den 1820ern darum, »ein gebrauchsfähiges Nützliches Zweckmäßiges schön zu machen«.462 1834 formulierte Gottfried Semper sein realistisches Prinzip: »Nur einen Herrn kennt die Kunst, das Bedürfnis.«463 Bei Semper dienten nicht nur Form und Motiv, sondern auch Material, Technik und Funktion der Sichtbarmachung des Geistigen.464 Damit stellte er sich gegen seinen Lehrer Karl Otfried Mueller, der in nützlicher Kunst reines Handwerk sah.465 1851 bot Semper der Glaspalast von Joseph Paxton den Anlass, über Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls zu
457 | Ebd., S. 73. 458 | Vgl. ebd., S. 12. 459 | Rumohr 2005, S. 238. 460 | Goethe zit. n.: Mundt 1971, S. 324. 461 | Es kam zu einer Spaltung von schöner und nützlicher Architektur (vgl. Klotz 2000, S. 77). 462 | Schinkel zit. n.: Klotz 2000, S. 77. 463 | Semper zit. n.: Kultermann 1987, S. 166. 464 | Vgl. Pochat 1986, S. 545. 465 | Vgl. Kultermann 1987, S. 166.
Systeme und Diskurse
schreiben.466 Die Diskussion um die industrielle Warenproduktion, so Jutta Held und Norbert Schneider, machte Stil zu einer Objektkategorie.467 Semper betrachtete 1860 in Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik die Künste dabei folgendermaßen: »[…] erstens das Werk als Resultat des materiellen Dienstes oder Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser nun thatsächlich oder nur supponirt und in höherer, symbolischer Auffassung genommen; zweitens das Werk als Resultat des Stoffes, der bei der Production benutzt wird, sowie der Werkzeuge und Proceduren, die dabei in Anwendung kommen. […] Doch ist es deutlich, dass hier nur gewisse, gleichsam abstrakte Eigenschaften des bindenden Stoffes im Allgemeinen sich zur Erwägung aufdrängen, dass dagegen die Frage, wie sich ein solcher Band anders charakterisiren müsse, […] eine andere, eine durchaus stilgeschichtliche sei.«468
Material produziert somit Stil. Er ist damit durchaus Hübsch verpflichtet. Stil ist nichts Absolutes, sondern das Resultat einer Entwicklung, die bestimmt wird durch die verschiedensten Einflüsse, etwa durch Material, Politik und Religion oder Auftraggeber und natürlich durch die Künstler.469 An den Materialstil knüpft sich vor allem auch der Begriff der Materialgerechtigkeit. Für Semper ist Stil die »Übereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens«.470 Er steht damit für die schon bei Hübsch anklingende Hinwendung zu einer materialistischen Auffassung von Kunst.471 »In der Folge der Bewußtwerdung des Materialeinflusses bei der Stilbildung ist man in der zweiten Jahrhunderthälfte geradezu geneigt, neben einem Zeit- und einem Personalstil auch einen Materialstil zu postulieren, unter dem man jene formalen Übereinstimmungen versteht, die – angeblich – allen Werken […] gemeinsam sind.«472
Gegen Sempers materialistischen respektive als materialistisch diffamierten Stilbegriff wandte sich Riegl mit seiner Idee des Kunstwollens, das sich durch die »Überwindung und Beherrschung der stofflichen Widerstände« auszeichne:473
466 | Vgl. ebd., S. 167. 467 | Vgl. Held und Schneider 2007, S. 343. 468 | Semper 2005, S. 100 f. 469 | Vgl. Kultermann 1987, S. 168. 470 | Semper zit. n.: Spilker 2001, S. 79. 471 | Vgl. Held und Schneider 2007, S. 285. 472 | Bandmann 1971, S. 146. Mit Riegls Kunstwollen, so Bandmann, gerät das Material als stilbildender Faktor wieder aus dem Blick (vgl. ebd., S. 147). 473 | Vgl. Held und Schneider 2007, S. 343.
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»Arbeitende Bilder« »Wir sagen lieber gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Gefallen finden lässt, und das die Anhänger der technischen-materiellen Descendenztheorie der Künste ebensowenig wie wir zu definiren im Stande sind, – dass jenes Etwas die Sache im letzten Grunde nicht heller machen kann und höchstens nur zu einem armseligen Scheinerfolg der materialistischen Weltanschauung führen würde«.474
Der Formalismus, wie ihn etwa auch der Philosoph Robert Zimmermann (ein Lehrer Riegls) vertrat, erklärte das Schöne ausschließlich anhand seiner formalen, in abstrakten Begriffen beschriebenen und damit letztlich entmaterialisierten Relationen und stand so im Gegensatz zur Gehaltsästhetik eines Hegel.475 Im Formalismus erfuhr die Form eine ästhetische Betrachtung, weil sie das Verhältnis zwischen den materiellen Momenten beschrieb, in dem Vorstellungsinhalte eine bestimmte Form und Materie haben.476 »Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden«, so Heinrich Wölfflin in Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neuen Kunst.477 Wölfflin begriff Kunstgeschichte nicht als eine Chronologie von Werken, sondern als Geschichte des künstlerischen Ausdrucks. Damit wurde sie bestimmt von einfühlungsästhetischen Voraussetzungen.478 In der Einfühlungsästhetik ist der Gehalt in der Form nicht getilgt, sondern in ihr aufgehoben, sodass es die reine Form nicht geben kann. Damit vertritt die Einfühlungsästhetik einen antiformalistischen Standpunkt.479 Vischer etwa näherte sich in seinem Spätwerk – Über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst von 1858 – einer symbolhaften Deutung von Kunst, die auch das Konzept des Unbewussten mit einschließt.480 Wichtiger Vertreter der Einfühlungsästhetik wurde Wilhelm Worringer.481 Seine Schrift sorgte bei Zeitgenossen für viel Aufsehen, da er die – durchaus völkisch konnotierte – Abstraktion als einen der Zeit angemessenen Ausdruck des Kunstwollens betrachtete.482 Zum Begriff der Form leisteten auch von Hildebrand und Fiedler einflussreiche Beiträge. So bestimmte Fiedler das im Gegensatz zu Riegl sehr stark personal verstandene Verhältnis von Form und Inhalt folgendermaßen:
474 | Riegl 2005, S. 109. 475 | Vgl. Nachtsheim 1984, S. 67. 476 | Vgl. ebd., S. 68. 477 | Wölfflin zit. n.: Dessoir 1927, S. 132. 478 | Vgl. Nachtsheim 1984, S. 118. 479 | Vgl. ebd., S. 83. 480 | Vgl. Kultermann 1987, S. 176. 481 | Rosenthal bemerkt bei ihm eine Auseinandersetzung mit Riegl und dessen Begriff des Kunstwollens (vgl. Rosenthal 1986, S. 15). 482 | Vgl. Nachtsheim 1984, S. 126.
Systeme und Diskurse »Der Gegenstand der Darstellung, der Inhalt, der Idee des Kunstwerkes hängen meist so eng mit der künstlerischen Intention zusammen, daß es schwer ist, die Rücksicht auf das reine Resultat künstlerischer Tätigkeit vollständig von dem Interesse an dem Gedankeninhalt frei zu halten. Und doch ist dies notwendig; denn, so paradox es klingen mag, so beginnt doch das Interesse an der Kunst erst in dem Moment, wo das an dem Gedankengehalte des Kunstwerkes erlischt. […] Das Kunstwerk hat keine Idee, sondern es ist selbst eine Idee. […] Aller Streit um Realismus oder Idealismus der Kunst ist ein müßiger; er wird geführt um eine äußerlich der Kunst wohl ähnliche, innerlich aber unkünstlerische Produktion.«483
Und weiter: »Jeder bedeutende Künstler schafft sich seinen Stil, indem er der Welt seiner Vorstellung das Gepräge seines ureignen Geistes aufdrückt. Sein eigentümliches Erkenntnisorgan ist das Medium, durch welches die Erscheinungswelt hindurchgeht, ehe sie zur Mitteilung an andere gelangt; der Stempel, den sie da erhält, das ist es, was man Stil nennt oder nennen sollte.«484
In einem fingierten Dialog zwischen Kunstrichter und Maler anlässlich einer Ausstellungseröffnung der Berliner Sezession lässt Karl Scheffler ersteren Folgendes sagen: »Die Wichtigkeit der Form werde ich gewiß nie bestreiten. Aber wozu einen Dualismus herstellen, wo doch Inhalt und Form im rechten Kunstwerk immer eins sind!«485 Der Kunsthistoriker Konrad von Lange bemühte sich 1901 in Das Wesen der Kunst mit dem Konzept der Illusionsästhetik um eine weitere Position jenseits von Inhalts- und Formästhetik. Zunächst wandte er sich gegen eine Überbetonung materialistischer Aspekte: »Nun ist ja freilich der Einfluss der Technik auf die Ausbildung der Kunstformen nach dem früher Gesagten nicht zu bezweifeln. Aber man ist jetzt längst zu der Überzeugung gekommen, dass er nicht das eigentlich ausschlaggebende Moment ist. Die Entstehung der Form geht nicht von der Technik als treibende Ursache aus, sondern von rein ästhetischen Bedürfnissen, d. h. dem Streben nach Illusion.«486
Stil bedeutet für ihn Zeit- beziehungsweise Nationalstil und Personalstil: »Stil ist zunächst individuelle, weiterhin nationale Auswahl und Abänderung der Natur und des Lebens zum Zweck einerseits einer stärkeren Hervorhebung der künstlerischen Persönlichkeit,
483 | Fiedler 1983, S. 131 f. 484 | Ebd., S. 133. 485 | Scheffler 1920, S. 82. 486 | Lange, Bd. 2 1901, S. 284.
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»Arbeitende Bilder« andererseits einer Steigerung der Illusion unter steter Berücksichtigung der Technik und der Darstellungsmittel der Kunst.«487
Im Stil kommen sowohl Form als auch Inhalt zum Tragen: »Das Mittel nun, durch das der Künstler die im Vorigen nachgewiesene bewusste Selbsttäuschung erzeugt, das Elixier, durch das er die tote Materie für die Anschauung zum Leben erweckt, ist die Form.«488 Und weiter: »Wenn es der höhere Zweck der Kunst ist, dem Menschen Ersatzvorstellungen und Ersatzgefühle an Stelle der wirkliche zu bieten und damit sein Gefühlsleben vor Absterben und Verkümmerung zu bewahren, so ist wohl klar, dass die Kunst letzten Endes um des Inhalts willen da ist. Es ist mir vollkommen unerfindlich, wie man diese klar und notwendige Folgerung nicht hat ziehen, vielmehr die Illusionsästhetik immer mit der Formästhetik hat in einen Topf werfen können.«489
Das Kunstwerk wirkt durch Form und Inhalt, deren ›Aufgabe‹ es sei, eine Illusion zu erzeugen: »So kommen wir also immer wieder zu der Auffassung zurück, dass dasjenige Kunstwerk das beste ist, welches durch Form und Inhalt die stärkste Illusion erzeugt.«490 Wassily Kandinsky betrachtete 1912 das scheinbar aus dem Lot geratene Verhältnis von Form und Inhalt und bot wie von Lange mit seiner Analyse eine Versöhnung beider an: »Die vom Geiste aus der Vorratskammer der Materie herausgerissenen Verkörperungsformen lassen sich leicht zwischen zwei Pole ordnen. Diese zwei Pole sind: 1. die große Abstraktion, 2. die große Realistik. […] Diese beiden Pole waren in der Kunst immer vorhanden […]. So sehen wir schließlich: wenn in der großen Realistik das reale auffallend groß und das Abstrakte auffallend klein und in der großen Abstraktion dieses Verhältnis umgekehrt zu sein scheint, so sind im letzten Grunde (= Ziele) diese zwei Pole einander gleich. Zwischen diesen beiden Antipoden kann das Zeichen des Gleichnisses gestellt werden: Realistik = Abstraktion, Abstraktion = Realistik. Die größte Verschiedenheit wird zur größten Gleichheit im Inneren.«491
Die theoretischen Auseinandersetzungen zum Stil über Form und Inhalt erfuhren etwa mit der Idee zum Nationalen eines Stils Konkretionen und wandten sich der nationalen Vergangenheit zu. Bereits Karl Schnaase formulierte in seiner Geschichte der bildenden Künste, dass »die Kunst einer jeden Zeit der vollständigste Ausdruck
487 | Ebd., S. 260. 488 | Lange, Bd. 1 1901, S. 255. 489 | Lange, Bd. 2 1901, S. 81. 490 | Ebd., S. 109. 491 | Kandinsky 1983, S. 181 f.
Systeme und Diskurse
des jedesmaligen Volksgeistes« sei.492 Kunst und der gute Geschmack – als Nationalgeschmack493– spielten dabei eine wichtige Rolle.494 Ab den 1860er Jahren entstand in Deutschland der Wunsch nach einem nationalen Stil, der nach der Reichsgründung unter anderem in der deutschen Renaissance entdeckt wurde.495 Die Frage des Stils wurde auch von politischer Seite gestellt, wie die Reichstagsdebatte um den Stil von Postgebäuden zeigte.496 Stil war dementsprechend immer auch politisch und somit Ausdruck von Machtstrukturen: »Daß eine gewisse Stilströmung über einen längeren Zeitraum beherrscht, ist nur möglich, weil es daneben oder unterhalb von ihr beherrschte, d. h. vielfach auch oppositionelle und unterdrückte Stiläußerungen gibt, zu denen sie kontrastiert.«497 Lars Olof Larrson verweist auf die aggressiven Behauptungen des nationalen Stils um 1900,498 zu deren Vertretern Langbehn zählt: »Das heutige Kunstgewerbe hat, auf seiner stilistischen Hetzjagd, alle Zeiten und Völker durchprobiert und ist trotzdem oder gerade deshalb nicht zu einem eigenen Stil gelangt. Ohne Frage spricht sich in allem diesem der demokratisierende nivellierende atomisierende Geist des Jahrhunderts aus.«499
Ein eigener Stil kann für Langbehn nur in der Rückbesinnung auf das Deutschtum entstehen: »Was ist Wahrheit? hat man oft genug in der Kunst gefragt und oft auch hier den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Wahr ist, wer wahrt. Der Künstler hat seine Persönlichkeit zu wahren; […] gegenüber allen äußeren Ansprüchen von Tradition, Markt, Mode, Theorie, eigener Schwäche und fremder Anmaßung. Wahr ist, was währt. Das Bleibende in Natur und Menschheit, die großen einheitlichen Züge in ihr, die feste Volksphysiognomie, welche weder in einzelpersönlicher Willkür noch in leere Abstraktionen überschlägt, […]. Das Wort ›Wahrheit‹ erklärt also sich selbst; sie ist ein, ja sie ist das konservative Prinzip, wenn es richtig verstanden wird. Mode ist demokratisch, Stil ist aristokratisch. Was der deutschen Kunst von heute fehlt, ist ein konservativer Charakter; […] Bilder und Statuen müssen für ein bestimmtes Licht, für einen bestimmten Platz,
492 | Schnaase zit. n.: Larsson 1985, S. 170. 493 | »Der gute Geschmack muß Nationalgeschmack werden«, so Carl Ludwig Fernow 1796 (Fernow zit. n.: Pochat 1986, S. 474). 494 | Vgl. Pochat 1986, S. 474. 495 | Vgl. Mundt 1971, S. 332. 496 | Vgl. Hammer-Schenk und Beyrodt 1985, S. 9. 497 | Schmoll gen. Eisenwerth, Stilpluralismus 1977, S. 17. 498 | Vgl. Larsson 1985, S. 171. 499 | Langbehn 1922, S. 45.
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»Arbeitende Bilder« für ein bestimmtes Gebäude, nicht für Markt oder Laden gearbeitet sein. […] Die echte Kunst […] bedarf […] eines festen Rahmens; und nur die konservativ-aristokratische Richtung des geistigen wie sozialen Lebens einer Nation kann ihr ihn bieten. An dieser eingebornen deutschen Geistesrichtung gilt es festzuhalten; […] denn der Deutsche ist nur wahr, wenn er deutsch ist und er ist nur deutsch, wenn er wahr ist.«500
1898 schreibt Woldemar von Seidlitz in Kunst und Handwerk: »Suchen wir erst wieder nach Stil und lernen ihn ertragen, so können wir auch alles ausdrücken, was uns erfüllt.«501 Teil der ›Krise des Historismus‹ war auch die Suche nach einem Nationalstil: »Wird über irgend etwas viel geredet und geschrieben, so darf man sicher sein, daß es nicht vorhanden ist. […] Mit dem Begriff ›Stil‹, der unser Volk neuerdings so stark okkupiert, ist es nicht anders. Wir haben Stilprogramme, gleich ein Dutzend nebeneinander; jenem Stil aber, der der ganzen Nation wie ein gut geschnittenes Gewand, natürlich am Körper sitzt, sind wir sehr fern.«502
Gerade im Bereich zwischen Kunst und Handwerk (etwa im Deutschen Werkbund) suchte man nach einem nicht pluralistisch relativierten Nationalstil, der nicht aus der Geschichte abgeleitet und wieder normativ war, um konkurrenzfähig mit den anderen Nationen zu bleiben respektive andere Nationen zu übertreffen. Friedrich Naumann, Gründungsmitglied im Werkbund und nationalliberaler Politiker, sah im Maschinenstil die Lösung: »Wir erinnern uns, mit welcher Geringschätzung noch oft in den siebziger Jahren von ›Fabrikware‹ geredet wurde. […] Das ist die Zeit, in der die Maschine direkt als Kunstzerstörerin auftritt. […] Auch wenn man nicht übertreibt, was die alte Durchschnittsmeisterschaft wert war, sie hatte ihr persönliches Element.«503
Dieser Fabrikationsweise will Naumann Neues entgegensetzen – freilich im Rückgriff auf die frühhistoristische Idee der Materialgerechtigkeit eines Hübsch oder Semper:
500 | Ebd., S. 65. Auch bei Worringer spielen völkische Aspekte eine Rolle. Er sieht in der Gotik das Kunstwollen der nordischen und in der Klassik das der südlichen Menschheit (vgl. Hartog und Lubricht 2004, S. 31). Worringer betrachtet die Gotik als eine verbindende Phase zwischen abstrakter, primitiver – das heißt bei ihm vorgriechischer – und realistischer, westlicher Kunst (vgl. Riejen, Exotismus 1992, S. 140). 501 | Seidlitz zit. n.: Hamann und Hermand 1967, S. 500. 502 | Scheffler 1920, S. 78 f. 503 | Naumann 1904, S. 113.
Systeme und Diskurse »Der Mensch besinnt sich auf das Wesenhafte, auf den Aufbau der Dinge selber, er lernt die Arbeit der Materie nachempfinden und hebt sich selbst an einem Material, dem diese Arbeit Lust ist. […] So wird auf eine schwer zu beschreibende Weise das Eisen zum Erzieher seines Zeitalters und hilft mit, den Stil der Neuzeit zu schaffen, den wir suchen.«504
Dieser Stil sollte der neue deutsche Stil werden: »Wir aber kehren zu dem deutschen Zukunftsideal zurück, ein künstlerisch durchgebildetes Maschinenvolk zu werden, und besprechen es von seiner technisch-ästhetischen Seite aus. Unser ganzes gewerbliches Schaffen braucht einen neuen deutschen Stil, um sich in seiner Eigenart in der Menschheit durchzusetzen.«505
Der Maschinenstil entsprach dem Zeitgeist, da er zweckmäßig und durch seine Produktionsweise zugleich massentauglich und damit profitabel war, ohne ästhetische Aspekte zu vernachlässigen. Teile des Werkbundes wandten sich gegen einen reinen Zweckrationalismus. Bandmann bemerkt zum Verständnis von zweckmäßiger Schönheit in diesem Umkreis: »›Die Demokratisierung des Luxus […] das ist die feindliche Macht, die sich einer gesunden Kunstgewerblichen Entwicklung entgegenstemmt.‹ Man bekannte sich nicht nur zum ›Echten‹ und ›Wahren‹ des ›ehrlichen‹ Materials, sondern oft sogar, so im Umkreis der Jugendbewegung, demonstrativ zum ›Ordinären‹ und zog Loden und Leinen dem Plüsch und Samt sowie Naturholz dem Schleiflack vor. Das Selbstbewußtsein setzt an die Stelle der ›Demokratisierung des Luxus‹ die ›Nobilitierung des Niedrigen‹. […] ›Zerschmeißt die Muschelkalksäulen, […] in Scherben den Marmor- und Edelholzkram, […]!‹ wettert Bruno Taut angesichts der Utopie einer neuen, klassenlosen Gesellschaft.«506
Stil wurde in den Augen des Werkbunds zum Geschmack degradiert und soziologisch in der Dialektik von Aristokratisierung des Bürgertums und der Verbürgerlichung des Adels verortet. Ähnlich sieht es Friedrich Schnack: »Seit dem Beginn des Maschinenzeitalters ist an die Stelle des Stils die Mode getreten. Sie ist kein Stilwechsel, sondern ein beständiger Wechsel des Geschmacks. Wo der Stil aufhört, beginnt sie, und eine Kulturzeit ist damit zu Ende.«507 Auch Friedrich Ahlers-Hestermann konstatiert:
504 | Ebd., S. 116 f. 505 | Ebd., S. 115. 506 | Bandmann 1971, S. 153. 507 | Schnack 1965, S. 19.
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»Arbeitende Bilder« »Um die Mitte des Jahrhunderts verschwindet aus seinem Gesamtaspekt die Harmlosigkeit. Die Maschine – ein neuer Maßstab für des Lebens Tempo […] – machte aus Ackerland Industriestädte. Ihr eiserner Arm schuf gewaltige Werte, erdrückte aber das Handwerk und entseelte die Form. […] kurz, das, was man etwa […] Jahre später mit dem netten, spritzenden Wörtchen ›Kitsch‹ bezeichnete […].«508
Während aber nach Michael Zimmermann der ›Gebildete‹ imstande war, Stil auch als Ausdruck einer politischen Lebenshaltung zu begreifen,509 verfiel der ›Neureiche‹ oftmals eben jenem Kitsch: »Der Ausdruck ›Talmi-Aristokratenkunst‹, dem als Gegenbegriff die ›Ehrlichkeit der Materialgerechtigkeit‹ entgegengehalten wird, bezeichnet […] das bekannte Phänomen, daß das emanzipierte Bürgertum des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gattungen und Formen für sich beanspruchte und auch in Besitz nahm, die vorher in einem aristokratischen Milieu sich gebildet hatten und ursprünglich dem Adel vorbehalten blieben. […] Diese in der ganzen Kunstgeschichte zu beobachtende Beanspruchung von Herrschaftsabzeichen durch eine bis dahin unterprivilegierte und nun emanzipierte Schicht wurde im 19. Jahrhundert durch den Umstand befördert, daß die maschinelle Produktion die beanspruchten Güter, oft in Ersatzmaterialien, verbilligte und so in großem Umfang der breiten Masse zugänglich machte.«510
Den Untergang des Stils diagnostiziert Ahlers-Hestermann aber nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern macht ihn auch an Beispielen wie Schloss Neuschwanstein fest: »Hier war es, wo der Reigen von Romantik und Stilmaskerade in die Melodien eines Totentanzes überging.«511 Dem als Ausdruck der Krise begriffenen Historismus versuchte man immer wieder, neue Konzepte entgegenzusetzen (etwa im Jugendstil, im Werkbund, im Nationalen und im Historismus selbst).512 ›Gelingen und Versagen‹ einer historistischen Kunst waren nach Heinßen auch abhängig von der jeweiligen Gattung: »Generell wird man […] für den Historismus des 19. Jahrhunderts, übrigens im Einklang mit Hegel, die poetisch-literarische Darstellung als die angemessene Kunstgattung betrachten müssen, da sie die Verknüpfung von Individualität und Entwicklung am besten zu leisten vermag. Dies verleiht allen Werken der bildenden Kunst, die im Zeichen des Historismus historische Mo-
508 | Ahlers-Hestermann 1956, S. 19. 509 | Vgl. Zimmermann 2000, S. 11. 510 | Bandmann 1971, S. 152 f. 511 | Ahlers-Hestermann 1956, S. 23. 512 | Neckenig 1982, S. 2 f.
Systeme und Diskurse tive wählen, von vornherein etwas Unzeitgemäßes, Akzidentielles, weil sie immer die Tendenz zur (überwundenden) Typenbildung aufweisen.«513
Der Historismus wurde spätestens von der sich als Avantgarde stilisierenden Kunst zum ›Lügenstil‹ erklärt.
3.3.3 Diskurse zur Gattung Skulptur Prägende Diskurse zur Skulptur vor 1871 »Ihre Werke sind kostbar und höchst mühsam: also muß auch der Zweck derselben groß seyn.«514
In dem Jahrhundert vor dem Deutschen Kaiserreich gab es einen reichen und intensiven theoretischen Diskurs um die Skulptur, der auch noch für das Verständnis der Skulptur vor/um 1900 relevant war, sich aber in den Augen mancher Kunsthistoriker als nachteilig auf die künstlerischen Aspekte dieser Gattung auswirkte. Man vertritt »[…] die These, die klassizistische Plastik der Aufklärung und des frühen 19. Jahrhunderts sei aufgrund einer historisch neuen Theorielastigkeit künstlerisch minderwertig, gleichzeitig finde hier ein epochaler Bruch in der Auffassung von Kunst überhaupt statt, der bis in die Gegenwart nachwirke.«515
Zum einen gründet die verstärkte Theoretisierung der Gattung Skulptur in dem Bedarf an einer genaueren ontologischen Bestimmung der Skulptur an sich. Sie konnte beispielsweise gegenüber der Malerei als aufgewertetes Pars pro Toto für die Bildende Kunst dienen oder als Gattung, die wesentlich auf die Aufgabe Statue beschränkt wurde. Von Literaten wurde Skulptur in kategorialer, thematischer und materieller Hinsicht insbesondere in Relation zur Gattungsbestimmung von Literatur geführt – mithin ein Paragone zwischen Skulptur und Literatur (vor allem in der sogenannten Laokoondebatte mit ihren Zeit- und Raumfragen). Zum anderen gründet sie in der zeitlich deutlich später stattfindenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Farbigkeit antiker Skulptur sowie in dem Einsatz und der damit einhergehenden Semantisierung neuer Materialien als Effekt der beginnenden Industrialisierung.
513 | Heinßen 2007, S. 132. Heinßen deutet auch die Denkmaldebatten als Zeichen dieser Krise (vgl. Heinßen 2007, S. 133). 514 | Sulzer zit. n.: Maaz, Bd. 1 2010, S. 23. 515 | Körner 1990, S. I.
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Themen und Aufgaben von Skulptur Auch in Überblickswerken der Zeit widmete man sich etwa von philosophischer Seite Theorien zur Bildhauerei. So gab Johann Georg Sulzer 1778 in der ersten deutschsprachigen Enzyklopädie zur Ästhetik (Allgemeine Theorie der schönen Künste) zentrale Aufgaben, Ansprüche und Begriffe zur Skulptur vor. Die Skulptur sei »in den Mitteln weit eingeschränkter«516 als die meisten anderen Künste, so Sulzer. »Ihre Werke sind kostbar und höchst mühsam: also muß auch der Zweck derselben groß seyn.«517 Die wichtigsten Themen der Skulptur sind laut Sulzer Mensch und Tier. Er sieht in der Skulptur ein den Menschen formendes, besserndes Potenzial gegeben:518 »Wenn diese Kunst würdig seyn soll, eine Gespielin der Beredsamkeit und der Dichtkunst zu seyn, so muß sie nicht blos bey der Belustigung des Auges stehen bleiben, und ihre Werke müssen nicht blos zur Pracht, oder zur Verzierung der Gebäude und der Gärten dienen, sondern starke, dauernde und vorteilhafte Eindrücke auf die Gemüther der Menschen machen.«519
»Sulzers platonische Auffassung sah die Erhebung über das Menschliche hinaus vor: Ein moralisches Innen solle dem Statuenkörper abgelesen werden, um den eigenen Leib und die Seele zu erheben.«520 Im Diskurs des 18. Jahrhunderts werde die Skulptur als Gattung mit großer Vergangenheit und großen Möglichkeiten, aber zugleich als eine Kunst ohne Gegenwart aufgefasst, so Körner.521 Die Auseinandersetzung mit der klassischen Antike bildet den Kernpunkt von Theorie und Praxis. Spätestens seit Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 wurde die Skulptur der griechischen Antike zum Maß aller Dinge. Nach Winckelmann liege nur in der Nachahmung der Alten, vor allem der Griechen, der Weg zum Großen.522 Das Studium der Natur könne durch das Studium der Antike ersetzt werden.523 Nachahmung bedeute aber nicht bloßes Kopieren, sondern die
516 | Maaz, Bd. 1 2010 S. 23. 517 | Sulzer zit. n.: ebd. 518 | Vgl. ebd. 519 | Sulzer zit. n.: ebd. Auch Schopenhauer steht in dieser Tradition: »Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch leisten mag, doch der modernen lateinischen Poesie analog und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus Reminiscenzen entsprungen. Läßt sie sich beigehn, originell seyn zu wollen, so geräth sie alsbald auf Abwege, namentlich auf den schlimmen, nach der vorgefundenen Natur, statt nach den Proportionen der Alten zu formen.« (Schopenhauer 2014, S. 666) 520 | Körner 1990, S. 64. 521 | Vgl. ebd. 522 | Vgl. Geimer 1998, S. 816. 523 | Vgl. Betzler 1998, S. XXIII.
Systeme und Diskurse
Übernahme des geistigen Verfahrens der Idealisierung.524 Die griechische Skulptur, für Winckelmann Ausdruck der Harmonie von Natur, Gesellschaft und Kunst,525 habe edle Einfalt und stille Größe verwirklicht. Wie auch Johann Gottfried Herder und Gotthold Ephraim Lessing propagierte Winckelmann die griechische Kunst und das hieß in erster Linie die Skulptur, weil er sie als Ausdruck einer tugendhaften Gesellschaft, als Triumph politischer Freiheit betrachtete.526 Winckelmann ist für alle die Skulptur betreffenden Diskurse eine der wichtigsten Referenzfiguren.527 Die antike Kunst entsprach dem aufklärerischen Postulat der natürlichen Körpersprache.528 Der reine, unverdorbene, gesunde Körper der Antike – die glatte Oberfläche verweist sinnfällig auf die innere Integrität – konnte damit als »Symbol für die makellose politische Figur stehen, die der moderne Bürger abgeben wollte«.529 Körner dazu: »Die Phantasien vom neuen ungebrochenen, körperlich vollkommenen und geistig unabhängigen Menschen suchten nach Bildern, die ihnen Nahrung gaben. Die Antike diente der Kulturkritik als Identifikationsort und als Folie futuristischer Projektionen.«530 Und an anderer Stelle: »Im Bild der Theorie kennt sie nur ein Sujet, hat sie ein zentrales Problem: das Verhältnis von Geist und Seele zum physischen Körper.«531 Glatte Oberflächen in Weiß bestimmten den äußeren Anschein. Der harte Körper des Klassizismus wollte sich abgrenzen vom weichen Körper des Barock.532 Für die Ikonografie bot Karl Wilhelm Ramler wichtige Hinweise, etwa in Allegorische Personen zum Gebrauche der bildenden Künstler.533 Autoren wie Ludwig Schorn (Verfasser von Ueber die Quellen der Plastik und der Malerey) setzten sich rund 40 Jahre später mit den Quellen für die Kunst auseinander und sahen diese in der Poesie, der Religion, der Dichtung und der Geschichte.534 1778 erscheint Johann Gottfried Herders Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Für ihn zeichnet sich Bildhauerkunst durch ihren höheren Wahrheitsgrad gegenüber der Malerei aus: »Endlich die Bildhauerei ist Wahrheit, die Malerei Traum; jene ganz darstellend, diese erzählender
524 | Vgl. Geimer 1998, S. 817. 525 | Vgl. Körner 1990, S. 7. 526 | Vgl. Bredekamp 1993, S. 87. 527 | Vgl. Körner 1990, S. 19. 528 | Vgl. Genge 2000, S. 10. 529 | Flynn 1998, S. 97. 530 | Körner 1990, S. 78. 531 | Ebd., S. II. 532 | Vgl. ebd., S. 34. 533 | Schon 1831 klagte Ernst Rietschel, es würden so viele reine Genrestücke produziert, in denen keine Idee zum Ausdruck kommt (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 64). 534 | Vgl. Bischoff 1985, S. 37.
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Zauber – welch ein Unterschied!«535 Dem Diktat der darstellenden und nicht erzählerischen Skulptur entspricht auch seine Ablehnung von Gruppendarstellungen: »Immer wieder versuchten sich die Plastiker an derjenigen Aufgabe, über die […] Herder mit Skepsis geschrieben hatte […]: die allegorische Gruppe. In seinem grundlegenden Traktat vertrat er bereits im 18. Jahrhundert die für Menschendarstellung gültige Auffassung, daß sich Skulptur/ Plastik primär in der Einzelgestalt verwirkliche – sie müsse ›Eins und ein Ganzes‹ sein –, ›Gruppen‹ aber eigentlich nur als Zweiergruppen möglich seien und somit eine Einheit bilden.«536
Diese Reduzierung auf Einzelfiguren verband sich zuweilen noch mit einer weiteren Forderung: »Dagegen drücken klassizistische Verfasser zuweilen die Ansicht aus, eine Skulptur müsse so komponiert sein, dass man ihren wesentlichen Inhalt von einem Standort aus erfassen kann. Das bedeutet aber nicht, dass sie einsichtig sein sollte«.537 Die Darstellung des Menschen538 wurde von allen Seiten weiterhin als das zentrale Thema der Bildhauerei postuliert: »Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst!«539, so Johann Wolfgang von Goethe in seiner Einleitung zu den Propyläen von 1798. An anderer Stelle formuliert er: »Der Hauptzweck aller Plastik […] ist, daß die Würde des Menschen innerhalb der menschlichen Gestalt dargestellt werde. Daher ist ihr alles außer dem Menschen zwar nicht fremd, aber doch nur ein Nebenwerk […].«540 Bei der Darstellung des Menschen sollte sowohl das Überals auch das Untermenschliche ausgeschlossen werden. Die Apotheose des Menschen erfolge in der Darstellung durch Kunst.541 Kunst sei nicht das Mittel, sondern letzter und höchster Zweck. Goethe glaubte deshalb an eine freie, selbstbestimmte Kunst, 542 denn »die Kunst, wenn sie lange mit Gegenständen umgeht, wird Herr über die-
535 | Herder zit. n.: Trier 1999, S. 281. Gian Lorenzo Bernini hatte es ähnlich formuliert: »Skulptur ist Wahrheit, das muß selbst ein Blinder zugeben. Aber Malerei ist Blendwerk, Lüge.« (Bernini zit. n.: ebd.) 536 | Schubert 1984, S. 113 f. 537 | Larsson 1974, S. 95 f. 538 | In diesem Diskurs stellt sich auch die Frage nach dem Allegorischen in der Skulptur. Wenk bemerkt dazu: »Hegels Begründung der Notwendigkeit allegorischer Verfahren bei Denkmälern verdeutlicht, daß nicht nur die Individualität ein Problem darstellt, sondern darüber hinaus das mit ihr verknüpfte ›Partikuläre‹, das mit bloß subjektiven Interessen Verbundende – im Gegensatz zum Verallgemeinerbaren, zum Allgemeingültigen.« (Wenk 1996, S. 99) 539 | Goethe zit. n.: Wolf 2001, S. 509. 540 | Ebd. zit. n.: Trier 1999, S. 195. 541 | Vgl. Rupprecht 1963, S. 206 f. 542 | Vgl. ebd., S. 223.
Systeme und Diskurse
selben«.543 Bei Goethe erfüllt nur die Skulptur »jene Forderung der künstlerischen Realisierung des ganzen Menschen«.544 Eine Ansicht, die er von Winckelmann oder Herder übernommen hatte und die Rupprecht als das plastische Ideal der Goethezeit beschreibt.545 »Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei’s«546, forderte Goethe. Der Körper der Griechen wird hier nicht als Abbild der Natur, sondern als die Verkörperung des Geistes verstanden.547 Christian Garve konstatierte, der Anblick von Statuen könne uns nicht in die wirkliche Welt versetzen. Es sei immer mehr Erinnerung als Anschauung und so müsse Schönheit ihr oberstes Prinzip sein.548 Arthur Schopenhauer unterstützt diese Position in Abgrenzung zur Malerei: »In der Skulptur sind Schönheit und Grazie die Hauptsache: in der Malerei aber erhalten Ausdruck, Leidenschaft, Charakter das Uebergewicht; […] Denn eine durchgängige Schönheit aller Gestalten, wie die Skulptur sie fordert, würde dem Charakteristischen Abbruch thun, auch durch die Monotonie ermüden. Demnach darf die Malerei auch häßliche Gesichter und abgezehrte Gestalten darstellen: die Skulptur hingegen verlangt Schönheit, wenn auch nicht stets vollkommene, durchaus aber Kraft und Fülle der Gestalten. […] Von diesem Gesichtspunkt aus scheint die Skulptur der Bejahung, die Malerei der Verneinung des Willens zum Leben angemessen, und hieraus ließe sich erklären, warum die Skulptur die Kunst der Alten, die Malerei die der christlichen Zeiten gewesen ist.«549
Der Aspekt der Erziehung des Menschen durch die Kunst spielt bei vielen Theoretikern eine Rolle. Kunst – vor allem in der Skulptur wurden große Möglichkeiten gesehen – soll eine Veränderung der Betrachter durch anschauenden Genuss bewirken.550 Friedrich Schiller schreibt der Kunst die Möglichkeit zu einer moralischen Erziehung zu, zu einem moralischen Wirken:551 »Ganz anders verhält es sich mit dem pädagogischen und politischen Künstler, der den Menschen zugleich zu seinem Material und zu seiner Aufgabe macht. Hier kehrt der Zweck in den
543 | Goethe zit. n.: ebd., S. 202. 544 | Ebd., S. 204. 545 | Vgl. ebd. 546 | Goethe zit. n.: Körner 1990, S. 117. 547 | Vgl. ebd., S. 156. 548 | Vgl. ebd., S. 153. Schönheit ist auch für Winckelmann der höchste Zweck der Kunst (vgl. ebd., S. 159). 549 | Schopenhauer 2014, S. 665. 550 | Vgl. Körner 1990, S. 66. 551 | Vgl. Maaz, Bd.1 2010, S. 44.
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»Arbeitende Bilder« Stoff zurück, und nur weil das Ganze den Theilen dient, dürfen sich die Theile dem Ganzen fügen.«552
Und in Anlehnung an Schillers Ideen behauptet Herder, die Betrachter würden durch fühlende Wahrnehmung einer antiken Skulptur den alten Gemütszustand seelischer Integrität erlangen.553 Goethe spricht von der Würde der Skulptur, die sich auf die ethisch-moralische Haltung der dargestellten Personen und auf den Besitzer der Kunstwerke beziehe.554 Der Vorbildcharakter antiker Kunst wurde aber auch relativierend betrachtet.555 Schon 1826 hatte Carl Seidel – im Sinne von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Geschichtsphilosophie – kritisiert: »Alle jene griechischen Götter und nackten Heroen, die unsere Zeit, wenn auch noch so vollendet, etwa hervorbringt, sind doch eigentlich nur als bloße Studien zu betrachten, denn sie haben ihre Bedeutsamkeit für religiöses und politisches Leben verloren.«556
Produktion Ein wichtiger formaler und ikonologischer Aspekt der Skulptur sind die verwendeten Materialien und der damit verbundene Produktionsprozess.557 Die Skulptur steht in Bezug auf den Material- und Produktionsaufwand zwischen Architektur und Malerei beziehungsweise Grafik. Die Stellung der Bildhauer ist an diesen Produktionsprozess gekoppelt, wenn man sich Folgendes vor Augen hält: Als Pierre Puget beim französischen Hofe in Ungnade fiel, bemerkte Denis Diderot, Puget sei der erste Künstler, den Frankreich dazu verurteilt habe, zu verhungern.558 Die Entstehung von Skulptur ist – und nicht nur aus Kostengründen559 – fast immer im Zusammenhang mit Auftraggebern zu sehen, die konkrete Forderungen an die Künstler stellten. Étienne-Maurice Falconet führte explizit die hohen Kosten einer Skulptur an und konstatierte deshalb,
552 | Schiller 2005, S. 237. 553 | Vgl. Hartog 2004, S. 430 f. 554 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 48. 555 | Friedrich Nietzsche dazu: »Winckelmanns und Goethes Griechen […] – irgend wann wird man die ganze Komödie entdecken: es war Alles über alle Maaßen historisch falsch, aber – modern, wahr!« (Nietzsche zit. n.: Borchmeyer und Salaquarda 1994, S. 1025) 556 | Seidel zit. n.: Maaz, Bd. 1 2010, S. 75. 557 | Sulzer widmet sich auch der Materialität, das heißt der verschiedenen Materialien und ihrer Bearbeitung von Skulpturen (vgl. ebd., S. 23). 558 | Körner 1990, S. 106 f. 559 | Man bedenke bei Skulptur beispielsweise auch die Frage der Aufstellung: Nicht jeder Ort konnte, auch wenn das finanzielle Potenzial vorhanden war, von jedem bespielt werden.
Systeme und Diskurse
Bildhauer seien die Künstler der Herrscher und ihr Schicksal würde von den (Finanz-) Ministern abhängen. Darüber hinaus betonte er die harte Arbeit der Bildhauer sowie die lange Arbeitszeit, den Materialwert und die Dauerhaftigkeit ihrer Werke.560 Für den Comte de Caylus ist letztendlich auch der theoretische Diskurs der Bildhauerei »untrennbar mit körperlicher Arbeit verbunden.«561
Haptik und Oberfläche Materialität – etwa im Sinne von künstlerischer Qualität beziehungsweise Möglichkeiten – war immer schon ein genuiner Bestandteil von Theorien zur Bildhauerei. Materialität steigert die (leibliche) Wahrnehmbarkeit von Skulptur und verwischt die Grenzen von Fiktion und Realität. Die Bildhauerkunst zeichnet sich Herder zufolge durch ihren höheren Wahrheitsgrad etwa im Vergleich zur Malerei aus, sie ist »dargestellte, tastbare Wahrheit.«562 Gundolf Winter schreibt hierzu: »Der Objektcharakter der Skulptur, das Faktische, gehörte schon zur kategorialen Bestimmung des Mediums Skulptur. Ihre Begründung liefert der Tastsinn, konkret die Hand, die die Werke der Skulptur fassen kann und in dieser Weise ›begreift‹. […] Die Augen können sich täuschen, die Hand nicht. Aus dieser Besonderheit hat man dann eine Rangfolge der Sinne im Hinblick auf Reales herleiten wollen, derzufolge der Tastsinn deutlich vor dem Gesichtssinn rangierte, man noch im ›blinden Erfassen‹ eine konkrete Form der Erfahrung von Wirklichkeit vermutete.«563
Die Leistung von Bildhauerei – so man denn an dieser dem Diskurs des Paragone entsprungenen Diktion festhalten möchte, in dem die Rolle und Stellung von Skulptur in der Gattungstrias diskutiert wird – besteht darin, einen Eindruck von Unmittelbarkeit zu hinterlassen. Körner schließt daraus: »Wegen ihrer körperlichen Präsenz und ihrer Disposition zu täuschender Natürlichkeit wird die Plastik strengen Geschmacksvorstellungen unterworfen.«564 Ein Aspekt hierbei ist beispielsweise der Komplex der Tastwahrnehmung,565 über den Bernhard Maaz sagt:
560 | Vgl. Körner 1990, S. 106. 561 | Ebd., S. 96. 562 | Herder zit. n.: Trier 1999, S. 20. 563 | Winter 2006, S. 13. 564 | Körner 1990, S. 76. 565 | Vgl. Körner 2006.
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»Arbeitende Bilder« »Diese ausdrückliche Beschäftigung der Bildhauer mit der haptischen Wahrnehmung ist freilich nicht zufällig, sondern selbstreferentiell in hohem Maße, weist doch damit die Skulptur auf die ihr idealiter eigene sinnliche Aneignung durch den Tastsinn hin.« 566
Glanz, oder besser Glätte durch Politur ist für die (haptische) Qualität einer Skulptur ein viel beachtetes Merkmal.567 Politur spielte nicht nur im Barock, sondern auch im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle.568 Für den Comte de Caylus ist die Darstellung des Fleisches die wichtigste Aufgabe der Bildhauer. In der Darstellung der Oberfläche der Skulptur, der Darstellung imaginärer Bewegung von Fleisch und Muskeln, zeigen sich die Qualitäten der Bildhauer, so Christian Ludwig von Hagedorn. Somit ist dieser Aspekt auch ein Teil der Frage nach den ›Möglichkeiten‹ von Skulptur und verweist auf den langen Schatten des Paragone-Diskurses.
Farbigkeit und Kostüm Indirekt schließen sich an die Frage nach der (materiellen) Leiblichkeit von Statuen auch die Diskurse um Bemalung und Nacktheit beziehungsweise Kostüm an. Der Comte de Caylus beispielsweise empfiehlt nur eine flüchtige Bemalung der Skulptur. Die Fassung solle ebenso wie die Politur – mit Wachs – den Effekt der Bewegung und des Fließens unterstreichen.569 Susanne Kähler bemerkt zu diesem Thema, die Diskussion um die Farbigkeit von Skulpturen sei im Kontext theoretischer Diskurse um archäologische Funde zu sehen.570 Gottfried Semper sprach sich 1834 auf der Basis eigener Forschungen für das ursprüngliche Vorhandensein farbiger Fassungen in der antiken Skulptur (und Architektur) aus, ein Jahr später wandte sich Franz Kugler in diesem Polychromiestreit dagegen.571 Das Thema der ›Kleidung‹ von Statuen wurde ebenfalls schon im 18. Jahrhundert diskutiert. Der Comte de Caylus favorisierte die Nachahmung antiker Gewänder.572 Falconet empfahl hingegen, sich keineswegs nur an den antiken Bekleidungen zu orientieren, aber vornehmlich die antiken Draperien zu wählen.573 1776 erschien – noch vor der eigentlichen Hochzeit des Denkmals – Wilhelm Gottlieb Beckers Schrift Vom
566 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 85. 567 | Vgl. Körner 2006, S. 134. 568 | Vgl. ebd., S. 140. Der harte Körper des Klassizismus wolle sich abgrenzen von der weichen Fleischlichkeit des Barock, so Körner (vgl. Körner 2002, S. 34). Und Kuhn pointiert dies so: »Der klassische Mensch will sich nicht vergessen. Er haßt den Rausch […].« (Kuhn 1922, S. 21) 569 | Vgl. Körner 1990, S. 97 ff. und S. 133. 570 | Vgl. Kähler 1996, S. 214 f. Winckelmann hatte trotz gegenteiliger archäologischer Funde eine marmorweiße Skulptur propagiert.
Systeme und Diskurse
Costume an Denkmälern, in der er in Anlehnung an Sulzer die Forderung aufstellte, dass verdiente Männer und nicht nur Fürsten in Denkmälern zu ehren seien. Und dies habe grundsätzlich nicht in zeitgenössischer Tracht zu erfolgen: »Die Entblößung der Brust, die Freyheit des Arms und der Füße, und das ungezwungne freye Pallium oder die Toga, die ihn umschwebt, prägen seine Würde in uns ein.«674 Im Anschluss daran setzten sich auch Hegel in Bekleidung in der Skulptur und Johann Gottfried Schadow in Über historisches oder ideales Kostüm mit der Frage der angemessenen Kleidung in der Skulptur auseinander. Schadow beispielsweise sprach sich für zeitgenössische Kleidung aus: »Figuren in unserer heutigen Tracht kann man ganz nach dem Leben ausführen [...].«675 Das zeitgenössische Kostüm wurde zum Standard und war damit auch Ausdruck eines (naturalistischen) Historismus.
Materialwahl Für die Gattung Skulptur waren in den Diskursen freilich nicht nur der Gegenstand und seine angemessene Präsentation relevant, sondern schon sehr viel grundsätzlicher der Stoff, aus dem Skulpturen gefertigt wurden. Thomas Raff, der sich solchen Phänomenen in Die Sprache der Materialien in historischer und systematischer Perspektive widmet, geht konsequenterweise von den »Aussagemöglichkeiten von Materialien« aus und nennt »Dauerhaftigkeit«, »Kostbarkeit«, »topografische Verweise« und »historische Verweise«.576 Dies deckt sich mit Winfried Nußbaumüllers Formulierung: »Material ist Träger der Aussage«.577 Mit der Wahl des Materials – und diese kann niemals losgelöst vom Produktionsprozess gesehen werden – verband sich seit jeher nicht nur ein ideeller Anspruch: »Oftmals besitzen Materialien eine bestimmte semantisch bedeutsame Eigenschaft nur in der Einbildung der Schöpfer, Auftraggeber oder Rezipienten eines Kunstwerks«.578 Raff spricht von »hierarchische[n] Materialreihen«579 und von der »Kunstgeschichtlichkeit« der Materialien: »Mit dem Terminus
571 | Vgl. ebd., S. 215. 572 | Vgl. Körner 1990, S. 99. 573 | Vgl. ebd., S. 116 ff. 574 | Becker 1985, S. 29. 575 | Schadow 1985, S. 31. 576 | Raff betont, Materialikonologie sei keine ästhetische, sondern eine inhaltliche Betrachtungsweise, die aber dennoch entscheidend zum Verständnis des ›Geistes‹ der Kunstwerke beitrage (vgl. Raff 1994, S. 31 f.). 577 | Nußbaummüller 2000, S. 17. 578 | Raff 1994, S. 14. 579 | Ebd., S. 50.
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›Kunstgeschichtlichkeit‹ soll jene Aura bezeichnet werden, welche einige Materialien durch ihre traditionelle Verwendung für Werke der ›hohen Kunst‹ erlangten.«580 Der Bezug zur Antike mit all ihren ideellen Ansprüchen drückte sich so auch in der Materialwahl aus: Man arbeitete all’antica. Das bevorzugte Material war damit weißer Marmor, der Zeitlosigkeit suggerierte und stets im Zusammenhang mit der Antike gesehen wurde. Die Dauerhaftigkeit – ein technischer Faktor – der Materialien etwa bei Denkmälern wurde schon von Plinius gefordert.581 Zur Kontinuität dieser Diskurse meinte Körner: »Für den Comte de Caylus ist die Skulptur vor allem die Kunst dauerhafter Erinnerung. Das schließt wiederum die Widerstandsfähigkeit des Materials, die Dauerhaftigkeit menschlicher Tugenden über die Zeiten – ›Heldentugenden‹ – und die Bedürftigkeit des Menschen nach immer wieder herzustellender sittlicher Erneuerung ein.«582
Franz Christoph von Scheyb ging sogar so weit, die Wahl von Gegenstand und Material als gleichwertig anzusehen.583 Letztlich vertritt diese Perspektive auch Goethe, wenn er in seinem Aufsatz Material der bildenden Kunst 1788 feststellt: »Es wird derjenige Künstler in seiner Art der trefflichste sein, dessen Erfindungs- und Einbildungskraft sich gleichsam unmittelbar mit der Materie verbindet, in welcher er zu arbeiten hat.«584 Die Hierarchisierung von Materialien ist Teil einer übergeordneten Hierarchiestruktur, die für das Kunstwerk angenommen wird. Sie schafft eine Wertehierarchie von Inhalt beziehungsweise Form und Material:585 »Seit der Antike hatte in theoretischen Begründungen des Kunstwerks die Vorstellung dominiert, die Form müsse das Material sublimieren, unterwerfen oder überwinden. In dieser Dualität stand die Form für die Idee, für das ›Geistige‹, welches das niedere Material zum Verschwinden bringt. […] Auch der Vorstellung, der Bildhauer habe die Form lediglich aus dem rohen Stoff der Natur zu befreien, lag dieses Ideal zugrunde.«586
580 | Ebd., S. 103. »Bronze und Marmor sind es vor allem, die sich seit der Antike mit ›Kunstgeschichtlichkeit‹ angereichert haben, was sich vielleicht am deutlichsten an ihrer Ablehnung durch verschiedene Künstler des 20. Jahrhundert zeigen läßt.« (Ebd.) 581 | Plinius spricht sich hier für Bronze aus (vgl. ebd., S. 33). 582 | Körner 1990, S. 94. 583 | Vgl. ebd., S. 72. 584 | Goethe zit. n.: Pudelek 2000, S. 151. 585 | Vgl. Raff 1994, S. 18. 586 | Rübel et al. 2005, S. 235.
Systeme und Diskurse
Anders als es bei Goethe anklingt, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Romantikern eine Abwertung des Materiellen proklamiert. Nach Karl Friedrich Schinkel belebe der Geist die Materie.587 Im Idealismus Hegels – in Anlehnung an Platons Ideenlehre – meint Raff eine der einflussreichsten Positionen für die Abwertung der Materialität des Kunstwerkes zugunsten der geistigen Inhalte von Kunst auszumachen.588 Kritisiert wurde in der idealistischen Betrachtungsweise die falsche Wertschätzung kostbarer Materialien durch das unverständige Volk.589 Hegel widmet sich in seinen Vorlesungen über Ästhetik gezielt dem Material in der Skulptur590: a) Holz, b) Elfenbein, Gold, Erz, Marmor und c) Edelsteine und Glas. Er stellt in den einzelnen Unterkapiteln die Materialien mit ihrer Geschichte, ihren technischen Aspekten oder ihrer Wertigkeit vor. Für ihn bedeutet die Behandlung des Materials im Kunstprozess »ein gänzliches Hereintreten in‘s Sinnliche und die Verschmelzung des Inneren mit seinem äußeren Dasein«591. Die Wahl des Materials ist dabei keineswegs beliebig: »Denn eine und die andere Art des Inhalts und der Auffassungsweise liegt der einen oder anderen Art des sinnlichen Materials näher und hat eine geheime Zuneigung und Zusammenstimmung mit demselben.«592 In diesen Aussagen findet man wie bei Carl Friedrich von Rumohr und Heinrich Hübsch die Idee der Materialgerechtigkeit. An anderer Stelle formuliert Hegel: »[…] so zeigt sich der Marmor als das gemäßere Material.«593 Das Materielle oder das an die Materie Gebundene birgt für ihn Probleme: »Soll in dieser Beziehung der Schein, in welchem die Kunst ihre Konzeptionen zum Dasein erschafft, als Täuschung bestimmt werden, so erhält dieser Vorwurf zunächst seinen Sinn in Vergleichung mit der äußerlichen Welt der Erscheinungen und ihrer unmittelbaren Materialität sowie im Verhältnis zu unserer eigenen empfindenden, das ist der innerlich sinnlichen Welt, welchen beiden wir im empirischen Leben, im Leben unserer Erscheinung selber den Wert und Namen von Wirklichkeit, Realität und Wahrheit im Gegensatz der Kunst zu geben gewohnt sind, der solche Realität und Wahrheit fehle. Aber gerade diese ganze Sphäre der empirischen inne-
587 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 44. 588 | Vgl. Raff 1994, S. 18 und S. 24. Musik und Literatur gelten aufgrund ihrer Unstofflichkeit bei Goethe und Hegel als die höchsten Kunstformen (vgl. ebd., S. 24 f.). 589 | Vgl. ebd., S. 19. 590 | 1835 bis 1838 wurden diese in den 1820ern gehaltenen Vorlesungen publiziert. Hegel bezieht sich unter anderem in der Einleitung zu diesem Kapitel auf Winckelmann. Auch in dem Kapitel zur Architektur greift er mit dem Punkt Über Holz- und Steinbau das Thema Materialität auf. Hegel 1964, S. 443-449. 591 | Ebd., S. 442. 592 | Ebd. 593 | Ebd., S. 447.
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»Arbeitende Bilder« ren und äußeren Welt ist nicht die Welt wahrhafter Wirklichkeit, sondern vielmehr in strengerem Sinne als die Kunst ein bloßer Schein und eine härtere Täuschung zu nennen. Erst jenseits der Unmittelbarkeit des Empfindens und der äußerlichen Gegenstände ist die echte Wirklichkeit zu finden.«594
Das Material ist für Hegel damit Ausdrucksträger und äußerer Schein einer Idee. Die Skulptur wird bei Hegel zur organischen Figuration der Materie:595 »Die Skulptur im allgemeinen faßt das Wunder auf, daß der Geist dem ganz Materiellen sich einbildet und diese Äußerlichkeit so formiert, daß er in ihr sich selber gegenwärtig wird und die gemäße Gestalt seines eigenen Inneren darin erkennt. Was wir in dieser Rücksicht zu betrachten haben, betrifft erstens die Frage, welche Weise der Geistigkeit fähig ist, in diesem Material der bloß sinnlich räumlichen Gestalt sich darzustellen; zweitens, wie die Formen der Räumlichkeit gestaltet sein müssen, um das Geistige in schöner leiblicher Gestalt zu erkennen zu geben. Was wir überhaupt zu sehen haben, ist die Einheit des ordo rerum extensarum und des ordo rerum idearum, die erste schöne Einigung von Seele und Leib, insofern sich das geistige Innere in der Skulptur nur in seinem körperlichen Dasein ausdrückt.«596
Karl Marx – in Abkehr zur idealistischen Position Hegels – nimmt das Material ganz anders in den Blick. Er schreibt dazu: »Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. […] Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andre Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. Die Produktion produziert die Konsumtion daher, 1. indem sie ihr das Material schafft; 2. indem sie die Weise der Konsumtion bestimmt; 3. indem sie die erst von ihr als Gegenstand gesetzten Produkte als Bedürfnis im Konsumenten erzeugt.«597
Marx analysiert den Bereich Materialität sehr weitgehend, indem er nicht nur auf die Wahl des Materials eingeht, sondern auch auf seine Rezeption, die aus einem komplexen Gefüge aus Erwartungen beziehungsweise Bedürfnissen sowie aus der Reproduktion von Erwartungen beziehungsweise Bedürfnissen besteht. Im Fall der Kunst be-
594 | Hegel 1971, S. 28. 595 | Vgl. Raff 1994, S. 24. 596 | Hegel 1964, S. 365. 597 | Marx 2014, S. 150.
Systeme und Diskurse
deutet das: Die künstlerische Produktion598 ist ein Prozess der Vergegenständlichung – wie es sowohl Hegel als auch Marx nennen würden599 –, in dem es zu einer Interaktion von Produktion und Material kommt. Künstlerische Arbeit oder Produktion schafft Materialität, also einen Mehrwert von Material. Denn die Produktion und ihre Verhältnisse bestimmen die Materialität, und die Materialität des Kunstwerks wiederum bestimmt das Bewusstsein der Rezipienten. Durch den Produktionsprozess, der wesentlich auch die Wahl des Materials beinhaltet, wird die Rezeption von Kunst gleichermaßen befriedigt, gesteuert, verfestigt und reproduziert. Die industrielle Revolution ist (auch) eine materielle Revolution im Sinne der Etablierung neuer Materialien. Rübel und andere sprechen von einer »durch die Materialien des Industriezeitalters ausgelöste[n] Verunsicherung der Formgebung« und infolge dieser von einer »grundlegenden kunsttheoretischen Neubestimmung«, etwa durch Sempers »Materialstil«.600 Die Frage nach der Materialität wurde indirekt zur Frage nach Modernität schlechthin und der Begriff der Materialgerechtigkeit zu einem wichtigen Diskurspunkt. In der Architekturtheorie wurde die Materialgerechtigkeit oft mit Zweckmäßigkeit begründet, »während man im Bereich von Malerei und Plastik und auch der Werkkünste gern auf die ›organische Schönheit‹ des Materials hinweist – hier wäre also die Bezeichnung einer sensualistischen Materialgerechtigkeit am Platze.«601 Die Wahl des angemessenen Materials in Hinblick auf die konstruktiven Anforderungen des Gegenstandes ist ein Kernpunkt, der eine weitreichende Diskussion entfachte. Nicht nur Semper oder Hübsch, auch Adalbert Stifter widmete sich 1857
598 | Letztlich ist die künstlerische Produktion eine Form von Arbeit: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. […] Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.« (Marx 1972, S. 192) 599 | »Im Arbeitsprozess bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozess erlischt im Produkt. […] Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet.« (Ebd., S. 195) 600 | Vgl. Rübel et al. 2005, S. 10. 601 | Bandmann 1971, S. 149. Die Materialdiskussion war bis Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst im Bereich der Architekturtheorie angesiedelt und wurde dann in das Kunstgewerbe einbezogen (vgl. ebd., S. 141).
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dieser Frage.602 Dabei wird Materialgerechtigkeit603 schnell zu einem ideologischen Problem der Materialehrlichkeit604. Hübsch spricht etwa in Bezug auf den Historismus vom »Lügen-Styl«605. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es zahlreiche Belege für die Ablehnung bestimmter Materialien wie Gips (Stuck oder Stuckmarmor), da diese andere Materialien wie Stein ›vorgaukelten‹. Goethe oder auch Johann Georg Overbeck lehnten diesen Werkstoff als tot ab, und Semper verspottete seine Armseligkeit.606 Kritische Stimmen zu industriellen Fertigungsverfahren wie dem Stein- und Zinkguss werden in einem Text von 1863 aus der Kunstzeitschrift Dioskuren deutlich.607 Trotzdem bedienten sich namhafte Bildhauer wie Johann Gottfried Schadow oder Christian Daniel Rauch des günstigen Eisengusses, der 1813 vom Berliner Modellmeister Wilhelm August Stilarsky entwickelt wurde.608 Das Neue Palais in Potsdam wurde mit Figuren aus ›Berliner Eisen‹ ausgestattet und sowohl Adel als auch Bürgertum folgten diesem Beispiel. In den unausgeführten Plänen zur Errichtung eines Völkerschlacht-Denkmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielte Eisen ebenfalls eine wichtige ideologische Rolle. Schinkels Denkmal in Gedenken an die Freiheitskriege in Berlin-Kreuzberg wurde ebenfalls aus Eisen gestaltet.609 Eisen ist ein gutes Beispiel dafür, wie Materialien ideologisch aufgeladen werden konnten: »Während der Befreiungskriege hatte Eisenmaterial nicht nur mangelnde Bronze ersetzt, es war zu einem patriotischen Material geworden. Das bezeigt auch das 1813 gestiftete ›Eiserne Kreuz‹ und die Ringe, die man unter der Parole ›Gold gab ich für Eisen‹ erhielt.«610 Die Damen demonstrierten ihre patriotische Gesinnung durch das Tragen von Schmuck aus ›Berliner Eisen‹, den sie im Austausch für die
602 | Vgl. ebd., S. 135 f. 603 | Weitere Begriffe sind »Materialgesetz« oder »Materialstimmung« (Rübel et al. 2005, S. 96; vgl. dazu auch Arburg 2008, vor allem die Kapitel 1.2.1. und 1.2.5.). 604 | Der Begriff der Wahrheit spielt hier eine wichtige Rolle: »Zu diesen unter dem Banner der ›Wahrheit‹ angetretenen Verfechter der Materialgerechtigkeit gehören auch zahlreiche Engländer und Franzosen, unter ihnen John Ruskin und Viollet-le-Duc, die, trotz sonstiger Unterschiede in der Gesinnung, sich einig sind, daß Stein wie Stein, Holz wie Holz und Eisen wie Eisen erscheinen solle und daß etwa Marmorierung von Holz Lüge sei.« (Bandmann 1971, S. 139) 605 | Vgl. Hübsch 1828, §11. 606 | Vgl. Raff 1994, S. 28 f. 607 | Vgl. Bischoff 1985, S. 207. 608 | Für die Plastik empfahl Schinkel beispielsweise den Zinkguss (vgl. ebd.). 609 | Vgl. Raff 1994, S. 57. Auch die Verwendung von Spolien wurde in diesem Zusammenhang von August von Kotzebue angeregt (vgl. ebd., S. 96). 610 | Scholz 1980, S. 42.
Systeme und Diskurse
Spende ihres Goldschmuckes zur Rettung des Vaterlandes erhielten.611 Eisen wurde nach den Befreiungskriegen drei Jahrzehnte lang zum nationalen Werkstoff in Deutschland.612
Das Gattungsverständnis der Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Die Bildhauerei als Kunst ist monumental, dient höherem Zweck, wird Träger des Gefühls, ist Kultträger.«613
Das Gattungsverständnis von Skulptur bestimmt im Wesentlichen auch ihre Aufgaben, und die ihr zugeordneten Aufgaben prägen die Wahrnehmung von Skulptur. Als Fragen formuliert heißt dies: Was kann Skulptur, was soll sie und weshalb nimmt sie eine bestimmte Form an? Wie kann und soll Skulptur rezipiert werden und wie wird in Bezug auf die ihr zugeschriebenen Funktionen die Rolle von Skulptur – auch als eine Frage nach Gelingen und Versagen – eingeordnet? Die Frage nach dem Können und Sollen von Skulptur wird oftmals nicht scharf getrennt: »Der Hauptzweck aller Plastik […] ist, daß die Würde des Menschen innerhalb der menschlichen Gestalt dargestellt werde. Daher ist ihr alles außer dem Menschen zwar nicht fremd, aber doch nur ein Nebenwerk«614 ,
so das bereits angeführte Zitat von Johann Wolfgang von Goethe 1817. Die Ikonografie ist damit festgelegt, eine Aufgabe von Skulptur ist bestimmt. Diese Auffassung von Skulptur spielte für das 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle, wie aus den Worten Rainer Maria Rilkes zu ersehen ist: »Die Künste hatten sich irgendwie erneut, Eifer und Erwartung erfüllte und belebte sie; aber vielleicht sollte gerade diese Kunst, die Plastik, die noch in der Furcht einer großen Vergangenheit zögerte, berufen sein zu finden, wonach die andern tastend und sehnsüchtig suchten? […] Ihre Sprache war der Körper. […] Und dieser Körper konnte nicht weniger schön sein als der der Antike, er mußte von noch größerer Schönheit sein.«615
611 | Vgl. Raff 1994, S. 57. 612 | Vgl. ebd. S. 15. 613 | Kuhn 1922, S. 100. 614 | Goethe zit. n.: Post 1921, S. 195. 615 | Rilke 1913, S. 12 f.
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Bei Rudolf Maison – der mit seiner Anleitung zur Bildhauerei für den kunstliebenden Laien neben Adolf von Hildebrands Das Problem der Form in der bildenden Kunst einen der wenigen von Bildhauern verfassten, umfänglichen skulpturtheoretischen Texte publizierte – fallen Skulptur und die Darstellung des Menschen zusammen: »Das körperhafte Nachbilden eines Lebewesens, z. B. des Menschen, in irgendeinem Material ist Plastik.«616 Auch der Kunsthistoriker August Schmarsow sah 1899 in der Skulptur die »Körperbildnerin«617. Heinrich Wölfflin bezeichnete die Skulptur als die Kunst der körperlichen Massen.618 Das Raumgreifende der Skulptur beziehungsweise das durch den Körper sich erschließende Raumgefühl betonte der Bildhauer Karl Albiker: »Unsere Raumvorstellung ist […] an die Vorstellung von Körperhaftem gebunden.«619 Fritz Baumgart zählte zu den Kunsthistorikern, die auch in den 1950er Jahren an der Ansicht festhielten, dass die vornehmste Aufgabe der Skulptur der Mensch sei. Der Malerei hingegen werde mehr Freiheit zugebilligt.620 Nach Eduard Trier wurden Goethes Ansichten zur Skulptur erst um die Wende zum 20. Jahrhundert hinterfragt, auch wenn Künstler wie Gerhard Marcks durchaus noch an diese traditionelle Auffassung des Menschenbildes anknüpften.621 In dieser Zeit wurde das Dogma von der Skulptur als eine an das Menschenbild gebundene Gattung infrage gestellt. Hermann Obrist schrieb 1901: »[…] dieser verhängnisvolle Wahn, daß die menschliche Figur Anfang und Ende der Plastik bedeutet, hat schon Generationen hindurch den Fortschritt gehemmt.«622 Auch Hans Arp wandte sich 1912 gegen den Anthropozentrismus der Skulptur: »Schon ziemlich zu Beginn seiner glorreichen Geschichte prägte er [der Mensch, Ergänzung S. C.] den Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei. […] Mit dem Maß aller Dinge, mit sich selbst, hat er gemessen und sich vermessen. Er hat die Schönheit verschneidert und verschnitten. Aus der Maßschneiderei wurde ein Konfektionshaus, und aus dem Konfektionshaus ist heute eine Formenschau der Tollheit geworden. Verwirrung, Unruhe, Unsinn, Besessenheit beherrschen die Welt.«623
Umberto Boccioni propagierte im Technischen Manifest der futuristischen Plastik die Zerstörung des Aktes, da etwa in den geraden Linien eines Streichholzes mehr Wahr-
616 | Maison zit. n.: Trier 1999, S. 21. 617 | Trier 1999, S. 21. 618 | Vgl. Trier 1999, S. 89. 619 | Albiker zit. n.: Trier 1999, S. 108. 620 | Vgl. Baumgart 1957, S. 7. 621 | Trier 1999, S. 196. 622 | Obrist zit. n.: ebd. 623 | Arp zit. n.: ebd., S. 197.
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heit enthalten sei als in allen Brüsten und Schenkeln von Helden und Venusbildern, die die Bildhauer so entzückten.624 Seit dem Paragonestreit des 16. Jahrhunderts wurde der Vergleich mit der Malerei zum Gattungsverständnis von Skulptur bemüht. Dieses Vorgehen erfuhr in der Aufklärung und im Historismus eine Renaissance, wenn auch die Akzente anders gesetzt wurden. In Anlehnung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und weitere Positionen des 18. Jahrhunderts625 galt die Malerei, da sie eher mit der Literatur verwandt sei, als eine zur Narration befähigte Kunstform. Eine »geschwätzige«626 Skulptur – vor allem vor dem Hintergrund einer als überbordend und malerisch wahrgenommenen Skulptur im Neobarock – wurde von zeitgenössischer Seite abgelehnt.627 Der ›Wettstreit‹ mit der Malerei oder gar der Fotografie – wie von Emil Heilbutt 1905 formuliert – wurde als falscher Naturalismus abgelehnt.628 Die Skulptur habe nach Max Schasler, Autor der Vossischen Zeitung, sehr eingeschränkte Möglichkeiten: Sie sei weder zur Landschaft noch zur Historie oder zum Genre geeignet.629 So wurde – letztlich in der Tradition des Klassizismus, dem damals eine Renaissance bevorstand – gefordert, dass sich die Skulptur komplexen, narrativen Kompositionen nicht widmen solle. Der Kunsthistoriker Konrad von Lange machte 1901 auf weitere Aspekte aufmerksam: »Auch der Bildhauer muss eine Menge an Veränderungen mit der Natur vornehmen, wenn er die seiner Kunst entsprechende Illusion erzeugen will. Zunächst kann er auch nicht alles darstellen, was er sieht […]. Menschen und Tiere sind die Hauptstoffe seiner Kunst, weil sie grosse zusam-
624 | Vgl. Post 1921, S. 120. 625 | Bereits in der Renaissance wurde dieses ›Problem‹ weitreichend diskutiert: »Obwohl seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Malerei und Bildhauerei einerseits als Schwesterkünste betrachtet wurden, die durch den disegno miteinander verbunden sind, ist es andererseits auffällig, dass beide dennoch vielfach hinsichtlich ihrer Aufgaben, wie sie Alberti im 15. Jahrhundert festgeschrieben hatte, geschieden wurden. Dies dürfte wohl weniger durch die geringere Anzahl an Statuengruppen, in denen, im Vergleich zu Gemälden, eine storia umgesetzt ist, bewirkt worden sein, sondern vielmehr durch den Umstand, dass zahlreiche Autoren in restriktiver Weise an der Aufgabentrennung der Gattungen festhielten.« (Reuter 2012, S. 70) 626 | Schubert 1977, S. 285. 627 | Schubert, der sich diese Argumentation zu eigen macht, nennt hierfür das Beispiel Rudolf Maison: »Der ohnehin malerische Grundzug seiner Plastiken – durch Material und Technik bedingt – wird in manchen Arbeiten ins Panoptikumartige gesteigert. Maisons Plastik sucht eine Illusion, die der Malerei allzu stark entlehnt ist, ja gerät in Wettstreit zur Malerei.« (Ebd., S. 282) Maaz dazu: »In dem solchermaßen verbalisierten und konsequent modellierten Verzicht auf Narratives liegt die große Wende, die Hildebrands Kunst verkörpert.« (Maaz 2010, S. 56) 628 | Schubert 1977, S. 287. 629 | Vgl. Storm 1990, S. 321.
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Aspekte des Naturalismus betrafen auch die Frage nach der Bemalung von Statuen sowie nach porträthaften Ansprüchen, wie sie beispielsweise im sogenannten Kostümstreit noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutiert wurden. Hildebrand thematisierte diesen Aspekt in seinem Text zu den Kaiser-Wilhelm-Denkmälern: »Es ist also von oberster ausschlaggebender Wichtigkeit betont worden, daß ein Kaiser-Denkmal schlechterdings in einem Reiterstandbild bestehen müsse, welches den verewigten Kriegsherrn in seinen Waffenrock, so wie ihn die Mitlebenden an der Spitze seines Heeres erblickt haben, darstelle. Dieser Auffassung liegt vor allem das Bedürfniß nach einem getreuen Portrait zu Grunde – ein sicherlich durchaus berechtigtes Bedürfniß.«631
Er wandte sich aber gegen eine exakte Wiedergabe von Kostümen: »Muß es nicht der Kunst überlassen bleiben, ihre Aufgaben auf ihre Weise zu lösen? […] denn die Plastik, indem sie Alles in reine Form übersetzt, verleiht dadurch der geringsten Einzelheit einen Werth, der weit hinausgeht, über den Werth, welchen sie in Wirklichkeit besitzt.«632
Aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit – dies gilt vor allem für Bronze und Stein, auf die der Materialdiskurs der Gattung in der Regel reduziert wurde – steht die Skulptur für das Dauerhafte, beziehungsweise weil Skulptur aus stabilen Materialien besteht, wird das Dauerhafte als Teil ihres Gattungsprinzips ausgegeben – ob sich dies nun auf die Zeitstruktur der Darstellung, auf die idealerweise ewig währende Aufgabe oder auf Geschichte als Thema bezieht. Indirekt prägte dies auch das Selbstverständnis der Bildhauer.633 Der Mensch ist nicht nur Hauptthema der Skulptur, sondern Skulptur steht dem Menschen auch in anderer Weise besonders nah: »Plastisches Fühlen ist das erste, dem Menschen urtümlichste Gefühl. […] Im Anfang war die Plastik« 634 , konstatiert deshalb Alfred
630 | Lange, Bd. 2 1901, S. 243 f. 631 | Hildebrand zit. n.: Bischoff 1985, S. 220. 632 | Ebd., S. 222. 633 | Lülf 1993, S. 43. 634 | Kuhn 1922, S. 9 f. Baumgart dokumentiert auch für diesen Aspekt einmal mehr eine rassistische Sichtweise auf Kunst, wenn er konstatiert, die Germanen würden, weil weniger sinn-
Systeme und Diskurse
Kuhn. Das Begreifbare635 machte im wahrsten Sinne des Wortes für viele Theoretiker das Unmittelbare und somit die Nähe der Skulptur zum Menschen aus. Der Diskurs im Zeichen eines Wettstreits der Sinne sprach dem Haptischen große Bedeutung zu.636 »Will man deshalb von einer Aufgabe der Kunst sprechen, so kann sie nur die sein, trotz aller Zeitkrankheiten immer wieder den gesunden und gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen unserer Vorstellung und unserer Sinnestätigkeit herzustellen und fühlbar zu machen.«637
Diese zu vermittelnden Werte konnten auch ideeller Natur sein, wie das Eingangszitat von Bernhard Hoetger verdeutlicht. Skulptur wird als Medium verstanden: »Das plastische Bildwerk ist wesentlich materiell, ein Ding, anzufassen, vorhanden. Aber es steht bei uns, ob wir im Bild des Dinges seine Dinglichkeit oder seine Bildhaftigkeit aufsuchen wollen. Es steht bei dem, der die Dinge macht, das Bild Mittler des Dinges oder Sinn des Dinges werden zu lassen.«638
Aus den Qualitäten der Bildhauerei wird auch ihre Funktion abgeleitet: »Die Bildhauerei zielt in ihrem Wesen auf die großen, die öffentlichen Aufgaben hin.«639 Skulptur
lich, weniger plastisch empfinden als die Romanen oder Orientalen (vgl. Baumgart 1957, S. 12). Wolfradt spricht dem Engländer die Voraussetzungen zum Plastischen gar ganz ab (vgl. Wolfradt 1920, S. 50). 635 | Jean Selz spricht von der Greifbarkeit von Skulptur (vgl. Selz 1963, S. 21) und meint: »Mensch und Statue teilen denselben Raum. Dies genügt, um zwischen ihm und ihr eine körperliche Beziehung herzustellen, die nicht ohne moralische Folgen bleibt. Jede Statue wirkt auf uns zunächst durch die bloße Macht ihrer Gegenwart. […] Damit ist es durch seine Form, durch sein Volumen und seinen Stoff ein Kompromiß zwischen dem Wirklichen und der Fiktion.« (Ebd., S. 12 f.) 636 | Man kann in diesem Zusammenhang vielleicht auch den Begriff der »Einfühlung« anführen, wie er etwa bei Theodor Vischer Verwendung findet (vgl. Nachtsheim 1984, S. 83). Genge verweist für einen anderen Kontext auf die Betonung haptischer Qualitäten: »Maßgebliche Bestimmungsgrößen des Skulpturalen, das mit Mitteln materieller dinghafter Aufstellung und Präsenz im Betrachterraum, indexikalischer Authentisierung und haptischer Wahrnehmbarkeit, vor allem aber Verortung im Kontext einer Hierarchie der Sinne operiert, etablieren sich gerade im ethnografischen Diskurs als Kompensationsmodelle einer für das 19. Jahrhundert geltend gemachten Krise visueller Repräsentation.« (Genge 2009, S. 20) 637 | Hildebrand 1893, S. 107. Einmal mehr werden auch bei Hildebrand die Begriffe ›krank‹ und ›gesund‹ als Charakterisierung der Kunst verwendet. 638 | Wolfradt 1920, S. 9. 639 | Hentzen 1934, S. 10.
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wird zu einem großen Teil für die Öffentlichkeit geschaffen und hat damit potenziell eine große Wirkkraft. Ihr kommt sehr oft eine repräsentative Funktion zu. Ein Bildwerk kann so auch zu einem lange Zeiten überdauernden Kultbild werden.640 Das Ideal von Skulptur und die sich daraus ergebenden Anforderungen an Skulptur in der wilhelminischen Kunstpolitik sind der Rede von Kaiser Wilhelm II. zur Einweihung der Siegesallee, die eines der wichtigsten Denkmalprojekte nationaler Art war, zu entnehmen. In einem Erlass an den Magistrat und die Stadtverordneten hatte der Kaiser 1895 seine Intention zu diesem Projekt beschrieben: »Als Zeichen meiner Anerkennung für die Stadt und zur Erinnerung an die ruhmreiche Vergangenheit unseres Vaterlandes will ich einen bleibenden Ehrenschmuck für meine Haupt- und Residenzstadt stiften, welche die Entwicklung der vaterländischen Geschichte […] darstellen soll. Mein Plan geht dahin, in der Siegesallee die Marmor-Standbilder der Fürsten Brandenburgs und Preußens, […] und neben ihnen die Bildwerke je eines für seine Zeit besonders charakteristischen Mannes, sei er Soldat, Staatsmann oder Bürger, in fortlaufender Reihe errichten zu lassen.«641
Hier lässt sich Wichtiges zum Gattungsverständnis ableiten: Skulptur als Denkmal gilt als geeignetes Medium der Erinnerung an und zur Verehrung von Vergangenheit und Gegenwart. Um diesen Intentionen Gestalt zu verleihen und das Bleibende zu gewährleisten, wählte man das Material Marmor. Als vielfiguriges Programm war das Denkmal geeignet, Historie zu verbildlichen. Neben Erinnerung, Ehrung und Schmuck erfüllte es noch eine weitere Funktion: »Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten. […] Es bleibt nur das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese großen Ideale zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehörte, daß wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreise heraus- und emporzuarbeiten.«642
640 | Belting hat in seiner Arbeit das Verhältnis von Bild und Kult untersucht und verdeutlicht die wichtige Rolle, die Bildern im religiösen und profanen Kontext zukommt: »Die Autorität, die ihnen [den Bildern] in solchen Rollen zuwuchs, befähigte sie dazu, die Gesellschaft […] auf sie einzuschwören und ihre ideale Gemeinschaft mit ihnen zu symbolisieren. So dienen Bilder auch der Herstellung kollektiver Identität, wo diese gefährdet ist.« (Belting 2000, S. 55 ff.) Auch für Benjamin ist der Begriff des Kultes wichtig. Er unterscheidet zwischen »Kultwert« und »Ausstellungswert« (Benjamin 1976, S. 19). 641 | Kaiser Wilhelm II. zit. n.: Bischoff 1985, S. 250. 642 | Ebd., S. 252.
Systeme und Diskurse
Das Schöne der Kunst sollte erzieherisch auf alle und insbesondere auf »die untersten Schichten« wirken. Sie sollten sich an den präsentierten Idealen aufrichten und diese vollends verinnerlichen, sodass sie ihren »sonstigen Gedankenkreisen«643 den Rücken zukehren und sich zu Höherem aufschwingen konnten. Das vermeintlich Schöne der Kunst war hierfür die Voraussetzung: »Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muß das ganze Volk daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muß sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt.«644
Kulturarbeit ist Sozialarbeit und an dieser sollten sich möglichst viele – im Sinne der Gemeinschaft – beteiligen, damit auch die unteren Schichten, an deren Zugehörigkeit zum ganzen Volk die Herrschenden offensichtlich ihre Zweifel hatten, eingebunden werden konnten. Es handelte sich um eine von oben verordnete Integration, die damals wie heute äußerst beliebt und dennoch – oder gerade deswegen – oftmals wenig erfolgreich ist. Die Skulptur bot sich für diese Maßnahmen aufgrund ihrer Medialität und Materialität in besonderer Weise an. Zudem komme es, so konstatierte Wilhelm II., im Gegensatz zu anderen Gattungen nicht zum Verlust hehrer Ideale: »[…] noch ist die Bildhauerei zum größten Teile rein geblieben von den sogenannten modernen Richtungen und Strömungen, noch steht sie hoch und hehr da – erhalten Sie sie so, lassen Sie sich nicht durch Menschenurteil und allerlei Windlehre dazu verleiten, diese großen Grundsätze aufzugeben, worauf sie auferbaut ist!«645
Jeder anderen Form sprach der Kaiser, der sich als oberster Kunstwart begriff, den Kunstwert ab und warnte insgesamt vor dem vermeintlichen Ideal der Freiheit: »Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden. Mit dem vielmißbrauchten Wort ›Freiheit‹ und unter seiner Flagge verfällt man oft in Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit, Selbstüberhebung.«646
643 | Mit diesen ›Gedankenkreisen‹ waren vor allem sozialistische Ideen gemeint. 644 | Kaiser Wilhelm II. zit. n.: Bischoff 1985, S. 252. 645 | Ebd., S. 251. 646 | Ebd.
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Der vom Kaiser formulierten positiven Beurteilung der Skulptur schließen sich weitestgehend weder Zeitgenossen noch die nachfolgende Forschung an: »Welche Masse von Plastik, die sich abmüht, irgend etwas Neues zu geben«647, heißt es etwa bei Hildebrand. In erster Linie ging es den Kunstwissenschaftlern wie den Kritikern um die skulpturale Aufgabe Denkmal.648 »Die Quellen dokumentieren, wie sehr die Kunst des Bildhauers im 19. Jahrhundert ins Blickfeld öffentlicher Diskussion rückte und damit Gegenstand auch politischer Auseinandersetzung wurde«649,
so Ulrich Bischoff in seiner Einleitung zur Quellensammlung zur Skulptur des 19. Jahrhunderts. Skulptur erfuhr in der Berichterstattung zu Ausstellungen weniger Aufmerksamkeit, was Autoren mit dem geringen Interesse der Ausstellungsbesucher an dieser Gattung begründen, selbst wenn ausnahmsweise sogar mehr Skulpturen ausgestellt werden als üblich. Friedrich Eggers beschreibt es 1851 in seiner Besprechung der Pariser Kunstaustellung so: »[…] wir wenden uns zu der Skulptur […], um in Kürze das Hauptsächlichste wenigstens anzudeuten […]. Es ist eine bekannte Thatsache, […] dass das Verständnis ihrer Schöpfungen und eine lebendige Sympathie für dieselben vergleichungsweise nur Wenigen angehören kann […].«650
Er suchte nach einer Erklärung für den plötzlichen Anstieg der Zahl ausgestellter Skulpturen: »In den Jahren des tiefsten Friedens ruhen die Arbeiten des Meissels; dagegen sind die Jahre, die auf gewaltsamen Umsturz und Regierungswechsel folgen, der Kunst der harten Stoffe besonders günstig.«651
647 | Hildebrand zit. n.: Wolf 2008, S. 243. 648 | Vgl. Bischoff 1985, S. 9. Die Quellensammlung verstärkt oder verzerrt dieses Bild jedoch weiter. Eine der wichtigsten theoretischen Auseinandersetzungen – Hildebrands Das Problem der Form in der bildenden Kunst aus dem Jahr 1893, obwohl es übergreifend als bedeutend eingeschätzt wurde und wird – wurde ebenso wenig aufgenommen wie die Schrift von Rudolf Maison. 649 | Ebd., S. 10. 650 | Eggers 1851, S. 307. 651 | Ebd., S. 307 f.
Systeme und Diskurse
Dieser Tenor ändert sich nicht: Julius Meier-Graefe bemängelte noch ungefähr 50 Jahre später an der Weltausstellung in Paris 1900: »Die Skulptur ist auf der Weltausstellung wie immer stiefmütterlich behandelt.«652 Karl Eugen Schmidt schrieb 1902 in Die Kunst-Halle anlässlich des Pariser Salons: »In der Skulptur sieht es öde aus, nicht nur in diesem Jahr, sondern immer.«653 Schon fast ein halbes Jahrhundert früher hatte Charles Baudelaire von den »ärgerlichen«654 Formen der Skulptur gesprochen und diese als langweilig stigmatisiert. 655 Im Salon von 1846 schreibt er: »Die Bildhauerei leidet unter Mängeln, welche die notwendige Folge ihrer Mittel sind. Brutal und gegenständlich wie die Natur, ist sie gleichzeitig auch vage und ungreifbar, da sie zu viele Antlitze auf einmal bietet. Vergeblich müht sich der Bildhauer um einen einzigen Gesichtspunkt […].«656
Dieser Meinung schlossen sich auch andere an: »Neben großen Werken wurde sehr viel Mittelmäßiges und Landläufiges geleistet, so daß man nach neuen Motiven suchte. Am glücklichsten waren diejenigen, welche Plastik und Architektur in die innigste Verbindung setzten.«657
In zeitgenössischen Quellen und Forschungsarbeiten, aber auch in der späteren Literatur finden sich, trotz oder gerade wegen der hehren Ideale, die man in der Skulptur zu realisieren suchte, viele negative Urteile zur Bildhauerei des Kaiserreiches: »Während die Zeit grundlegende innere Wandlungen erlebte, […] wurden die idealistischen Kompromißprodukte der Rauchschule einzig formal abgewandelt, einzig dem Prinzip eines gedankenlosen Atelierschlendrians folgend.«658
Nach dem Goethe-Schiller-Denkmal von Ernst Rietschel habe sich nach Kuhn nur noch das Postament geändert, und es sei ein großes Maß an Geschmacklosigkeit in der zweiten Hälfte 19. Jahrhundert gefolgt.659 Das schwindende Verständnis für Skulptur und eine hohe Wertschätzung der Malerei – beides setzte die Jahrhunderte lange
652 | Meier-Graefe zit. n.: Berger 1998, S. 8. 653 | Kähler 1996, S. 74. 654 | Schubert 1984, S. 114. 655 | Vgl. Dufrêne 2009, S. 95. 656 | Baudelaire zit. n.: Selz 1963, S. 117. 657 | Kuhn 1933, S. 207. 658 | Kuhn 1922, S. 34. 659 | Vgl. ebd.
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kunstliterarische Zurücksetzung der Skulptur (trotz Donatello, Michelangelo, Gian Lorenzo Bernini und Antonio Canova als den überragenden Künstlern ihrer Epoche) gegenüber der Malerei fort – führte nach Baumgart zu einer Fülle von Scheußlichkeiten an öffentlichen Plätzen.660 Hier zeigt sich, dass auch in der Bewertung der Bildhauerei der Vergleich zur Malerei – und das bis ins 20. Jahrhundert hinein – bemüht wurde. 1880 behauptete Wilhelm Lübke, Bildhauer würden nicht auf eine klassische Art der Darstellung verzichten können, die Malerei habe dies aber bereits getan.661 Mehr als 100 Jahre später schrieb Trier der Skulptur nur bis zum Ende des Klassizismus eine führende Rolle zu. Anschließend habe sie ihre Position an die Malerei abtreten müssen.662 Das 19. Jahrhundert sei eines der Malerei, meint auch Bruno Werner.663 Als habe es weder Jugendstil noch Dadaismus oder Bauhaus gegeben, konnte Michel Seuphor noch 1959 behaupten, alle modernen Strömungen seien von der Malerei ausgegangen.664 Über den »Niedergang der Plastik im 19. Jahrhundert«665 schien man sich einig. 1899 konstatierte Schmarsow: »Keine Kunst ist dem modernen Menschen so entfremdet wie die Plastik.«666 Und auch Boccioni formuliert im Technischen Manifest der futuristischen Plastik für die europäische Bildhauerei: »Die Plastik befindet sich heute in allen Städten Europas in Denkmälern und Ausstellungen ein so bemitleidenswertes Schauspiel an Barbarei und phantasieloser Nachahmung, daß sich mein futuristisches Auge mit tiefem Ekel abwendet.«667
Ebenso kritisch äußert sich Wassily Kandinsky: »Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle. So bringt jede Kulturperiode eine eigene Kunst zustande, die nicht mehr wiederholt werden kann. Eine Bestrebung, vergangene Kunstprinzipien zu beleben, kann höchstens Kunstwerke zur Folge haben, die einem totgeborenen Kinde gleichen. Wir können z. B. unmöglich wie alte Griechen fühlen und innerlich leben. So können auch die Anstrengungen, z. B. in der Plastik die griechischen Prinzipien
660 | Vgl. Baumgart 1957, S. 7. 661 | Vgl. Selz 1963, S. 30. 662 | Vgl. Trier 1999, S. 21. 663 | Vgl. Werner 1940, S. 14. 664 | Vgl. Seuphor 1959, S. 12. 665 | Baumgart 1957, S. 183. 666 | Schmarsow zit. n.: Rübel, Plastizität 2005, S. 283. Moderne und Skulptur wurden schon von den Zeitgenossen als zwei Antipoden angesehen. 667 | Boccioni zit. n.: Rübel et al. 2005, S. 273.
Systeme und Diskurse anzuwenden, nur den griechischen ähnliche Formen schaffen, wobei das Werk seelenlos bleibt für alle Zeiten – Eine derartige Nachahmung gleicht den Nachahmungen der Affen.«668
Die Rolle der Skulptur im europäischen Ausland »Ich möchte es ihnen wünschen, denn die Deutschen haben wirklich keine Ahnung davon, was Skulptur ist.«669
Die Auseinandersetzung670 der Bildhauer mit ausländischer Kunst konnte über Reisen, aber auch durch mediale Vermittlung wie Zeitschriften und Ausstellungen erfolgen und wurde als Marketingmittel eingesetzt.671 Figuren wie Julius Lessing, Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, spielten eine entscheidende Rolle. So forderte er die Deutschen nach seiner Besprechung der Weltausstellung 1878 auf, sich mit französischer Skulptur zu beschäftigen.672 Ab 1889 begann man in Kunstzeitschriften vermehrt, französische Bildhauer unabhängig der Salonausstellungen in Deutschland zu besprechen.673 Karl Eugen Schmidt verfasste 1902 in der Kunstchronik anlässlich des Todes von Jules Dalou einen Aufsatz über denselben: Er zählte ihn neben Auguste Rodin, Albert Bartholomé oder Emmanuel Frémiet zu den wichtigsten Bildhauern, die »die französische Skulptur unserer Zeit auf die höchste Staffel in der internationalen Stufenleiter gestellt haben.«674 Walther Gensel kritisierte hingegen Dalous Triumph der Republik als pomphaft, nichtig, schwülstig und innerlich hohl, während er das Monument für die Toten von Bartholomé lobte, der dank dieses Werkes in der Zeit zwischen 1900 und 1914 hohes Ansehen in Deutschland genoss. Bartholomés Werk sei eine überzeugende Realisierung der Theorien Hildebrands.675
668 | Kandinsky 1912, S. 3 ff. 669 | Apollinaire zit. n.: Merkel 1995, S. 226. 670 | Der Begriff ist hier bewusst gewählt, da nicht von einem einseitig gedachten Abhängigkeitsverhältnis auszugehen ist. 671 | Vgl. Hartog und Lubricht 2004, S. 25. 672 | Vgl. Kähler 1996, S. 241. 673 | Vgl. ebd., S. 72. 674 | Schmidt zit. n.: ebd., S. 73. 675 | Vgl. ebd., S. 231 f. Bartholomés Monument für die Toten gehörte zu den meistrezipierten Denkmälern seiner Zeit (vgl. ebd., S. 247).
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Die Rezeption676 ausländischer – und das hieß vor allem französischer – Kunst im Kaiserreich ist immer auch unter dem Vorzeichen des Nationalismus zu betrachten. Der häufig von chauvinistischen Ressentiments begleitete Vergleich zwischen deutschen und französischen Bildhauern war auf beiden Seiten beliebt: Vor seiner Reise nach Paris bezeichnete Ernst Barlach spöttisch den lüsternen Gorilla von Frémiet als den Inbegriff der französischen Skulptur.677 »Ich möchte es ihnen wünschen, denn die Deutschen haben wirklich keine Ahnung davon, was Skulptur ist. Die Vogelscheuchen der Siegesallee, die Werke von Begas und die des jüngeren Klinger vermögen diese Ansicht in nichts zu widerlegen«678,
schrieb Guillaume Apollinaire 1902 in La Revue Blanche abwertend. Der neobarocke Stil von Reinhold Begas wurde interessanterweise weder von französischen noch deutschen Kunstkritikern »als etwas der deutschen Plastik verwandtes«679 angesehen. Gestalterische Unterschiede versuchte man oftmals, national zu erklären.680 Der deutschnationale Kunstkritiker Adolf Rosenberg bemühte sich 1902 in der von ihm verfassten Biografie zu Gustav Eberlein, diesen von den französischen und belgischen Naturalisten Rodin und Constantin Meunier abzugrenzen und warf dem Staat vor, vorzugsweise den Stil dieser beiden zu prämieren.681 Dem Vorwurf der Bevorzugung ausländischer Bildhauer waren auch Museen ausgesetzt.682
676 | Kunstgeschichte ist ebenfalls eine Rezeptionspraxis, die bestimmten Konstruktionen unterliegt, wie etwa bei Curtis ersichtlich wird: »Si l’histoire de la sculpture moderne est encore plus française que celle de la peinture moderne, il faut tenter de l’articuler avec artistes comme Wilhelm Lehmbruck, souvent placés à part, surtout lorsque cette histoire est narrée par des auteurs anglo-saxons ou français.« (Curtis 2009, S. 79) 677 | Vgl. Kähler 1996, S. 121. 678 | Apollinaire zit. n.: Merkel 1995, S. 226. 679 | Vgl. Kähler 1996, S. 240. 680 | Vgl. ebd., S. 35. 681 | Vgl. ebd., S. 212. 682 | Kähler weist darauf hin, dass die französische Skulptur in Deutschland weit weniger stark abgelehnt wurde als die Malerei (vgl. ebd., S. 76). Jochum-Bohrmann führt das Beispiel Hugo Tschudis an, der unter anderem Werke von Rodin und Meunier angekauft hatte. Auch wurden ausländische Bildhauer nicht auf den Großen Berliner Kunstausstellungen gezeigt (vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 29). Ein ähnlicher Fall ist Hermann Schmitz, der sich in seiner Schrift Revolution der Gesinnung!: Preussische Kulturpolitik und Volksgemeinschaft seit dem 9. November 1918 mit dieser Problematik auseinandersetzen musste und sich vehement gegen den Verkauf französischer Regencezimmer aus dem Bestand des Museums wehrte (vgl. Schmitz 1931, S. 114130). Fürsprecher französischer Bildhauerei waren auch Gustav Pauli, Carls Ernst Osthaus, Ge-
Systeme und Diskurse
Auf Ausstellungen, die scheinbar weniger fremdenfeindlich waren als die Kunstpublizistik, sahen deutsche Bildhauer ihr Werk mit denen ausländischer Künstler konfrontiert. Bei einer Ausstellung in Düsseldorf etwa werden bei dem Werk Junge Mutter von Gregor von Bochmann enge Bezüge zu Rodin konstatiert.683 Aber auch als reine Besucher konnten deutsche Bildhauer bei internationalen Kunstausstellungen in Düsseldorf, Kassel, Leipzig, Krefeld oder München und Berlin einen Eindruck von französischer Kunst bekommen.684 Viele Künstler reisten auch ins Ausland,685 um beispielsweise Rodin zu sehen, der in der Anfangsphase der Bildhauerei des Kaiserreichs vermutlich den wichtigsten Auseinandersetzungspunkt bildete. Personen unterschiedlichster Professionen wie Rilke, Georg Treu, Georg Simmel, Karl Scheffler oder Julius Meier-Graefe machten Rodin in Deutschland bekannt.686 Er wurde seit 1883 vereinzelt in Deutschland ausgestellt und ab 1900 auch stark rezipiert.687 Grund für die positive Rezeption seiner Werke war folgender: Rodin hatte nahe der Pariser Weltausstellung einen eigenen Pavillon mit seinen Werken errichtet,688 was dazu führte, dass ihm 1904 eine Einzelausstellung in Düsseldorf und weitere Ausstellungen in Weimar, Dresden und Leipzig gewidmet wurden.689 Vereinfacht lässt sich sicherlich Folgendes festhalten: »Die Maßstäbe der europäischen Bildhauerei um 1900 wurden im wesentlichen von drei Künstlern gesetzt: Mit Darstellungen aus der proletarischen Arbeitswelt führte Constantin Meunier neue Themen ein, in den Formen blieb er jedoch traditionell. August Rodin überwand diese Traditionen. Seine Bronzen sind bestimmt vom Spiel von Licht und Schatten auf den stark belebten Oberflächen. […] Seine Figuren sind stark bewegt mit erregtem, bisweilen impressionistischen Prinzipien. Die Kunst von Aristide Maillol muß auch als Reaktion auf Rodin angesehen werden, denn er führte die Bildhauerei wieder zu geschlossenen Formen mit glatten Oberflächen zurück. Seine in sich ruhenden Figuren sind voll Harmonie in Bewegung und Ausdruck. Maillol strebte zur Monumentalität.«690
org Treu und Alfred Lichtwark (vgl. Kähler 1996, S. 242). Treu verfasste etwa 1898 eine Schrift zu Meunier und 1907 wurden die Sezessionskünstler als undeutsch und entartet kritisiert (vgl. Jans, Paris 1992, S. 98). 683 | Vgl. Dresch 1984, S. 106. 684 | Vgl. Kähler 1996, S. 77 und S. 242. 685 | Vgl. ebd., S. 244. 686 | Vgl. Kitschen 2009, S. 59. 687 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 24. 688 | Vgl. Berger 1998, S. 8 f. 689 | Vgl. Kitschen 2009, S. 58 f. 690 | Dresch 1984, S. 105. George Minne, dessen Werk Brunnen der Jugend schon früh für das Museum in Hagen von Osthaus angekauft wurde, war ein weiterer wichtiger belgischer Bildhauer,
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Dietrich Schubert kommt zu einem ähnlichen Urteil: »Die den Historismus und die ärgerliche Salonplastik überwindende Kunst Rodins und in Belgien die monumental konzentrierten und durch Erneuerungen der Inhalte (›Realismus‹) gekennzeichneten Plastiken Constantin Meuniers (des ›neuen Herakles‹, wie Georg Treu ihn nannte) veränderten die historische Situation der Plastik/Skulptur nach 1880 und insbesondere für den Beginn des 20. Jahrhunderts […].«691
An Meuniers Seite ist der bereits erwähnte Dalou zu stellen, dessen sozial motivierte Themen sich in Paris großer Beliebtheit erfreuten.692 Mit Maillol setzte sich ungefähr ab 1904 eine neue Bildhauergeneration in Paris durch, 693 deren neoklassizistische Formensprache694 mit ihren geschlossenen Konturen für deutsche Künstler prägend wurde. Sie orientierten sich nunmehr eher an Maillol als etwa an Hildebrand. 695 Für die Vereinfachung der Form – auch als Absage an Rodin – nennt Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth ebenfalls Maillol und Antoine Bourdelle, denen Künstler wie Gustav Vigeland und Carl Milles, aber auch Alexander Archipenko und Constantin Brâncuşi folgten. 696 Die beiden letzteren Künstler zählen zu den frühsten Vertretern der abstrakten Skulptur. Auch Kubismus und Futurismus trugen zur unfigürlichen Skulptur bei: Abraham Marie Hammacher konstatiert um 1910 mit Pablo Picassos Frauenkopf und Boccionis Mutter einen neuen Stil.697 Dem folgten das Absinthglas oder die Gitarre von Picasso und Urformen der Bewegung im Raum von Boccioni. Zeitgleich entstanden abstrakte Skulpturen von Archipenko, Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, Jacques Lipchitz etc. Im Jahr 1913 erklärte Marcel Duchamp mit einem Fahrradrad ein Ready-made zur
der beispielsweise auf Lehmbruck großen Einfluss ausübte (vgl. Feist 1996, S. 26). Minne schuf auch den Entwurf zu einem Denkmal der Solidarität und einen Maurer, der in einer so exaltierten Haltung wiedergegeben ist, dass nur durch die Kleidung erkenntlich wird, dass es sich vermutlich um einen Arbeiter handelt. Dadurch entsteht der Eindruck, Minne habe den Maurer ›nur‹ zum Anlass genommen, um einen Körper zu gestalten. 691 | Schubert 1984, S. 114 f. Hammacher weist darauf hin, dass zuvor in Frankreich bereits Bildhauer wie François Rude, Jean-Baptiste Carpeaux und Antoine-Louis Barye die akademischen Normen attackierten (vgl. Hammacher 1973, S. 68). 692 | Vgl. Kähler 1996, S. 34. 693 | Vgl. ebd., S. 245. 694 | Zum komplexen Verhältnis von (Neo-)Klassizismus und Primitivismus bei Maillol vgl. grundlegend Genge 2009. 695 | Vgl. Kähler 1996, S. 211. 696 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1977, S. 8 f. 697 | Vgl. Hammacher 1973, S. 193.
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Kunst und leitet so ein neues Denken über das Verhältnis von Skulptur und Plastik im bildhauerischen Prozess ein.
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4 Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Stil, Material(ität) und Produktion, Ikonografie sowie Aufgabe bieten zwar keine allumfassenden, aber dennoch hinreichende Kriterien für die werkanalytische Betrachtung von Kunst. Unter dieser Prämisse wird in den nachfolgenden Kapiteln die Skulptur im Deutschen Kaiserreich in den Blick genommen, um die zeitspezifischen künstlerischen Ausprägungen und die bereits vorgestellten, damit einhergehenden Diskursformationen darzustellen. Die Unterkapitel markieren dabei nur die jeweilige Akzentuierung der Werkanalysen. Deshalb können gegebenenfalls in jedem Unterkapital auch Aspekte der jeweils anderen berücksichtigt werden. Nachdem diese grundsätzlichen Darlegungen an je einem Fallbeispiel konkretisiert wurden, wird in einer resümierenden Betrachtung die Skulptur selbst als Akteurin, als ›arbeitendes Bild‹ analysiert.
4.1 Stil 4.1.1 Stilwahl zwischen Historismus und Abstraktion
»Jeder möchte einen Stil für sich, einen Privatstil erfinden, während doch der Stil gerade das ungesuchte Ergebnis der ganzen künstlerischen Anschauung einer bestimmten Zeit ist.«1
In dieser zeitgenössischen Bemerkung von Wilhelm von Bode wird zweierlei evident: Zum einen die Annahme, dass Stil als Anschauungskriterium von Kunst Ausdruck einer historischen, künstlerischen Formation ist, zum anderen, dass Stil in der spezifisch historischen Ausprägung dieser Zeit in seiner überzeitlichen Begriffsbestimmung abhandengekommen ist. In diesem Sinne genügt es für die Betrachtung der Sti-
1 | Bode zit. n.: Hamann und Hermand 1967, S. 497.
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le im Zeitraum des Deutschen Kaiserreiches nicht allein, eine historische Reihenfolge bestimmter Stilmerkmale festzulegen, sondern es muss immer auch darum gehen, die semantischen Verschiebungen des Begriffs Stil als eine der zentralen Diskursformationen dieser Zeit zu verdeutlichen.
Neobarock Bald schon kam es mit Reinhold Begas »[…] zu einer unerquicklichen Mischung von Naturalismus und hohlem Pathos.«2
Der Historismus des Kaiserreiches in der Skulptur3 ist neben dem Neoklassizismus vor allem einer des Neobarocks:4 »Zu dieser Zeit [1860er und 1870er Jahre] wetteifern die spätklassizistischen Positionen mit denen des Neubarock, der – vertreten durch Reinhold Begas – sich allerdings bald den endgültigen Durchbruch verschaffte und der zu noch bewegteren, auch größeren, und wieder erzählerischen Schöpfungen hinfand.«5
Der Barock dieser Zeit war ein Neobarock, das heißt eine Auseinandersetzung mit einem Barock, wie er vor allem in Italien entwickelt worden war und mal mehr (etwa bei Begas), mal weniger (etwa bei Reinhold Felderhoff) zum Tragen kam. Begas gilt als Wegbereiter6 und Hauptfigur des Neobarocks gleichermaßen: Pan tröstet Psyche von 1858, das während seines Aufenthalts in Rom entstand, gilt als sein erstes neobarockes Werk7. Seine frühen Werke, zu denen auch Amor und Psyche zählt, bedeuteten die Abkehr vom Klassizismus der Christian-Daniel-Rauch-Schule.8 Kuhn formulierte es spöttisch: »Der Historismus hatte gesiegt.«9 Denn: »Das neue, praktisch arbeitende
2 | Hentzen 1934, S. 9. 3 | Für bestimmte Aufgaben (etwa den Kölner Ratsturm) wurden Skulpturen beispielsweise im gotischem Stil geschaffen (vgl. Lauer 1980, S. 13). 4 | Feist macht darauf aufmerksam, dass Zeitgenossen diesen Stil auch als Naturalismus bezeichneten (vgl. Feist 1987, S. 326). Im Deutschen Kunstblatt heißt es zu August Wittig etwa, dass mit ihm der Spätklassizismus in seine naturalistische Phase floss (vgl. Bloch 1975, S. 56). 5 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 60. 6 | Vgl. Post 1921, S. 165. 7 | Vgl. Kähler 1996, S. 28. 8 | Vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 121. Dies ist einhellige Forschungsmeinung und auch Janson konstatiert für Begas, dieser habe am meisten für die Verdrängung Rauchs gesorgt (vgl. Janson 1985, S. 173; ebenso Bloch 1978, S. 172). 9 | Kuhn 1922, S. 31.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 1: Begas, Reinhold, Amor und Psyche, 1854-57
Quelle: Maaz, Bd.1 2010, S. 49
Geschlecht wollte keine begriffliche Kunst mehr sehen. Es fehlte ihm die kulturelle Basis, sie zu begreifen. Man verlangte nach Historien, bei denen man sich was denken konnte […].«10 Folge einer am Barock11 orientierten Formensprache sind Phänomene wie die Vorliebe für Raptusgruppen12, die formale (die Möglichkeit zu körperlicher Figureninteraktion mit Betonung des Haptischen, aufwendige Körperpositionen, erzähleri-
10 | Kuhn 1922, S. 46. 11 | Entscheidende Vorbilder im Deutschland des 19. Jahrhundert sind Gruppen wie Bacchantin auf Panther von Theodor Kalide, Kämpfende Amazone und Hl. Georg von August Kiß, Löwenkämpfer von Albert Wolff oder Die Erziehung des Bacchus von Heinrich Kümmel. 12 | Zu nennen sind hier Begas’ Raub der Sabinerinnen, Merkur entführt Psyche und Elektrischer Funke oder ein Sabiner verteidigt seine Schwester von Upheus.
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Abbildung 2: Tuaillon, Louis, Herkules und der Erymanthische Eber, Berlin, 1904
© Membeth
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sche Allansichtigkeit13) und ikonografische (dramatische Narration, explizite Affektivität im Sinne von Emotionen und Trieben14) Felder des Barocks paradigmatisch vorführen. Die Körper dieser Werke sind vital, das heißt sinnlich, beweglich, voller Spannung, fleischig und muskulös. Vergleichbare Prinzipien sind auch bei den weiteren Figurengruppen15 anzutreffen. Demgemäß boten Aufgaben wie Denkmäler oder Brunnen,16 die mit einer Vielzahl von Figuren ausgestattet wurden – darunter vielfach allegorische Darstellungen, etwa zum Thema Arbeit –, großen künstlerischen Spielraum zur Verwirklichung. Künstler wie Gustav Eberlein, Joseph Uphues, Adolf Brütt, Ludwig Manzel oder Gerhard Janensch standen Begas in diesem Bereich zur Seite.17 Bernhard Maaz bemerkt zu Begas: »Schon ungewöhnlich frühzeitig wurde Begas’ Ruhm kanonisiert, wie die Würdigung verdeutlicht, die der erst vierzigjährige Künstler in Wilhelm Lübkes Geschichte der Plastik bereits 1871 erfährt […].«18 Dies hängt wohl damit zusammen, dass sich sein Stil ab den 1870ern weitreichend durchsetzte und zum ›Staatsstil‹ avancierte.19 Der Kaiser förderte Begas und seine Schüler nicht ohne Grund: »Wilhelm II. sah in der neobarocken Richtung seine Verehrung des Zeitalters des großen Kurfürsten und des ersten Königs von Preußen, Friedrich I.,
13 | Vgl. hierzu die Seiten 141-153 des Kapitels Die Funktion von Ansichtsseiten für Zeitlichkeit und Erzählung in: Reuter 2012. 14 | Das Bacchantische in der Nachfolge Kalides – wenn auch weniger sinnlich – ist ein überaus präsentes Thema, etwa bei Carl Begas oder Moritz Schulz. 15 | Zu nennen sind hier Der seltene Fang von Herter, Gerettet von Brütt, Durstgruppe von Ludwig Cauer, aber auch Mutterliebe von Schulz oder Mutter und Kind von Begas, bei dem das zärtliche Verhältnis zweier Personen zum Anlass einer komplizierten Figurengestaltung wird. Genauso beliebt war das Thema Prometheus, etwa bei Eduard Müller oder Begas. Auch in der Zeit nach 1900 kann man solche Kompositionen antreffen, zum Beispiel bei Felderhoffs Mädchen mit totem Jüngling, Paul Aichles Sirenen oder Hugo Berwalds Rettung aus Seenot. Wichtige Referenzen sind sie auch für Kampfgruppen jener Zeit, etwa Herkules bändigt den erymanthischen Eber von Tuaillon, Ringer von Wilhelm Haverkamp, das Virchow-Denkmal von Fritz Klimsch oder die immer noch sehr dem Neobarock verpflichteten Werke Germanische Büffeljagd von Fritz Schaper und Haverkamps Zeitgenössische Fuchsjagd. Sie schließen an Gruppen wie Herkules mit dem nemeischen Löwen von Klein. Tiergruppen sind insgesamt ein wichtiges Thema des Barocks. Im 19. Jahrhundert spezialisieren sich einige Bildhauer auf dieses Genre, etwa Antoine-Louis Barye in Frankreich oder August Gaul in Deutschland. Wolff war für die Einführung der Tierskulptur zur Jahrhundertmitte verantwortlich, der die Arbeiten von Barye kannte (vgl. Kähler 1996, S. 222). 16 | Zu nennen ist hier Begas’ Neptunbrunnen oder Aicheles Sintflutbrunnen. 17 | Vgl. Bloch 1978, S. 173. 18 | Maaz, Bd. 2 2010, S. 123. 19 | Vgl. Kähler 1996, S. 28 f.
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dessen Vorliebe zum Pomp ihm zusagte […].«20 Die Gruppen der Siegesallee für den Prachtboulevard im Tiergarten – neben vielen weiteren Nationaldenkmälern eines der Prestigeprojekte des Kaisers – wurden, was kaum verwundert, in diesem Stil gearbeitet. Zur Einweihung des Werkes bemerkt Wilhelm II. in seiner Rede: »Aber mit Stolz und Freude erfüllt Mich am heutigen Tage der Gedanke, daß Berlin vor der ganzen Welt dasteht mit einer Künstlerschaft, die so Großartiges auszuführen vermag. Es zeigt das, daß die Berliner Bildhauerschule auf einer Höhe steht, wie sie wohl kaum je in der Renaissancezeit schöner hätte sein können. Und Ich denke, jeder von Ihnen wird neidlos zugestehen, daß das werktätige Beispiel von Reinhold Begas und seine Auffassung, beruhend auf der Kenntnis der Antike, vielen von Ihnen ein Führer in der Lösung der großen Aufgabe gewesen ist.«21
Bloch bemerkt treffend, dass Stilpluralismus keineswegs Anarchie bedeutet, sondern eine funktionsbedingte Wahl von Zitaten.22 In diesem Sinn sucht die Forschung Erklärungsmuster für die Wahl des Barockstils: »So empfängt die Kunst historischen Inhalts ihren geistigen Antrieb aus zwei Quellen. Die eine Richtung setzt die Tradition der historischen Kunst der Renaissance und des Barock fort, sie entstammt dem Repräsentationswillen des dynastischen Machtbewußtseins. Sie verherrlicht die Macht der Fürstengeschlechter und ihre militärischen Taten und Siege. Aber daneben entwickelt sich, wie gezeigt, im 19. Jahrhunderts eine Kunst historischen Inhalts, die ihren geistigen Gehalt, ihre Motivation in einem Erwachen und Erstarken des nationalen Bewußtseins hat, dessen Träger nicht mehr die Dynastien, sondern das vaterländisch denkende und fühlende Bürgertum ist. Nachdem in der französischen Revolution durch den Sturz des absoluten Königtums eine weltgeschichtliche Wende sich angebahnt hatte, durch die die Souveränität im Staate auf das Volk übergegangen war, hatte sich in den Völkern ein Machtbewußtsein entwickelt, dessen geschichtlicher Träger die Nation war. Die Dynastie wurde jetzt zum Repräsentanten der Nation, als deren Verkörperung sie zum Symbol und zum Sammelpunkt der nationalen Gefühle wird.«23
Trotz dieser von Dieter Scholz angeführten Wende zum Bürgertum als Träger der Nation kann man keineswegs davon sprechen, dass der Neobarock ein rein staatlich protegierter Stil blieb: Das Bürgertum wirkte maßgeblich an vielen Denkmalprojekten mit und entschied sich auch für den Neobarock. ›Den‹ bürgerlichen Stil gab es nicht, sondern man griff mal mehr (Neoklassizismus und Jugendstil mögen Beispiele dafür sein), mal weniger gezielt beziehungsweise mit bewusstem ›Sachverstand‹ auf
20 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 24. 21 | Wilhelm II. zit. n.: Mai 2010, S. 291. 22 | Vgl. Bloch 1975, S. 73. 23 | Scholz 1980, S. 13.
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künstlerische Positionen zurück. Begas’ Erfolg wird vor allem mit der Person Wilhelm II. verknüpft: »Spätestens mit dem Regierungsantritt von Wilhelm II. setzte sich der Neubarock des Reinhold Begas durch […]. […] das Denkmal als zentrale schöpferische Leistung der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts verfiel lautstarker Pose, allegorischem Beiwerk, veristischer Deklamation. Nicht mehr der exemplarisch Einzelne war das Thema, sondern eben das Pathos der Macht.«24
Diese Sichtweise wird durch zeitgenössische Wahrnehmungen unterstützt: Franz Mehrings Aufsatz Der Kapitalismus und die Kunst stigmatisiert Begas macht ihn zum Inbegriff des schlechten Geschmacks und bezeichnet seine Kunst als Ausdruck der Verherrlichung von Macht.25 Begas’ Stil wird auch zum Ausdruck von Zeitgeist: »Auch Begas speist sich aus den malerischen Tendenzen dieser Spätphase [Stil der Rauch-Schule], formt sie aber nach Inhalt und Form schon früh zu etwas Anderem. […] Dahinter steht ein neues Menschenbild. Begas gibt dem Gewaltmenschen Nietzsches Gestalt in Stein oder Bronze.«26
Die stilistische Charakterisierung der neobarocken Kunst zog sich vor allem auf die Begriffe malerisch und naturalistisch zurück: »Als ›Photographie in Marmor‹ (Karl Scheffler) erreichte die der naturalistischen Stiltendenz verpflichtete Poträtbildhauerei jedoch bald in beiden Ländern [Frankreich und Deutschland] einen künstlerischen Tiefstand«27, so Ursula Merkel mit ihrem Verweis auf die zeitgenössische Position von Scheffler. Chandler Rathfon Post attestiert Begas 1921 einen »greater naturalism«28 als Rauch. Oder Albert Kuhn in einer zeitnahen kunsthistorischen Einschätzung: »Die Grenzen der Plastik haben sich aufgelöst, das heißt die Plastik ist völlig malerisch geworden.«29 Nach Bruno Werner schuf Begas malerisch aufgelöste Gebilde,30 und auch Wolfgang Vomm charakterisiert ihn als malerisch und naturalistisch.31 Ilonka Jochum-Bohrmann beschreibt beispielsweise das Schiller-Denkmal von Begas mit den Worten:
24 | Bloch 1975, S. 75. 25 | Vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 124. 26 | Bloch 1978, S. 172. 27 | Merkel 1995, S. 225. 28 | Post 1921, S. 165. 29 | Kuhn 1933, S. 31. 30 | Vgl. Werner 1940, S. 15. 31 | Vgl. Vomm 1980, S. 237.
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»Arbeitende Bilder« »Gemeinsames Merkmal ist dabei aber die üppige, starkgliederige Körperform in reich gefältelte vollstoffige Gewänder gehüllt, d. h. die klassizistisch schlanke Figur ist aufgegeben zugunsten massiger, schwellender Körper, welche sich weit eher zur Erzielung einer malerischen Wirkung eigenen.«32
Diese Zuschreibungen, die zum Teil bis heute wörtlich übernommen wurden, stehen etwa in der Rezeptionstradition von Ludwig Pietsch, einem Freund von Begas und Adolph von Menzel, der die neuen Elemente im Werk Begas’ in der Aufnahme des Malerischen und Realistischen in die Berliner Skulptur sah.33 Auch und gerade für Heinrich Wölfflin war die Denkfigur des Malerischen wichtig, um den Barock unabhängig von der Renaissance als eigenständigen Stil bestimmen zu können. Er unterscheidet in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen von 1888 – im selben Jahr als Begas’ wichtigster Auftraggeber Wilhelm II. den Kaiserthron bestieg – zwischen dem Linearen und dem Malerischen, wobei malerisch ein Sehen in Massen, den Schein einer rastlos quellenden, nie endenden Bewegung meint.34 Ob das Malerische mit dem Erzählerischen – oder negativ formuliert: mit dem Geschwätzigen35 – gleichzusetzen ist, wird in den zahlreichen Äußerungen zum Neobarock nicht immer deutlich. So erfolgreich Begas und andere neobarocke Künstler auch waren, mehrten sich nach 1880 doch die kritischen – häufig von antifranzösischen Ressentiments begleiteten und nicht zuletzt für die Moderne werbenden – Äußerungen.36 Eberlein brachte laut Kuhn Frankreichs Salonkitsch verbunden mit einer genrehaften Note nach Deutschland, um die bürgerliche Mittelklasse zu bedienen: »Kein Mätzchen ist zu banal […]. […] Bravour, nichts als Bravour. […] Seine Denkmalentwürfe häufen allen Bombast […], die einer Zeit zur Verfügung standen, die Richard Wagners ›Gesamtkunstwerk‹ gebar.«37 Wenn Kuhn den Neobarock als die Kunst der Neureichen verurteilt,38 hatte er sicher auch Romane wie Frau Jenny Treibel im Kopf, in denen Begas’ Werke als das Ideal aller Wohnausstattungsträume gilt.39 Schubert führt zur Rezeption des Neobarocks aus: »Emil Heilbut bezeichnete im Jahre 1905 in der Zeitschrift Kunst und Künstler Maisons Arbeit als ›Photographenplastik‹ und meinte vor allem den extremen Naturalismus der Gestaltungsweise.
32 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 26. 33 | Vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 122. 34 | Vgl. Ende 2015, S. 165 f. 35 | Vgl. Schubert 1977, S. 285. 36 | Vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 123. 37 | Kuhn 1922, S. 48 f. 38 | Vgl. ebd., S. 48 und S. 67. 39 | Vgl. Fontane 1995, S. 24.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich Doch noch 1921 sprach Alfred Kuhn von ›frappanter realistischer Kunst‹, die er durchaus kritisch im Gegensatz zum Neuklassizismus der Hildebrand-Schule sah; mit dieser lehnte Kuhn die ›Verwilderung‹ in der plastischen Arbeit ab. Die Berliner Parallele zu Maison war ihm Gustav Eberlein. Was Kuhn damals als ›Realismus‹ mißverstand, war im Grunde ein malerischer Naturalismus, der sich auch im Denkmal penetrant ausgesprochen hätte und hat [...].«40
Was Schubert als historische Kritik darstellt, entspricht aber letztlich einer Anschauung, die sich aus seinen Studien zu Wilhelm Lehmbruck entwickelt hat: »Die malerische Verwilderung der Gattung (die Hildebrand wie auch Bode beklagten) hatte dabei zu teils grotesken naturalistischen Versuchen, Formen und Entgrenzungen geführt. Man versuchte sogar, Themen der Grafik/Malerei wie pflügende Bauern auf der Ackerscholle oder wie die Ermordung Abels durch Kain in Bronze zu gießen [...].«41
Zwiespältig äußert sich Alfred Hentzen 1934: »Leere Gesten werden nach Mitte des Jahrhunderts bald unerträglich.«42 Der hochbegabte Begas löst diesen stumpfen Akademiestil Rauchs ab, aber bald schon sei seine Form »zu einer unerquicklichen Mischung von Naturalismus und hohlem Pathos« verwildert.43 Es sollte lange dauern, bis die Kritik in Wertschätzung umschlug: »Die Kunst Begas’ überragt an Phantasie, Vielfalt und Leidenschaftlichkeit die Masse des Zeitgleichen«44, so etwa Maaz in seiner Arbeit zur Skulptur im 19. Jahrhundert von 2010. Begas’ Prometheus von 1900 läutet das Ende der Berliner Bildhauerepoche ein.45 Verwandt und doch anders ist Martin Wolffs Theseus findet die Waffen seines Vaters von 1884, dessen Stil – Maaz nennt es »spätklassizistische akademische Akkuratesse«46 – in seiner athletischen Köperauffassung Ansatzpunkte für den monumentalen Stil der Skulptur späterer Jahre geboten haben könnte. Die Themen des Neobarocks sind vielfältig: Klassisch barocke Themen (etwa die Raptusgruppe) konnten sich ikonografisch eng an früheren Vorbildern orientieren (etwa Sabiner verteidigt seine Schwester von Upheus), aber auch zur Vorlage für eine moderne Allegorie werden
40 | Schubert 1977, S. 287. 41 | Schubert 1984, S. 113. 42 | Hentzen 1934, S. 9. 43 | Ebd., S. 9. 44 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 61. 45 | Vgl. ebd., S. 61. 46 | Ebd., S. 63.
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(etwa Elektrischer Funke von Begas) oder vermeintlich nur formales47 Vorbild für neue Inhalte sein (etwa Der seltene Fang von Ernst Herter).
Neoklassizismus »In Adolf Hildebrand ist die deutsche Plastik nach Jahrzehnten der Abhängigkeit von fremden, historischen Vorbildern […] und nach Jahrzehnten naturalistischer Verwilderung der Form sich zuerst wieder der inneren Gesetzlichkeit bildnerischen Gestaltens bewußt geworden.«48
Mit dem Neoklassizismus als dem teils direkten, teils über den Klassizismus, teils über Klassizismus und (Früh-)Renaissance vermittelten Rückgriff auf die klassische Antike49 verbindet sich eine Formensprache, die sich bewusst von anderen zeitgenössischen Historismen – vor allem dem Neobarock 50 – abgrenzt51. Insbesondere der Maler Hans von Marées und an seiner Seite Hildebrand standen für diese Stilrichtung:52 »The reaction against Begas and what critics regarded as the nouveau-riche vulgarity of his style crystallized in the work of Adolf Hildebrand […].«53 Julius Meier-Graefe beschreibt 1889 die Situation in Deutschland und vergleicht sie mit der in Belgien und Frankreich:
47 | Letztlich bleibt durch die Übernahme formaler Gestaltung die inhaltliche Gestaltung weiterhin präsent, das heißt, auch wenn ein Fischer nun eine Nixe im Arm hält, denkt man etwa den Raub der Sabinerinnen immer noch als Inhalt mit. 48 | Sauerlandt 1927, S. 3 f. 49 | Die im Einzelnen komplizierte Rezeption kann an dieser Stelle nicht eingehender betrachtet werden. Der Neoklassizismus setzte sich nicht nur mit den antiken, sondern auch mit den klassizistischen Vorbildern auseinander, die räumlich und zeitlich präsenter waren. Die klassizistische Bildhauerei Deutschlands wiederum orientierte sich zudem an der altdeutschen und italienischen Kunst (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 29 f.). 50 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 29. 51 | Vgl. Hartog et al. 1992, S. 10. Hildebrand kritisierte beispielsweise die mangelnde Naturbeobachtung der Salonkunst der 1860er Jahre (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 56). 52 | In seinen jungen Jahren wollte Hildebrand zwar Schüler von Begas werden, doch später übte er scharfe Kritik an ihm – so am Entwurf zum Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal. Konrad Fiedler unterstützte ihn darin (vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 124). 53 | Janson 1985, S. 236. Janson bezieht sich hier auf ein Zitat von Kuhn: »Während die unteren Schichten und die aus ihnen heraufgestiegenen nouveaux riches sich für die frappante realistische Kunst […] oder für die realistischen Barockarbeiten […] begeisterten, war es die Klasse der
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Deutschland macht eine Ausnahme. Auch hier haben sich Bildhauer von großer Begabung auf die uralte Aufgabe der Skulptur erinnert. Man kann Klinger dazu rechnen; namentlich aber E. M. Geyger, K. Hahn und L. Tuaillon: Hildebrand nimmt eine Sonderstellung ein. Sie streben demselben Ziel mit einer Konvenienz zu, die nichts Nationales hat, sondern auf teils altklassische, teils florentinische Quellen zurückgeht.«54
Durch Hildebrand sollte es zu einer »Besinnung auf die reine Form« kommen und so »die Plastik von allen malerischen Tendenzen gereinigt«55 werden. Hierin kommen theoretische Überlegungen zum Ausdruck, wie sie vom ›Dreigestirn‹ Marées, Hildebrand und dem Kunsttheoretiker Konrad Fiedler entwickelt wurden: »Für Fiedler war nicht die Wirklichkeit der Dinge das Beharrende, ›sondern allein die Form, die das Wirkliche durch uns annimmt.‹ […] Indem der Künstler Naturgegenstände typisiert darstelle, werde vom Wirklichkeitsbild mit seinen zufälligen Erscheinungen abstrahiert. […] Das Kunstwerk solle deshalb beim Betrachter möglichst keine Assoziationen auslösen, die zu irgendeiner Begrifflichkeit leiten oder Stimmungen verursachen.«56
Kai Krauskopf weiter dazu: »Fiedler meinte nun, beim bildhauerischen Schöpfungsakt Hildebrands Gesetze festgestellt zu haben, infolge derer das Entstehen von Kunst streng an optischen Phänomenen und Materialeigenschaften gebunden sei. Statt in der Nähe eines idealen Schönheitsbegriffs liege das Wesen der Kunst in ihrem Herstellungsprozess.«57
Schon 1892 schrieb Johannes Merz in Das ästhetische Formgesetz der Plastik: »Der Gedanke, daß in dem Sehvorgang nicht bloß der Grund unseres formellen Wohlgefallens, sondern auch das Prinzip der Komposition für Malerei und Plastik zu suchen sei, liegt nahe genug. Aus einer richtigen Theorie des Sehvorgangs – so wichtig sie ist – läßt sich aber nicht einfach das Gesetz der formellen Schönheit und der bildenden Kunst ableiten; […]. Die Arbeit wendet sich also nicht wie die spekulative Ästhetik an den ›denkenden‹ Kunstfreund, an den ›denkenden‹ Künstler, sondern an solche, welche, wie Goethe […] sagt, sehen lernen wollen.«58
akademisch Gebildeten, die Hildebrand und seine Nachfolger aufs Schild erhob.« (Kuhn 1922, S. 67) 54 | Meier-Graefe 1898, S. 264. 55 | Bloch 1978, S. 312. 56 | Krauskopf 2002, S. 67. 57 | Ebd., S. 66. 58 | Merz 1892, S. III f.
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Merz stellt seinen Überlegungen folgendes Zitat von Gottfried Semper voran: »Am meisten und entschiedensten trennt sich meine plastisch-architektonische Anschauung des Rein-Schönen in dem Punkt von der herkömmlichen, daß ich das Bild der Dinge körperlich oder vielmehr stereometrisch fasse, während letztere sich nur auf die planimentrischen Figuren einläßt, die mit der Anschauung der Dinge als Bild entstehen.«59
Hier wird deutlich, dass die Wahrnehmung von Kunst als physiologischer oder auch psychologischer60 Prozess schon vor Hildebrand Thema dieser Zeit war.61 In seinem stark rezipierten Werk Das Problem der Form62 knüpft Hildebrand theoretisch an Fiedler an: »Für den schaffenden Künstler könne laut Hildebrand die Konsequenz daraus nur heißen, die charakterisierenden Teile einer Plastik nicht allseitig, sondern ausschließlich in Richtung der einfallenden Sehstrahlen anzuordnen. […] Da nur die Tiefendimension sukzessive, also zeitbeanspruchende Abtastbarkeit erfordere, biete sich die Reliefkunst an. […] Die Daseinsform der
59 | Semper zit. n.: Merz 1892, S. 1. 60 | Vgl. hierzu beispielsweise Hofmann, Gestalt 1979, S. 19 f. 61 | Das gesteigerte Interesse an der Form des Kunstwerks findet sich auch bei Robert Zimmermann und Gustav Theodor Fechner (vgl. Held und Schneider 2007, S. 316-319). 62 | Vgl. Janson 1985, S. 236. Larsson konstatiert für Wölfflin die Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie Hildebrands, da Wölfflin in seiner Schrift Wie man Skulpturen aufnehmen soll das Umschreiten der Skulptur empfiehlt, um dadurch klare und wohltuende Bilder zu erfahren (vgl. Larsson 1974, S. 8 f.). Trier stellt fest, seit der Schrift Hildebrands aus dem Jahr 1893 seien nur wenige selbstständig verfasste Theorien zur Bildhauerei verfasst worden. Selbst Artur Volkmanns Vom Sehen und Gestalten von 1912 ist abhängig von Hildebrand (vgl. Trier 1999, S. 17). Hält man sich folgende Äußerungen von August Schmarsow vor Augen, so erkennt man auch hier den Einfluss Hildebrands: »Unter dem Kunstausdruck ›Relief‹ verstehen wir eine benachbarte zur Sichtbarkeit emporgehobene Zone unseres Tastraumes mit seiner Körperlichkeit, deren wir sonst nur durch Druck und Stoß innewerden. Diese zur Berührung und eingreifenden Bearbeitung mit Fingern, Händen oder Modellierholz und Meißel nahe genug vorliegende Zone des Steinblocks oder der Tonerde bildet also die Grenze zwischen unserem Sehraum und Tastraum […]. Die Kunst des Bildners besteht in der Emporführung des Tastbar-Körperlichen zur Sichtbarkeit, und zwar im Relief nur einseitig, so daß der Rest im Material darinsteckt […].« (Schmarsow 1925, S. 92) Schmarsow hatte sich bereits in seiner Schrift Plastik, Malerei und Reliefkunst von 1899 mit der Relieftheorie von Hildebrand auseinandergesetzt (vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 196).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich Plastik, die auf den realen, ›daseinsgemäßen‹ Körpermaßen beruhe, müsse also zugunsten eines vereinfachten Erscheinungsbildes im Hinblick auf eine einzige Hauptansicht geformt werden.«63
Hildebrand wendet sich zudem vom Narrativen ab64 und der sogenannten Form zu. Damit war insbesondere ein bestimmter Umgang mit der Darstellung des menschlichen Körpers verbunden.65 Dieser Verzicht, wie es Maaz nennt, ist eine Form der Abstraktion – ikonografisch und formal. Hildebrand vertritt damit ein Prinzip, das der Moderne zugesprochen wurde oder von ihr als modern reklamiert wurde.66 Er entwickelte seine Theorien der gestalterischen Prinzipien zur Erfüllung einer klaren geistigen Vorstellung67 zum einen anhand seiner Beobachtungen zur Wahrnehmung von Skulptur und zum anderen aufgrund seiner künstlerischen Praxis als Bildhauer.68 Künstlerische Gestaltung ist für Hildebrand die Weiterbildung des räumlichen Auffassungsvermögens, das Tasten und Sehen beinhaltet.69 Die Theorien beziehungsweise die Kunst Hildebrands werden von verschiedenen Seiten als Ausdruck des Zeitgeistes betrachtet: »Dem allgemeinen Wandel des Lebensgefühls, bedingt durch den zunehmenden technischen Fortschritt, der Verstädterung der modernen Gesellschaft, der Zerstörung von klassischen Bildungsidealen und von überholten Moralbegriffen, entsprach die Suche nach gegenwartsorientierten bzw. zukunftsweisenden Impulsen. Der ›asketische‹ Formenkanon des neuen Klassizismus kam einem vernunftgemäß-sachlicheren Empfinden weit eher entgegen, so daß der formal ›modernen‹, von malerischer Dynamik gereinigten, disziplinierten Skulptur analog auch motivisch ›zeitgemäßere‹ Sujets gewählt wurden: die an mythologisch erotischen Themen orientierten Produkte wie Merkur und Psyche, Silen und Bacchus usf. der älteren Künstlergeneration wurden zugunsten von ›lebensnahen‹ Genreszenen wie Sandalenbinder/innen, Badende, Sportler u. a. der Jüngeren verdrängt, zumal die Turn-, Sport- und Wanderbewegungen ein ver-
63 | Krauskopf 2002, S. 68 f. Barlach spricht sich 1899 gegen das Relief aus: »[D]ie Plastik ist eine gesunde Kunst, eine freie Kunst, nicht behaftet mit solchen notwendigen Übeln wie Perspektive, Verlängerung oder Verkürzung oder anderen Künsteleien.« (Barlach zit. n.: Trier 1999, S. 186) 64 | Laut Lülf lautet das Dogma der Moderne, Skulptur dürfe nicht Literatur sein (vgl. Lülf 1993, S. 111). Dies wurde jedoch – wie bereits dargestellt – schon vorher so formuliert. 65 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 54. 66 | Bloch ordnet Hildebrand in seinem Aufsatz dem Kapitel Beginn der Moderne zu (vgl. Bloch 1990, S. 37). 67 | Vgl. ebd., S. 312. 68 | Hildebrand analysiert in seiner Studie sowohl die künstlerischen Formprobleme als auch die soziologische Lage der Bildhauerei (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 56). Er widmet sich in einem ganzen Kapitel der Bildhauerei in Stein (vgl. Hildebrand 1893, S. 107-125). 69 | Vgl. Hildebrand 1901, S. 10.
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»Arbeitende Bilder« ändertes bzw. ein neues Verhältnis zum Körperlichen bewirkten. Diese beim Publikum auch als ›Zimmerschmuck‹ beliebten Genreszenen gewannen schließlich eine ›[…] hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde, denn ihre Schönheit entgiftet die Wirklichkeit und rückt sie vor der Gegenwart ab.‹«70
Bei Hildebrand geht es »[…] um eine gestische Natürlichkeit und ideale Selbstverständlichkeit, die es im Zeitalter von Krinoline und Zylinder in der Gesellschaft nicht mehr gab, um eine Rückbesinnung auf eine menschliche Wahrhaftigkeit«.71 Laut Maaz sei bei Hildebrand ein ganzheitliches, aus der Antike abgeleitetes Menschenbild zu finden.72 Für Merkel ist die Skulptur Hildebrands Ausdruck eines Menschenbildes, das von idealistischer Auffassung geprägt ist.73 Hildebrand galt Kuhn zufolge als Vertreter einer Kunst für die akademisch Gebildeten, während der Neobarock die Kunst der Neureichen sei.74 Fiedler indes, sein ›Bruder im Geiste‹, würdigt das echte und rein Künstlerische von Hildebrand.75 Willi Wolfradt bemerkt 1920 zu Hildebrand: »Der Letztgenannte vollends wirkte durch die Baulogik, Werksolidität und Phrasenlosigkeit seiner maßvollen Kunst als Reiniger und Aufruf zur Besinnung. Sein etwas trockenes Griechentum, das mehr lehrhaft als erfüllend war, nahm begierig den Zustrom an Seele auf, der von Rodin ausging. So steht auch er am Eingang des Gartens der neuen Plastik.«76
Hildebrand, der wieder den Zusammenhang zur Architektur herstellt, verkörpere nach Alfred Kuhn im Gegensatz zur Sinnlichkeit Auguste Rodins den rationalisti-
70 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 28 f. Diese Hinweise von Jochum-Bohrmann erklären zwar manches, begründen es aber nicht. Gewiss gab es einen regen Körperdiskurs in dieser Zeit, aber es gab ihn auch schon zuvor. Im Zeichen von Turnvater Jahn beispielsweise turnte man bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Und dass antike Athleten mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen um 1900 zu tun hatten, ist mehr als fraglich. Kunstwirklichkeit und soziale Wirklichkeit lassen sich nicht so einfach übereinander blenden. 71 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 56. 72 | Vgl. ebd., S. 78. 73 | Vgl. Merkel 1995, S. 226. 74 | Vgl. Kuhn 1922, S. 67. Der Museumsdirektor Georg Treu zeigte aber sowohl Hildebrand als auch Begas in einer Ausstellung 1899 (vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 124). Dass die Neureichen mehrheitlich keine akademische Bildung hatten, wird sich vermutlich nicht halten lassen. 75 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 56. 76 | Wolfradt 1920, S. 32.
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schen Geist und habe die Gesundung der Skulptur eingeleitet.77 Er wird nicht nur im Deutschen Kaiserreich als typischer Vertreter der nordischen Kunst gesehen:78 »Ma dove maggiormento si fece sentire la reazione alla plastica di Rodin fu in Germania […]. Le popolazione nordiche risentirono attraverso il gelo di queste forme la cultura mediterranea. […] L‘ultimo rappresentante di questa gelida classicità settentrionale e Adolfo Hildebrand, che nelle sue opere, non prive di gusto e di talento […].«79
Hildebrand gilt als nationaler Kunsterneuerer: »In Adolf Hildebrand ist die deutsche Plastik nach Jahrzehnten der Abhängigkeit von fremden, historischen Vorbildern, die nur durch das persönliche Temperament der Künstler umgebildet erscheinen, und nach Jahrzehnten naturalistischer Verwilderung der Form sich zuerst wieder der inneren Gesetzlichkeit bildnerischen Gestaltens bewußt geworden.«80
Max Sauerlandt grenzt ihn als »Reformvater«, der den Begriff der monumentalen Skulptur neu gefasst habe, scharf von seinem Zeitgenossen Rodin ab, »[…] der den Bildstoff wie ein Tyrann vergewaltigt […]«.81 Hildebrand wird auch bei Werner als Reiniger der deutschen Skulptur betrachtet.82 Neben ihm gehörten Louis Tuaillon und August Gaul zu den wichtigsten Vertretern des Neoklassizismus.83 Wolfradts Äußerungen dokumentieren die Wahrnehmung dieses Stils als monumental und männlich: »Mit unterschiedlichen Können, aber von Hildebrand ererbter Gediegenheit schufen Tuaillon und Habich und etwa Lederer ihren Monumentalstil, in Vornehmheit und Wohlabgewogenheit der Flächen, nicht immer ganz befreit von akademischen Überlieferungen, nicht immer rau genug, um nicht einen neuen Akademismus des Freiheitsgestus, einer sich hörbar in die Brust werfenden Statuarik, eines gefällig-dekorativen Männertrotzes die Wege zu ebnen. Das weichliche Gegenstück dazu ist Klimsch, der in zuckrigen Harmonien Psychen umflirtet.«84
77 | Vgl. Kuhn 1922, S. 60. 78 | Kähler sieht diese Sicht als weit verbreitet an (vgl. Kähler 1996, S. 35). 79 | Guerrisi 1930, S. 183. 80 | Sauerlandt 1927, S. 3. 81 | Ebd. 82 | Vgl. Werner 1940, S. 18. 83 | Vgl. Kähler 1996, S. 35. 84 | Wolfradt 1920, S. 73 f.
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Abbildung 3: Hildebrand, Adolf, Junger Mann, 1883
Quelle: Tümpel 1992, S. 10
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Als paradigmatisches Idealwerk des Stils von Hildebrand gelten der Wittelsbacher Brunnen,85 Kugelspieler oder Junger Mann.86 Vor allem auf das letztgenannte Werk treffen alle für den Neoklassizismus konstatierten Stilkriterien zu. Hier zeigt sich eine an antiken Vorbildern angelehnte Körperauffassung,87 die naturalistisch, wenngleich ebenso idealistisch ist: Es ist der makellose Körper der Antike, der edle Einfalt und stille Größe ausdrückt. So wurde er von Johann Joachim Winckelmann propagiert. Es sind die unbewegten, axialen, auf eine frontale Schauseite88 ausgerichteten Körper – ganz im Sinne der Relieftheorie Hildebrands –, die weitgehend ohne erzählerische Momente auskommen. Darunter fallen auch das Affektive und seine körperlichen Ausdrucksformen, das heißt, bewegte Mimik und ausladende Gesten werden vermieden, die Kontur bleibt geschlossen. Körper – wenn auch nicht bei allen Bildhauern in einem solch starken Klassizismus wie bei Hildebrand – wurden zur wichtigsten Ikonografie, und dies entsprach ganz dem Gattungsprimat der Skulptur. Verhandelt wurde dieser über beliebige Szenen der antiken Kunst, etwa das Sandalenbinden oder Kugelspielen. So erklärt sich auch die von Peter Bloch bemerkte »frappierende Häufung«89 dieser Themen, die um die Jahrhundertwende unter anderem von Nikolaus Friedrich, Tuaillon, Ernst Seger, August Kraus, Arthur Lewin-Funcke, Walter Schott, Hildebrand, Ernst Moritz Geyger und Fritz Heinemann – einige von ihnen waren Schüler von Begas – aufgegriffen wurden. Mit dem Ankauf der Amazone zu Pferde von Tuaillon90 war die offizielle Anerkennung des Neoklassizismus von staatlicher Seite vollzogen. Der Neobarock
85 | Vgl. Bloch 1978, S. 312. 86 | Dem folgt Habichs Den Sternen entgegen. Sein Jakob im Kampf mit dem Engel von 1904 zeigt die Weiterentwicklung dieses Klassizismus, die aus einer Mischung aus Monumentalismus und Jugendstil besteht. 87 | »Aus den üppigen Frauen und herkulischen Männern des Neubarock werden langbeinige, sehnige Gestalten, aus pummeligen Putten und molligen Nymphen eben erblühende Mädchen und eckig-ungelenke Knaben.« (Bloch 1978, S. 313) Das Herkulische findet sich – nicht nur in der Ikonografie – weiterhin bei Werken wie Herkules mit dem Stier von Tuaillon oder Ringer. Die »eckigen« und »ungelenken« Knaben verweisen auf den kommenden expressionistischen Stil eines Lehmbruck, vor allem aber eines Minne. Das Herkulische des Neoklassizismus bietet Anknüpfungspunkte für den monumentalen Stil, der bei Metzner und Lederer verfolgt wird. 88 | Der Begriff der Vielansichtigkeit spielt im 18. und 19. Jahrhundert als Frage der Qualität eine große Rolle. Erst die heutige Kunstgeschichte hat daraus ein Stilproblem gemacht (vgl. Larsson 1974, S. 96). Bei Hildebrand kann diese Frage durchaus als eine Frage des Stils begriffen werden, als Weg von der barocken Allansichtigkeit hin zur klassizistischen Einansichtigkeit. 89 | Bloch 1978, S. 312 f. 90 | Es wurde 1896 in Berlin ausgestellt und ihm folgte Der Sieger von Tuaillon.
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Abbildung 4: Tuaillon, Louis, Sandalenbinderin, 1886
Quelle: Berger 1984, S. 19
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verlor nicht nur an Bedeutung für die nachfolgende Künstlergeneration,91 sondern das Athletische der Körper – im Sinne einer Heroisierung des Körpers – des Neoklassizismus bot wichtige Ansatzpunkte für den nachfolgenden monumentalen Stil. Die mal stärkere, mal schwächere Wendung des Neoklassizismus ins Monumentale sowie der Einfluss von Aristide Maillol prägte Künstler wie Georg Kolbe, die im Nationalsozialismus erfolgreichen Bildhauer Arno Breker oder Josef Thorak oder phasenweise auch Bernhard Hoetger.92
Stil um 1900 Um 1900 wird in der Forschung vielfach eine Zäsur konstatiert: Künstlergruppen wie Brücke oder Blauer Reiter versuchten ab 1905 »[…] nichts Geringeres mit ihrer künstlerischen Produktion, als eine neue Weltordnung so zum Ausdruck zu bringen, wie sie von der eigenen Generation empfunden wurde.«93 So die weitgreifende Einschätzung von Norman Rosenthal. Folgt man Rosenthal und weiteren Autoren wie Wieland Schmied94, dann wäre um 1900 ein wichtiger Zeitpunkt innerhalb der Deutschen Kunstgeschichte zu markieren: der Weg zur klassischen Moderne.95 Der vermeintlich rückständige, da der Gegenständlichkeit verhaftete Stilpluralismus und die Avantgarde – verkürzt gleichgesetzt mit Abstraktion – ›teilten nun die Kunst unter sich auf‹: »Avantgarde sein, heißt ja wohl vorne sein. Um zu entscheiden, wer mehr oder weniger weit vorne ist, um also eine Ortsbestimmung zu treffen im weiten Feld der Äußerungen, muß man wissen, in welcher Richtung eigentlich Start oder Ziel liegen, unabhängig von verwirrender Tagesperspektive. Erkennt man das ungegenständliche Bild als Ziel, dann ist Kandinsky ungeheuer weit vorn, sieht man aber das inhaltsgebundene Bild als eine facettenreiche Möglichkeit zwischen einfachem Realismus und engagierter sozialer Feststellung, dann sind Käthe Kollwitz und Gefährten nicht gerade hinten.«96
91 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 24 f. und S. 30. 92 | Seit 1904 werden Hoetgers Plastiken monumentaler (vgl. Coelen, Hoetger 1992, S. 214). Der monumentale Stil prägt auch die Werke Gerechtigkeitsbrunnen (ehemals in Elberfeld) oder Mutter mit Kind (auf der Mathildenhöhe). 93 | Rosenthal 1986, S. 13. 94 | Vgl. Schmied 1986, S. 27. 95 | Vgl. Rosenthal 1986, S. 13. 96 | Sperlich 1976, S. 7. Wer bei der Aufteilung der Kunstwelt ›gewonnen‹ hat, offenbart beispielsweise diese für die Kunstgeschichte typische Äußerung: »Die mit der offiziellen Kunst konformen Janssen-Schüler reihten sich in die Masse der Bildhauer ein, die das wilhelminische Repräsentationsbedürfnis befriedigten. Künstlerische Individualität erreichten sie nicht. Ihre
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So umreißt Hans Sperlich das ›Dilemma‹ der Avantgarde zwischen Form und Inhalt. Bekanntlich wurde die Situation der Kunst um 1900 in der Auseinandersetzung mit dem Historismus vielfach als krisenhaft beschrieben.97 Begas’ »malerisch-dynamischer Neobarock«, Hildebrands »durch formale Disziplin gekennzeichnete[r] Neoklassizismus« sowie Rodins »illusionistische Kunst der ›Buckel und Höhlungen‹« wurden zu den wichtigsten Referenzstilen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.98 1929 gibt Hans Krey in seinem Aufsatz Der getreue Eckart diese drei Bildhauer als diejenigen an, mit denen sich die nachfolgenden Künstler auseinanderzusetzen hatten.99 Maaz dazu: »Entscheidend ist, daß jene Traditionen und Konventionen parallel zueinander weiterlebten, die aus dem Neubarock, dem Naturalismus, und dem Spätklassizismus herrührten, und daß andererseits die auf Formstrenge bedachten Künstler der Hildebrand-Nachfolge diese Pfade längste verlassen […]. Von dort gehen die Innovationsstränge ins 20. Jahrhundert – etwa zu Barlach und Lehmbruck – weiter[…].«100
Die Zeit zwischen 1900 und 1914 wird von Richard Hamann und Jost Hermand als fortschrittliche Reaktion beschrieben. Zu ihr gehöre der Jugendstil und die Monumentalkunst.101 Es ist eine Stilkunst, die von den Autoren folgendermaßen beschrieben wird: »Während früher der Gehalt nach der Form suchte, sucht hier die Form nach dem Gehalt, indem man die Stilmaskerade des 19. Jahrhunderts im Rahmen dieser Stilhaltung auch auf bisher unerschlossene Gebiete wie das ›Archaische‹ übertrug und damit den allgemeinen Hang für herrschaftlich-imperiale Ausdrucksformen unterstützte.«102
Man konnte sich in der Folge am Neoklassizismus eines Hildebrand, aber auch eines Constantin Meunier und später Maillol103 orientieren, was formal zu einem mo-
Namen sind heute beinahe vergessen. Anders Hoetger und Lehmbruck. Die Akademie konnte ihrem Kunstwollen keine Impulse verleihen.« (Dresch 1984, S. 110) 97 | Schubert 1977, S. 285 ff. 98 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 24-27. 99 | Vgl. ebd., S. 39. 100 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 85. 101 | Vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 18. 102 | Ebd., S. 417. 103 | Gerhard Marcks schrieb zu Maillol, er sei in seiner einfältigen, reinen, schönen, lieblichen, beschränkten Art für Deutsche unnachahmlich, denn diese würden sofort klassizistisch werden (vgl. Hartog und Lubricht 2004, S. 12).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
numental-tektonischen Stil führen konnte. Oder aber man orientiert sich an Rodin und damit an einer impressionistischen104 Oberflächengestaltung, wie sie phasenweise für Hoetger wichtig wurde. Der Jugendstil in seiner zweifachen Ausprägung – tektonisch-geometrisch abstrahierend (vor allem im Wiener Jugendstil) und ornamental-vegetabil bewegt (etwa bei Antoni Gaudí oder Victor Horta) – führte als Stilisierungskunst zu einer Formensprache, die entweder als Vorbereitung auf den monumentalen Stil gesehen werden kann (wie bei Franz Metzner) oder in eine expressionistischen Formensprache münden konnte (wie bei Lehmbruck oder George Minne, der wiederum in seiner frühen Zeit stark von Rodin beeinflusst war). Letztlich sind dies aber nur tendenzielle Stilentwicklungen. Allen gemeinsam ist Folgendes: »Vielleicht ist die grundlegende Öffnung in der Kunst um 1900 die Entdeckung des Körpers und allen dessen, was mit dem Körper zusammenhängt. Daß der Mensch ein Geist-Wesen ist, hat man gelegentlich auch schon vorher gewußt, aber daß dieses Geist-Wesen, um existieren zu können, unentrinnbar mit dem Körper gekoppelt ist, hat man in einer solch zugespitzten Schärfe wohl nie vorher erlebt.«105
Jugendstil »Wen niemals die köstlichen Biegungen der Grashalme, die wunderbare Unerbittlichkeit des Diestelblattes, die herbe Jugendlichkeit sprießender Blattknospen in Entzückung versetzt haben, wen nie […] schlanke Geschmeidigkeit des Borkenstammes, die große Ruhe weiter Blättermassen gepackt und bis in die Tiefen seiner Seele erregt haben, der weiß noch nichts von der Schönheit der Formen.«106
Fläche und Linie als Ornament werden zu den wichtigsten Ausdrucksformen des Jugendstils. Überlegungen zum Ornament wurden von verschiedener Seiten angestellt, unter anderem 1901 von Konrad von Lange:
104 | Den Stilbegriff des Impressionismus auf die Gattung Skulptur anzuwenden, ist in der Forschung umstritten (vgl. beispielsweise Hofmann 1958, S. 44). Deshalb wird in dieser Arbeit dem Impressionismus kein eigenes Kapitel gewidmet. Das schließ nicht aus, etwa von impressionistischer Oberflächengestaltung zu sprechen. 105 | Sperlich 1976, S. 8. 106 | Endell 1983, S. 175 f. Ahlers-Hestermann weist darauf hin, dass Endell Theodor Lipps Vorlesungen besucht hatte, der sich wiederum experimentell mit der Wirkung organisierter Linienzüge auf den Menschen beschäftigte (vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 41).
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»Arbeitende Bilder« »Natürlich handelt es sich auch beim Ornament um eine Anschauungsillusion. Aber diese bezieht sich nicht auf die Form und Farbe in dem Sinne, dass diese genau nachgeahmt würde und dadurch eine Vorstellung bestimmter Naturobjekte entstände, sondern auf die Kraft und Bewegung, in der sich der organische Charakter ausprägt. Deshalb sagen wir auch von einem Ornament immer: es muss organisch gedacht sein […].«107
Selbst Julius Langbehn setzte sich damit auseinander: »[S]ie [die Tektonik der Natur] gibt, wenn man will, eine künstlerische Grammatik der Natur. Da man von einer ›Grammatik der Ornamente‹ schon längst spricht, dürfte der erstere Ausdruck nicht zu gewagt sein; er greift nur weiter, als der letztere; denn es handelt sich hier um eine Grammatik nicht nur toter, sondern auch lebendiger, nicht nur ornamentaler, sondern auch struktiver Formen.«108
Wilhelm Worringer und Scheffler sahen das flächenhafte Ornament als beruhigendes Element und somit auch als Reaktion auf die Umwelt des Künstlers an.109 Friedrich Ahlers-Hestermann erläutert, infolge des Erfolgs der neuen ›Schwarzweißkunst‹ für Zeitschriften und Bücher sei der Jugendstil von mancher Seite zu einem Flächenstil degradiert worden, obwohl viele führende Künstler sich anderen Materialien und Gattungen zuwandten.110 Meier-Graefe dachte Skulptur, Ornament und Monumentalität als Einheit111 und sprach sich deshalb am Beispiel Minnes für den Jugendstil aus, der als dekorativ abgetan wurde.112 Dem Jugendstil schwebte ein Gesamtkunstwerk vor.113 Solche Ansätze entsprangen ästhetischen Konzepten, aber auch der Idee von der Durchformung der Welt durch das Ästhetische als ethisches Prinzip und damit von der Durchdringung von Kunst und Leben. Peter Behrens hatte es in einem Brief einmal so formuliert: »So wollen wir unsere Kunst auffassen und im Geiste unserer Zeit leben, und eine jede Lebenstätigkeit soll im Geiste unserer Zeit Schönheit geben und alles, was zum Leben gehört, soll Schön-
107 | Lange, Bd. 1 1901, S. 161. 108 | Langbehn 1922, S. 133. Langbehn bezieht sich hier sicherlich auf die Schrift Grammatik der Ornamente: illustrirt mit Mustern von den verschiedenen Stylarten der Ornamente in hundert und zwölf Tafeln herausgegeben von Owen Jones im Jahr 1856. 109 | Vgl. Ende 2015, S. 160. 110 | Vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 38. 111 | Vgl. Meier-Graefe 1898, S. 258. 112 | Vgl. ebd., S. 257. 113 | Vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 38.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich heit empfangen. So wird uns die Schönheit wieder zum Inbegriff der höchsten Macht, zu ihrem Dienst entsteht ein neuer Kult.«114
Peter Feist bemerkt hierzu jedoch: »Weil Jugendstilkünstler die ganze Lebensumwelt verschönern wollten und keine Grenze zwischen freier und angewandter Kunst zogen, damit eine für die Menschen nützliche Kunst sie von der ›Nutzlosigkeit‹ ihres Künstlerdaseins und demzufolge aus dem sozialen Abseits befreien möge, geriert ihr Tun bald in den Geruch des bloß ›Kunsthandwerklichen‹.«115
Bemerkenswert ist hier, dass die Verschönerung der Welt – auch im Sinne einer Verbesserung der Welt – nicht über das Soziale erfolgt, das heißt, man stellte sich als Künstler nicht in den Dienst einer Kritik oder Gestaltung des Politischen, sondern blieb ganz dem künstlerischen Bereich – dem Dekor, dem Ornament – verschrieben: »Trotz aller Angriffe gegen die Parvenükultur der Gründerzeit ist deshalb das Ganze nur ein Scheinprotest. Während dort mehr die gesellschaftliche Repräsentation im Vordergrund stand, bemühte man sich jetzt um ästhetische Verbrämung der eroberten Position.«116 Das Vegetabil-Dekorative wurde bald innerhalb des Jugendstils zum ›Problem‹: Ahlers-Hestermann sieht, ebenfalls in wertender Weise,117 an Beispielen wie Behrens eine Entwicklung innerhalb des Jugendstils und zwar in der Weise, »[…] daß die lebenskräftigeren Formen der späteren Entwicklung aus den krausen, vielverschlungenen Wurzeln der jugendlichen Bewegung gewachsen sind.«118 Dies beschreibt er als Wendung zur Sachlichkeit, die von den Zeitgenossen gefordert wurde: »Immer häufiger wurde der Ruf nach Sachlichkeit laut. Muthesius sprach von ›Kunstunfug‹, […] Sachlichkeit sei kein Kampf von Stil gegen Stil, sondern ein Kampf gegen ›Stil‹ überhaupt. Ähnliches meinte Scheffler: ›Originalität haben wir genug gehabt, wir brauchen Selbstverständliches […].«119
114 | Klotz 2000, S. 234. 115 | Feist 1996, S. 16 f. 116 | Hamann und Hermand 1967, S. 252. 117 | Zu Endell bemerkt Ahlers-Hestermann: »Der Künstler wurde später ein ganz sachlicher Architekt und wußte seine reiche ornamentale Phantasie zu zähmen, das sei schon hier beruhigend mitgeteilt. Revolutionäre Jugend aber muß überschäumen […].« (Ahlers-Hestermann 1956, S. 41) 118 | Ebd., S. 44. 119 | Ebd., S. 86.
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Auch Hamman und Hermand verweisen auf diese Entwicklung beziehungsweise die zeitgenössische Kritik am Jugendstil: »Schon um 1902 setzte deshalb eine allgemeine Abwendung von den Linienräuschen der späten neunziger Jahre ein, die man plötzlich als peinliche ›Jugendsünde‹ empfand. Aus diesem Grund findet man in allen Zeitschriften dieser Jahre in steigendem Maße Ausdrücke wie ›hochgepfefferte Schmuckkunst‹, ›sinnverwirrende Folterkammern‹ oder ›Ornamenthölle‹ [Adolf Loos], in denen sich eine Besinnung auf das Natürliche und Zweckbestimmte anzukündigen scheint.«120
Die zu »Menschenkörpern geronnene Linienkunst« (etwa bei Egon Schiele) markiert für Heinrich Klotz das Ende des Jugendstils.121 Der Jugendstil mündete stilistisch so mit seinen immer schon vorhandenen tektonischen beziehungsweise geometrischen Formen in die Werkbundmoderne beziehungsweise in das spätere Bauhaus. Die Gattungen betreffend gilt der Jugendstil nicht als eine vor allem mit der Skulptur verbundene Stilform: »Der Jugendstil hat die Denkmalskunst kaum inspiriert […]. [D]ie Statuetten des Jugendstils [blieben] hauptsächlich ornamentiertes Beiwerk und dienten oft als Gebrauchsgegenstände.«122 Zu nennen wären hier beispielsweise Werke von Hoetger (Loie Fuller, La Tempête oder La Rêve), die den bekannten Vorbildern von Raoul François Larche oder Pierre Roche gleichen. Das Werk Max Klingers entstand im Umfeld der Sezessionen und gilt bei Klotz als Vorbereitung zum Jugendstil.123 Er schuf beispielsweise die Porträtbüste Elsa Asenijeff, die Neue Salome oder ein Denkmal für Beethoven, das zu seinen Hauptwerken zählt und in der Wiener Sezession ausgestellt wurde. Für Kuhn stellt das Denkmal »eine wahrhaft geniale Geschmacklosigkeit« dar.124 Kritisch waren auch die Stimmen im Ausland, wie bereits dargelegt wurde. Feist stellt die Einzigartigkeit des Denkmals heraus und ordnet ihm Tendenzen des Symbolismus und des Jugendstils zu – vor allem aufgrund der Verwendung unterschiedlicher, polychromer Materialien innerhalb eines Werkes.125 Klinger selbst führt zu seinem Werk aus:
120 | Hamann und Hermand 1967, S. 287. Adolf Loos griff das Jugendstilornament unter anderem wegen seiner ›Weiblichkeit‹ an. Die Frau als die sich ewig etwa durch Kleidung Schmückende wird bei Loos dann auch zum Hindernis einer ornamentlosen Gesellschaft, oder anders: Die Abschaffung des Ornaments zielte auf die Abschaffung des Weiblichen in der Kultur (vgl. Körner 2000, S. 189 f.). 121 | Vgl. Klotz 2000, S. 232. 122 | Pingeot, Republik 2002, S. 936. 123 | Vgl. Klotz 2000, S. 210. 124 | Kuhn 1922, S. 71. 125 | Vgl. Feist, 1987, S. 333 f. Großen Einfluss übte einmal mehr Rodin auf Klinger aus, den er in Paris traf (vgl. Janson, S. 240).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Wo von der farbigen Erscheinung ausgegangen mit den entsprechenden Materialien gearbeitet wird, da würde, ganz im Gegensatz zur allgemeinen Befürchtung, die Rückkehr zur Einfachheit, zum strengen Festhalten des plastisch Wesentlichen, zum schärfsten Abwägen der Kompositionsteile nur immer notwendiger sich herausstellen und damit würde der Weg zur Stilbildung, d. h. das Ablassen vom Unwesentlichen, von Naturkünstelei sich eröffnen.«126
Hier wird deutlich, dass Klinger bemüht war, modern zu sein, modern im Sinne einer abstrakten Formauffassung mit klaren, blockhaften Kompositionsteilen, die den übertriebenen Naturalismus, aber auch das Gekünstelte des Neobarocks überwinden wollte, um zu einem ›echten‹ Stil – ein entscheidender Diskursbegriff der Zeit – zu kommen. Einzelne Beispiele wie Helena von Franz von Stuck127 oder Büste einer unbekannten Dichterin von Eberlein können als weitere Großskulpturen dieser Stufe des Jugendstils gelten. Hoetger hatte, wie bereits angeführt, Statuetten im Jugendstil geschaffen. Er gehörte auch zu den Künstlern, die an einem der wichtigsten Zentren des Jugendstils tätig waren: der Darmstädter Mathildenhöhe. Sein Werk ist jedoch im Vergleich zu den sonstigen Werken auf der Mathildenhöhe anders.128 Er griff bei der Gestaltung des Platanenhains auf »[…] Stilisierungsmittel javanischer wie auch gotischer Plastik zurück, um einen Ausdruck von geheimnisvoll fremder, gefühlvoller Feierlichkeit und die Entrückung des Bewußtseins in eine nur mythisch zu erklärende Welt zu erzielen. Den Anstoß dazu verdankte er, wie mancher andere, dem Maler Paul Gaugin.«129
Hans Hildebrandt schreibt 1915 zu diesem Werk: »Schon während Hoetger an den Plastiken des Platanenhains arbeitete, hub eine neue Entwicklungsphase für ihn an. Der Künstler kehrt jetzt zu dem früheren Ideale strengster architektonischer Gebundenheit zurück.«130 Vor allem Hermann Obrist gilt als der Plastiker unter den Jugendstilkünstlern, die in früherer Forschung zu Vertretern der ornamentalen Flächenkunst gemacht wurden.131 Obrist selbst sprach davon, dass er »[…] plastische Formen in der Natur zu sehen gelernt hat […].«132 Für ihn hatten ornamentale Arbeiten nicht nur Schmuck-
126 | Klinger 1907, S. 20. 127 | Er schuf aber auch herkulische Figuren wie Feinde ringsum oder Athlet. 128 | Vgl. Küster 1990, S. 8. 129 | Feist 1996, S. 30. 130 | Hildebrandt und Hoetger 1915, S. 9 f. 131 | Vgl. Weigel 2009, S. 179. 132 | Kapner 1991, S. 144.
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wert. Ornamente waren für ihn vielmehr etwas Absolutes.133 Mit der Ausstellung 1901 im Berliner Kunstgewerbemuseum erteilte Obrist, wie Rezensionen in der Nationalzeitung und von Scheffler belegen, den Banalitäten der Klebeornamentik eine Absage und beschritt stattdessen einen Weg vom Flachornament hin zur Tektonik.134 Nach 1900 schuf er viele Grabmonumente und setzte sie im Sinne der Reformbewegung in der Sepulkralskulptur um, die stereotype Formen aus schwarzem Granit und Trauerallegorien in weißem Marmor oder Galvanobronze ablehnte.135 Der Durchbruch gelang ihm 1903 mit dem Grab für den Steinbruchbesitzer Karl Oertel,136 für den er einen durch kantige und wulstig-organische Formen geprägten Grabhügel mit drei Nischen, ohne applizierte Einzelornamente schuf. Hubertus Adam bemerkt hierzu: »Die Grabmäler fallen in eine Zeit, da nach Historismus, Impressionismus und Jugendstil eine neue Struktur und Tektonik, ja eine neue Monumentalität gesucht wurden. Sie können als wichtige Positionen im Denkmals- und Grabmalsdiskurs gewertet werden, und schliesslich zeigen sie das Ende der traditionellen Ikonografie an. Mit seinen zwischen Bildhauerkunst und Architektur oszillierenden Werken traf Obrist den Geschmack eines reformierten Bürgertums, Protagonisten einer ästhetischen (und nicht notwendigerweise politischen) Opposition in der Zeit des Wilhelminismus: Seine Auftraggeber waren Industrielle, Künstler oder Lehrer.«137
Auch im architektonischen Kontext (etwa bei Brunnenanlagen) gibt es zahlreiche Beispiele des Jugendstils.138 So realisierte Obrist, der auch für die Hinwendung zur Abstraktion wichtig wurde, eine solche Aufgabe für die Familie Krupp. Gert von der Osten verweist auf weitere Bereiche der Jugendstilkunst: »Nur am Rande traten die neuerkannten Naturkräfte, die man nicht sehen kann, in die plastische Darstellung. An Berliner Kandelabern und Untergrundbahnwagen gab es unmittelbare Versinnbildlichungen von Elektrizität und Licht in neuen Ornamentformen des Jugend-
133 | Vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 109. 134 | Vgl. Adam 2009, S. 207. 135 | Vgl. ebd., S. 209. Starker Fürsprecher dieser Reformideen war der Werkbundler Fritz Schumacher. In dem Text zu den Grabmälern im Band Im Kampf um die Kunst heißt es: »Schumacher haßte vor allem den polierten Granit, dem er Herzlosigkeit und Prunksucht nachsagt. Er widerstrebe zarter künstlerischer Behandlung und sei, auch geschickt behandelt, keiner wärmeren intimen Wirkung fähig. Zur Phantasielosigkeit geselle sich meist Ausdruck des Ruhmredigen und Gefühllosen.« (Bandmann 1971, S. 156) 136 | Vgl. Adam 2009, S. 213. 137 | Ebd., S. 217 ff. 138 | Zu nennen sind beispielsweise der Stephanienbrunnen in Karlsruhe oder die Brunnen von Obrist. Beide sind eher Skulptur als Architektur.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 5: Obrist, Hermann, Grabstätte Karl Oertel, 1903-04
© Norud
stils.«139 Alfred Meurer erläutert das Verhältnis von Jugendstil und diesen allegorischen Darstellungsformen: »Auch der gegen 1900 einsetzende Jugendstil änderte trotz seiner radikalen Erneuerung des dekorativen Formenschatzes wenig an diesen Voraussetzungen, sodass die Neigung zu allegorischen Darstellungen in den angewandten Künsten, Architektur und im Kunstgewerbe bis zum Ersten Weltkrieg erhalten blieb, in den letzten Jahren allerdings mit abschwächender Tendenz.«140
Deshalb gehörte die Bauskulptur, für die sich allegorische, aber ornamentale und damit zur Abstraktion neigende Formen anboten, zu den wichtigen Aufgaben der Jugendstilkunst. Sie entsprach dem vom Jugendstil vertretenen Ideal der Einheit aller Künste.141 Neben vegetabilen Stilisierungen zählt die Maske als Mischung aus Orna-
139 | Osten 1961, S. 15. 140 | Meurer 2014, S. 10 f. 141 | Vgl. Bachmayer und Dreikluft 2002, S. 6.
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ment und Mensch zu den beliebtesten Motiven. Hier konnten sowohl männliche als auch weibliche142 Gesichter oder auch androgyne Formen143 auftreten: »Die Damen waren so allgegenwärtig, dass man sich schon 1900 über die vielen ähnlichen Motive mokierte: ›Man sollte glauben, in Deutschland wüchsen nur noch Schwertlilien und Kastanien, der Schwan wäre so häufig wie der Rabe und die Haare der Schönen wären von vornherein […] in fließenden Strähnen stilisiert.‹«144
Silke Wenk konstatiert, auch im Ornamentalen würden Geschlechterzuschreibungen wirksam werden. Dieser Raum des Dekorativen sei demnach mitnichten bedeutungsfrei.145 Hans Körner hierzu: »Loïe Fuller tanzte Jugendstilornamente, die deshalb auch problemfrei ins Jugendstilkunstgewerbe rückübersetzbar waren: […] Signifikanter wird das Phänomen vor dem Fond der verallgemeinernden Feststellung, daß der weibliche Körper für den Jugendstil kein ›Gegenstand‹ unter anderen war. Die ornamentale Einbindung des weiblichen Körpers wird geradezu Signum des Stils.«146
Die Weiblichkeit im Jugendstil ist das Gegenstück zum Männlichkeitskult des Monumentalstils. Sätze wie die von Novalis – »Der Mann ist mehr mineralisch, die Frau ist mehr vegetabilisch«147 – scheinen beide Richtungen geprägt zu haben. Die plastischen Ornamente für Architekturen konnten wie Malereien funktionieren. Zu sehen ist das etwa am Beispiel des Fotoateliers Elvira von Endell. »Ich bin für Gebilde, die nichts darstellen und nichts symbolisieren, die durch frei erfundene Formen wirken wie die Musik durch Töne.«148 Endells Aussage zeigt, wie sehr sich der Jugendstil als abstrakte Kunst verstand.
142 | Letztlich wird aber vor allem das Weibliche im Jugendstil zu einem der wichtigsten Motive. Deshalb könnte man auch folgern, dass das Thema Arbeit – ein per se männlicher Bereich, wenn man von allegorischen Formen absieht – im Jugendstil wenig präsent war. 143 | Zu nennen ist beispielsweise das Wohn- und Bankhaus am Düsseldorfer Schadowplatz 14. 144 | Bachmayer und Dreikluft 2002, S. 60. Vorbild für solche weiblichen Masken waren beispielsweise die Plakate von Alfons Mucha. 145 | Vgl. Wenk 1996, S. 50. 146 | Körner 2000, S. 184. Nach Genge wird dem Köperhaften des Ornaments immer noch zu wenig Beachtung geschenkt (vgl. Genge 2009, S. 100 f.). 147 | Novalis zit. n.: Hofmann 1974, S. 202. 148 | Endell zit. n.: Roh 1963, S. 98.
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In der Skulptur des Jugendstils kann man an Beispielen wie Metzner149 und Obrist erkennen, dass der Jugendstil auch eine Vorstufe für den monumentalen Stil bildete. Hamann und Hermand bezeichnen das Figurenpaar am Ernst-Ludwig-Haus von Ludwig Habich (1901) auf der Darmstädter Mathildenhöhe als erstes Beispiel für den monumentalen Stil in der Skulptur, wenn auch ohne das Zyklopische und das Archaisch-Athletische.150
Monumentalstil »Spruch des Gewaltmenschen. Bitte nie! Laß dies Gewimmer! Nimm, ich bitte dich, nimm immer!«151 »In Leuten wie Bruno Schmitz erwächst uns eine neue monumentale Architektur. Noch gähnt zwischen diesen Bauten und den Figuren, die sie tragen, eine schneidende Differenz, und zwar steht der Bildhauer weit hinter diesen freilich sehr vereinzelten Architekten zurück«152,
heißt es 1898 bei Meier-Graefe. Dem Monumentalen in der Architektur sollte bald auch der monumentale Stil in der Skulptur folgen. Wichtige Anregungen dazu lieferte sicherlich auch Langbehns Bestseller Rembrandt als Erzieher, dem innerhalb von zwei Jahren seit der Erstauflage 1890 39 Neuauflagen mit weit mehr als 100.000 verkauften Exemplaren folgten.153 Er ist grundlegend, um das kulturelle, völkische und nicht zuletzt antisemitische Selbstverständnis eines Deutschlands unter Wilhelm II. und darüber hinaus des Nationalsozialismus zu verstehen. »Wenn der Deutsche von der Schale auf den Kern des Griechentums vorgedrungen sein wird, dann hat er in seiner eigenen Erziehung einen bedeutenden Schritt vorwärts getan: nämlich
149 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 201. 150 | Vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 417. Diese Skulpturen symbolisieren Kraft und Schönheit und stellen in ihrer erhabenen Naivität Illustrationsstücke des Jugendstilgeistes dar (vgl. Klotz 2000, S. 234). Wenig später (1905) stellte man rund um den Turm des Palais Stoclet in Brüssel nackte Athleten auf. 151 | Nietzsche 1887, S. 9. 152 | Meier-Graefe 1898, S. 264. 153 | Langbehns Schrift beflügelte auch andere Autoren zu solchen Auseinandersetzungen, etwa den Architekten Albrecht Haupt. In seiner Schrift Die kranke deutsche Kunst. Auch von einem Deutschen von 1911 heißt es: »Deutsches Volk – es ist hohe Zeit, daß nicht nur Handel, Technik und Wissenschaft das Feld sind, auf dem Du Lorbeeren und Erfolge ernten kannst. Die Zeit ist da, da du beweisen sollst, daß Erfolge dich nicht in krasse Oberflächlichkeit, in öde Sensations-
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»Arbeitende Bilder« den Schritt vom Schein zur Wahrheit. Anglomanie, Gallomanie, Gräkomanie – jede Art von Manie hat zu weichen und endgültig der Vernunft, dem Maß, dem wahren Deutschtum Platz zu machen.«154
Dabei wird der als martialisch begriffene, sich in einem ichbezogenen – man könnte auch sagen: nationalliberalen – Künstlertum manifestierende deutsche Charakter über die grenzenlose Humanität der Aufklärung gestellt: »›Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend‹, sagt Fichte. […] Wer ein rechter Deutscher ist, der ist auch ein rechter Mensch; keineswegs umgekehrt; eben hierauf beruht der Vorzug des Deutschtums, welches durch das letzte Jahrhundert, vor dem Menschentum, welches durch das vorletzte Jahrhundert angestrebt wurde. […] Einst ging der Dichter mit dem Denker Hand in Hand; jetzt steht dem Krieger der Künstler gegenüber, wiewohl nicht entgegen. […] ›Selbst ist der Mann‹, lautet die Losung des Kriegers wie des Künstlers; jener betätigt den Spruch nach außen, dieser nach innen; sie gehen im Grunde den gleichen Weg.«155
Langbehn nennt drei entscheidende Entwicklungsschritte auf diesem Weg: »Das letzte Ziel nationaler Kunst wie Bildung bleibt zwar stets: Monumentalität, Stil, Gebundenheit; aber zunächst muß das deutsche Leben sich lösen, ehe es sich binden kann; die Schleife muß gelockert werden, ehe sie sich wieder schürzen läßt. Drei Aufgaben sind es, welche jetzt der Deutschen harren; nämlich ihren Geist erstens: zu individualisieren und zweitens: zu konsolidieren und drittens: zu monumentalisieren.«156
Die aktuelle Situation der Kunst muss in seinen Augen überwunden werden: »Der Mangel an großem Stil in der heutigen deutschen Kunst und der Mangel an lebendigem Stil in dem heutigen deutschen Kunstgewerbe, trotz des gerade hier vorhandenen Überflusses von Kunstrezepten, erfordert dringende Abhilfe. […] Man strebt heute stets danach ›stilgerecht‹ zu sein; man sollte vielmehr danach streben ›stilvoll‹ zu sein. […] Es gilt der männlichen Natur des Deutschen auch innerhalb der heimischen Kunst gerecht zu werden; hier wird in bezeichnender aber nicht erfreulicher Weise vielfach ein allzuweiblicher Ton angeschlagen. […] soweit
hascherei oder in tatenlose Plattheit versenken können. […] Man hat Rembrandt und Goethe dir zum Erzieher aufgestellt, große Künstler germanischer Nation. […] Es ist not, daß du die Förderung deiner Kunst jetzt selber mächtig in die Hand nehmest.« (Haupt 1911, S. 66 f.) 154 | Langbehn 1922, S. 333 f. 155 | Ebd., S. 48 f. und S. 170 f. 156 | Ebd., S. 48.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich es sich nicht um die Gestaltung von Porträts handelt, wird die Darstellung kräftiger und edler Männlichkeit geradezu vernachlässigt.«157
Der Staat spielt hierbei eine wichtige Rolle: »[D]ie normale politische Entwickelung geht von der Symmetrie zum Rhythmus, von der Einheit zur Freiheit. Eigenart, welche die Welt widerspiegelt, ist Kunst; sie kann die Welt aber nur widerspiegeln, wenn sie sich in straffe Selbstzucht nimmt, wenn sie ihr Wesen gewissermaßen glättet; denn nur glatte Flächen spiegeln. Eine derartige künstlerische Selbstzucht wird sich am besten auf dem Grunde politischer Selbstzucht entwickeln.«158
Zur staatlichen »Selbstzucht« müsse sich eine Germanisierung Preußens gesellen: »Eine Verschiebung und Vertiefung des Preußentums nach der deutschen wie niederdeutschen Seite hin würde erst den unentbehrlichen Unterbau für eine Weiterentwickelung der heutigen Zustände überhaupt liefern, denn je breiter die Basis ist, auf welche eine solche Entwicklung gestellt wird, desto besser ist es. ›Preußen muß germanisiert werden‹, hat Bismarck mit Recht und vom deutschen Standpunkt aus verlangt; […] Es ist keine Frage, daß in Preußen teils als slawische, teils als jüdische und französische Blutbeimischung, ein undeutsches Element vorhanden ist. […] Jene slawische oder orientalische Erbkrankheit ist innerhalb Preußens zwar durch den deutschen Einfluß abgeschwächt und zum Negativismus gemildert worden; aber zu verkennen ist sie im übrigen nicht.«159
Langbehns Schrift offenbart die etablierten Diskursfelder jener Zeit, die vor allem für den monumentalen Stil eine wichtige Rolle spielten: die Forderung nach einem neuen, nationalen – völkischen – Stil, die Abwendung von französischen Vorbildern, die Hinwendung zu Monumentalität, Masse, Männlichkeit oder Heroismus anstelle einer verweiblichten Kunst, Kunst als Sache des Volkes, eines Volkes germanischen Blutes, soldatische Körper – blond und groß – gebildet in straffer Selbstzucht, zum Kampf bereit, Tatmenschen.160 Richard Muther äußerte sich 1908 zu Metzner mit den Worten:
157 | Ebd., S. 110 f. 158 | Ebd., S. 228. 159 | Ebd., S. 181 ff. 160 | Auch in Dichterkreisen gab es ähnliche Tendenzen: Der sogenannte George-Kreis um den Dichter Stefan George, der 1897 noch das Das Jahr der Seele propagiert hatte, verbreitete in den Blättern für die Kunst zunächst eine »kunst für kunst«, wurde dann aber zunehmend politischer. Seine Anhänger wie Friedrich Gundolf wetterten gegen die Erregtheit und die Beweglichkeit, an der die Moderne kranke, und sahen nur in der Vereinfachung das Heil. Karl Wolfskehl wertete Musik als »weib-sexuale tonwellen« ab (vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 440 f.).
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»Arbeitende Bilder« »Doch wer im Geiste versucht, die disjecta membra dem Ganzen einzuordnen, dessen Teile sie bilden, der empfindet, welch gigantische Wucht und klare Klassizität durch das Schaffen von Metzner geht. Gerade ein solcher Mann, der etwas Einfaches und Großes, etwas Gewaltiges und Starkes brachte, tut uns heute not.«161
Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig – ein Gemeinschaftswerk des Architekten Bruno Schmitz und des Bildhauers Metzner – gilt als paradigmatisches Beispiel. In ihm kommen all diese stilistischen und ideologischen Aspekte zum Tragen. Dieser Stilstufe, für die sich in der Skulptur anders als in der Architektur (Zyklopenstil) noch kein geläufiger Begriff etabliert hat, sondern zumeist von Monumentalstil die Rede ist, kommt eine sehr zwiespältige Bewertung zu. Selten hat ein Werk in der Kunstgeschichte solche Äußerungen in der Forschung provoziert: »Der skulpturale und architektonisierende Denkmal-Monumentalismus in der europäischen Kunst zwischen 1890 und 1930 ist eine legitime Nebenströmung zwischen Symbolismus, Jugendstil und Expressionismus, an denen er Teil hat und denen er die Züge eines sowohl nationalen wie auch eines exotischen Archaismus teilt, sie allerdings ins Zyklopische steigernd: die steinernen Riesenmasken hinter den gepanzerten Wächtern Metzners in der Halle des Völkerschlachtdenkmals sind die wuchtigsten, aber auch befremdendsten und beklemmendsten Zeugnisse dieses exotisch-archaisierenden Monumentalstils […].«162
Feist dazu: »Urgermanisch gemeinter ornamentalisierter, alptraumhafter Brutalismus kennzeichnet Franz Metzners Figuren am und im Leipziger Völkerschlachtdenkmal.«163 Roh spricht in Bezug auf Metzner von übersteigertem Heroenkult, der seine Form in einer radikalen Monumentalisierung, Stilisierung und Verbindung zwischen Skulptur und Architektur finde.164 Maaz bezeichnet diese Projekte als megaloman-martialisch.165 Selbst Wilhelm II. waren die Skulpturen Metzners am Völkerschlachtdenkmal zu fremdartig.166 Zeitgenossen verspotteten seine Figuren in Leipzig – oder im Weinhaus Rheingold in Berlin – als Nacken- und Schenkelmenschen.167 Anders sieht es Arthur Moeller van den Bruck, Autor von Das dritte Reich. Bei ihm heißt es 1916 in dem ebenfalls vielverkauften Buch Der preußische Stil: »Monumenta-
161 | Muther zit. n.: Pötzl-Malikova 1977, S. 40. 162 | Schmoll gen. Eisenwerth 1977, S. 11. Zum Zyklopenstil vgl. Pehnt 1998. 163 | Feist 1996, S. 29. 164 | Vgl. Roh 1963, S. 16 f. 165 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 154 f. 166 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1977, S. 6. 167 | Vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 414.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 6: Schmitz, Bruno (Architekt)/Behrens, Christian/Metzner, Franz, Völkerschlachtdenkmal, Leipzig, 1897-1913
© SteffenG
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lität ist männliche Kunst. Parthenogenetisch entstand sie in der Seele des Mannes, als Mann, Held und Künstler noch eins waren. […] Ihre Körper wirken wie Dogmen. […] Romantik dagegen ist weiblich.«168 Infolge des Ersten Weltkrieges wurden solche Positionen stärker hinterfragt.169 Rückblickend verurteilte etwa auch Wilhelm von Bode in seinem Text Die Großmannssucht in der deutschen Kunst von 1921 Kunstprojekte dieser Art.170 Er fand für die Monumentaltendenzen in der Kunst folgende Worte: »Hier sucht jeder seinen eigenen phantastischen Ideen zum Ausdruck zu bringen: je absonderlicher sie sind, um so origineller glaubte er zu sein. Jeder möchte einen Stil für sich, einen Privatstil erfinden, während doch der Stil gerade das ungesuchte Ergebnis der ganzen künstlerischen Anschauung einer bestimmten Zeit ist.«171
Der Kunstschriftsteller Wolfradt schrieb 1920 zu Metzner: »Metzner gerät bei einem im modernen Sinne äußerst substanzhaltigen Pathos leicht in kraftmeierndes Monumenttalmi. Seine brutale, klobige Art, die uns einen protzigen und aufdringlichen Dekorationsstil eingebrockt hat, fördert unstreitig Werke von seltener Geschlossenheit und massiver Verve zutage, sobald sie an die Gestaltung artverwandter Motive geht.«172
Etwa zeitgleich attestierte Kuhn Hugo Lederer nur Liebe zur Kraft, aber keine wirkliche Kraft; der Stein diktiere bei ihm. Metzner löse die Gestalt ornamental auf, sodass bei beiden, vor allem aber bei Metzner, eine befremdliche Mischung aus Begasbarock, Jugendstil, Hildebrandmonumentalität und Abstraktionssucht vorherrsche. Beim Völkerschlachtdenkmal habe Metzner mit seinen riesenhaften Gestalten ohne inneres Leben völlig versagt.173 Michele Guerrsi konstatierte 1930 einen »[…] collossalismo di Ugo Lederer e di Franz Metzner. […] ma non riuscirono che al brutto, al grottesco […]. Figliuolo legittimo di questa falsa classicità germanica […], questo schematismo […].«174
168 | Moeller van den Bruck, S. 147. 169 | Vgl. Ziemann 2000, S. 71 f. 170 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth, Metzner 1977, S. 6. 171 | Bode zit. n.: Hamann und Hermand 1967, S. 497. 172 | Wolfradt 1920, S. 79. 173 | Vgl. Kuhn 1922, S. 77-81. 174 | Guerrisi 1930, S. 184.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Krauskopf verweist auf eine seit den 1890ern anhaltende Bemühung um eine monumentale Denkmalkunst. Sie solle Ausdruck eines genuin bürgerlichen Stils sein.175 Architektonische und bildhauerische Prinzipien sollten in der Nachfolge Hildebrands176 vereint werden, das Bildhauerische dabei aber zum führenden Prinzip erklärt werden.177 »Einheitlichkeit« sei laut Krauskopf ein wichtiger Begriff des zeitgenössischen Diskurses etwa bei Muther, der in Bezug auf die Denkmäler einheitlich architektonische Massen präferiere.178 »Der Begriff der ›Einheitlichkeit‹ bündelt also nicht nur formale Kriterien, sondern auch Aspekte der Ideologie«179, so Krauskopf. Die formale Einheitlichkeit ist dann Ausdruck einer inhaltlichen Einheitlichkeit, mit der der Begriff des Überindividuellen verbunden ist,180 der sich weniger auf das unbestimmte beziehungsweise nicht-kontrollierbare Schicksalhafte der Gattung Mensch – das heideggersche Geworfensein – im Abbild der Einzelfigur konzentriert, sondern Konzepte der Schicksalsgemeinschaft als Masse – symbolisiert durch Massigkeit – entwickelt. So sind Denkmäler wie das Völkerschlachtdenkmal nicht länger nur Nationaldenkmäler, »[…] sondern Symbol für die Nation als unvergängliche Schicksalsgemeinschaft im biologischen Ursubstrat des Volkes – ein völkisches Denkmal.«181 Hamann und Hermand dazu: »Während weite Kreise der Bevölkerung bis zum Jahrhundertende an Begriffe wie ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ festgehalten hatten, sei es auch nur aus Staffagegründen, berief man sich jetzt in steigendem Maße auf den romantischen Traum von der ›wahren Volksgemeinschaft‹.«182
175 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 120. 176 | Hildebrand sah die extreme Nähe von Architektur und Skulptur. Lederer griff dies beispielsweise im Bismarck-Denkmal auf (vgl. Janson 1985, S. 237). 177 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 176. Langbehn machte auch zu den Materialien konkrete Aussagen: »Die Griechen hatten eine Kultur von Marmor, die Deutschen sollten eine solche von Granit haben.« (Langbehn 1922, S. 277) 178 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 21. 179 | Ebd., S. 22. 180 | Die Entindividualisierung ist nach Nicolai ein Leitmotiv der Monumentalkunst um 1900 (vgl. Nicolai 2004, S. 213). 181 | Bauer 1992, S. 26. 182 | Hamann und Hermand 1967, S. 40.
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Denkmäler und kulturelle Praktiken183 wurden Teil einer martialischen Mobilisierung.184 Den Weg hierhin ebnete ein Verweis auf militärische Geschichte: »Das Militär im Allgemeinen und der Deutsch-Französische Krieg im Speziellen stellten die ›Schicksalsgemeinschaft‹ her, die […] nationskonstituierend wirkte und der sich nahezu jeder Bürger des Reiches – sogar, wie sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges erweisen würde, die Sozialisten – verpflichtet fühlte.«185
Wichtig wurde hierbei auch die Integration der Bürger von staatlicher Seite, wie sie von Reinhard Alings am Beispiel Hamburg demonstriert: »Die partiell erfolgreiche innenpolitische Integration im Sinne eines Reichspatriotismus war hier immer noch wesentlich geprägt durch Kaiser und Armee, aber auch durch allgemeinen Fortschritt, Handel und Wohlstand.«186 Das Bismarck-Denkmal von Lederer in Hamburg bildet neben Leipzig ein wichtiges Beispiel dieses Stils. Jochum-Bohrmann schreibt in ihrer Monografie zu Lederer, dieser habe versucht, die deutschnationalen Ideen Langbehns mit dem Stil Michelangelos zu verbinden.187 Sein Monumentalismus sei Ausdruck einer besonderen Wendung des Materialstils. Sein Bismarck wirke rein als Masse, rein als Material, so Hamann und Hermand.188 Mit dieser Stilphase verbindet
183 | Diese Praktiken nahmen kultische Züge an (vgl. dazu beispielsweise im Allgmeinen Koselleck 1994 und im Besonderen Hoffmann 1994). Diese Betrachtungsweise ist auch eine Folge der sogenannten kulturalistischen Wende in den Geschichtswissenschaften, nach der sich der Sinn der Denkmäler nach Wolfgang Hardtwig wesentlich in den Festen in Anknüpfung an die patriotische Feier, die hier zelebriert wurde, erfüllt. So wird mit George L. Mosse der Prozess der Nationalisierung der Massen durch einen neuen politischen Kult erklärt (vgl. Keller und Schmid, Einführung 1995, S. 7 f.). 184 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 177. 185 | Scharf 1984, S. 250. 186 | Alings 1996, S. 603. 187 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 41. Lederer kritisierte beispielsweise die Vernachlässigung deutscher Kunst in der Berliner Sezession und kündigte deshalb seine Mitgliedschaft (vgl. ebd., S. 40). 188 | Vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 414.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
sich so ein Weg zur Abstraktion, die in erster Linie auf Monumentalität189 abzielte – oder anderes gesagt: Monumentalität forderte einen hohen Grad an Abstraktion.190 Doch nicht nur im Denkmal, sondern auch in weiteren Formen der Skulptur im öffentlichen Raum kommen diese Diskurse zum Tragen. Bernd Nicolai führt hierfür die Beispiele Arthur Langes Gruppe Quelle der Kraft von 1907 oder die wenig später entstandene Skulptur Die Kraft von Johann Michael Bossard an. Sie »zeigen die männerbündische, sich selbst genügende, dabei alles Weibliche ausschließende Darstellung einer nach außen und innen abwehrbereiten Männlichkeit.«191 Lederers Fechter sieht er als Sinnbild für die studentische Männlichkeit an, die auf weiblichen Allegorien aufgesockelt wird.192 Auch Maaz spricht von einer um 1900 entstehenden neuen Form der männlichen Ausdrucksfigur als Sinnbild des Martialischen.193 Durch Nacktheit konnten Kraft und Potenz in besonderem Maße demonstriert werden. Zudem meint Wolfradt: »Die Gegenwart fordert von der Plastik: Tastbarkeit. Aus ähnlichen Gründen bevorzugt die neue Plastik den unbekleideten Körper, […]. Das Gewand hat etwas Unernstes und Triviales, das den einsamen Schlummer des körperlichen Seins profaniert; es ist nicht Element, sondern Zutat, nicht plastischen, sondern malerischen Wesens.«194
Der männliche Körper, dem die Gattung Skulptur im Gegensatz zur weiblichen Malerei entspricht, wird zum ideologischen Ausdrucksmittel. »Nicht der Mensch ist hier
189 | Auch die Orte der Denkmäler werden ›abstrakt‹, wenn etwa die Städte als Raum des Konkreten verlassen und nun Landschaften besetzt werden (vgl. hierzu beispielsweise Warnke 1992, S. 24 f.). Dies begünstigte eine Vielzahl kultureller Praktiken um das Denkmal – von den Einweihungsfesten bis zu sonntäglichen Wallfahrten. 190 | Letztlich ist das nicht neu. Franz Bauer weist auf ähnliche Strategien des Monumentalen als Ausdrucksformen für Dauer und Größe bei den Ägyptern hin (vgl. Bauer 1992, S. 31). Auch Felix Reuße sieht schon vorher Entwicklungstendenzen zu abstrakten Denkmalsformen (vgl. Reuße 1995, S. 30). Wichtiger Ausdruck davon waren die zahlreichen abstrakten Formen der Bismarck-Denkmäler wie Türme oder Steine. 191 | Nicolai 2004, S. 212. 192 | Vgl. ebd. Hier ist noch stark der Einfluss Hildebrands erkennbar. Literarische Verarbeitung fand diese männerbündische, abwehrbereite Männlichkeit, die sich in ausgeprägter Weise in den Studentenverbindungen zeigte, im Roman Der Untertan von Heinrich Mann – auch unter dem Titel Die Neuteutonen angedacht. 193 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 72. 194 | Wolfradt 1920, S. 35-39.
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der Verewigte, sondern die Masse, das steinerne Gesetz«,195 so Hamann und Hermand treffend. Fritz Burger charakterisierte es 1925 so: »Da verlor der Körper die Fleischlichkeit seines Daseins, man lernte ihn aus Bergen bauen […], denn er war der Sohn und nun Herrscher jener Kraft, die am Anfang der Tage die Berge schuf, lernte aus schreckenhaften Abgründen Gestalten formen […], verehrte die stumm gewordenen, kalte Energie des Todes […].«196 Das Monumentale in der Bildhauerei wird verhandelt über männliche Körperideale, Materialien und Formate – hier auch als Größe aufgefasst.197 Dafür bot sich die Gattung Skulptur, vor allem aber das Denkmal in besonderer Weise an: Die Bildhauerei galt schon aufgrund ihres Produktionsprozesses als die männlichste unter den Kunstgattungen. Die öffentliche Aufstellung und hieran geknüpfte Praktiken198 garantierten die mediale Vermittlung der damit verbundenen Ideologien. Sie wurden quasi dauerhaft und unverrückbar in Stein gemeißelt. Abstraktion und Konkretion waren – im Gegensatz zur Architektur – gleichermaßen vereinbar. Männliche Körper boten in ihrer weitestgehend entpersonalisierten Unbestimmtheit genügend Projektionsfläche beziehungsweise konnten allegorisch aufgeladen werden (beispielsweise konnte der nackte Muskelmann durch die Beigabe des Hammers zur Personifikation der Industrie werden) und waren ideales Vorbild für die Bevölkerung gleichermaßen. Körper und die verwendeten Materialien eröffneten Bezüge zur völkischen Blut-und-Boden-Gesinnung. Der Begriff des Monumentalen spielte allgemein in den Diskursen um die Kunst dieser Zeit eine große Rolle. Das zeigen nicht nur die Schriften von Hildebrandt199 und Meier-Graefe,200 sondern zahllose Artikel in Kunstund Architekturzeitschriften. Die nationale Aufladung kam mal stärker, mal weniger stark zum Tragen.201 In jedem Fall verband sich mit ihr der ›Wille‹ zu einem Stil, der sich in Abgrenzung und als Gegenentwurf zu früheren Stilen als ernsthaft, kraftvoll und männlich verstand.
195 | Hamann und Hermand 1967, S. 414. 196 | Burger 1928, S. 8. 197 | Größe bedeutet zum einen physische Größe, aber zum anderen Erhabenheit, die durch materielle Effekte – und dazu gehört schließlich auch das Format – produziert wird. 198 | »Rückkehr zur Typik ist die Voraussetzung […]. So ist der Weg der neuen Plastik zum Ding: ein Weg zu kultischen Kunst« (Wolfradt 1920, S. 45) 199 | Vgl. Hildebrandt und Hoetger 1915. 200 | Vgl. Meier-Graefe 1898. 201 | Wolfradt zu den Ursprüngen des Monumentalismus: »Eine noch andere Quelle aber speist den Monumentalismus der Gegenwart: der jugendliche Freiheitsdrang. […] Man schämt sich
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Expressionismus »[W]as wir Expressionisten suchen ist, präzis aus unserem Material den geistigen Gehalt herauszuziehen; seinen äußersten Ausdruck […].«202
Teresa Ende geht in ihrer Arbeit zu Lehmbruck auf Gestaltungsprinzipien ein, wie sie bereits von Kolbe ausgemacht, die aber generell für die Kunst nach 1900 wichtig wurden: »Auf der Suche nach ›Ausdruck‹ und Sichtbarmachung der ›Idee‹ ›des heutigen Lebens‹, so Kolbe 1912, gestalteten sie weder modische Menschen in zeitgenössischer Kleidung noch genrehaft-erotische Figuren, sondern versuchten in Aktfiguren ›reine[r] Form‹ das Wesentliche hervorzuheben, das heißt ›ohne soziale oder gesellschaftliche Rangabzeichen‹ ein Charakterbild vom modernen Menschen zu geben, in bewusster Abgrenzung von der Mehrzahl der akademischen, historisch und literarisch aufgeladenen Figuren des vorangegangenen Jahrhunderts. Die Künstler selbst nannten die neue figürliche Plastik in der programmatischen Mannheimer Ausstellung von 1912 ›Ausdrucksplastik‹. […] Die Darstellungen zielte auf die Suggestion seelischer Zustände mittels bestimmter Haltungs- und Bewegungsmotive ab.«203
Maaz beschreibt die in den Ausstellungen dieser Jahre präsentierten Werke folgendermaßen: »[…] zuweilen auch androgyn anmutende Figuren bevölkerten die Ausstellungen und vermittelten Bilder ephebenhafter Jugend und mädchenhafter Blüte. In anderen Fällen waren es schwerblütige, schicksalsbeladene, metaphorisch ebenso wie buchstäblich geknickte und gebrochene Gestalten.«204
heute so wenig der öffentlichen Begeisterung wie des freien Darstehens, und dieses Bekenntnis zum selbständigen Sein findet im statuen Gebaren der neuen Plastik seinen Ausdruck. […] Der eigene Körper wird öffentliche Angelegenheit.« (Wolfradt 1920, S. 60) Die Monumentalbestrebungen konnten je nach Weltanschauung ins Formalistisch-Dekorative oder Völkisch-Archaisierende tendieren (vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 506). 202 | Lehmbruck zit. n.: Schubert 1984, S. 122. 203 | Ende 2015, S. 20 f. 204 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 65. Die Femme fatale in der Kunst ist Ausdruck für die Auflösungserscheinungen starrer Rollenklischees um 1900. Auch das Männerbild in der Kunst erfuhr entsprechende Verschiebungen: Es wurden effeminierte männliche Figuren gestaltet, die in Haltung, Gestus und Körperideal als übersensibel, sinnend und leidend gekennzeichnet sind (vgl. Ende 2015, S. 18 f.).
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Abbildung 7: Lederer, Hugo, Ringer, 1908
Quelle: Scholz 1940, S. 373
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Diese Werke bekamen psychologisierende Titel wie Schuld und Reue.205 Nach 1900 setzten sich im Kaiserreich unter anderem mit Hoetger, Lehmbruck und Ernst Barlach neue künstlerische Konzeptionen durch. Es erfolgte eine Weiterentwicklung des Neoklassizismus in der Nachfolge Hildebrands beziehungsweise Maillols etwa bei Kolbe und eine monumentale Formauffassung etwa bei Metzner oder Lederer.206 Diese Künstler bemühten sich um eine neue Ikonografie: Sie wussten die Ausdruckskraft des Körpers als Sinnträger für existenzielle Zustände des Seins zu nutzen und entwickelten künstlerische Strategien, um diese Innerlichkeit verbildlichen zu können. Der Körper als materieller Ausdruck des Menschseins an sich wurde von seinem individuellen Träger gelöst. Der Akt ohne narratives Beiwerk wurde zum Ende des Jahrhunderts wichtiges Betätigungsfeld der Kunst im Sinne der Darstellung der reinen Form. Max Klinger dazu: »Ein ruhender menschlicher Körper, an dem das Licht in irgendeinem Sinne hingleitet, in dem nur Ruhe und keinerlei Gemütsbewegung ausgedrückt sein soll, ist […] schon ein Kunstwerk. Die ›Idee‹ liegt für den Künstler in der der Stellung des Körpers entsprechenden Formentwicklung, in seinem Verhältnis zum Raum, […] und es ist ihm völlig gleichgültig, ob dies Endymion oder Peter ist.«207
Selbst in Repräsentationsformen wie dem Denkmal kommt dies zum Tragen.208 Die Skulptur löste sich mit Beginn des Jahrhunderts inhaltlich von Mythen und literarischen Themen sowie formal von der Naturbeobachtung des Naturalismus.209 Obwohl der Expressionismus in der bildenden Kunst in erster Linie mit der Gattung Malerei verbunden wird, findet der Begriff auch in der Skulptur Verwendung: »Lehmbruck selbst bezeichnete sich als Expressionisten, wenn er zu seinem Freund Fritz von Unruh sagte: ›[…] was wir Expressionisten suchen ist, präzis aus unserem Material den geistigen Gehalt herauszuziehen; seinen äußersten Ausdruck […].‹«210 Das Expressive
205 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 72. 206 | Für die expressionistischen Bildhauer wurden die klaren Formvorstellungen von Hildebrand und die Dramatik Rodins wichtige Bezugspunkte. Sie suchten nach einer Synthese, auch unter Rückbezug auf sogenannte primitive und mittelalterliche Kunst (vgl. Ende 2015, S. 22). 207 | Klinger zit. n.: ebd., S. 20. 208 | Vgl. Meißner, S. 15. 209 | Vgl. Dufrêne 2009, S. 95. 210 | Schubert 1984, S. 122. Lehmbrucks Formen galten in Frankreich als Gotikrevival, als archaisch und »tropisme germanique« (Dufrêne 2009, S. 95). In Bezug auf Minne diskutiert Meier-Graefe die Zuschreibung des Gotischen: »Man kann hier kaum von Gotik reden, obwohl die äußere Beziehung noch deutlich ist; schon hier fühlt man einen ganz und gar selbst konstruie-
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wurde sehr früh schon durch Ernst Bloch oder René Schickele sprachlich erfasst.211 Bereits während des Ersten Weltkrieges (1912) widmete sich der abstrakt arbeitende Bildhauer Oswald Herzog in seiner Schrift Stilistische Entwicklung der Bildenden Künste dem Expressionismus. Er bezeichnete ihn als die neueste Kunstrichtung, in der nicht der dargestellte Gegenstand wichtig sei, sondern die Visualisierung bestimmter Gefühle.212 Guerssi sprach 1930 von der Expressivität Lehmbrucks: »Uno dei piu notevoli e dei piu intensi scultori nuovi della Germania è Wilhelm Lehmbruck […]. La sua scultura e quanto mai espressiva, è un approfondimento doloroso della vita, piu che una ricerca esteriore di valori formali.«213 Die Bezüge zur Malerei waren aber in besonderer Weise gegeben, da es in dieser Zeit einige Vertreter gab, die sich beiden Gattungen widmeten und deshalb mit dem Begriff der Malerbildhauer bezeichnet werden. So übertrugen Ernst Ludwig Kirchner oder Karl Schmidt-Rottluff ihre kantigen Körperformen in die Gattung der Bildhauerei. Sie wählten hierfür konsequenterweise den Werkstoff Holz, der von ihnen oftmals auch bemalt wurde. Einen wichtigen Einfluss auf diese Skulpturen übten die Werke sogenannter primitiver Völker aus, bei denen man die vermeintliche Ursprünglichkeit suchte und zu finden glaubte.214 »Archaismus ist das Gegenteil des Wortes Kopie. Er ist der geborene Feind der Lüge […]. Das Archaische ist nicht naiv, das Archaische ist nicht frustriert«215, so der französische Bildhauer Antoine Bourdelle. Im Sinne einer neuen Naturnähe, einer Hinwendung zum Elementaren in der Skulptur, auch im Sinne des Ehrlichen oder Ursprünglichen, womit auch die Materialien Holz und Stein gemeint sind, bemerkt Wolfradt 1920: »Auch hier mag erkannt werden, daß die Anlehnung der neuen Kunst an primitive Formen, etwa die Negerplastik, keine willkür-
renden Künstler, bei dem die Bezeichnung Gotiker ebensowenig umfasst, wie etwa bei Maillol das Attribut ›griechisch‹.« (Meier-Graefe 1904, S. 543) 211 | Vgl. Schubert 1984, S. 122. Der Verweis von Schubert auf Bloch unterschlägt an dieser Stelle eine ganz andere Komponente: In der sogenannten Expressionismusdebatte wurde die Frage nach dieser Kunst als nationalsozialistische Kunst diskutiert. Georg Lukács übte scharfe Kritik am Expressionismus in der Zeit unter Wilhelm II., Bertolt Brecht verteidigte den Expressionismus. Gottfried Benn und Heinrich Mann waren zwei große Streitgegner in dieser Diskussion. Ernst Bloch sprach sich für den Expressionismus und gegen den Klassizismus der Marxisten aus, er sah den gleichen Kult um den Klassizismus bei den Nazis und den Marxisten (vgl. Plamier 1981, S. 448-453). 212 | Vgl. Lindhout 1992, S. 212. 213 | Guerrisi 1930, S. 186. 214 | Vgl. Riejen, Exotismus 1992, S. 140. Das Suchende gehört von jeher real und als Topos zum Künstler(-bild), nicht nur in der Zeit um 1900. 215 | Hammacher 1973, S. 61.
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liche Mode, sondern ein Geschehen von tiefer Notwendigkeit ist.«216 Carl Einsteins Text Negerplastik als wissenschaftlicher Versuch, sich der Kunst Afrikas zu nähern, gingen Äußerungen Emil Noldes voraus, der schon 1912 forderte, man solle ›Eingeborenenkunst‹ im Museum zeigen.217 Einstein will sich in seinen Ausführungen von einer evolutionären Betrachtung entfernen und zu einer formalen Anschauung der afrikanischen Kunst gelangen.218 Er schreibt dazu: »Der heutige Künstler agiert nicht nur für die reine Form, er spürt diese noch als Opposition seiner Vorgeschichte und verwebt seinem Streben das allzu Reaktive; seine nötige Kritik verstärkt das Analytische.«219 Der ›Exotismus‹ auf Weltausstellungen war auch das Ergebnis einer Schaulust am Fremdartigen. Gabriele Genge verdeutlicht, die Hinwendung zur ›Kunst primitiver Völker‹ sei auch eine Folge der Aufforderung gewesen, man solle, um Aussagen über die Intelligenz einzelner Völker treffen zu können, eher Kulturerzeugnisse statt Schädel betrachten.220 In solchen Kontexten wird nach Genge »[…] die Rolle der Ethnographie bedeutsam, d. h. der beschreibenden Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert ein vielfältiges Modell kultureller Aneignung und Einverleibung des Fremden generierte und in engem Austausch mit der Kunst, Kunstkritik und Kunstwissenschaft stand.«221 Barlach praktizierte einen Exotismus, der auf das Kontinentale beschränkt blieb: Der russische Mensch – als ein existenzieller Ausdruck des Menschseins an sich – wurde zum Objekt seiner Kunst. Hier kam es ihm auf die ›inneren Werte‹ an: »Die Tatsache besteht, daß die Wirklichkeit für mein Auge plastische Wirklichkeit war. Rußland gab mir seine Gestalten. Form – bloß Form? – Nein, die unerhörte Erkenntnis ging mir auf: du darfst alles Deinige, das Äußerste, das Innerste, Gebärde der Frömmigkeit und Ungebärde der Wut, ohne Scheu wagen […].«222
Kuhn inspirierte Barlachs Kunst zu folgenden Aussagen: Seine Figuren haben »[…] das Grau nordischer Seelenbedrängnis.«223 Oder: »Ihr Leid ist das Leid schlechthin. Ihre Schmerzen sind die Schmerzen der rauen Wirklichkeit: Hunger, Frost, Alter, Armut.«224 Für Werner war der dem Schicksal ausgelieferte Mensch das große Thema seiner Arbeiten. Diesem Menschen begegnete er mit feierlichem Pathos, und er erhob
216 | Wolfradt 1920, S. 62. 217 | Vgl. Hammacher 1973, S. 88. 218 | Vgl. Harrison und Wood 1998, S. 148. 219 | Einstein 1980, S. 251. 220 | Vgl. Genge 2009, S. 46. 221 | Ebd., S. 16. 222 | Barlach zit. n.: Trier 1999, S. 223. 223 | Kuhn 1922, S. 113.
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als erster das Holz wieder zum wichtigen Werkstoff.225 Er schuf in diesem Material blockhafte Kompositionen226 mit geschlossenen Konturen, etwa Russische Bettlerin II oder Spaziergänger. Dabei fasste er das Holz nicht, sondern bearbeitete es so, dass entweder sehr glatte, fast schon glänzende Oberflächen entstanden oder die Spuren jedes einzelnen Meißelstiches sichtbar wurden.227 Für Wolfradt war Barlach 1920 der Inbegriff der neuen – monumentalen – Skulptur: »Nie noch ist in der Kunst so mit dem vollen Gewicht der Körpersubstanz gesessen, gelegen und aufgetreten worden; nie noch hat der plastische Block derart von sich aus den Ausdruck gezeugt, nie noch wurde die Schwere, die Bindung, die Substanz selbst so zur Gebärde. Niemals vollzog sich noch so restlos und alle Wünsche sättigend jene Synthese, die der Sinn der neuen Plastik ist.«228
Die Besinnung auf das Kubische, die im Monumentalen geklärte Form, 229 hat auch Konsequenzen für die erzählerischen Mittel von Skulptur: »Auch die Gebärde tritt in der neuen Plastik in den Rumpf zurück, aus dem sie kam. […] Die Geste ist der Erzfeind des Plastischen.«230
Und weiter: »Dynamik fordert Gestus, Verfestigung beschneidet ihn: […]. Die Masse selbst wird Träger des Ausdrucks; […] Schlankheit wird Sehnsucht, Stämmigkeit wird Mut.«231
Im Deutschen Kaiserreich war Lehmbruck neben Barlach ein weiterer Protagonist einer modernen Figurensprache. Die von Wolfradt angeführte Stämmigkeit Barlachs entspricht der Schlankheit Lehmbrucks, sodass durchweg Verweise auf die Gotik 232 – so auch für Minne233 – erfolgen. Auch Lehmbruck wird in der Forschung zum »su-
224 | Ebd., S. 115. 225 | Vgl. Werner 1940, S. 22 ff. 226 | Das Blockhafte ist für ihn die Bildhauerei. Hoetger wurde hierbei von Worringer beeinflusst. Er geht in seiner Gegenüberstellung vom Bildhauerischen (Maillol) und Plastischen (Rodin) noch auf Leon Battista Alberti zurück (vgl. Honisch 1976, S. 97). 227 | So etwa beim Zecher von 1909 im Lehmbruck-Museum. 228 | Wolfradt 1920, S. 90. 229 | Vgl. ebd., S. 58. 230 | Ebd., S. 47. 231 | Ebd., S. 57.
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chende[n] Künstler des 20. Jahrhunderts«234 und lässt sich dabei etwa von Rodin oder Meunier beeinflussen. Werke wie Knieende von 1911 oder Emporsteigender Jüngling von 1913/14 dokumentieren eine Hinwendung zum Expressiven, die eine Auflösung naturgegebener Körperproportionen mit sich brachte. Sauerlandt bemerkt zur Knieenden, die 1914 in Paris gezeigt wurde, es sei »[…] das erste Werk eines neuen Stils, das die sanfte Fülle der früheren Werke dem Ausdruck der herb-zarten Empfindung opfert.«235 In diese Stilphase gehört ebenso der Gestürzte von 1915, den Lehmbruck während seiner Zeit als Sanitäter im Krieg schuf und der zunächst als Denkmal für den Duisburger Soldatenfriedhof geplant war (Sterbender Krieger).236 Lehmbruck griff in der Nachfolge Meuniers und wie im Fall von Schlagende Wetter ein Thema von sozialer Brisanz auf, das sich in der Körperlichkeit manifestiert: Der Gestürzte ist nur noch ein Gerüst aus Haut und Knochen. Hilflos umklammert er sein Schwert und nicht etwa eine Schusswaffe, worin der Wille zur Abstraktion, in diesem Falle zur Überzeitlichkeit, zum Ausdruck kommt. Auch die Nacktheit unterstützt dies: Verweise auf eine konkrete historische Konstellation, etwa durch eine Uniform, fehlen. Die Nacktheit steigert zudem maßgeblich den Eindruck von Schutzlosigkeit. Lehmbrucks Gestürzter war in den Augen der Zeitgenossen ungeeignet, einen sterbenden Krieger zu verkörpern. Ende sieht in ihm deshalb einen modernen, in die Horizontale gewendeten Laokoon:237 »Lehmbrucks Figur ist keine Ode an den Krieg im Sinne der Gewaltverherrlichung, sondern symbolische Bedeutungszuweisung: der Versuch, dem Sterben einen höheren und nationalen Sinn zu geben, die pathetisch-monumentale Verklärung und Apotheose des Opfers für die Ganzheit und Vollkommenheit der Nation in der großen Form-Schablone.«238
Damit wendet sich Ende gegen zu eng gefasste Versuche, dieses Werk Lehmbrucks – weil es von den Zeitgenossen abgelehnt wurde – als Antikriegsplastik 239 zu fassen. Zur Körperlichkeit Lehmbrucks bemerkt sie: »Dabei schuf Lehmbruck nicht Gegenbilder oder Gegenentwürfe zu den hegemonialen Geschlechtervorstellungen seiner Zeit, sondern entwarf affirmative und anspielungsreiche Konstruktionen von Geschlecht, in denen er die Kenntnis und Auseinandersetzung sowohl mit dem
232 | Vgl. Klotz 2000, S. 277. 233 | Vgl. Brandt 1928, S. 327. 234 | Riejen, Exotismus 1992, S. 140. 235 | Sauerlandt 1927, S. 4. 236 | Vgl. Brockhaus 2005, S. 110. 237 | Vgl. Ende 2015, S. 239. 238 | Ebd., S. 253.
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»Arbeitende Bilder« kunsthistorischen Kanon als auch mit aktuellen Kunstwerken zur Anschauung bringen konnte. Er gab dabei die Prinzipien des Idealen oder Heroischen nicht auf, wie so oft im Avantgarde-Diskurs über die Vertreter der Moderne postuliert wurde.«240
Folgende Äußerung von Lehmbruck untermauert diese Sichtweise: »Ich glaube, daß wir wieder einer wirklich großen Kunst entgegengehen, und daß wir bald den Ausdruck unserer Zeit finden in einem monumentalen, zeitgemäßen Stil, zeitgemäß muß sie sein, nicht ein Wiederaufgreifen alter Stile, denn niemals hat man in guten Kunstepochen einen Stil aus früheren Jahrhunderten wieder aufgenommen, monumental muß sie sein, heroisch, wie der Geist unserer Zeit. Die Skulptur, wie jede Kunst, ist der höchste Ausdruck der Zeit.«241
Abstraktion »Alleiniges Recht hat die Form.«242
Schon vor der Weimarer Republik wurden Formen nahezu ungegenständlicher Skulptur entwickelt, aber sie bildeten noch eine Ausnahme. Bemerkenswerterweise für die Aufgabe Denkmal243 ist, dass der in München arbeitende Obrist noch vor 1900 ein rein abstraktes Werk mit sich spiralig nach oben windenden, vegetabilen Formen entwarf.244 Für diese Skulptur – Bewegung genannt – konstatiert Ingo Starz ein Oszillieren zwischen Naturform und Abstraktion im Sinne einer sogenannten Ornamentalskulptur,245 weshalb auch Eva Afuhs den Abstraktionsgedanken bei Obrist – wohl zu stark – relativiert:
239 | Vgl. Bornscheuer 2014, S. 131. 240 | Ende 2015, S. 310. 241 | Lehmbruck zit. n.: Trier 1999, S. 29 f. Joseph Beuys bezeichnet das Werk Lehmbrucks als soziale Plastik (vgl. Dufrêne 2009, S. 95). 242 | Kolbe zit. n.: Trier 1999, S. 214. 243 | Selbstredend hat es immer schon abstrakte Formen des Denkmals gegeben. Zumeist waren sie architektonischer Natur, ob nun als Baukomplexe oder als Einzelformen wie Säulen. Auch die Bismarck-Türme gehören dazu. Das Beispiel Obrist würde sich hiervon in dem Sinne abgrenzen, dass es von der Skulptur und nicht in erster Linie von der Architektur her gedacht ist. 244 | Vgl. Hohl 2002, S. 992. Diese Säulen- oder Turmformen griff Rodin für sein Denkmal der Arbeit ebenso wie Johannes Itten für seinen Turm des Feuers oder Wladimir Jewgrafowitsch Tatlins für sein Denkmal für die Dritte Internationale auf. Dementsprechend mag die Zuschreibung von Hohl, das Werk von Obrist sei ebenfalls als Denkmal gedacht, stimmen, sicher ist dies jedoch nicht.
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Abbildung 8: Obrist, Hermann, Bewegung, um 1895
Quelle: Hohl 2002, S. 992
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»Arbeitende Bilder« »Daher ist es problematisch, Skulpturen wie die Urne in Form eines Kapitells oder den Krupp-Brunnen als abstrakt – im Sinne des Abstrahierens von einem Naturgegenstand – oder als gegenstandslos – im Sinne, dass es diese Form in der Natur und ihren Darstellungen so nicht geben könne – zu bezeichnen. Am treffendsten liessen [sic!] Obrist Skulpturen mit dem Adjektiv ›biomorph‹ charakterisieren.«246
Einen hohen Abstraktionsgrad weisen etwa auch Otto Freundlichs Der neue Mensch von 1912 oder Kopf von 1916 auf. Hierin vergleichbar sind eine Reihe von Büsten von der Hand William Wauers,247 der aber bereits während des Kriegs rein abstrakte Werke schuf (beispielsweise Lebendiges Eisen von 1916 oder Mitleid von 1918). Gleichwohl wird in der Kunstgeschichtsschreibung vor allem Rudolf Belling für die beginnende abstrakte Skulptur in Deutschland genannt: »Für die deutsche Plastik läutet der Dreiklang eine Periode eine, in der sie wieder bei der internationalen Avantgarde Anschluß findet«248, so Jean-Pierre van Riejen. Doch auch bei den bekannten Reliefs (1916/17) von Hans Arp Die Grablegung der Vögel und Schmetterlinge und Konfiguration, Porträt von Tristan Tzara oder der Skulptur Das Ich von Oswald Herzog aus dem Jahr 1918 handelt es sich um vollkommen abstrakte Skulpturen. Nach dem Ersten Weltkrieg sollten sich aber weiterhin sehr viele Bildhauer der figurativen Skulptur widmen, so etwa Kolbe249 oder Breker als Vertreter einer klassischen Position in der Nachfolge von Maillol, Hildebrand oder Hans Steger beziehungsweise Kollwitz und Barlach als expressionistische Positionen. Auch die Skulptur des Realismus wie bei Karel Niestrath oder Christoph Voll bekennt sich ausdrücklich zur
245 | Vgl. Starz 2009, S. 151. Ahlers-Hestermann weist noch auf ein weiteres Beispiel von Obrist hin: eine zweckfreie Säule (vgl. Ahlers-Hestermann 1956, S. 109). 246 | Afuhs und Strobl 2009, S. 21. Diese Einwände sind vor dem Hintergrund einer Kunstgeschichte als Innovationsgeschichte verständlich. Somit wird letztlich beispielsweise das Werk von Yves Klein »biomorph«, da er – ebenfalls unter neuen Aspekten der Mythologisierung – den blauen Himmel von Nizza für seine abstrakten blauen Gemälde heranzog. Bei einem um 1900 entstandenen Entwurf für ein Denkmal ist jedenfalls mit »biomorph« weniger ausgesagt als mit abstrakt im Sinne kubischer Formen (vgl. Sembach 2007, S. 93). 247 | Hier kann man ähnliche Formen wie bei Umberto Boccionis Bewegung im Raum finden. 248 | Riejen, Belling 1992, S. 133. 249 | »Die deutsche figurative Plastik der späten zwanziger Jahre wird oft als ein ›Neo-Klassizismus‹ gesehen« (Coelen und Hartog 1992, S. 144). Bayl konstatiert in seiner Arbeit zum nackten Menschen in der Kunst für die moderne Skulptur zu Recht, dass sich hier ihrer Leiblichkeit wegen »[…] die klassizistisch-konventionelle Form hartnäckiger als in der Malerei erhielt […]« (Bayl 1964, S. 58). Das Futuristische Manifest von 1912 wendet sich entschieden gegen die Antike, aber
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menschlichen Figur. Hinterfragt wird hier das allgemeine Menschenbild der Skulptur – das schöne Ideal –, aber auch das zeitgenössische Menschenbild, also der Wert und die Würde des Einzelnen beziehungsweise einzelner Gesellschaftsgruppen. Hierin drückt sich nach Lülf ein »[…] Streben nach einer Erneuerung der alten Einheit von Form und Inhalt [aus]. Damit treten sie in direkten Widerspruch zur Moderne, die im Kampf um die reine plastische Form den Inhalt von der Form losgelöst hatte.«250 In der vom Narrativ der Avantgarde aufgemachten binären Opposition von abstrakt (= fortschrittlich) und figürlich (= reaktionär) kam es zu einer teleologisch angelegten Komplexitätsreduktion, die die Fülle der Positionen ignorierte: »Der Herausgeber der Cahiers [Christian Zervos] behauptete, dass die Bildhauerei sich seit 1900 von der Figur weg entwickelt habe, die deutschen Bildhauer dagegen schienen sich rückwärts zu bewegen.«251 Kolbe sah dies schon damals (im Jahr 1912) differenzierter: »Alleiniges Recht hat die Form. Sie wird zur Sprache ausgebildet, das Leben zu schildern. Ruhig zur Natur gewandt, sucht jeder die formelle Idee seines Objektes zu finden und zu gestalten.«252 Hierin zeigt sich, dass Abstraktion nicht immer nur formal, sondern auch ikonografisch gedacht wurde: Die Darstellung etwa eines Menschen war nicht Inhalt, sondern Form dieser Skulptur beziehungsweise die Form des Menschen war Inhalt dieser Skulptur. Dementsprechend boten ikonografische Inhalte – ob nun Porträts oder abstrakte Begriffe wie Konfiguration – Gelegenheiten für formalistische Kunst. Diese Auffassung erscheint zunächst einmal wie der Rückzug der Kunst aus dem Leben.
auch gegen Michelangelo als Bezugspunkt der modernen Skulptur und fordert einen radikalen Neuanfang: »Nicht durch Wiedergabe der äußeren Aspekte des zeitgenössischen Lebens allein wird die Kunst zum Ausdruck ihrer Zeit. Deshalb ist die Skulptur, so wie sie bis heute von den Künstlern des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts verstanden wurde, ein ungeheuerlicher Anachronismus!« (Futuristisches Manifest zit. n.: Trier 1999, S. 22 f.) Erst durch Ikonografie und Stil kann in diesem Sinne ein Bild der Wirklichkeit gelingen. 250 | Lülf 1993, S. 123. Die figurative Kunst in dieser Zeit, etwa die Neue Sachlichkeit, konnte als historischer Kompromiss gelesen werden, Tradition und Avantgarde gleichermaßen verpflichtet. Brecht sah die Neue Sachlichkeit als reaktionär an, George Grosz als Biedermeier, für Bloch war sie die Tarnung des fortgeschrittenen Kapitalismus, der sich sozialistische Begriffe aneignet, ohne dabei auf die Profitökonomie zu verzichten (verführerische Glätte) (vgl. Metken 1981, S. 106 und S. 114). 251 | Hartog 2004, S. 39. Gemeint war dort Pablo Picasso und hier Kolbe. 252 | Kolbe zit. n.: Trier 1999, S. 214.
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4.1.2 Fallbeispiel: Adolf Simatschek, Bauskulptur Stahlhof, Düsseldorf Es kam darauf an, »[…] einerseits immerfort die historischen vorgänge durchscheinen zu lassen, andererseits die ›verhüllung‹ (die enthüllung ist) mit eigenleben auszustatten […].«253
Direkt nach der Reichsgründung siedelten sich in Düsseldorf verstärkt Banken, Versicherungen und Industrie an. So zum Beispiel die Fabriken von Lueg, Mannesmann oder Henkel, die ihre Interessen etwa im Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, im Deutschen Stahlwerksverband mit Sitz im 1908 fertiggestellten Stahlhof oder im Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen organisatorisch vertraten. Ihr Wachstum sorgte dafür, dass die Stadt zu einer Großstadt wurde.254 Der Düsseldorfer Stahlhof stellt, wie die nachfolgenden Darstellungen zur Bauskulptur im Deutschen Kaiserreich zeigen werden, in Bezug auf eine Ikonografie der Arbeit ein herausragendes Beispiel dar, weil an kaum einem anderen Gebäude das Selbstverständnis der Montanindustrie als Schlüsselindustrie künstlerisch so anspruchsvoll formuliert worden ist. Die rheinischen Städte waren um Repräsentation im Sinne einer Abgrenzung gegenüber dem jungen Staat Preußen bemüht.255 Allein der Name, der in Anlehnung an das Londoner Gebäude gewählt wurde, mag dies verdeutlichen: In goldenen Lettern prangt »STAHLHOF« er über dem Hauptportal. Architektur und Ausstattung formulieren höchsten Anspruch. In der Bauskulptur drückt sich dies durch ein vielfiguriges Programm und originelle Ornamentik mit unterschiedlichen Verweissystemen aus.
Die Bauskulptur im Deutschen Kaiserreich Bei der Aufgabe der Bauskulptur gilt es, Architektur und Skulptur als »schöpferische Auseinandersetzung zweier Künste«256 in den Blick zu nehmen. Zur Bedingung des Verhältnisses von Skulptur und Architektur bemerkt Urs Boeck, beide Gattungen seien körperlich. Somit sei die Möglichkeit einer Verschmelzung beider gegeben.257 Dieses Verhältnis als ein hierarchisches zu betrachten, mithin die Skulptur als der
253 | Brecht 1973, S. 251. 254 | Vgl. Peters et al. 1984, S. 10. Wenger gibt an, dass der Stahlwerksverband sich 1904 dazu entschlossen hatte, dieses Gebäude errichten zu lassen. Die ersten Entwürfe lagen im Herbst 1905 vor (vgl. Wenger 1967, S. 28). Die Bauzeit betrug 27 Monate, von denen acht Monate für den Innenausbau anfielen (vgl. Radke 1908, S. 3). 255 | Vgl. Schmidt 2001, S. 28. 256 | Boeck 1961, S. V.
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Abbildung 9: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Mittelrisalit), 1906-1908
© Jürgen Wiener
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Architektur untergeordnet zu beschreiben, ist sowohl Teil eines Diskurses um Bauskulptur als Dekoration als auch um die Frage nach der Ästhetik des »Tektonischen«: »Die Lehre, daß das Ästhetische in den tektonischen Künsten Dekoration und nur Dekoration sei, ist des öfteren vertreten worden, […] Wenn Dekoration oder Schmuckform ein Teilgebilde sein soll, das selbst keinerlei konstruktive Funktion hat und darum aus dem Ganzen des tektonischen Werks herausgelöst werden kann, ohne daß dadurch die Zweckerfüllung des Ganzen leidet, so wird bei der oberflächlichsten Durchmusterung zweckgebundener Gebilde sehr bald klar, daß die Gleichungen ›alles Ästhetische ist Dekoration‹, ›alles Konstruktive ist außerästhetisch‹ unmöglich richtig sein können.«258
Da Walther Schmied-Kowarzik von einer Verbindung von Kern (= Architektur/ tektonisches Gerüst) und Schale (= Fassade/Bauskulptur) ausgeht, »[…] ist die abstrakt-technische Zweckforderung in der Spielform miterfüllt. Spiel und Zweck sind in unauflöslicher Einheit ineinander gegeben.«259 Die Funktion der Bauskulptur erläutert Inge Zacher folgendermaßen: »Bauskulpturen haben eine doppelte Aufgabe: sie dienen der Gestaltung der Bauwerke und heben ihre einzelnen Bauteile, vor allem die Fassaden, hervor. […] Neben der gestalterischen Aufgabe steht die programmatische: Bauskulpturen geben einen Hinweis auf die Erbauer und Besitzer des Gebäudes und auf die Zwecke, denen es dient.«260
Für die Bildhauer im Kaiserreich war diese Aufgabe eine wichtige Erwerbsquelle, 261 denn zwischen 1850 und 1900 ist nicht nur ein gewaltiges Bauvolumen bewältigt worden,262 sondern es entstanden zahlreiche öffentliche und private Gebäude, deren Repräsentationsanspruch sich in Größe, Material und Bauschmuck ausdrückte. Die Berliner Oberbaudeputation im Königreich Preußen hatte mit Karl Friedrich Schinkel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Behördenvorsteher, der Architektur und Skulptur als künstlerische Einheit begriff und auf die Qualität der Bauskulptur achtete. Später wurde diese als der Architektur untergeordnet angese-
257 | Vgl. ebd., S. VII. Boeck sieht dennoch die unterschiedlichen Aufgaben und bezeichnet die Bauskulptur als einen Träger einer idealen Wirklichkeit (vgl. Boeck 1961, S. VII). Das scheint gerade im Hinblick auf die ideologische Frage nach dem Stil von Architektur verfehlt. 258 | Schmied-Kowarzik 1925, S. 72 f. 259 | Ebd., S. 74 f. 260 | Zacher 1980, S. 349. 261 | Vgl. Feist 1987, S. 324. Zu nennen ist hier beispielsweise Geyer, in dessen Schaffen die Bauskulptur den größten Stellenwert hatte (vgl. Hüfler, Geyer 1984, S. 123). 262 | Vgl. Klotz 2000, S. 184.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
hen. Die Bildhauer und Themen wurden von den Bauträgern bestimmt, während die künstlerisch-formale Ausführung meist durch die Architekten festgelegt wurde. Die Bildhauer stellten zumeist nur die Modelle für die Bauskulpturen her, um die Kosten zu reduzieren.263 Für Häuserfronten konnten auch seriell gefertigte Dekorelemente erworben werden.264 Staatliche und private Auftraggeber gleichermaßen ließen ihre Gebäude mit plastischem Schmuck ornamentaler und/oder figürlicher Art ausstatten. Zacher konstatiert, bei vielen Beispielen der Bauskulptur staatlicher Gebäude sei die künstlerische Qualität hinter der Repräsentation einer politischen Aussage zurückgeblieben. In erster Linie sei die Staatshoheit durch Symbole wie Wappen, Adler, Genien etc. betont worden.265 »Ferner werden die wichtigsten Bereiche des öffentlichen Lebens, wie Recht, Religion, Industrie, Gewerbe, Handel, Wissenschaft und Kunst, dargestellt. Der Staat propagiert sich als ihr Hüter, Förderer und Mäzen. Diese Themen werden in der künstlerischen Form der Allegorie vorgetragen.«266
Zacher sieht hierin eine wirklichkeitsferne Bildsprache, die sich vom Alltag abheben möchte und so staatserhaltende, vor Kritik und Veränderungswillen schützende Werte generiert.267 Die »wirklichkeitsferne Bildsprache« wird deutlich, wenn man sich Beispiele aus dem Bereich der sogenannten Bauten der Arbeit anschaut: Bei der Sektkellerei Henkel in Wiesbaden findet man etwa ein Tympanon mit Putten, am Hamburger Gewerbehaus von Fritz Schumacher sind es nackte Standfiguren.268 Auch Bauten wie das der Knappschaft in Bochum von 1910 haben keine respektive keine sofort und direkt dekodierbaren ikonografischen Verweise auf ihre Funktion beziehungsweise den Inhaber. Dennoch gibt es, wie auch für die anderen Aufgabenfelder der Skulptur, Beispiele für eine Ikonografie der Arbeit, sowohl an staatlichen als auch an privaten Gebäuden.269 Diese konnten zum einen in narrativen Reliefs und zum anderen in rundplastischen Skulpturen (in Nischen oder auf Sockeln) gestaltet werden. Johann Gottfried Schadow schuf einen Relieffries für die Alte Münze in Berlin, der den Produktionsprozess vom Heranbringen des Metalls bis zur Verarbeitung
263 | Vgl. Zacher 1980, S. 349 f. 264 | Vgl. Klotz 2000, S. 192. 265 | Vgl. Zacher 1980, S. 380. 266 | Ebd. 267 | Vgl. ebd. 268 | Bauten der Arbeit und des Verkehrs aus deutscher Gegenwart 1913. 269 | Feist nennt hier als Beispiele der Verarbeitung des Themas Arbeit in der Bauskulptur Gebäude wie Gewerbemuseen, Technische Hochschulen, Postämter, Handwerkskammern, Börsen, Rathäuser, Banken und Geschäftshäuser (vgl. Feist 1987, S. 335).
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Abbildung 10: Reimer, Konrad/Körte, Friedrich (Architekten), Tordurchfahrt Borsigwerke, Berlin, 1898
© Martin Lange
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Abbildung 11: Reimer, Konrad/Körte, Friedrich (Architekten), Borsighaus, Berlin, 1899
© Gertrud K.
zeigt. Die Berliner Börse wurde über dem Eingang mit einer Hauptfigur in Gestalt der Borussia, die ihre Hände schützend über Handel und Industrie ausbreitend, geschmückt.270 Auch die Frankfurter Börse wurde mit Allegorien von Handel und Industrie, des Friedens und des Krieges sowie mit Kindergruppen ausgestattet.271 Ein weiteres Beispiel für narrative Reliefs272 stellt der Terrakottafries am sogenannten Roten Rathaus in Berlin dar. Hierbei handelt es sich um 36 Reliefs, die die Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg von den Anfängen bis zur Reichsgründung bebildern. Es befinden sich darunter auch Arbeiterfiguren wie Bauern (Sinnbild der Urbarmachung der Mark), Zimmerer und Maurer (Sinnbild der Gründung der Stadt) oder Händler und Transportarbeiter, die ein Schiff mit Sackkarre und Flaschenzug
270 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 337. 271 | Vgl. ebd., S. 339. 272 | Figurenfriese findet man auch am ehemaligen Kunstgewerbemuseum in Berlin, wo Namenschilder haltende Putten, aber auch Glasbläser dargestellt werden.
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Abbildung 12: Kaffsack, Joseph, Telegraphie (Holzschnitt), 1882
© Martin Geisler
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entladen (Sinnbilder der Handelsstadt Berlin). Daneben werden politische Figuren sowie Wissenschaftler und Künstler gezeigt. Berlin präsentiert sich hier somit nicht nur über für die Stadt bedeutende Männer, sondern auch über den für den Aufstieg und Wohlstand verantwortlichen Bereich der Arbeit. Dies wird bei den Nischenfiguren des Rathausturmes fortgeführt. Es handelt sich bei ihnen um vier Personifikationen: die Fischerei von Adolf Brütt, die Schifffahrt von Ernst Herter, der Handel von Peter Breuer und der Ackerbau von Otto Geyer.273 Die Berliner Firma Borsig, Hersteller vor allem von Dampflokomotiven, verweist an ihrem Fabriktor274 auf die für ihre Produktivität ›verantwortlichen‹ Figuren: Links und rechts des Eingangs wurde jeweils auf einem Sockel die Figur eines Schmiedes vor einem rundbogigen Blendfenster postiert. Die Schmiede275 sind jedoch keine des 19. Jahrhunderts, wodurch eine lange Tradition evoziert werden soll, die jedoch faktisch – das Unternehmen gründete sich 1836276 – nicht gegeben ist. Die Selbstdarstellung der Bergwerksdirektion in Saarbrücken erfolgt maßgeblich über sechs Statuen sowie vier Medaillons, die die Geschichte des Bergbaus dieser Region über Personen bebildern. Aus französischem Muschelkalk gefertigt, wurden die Figuren (Kohlenhauer, Geisteinshauer, Steiger, Bergmann, Hüttenarbeiter und Bergwerksdirektor) auf Konsolen an der Fassade platziert.277 Die Medaillons zeigen Porträts von Männern, die sich in Preußen und im Saarland um den Bergbau verdient gemacht haben. Sie verkörpern Fleiß, Disziplin und Pflichtbewusstsein.278 Neben solchen ganzfigurigen Darstellungen konnten Skulpturen auch in Form von Konsolfiguren oder Atlanten beziehungsweise Karyatiden auftreten. Hier sind beispielsweise die Figuren am Elberfelder Rathaus (ein hockender Schmied mit der Konsolplatte auf seinen Schultern) oder an der Maschinenbauschule in Essen (halbfigurige nackte Muskelmänner, die als Kapitelle gelesen werden können) zu nennen.
273 | Vgl. Bloch 1978, S. 301. 274 | Drepper und Becker sehen das Werktor als Architektur der Grenze (vgl. Drepper und Becker 1991). Dieses Tor mit seiner formalen Anlehnung an Triumphtore markiert nicht nur die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit – besser Nicht-Arbeit, denn Freizeit war zu dieser Zeit kaum der passende Ausdruck, sondern es ist auch symbolischer Ausdruck der Grenze zwischen Arbeitern und Industriellen und hat demzufolge eine didaktische oder disziplinarische Funktion: An diesem Ort wird den Arbeitern vor Beginn der Arbeit das zu erfüllende Ideal vor Augen geführt. Auch so muss man den Historismus dieser Schmiede lesen, als einen Verweis auf alte Handwerkertugenden. 275 | Auch am Borsighaus in der Berliner Chausseestraße wurde eine Baldachinfigur mit einem Schmied angebracht. Sie zeigt jedoch nicht das altertümliche Bild eines Schmiedes. 276 | Vgl. Vorsteher 1981, S. 92. 277 | Vgl. Schmitt 2003, S. 33 ff. 278 | Vgl. ebd., S. 43 f.
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Als ein für das Kaiserreich im Rheinland tätiger typischer und wichtiger Vertreter historistischer Bildhauerei kann Wilhelm Albermann gelten. Er schuf neben Denkmälern, Grabmälern, sakralen und auftragsfreien Bildwerken auch zahlreiche Bauskulpturen für öffentliche Gebäude (Postämter, Kirchen, Ratstürme, Krankenhäuser, Museen etc.) und private Geschäfts- und Wohnhäuser.279 Für das Hauptpostamt in Hannover schufen er und andere Bildhauer zahlreiche Allegorien und Personifikationen, darunter befindet sich seine die Architektur bekrönende Gruppe der Weltpost von sechs Metern Höhe. Sie besteht aus einer Weltkugel, auf der die geflügelte weibliche Figur der Weltpost mit Briefen in der Hand nebst zwei Genien mit Telegrafenmast, Blitz, Fackel und Eisenbahnrad stehen. Die Personifikationen der Post und der Telegrafie waren als weibliche Gestalten am Eingang postiert.280 Auch für das Postamt in Köln schuf er die Personifikationen der Telegrafie und der Post.281 Zum mittelalterlichen Ratsturm in Köln, an dessen Wiederherstellung ab 1862 gearbeitet wurde, 282 trug Albermann die Figur der Schmiedezunft mit den Attributen Amboss, Schmiedehammer, Blasebalg und Schraubstock bei. (Sie ist heute als Nikolaus von Verdun an der Westseite angebracht.) Für die Zünfte der Metzger und der Händler wurde ebenfalls jeweils eine Figur erschaffen. Diese Figuren standen neben den für Köln wichtigen Personen wie Heiligen, Gelehrten oder Patriziern.283 Wie auch am Roten Rathaus in Berlin präsentierte sich hier die Stadt über die für sie produktiven Bürger, zu denen auch namenlose Vertreter der Arbeit zählten. Für das Bankhaus Schaafhausen in Köln schuf Albermann sitzende Allegorien des Friedens und der Arbeit, die nicht mehr erhalten sind.284 An Wohnhäusern – so am Haus Langen in Köln – fand neben den Personifikationen der Wohltätigkeit, Gastfreundschaft und
279 | Vgl. Schmidt 2001, S. 35-81. Wie unterschiedlich die Ikonografien für diese Aufgabe sind, sollen zwei Beispiele von Albermann belegen: Für das katholische Pfarrhaus St. Peter in Köln schuf er einen Guten Hirten und für das Wohnhaus Meuser ein Bild des Ehepaars sowie eines von Johann Wolfgang von Goethe, Franz Liszt, Richard Wagner und Schiller als Medaillons. Im letzten Beispiel wird deutlich, dass sich Privatleute gerne auch als Kulturbürger repräsentierten – sozusagen im ›Kreise ihrer Liebsten‹ – und sich nicht (nur) über das definierten, womit sie ihren sozialen Status – im Sinne ihres Berufes – erarbeitet hatten (vgl. ebd., S. 54 f.). 280 | Vgl. ebd., S. 52. Ähnlich repräsentativ präsentierte sich auch das Postamt in Leipzig mit den Personifikationen Post, Telegrafie und Gewerbe von Joseph Kaffsack (vgl. Feist, 1987, S. 325). 281 | Vgl. Schmidt 2001, S. 64. 282 | Zacher weist in diesem Zusammenhang auf den sogenannten Kostümhistorismus hin, der am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch präsent war beziehungsweise mit dem sich die Bildhauer auseinanderzusetzen hatten (vgl. Zacher, 1980, S. 360 f.). 283 | Vgl. Schmidt 2001, S. 70-73.
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Abbildung 13: Süßenguth, Georg/Reinhardt, Heinrich (Architekten), Figur am Rathaus Elberfeld, 1895-1900
© Martin Lange
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Erholung auch eine der Arbeit 285 (so zusagen ein Bildprogramm des Privaten) ihren Platz. Für das Düsseldorfer Ständehaus schufen Mohr und Albermann unter anderem zwei sitzende weibliche Personifikationen der Wissenschaft und der Arbeit, über die ein Genius Lorbeerkränze hielt.286 Des Weiteren entstanden für das Ständehaus vier Puttenreliefs, bei denen je vier Putten Szenen aus Ackerbau, Viehzucht und Weinkultur, aus Kunst und Wissenschaft, aus Handel und Verkehr sowie aus Kohlebergbau und Schwerindustrie spielen.287 Werner Schmidt sieht in der Darstellung ›arbeitender Putten‹288 keinen Widerspruch zu dem mit diesen Gebäuden verknüpften Repräsentationsanspruch: »Der Kritik Inge Zachers, daß solche Darstellungen der wirtschaftlichen Bedeutung und den geistigen Leistungen des Rheinlands nicht gerecht würden, kann nur eingeschränkt zugestimmt werden. Seit der Antike werden Kinder stellvertretend für die Menschheit dargestellt. Hier ging es nicht um gründerzeitliche Wirklichkeit, sondern um architektonische Ordnung als ideeller Spiegel einer Weltordnung.«289
284 | Sie weisen nach Schmidt ähnliche Haltungen wie die Genien der Grabmäler Trimborns auf dem Kölner Melatenfriedhof und Wendelstadts auf dem Burgfriedhof in Bad Godesberg auf. Deshalb nimmt er diese Zuschreibung vor (vgl. Schmidt 2001, S. 39). 285 | Vgl. Bloch 1975, S. 44. Das Wohnhaus Schlink in Wiesbaden wurde an seiner Fassade ebenfalls mit vier Personifikationen ausgestattet, darunter zwei Varianten der Wissenschaft sowie je einer für Handel und Industrie. Zur Figur der Industrie bemerkt Meurer: »Nur sie präsentiert in Form des Zahnrads unmittelbar ins Auge springend ein Attribut der modernen Zeit, wogegen die Geste und Attribute ihrer Nachbarinnen zu konventionellen, historisch überlieferten Ikonographie gehören. Nur an Industria offenbart sich in deutlicher Weise der die kulturellen Grenzen zweier Jahrtausende und zweier Völker negierende Eklektizismus, der es ermöglicht, Motiv, Stil und die überkommene Kunstform der Allegorie aus der griechischen Klassik zu entlehnen und mit einem trivialen Attribut des modernen technisch-industriellen Alltags zu kombinieren. Der graecisierende Stil führt die Willkürlichkeit dieser Verbindung besonders deutlich vor Augen. Zugleich entrückt er die gegenwärtige Industrie in die unantastbare Sphäre einer Jahrtausende alten, als kulturelles Vor- und Leitbild anerkannten Kultur.« (Meurer 2014, S. 40 f.) 286 | Vgl. Schmidt 2001, S. 42. 287 | Vgl. ebd., S. 44. 288 | Arbeitende Putten waren sehr beliebt, so etwa beim Haupttelegrafenamt in Berlin, wo sie Kabel verlegen oder telefonieren (vgl. Feist, 1987, S. 325). Die Keksfabrik der Firma Bahlsen von Siebrecht wurde mit einem bunten Fries aus Steingut geschmückt, auf dem Kinder zahlreiche Formen der Arbeit präsentieren. Auch am Bank- und Wohnhaus am Düsseldorfer Schadowplatz kommen sie vor. Dies galt auch außerhalb von Deutschland, wie das Beispiel der Brüsseler Börse
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 14: Stumpff, Carl (nach Entwürfen von Paul Kieschke und Otto Schmalz, Modelle von Josef Körschgen), Giebelrelief Regierungsgebäude Düsseldorf, 1907-11
Quelle: Zacher 1980, S. 377
Am Regierungsgebäude in Düsseldorf290 ist im Giebelfeld eine Allegorie der Arbeit dargestellt: Eine weibliche Personifikation des Ackerbaus mit Ährenbündel, Sense und Fruchtkorb und eine männliche Personifikation der Industrie291 mit Hammer und Zahnrad – eine Mischung aus Vulkan und Herkules – stehen links und rechts neben einer Kartusche mit der Inschrift: »ERBAUT UNTER WILHELM II 1907-1911«. Sie werden begleitet von einer knabenhaften Merkurfigur292 und einer weiteren Knabenfigur mit einem Zettel. Überfangen wird die Szenerie von zwei, die Kaiserkrone
zeigt. Putten konnten auch als Karikaturen renommierter Personen auftreten, wie Zacher an einem Beispiel in Düsseldorf anführt (vgl. Zacher 1980, S. 379). 289 | Schmidt 2001, S. 44. Zur gleichsam ontologischen ikonografischen Flexibilität von Putten vgl. grundlegend Messerer 1962; in diesem Sinn auch Körner 2007. 290 | Vgl. Zacher 1980, S. 375. 291 | Hierin zeigt sich einmal mehr die Beliebigkeit solcher allegorischen Figuren: Vom Wortstamm her müsste die Industrie weiblich sein, würde man dasselbe Schema wie bei den Per-
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tragenden Putten, wodurch der apotheotische Anspruch des Ganzen zum Ausdruck kommt. Thomas Großbölting sagt zu solchen Formen der Allegorien: »Die Mythisierung der Arbeit fand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren visuellen Ausdruck vor allem in dem Bild eines hammerschwingenden kräftigen Mannes, der in Ausstellungsplakaten, Erinnerungsurkunden und anderen offiziellen Dokumenten und Darstellungen der Industrie- und Gewerbeausstellungen Verwendung fand: Meist stand das Motiv des Schmieds – und damit des Handwerkers, dem zugeschrieben wurde, mit ›Herz und Hand‹ zu arbeiten, damit sein Werk gelang – in Verbindung mit bäuerlichen oder handwerklichen Werkzeugen wie Sichel, Rechen, Sense oder Ähren.«293
Wie ikonografisch und gestalterisch komplex (auch im Sinne der von Großbölting zuvor beschriebenen Mythisierung der Arbeit) die Ausstattung an Gebäuden mit einem etwas niedrigeren Anspruchsniveau ausfallen konnte, demonstriert Jürgen Wiener am Beispiel des Bank- und Wohngebäudes am Düsseldorfer Schadowplatz 14. Dort wurde das bildnerische Programm von Soll und Haben verfolgt, dargestellt durch Ornamentformen, Reliefs und plastische Figuren – darunter Merkur und Minerva –, die über die ganze Fassade verteilt wurden: »Merkur ist das ikonographische Medium der Hauptaussage, die zwischen Handel, Industrie und Kapital einen Bedingungszusammenhang konstruiert. Die Produktion und Handel antreibende wie von ihnen profitierende pekuniäre Potenz der Institution soll diese als vertrauenswürdig ausweisen, als Garant für eine sichere, auf eine erfolgreiche expansive Wirtschaft gegründete Zukunft, die der Staat wiederum politisch und militärisch unterstützt.«294
Forschungsstand Die Forschungssituation zum Düsseldorfer Stahlhof und insbesondere zur Bauskulptur weist erhebliche Lücken auf, die an dieser Stelle nicht vollständig geschlos-
sonifikationen für Städte oder Flüsse anwenden. Aber es mag dem damaligen ›Erfinder‹ dieser Figur sinnfälliger gewesen sein, diesen Arbeitsbereich mit einer männlichen Figur zu besetzen, da dies – scheinbar – mehr der Realität entsprach. Es ist aber wohl vor allem künstlerischer Ausdruck eines Interesses dieser Zeit an männlichen Muskelkörpern, das keineswegs losgelöst von einem Diskurs um Körper und Geschlechterkonstruktion gesehen werden darf. 292 | Wiener bemerkt, Merkur sei als Gott des Handels und als Überbringer von Reichtum eine der häufigsten Figuren von Industrie- und Technikallegorien gewesen (vgl. Wiener, Haus 2014, S. 43). 293 | Großbölting 2008, S. 334 f. 294 | Wiener 2014, S. 42 f.
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sen werden können. Wichtige Hinweise liefern ein Sonderdruck zum Stahlhof mit einem dreiseitigen Text des Architekten Johannes Radke sowie die Dissertation zu Düsseldorfer Bauten des Gewerbes und der Wirtschaft von Fritz Hans Wenger. Wenger macht bereits auf die mangelhafte Quellenlage aufmerksam, die unter anderem aus dem Verlust von Akten während der Nutzung des Gebäudes durch die englischen Besatzungstruppen resultiert. Für ihn stellt besagte Schrift von Radke eine der wichtigsten Quellen dar.295 Wenger geht unter Bezugnahme auf diese Schrift allein mit zwei Sätzen auf die nicht-architektonische Bauskulptur ein: »Im Giebeldreieck des Mittelrisalits entstehen durch die schlaffe Kurvung und die Fensterteilung unklare Flächen, die mit plastischem Schmuck ausgefüllt sind. Die Ornamentik zeigt organische Formen (Jugendstil): Obelisken Stalagmit-ähnlich, und frei abgewandelte Motive aus dem Stahlgewerbe (Zahnrad), Bandstrukturen aus Gliederketten.«296
Dieser dürftige Befund mag dem architektonischen Schwerpunkt der Forschungsarbeit geschuldet sein, vielleicht aber auch dem Umstand, dass der Bauskulptur insgesamt – zumal der des Historismus und der des Übergangs vom Historismus zur Moderne – wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Einmal mehr trifft Maaz’ Einschätzung zu: »Obgleich die Bauplastik zu den omnipräsenten Resten der deutschen Skulptur des 19. Jahrhunderts gehörte, ist sie am schlechtesten bearbeitet […].«297 In diesem konkreten Fall trägt aber sicherlich die dürftige Quellenlage dazu bei. Die Schrift von Radke benennt auf ihren wenigen Seiten zahlreiche Details: Kosten, Bauzeit, Baumaßen, Grundstücksgröße, Verkleidung von Räumen bis zu einer Höhe von 3,70 Metern; technische Ausstattung wie Telefon, Uhrennetz, Müllschächte, Abluftsystem etc.; Innenausstattung wie Böden (Linoleum, Stabfußboden, Terrazzofußboden etc.), Möbel, Reliefs der Türen, Stuckdecken, die Felder der Tonne über der Erdgeschosstreppe mit einer Henne, die ihre Küken unter die Flügel nimmt (für Radke das Sinnbild für das Verhältnis des Stahlwerkverbandes zu seinen Mitgliedern) und zwei in heftigem Kampf miteinander befindliche Hähne (Sinnbild für die gegensätzlichen Interessen innerhalb des Verbands), zwei Bronzereliefs an der Haupttür mit den Titeln Wägen und Wagen etc. Zur äußeren Gestaltung verliert Radke nur einen Satz: »Besonders sei noch des Bildhauers A. Simatschek gedacht, der alle Modelle zu den plastischen künstlerischen Arbeiten des Äusseren und Inneren fertigte.«298 Es folgt auf 20 Seiten ein Bildteil mit großen, jeweils circa eine Seite ausfüllenden Fotografien, von denen sechs Seiten die Bauskulptur dokumentieren. Die Bildunterschriften machen lediglich Angaben zum
295 | Vgl. Wenger 1967, S. 22. 296 | Ebd., S. 27 f. 297 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 266.
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Ort (beispielsweise Nebeneingang oder großer Giebel).299 Auch bei Radke kann man diesen Umstand der fast völligen Ignoranz der Bauskulptur nur schwer deuten. In jedem Fall offenbart sich hier jedoch das geringe Interesse an dieser Gattung, das vermutlich aus einer Herabwürdigung der Skulptur resultiert, die schon von Zeitgenossen – wie bereits an anderer Stelle dieser Arbeit dargestellt – an den Tag gelegt wurde. Zum Bildhauer Adolf Johann Simatschek, der nicht zu denjenigen gehörte, die einen großen nationalen Auftrag ausführen durfte, ist aufgrund dessen so gut wie nichts bekannt. Jörg Gamer erwähnt 1972 für den in Wien geborenen und dort an der Kunstakademie ausgebildeten Bildhauer300 den Entwurf eines Schiller-Denkmals für den Prater in Wien aus dem Jahr 1905.301 Die Aufstellung der Quellen zum Stahlhof im Stadtarchiv Düsseldorf, die unter anderem die Dissertation von Wenger beinhaltet, enthielt zur Bauskulptur keine nennenswerten Informationen. Es finden sich einzig folgende Hinweise: Simatschek (Simaczek) wird am 16. Februar 1874 in Wien geboren und als akademischer Bildhauer geführt. Gemeldet ist er von 1900 bis 1915 in Düsseldorf, ab 1916 in Oberhausen.302 Heinrich Frauberger verweist in seinem Artikel von 1908 zum Düsseldorfer Kunsthandwerk lediglich durch ein Foto samt Unterschrift auf Figuren für den Eingang zu der ebenfalls von Radke entworfenen Kapelle des Düsseldorfer Südfriedhofes.303 Laut Sylvina Zander ist Simatschek der Bildhauer des Bonner Grabes der Familien Dernen und Wittgenstein von 1912.304 Dieselben Angaben macht Ulrike Meyer-Woeller.305 Für die Villa Bestgen in Köln schuf Simatschek von 1901 bis 1903 zwei allegorische Bauskulpturen.306 Während seine Arbeiten für die Friedhöfe stilistische Anleihen an den Stahlhof zeigen, kann man dies für die Bauskulptur der Kölner Villa nicht sagen, da hier (noch?) der ›monumentale‹ Zug fehlt. Über solche stilistischen Vergleiche sowie nicht belegbaren Überlegungen zur Ikonografie wird im Folgenden eine Annäherung an die Bauskulptur des Stahlhofs unternommen.
298 | Radke 1908, S. 3. 299 | Vgl. ebd., S. 10-15. 300 | Adolf Simatschek wird als Bildhauer geführt, der 1898 den Hof-Preis 1. Klasse für eine Arbeit mit dem Titel Heimkehr gewonnen hat (vgl. Professorenkollegium 1917, S. 246). 301 | Vgl. Gamer 1972, S. 158. Bei Gamer erscheint der Bildhauer unter dem Namen Adolf von Simatschek. Die Verleihung des Adelstitels, so sie denn stattgefunden hat, ist Ausdruck von offiziell gewürdigter Bedeutung. 302 | Das Dokument wurde auf Nachfrage vom Stadtarchiv Düsseldorf zur Verfügung gestellt. 303 | Vgl. Frauberger 1908, S. 193. 304 | Vgl. Zander 2009, S. 88 f. 305 | Vgl. Meyer-Woeller 1999, S. 131 f.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Architektur und Repräsentation »Wie ein Gebäude auszusehen hatte, war nicht allein eine Frage von Stil und Geschmack, sondern von Kommunikation. Es sollte leicht lesbare Werbesignale aussenden, die auf der Ebene des Materials, des Bautypus und der Bauornamentik eine Funktion angemessen mitteilen.«307
Diesem konstatierten Höhepunkt vermeintlicher Oberflächlichkeit, die viele Jahrzehnte später in der Architektur der Postmoderne wieder salonfähig wurde, wenn auch oft nur in ironischer Brechung, gehen Theorien zu einer vor allem in Fassaden präsenten Äußerlichkeit von Architektur bei Semper und Friedrich Theodor Vischer voraus. »Das scheinbar Sekundäre, die Oberfläche, ist das Primäre«308 , so Semper. Der Begriff der Hülle beziehungsweise des Kleides spielt dabei eine wichtige Rolle. 309 Auch Vischer bediente sich noch der Kleidermetaphorik, um Architektur zu beschreiben: »Ein Gebäude sei, so führt er aus, nicht einfach ein ›abstracte[r] Leib‹ zu einer ›geliehenen Seele‹, sondern ›richtiger das bloße, auf den wahren Leib jener Seele vorbereitende, hinüberdeutende Kleid‹.«310 Das Kleid der Architektur war vor allem die ornamentale Bauskulptur: »Das Ornament ist für Vischer jener Teil eines Gebäudes, der ›keine structive Function‹ übernimmt und als ›reiner Schein der Oberfläche […] dem nackten Körper des Baues übergeworfen wird‹. […] Erst die dekorativen Formen machen Bauwerke zu Kunstwerken. Die Dekoration ist das ›Schwungbrett‹, auf dem sich die Kunst zum ›beseelten organischen Leben‹ aufschwingt.«311
In diesem Wissen um eine Architektur der Oberfläche präsentierte sich auch der Deutsche Stahlwerksverband in Düsseldorf. Als Auftraggeber verlangte er nach spezifischen künstlerischen Ausdrucksformen von Repräsentation. Damit schloss er an eine ganz allgemeine Entwicklung bürgerlicher Aneignung von Kunst an: »Die neue Schicht des Besitz- und Industriebürgertums wandte sich […] den Künsten zu. Oft als Ersatz für mangelnde Bildung (im Gegensatz zum Bildungsbürgertum), zur Demonstration künstlerischen Geschmacks und zur ästhetischen Darstellung vermeintlicher Ideale (Treue zur Firma, Wohlstand für Alle, Segen der Arbeit u. a.) […].«312
306 | Vgl. http://www.koelnarchitektur.de/pages/de/home/news_archiv/2283.htm vom 04.04.2018. 307 | Wiener, Haus 2014, S. 39. 308 | Semper zit. n.: Arburg 2008, S. 264. 309 | Vgl. Arburg 2008, S. 264. 310 | Ebd., S. 374. 311 | Ebd., S. 376.
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Die Architektur des Stahlhofs Die architektonische und bauplastische Gestaltung des Stahlhofs ist eindrücklicher Ausdruck dieses Geltungsbewusstseins.313 Der Stahlhof ist ein einheitliches Gebilde beider Gattungen, sodass sowohl die Diskurse um Architektur als auch um Skulptur zu betrachten sind. In einem Artikel des Düsseldorfer Generalanzeigers von 1905 heißt es zu den vorgelegten Entwürfen für den Stahlhof: »Zu den monumentalen Bauten […] wird sich demnächst auch das Geschäftshaus des Stahlwerkverbandes gesellen. Es wird das größte Gebäude Düsseldorfs werden und das umfangreichste Bauwerk auch auf absehbare Zeit bleiben. […] Einen ausgesprochen historischen Stil schließt sich die Architektur nicht an. Vielleicht hat sie Anklänge an die Gotik, […]. Die volle monumentale Architektur kann nur durch die Verwendung monumentalen Materials erreicht werden.«314
Mit seinem Entstehungszeitpunkt (1906-1908) liegt der Stahlhof architekturhistorisch in der Zeit zwischen Späthistorismus, Jugendstil und Werkbundmoderne. Der Baukörper weist aufgrund seiner starken Durchfensterung, der damit einhergehenden Auflösung der Wandflächen sowie seiner betonten Vertikalgliederung durch Lisenen und Fensterformen durchaus Gestaltprinzipien der Gotik auf, ohne jedoch als historistische Adaption dieses Stils zu gelten.315 Diese Anleihen fanden bereits in dem kurz zuvor fertiggestellten Berliner Kaufhaus Wertheim316 von Alfred Messel Verwendung.317 Die strukturelle Gliederung der Bauteile weist Ähnlichkeiten mit dem Bautypus Schloss – mehrflügelige Anlage mit Innenhof, übergiebelter Eingangsbereich als eigener Baukörper, Belvedere – oder Rathaus318 auf. Auch dies kann als ein typisches Phänomen des Historismus gesehen werden beziehungsweise als Ausdruck einer soziologischen Entwicklung, die unter dem Begriff der ›Talmi-Aristokratenkunst‹319 gefasst wird, mit dem man die Übernahme aristokratischer Gattungen und Formen durch das Bürgertum bezeichnet.320
312 | Jochum-Bohrmann 1990, S. 179. 313 | Als weiteres Beispiel ist das Werk des Industriebrunnens in Düsseldorf zu nennen. 314 | Düsseldorfer Generalanzeiger zit. n.: Wenger 1967, S. 23. 315 | Das historistische Verhältnis von Vorbild und Nachbild ist nicht als eines von Original und Kopie zu lesen: »Historismus definierte sich nicht über Plagiate einer Gesamterscheinung, sondern über das formale Einzelrepertoire der Ordnungsornamente für Fenster, Türen und Gliederung. Solch atomisierendes Verständnis machte es möglich, Ornamente flexibel an Aufgaben zu applizieren, für die sie nicht entwickelt worden waren.« (Wiener, Haus 2014, S. 40) 316 | Dieses Kaufhaus wurde mit verschiedenen Darstellungen zum Thema Arbeit ausgestattet. 317 | Vergleichbar ist durchaus, auch was die vertikalen Strukturelemente durch Fenster betrifft, das 1906 entworfene Düsseldorfer Warenhaus Tietz von Olbrich.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 15: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Hauptfassade), 1906-08
© Jürgen Wiener
Die Frage nach dem Historismus in der Architektur wird auch über die Frage der Funktionalität verhandelt. Radke gibt in seiner Schrift deshalb ausführlich Auskunft über alle möglichen Aspekte von Funktionalität – von der logischen Raumaufteilung des Gebäudes in verschiedene Bürotypen beziehungsweise Nutzräume (Toiletten, Pförtnerzimmer, Speiseräume etc.) bis hin zu technischen Aspekten (etwa die Klimatisierung).321 Ebenso betont Radke die funktionalen Aspekte der verwendeten Materialien, wenn er etwa darauf hinweist, das Gebäude bestehe durchweg aus feuersicheren
318 | Heimeshoff spricht sich für eine Orientierung am Rathausbau aus (vgl. Heimeshoff 1984, S. 217). 319 | Als Gegenbegriff wird dem die ›Ehrlichkeit der Materialgerechtigkeit‹ entgegengehalten (vgl. Bandmann 1971, S. 152). 320 | Bandmann 1971, 152 f. Nicht nur Verwaltungsgebäude konnten Anleihen an Schlossbauten haben, auch Fabriken wurden nach diesem Bautypus errichtet, wie Klotz am Beispiel der Schü-
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Abbildung 16: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Seitenfassade), 1906-08
© Jürgen Wiener
Materialien oder es sei bewusst eine Ummantelung der Eisenträger mit Drahtputz vorgenommen worden, um Risse in den Betondecken zu vermeiden.322 Funktionalität bedeutet in dieser Zeit aber nicht nur, wie ein Gebäude alltagstauglich gestaltet werden soll, sondern vielmehr, was sich für weitere Interessen mit einer (freien) Wahl der Stile verbindet.323 Die Frage des Stils wurde auch von politischer Seite gestellt.324 Der Baustil wird damit zu einer politischen Aussage.325 Nach 1900 mehrten sich die Diskussionen um das Nationale eines Stils: Stilanleihen der französischen Erzfeinde galt es zu verschleiern. Stattdessen sollte das Deutsche eines Baus betont werden. Auch das Regionale eines Stils wurde durch die Verfechtung einer Heimatschutzarchitektur immer stär-
leschen Kattunfabrik in Augsburg zeigt, die bereits aus dem 18. Jahrhundert stammt (vgl. Klotz 2000, S. 96). 321 | Vgl. Radke 1908, S. 1 ff. 322 | Vgl. ebd., S. 1. 323 | Profane Gebäude für die Öffentlichkeit, etwa Theater, Universitäten oder Bibliotheken, wurden zumeist im Renaissancestil gebaut (vgl. Hammer-Schenk und Beyrodt 1985, S. 108).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
ker betont.326 In diesen Diskursen spielten die verwendeten Baumaterialien im Hinblick auf das Verständnis einer nationalen Materialität eine entscheidende Rolle. Für Düsseldorf bedeutete dies, dass »[…] der moderne Heimatschutz um 1910 das regionalistische Konstrukt eines genuin niederrheinischen Backsteins proklamieren sollte […].«327 Materialgerechtigkeit – »Du sollst diese Formen und Konstruktionen dem wesentlichen Gebrauch des Materials, das du verwendest, anpassen und unterordnen«328 – und Materialehrlichkeit wurden entscheidende Schlagworte in dieser Zeit. Um 1900 – Annette Ciré nennt hier das Haus für Flächenkunst in Darmstadt von 1901 – setzte eine stereometrische Formreduzierung ein.329 Der Schmuck der Architektur wurde nun flächig, er verlor alles Skulpturale.330 Ein weiterer, paralleler Entwicklungsschritt wurde in Richtung einer neuen Monumentalität gemacht.331 Offensichtlich aus der Perspektive späterer Avantgarden spricht Ciré von der Zeit zwischen 1896 und 1902 in Bezug auf die Ausstellungsarchitektur von architektonischer Maskerade332 – ähnliche Phänomene, wie von der Autorin angeführt, lassen sich beispielsweise bei Warenhäusern entdecken, etwa im Fall der Bauten der Industrie- und Gewerbe- und Kunstausstellung 1902 in Düsseldorf von architektonischer Maskerade:333 Surrogatbauten mit prachtvollen motiv- und schmuckfreudigen Fassaden, die massive Steinarchitektur »vorgaukeln«, egal wie weit die Auflösung der Front durch Fenster auch fortgeschritten sein mag, sowie mit Gliederungs- und Dekorationselemente aus verschiedenen Zeiten in eklektizistischer Manier, darunter teilweise Ju-
324 | Vgl. ebd., S. 9. Die Stildebatte wurde in zahlreichen Publikationen geführt. Einen großen Raum, etwa in den Bauzeitschriften, nehmen aber technische Aspekte und die der Anwendung wie Benutzungsabläufe ein (vgl. ebd., S. 123). Auch sahen sich namhafte Autoren wie Walter Benjamin und Siegfried Kracauer und Émile Zola dazu berufen, sich mit den Architekturen der Moderne (Passagen und Warenhäuser) auseinanderzusetzen. Eine der wichtigsten Debatten im Rahmen des Architekturdiskurses der Moderne wurde zur sozialen Frage in Bezug auf die Architektur geführt, sprich die Wohnungsnot der Arbeiter. Hiermit verbunden war auch die Idee der Gartenstadtbewegung. 325 | Vgl. Zacher 1980, S. 380. Stil konnte aber auch beliebig werden, wenn er als von Geschmackssache ausgelegt wurde. 326 | Vgl. Wiener, Haus 2014, S. 41. 327 | Ebd., S. 41. 328 | Van de Velde zit. n.: Ciré 1993, S. 164. 329 | Vgl. Ciré 1993, S. 168. 330 | Vgl. ebd., S. 166. 331 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 48. 332 | Radke war mit Ausstellungsbauten durchaus vertraut. Er hatte zum einen das Deutsche Haus für die Weltausstellung in Chicago (1893) geschaffen und war im Projekt der Industrie- und Gewerbeausstellung in Düsseldorf (1902) involviert.
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gendstilelemente.334 Sie kommt zu einer resümierenden Formulierung, die sich auch auf den Stahlhof anwenden lässt: »Somit ist die überreiche, in Schmuckformen schwelgende Gestaltung dieser Bauten Ausdruck ihres Zweckes, nicht im Sinne eines an das rein Funktionale gebundenen Zweckbegriffes, sondern im Sinne des Wesens, des angestrebten Ausdrucks dieser Architektur, die den repräsentativen Rahmen einer festlichen Selbstdarstellung von Industrie, Gewerbe und Kunst bilden soll. Diese ganz auf Wirkung abzielende Gestaltung kann daher auch als ›Architecture parlante‹ bezeichnet werden. Ihre unmißverständliche Sprache reicht von der Übernahme von Würdeformeln der Sakral- und Palastarchitektur bis zu ornamentalen Details: hier kommt mit den Mitteln der Symbolik zum Ausdruck, daß kein fürstlicher oder kirchlicher Auftraggeber hinter der Errichtung eines solchen Palastes steht, sondern industrielle, gewerbliche, staatliche Mächte. Feuer, geflügeltes Rad, Hammer u. ä. ersetzen Herrschaftszeichen. Statt Synagoge und Ecclesia bewachen Personifikationen von Industrie und Handel den Eingang […].«335
Monumentalität wurde über Materialien und deren spezifische Bearbeitung – Krauskopf verweist innerhalb dieses Diskurses auf die ästhetische Bedeutung des Quaders336 – produziert. Der Stahlhof des Architekten Radke (in Zusammenarbeit mit Theo Westbrock)337 ist eine gemauerte Sandsteinarchitektur – zwar aus Quadern bestehend, diese aber vorgeblendet vor einem Ziegelmauerwerk.338 Für den Stahlhof kommen diese Stiltendenzen der Monumentalisierung auf den ersten Blick – sieht man einmal von seinen Dimensionen und Einzelformen339 ab – nur bedingt zum Tragen. Doch Fritz Wenger führt zum Stahlhof an: »Für die Straßenfronten war die Verwendung ›edler Materialien‹ vorgeschrieben und ein repräsentativer, monumentaler Ausdruck des Gebäudes erwünscht. Mit den Begriffen ›edles Materi-
333 | Der Begriff – zumal als Stilbegriff – ist durchaus diskutierbar, denn er ist letztlich nicht nur nichtssagend, sondern abwertend. In diesem Sinne müsste man auch die Architekturen des Barocks oder der Gotik als Maskerade lesen. Und im Begriff des »Vorgaukelns« erkennt man einmal mehr das unter dem funktionalen Ehrlichkeitsdiktum der Moderne geprägte Sprachvokabular, bei dem Ornament und Verbrechen in einem Atemzug genannt werden. 334 | Vgl. Ciré 1993, S. 157-160. 335 | Ebd., S. 162. 336 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 48. 337 | Vgl. Radke 1908, S. 3. 338 | Vgl. Heimeshoff 1984, S. 217.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich al‹, ›repräsentative Formgebung‹ und ›monumentaler Ausdruck‹ verband der Laie (und auch die Architektenschaft jener Zeit) die Vorstellung vom Naturstein als Werkstoff. Der Architekt dieses Hauses erfüllt die Auflagen mit den Mitteln seiner Zeit, d. h. er baut nach den Prinzipien des ›Massenstils‹.«340
Wiener weist in Bezug auf die verwendeten Materialien und Stilanleihen für die Architektur in Düsseldorf darauf hin, eine Natursteinfassade sei für anspruchsvolle Architektur obligat gewesen und in Düsseldorf werde »[…] eher Jugendstil mit seinen ›Plakathäusern‹ als Späthistorismus bemüht, wenn es galt, Passanten geschäftsspezifische messages mitzuteilen.«341 Die historischen Stilanleihen widersprachen der Wahrnehmung als modernes Unternehmen nicht: »Interessanterweise wird dieser Monumentalbau in der zeitgenössischen Kritik nicht als ›ausgesprochen historisch‹ im Stil empfunden, sondern trotz aller Anklänge an die Gotik als ›durchaus modern‹.«342
Die Bauskulptur des Stahlhofs Die Möglichkeiten des roten, eisenhaltigen Sandsteins – die Farbigkeit kann durchaus im Sinne einer assoziativen Verbindung der Farbe Rot mit Eisen und Feuer und somit als Verweis auf die Auftraggeber und auf die Stahlindustrie gelesen werden – wurden vollkommen ausgeschöpft:343 nicht nur für die Architektur mit ihren zahlreichen Gliederungselementen, sondern auch für die Bauskulptur, die nicht appliziert erscheint, sondern – und dies entspricht ganz dem Stilempfinden des Jugendstils – organisch aus den Wandflächen zu erwachsen scheint.344 Skulptur ist Teil der Wand, Wand ist plastisch durchgebildet. Demgemäß bekommt Skulptur – und damit auch ihr Bildinhalt, also ihr Körper – etwas Ornamentales, eine die Wandfläche rhythmisierende Funktion.345 Dies gilt in besonderer Weise für die nackten männlichen Gestalten, die
339 | Anders sieht es auch hier in den Binnenformen aus, wenn man etwa die scharfkantigen Ausschnitte der Fenster mit ihren tiefen Laibungen im als Sockelgeschoss aufgefassten Bauabschnitt betrachtet, die auf die Massigkeit der Steinmauern verweisen wollen. Gleiches gilt für das als Sockelform angesprochene Bauteil unter den Lisenen mit seinen blockhaften Aussparungen, die einen im Mauerwerk befindlichen Rundpfeiler freilegen – ein durchaus manieristisches Moment. 340 | Wenger 1967, S. 25. 341 | Wiener, Haus 2014, S. 41 f. 342 | Heimeshoff 1984, S. 217. Wenger beschreibt den Bau als eklektizistisch, weil er die kubisch-plastischen Formen des Klassizismus übernimmt und in seiner Ornamentik Formen des Jugendstils zeigt (vgl. Wenger 1967, S. 37 und S. 28). 343 | Die Wahl des Materials ist der erste Schritt der Auseinandersetzung, denn Bauskulptur ist nicht notwendig mit der Architektur materialgleich (vgl. Boeck 1961, S. XIV). Der Einsatz des roten Sandsteins vom Mittelrhein oder Untermain war bis dahin in Düsseldorf ungewöhnlich.
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sich gleichermaßen an die Lisenen klammern und diese atlantenhaft stützen, und für die zwei unterschiedlichen Maskenformen, die die Aufgabe von Kapitellen beziehungsweise Konsolen346 übernehmen. In der Binnenform einer solchen Maske wird das Gesamtprinzip der plastischen Gestaltung deutlich: Ein menschlicher, aus der Wand erwachsender Kopf wird durch die Arme dreier Figuren umrahmt, sodass von der Anschauung her eine Maske entsteht, eine Ornamentform – zumal wenn die Distanz zwischen Betrachter und Werk einbezogen wird. Die Ornamentalisierung der Architektur erfolgt auch, wenn Stahlketten architektonische Formen rahmen, aber vor allem, wenn Fialen ähnliche Aufbauten statt mit Krabben nun mit einem Zahnrad versehen werden und damit zum unmittelbaren Ausdruck einer Ikonografie der Auftraggeberschaft werden. Auch die klassischen Bildfelder im Giebel – oder Wimperg – werden für eine solche Ikonografie genutzt: Das erhöhte Mittelfeld über dem Haupteingang zeigt eine weibliche Figur in antikisierender Gewandung als Mittelfigur, von einer Mandorla umfangen. Sie weist mit ihrer rechten erhobenen Hand auf eine männliche Figur, die zu ihren Füßen liegt, neben ihr ein Stab (Zepter?) mit (Reichs)adler. Seine Arme umschließen etwas und sein Kopf ist der weiblichen Figur zugewandt. Den linken Arm hält die Mittelfigur parallel zum Körper und verweist somit auf eine Figur zu ihren Füßen mit Kapuze, die denselben Gegenstand berührt. Sie ist, wie eine weitere Figur in Uniform, die in Richtung der weiblichen Mittelfigur blickt, nur halbfigurig dargestellt. Vollfigurig wird zur Linken der Mittelfigur ein Mann im langen Mantel gezeigt, der in beiden Händen eine Stahlkette hält. Die Szene wird durch die links und rechts darunter befindlichen Bildfelder der Zwickel weitergeführt: Das von der weiblichen Hauptfigur aus gesehen rechte Feld zeigt eine sitzende Frau, die ein Mädchen umarmt, sowie einen stehenden Mann, der einen Jungen hält. Das linke untere Bildfeld
344 | In der Nachfolge des Hauses Rheingold können vor allem in Bezug auf die Verflechtung von Architektur und Bauskulptur Hoetgers Böttcherstraße und die Entwürfe der TET-Fabrik genannt werden (vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1977, S. 7). 345 | In Bezug auf die reine Form betrachtet Schmarsow das Verhältnis von Rhythmus, Körper und Ornament: »Mit der Rhythmisierung der Körperbewegungen entsteht, wie wir uns gesagt haben, der Tanz, der als solcher nichts anderes ist als eine volle Auflösung in Ornamentik, d. h. in eine Abfolge reiner Formen zur Entladung lebendiger Kräfte, die eben durch diesen rhythmisch geregelten Erguß zur genießbaren Gestaltung für den Mimen selbst gelangt.« (Schmarsow 1925, S. 86) Für ihn ist Kunst immer in Bezug auf den menschlichen Körper zu denken, was ihn mit Fiedler und Hildebrandt verbindet (vgl. ebd., S. 88). Wiener hat diesen Aspekt für die Architektur von Wilhelm Kreis weiter ausgearbeitet (vgl. Wiener 2002, S. 169). 346 | Die Konsolmasken unter dem Gesims des Hauptgiebels scheinen wie aus kleinen, abgerundeten Klötzen zusammengesetzt und haben durch ihren geometrischen Charakter weit mehr architektonischen Anschein.
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zeigt in Ketten gelegte – diese wurden vom oberen Bildfeld nach unten weitergeführt – nackte Muskelmänner. Die drei Felder verbinden sich so zu einer Geschichte nach dem Aufbauprinzip einer Gerichtsszene – mit einer maiestas-gleichen Mittelfigur in der Mandorla. Die rechte – damit ist die ›gute‹ oder vielleicht eher erhabene Seite ausgewiesen – untere Szene erscheint wie die Darstellung einer Arbeiterfamilie. Hierzu gehören auch der Mann in Uniform und der fast schon mit porträthaften Zügen wiedergegebene Mann. Die linke Szene zeigt herkulische, fast schon grotesk übersteigerte Figuren, die vom Figurenstil eher den nackten Männern der Lisenen entsprechen. Ihre rohe Kraft wurde vom Mann im Mantel gebändigt. Die weitere Figur könnte einen Arbeiter in Arbeitskleidung darstellen. Diese Szene ist die Hauptszene im bauskulpturalen Programm des Stahlhofs. Neben den ornamentalen Elementen, die zuvor beschrieben wurden, finden sich beispielsweise Einzelfiguren in den Giebelfeldern als abstraktere Formen der Narration: etwa ein Mann, der einen Jungen umarmt, ein Mann mit Zahnrad oder ein Schmied am Amboss als Arbeiterfiguren, aber auch Figuren in bürgerlicher Kleidung, die etwas zu vermessen scheinen oder sich chemischen Experimenten widmen. Dazu gesellen sich – als Einzelfiguren oder Teil einer narrativen Szene – weibliche Figuren (man denkt an Priesterinnen), die allegorisch deutbar sind: Eine dieser Figuren hält beispielsweise einen Bienenkorb, der als Verweis auf Fleiß gelesen werden könnte. Einige nackte Muskelmänner könnten als die Verbildlichung elementarer Naturkräfte gedeutet werden: Atlas, der die Erde trägt, eine Figur samt Schiff für das Wasser, eine Figur, die die Backen aufbläst, für den Wind. Das Figurenpersonal setzt sich damit aus Arbeitern samt Familie und Bürgern, allegorischen weiblichen Figuren sowie aus herkulischen Männerfiguren zusammen. Es wird Arbeit im Allgemeinen beziehungsweise der Stahlwerksverband als Pater familias versinnbildlicht. Gleichsam erscheint der Stahlhof als der neue Tempel des Industriezeitalters, an dessen Eingang Priesterinnen oder Kultdienerinnen erscheinen. Die zunächst chthonischen Kräfte werden im Industriezeitalter als der neuen Welt dienstbar gemacht. Die Industrie wird zum ›neuen Herkules‹, der die Naturkräfte gleichsam in Ketten legt und sich aneignet und damit Ordnung in die Welt bringt. Mit Wissenschaft und Arbeitskraft werden die Stoffe verwandelt: aus Stein wird Stahl, aus Kohle Chemie und aus allem wird Geld. Es erscheint auch als ein Ringen des überlegenen Geistes mit den rohen Kräften. Insgesamt wurde hier ein hochkomplexes, vielleicht auch überambitioniertes und deshalb in Teilen schwer zu entschlüsselndes Programm entworfen, das sich als eine Mischung aus Realem, Mythischem, Kultischem, Allegorischem und Ornamentalem darstellt. Die vielfach auftauchenden herkulischen Figuren wirken im Hinblick auf eine Erzählung abstrakter und dadurch ornamentaler. Ende bemerkt zum Verhältnis von Groteske und Ornament:
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Abbildung 17: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Lisene), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 18: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Lisene), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 19: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Maske), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 20: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Maske), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 21: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Schlussstein), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 22: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Fiale), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 23: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Tympanon, mittig), 1906-08
© Jürgen Wiener »Auf der einen Seite werde das Groteske oder Monströse demnach im Ornament durch Form und Struktur gebändigt und gebannt. Auf der anderen Seite bezeichnet das Ornament Formen, die sich in ein Ordnungsprinzip eingliedern lassen. Um sie in das gewünschte Raster einbringen zu können, werden die Formen abstrahiert/geometrisiert.«347
Stilistisch kann man hier vom sogenannten Monumentalstil sprechen, der sich auch über den Jugendstil entwickelt hat. Skulptur, Ornament, Abstraktion und Monumentalität werden bei Meier-Graefe als Einheit gedacht: »Eine künstlerische Skulptur muß immer monumental sein. Monumental ist ornamental, und das heißt hier wie überall: dem Schmucke dienend, […] um völlig andere, den Alten unbekannte, abstrakte Ziele zu erreichen. Der Begriff des Ornamentalen ist an sich abstrakt.«348 In der Gestaltung dieser nackten, männlichen Körper am Stahlhof drückt sich ein Wille zur Monumentalität aus. Werke wie die Gedenktafel des Freiherrn von Stein von Lederer sind ein gutes Beispiel für die Verbindung des männlichen Nackten mit Architektur. Für das im
347 | Ende 2015, S. 160. 348 | Meier-Graefe 1898, S. 258. Der Zusammenhang von Ornament und Abstraktion ist auch für den von Alois Riegl entwickelten modernen Stilbegriff grundlegend.
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Jugendstil entworfene Artaria-Haus in Wien schuf Alfonso Canciani, der zeitgleich mit Simatschek an der Wiener Akademie Bildhauerei studierte, unter anderem eine nackte, männliche Halbfigur – einen Hermenpilaster – mit Hammer, vermutlich eine Personifikation der Industrie. Der Stahlhof weist Stilformen auf, wie man sie bei Lederer (Sockelfiguren am Bismarck-Denkmal in Hamburg), bei Metzner349 (Völkerschlachtdenkmal und hier vor allem die Masken, Weinhaus Rheingold) oder beim Berliner Hermann Feuerhahn (Skulpturen für das Hebbel-Theater) findet. Letzterer schuf hauptsächlich architekturbezogene Arbeiten350 und galt in zeitgenössischer Sicht »[…] frei von jener süßlichen oder verkrampften Art der Münchener Modeplastik, deren ständige Wiederholung an so vielen Bauten Deutschlands schon Überdruß genug hervorgerufen hat.«351 Für diese Arbeiten galten dieselben Prinzipien wie für das Denkmal: »Die überindividuelle, mit der Architektur verschmolzene tektonische Skulptur wird das Credo der Denkmalskunst vor 1914.«352 Der Weg zu diesen formalen Aspekten der Monumentalkunst wurde in der Theorie von Fiedler und Hildebrand vorbereitet, etwa in der Forderung nach stärkerer Beachtung des Tektonischen in der Kunst: »Bezeichnend für unsere wissenschaftliche Zeit ist es, daß eine künstlerisch sachliche Arbeit nicht über den imitativen Teil hinausgeht. Das architektonische Gefühl fehlt entweder ganz oder begnügt sich mit einem rein äußerlichen, mehr oder minder geschmackvollen Anordnen. Mein Bestreben in diesem Buch geht dahin, diese architektonische Gestaltung des Kunstwerkes in den Brennpunkt der Betrachtung zu rücken und die Probleme, welche die Form nach dieser Seite stellt, zu entwickeln, als eine notwendige in unserm Verhältnisse zur Natur sachlich begründete Forderung.«353
Hildebrand wollte durch die Verwendung von Reliefs – anstelle von vollplastischen Figuren – den Blick vor allem auf die tektonischen Körper lenken und weniger auf das Narrative.354 Krauskopf dazu: »Im Geiste dieser Konzeption betrachtet, erschien nun auch die Materialität des gesamten Bauwerks im Sinne bildhauerischer Auffas-
349 | Wichtige Vorbilder sind auch Werke wie der Bogenspanner von Friedrich, für den Maaz die gleiche Überzeichnung der Muskulatur wie bei Metzner konstatiert (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 72). 350 | Vgl. o. A. 1911, S. 18. 351 | Ebd., S. 20. 352 | Nicolai 2004, S. 215. 353 | Hildebrand 1901, S. 7 f.
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Abbildung 24: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Tympanon, links), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 25: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Tympanon, rechts), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 26: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
Abbildung 27: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 28: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
Abbildung 29: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 30: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
Abbildung 31: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 32: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
Abbildung 33: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Giebelfeld), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 34: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Eingang, rechts), 1906-08
© Jürgen Wiener
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Abbildung 35: Simatschek, Adolf, Bauplastik, Stahlhof Düsseldorf (Eingang, links), 1906-08
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sung. […] Indem man zugleich Details und Architektur dem Gesetz der Steinskulptur unterwarf, fand man zu der ›geschlossenen Form‹«.355 Monumentalität bedeutet aber nicht nur Form, sondern auch Ikonografie: »Entscheidend wurden im Folgendem die Thematisierung des männlichen Körpers im öffentlichen Raum und zwar in seiner nackten, heroisch-kriegerischen Ausformung. Damit gelangten auch männliche Darstellungen in allegorische Funktion […].«356 Und weiter: »Doch nicht nur an Denkmälern manifestiert sich dieser Männlichkeitskult, sondern auch in der Alltagsathmosphäre, an Privat- und Geschäftshäusern.«357 Allegorie oder Personifikation können demnach nicht losgelöst von einem Diskurs um Körper und Geschlechterkonstruktion gesehen werden, wie Nicolai verdeutlicht: »Die […] Ausgrenzung von Frauen aus Geschichte und Geschichtsschreibung […] hatte im 19. Jahrhundert zu einer neuen Instrumentalisierung vom Bild der Frau in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen geführt, wie sie besonders in weiblichen Allegorien im öffentlichen Raum in Form oder als Teil von Denkmälern in Erscheinung trat. […] Die bisherige Forschung hat die Überhöhung der Weiblichkeit durch die Form der Allegorie stets in Bezug zur tatsächlichen Situation der Frau im 19. Jahrhundert gesetzt. […] Doch wie erklärt sich die Tatsache, dass nach 1900 die weibliche Allegorie zunehmend aus dem öffentlichen Bereich verdrängt wird? Ist dies, wollte man in derselben Logik bleiben, bedingt durch die Bedrohung einer zunehmenden Emanzipation der Frau, die nach 1918 zu einer ersten politischen Gleichberechtigung führte?«358
Das Männliche wird um 1900 zum alleinigen staatstragenden Prinzip erklärt und das Weibliche in den Bereich der freien Kunst und in die Privatsphäre abgedrängt.359 Türk macht ähnliche Beobachtungen: »Dominiert bis in die 1860er Jahre in den Repräsentationskontexten ein eher dekorativ-beschwingter, teils erheiternder Allegorismus […], so finden wir nun zunehmend eine gewaltförmig-maskuline Mobilisierungsästhetik. Industrie reimt sich auf Kraft, Macht, Beherrschung […].«360 354 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 70. 355 | Ebd., S. 176. 356 | Nicolai 2004, S. 211. Dieser kriegerische Männlichkeitskult wird in der nationalsozialistischen Ideologie weitergeführt. 357 | Ebd., S. 208. 358 | Ebd. »Eine Zwischenstufe verkörpern jene Frauenbilder zwischen Hoher Frau/Göttin und erotisiertem Wunschbild, die neu durchzusetzende Produktionsbereiche und damit neue Alltagserfahrungen versinnbildlichen sollen. Diese Darstellungen sind so lange vonnöten, bis sich die neue Technologie etabliert hat. Ein populäres Beispiel ist die Allegorie der Elektrizität als Aurora für die AEG.« (Ebd., S. 211) 359 | Vgl. ebd., S. 210.
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Abbildung 36: Metzner, Franz, Gewölbepfeiler im Weinhaus Rheingold, Berlin, 1907
© ONAR
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Abbildung 37: Metzner, Franz, Relief (Kunst) im Weinhaus Rheingold, Berlin, 1907
© ONAR
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Vor diesem Hintergrund erscheint die Wahl des ikonografischen Programms in seiner stilistischen Ausformung – aber auch mit seinen architektonischen Formen – durch seine Auftraggeber für den Stahlhof unter dem Anspruch eines Signature building – wie man es heute nennen würde – nicht verwunderlich: Stilistisch bewegt man sich zwischen Jugendstil und Monumentalismus. Beides sind Richtungen, die Körperformen in ihrer ornamentalen Funktion einsetzen und Menschenfiguren in ihren sinnbildlichen Rollen überindividuell begreifen, wobei der Jugendstil alleine, da in den Augen der Zeitgenossen als weiblicher Stil aufgefasst, nicht genügt hätte: Arbeit verlangt nach Männlichkeit. Eine Ikonografie der Auftraggeberschaft im Sinne der Repräsentation der modernen Produktionsweisen einer Stahlindustrie erfolgt durch zeichenhafte Ornamente wie Stahlketten, durch Arbeiterfiguren wie in den Giebelfeldern über den Eingängen oder Fenstern und durch nackte männliche Gestalten (eine Zwischenform aus Ornament und Allegorie). Die Form der Allegorie bot sich in besonderer Weise an, weil sie zum einen eine lange kunsthistorische Tradition aufweist und zum anderen die Möglichkeit zu neuen emblematischen Bildformeln jenseits von Heraldik und Symbol eröffnet, derer man sich kreativ bediente. Das Allegorische wurde nicht nur Teil staatlicher Repräsentation (etwa bei Denkmälern), sondern auch privatwirtschaftlicher Unternehmen im Sinne einer produktiven Aneignung, die etablierte künstlerische Formen und soziale Wirklichkeit zu verschmelzen suchte. Diese modernen Allegorien erwecken den Anschein des Eklektizistischen361 und somit Willkürlichen, Entrückenden362, Wirklichkeitsfernen. Dadurch schützen sie zugleich vor Kritik und Veränderung.363 Sie sind wie das Ornament364 freie Form(-ungs-)prinzipien, Akteure einer modernen Bilderwelt, in der Körper als Verweisform auf die männliche Stärke schlechthin zum eigentlichen Attribut werden: Der Stil des Monumentalen, der sich in zeitgenössi-
360 | Türk 2000, S. 187. 361 | Pingeot erläutert dieses anhand eines Beispiels in Frankreich: »Die Statue der Allegorie der Industrie von Elias Robert am Gare d’Orléans, heute Gare d’Austerlitz, ist noch ganz nach antikem Vorbild gestaltet, wie die Attribute Diadem, griechische Peplos und Amphore zeigen, sie stützt sich jedoch auf eine Lokomotive als Symbol der Moderne. Jetzt nämlich ändert sich, zum ersten Mal seit der Domestizierung des Pferdes, seit der Erfindung von Schifffahrt und Rad, die Bedeutung von Raum und Zeit.« (Pingeot, Empire 2002, S. 894 f.) Diesen Eklektizismus kann man vor dem Hintergrund des Politischen der Stilwahl als ambivalente und doch sinnvolle Überzeugungsstrategie begreifen: Der Rückgriff auf etablierte Formen suggerierte stabile Tradition, moderne Formen – vor allem eine moderne Ikonografie – lassen sich nicht länger ignorieren oder wollen nicht länger ignoriert werden, da sie zum einen das Leben aller prägen und zum anderen einer bestimmten Gesellschaftsschicht zum Erfolg verholfen haben. Diesen gilt es, jetzt zu präsentieren. 362 | Vgl. Meurer 2014, S. 40 f.
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Abbildung 38: Walther, Wilhelm (Architekt), Haupteingang zur ehemaligen Victoria-Versicherung, Berlin, 1893-1913
© Assenmacher
scher Betrachtung durch das Material365 und den Einsatz nackter Muskelmänner, die in ihrer konkreten ikonografischen Bedeutung zugunsten einer formalen Bedeutung zurücktreten, ausdrückt, wird bewusst aus einer Vielzahl von Stilen gewählt, um eine Wirtschaftsmacht, wie sie der Stahlwerksverband darstellt, zu repräsentieren.366
363 | Vgl. Zacher 1980, S. 380. 364 | Zacher führt an, in Bauskulpturen würden fast nur Einzelfiguren und keine Handlungen gezeigt (vgl. Zacher 1980, S. 381). Eine Feststellung, die für nahezu alle skulpturalen Aufgaben gilt. 365 | Aus meiner Sicht, die sich mit der historischen nicht vollständig deckt, verwirklicht sich das Monumentale weitaus mehr im sogenannten Zyklopenstil – einer Bauform, die sich durch große, grob behauene Natursteinquader auszeichnet – und weniger im Backsteinbau (vgl. zur Architektur dieses Stils grundlegend Pehnt 1998).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
»Lügen-Styl« und das Problem der Form – zusammenfassende Betrachtung Stil wird zum Problem. Das Malerische wird zum Problem, die Form wird zum Problem, das Ornament wird zum Problem, das Weibliche wird zum Problem, das Unheroische wird zum Problem. Stil wird zum Ausdruck des Krisenhaften und das bereits vor dem Deutschen Kaiserreich. Stil wird aber auch zum Ausdruck von Willen: der Wille zum Repräsentativen, der Wille zum Klassischen, der Wille zum Germanischen, der Wille zum Ausdruck, der Wille zur Abstraktion. In dieser Paradoxität der gleichzeitigen Diffamierung und Nutzbarmachung von Stil, sowohl als abstrakter Begriff als auch in seiner konkreten Ausformung, kommt es zu einer bildhauerischen Produktion, die sich durch ihren jeweiligen Stil auch immer ideologisch verortet. Stil bedeutet dann künstlerische Konzeption des Formalen in seiner historischen Wendung. Das Historische des Stils – auch im Hinblick auf eine Fortschrittsgeschichte des wertenden ›Noch-nicht‹ – wird im Historismus zur prägenden Denkfigur. Form und Inhalt, im Sinne des Gestalterischen als Einheit gedacht, werden unter der Prämisse des Stils zu einer Befragung des Stils nach Inhalten und umgekehrt: Welche Themen eignen sich für welchen Stil beziehungsweise welche Themen produziert Stil? Für eine Ikonografie der Arbeit in der Bildhauerei bedeutet dies zumeist einen Rückgriff zum einen auf allegorische und damit abstrahierende Formen und zum anderen auf den Körper als wichtigstes Ausdrucksmittel. In der konkreten Gestaltung der Körper, einschließlich der hierfür verwendeten Materialien und Formate, drückt sich der jeweilige Stil aus. Einerseits wird das Bild von Arbeit durch Stil historisch. Andererseits verbildlicht sich der Begriff von Arbeit in seinem historischen Verständnis durch Stil. Arbeit ist Teil des nationalen Gründungsmythos, Arbeit formt den klassischen Körper, Arbeit ist Kunst, Arbeit ist männliche Volkstugend, Arbeit versehrt Körper und Seele. Diese Darstellung muss jedoch relativiert werden: Es gibt keine stringente Entwicklung im Sinne einer Überwindungsteleologie. Begriffe von Arbeit beziehungsweise Stil werden nicht durch neue Konzepte von Arbeit beziehungsweise Stil ersetzt, sie existieren parallel zueinander oder gehen in neuen Formen auf. Nicht jeder Stil widmet sich gleichermaßen stark dem Thema Arbeit – hierin offenbaren sich künstlerische Entscheidungen. Aber Arbeit kann zum Thema eines jeden Stils werden, wenngleich anfängliche Vermutungen hierzu revidiert 366 | Im gleichen Zeitraum entstand beispielsweise das Gebäude der Victoria-Versicherung in der Lindenstraße in Berlin-Kreuzberg. Vor allem an den bauplastischen Elementen wird ein Stil zwischen Manierismus und Barock deutlich. ›Das Monumentale‹ – will man denn diese Kategorie hier anwenden – kommt durch die Fülle stark plastischer Elemente (Putten und Fruchtgehänge, aber auch architektonische Glieder wie Säulen) sowie das Bossenwerk zum Ausdruck. Vier kleine männliche Figuren in barocker Kleidung im aus Schmiedeeisen gestalteten Bogenfeld über dem Eingang zum Hof personifizieren mit attributivem Beiwerk Industria – hier einmal mehr ein Schmied mit Zahnrad, Amboss und Hammer –, Commercium, Artes und Scientia.
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werden müssen. Das heißt konkret: Arbeit spielt in der neobarocken Skulptur eine größere Rolle als in der Skulptur des Expressionismus, obwohl der Expressionismus historisch gesehen moderner ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, auch die existenziellen Nöte der Menschen zu verbildlichen. Expressionismus ist in seiner Verarbeitung von Themen der sozialen Wirklichkeit stark abstrahierend, an überzeitlichen Phänomenen des Menschseins ans sich interessiert und setzt sich damit weniger mit einem historischen Begriff von Arbeit auseinander. Gleiches gilt zwar auch für den Neobarock, aber in diesem für die (staatliche) Repräsentation prädestinierten Stil ›muss‹ Arbeit im Hinblick auf seine staatstragende und -bildende Funktion thematisiert werden, gleichwohl allegorisch überhöht, ohne die problembehafteten Aspekte einzuschließen: Allegorien beziehungsweise Personifikation von Arbeit inszenieren Arbeit durch barocke Körper – mal bewegt, mal statuarisch würdevoll. Und Putten spielen Arbeit. Ornamental und weiblich – so gibt sich der Jugendstil aus zeitgenössischer Sicht. Er war gleichermaßen formal (zu abstrakt und bewegt) und ideologisch (Arbeit ist männlich) ungeeignet zur Versinnbildlichung von Arbeit. Und dennoch sind es gerade diese abstrakten Aspekte, die – gepaart mit der heroischen, beruhigten Körperauffassung des Neoklassizismus – den monumentalen Stil vorbereiten, der nur noch tatkräftige, männliche Körper, die zu allem bereit sind, produziert. In einer ›freien‹ Wahl der Stile können Auftraggeber von Skulptur, wie das Fallbeispiel des Düsseldorfer Stahlhofes zeigt, ihren Begriff von Arbeit durch künstlerische Repräsentationsformen nicht nur allen vor Augen führen, sondern produktiv machen.
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4.2 M aterial
und
P roduk tion
4.2.1 Entstehungskontexte zwischen akademischer Tradition, individueller Auftragsarbeit und Massenfertigung Der ›Bildhauermensch‹ »Das bildhauerische Schaffen stellt den männlichsten Kunstausdruck dar.«367
Kunstproduktion ist eine kognitive, aber auch körperliche Tätigkeit, zumal in der Bildhauerei. Bildhauer gelten als ›Arbeiter‹ unter den Künstlern.368 Diese Einschätzung hielt sich auch im 19. Jahrhundert: Aristide Maillol spricht vom Bildhauer als einem Handwerker, 369 und die Forschung – damals wie heute – greift dies bereitwillig auf.370 Jean Selz etwa weist darauf hin, dass berühmte Bildhauer in Frankreich oft Söhne von Handwerkern waren.371 Dadurch werde die Bildhauerei gegenüber der Malerei aber keineswegs abgewertet. Sie wurde zwar als unnahbar spröde angesehen, aber auch als diszipliniert und weniger leichtfertig als die Malerei.372 Die Gattung der Bildhauerei verlangt dementsprechend auch besondere Künstlerpersönlichkeiten: Der Bildhauer muss ein kraftvoller Mensch sein, der Maler hingegen fällt Schwächen anheim, so Michel Seuphor noch 1959.373 Dies sah man in erster Linie bei Männern gegeben, wie das Eingangszitat des Bildhauers Philipp Harth zeigt. Und weiter: »Der Bildhauer ist ein werktätiger mit schwieliger Hand.«374Alexander Heilmeyer formulierte es 1907 ähnlich: »Der Arbeitsprozeß der Steinbildhauerei zeigt also auf das beste das Wesen der künstlerischen Arbeit an sich, das Umwerten des Stoffes in Form. […] Die meisten Bildhauer ziehen es vor, dem weichen geschmeidigen Modellierton ihre Gefühle anzuvertrauen, statt mit Meißel und Hammer die männliche Arbeit der Steinbildhauerei zu betreiben.«375
367 | Harth zit. n.: Werner 1940, S. 11. 368 | Vgl. Körner 1990, S. 106. 369 | Vgl. Trier 1999, S. 78. 370 | Vgl. Werner 1940, S. 9. 371 | Vgl. Selz 1963, S. 44. 372 | Vgl. ebd., S. 30. 373 | Vgl. Seuphor 1959, S. 219. 374 | Harth zit. n.: Werner 1940, S. 11. 375 | Heilmeyer 1907, S. 32.
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Es gab aber auch rein pragmatische Sichtweisen auf die Produktionsweisen der Bildhauerei: »Das Loblied auf den Stein, das die neoklassizistischen Bildhauer in Deutschland anstimmten, sollte jedoch bald verhallen. Schon vor der Rückbesinnung auf den Adel des Marmors gab es Kritiker, welche die Sklavenarbeit am Stein verdammten und diese den ausführenden Handwerkern überließen.«376
Bildhauerei als Arbeit In der künstlerischen Produktion kommen Mechanismen zum Tragen, die aus dem Bereich der selbstständigen Arbeit bekannt sind – Kunst ist Arbeit. In der Auswahl ihrer Themen und Formen – und Material ist nur einer der Aspekte von Form – offenbaren Künstler ihre eigene Produktionswirklichkeit. Adolf Loos schreibt 1898 in Die Baumaterialien: »Was ist mehr wert, ein kilo stein oder ein kilo gold? Die frage erscheint wohl lächerlich. Aber nur für den kaufmann. Der künstler wird antworten: Für mich sind alle materialien gleich wertvoll. […] Der künstler hat nur einen ehrgeiz: das material in einer weise zu beherrschen, die seine arbeit von dem werte des rohmaterials unabhängig macht. […] Diese leute sagen material und meinen arbeit.«377
Konrad Fiedler und Adolf von Hildebrand betonen den künstlerischen Produktionsprozess, da in ihm das Wesen der Kunst liege, 378 wenn auch weniger unter dem Aspekt der Arbeit. In einem Brief an Hildebrand heißt es: »Zu Deiner Absicht, etwas ohne Modell in Stein zu versuchen, kann ich Dich nur ermuntern. Die letzte höchste Aufgabe des Bildhauers bleibt es ja doch immer dem Stein Leben zu vermitteln.«379 Hierin kommt einmal mehr der ewige ›Mythos‹ des Bildhauers als Pygmalion zum Ausdruck. »Die Bezwingung der Materie, im handwerklichen wie im symbolischen Sinne, ihre Transsubstantiation durch den künstlerischen Akt, bleibt für die Mehrzahl der Künstler bis ins 20. Jahrhundert das Beschreibungsmodell der künstlerischen Produktion.«380 Noch 1914 betont Henri Gaudier-Brzeska in der Zeitschrift Egoist das handwerkliche Können dieser Kunstgattung.381 Dieser Topos reproduziert sich auch über die Kunstgeschichte, wenn etwa in Bezug auf Michelangelo das Material zum quälenden
376 | Trier 1999, S. 64 f. 377 | Loos zit. n. Rübel et al. 2005, S. 158 f. 378 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 66. 379 | Christa Lichtenstern zit. n.: Trier 1999, S. 64. 380 | Held und Schneider 2007, S. 283. 381 | Vgl. Trier 1999, S. 336.
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Widerpart stilisiert wird.382 Die »Unterordnung unter den gestalterischen Willen«383 , so Eduard Trier, wird auch zum Thema des Impressionisten Medardo Rosso: »Das, worauf es für mich in der Kunst ankommt, ist, die Materie vergessen zu machen.«384 Hildebrand war es wichtig, in seinem Kapitel zur Steinarbeit in Das Problem der Form in der bildenden Kunst ganz konkret den künstlerischen Arbeitsprozess darzustellen. Er bedauert, dass »die technische Entwicklung und die Fabrikarbeit der heutigen Zeit dazu geführt hat, das Gefühl für die Art des Entstehens überhaupt zu schwächen und das Produkt nur an sich, nicht aber als Ausdruck und Niederschlag einer bestimmten geistigen Tätigkeit aufzufassen.«385 Robert Mielke formulierte es 1904 aus einer anderen Perspektive: »Schon in der Zeit, da die Kunst nicht mehr eine notwendige Begleiterscheinung jeder Arbeit war, seit der Zeit, da sie als Selbstzweck erzeugt und dem Berufskünstler durch ihre Verwertung Besitz und Ehren einbrachte, begann die verhängnisvolle Entwicklung, die zur steilen Höhe der modernen Industriekunst führte.«386
Dieser ›neue‹ Pragmatismus in der Kunst ist Teil einer Produktionswirklichkeit von Bildhauerei als Lohnarbeit – jenseits aller romantischen Konzepte von Kunst.
Auftraggeberschaft Auch die Produktion von Kunst ist eingebettet in soziale und ökonomische Strukturen. Gerade Bildhauer stehen in Abhängigkeit zu ihren Produktionsverhältnissen: »This ambiguity persists throughout the century; it often has to do with sculptors‘ circumstances, for they, more than painters, are bound to the requirements of their materials and thus inclined to a certain caution. A sculptor demands certain financial resources, while the working budget of painter is generally minimal.«387
382 | Vgl. Bandmann 1971, S. 145. 383 | Trier 1999, S. 76. 384 | Rosso zit. n.: ebd. 385 | Hildebrand 1901, S. 10 f. 386 | Mielke 1904, S. 54 f. 387 | Rheims 1977, S. 9. Die Bearbeitung der Materialien in der Bildhauerei ist ein Grund für die langsame Entstehung von Skulpturen, die hohen Kosten kommen hinzu.
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Der Publizist Adolf Rosenberg beschrieb 1885 die prekäre Lage für Bildhauer nach der Wirtschaftskrise 1883.388 Da Bildhauer meist als freie Künstler arbeiteten, waren sie auf den Verkauf von Werken angewiesen.389 »Um so dringlicher begehrten sie ein zusätzliches festes Einkommen als Hochschullehrer oder Akademiemitglieder«390 , so Peter Feist. Nahezu immer arbeiteten selbst erfolgreiche Bildhauer ausschließlich für Auftraggeber und stellten sich keine eigenen Aufgaben. Dies änderte sich erst zum Ende des Jahrhunderts mit Künstlern wie Hildebrand, Max Klinger oder Ernst Barlach.391 Die Entstehung von Skulptur war demnach – und nicht nur aus Kostengründen392 – fast immer an Auftraggeber gebunden, die konkrete Forderungen verwirklicht sehen wollten.393 Dementsprechend mussten sich die Bildhauer an den ›Geschmack‹ ihrer Käufer anpassen. Waldemar Grzimek, selbst Bildhauer, äußerst sich dazu recht pragmatisch: »Die Partnerschaft zwischen Auftraggeber und Gestalter ist grundsätzlich positiv zu werten, auch wenn in ihr vielerlei kontroverse Momente enthalten sind.«394 Aufgrund der politischen und ökonomischen Veränderungen sei die Bildnisproduktion in den Gründerjahren laut Ursula Merkel sprunghaft angestiegen.395 Im 19. Jahrhundert werden Staat beziehungsweise Stadt396 und Bürgertum vermehrt zu Auftraggebern: »Während im elitären Kreis um Klinger und Geyger konservative Traditionen gepflegt wurden, praktizierten der Kaiser und seine künstlerisch-politischen Parteigänger eine expansive Kunstpolitik und bestellten massenhaft Denkmäler. Der Klein- und Großbürger hingegen kaufte klei-
388 | Vgl. Feist 1987, S. 325. Grzimek hingegen konstatiert, die Mehrzahl der Bildhauer habe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausreichend verdient und gehörten dem Mittelstand an. Diese Situation habe sich erst nach 1900 geändert (vgl. Grzimek 1978, S. 405). 389 | Vgl. Feist 1996, S. 9. 390 | Ebd., S. 9 f. 391 | Vgl. Grzimek 1978, S. 406 f. 392 | Man bedenke bei Skulptur beispielsweise auch die Frage der Aufstellung: Nicht jeder Ort konnte, auch wenn das finanzielle Potenzial vorhanden war, von jedem bespielt werden. 393 | Vgl. Hielscher 1979, S. 9. 394 | Grzimek 1978, S. 362. 395 | Vgl. Merkel 1995, S. 225. Auch Jochum-Bohrmann konstatiert in ihrer Studie zu Lederer eine gute Auftragslage durch das Besitzbürgertum (vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 13). 396 | Schwarz schreibt in ihrer Arbeit über die Darstellung von Arbeitern im Denkmal des Ruhrgebiets: »Die Errichter dieser Arbeiterdenkmäler waren ausnahmslos die Kommunen selbst, ihre Initiatoren ausschließlich Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft.« (Schwarz 2004, S. 68)
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 39: Albermann, Wilhelm, Der Schmied von Solingen, um 1895
Quelle: Türk 2009, S. 193
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»Arbeitende Bilder« ne oder große Ladenbronzen und beobachtete mit Argwohn oder Zufriedenheit das Wuchern des öffentlichen Denkmalkults.«397
Die neue Staatskunst wurde vor allem in der Skulptur reflektiert.398 Ausdruck hierfür sind die zahlreichen Denkmalsetzungen. Das Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm I. in Berlin beispielsweise ging auf einen Beschluss des Reichstages zurück und wurde vom Reich mit vier Millionen Mark finanziert. Thomas Nipperdey dazu: »[…] die Inschrift nennt darum ›das deutsche Volk‹ als Stifter. Praktisch hat Wilhelm II. dem Reichstag die Planung aus der Hand genommen und sie ganz als seine eigene Angelegenheit betrieben.«399 Denkmäler wurden von staatlicher oder/und bürgerlicher Seite finanziert.400 Hierfür wurden Kommissionen gebildet, denen auch Maler wie Adolph von Menzel angehören konnten, 401 und Ausschreibungen veranstaltet. Die bürgerliche 402 Selbstpräsentation wurde in Denk- und Grabmälern oder in der Bauskulptur, vor allem aber in Porträtbüsten403 verwirklicht: Diese schmückten neben den Groß- und Kleinplastiken – darunter sogenannte Ladenbronzen – die Privaträume.404 Beliebt waren etwa – in Anpassung an die Käuferschaft – Genredarstellungen mit Mutter und Kind.405 Entscheidungen des Geschmacks betrafen aber nicht nur den Inhalt, sondern auch den Stil der Skulptur. Dünkelhaft zuspitzend betont Alfred Kuhn die Begeisterung der ›Neureichen‹ für die realistischen Barockarbeiten, während die akademisch Gebildeten eher Hildebrand und seine Nachfolger favorisierten.406 Dagegen erachtete
397 | Maaz 2001, S. 38. 398 | Vgl. Jans, Plastik 1992, S. 92. 399 | Nipperdey 1968, S. 142. 400 | Vielfach gab es in den Städten auch Verschönerungsvereine, die Denkmäler stifteten, etwa den Schmiede-Brunnen in Solingen (vgl. Schmidt 2001, S. 132). 401 | Einer von ihnen war Adolph von Menzel (vgl. Maaz, Stimmen 2010, S. 121). 402 | Erst um 1900 war das bürgerliche Auftragsvolumen mit dem von Hof und Kirche vergleichbar (vgl. Grzimek 1978, S. 373). 403 | Einer der zahlreichen Künstler war Joseph Uphues, der Werke – darunter Gräber und Büsten – für die rheinische Unternehmerfamilie Schoeller schuf (vgl. Einholz, Uphues 1990, S. 334). 404 | Großplastiken waren zunächst auf Ausstellungen vertreten. Dort sollten für sie private oder staatliche Käufer gefunden werden. 405 | Vgl. Jans, Plastik 1992, S. 92. Auch heroisierte Arbeitertypen zählt Jans zu den beliebten Motiven (vgl. ebd.). 406 | Vgl. Kuhn 1922, S. 67. Die Abhängigkeit vom Geschmack der Bürger, die selbst keine eigene Kultur besaßen und ihren Status durch Bildung zeigten, betraf auch schon die Bildhauer Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch, wobei Schadow als der Vertreter einer breiten und unverbrauchten Schicht des Kleinbürgertums galt (vgl. ebd., S. 29).
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Grzimek die Unterschiede der Stilwahl bürgerlicher und adeliger Auftraggeber als gering. Bei Format und Material jedoch differenzierten die Auftraggeber.407 Bürger wurden wie im Falle der sogenannten Ladenbronzen zu Käufern statt zu Auftraggebern, Skulptur wurde somit zu einer Ware industrieller Produktion. Insbesondere durch die technischen Reproduktionsmöglichkeiten, die das Material Gips bot, konnte nun auch weniger wohlhabenden Bürgern der Kunstbesitz möglich gemacht werden.408 Bildhauer griffen hierbei auf ein einmal kreiertes Formenrepertoire zurück und vervielfältigten dieses für unterschiedliche Aufgaben.409 Die auf diese Weise produzierten Skulpturen fanden selbst im außereuropäischen Ausland – vor allem in den USA – Abnehmer.410 Feist verweist auf die Wichtigkeit der Ausstellungen für den Verkauf von Skulpturen: »Entscheidend für den Zugang zu potentiellen Käufern waren Wettbewerbe um öffentliche Aufträge zu Denkmälern, Brunnen und ähnlichem, in erster Linie aber Ausstellungen sowie die Verkaufsgalerien von Kunsthändlern. Für Künstler wurde es zu einer Existenzfrage, ob ihre Arbeiten in bestimmte Ausstellungen gelangten. Sie mußten sich brennend für deren Trägerschaft und Organisationsformen, die Jurierung der Einsendung und etwaige Preisverleihungen interessieren.«411
Foren dieser auftragsfreien Kunst waren nicht zuletzt Ausstellungen, etwa in Berlin, Dresden oder München. Dort wurden aus Kostengründen zunächst nur die durchgearbeiteten Gipsmodelle gezeigt, die nach erfolgreichem Verkauf an Privatleute oder Museen in Marmor oder Metall übertragen wurden.412 Bernhard Maaz weist auf den Bereich der Idealplastiken, die auch um 1900 noch florierten, und ihre Käuferschaft hin: »Neben den Höfen waren es der niedere Adel und die hohe Beamtenschaft sowie die Bourgeoisie: Nur sie konnten sich diese teuren Marmore leisten, und nur sie residierten so kontinuierlich, daß ein Marmor nicht zum Hindernis eines Umzugs wer-
407 | Vgl. Grzimek 1978, S. 363. 408 | Vgl. Kähler 1996, S. 115. 409 | Vgl. Feist 1987, S. 325. 410 | Zu nennen ist beispielsweise das Denkmal für Washington in Philadelphia, das von Rudolf Siemering angefertigt wurde. Er verwendete der Aufgabe entsprechend als Sockelfigur einen Indianer. Schütz bemerkt zur Konstellation Berlin und USA: »Es finden sich wenige Werke im Bereich der öffentlichen Skulptur aus Berlin, die allein wegen ihrer ästhetischen Kraft ihren Weg in die Staaten nahmen. Der thematische Rahmen ist begrenzt. Der Blick Amerikas auf öffentliche Skulpturen aus Berlin bleibt weitgehend an den offiziellen Heroen hängen.« (Schütz 1990, S. 136) 411 | Feist 1996, S. 10. 412 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 60.
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den mußte.«413 Karl Scheffler wertete im Rahmen seiner ebenfalls soziologisch perspektivierten ›Materialismuskritik‹ die Lage der Kunst als »kaufmännisch entartet«: »Und man blicke gleich dann auch auf das Gebiet der Kunst hinüber, wo ganz ähnliche Verhältnisse herrschen, wo wir eine staatliche Beamtendressur sehen, die nie nach Talent und Neigung, sondern nur nach den Examina, nach gesellschaftlicher Stellung und nach prüfbaren Beamtentugenden fragt. Da dieses materialistische Treiben unter den Augen und unter der Assistenz des Staates vor sich geht, so ist die Kunst in höchst offizieller Weise kaufmännisch entartet.«414
Kritisch bemerkt auch Maaz, dass die »offizielle Skulptur […] viel zu sehr den Moden und Modalitäten offizieller Erwartungen und ästhetischen Sublimierungen verpflichtet«415 war. Dem schließt sich Wolfgang Beeh an und spricht von einer Aneinanderreihung von Skulptur, der vor allem in den offiziellen Salons oft etwas Langweiliges anhaftete.416 Die enorme Häufung von Genreskulpturen mag diesen Eindruck bestärkt haben. Genre und auftragsfreie Kunst sind bei Peter Bloch eng verbunden: »Versucht man, das Spezifische einer auftragsfreien Kunst zu definieren, bietet sich der Begriff des Genre an. […] Unter Genreplastik des 19. Jahrhunderts verstehen wir eine Gattung, die die gesellschaftskonforme Funktion der öffentlichen und privaten Auftragskunst – vom Denkmal über das Grabmal bis zu Bildnisbüsten – um eine Thematik erweitert, die intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen eines gehobenen Mittelstandes entgegenkam. Meist ist dieses Genre von narrativen Zügen geprägt. Unterscheiden läßt sich ein idyllisches – mythologisches – literarisches – patriotisches – religiöses Genre.«417
Die Bildung des Bildhauers Ausstellungen, Reisen und Akademien Ausstellungen – in Paris die Salons – wurden zu einem wichtigen Forum der Selbstpräsentation der Bildhauer, auch wenn der Skulptur in Ausstellungen oder von Sammlern weniger öffentliches Interesse entgegengebracht wurde als der Malerei.418 Vor der Entstehung eines ausgeprägten Kunsthandels gehörten die zweijährig stattfindenden Akademieausstellungen zu den wichtigsten Präsentationsmöglichkeiten auftragsfreier Kunst.419 Zudem nutzten Bildhauer ihre eigenen Ateliers als Verkaufsorte, indem
413 | Ebd., S. 48. 414 | Scheffler 1909, S. 91. 415 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 192. 416 | Vgl. Beeh 1976, S. 104. 417 | Bloch, Kunst 1990, S. 300 f. 418 | Vgl. Werner 1940, S. 9. 419 | Vgl. Bloch, Kunst 1990 S. 294.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
sie diese als Musterlager, oft mit musealem Charakter, herrichteten.420 Ausstellungen wurden vornehmlich zur Weiterentwicklung des eigenen Werkes genutzt, denn sie ermöglichten die direkte Konfrontation mit anderen Werken. Auf Reisen wiederum fand eine Auseinandersetzung mit der künstlerischen Produktion ausländischer Bildhauer statt. Solche Reisen konnten den gesamten Lebenslauf nachhaltig prägen, aber sie bewirkten nicht unbedingt eine Übernahme des Gesehenen.421 Wichtigste Reiseziele waren Rom und Paris. So boten etwa die Weltausstellungen deutschen Bildhauern den Anlass, nach Paris zu reisen.422 Reinhold Begas und Hildebrand wurden hingegen maßgeblich durch ihre Romreisen geprägt. Nach 1880 zogen aber immer mehr deutsche Bildhauer zum Studienaufenthalt nach Paris und nicht mehr nach Rom.423 »Fast obligatorisch scheint für einen jungen Bildhauer in Paris der Besuch im Atelier von Auguste Rodin gewesen zu sein. […] Viele von ihnen zeigten ihm Photographien ihrer Arbeiten.«424 Eine positive Kritik von Rodin war der Ritterschlag, den sich deutsche Bildhauer in Paris erhofften.425 Es gab auch private Akademien in Paris wie die Académie Julian, die für ausländische Künstler leicht zugänglich waren.426 Viele Bildhauer wie Bernhard Hoetger, Wilhelm Lehmbruck und Klinger hielten sich jedoch längere Zeit in Paris auf, ohne eine staatliche oder private Kunstakademie besucht zu haben.427 Hoetger ist insgesamt ein gutes Beispiel, um den Einfluss einer solchen Stadt auf den Werdegang eines Bildhauers dieser Zeit aufzuzeigen: Hoetger entschied sich 1900, nach dem von der Düsseldorfer Akademie organisierten Besuch der Weltausstellung, in Paris zu bleiben. Nach einer anfänglichen Zeit der Obdachlosigkeit gelangte er zu hohem Ansehen. Dort lernte er Lehmbruck kennen, der in Paris mit Constantin Brancusi, André Derain und Amedeo Modigliani oder auch Henri Matisse und Julius Meier-Graefe verkehrte. Für den Erfolg Hoetgers in Paris und danach war maßgeblich der Kunstkritiker und Galerist Meier-Graefe mitverantwortlich. Viele Künstler, die in Deutschland ihr Werke nicht präsentieren konnten, stellten stattdessen im Ausland aus. Zu ihnen gehörten Hanna Koschinsky, Hoetger und Lehmbruck, die beispielsweise im Salon des Indépendants vertreten waren. Doch erst
420 | Vgl. ebd., S. 299. 421 | Kähler führt hier Wilhelm Lehmbruck an. Vgl. Kähler 1996, S. 246. 422 | Vgl. ebd., S. 240. 423 | Vgl. ebd., S. 11. 424 | Ebd., S. 244. Kähler nennt etwa Klinger, Karl Albiker und Clara Westhoff, die das Institut Rodin in Paris besucht haben (vgl. ebd., S. 161). 425 | Berger 1998, S. 13. 426 | Barlach besuchte beispielsweise eine davon (vgl. Kähler 1996, S. 130). 427 | Das Folgende nach ebd., S. 167-187.
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zwischen 1907 und 1911 stieg die Zahl der an Salonausstellungen teilnehmenden deutschen Bildhauer.428 Paris war auch wirtschaftlich interessant für die Bildhauer: »Paris war um die Jahrhundertwende ein riesiger Supermarkt der Künste. Der Berichterstatter der Kunstchronik erläutert 1904: ›Es ist geradezu ungeheuerlich, wie viele Bilder und Statuen im Laufe des Jahres dem Pariser Publikum vorgeführt werden. Wenn man alle die großen und kleinen Salons und die Privatausstellungen ohne Zahl zusammenrechnen wollte, käme man sicher auf zwanzigtausend Nummern.‹«429
Hier waren auch wichtige Kunsthändler ansässig – Liesbeth Jans verweist auf Samuel Bing und Meier-Graefe430 –, die zum finanziellen Erfolg beitragen konnten. Die Galerie La maison moderne von Meier-Graefe, der 1895 nach Paris gekommen war, wollte ein fortschrittliches Publikum ansprechen, konzentrierte sich folglich auf die Kunst des Jugendstils431 und vertrat auch Künstler wie Hoetger. Vermutlich trat Meier-Graefe mit ihm in Kontakt, nachdem er sein Werk Der Blinde auf der Ausstellung im Salon des Artistes français gesehen hatte. Meier-Graefe kaufte einige seiner Modelle – im Katalog von 1901 sind 17 Werke vertreten, darunter auch Lumpensammler und Vagabund –, die in Bronze oder glasiertem Steinzeug produziert werden sollten. Diese Kleinplastiken galten als Dekorationsstücke, denn trotz des Programms der Galerie musste Meier-Graefe bald schon stärker auf Verkäuflichkeit achten, was zu Spannungen mit Hoetger führte. Verleger für Plastiken vermittelten, wie es beispielsweise Meier-Graefe für Hoetger in Paris tat, die Arbeiten der Bildhauer an breite Käuferschichten. Für unbekanntere Künstler waren die Verträge allerdings oft ungünstig, da sie teilweise die Rechte an ihren Werken abtreten mussten.432 Schlussendlich bestimmten die Akademien künstlerisch wie auch formal die Produktionswirklichkeit der Bildhauer maßgeblich. Die Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler war zuweilen sehr eng.433 Für Schüler eines erfolgreichen Bildhauers ergaben sich folglich leichter Aufträge.434 Neben dem Kopieren von Antiken oder Kursen im Aktsaal wurden alle wichtigen Techniken der Bildhauerkunst – auch die
428 | Vgl. ebd., S. 191-203. 429 | Berger 1998, S. 13. 430 | Vgl. Jans, Paris 1992, S. 98. 431 | Mit ihm vergleichbar ist Paul Cassirer in Berlin, der beispielsweise Barlach exklusiv unter Vertrag nahm (vgl. Thurn 1994, S. 126). 432 | Vgl. Berger 1998, S. 10 f. 433 | Vgl. Grzimek 1978, S. 413. Begas’ Meisterschüler wurden von ihm nahezu gleichberechtigt an seinen Auftragsarbeiten beschäftigt (vgl. ebd., S. 447). Viele junge Bildhauer lebten wie zu Gildezeiten und blieben jahrelang im Dienste eines Meisters (vgl. Rheims 1977, S. 9). 434 | Dies zeigt das Beispiel Reinhold Felderhoff in Essen.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Vergrößerung oder Verkleinerung bestehender Werke – gelehrt.435 Die Akademien beeinflussten also den Stil der Bildhauerei: »Der Naturalismus, dessen Stilprinzipien von den Akademien zunächst in Frankreich, dann in Deutschland übernommen worden waren, avancierte im Bund mit dem Historismus zu dominierenden, offizielle geförderten Richtung in der Bildhauerei des späten 19. Jahrhunderts.«436
Berlin war im Deutschen Kaiserreich die Metropole der Bildhauerei des 19. Jahrhunderts und galt auch außerhalb Deutschlands als angesehenes Kunstzentrum.437 Berlin war so prägend, dass man noch heute von der Berliner Bildhauerschule spricht, die sich schon vor dem Deutschen Kaiserreich mit Johann Gottfried Schadow formierte.438 Daneben waren München439, Stuttgart, Leipzig oder Dresden wichtige Orte.440 Das Rheinland im Allgemeinen und die Königlich Preußische Kunstakademie Düsseldorf im Speziellen wurden, weil sie von Preußen aus verwaltet wurden, stark durch Bildhauer aus Berlin bestimmt.441
Technische Produktionsformen »In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Problembewußtsein auf dem Höhepunkt; später treten, soweit wir heute sehen, die Reflexionen über kunsttechnische Aspekte in den Hintergrund, während das sogenannte ›Kunstwollen‹ als ein Abstraktum, die rein gestalterischen Absichten etwa bei Adolf von Hildebrand oder die betont repräsentativen Vorhaben bei Reinhold Begas dominieren.«442
Dieser Einschätzung ist nur bedingt zuzustimmen, wenn man etwa Hildebrands Ausführungen zur Bearbeitung von Stein in seiner Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst berücksichtigt. Das 19. Jahrhundert war durchweg geprägt von 435 | Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ging dem Besuch von Akademiekursen, zu denen man nach einer Prüfung des Talentes und der Grundkenntnisse mittels eines Probestückes zugelassen wurde, eine handwerkliche Lehre voraus (vgl. Grzimek 1978, S. 445). 436 | Merkel 1995, S. 225. 437 | Vgl. Knopp 1990, S. 9. 438 | Vgl. Kähler 1996, S. 239. 439 | Wichtige mit der Akademie verbundene Bildhauer sind Hildebrand, Klinger und Franz von Stuck. 440 | Vgl. Kähler 1996, S. 15. 441 | Vgl. Knopp 1984, S. 5. Es ging sogar so weit, dass selbst Entwürfe rheinischer Bildhauer, die für öffentliche Aufgaben engagiert wurden (etwa Karl Janssen), den Berliner Behörden vorgelegt werden mussten (vgl. Vomm 1980, S. 213). 442 | Maaz, Bd. 2 2010, S. 666.
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einem Diskurs um die künstlerische Produktion, der auch unter dem Schlagwort Die Kunst im Zeitalter der Maschine443 geführt wurde. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Kunsthandwerks. Für dessen Aufschwung war vor allem die Vorbilderbewegung, das Arbeiten nach in modernen Werkstätten erprobten Vorbildheften, verantwortlich. Diese Vorbildhefte wurden etwa von Peter Beuth und Karl Friedrich Schinkel entwickelt und waren für Handwerker und Käufer gleichermaßen gedacht.444 Die industrielle Massenproduktion wurde in dieser Zeit noch sehr kritisch gesehen, denn es fehlten übergreifend Modelle und Vorlagen, sodass minderwertige Produkte den Markt überschwemmten. Infolge der seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen begann sich in Deutschland die Erkenntnis durchzusetzen, dass deutsche Produkte nicht mit den englischen und französischen Erzeugnissen konkurrieren konnten.445 Es bestand Handlungsbedarf, und die Diskussionen rangen um Begriffe wie Qualität und Surrogat. Maaz bemerkt zur Situation für die Bildhauer um 1900: »Ansprüche und Forderungen der Bildhauer, Auftraggeber und Käufer waren extrem unterschiedlich. Wenn vielen die einfache, motivisch treue Reproduktion genügte, so gab es doch auch elitäre Haltungen, die sich auf perfekte Gußtechnik oder gar eigenhändige Ziselierung richteten.«446
Klinger gehörte zu den Bildhauern, die solche elitären Vorstellungen vertraten und ließ deshalb etwa die Bronzeteile seines Beethoven in Paris gießen.447 Zusätzlich bediente er sich einer weiteren Produktionsweise: »Das Interesse an Gewinn und Ruhm bewog Klinger dazu, so wie es seit Jahrzehnten üblich war, von allen diesen Plastiken oder ihren Köpfen Bronzenachgüsse in zwei verschiedenen Größen durch die Firmen Gladenbeck/Berlin und Lorck/Leipzig herstellen zu lassen.«448
Die Gusstechnik Der Bronzeguss gehörte wie das Arbeiten in Stein oder Holz zu den traditionellen Produktionsweisen der Bildhauerei. Im 19. Jahrhundert war dieses Verfahren äußerst beliebt. Peter Vischer wurde zu einem Leitbild patriotischer Kunstpflege stilisiert. Er war das Sinnbild idealer künstlerischer Erfindungsgabe und handwerklicher So-
443 | Vgl. Naumann 1904. 444 | Vgl. Mundt 1971, S. 318 f. 445 | Vgl. Klotz 2000, S. 235. 446 | Maaz 2001, S. 37. 447 | Vgl. Kähler 1996, S. 172. 448 | Feist 1987, S. 334.
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lidarität.449 München – dort vor allem Ludwig Schwanthaler – bildete neben Berlin das zweite Zentrum des Bronzegusses. Bald schon wurde ein Weg zur Kommerzialisierung beschritten: »Um die Jahrhundertmitte ging mit dem Wirken der bereits erwähnten Gießer wie Friebel und Gladenbeck eine Blüte der Bildhauerkunst einher, die über die preußischen, ja über die deutschen Grenzen hinaus höchst gefragt war und mit Exporten in die USA einherging.«450 Der in Berlin ansässige Carl Gustav Hermann Gladenbeck erfuhr Konkurrenz durch Hermann Noack (ebenfalls in Berlin), der das Wachsausschmelzverfahren beherrschte und subtil modellieren konnte; ebenso arbeitete er kostengünstig. Die Firma Gladenbeck spielte dennoch eine herausragende Rolle: »Er eroberte die Marktführung insofern, als seine sogenannten ›Ladenbronzen‹, die seriell in verschiedensten Maßstäben gegossenen dekorativen Werke für das klein- wie großbürgerliche Heim, bald weithin vertrieben wurden.«451 Teresa Ende macht am Beispiel Lehmbrucks darauf aufmerksam, dass sich die Praxis des Bildhauers im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte – zunächst noch im Atelier mit vielen Assistenten, um 1900 autonomeres Arbeiten in Zusammenarbeit mit professionellen Gießereien oder Formern.452 In seiner Pariser Zeit schuf Hoetger seine Figuren vermutlich zunächst in Gips, um sie dann im preisgünstigeren Werkstoff Terrakotta durch den Bildner und Verleger Hector Cacciapuoti, den er im Rahmen einer Initiative zur Selbstvermarktung von Bildhauern kennengelernt hatte, produzieren zu lassen. Hoetger ließ ab 1904 beim Pariser Bronzegießer Eugène Blot produzieren, der auch Verleger der Werke war und in seinen Verkaufsräumen Ausstellungen zeigte, beispielsweise 1905 mit Hoetger und Camille Claudel.453 Berger zu diesen Umständen: »Diese Massenproduktion wurde jedoch in der damaligen Zeit zunehmend kritisch gesehen. So verboten die Zulassungsbestimmungen im ersten Katalog des Salon d’Automne, 1903, jegliches Stück aus einer kommerziellen Massenfabrikation.«454 Rosenberg schrieb 1903 über Gustav Eberlein: »Die Not zwang ihn, für den Zinkguß, der damals in Berlin in üppiger Blüte stand, Brunnengruppen und Kriegerdenkmäler zu modellieren, die in billigen Wiederholungen viele Abnehmer fan-
449 | Vgl. das Folgende nach Maaz 2001, S. 29-37. 450 | Gladenbeck war ab 1888 sogar eine Aktiengesellschaft (vgl. ebd., S. 34). 451 | Ebd. 452 | Vgl. Ende 2015, S. 41. 453 | Vgl. Berger 1998, S. 11. Blots Ausstellung ist es auch zu verdanken, dass 1907 ein weiblicher Torso von Hoetger vom Pariser Musée du Luxembourg angekauft wurde (vgl. ebd., S. 12). Der Lumpensammler von Hoetger ist auch aus Meißner Porzellan erhältlich. 454 | Ebd. Mit Massenproduktion ist eine Auflage von 50 Stück und mehr gemeint.
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»Arbeitende Bilder« den. Kleine Städte nahmen keinen Anstoß daran, ihren Bedarf an Krieger- und Siegesdenkmälern ohne die Vermittlung der Künstler von Zinkgießereien zu beziehen.«455
Kleinplastik als Wohnausstattung Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen anstelle des figürlichen Rokokoporzellans Kleinplastiken in Mode.456 In dieser Zeit waren wie im Zeitalter der Empfindsamkeit auch sogenannte Zimmerdenkmäler besonders beliebt, die die gleiche Memorialfunktion an Personen oder Ereignisse übernahmen, aber für den Innenraum gedacht waren.457 Sie gelten als Vorläufer der zahlreichen Repliken von Denkmälern in der Kleinplastik späterer Zeit. Bereits 1856 dokumentiert eine Anzeige in der Zeitschrift Dioskuren, wie groß das Interesse an diesen Formen zur Ausschmückung von Zimmern war. Gefertigt in Eisengießereien in Berlin und Gleiwitz, wurden sie zum bevorzugten Schmuck der bürgerlichen Räume. Zum Ende des Jahrhunderts ging das in den Verkaufskatalogen präsentierte Angebot in die Hunderte.458 ›Denkmäler‹ bestimmten nun nicht nur das Stadtbild, sondern auch die heimischen Wohnzimmer. Zu den beliebtesten Motiven gehörten neben Genreszenen459 verkleinerte Nachbildungen bekannter Denkmäler für den König und die Offiziere der Befreiungskriege, aber auch Schriftsteller und Schauspieler.460 Die Produktpalette wurde von den Firmen in Musterzimmern präsentiert.461 Zeitgenossen wie Jakob Falke, Mitarbeiter am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, lehnten diesen monumentalen, historisierenden Einrichtungsstil als bedrückend ab.462 Ebenso kritisch sah es der erste Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, Julius Lessing, 1889, spöttisch äußerte er sich zur Überfülle in den
455 | Rosenberg zit. n.: Maaz, Bd. 1 2010, S. 151. 456 | Vgl. Bischoff 1985, S. 201. 457 | Vgl. Maaz, Bd.1 2010, S. 161. 458 | Vgl. Bischoff 1985, S. 202. 459 | Vgl. Bloch, Kunst 1990, S. 301. »1890 kaufte die WMF die galvanoplastische Kunstanstalt in München auf und eröffnete in Berlin eine Filiale. Der Schwerpunkt der Produktion lag neben Krieger- und Kaiserdenkmälern auf Sepulkralplastik. Die internationale Verbreitung Geislinger Produkte war geradezu erstaunlich: Sogar ein Denkmal des Königs von Thailand wurde dort gegossen, die Friedhofsplastiken lassen sich in weiten Teilen Europas finden.« (Meyer-Woeller 1999, S. 65) 460 | Vgl. Bischoff 1985, S. 201 f. 461 | Vgl. Rupp 1990, S. 346. Ganze Zimmereinrichtungen wiederum wurden auf den Industrie- und Gewerbeausstellungen präsentiert, um so Bedürfnisse bei kaufwilligen Besuchern zu wecken (vgl. Großbölting 2008, S. 412). 462 | Vgl. Mundt 1971, S. 330.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Bürgerräumen, für die Museen – »Weideplätze für Gedankenfaulheit«463 – als Vorbilder dienten.
Technisierte Massenfertigung Durch neue Techniken war für alle künstlerischen Bereiche eine unkomplizierte Massenfertigung zu niedrigem Preis möglich. Für die Plastik wurden neben (Galvano-)Bronze auch günstigere Werkstoffe wie Gips, Zink oder Steinpappe verwendet.464 Durch diese Produktionsbedingungen wurde das Problem, wie das Verhältnis von Kopie und Original zu bewerten sei, virulent, stand doch der Originalitätsanspruch einer völlig anderen Produktionsrealität gegenüber. Durch die massenhafte Reproduktion von Kunstwerken sahen Künstler wie Hersteller »die Gefahr der ästhetischen Abnutzung«465 gegeben. Die Firma WMF legte sich die Selbstbeschränkung auf, es dürfe nicht mehr als ein Exemplar einer Figur aus ihrem Angebot auf einem Friedhof aufgestellt werden.466 »Die Friedhöfe der Gründerjahre, die sich wie alle anderen Bereiche des Lebens dem Einfluß der Industrialisierung nicht entziehen konnten, wurden mit dem Aufkommen serieller Dekoration immer monotoner und mancher Zeitgenosse sprach von kulturellem Verfall der Sepulkralkultur.«467 Der Werkbundler Fritz Schumacher prangerte in seinem Text zu den Grabmälern im Band Im Kampf um die Kunst diesen Zustand an und machte konkrete Reformvorschläge.468 1898 erließ das preußische Kultusministerium ein Verbot, welches die Herstellung von Monumenten aus »minderwertigem Material, wie Galvanobronze usw., sowie die fabrikationsmäßige Ausnützung vorhandener Modelle«469 unterband. Dies entsprach den Wünschen des Kaiserhauses, das schon zuvor per Erlass erwirkt hatte, dass bei der Herstellung von Denkmälern für die Mitglieder des Hauses ausschließlich Originalware verwendet werden sollte.470 In seiner Rede zur Einweihung der Siegesallee thematisiert Kaiser Wilhelm II. diesen Zustand ebenfalls indirekt: »Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden.«471 Auch der Werkbund um Hermann Muthesius lehnte Surrogatmaterialien ab und forderte stattdessen handwerkliche Qualitätsarbeit. Er setzte sich für das qualitätsvol-
463 | Ebd., S. 321. 464 | Vgl. Rupp 1990, S. 337-351. 465 | Lurz 1990, S. 326. 466 | Vgl. ebd. 467 | Meyer-Woeller 1999, S. 64 f. 468 | Vgl. Bandmann 1971, S. 156. 469 | Zit. n.: Lurz 1990, S. 328. 470 | Vgl. ebd., S. 327. 471 | Kaiser Wilhelm II. zit. n.: Bischoff 1985, S. 251.
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le industrielle Standardprodukt ein.472 Industrielle Fertigung sei zwar unumgänglich, aber auf »thörichten Scheinluxus« sollte verzichtet werden, so Lessing.473 Einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion – die auch unter dem Vorzeichen von Tradition und Moderne geführt wurde – lieferte Friedrich Naumann in seinem Text Die Kunst im Zeitalter der Maschine: »Der Künstler arbeitet für etwas sehr Unbestimmtes, geradeso wie der Fabrikant, der seine Muster ausbietet. Man kann diesen Zustand Freiheit nennen, aber freilich nur die Grössten empfinden ihn als solche. […] Sicher ist, dass das Maschinenzeitalter rein quantitativ der Kunst viel zu tun gibt, das allerauffälligste aber leistet es in der Vermehrung der Kunstreproduktionen.«474
Dieser neuen – auch künstlerischen – Produktion galt es, sich zu stellen: »In aller bessern Ware ist irgendwo Seele. […] Bei geringer Produktion ist sie die Herrin und erniedrigt den Menschen zur Sklaverei, auch bei guter Massenware ist sie noch das Massgebende, sie gibt das Tempo an und verlangt nur klug geleitet zu werden, aber je höher der Formwert der Herstellung steigt, desto mehr steigt der schaffende Mensch wieder in die Höhe, und das Ziel ist der Mensch, den die Maschinen umgeben wie willige Tiere, der aber über ihnen steht, ihr Herr und Meister.«475
Er lehnte also die maschinelle Produktion nicht ab, sondern forderte lediglich einen qualitätvollen Umgang mit Maschinen als Bedingung eines »deutschen Volksstils«: »Je mehr wir uns der Qualitätserzeugung zuwenden, desto besser wird es um die Durchschnittshöhe der deutschen Menschen stehen. Hier ist der Punkt, wo Kunst und Handelspolitik und Sozialpolitik sich berühren. […] Die Vorbedingung aller sozialen Fortschritte ist ein noch viel stärkerer Import. […] Was tun wir dann? Dann sind wir entweder ein Volk, dessen Stil und Geschmack sich in der Welt durchgesetzt hat, oder wir hungern mit den Orientalen um die Wette, nur um zu sehen, wer die billigsten Massenartikel aus Fleisch und Blut und Eisen herauspressen kann. […] Und zwar handelt es sich dabei gar nicht bloss um Erziehung von Ingenieuren und Zeichnern, nein, es handelt sich um eine ganze in sich einheitliche Kultur, die sich den andern Völkern einprägt und aufprägt, um deutschen Volksstil im Maschinenzeitalter.«476
472 | Vgl. Bandmann 1971, S. 152 f. Scheffler gehörte auch zu den Personen, die sich positiv über die Arbeitsideale des Deutschen Werkbundes äußerten (vgl. Scheffler 1909, S. 83). 473 | Lessing zit. n.: Klotz 2000, S. 236. 474 | Naumann 1904, S. 113. 475 | Ebd., S. 114. 476 | Ebd. Er wendet sich gegen das ornamental-dekorative der Zeit, wenn er schreibt: »Der neue Eisenbau ist das Grösste, was unsere Zeit künstlerisch erlebt. […] Hier gibt es keinen al-
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Das Material des Bildhauers »Material-Begriffe werden zu Anschauungsnormen.«477
Der Diskurs um Materialien, der auch ein Diskurs der Materialität war,478 war im 19. und frühen 20. Jahrhundert besonders ausgeprägt – und das nicht nur im Bereich der Architektur.479 Eines der vermutlich augenscheinlichsten Beispiele für den Einsatz (neuer) Materialien in der Bildhauerei des 19. Jahrhunderts ist Edgar Degas’ Vierzehnjährige Tänzerin: Sie ist mit realer Tanzkleidung ausgestattet worden und ein Stück ›realer‹ Tanzboden dient ihr als Standfläche – von einem Sockel zu sprechen, erscheint hier fast unangemessen. Durch die Verwendung eines echten Tutus und eines echten Holzbodens bildet Degas’ Tänzerin einen wichtigen Schritt hin zur Moderne. Während die einen ihre »schreckliche Wirklichkeit«480 verurteilten, sah der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans darin eine zukunftsweisende Auffassung von Skulptur, denn: »[…] alle Ideen des Publikums über Bildhauerei, über diese kalten, leblosen, weißen Erscheinungen, über diese denkwürdigen, seit Jahrhunderten wiederholten schablonenmäßigen Werke werden umgestürzt. Tatsache ist, daß Monsieur Degas die Traditionen der Bildhauerkunst umgestoßen hat.«481
Damit lehnt er zum einen die klassi(zisti)sche Skulptur (»weiße Erscheinungen«) ab und greift zum anderen den alten Topos des toten Bildwerkes – zum Beispiel bei Pygmalion – auf, dem Degas’ moderne Auffassung Neues entgegenzusetzen weiß: Die Materialien der realen Welt wurden nun auch zum Material der Kunst, sodass die Grenzen zwischen Kunst und Leben neu ausgelotet wurden: Die Lebenswirklichkeit künstlicher Produkte wurde zur Kunstwirklichkeit. Nur die Verwendung wahrer Materialien könne einer wahren Kunst gerecht werden, so der Tenor. Den Höhepunkt oder Abschluss dieser Überlegungen bildete nachdrücklich Marcel Duchamps Ready made.
ten Zwang, keine Hofkunst, keine Schulweisheit. Hier wird nicht Kunst neben der Konstitution getrieben, keine angeklebte Dekoration, keine blosse Schnörkelei, hier wird für den Zweck geschaffen […].« (Ebd., S. 116) 477 | Barlach zit. n.: Trier 1999, S. 61. 478 | Zur Annäherung an den Begriff der Materialität vgl. das Kapitel 5.5 dieser Arbeit. 479 | 50 Prozent der Quellentexte in dem Band »Materialästhetik« stammen aus dieser Zeit (vgl. Rübel et al. 2005). 480 | Wagner et al. 2010, S. 235. 481 | Huysmans zit. n.: Adriani 1984, S. 82.
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Polychromie In der Bildhauerei schlägt sich das beispielsweise in der Fortführung der Diskussion um die Farbigkeit von Skulptur nieder. Der Einsatz von Farbe wurde besonders bei großformatigen Skulpturen kritisiert, da befürchtet wurde, ein zu großer Naturalismus stifte eine Nähe zum Wachsfigurenkabinett.482 Diese Diskussion führte in Europa immer wieder zu neuen Auseinandersetzungen.483 Theoretisch setzte sich Georg Treu, Leiter der Dresdener Skulpturensammlung, 1884 in seiner Schrift Sollen wir unsere Staturen bemalen auseinander. Dennoch bezeichnet Trier das Thema Farbe und Skulptur als Randproblem. Allenfalls die Außenseiter in der Bildhauerkunst hätten sich damit auseinandergesetzt, so zum Beispiel die sogenannten Maler-Bildhauer wie etwa Klinger.484 Klinger selbst äußerte sich dazu wie folgt: »Und ganz mit Unrecht fürchtet man in dieser farbigen Plastik das Übergreifen des Realismus. […] Wo von der farbigen Erscheinung ausgegangen mit den entsprechenden Materialien gearbeitet wird, da würde […] die Rückkehr zur Einfachheit, zum strengen Festhalten des plastisch Wesentlichen, zum schärfsten Abwägen der Kompositionsteile nur immer notwendiger sich herausstellen und damit würde der Weg zur Stilbildung, d. h. das Ablassen vom Unwesentlichen, von Naturkünstelei sich eröffnen.«485
Polychromie in der Skulptur ist also keineswegs nur ein Aspekt von Farbe, sondern auch von Materialien und der durch ihren Einsatz intendierten Ausdruckswerte.
482 | Vgl. Kähler 1996, S. 216 f. 483 | Vgl. Engelskirchen 2002, S. 91. 484 | Vgl. Trier 1999, S. 145. Zu den Maler-Bildhauern, die farbige Skulpturen schufen, gehören auch expressionistische Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner oder Erich Heckel. Honoré Daumier ist als früher Vertreter des 19. Jahrhunderts zu nennen. Er setzte Farbe bei seinen Karikaturköpfen ein: »Diese Büsten bedeuten den Bruch mit der Tradition des klassizistischen Porträts. Daumier wollte mit seiner scharfen Beobachtungsgabe, für die er gefürchtet war, und mit seinem Talent als unerhört ausdrucksstarker Zeichner und Modelleur die tiefere Wahrheit seiner Modelle an den Tag bringen, und zwar in Bildnissen ohne jedes Zugeständnis, bei denen er weder Übertreibung noch vor dem Gebrauch von Farbe zurückschreckte.« (Le Normand-Romain 2002, S. 883) In der kubistischen oder dadaistischen Skulptur von Pablo Picasso, Henri Laurens oder Max Ernst und Hans Arp erscheint der Einsatz von Farbe wie selbstverständlich und ist damit Ausdruck eines neuen, erweiterten Umgangs mit Materialien. 485 | Klinger 1907, S. 20. Begas und Artur Volkmann tönten ihre Skulpturen nur, vermutlich um deren Plastizität zu unterstreichen. Sie blieben damit dem klassizistischen Dogma treu (vgl. Trier 1999, S. 145). Zu diesem Komplex vgl. grundlegend Türr 1994.
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Modernität und Material Künstler wie Kurt Schwitters, die nach Trier dem Material keine große Bedeutung zumaßen, stellen eine Ausnahme dar und stehen etwa Naum Gabo entgegen, der betonte, dass Materialien in der Plastik eine der wichtigsten Rollen spielen.486 Die Wahl und der Umgang mit den Materialien offenbart künstlerische Weltbilder beziehungsweise – um einen heute weit verbreiteten Begriff zu verwenden – Konzepte. Wie am Beispiel Degas gezeigt wurde, lehnte die Avantgarde Materialien wie Marmor und Bronze ab.487 Hierin zeigte sich zu sehr der Bezug zu historischen – vor allem antiken beziehungsweise klassizistischen – Vorbildern.488 Die Beständigkeit und Kostbarkeit des Materials, so Trier, spiele für die experimentierenden Künstler des Jahrhundertbeginns (etwa Pablo Picasso) keine Rolle.489 Transparenz bildete für Alexander Archipenko einen wichtigen formalen Aspekt auf dem Weg zur modernen Plastik.490 Der Dadaismus forderte in seinem Manifest ausdrücklich die Verwendung neuer Materialien.491 Umberto Boccioni propagierte im Technischen Manifest der futuristischen Plastik die Annäherung an die Wirklichkeit mit allen Mitteln, auch durch die Zerstörung des Noblen, das sich unter anderem in den Materialien Bronze und Marmor ausdrücke.492 Er unterschrieb sein Manifest mit »Umberto Boccioni Maler und Plastiker« und verlieh damit seiner Forderung nach plastischen Materialien – Glas, Holz, Papier, Zement, Beton, Haar, Leder, Textilien, Spiegel, elektrisches Licht etc. – Nachdruck. Kennzeichen der Moderne, die sich als ehrlich geriert und deren Beginn unter diesem Vorzeichen somit bereits auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzudatieren ist, ist das offene Bekenntnis zu modernen Materialien, einhergehend mit der modernen Formensprache der Abstraktion. Demgemäß setzte sich Loos für die Gleichwertigkeit aller Materialien ein, die Ornament unnötig machen würden.493
486 | Trier 1999, S. 61. 487 | Vgl. Raff 1994, S. 104. 488 | Doch auch außerhalb der Avantgarde – wie zuvor schon angeführt – brach man mit der Tradition: Robert Diez wendet sich in seinem Werk Das Waldgeheimnis durch die Wahl der Materialien (gefasstes Holz und Bergkristall) gegen den Werkstoff Marmor und das Monochromiediktat des Spätklassizismus (vgl. Maaz, Bd. 1 2000, S. 80). 489 | Vgl. Trier 1999, S. 72. 490 | Vgl. ebd., S. 99. In der Architektur propagierte etwa Robert Dohme 1888 in Das englische Haus Licht, Luft, und Helligkeit (vgl. Klotz 2000, S. 236). Er forderte damit ebenso ätherische Qualitäten wie Archipenko. 491 | Vgl. Raff 1994, S. 104. 492 | Vgl. Trier 1999, S. 120. 493 | Vgl. Raff 1994, S. 29.
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Stil/Form und Material Stil als Form und Material als Teil von Stil beziehungsweise Form sind auch um 1900 noch eine entscheidende Diskursfigur. Beispielhaft hierfür steht Archipenko, der sich zur Verwendung verschiedener Materialien ab 1912 wie folgt äußerte: »Unter Berufung auf meine Erfahrung kann ich sagen, daß der neue Formstil es ist, der andersartige Werkstoffe fordert, nicht aber umgekehrt die neuen Stoffe den neuen Stil schaffen. Die moderne Kunst ist nicht nur Zusammenstellung einiger angestrichener Leisten, sie ist eine in Stil umgesetzte Leistung von Kräften des Geistes und der Vorstellung. Welche Materialien verwendet werden, ist an sich gleichgültig; Voraussetzung ist, daß das Material dem Stil entspricht.«494
Die Auseinandersetzung mit den Materialien als Werkstoffen der Kunst betrifft grundsätzliche künstlerische Entscheidungen und bestimmt zudem den Produktionsprozess: »Der Bildhauer hat das Recht auf jedes Material, dem er Form geben kann […]. Je mehr plastische Möglichkeit ihm das Material geben kann, desto wertvoller muß es ihm sein […]. Der Wille zur Form kann durch das Material beeinflusst, gehemmt, oder korrigiert, aber auch angereizt und beflügelt werden«495,
so der Bildhauer Karl Albiker. Barlach formulierte 1906: »Die Gedankenwelt des Plastischen ist an die solidesten Begriffe des Materials, des Steins, des Metalls, des Holzes, fester Stoffe gebunden. […] Aus dem Charakter des Steins, der Bronze heraus ist die Formgebung des Bildhauers abzuleiten. Material-Begriffe werden zu Anschauungsnormen.«496
Auch die Materialgerechtigkeit spielte weiterhin eine wichtige Rolle, etwa bei Antoine Bourdelle.497 Material ist Ausdruck von – nicht nur personellem – Stil. Der Stil der Moderne drückt sich vor allem durch das Material aus, so schrieb etwa Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin 1920:
494 | Archipenko zit. n.: Trier 1999, S. 72. 495 | Albiker 1919-1920, S. 172. Bezeichnenderweise verwendet Albiker hier die Formulierung »Wille zur Form« und steht damit ganz im Sprachgebrauch der Zeit von »Wille zur Macht« und »Kunstwollen«. 496 | Barlach zit. n.: Trier 1999, S. 61. 497 | Vgl. Trier 1999, S. 62.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Was 1917 sich in sozialer Hinsicht ereignete, war schon 1914 innerhalb unserer bildenden Kunst verwirklicht, als wir ›Material, Volumen, Konstruktion‹ zum Fundament unserer Arbeit machten. […] Auf diese Weise konnten wir reine, künstlerische Formen mit zweckbestimmten Zielsetzungen kombinieren. […] Das Resultat sind Modelle, die uns zu neuen Erfindungen anregen für unsere Arbeit am Aufbau einer neuen Welt, und die alle Produzenten aufrufen, die Formen, die uns in unserem neuen Alltagsleben umgeben, zu kontrollieren.«498
Materialstil bedeutete aber keineswegs immer nur die Bevorzugung industrieller Materialien: Expressionistische Bildhauer wie Barlach oder Ernst Ludwig Kirchner entschieden sich infolge ihrer formalen Konzepte für Holz und weckten darüber hinaus Assoziationen an das vermeintlich Ursprüngliche, so an das russische Bauernleben oder außereuropäische Stammeskunst. Ihre abstrahierenden Skulpturen sind als Gegenentwurf zu industriellen Lebensformen zu begreifen. Wie individuell diese Konzepte aussehen konnten, zeigt Günter Bandmann bei Barlach: »Ebenso kann man in der Tatsache, daß […] Barlach die gleichen Figuren in Porzellan, Holz oder anderen Stoffen herstellte, einen Widerspruch zu der rigorosen Forderung van de Veldes und anderer sehen, die Form aus dem Material zu entwickeln, […].«499
Ideologie und Material Materialien waren auch politisch,500 wie das Verbot minderwertiger Materialien von 1898 belegt.501 Übertragen auf den Komplex der Materialität zeigt sich in der Unterscheidung von hochwertigen und ›echten‹ sowie (nur) imitierenden Werkstoffen, dass Begriffe wie Imitation, Surrogat, Echtheit, Ehrlichkeit nicht nur im Diskurs der Avantgarde häufig genutzte Vokabeln sind.502 Nachdem Eisen während der Befreiungskriege zum nationalen Werkstoff erklärt worden war, galt es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nun als billiges Industrieprodukt und wurde vom gehobenen Bürgertum als Massenware abgelehnt. Selbst für den ›eisernen Kanzler‹ arbeitete man in Stein (oft Granit) und Bronze.503
498 | Tatlin zit. n.: ebd., S. 36. 499 | Bandmann 1971, S. 141. Hier wie auch bei Hoetger kann eher vermutet werden, dass solche Materialwechsel Folge einer künstlerischen Produktion für den Markt gewesen sind als eine Gegenreaktion auf Henri van de Velde. 500 | In der Sprache der NS-Zeit drückt sich dies in einer bewussten Abwendung vom Begriff Materialität aus. Man verwendet in Ablehnung der materialistischen Theorien den Begriff Werkstoff (vgl. Raff 1994, S. 10). 501 | Vgl. Lurz 1990, S. 327. 502 | Vgl. Rübel et al., S. 9, S. 59, S. 143-193. 503 | Vgl. Raff 1994, S. 58 f.
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Im 19. Jahrhundert herrschte eine wahre Granit-Ideologie, da es als vaterländisches Material galt.504 Julius Langbehn schrieb 1890: »Die Griechen hatten eine Kultur von Marmor, die Deutschen sollten eine solche von Granit haben. Der Granit ist ein nordischer und germanischer Stein.«505 Fast zur Norm wurde ein Sockel aus Granit für Denkmäler.506 Langbehn spricht metaphorisch von Fundament: »[…] auf ihm soll sich nunmehr der volkstümlich-künstlerische Unterbau von geschliffenem Granit erheben.«507 Die völkischen Ausführungen Langbehns in Rembrandt als Erzieher verweisen auch auf andere Materialien: »Das Gold, welches nicht rostet, kann man als ein Sinnbild des Bleibenden: des ewig Menschlichen und das Blut, welches nicht rastet, als ein solches der Persönlichkeit: des besonders Deutschen ansehen; beide zusammen aber ergeben – den deutschen Menschen. […] Blut und Eisen war eine Kriegsbotschaft; Blut und Gold ist eine Friedensbotschaft; die Rüstung des Krieges ist eisern und das Gewand des Friedens ist golden; unter beiden aber muß schlagen – ein Herz.«508
Bei Langbehn wird deutlich, dass die Ideologisierung von Materialien als Teil des Nationalen oder Völkischen oftmals in Kombination mit bestehenden Körper- beziehungsweise Geschlechterkonzepten entspringen konnte. Dietmar Rübel bemerkt in diesem Zusammenhang: »Darüber hinaus wurde mit dem Aufkommen synthetischer, immer leichter zu formender Materialien die polymorphe Fähigkeit der modernen Kunststoffe als Gefahr angesehen. Daher wurde den neuen Werkstoffen nicht nur jeglicher Charakter – also männliche Tugenden – abgesprochen, sondern mit der Diffamierung als ›willfährige Hure‹ verlieh man auch der Furcht den Ausdruck, daß alles Feste flüssig und alles Männliche weiblich werden könnte. Diese radikale Sexualisierung der Materialien seit 1900 stellt zugleich die Krise einer Ordnung und Identität generierenden Männlichkeit dar.«509
Fleisch, Blut und Eisen werden auch von Naumann in einem Atemzug genannt, ebenso fordert er einen neuen deutschen Stil. Dieser Stil erwachse im Maschinenzeitalter aus dem Werkstoff Eisen:
504 | Vgl. ebd., S. 16 und S. 53; das Kapitel Goethe und die Granitsymbolik in ebd., S. 122-125. 505 | Langbehn 1922, S. 277. 506 | Vgl. Raff 1994, S. 76. 507 | Langbehn 1922, S. 277. 508 | Ebd., S. 366. 509 | Rübel et al. 2005, S. 300.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Der Ausgangspunkt des Maschinenzeitalters überhaupt ist die Eisenindustrie. […] Die Eisenindustrie bestimmt das zukünftige Dasein des Deutschtums. […] Unsere Maschinen sind die ersten und tiefest wirkenden Erzeugnisse des neuen deutschen Geistes. […] Der Geist bekommt seine ersten Formen nicht mehr aus Holz und Stein, sondern aus Eisen.«510
Thomas Raff führt an, im 19. Jahrhundert könne jeder Werkstoff durch den Verweis auf seine Herkunft national aufgeladen werden.511 Und so wurde Holz entgegen der Einschätzung Naumanns um 1900 trotzdem zu einem beachteten Werkstoff: Unter dem Aspekt des Nationalen beziehungsweise der Heimatkunst erklärte Heinrich Pudor in seinem Buch Die neue Erziehung, nur die Holzfigur gehöre zu einer deutsch-volkstümlichen Ausdrucksweise.512 Eine wichtige Rolle spielten für den Heimatstil dementsprechend lokale Materialien, etwa wenn es darum ging, trotz französischer Motive das Deutsche eines Baus zu betonen.513
4.2.2 Fallbeispiel: Gerhard Janensch, Der Schmied »Wir schlagen das Alte zusammen / Und schlagen Spinnwebgreuel tot. Wir schmieden, schmieden, schmieden / Und sparen nicht an Stahl und Erz / Wir schmieden und wir härten Das neue deutsche Herz!«514
Zunächst ließ sich Gerhard Janensch in München als Tischler, Schlosser, Schmied und Töpfer ausbilden, um dann ab 1877 an der Berliner Akademie seine künstlerische Ausbildung zu absolvieren. Er gehörte zu den Bildhauern im Kaiserreich, die wie viele andere auch vielfältige Aufgaben ausführten: Er schuf religiöse Skulpturen (etwa für den Berliner Dom oder die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche), Brückenfiguren
510 | Naumann 1904, S. 115. 511 | Vgl. Raff 1994, S. 77. Interessanterweise gibt es innerhalb der Lithostratigrafie die Kategorie der germanischen Trias. Das System wurde 1834 durch Friedrich von Alberti begründet. Er orientierte sich dabei an der typischen Dreigliederung der Ablagerungen (Buntsandstein, Muschelkalk und Keuper) in Mittel- und Süddeutschland. Es ist das einzige erdgeschichtliche System, das in Deutschland aufgestellt wurde (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Germanische_Trias vom 04.04.2018). Die Wortwahl »germanische Trias« mag Zufall sein, bestärkt aber einmal mehr den Eindruck nationaler Überformung von Naturstoffen durch sprachliche Zuschreibungen. 512 | Vgl. Hamann und Hermand 1967, S. 394. 513 | Vgl. Wiener, Haus 2014, S. 41. 514 | Lienhard zit. n.: Parr 1992, S. 186 f.
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(etwa 1895 die Figur eines Bootsbauers für die Oberbaumbrücke515 oder die Sitzfigur Gauß’ auf der Potsdamer Brücke) oder Porträts (etwa seiner drei Kinder).516 »Der umfangreichste Part des Oeuvres war allerdings in Kleinplastik, Porträtplastik, Grabplastik und in der Dekorationsplastik angesiedelt. Die Firma Gladenbeck führte diverse, auch stilistisch einzuordnende Kaiser Wilhelm II.-Büsten von der Hand Janenschs in ihrem Angebot. Lauchhammer vertrieb Genrestatuetten mit Motiven aus dem Handwerk, wie Mann am Martinofen, Eisengießer, Mann am Walzwerk etc.«517
Der Vertrieb dieser Handwerkerfiguren in Form sogenannter Ladenbronzen hing vor allem mit dem Erfolg eines Werkes zusammen: Als Janensch auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1897 das überlebensgroße Modell eines Schmiedes zeigte, ließ der Spiralbohrerfabrikant Robert Stock einen Bronzeguss anfertigen.518 Stock wurde zum Förderer Janenschs und kaufte auch ein Exemplar von Bacchant mit Panther.519 Es war sein erstes bedeutenderes Werk, dem er ein Rom-Stipendium verdankte.520 Es ist davon auszugehen, dass Stock selbst dafür sorgte, den Schmied als Schmuck für sein Grab zu verwenden. Diese Plastik – ehemals ohne konkreten Anlass als Modell geschaffen, nun in ihrer Funktion eine Mischung aus Grab- und Denkmal – stellt einen Schmied in breitbeiniger Pose dar,521 der den linken Unterarm zur Stirn geführt hat, während sich der Kopf dabei zur Seite neigt. Die rechte Hand hält den auf der Erde abgesetzten Hammer. Hinter dem Schmied wurde der Amboss platziert. Er trägt als Zeichen seiner Berufskleidung Schürze und grobe Schuhe. Die Figur steht auf einem Sockel in Form einer Glocke, die vorne und hinten mit einer Kartusche verziert wurde. Vorne liest man Verse aus Friedrich Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke: »Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis«522. Und: »Von der Stirne heiß rinnen
515 | Vgl. Einholz, Janensch 1990, S. 133. 516 | Vgl. Bloch 1978, S. 267 und S. 120. 517 | Einholz, Janensch 1990, S. 133. 518 | Vgl. Türk 2009, S. 196. Einholz vermutet, dass der Schmied von Stock in Auftrag gegeben wurde (vgl. Einholz, Janensch 1990, S. 134). 519 | Vgl. ebd., S. 133. 520 | Vgl. Bloch 1978, S. 272. 521 | Eine ähnliche Pose hat auch Constantin Meunier für seinen berühmten Hammerschmied gewählt, nur dass seine Figur weniger Körperspannung aufweist, was bei Janensch aus der Handlung des Schweißabwischens resultiert. 522 | Schillers Vers war auf zahlreichen Industrieausstellungen (beispielsweise in Hannover, Düsseldorf oder Berlin) zu lesen (vgl. Großbölting 2008, S. 333).
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Abbildung 40: Janensch, Gerhard, Schmied, Grab Robert Stock, Berlin, 1897
Quelle: Türk 2009, S. 196
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Abbildung 41: Hammerschmidt, Joseph, Schmied mit Knabe, Moltke-Denkmal, Düsseldorf, 1901
© Kürschner
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muss der Schweiß, will das Werk den Meister loben.«523 Folgerichtig formuliert Kähler für das Werk: »Gerhard Janenschs Der Schmied (Bronze 1897) ist zwar realistische Arbeiterdarstellung, beinhaltet aber den literarischen Bezug zu Schillers Glocke.«524 Die Plastik von Janensch ist so offen angelegt, dass sie Identifikationsmöglichkeiten verschiedener Art bot: ein Lob der Arbeit, das Arbeit, Arbeiter und/oder Arbeitgeber preist. Das Werk kann aber auch ›nur‹ als Versinnbildlichung des (literarischen) Stoffes von Schiller gelesen werden. Hierfür bietet Janensch gleich mehrere Ansatzpunkte: durch die Glocke als Sockel, die Inschriften und die Pose des Schweißabwischens, die zwar bei einem real arbeitenden Schmied vorkommen mag, aber in Verbindung mit genau jenem Vers als Illustration des Geschriebenen erscheint. Damit entsprach das Werk ganz dem Bedürfnis bürgerlicher Selbstrepräsentation durch Geistesheroen wie Schiller. Kleidung und Werkzeug können dann als ›realistische‹ Kürzel zur Ausmalung des Narrativen gelesen werden. Der Schmied wurde gerade im 19. Jahrhundert zu einer symbolischen Gestalt: »Der Schmied bietet sich hier an, da in ihm Kraft, Größe, Macht und Kampfgeist repräsentierbar sind, immerhin fungiert er ja seit den alten Mythologien als Waffenproduzent.«525 Klaus Türk weiter: »Wenn auch teilweise immer noch Reminiszenzen an ältere Vorbilder anklingen […], so wird doch der Schmied – gleichsam der Nachfolger Vulkans, oder nun vermehrt in Deutschland: Wielands – ins Zentrum gerückt […]. Der Schmied erhält einen eigenen emblematischen Ausdruck, er wird zum Symbol männlicher Tatkraft und Produktivität […]. Kraft, körperliches Selbstbewusstsein, Wehrhaftigkeit (nun vermehrt) und Würde sind mit dieser Figur verbundene Konnotationen.«526
Rolf Parr führt dies weiter aus: »Wichtiger Bildbereich innerhalb des Technik-Paradigmas ist dabei der des ›Schmiedens‹. Denn der Rekurs auf frühindustrielle Praktiken ermöglicht die Integration des gesamten Komplexes der ›Schmiede‹-, ›Schmelz‹- ›Eisen‹- und thermodynamischen Symboliken mit dem Paradigma des ›deutschen Gemüts‹, und zwar vor allem dann, wenn die Schmiede- und Eisensymbole nicht
523 | Nach Einholz steht der Vers Schillers vorne, eingerahmt durch Disteln und Rosen. Hinten befindet sich die Darstellung eines Paares in der Landschaft, dem ein Genius auf der Geige vorspielt. Dass die Glocke als Sockel vorne und hinten mit Kartuschen versehen wurde, ist nach Einholz ein Hinweis auf die geplante Mehransichtigkeit (vgl. Einholz, Janensch 1990, S. 135). 524 | Kähler 1996, S. 34. 525 | Türk 2000, S. 80. 526 | Ebd., S. 78 f. Die Schmiedeskulptur dient auch als Reminiszenz an vergangene Zeiten. Sie ist Sinnbild handwerklicher Fähigkeit vorindustrieller Zeiten (vgl. Türk 2009, S. 180).
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»Arbeitende Bilder« nur als repräsentative Elemente technischer Praxis eingebracht werden, sondern – via Applikation aus dem Nibelungenlied – zugleich als repräsentative Elemente des deutsch-romantisch-idealistischen Paradigmas und damit des literarischen Interdiskurses erscheinen können.«527
Der Schmied wurde im Kaiserreich zu einem eigenen Topos. Das zeigt sich beispielsweise im eingangs zitierten Gedicht Schmiedewerk von Friedrich Lienhard. Der Schmied wurde über Anleihen aus literarischen Stoffen zur (völkischen) Erlöserfigur stilisiert, wie einmal mehr bei Langbehn besonders deutlich wird: »Das Schmieden ist ein spezifisch deutsches Handwerk; Siegfried war ein Schmied, ehe er ein Held wurde; und der ist der beste Held, welcher seine Waffen selber schmiedet. Auch der ›heimliche Kaiser‹, wenn er kommen sollte, wird etwas von dieser Eigenschaft an sich haben müssen. Das Feuer seines Geistes wird die alten Volksanschauungen zerschmelzen und die Kraft seines Arms wird sie zu neuen, und darum doch alten, streit- wie sieghaften Anschauungen umformen müssen.«528
Damit konnten auch reale Figuren wie Otto von Bismarck 529 als ›Schmied des deutschen Reiches‹ angesprochen sein.530 Wilhelm von Pechmann, Direktor der Bayerischen Handelsbank in München, bezeichnete ihn als denjenigen, der die Kette geschmiedet habe, um die auseinanderstrebenden deutschen Stämme zu umschlingen.531 Und so klingt es bei dem Theologen Otto Pfleiderer 1898 in einer Rede für eine Bismarckgedenkfeier:532 »›Wohl uns, daß zu rechter Zeit ein Mann uns geschenkt ward, der nicht aus eigener Willkür, sondern im Dienste seines Königs den alten Bau abbrach, um einen neuen und besseren an die
527 | Parr 1992, S. 193. 528 | Langbehn 1922, S. 355 f. 529 | Es gibt auch Malereien und Skulpturen, die Bismarck als Schmied in typischer Arbeitskleidung sowie mit Amboss und Hammer (Deutschen Historischen Museum) oder auch mit Zahnrad (Stadtmuseum Berlin) zeigen (vgl. Türk 2000, S. 80). 530 | Vgl. Parr 1992, S. 71 f. 531 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 59. 532 | Beispielsweise bemühte Scheffler das Bild von Schillers Glocke: »Und welche Summe niederer Erwerbsinstinkte steht doch der wahren merkantilischen Kulturarbeit gegenüber! […] Man hat die Sorgen der Arbeit und nicht ihre Wonnen. Schillers Glocke läutet nur ganz selten einmal so, daß das ganze Volk es hört. Und doch ist in diesem Volk die Arbeitsidealität nur fehlgeleitet und unterdrückt, nicht aber verschwunden.« (Scheffler 1909, S. 85 f.)
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Abbildung 42: Burger, Carl, Wehrhafter Schmied, Aachen, 1908
© Carolus Ludovicus
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»Arbeitende Bilder« Stelle zu setzen! Da erfüllte sich das Seherwort des Dichters: ›Der Meister kann die Form zerbrechen mit weiser Hand zu rechter Zeit […].‹«533
Der Schmied wurde in nahezu allen Gattungen dargestellt.534 In der Skulptur diente er den unterschiedlichsten Aufgaben: Auf Friedhöfen findet man ihn nicht nur auf dem Grab von Stock, 535 auch im Bereich der Bauskulptur war er Teil des Bildprogramms. Er konnte Assistenzfigur an sogenannten Nationaldenkmälern oder Hauptfigur bei Brunnenanlagen und Denkmälern sein (beispielsweise als Waffenschmied der Klingenstadt Solingen von Wilhelm Albermann536 oder als wehrhafter Schmied in Aachen von Carl Burger). Für diese Aufgaben wurde bevorzugt der nicht arbeitende, 537 unbewegte Schmied gewählt. Der Schmied als statische Figur in Arbeitskleidung und mit Werkzeugen als Attribut findet sich in der Kleinplastik bei Albert Küppers oder bei der auch als Statuette ausgeführten Version von Albermanns Solinger Schmied. Der ›arbeitende‹ Schmied (etwa von Julius Schmidt-Felling oder Hans Keck) kommt deutlich seltener vor.538 Janenschs Schmied bildet ein Zwischenmoment und wurde vielleicht gerade deswegen so geschätzt. Die Körperhaltung ist vergleichbar mit Werken von Paul Ludwig Kowalczewski, das attributive Beiwerk (Werkzeug und Kleidung) mit Werken von Keck. Durch die Armhaltung schafft Janensch ein erzählerisches Motiv, und so könnte die Geschichte um die Plastik lauten: Ein schwer arbeitender Schmied wischt sich in einem Moment der Ruhe den Schweiß von der Stirn. Der Schmied bildete oftmals auch das ›Vorbild‹ für die Personifikation der Industrie.539 Als Attribute trägt die Industrie – obwohl oft männlich – fast immer Zahnrad
533 | Pfleiderer zit. n.: Parr 1992, S. 74. 534 | In der Malerei bot dieses Thema Anlass für ein in der Kunstgeschichte von jeher beliebtes Motiv: die Darstellung von Feuer. Damit waren malerische Hell-Dunkel-Effekte verbunden, die Ausdruck des Atmosphärischen sein konnten. Menzels Walzwerk ist hierfür ein gutes Beispiel. 535 | Zu nennen sind die Gräber der Familie Schoeller in Düren und Lanz in Mannheim. 536 | Albermanns Schmied (Solinger Brunnen) wurde bald nach Entstehung auch als Ladenbronze in drei verschieden Größen angeboten (vgl. Schmidt 2001, S. 135). Gladenbeck bot eine Statuette von Albermann an, die als Personifikation des Kunstgewerbes sowohl mit Hemd und Schürze wie ein Handwerker als auch mit Barett und Schnallenschuhen wie ein Künstler ausgestattet war. Ihr Vorbild war vermutlich die Steinfigur an der Kunstgewerbeschule in Köln (vgl. ebd., S. 194). 537 | Ausnahmen sind die Schmiede am Bismarck-Denkmal in Berlin, das Denkmal für die Vorkämpfer der deutschen Einheit sowie der Eisengießer am Dortmunder Brunnen. 538 | Der sitzende Schmiedelehrling mit Hammer von Jäger ist ein eher ungewöhnliches Beispiel (vgl. die Abbildung bei Türk 2009, S. 221). 539 | Zu den weiblichen Pendants gehören die Kleinplastik mit Hammer und Zahnrad von Peter Breuers und die Assistenzfigur am Bismarck-Denkmal in Düsseldorf von August Bauer. Wobei
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Abbildung 43: Götze, Martin, Triumph der Arbeit, um 1910
Quelle: Türk 2009, S. 51
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und Hammer540 bei sich, der kräftige Körper wird des Öfteren fast nackt gezeigt.541 Er oder sie ist durch das Werkzeug (Hammer) und ein Produkt handwerklicher Arbeit (Zahnrad) als Schmied gekennzeichnet, wobei der Verweis auf die moderne Produktionsform der Industrieschmiede keineswegs im Vordergrund steht: »Die von 1871 bis 1918 dauernde Epoche des zweiten deutschen Kaiserreichs war eine letzte, sehr produktive Blütezeit der Allegorie […]. Allegorische Darstellungen unterschiedlicher Kunstgattungen waren im städtischen Leben dieser Zeit ein häufig wiederkehrender Bestandteil der Alltagsästhetik. Man begegnet(e) ihnen als plastische oder gemalte Ausschmückung von Bauwerken, als Denkmal, als Zeitungsreklame, Warenzeichen, Plakat, Buschschmuck, auf Briefköpfen, Banknoten, Aktien und in weiteren Formen der Alltags- und Gebrauchskunst.«542
Die Verwendung von Allegorien war im Kaiserreich so beliebt, dass sie immer wieder Anlass boten, sie auch theoretisch zu befragen.543 Der Archäologe Hugo Blümner
letztere keine ›klassische‹ Schmiedin darstellt, da neben dem Hammer auch ein Anker als Attribut verwendet wurde. Der Anker ist nach Meurer sowohl ein Symbol der Treue als auch ein Verweis auf die Flotte und den Seehandel des Reiches (vgl. Meurer 2014, S. 42). Am Eingang der Berliner Victoria-Versicherung hat die Figur Commercium ebenfalls einen Anker bei sich. Meurer verweist auf ein weiteres Beispiel einer Industrie aus Zinkguss mit Hammer und Amboss, die vermutlich von der AEG als Weihnachtsgabe für Kunden und höhere Angestellte verschenkt wurde (vgl. ebd., S. 47). Diese Praxis des Schenkens war weit verbreitet, etwa zu Jubiläen (vgl. Hüfler, Albermann 1984, S. 47). Als weitere Ehrengeschenke sind zu nennen: ein herkulischer Baumfäller in Bronze von Theodor von Gosen für einen Holzindustriellen oder Zeitgeist und Staatsschiff von Voltz zum 70. Geburtstag Großherzogs Friedrich I. von Baden. Die Familie Krupp ließ nach dem Tod von Alfred Krupp beim Bildhauer Otto Lang eine größere Zahl Bronzestatuetten von demselben anfertigen, die zu passenden Anlässen verschenkt wurden (vgl. Köhne-Lindenlaub 1982, S. 58 f.). Die Industria ist bereits Teil des Iconologia Cesare Ripas. In Deutschland gab es – in Anlehnung an den französischen Begriff »industrie« für ›betriebsam‹ – auch vor der eigentlichen Industrialisierung Darstellungen der Industria (vgl. Meurer 2014, S. 33). 540 | Diese Attribute sind typisch für Darstellungen aus der Zeit der Industrialisierung (vgl. Meurer 2014, S. 36). Der Hammer wird zum symbolischen Kürzel – beispielsweise auf dem Plakat der Berliner Gewerbeausstellung von 1896, wo er in einer männlichen Hand zum Denkmal avanciert. 541 | Zu nennen sind die Figuren am Düsseldorfer Regierungsgebäude, am Industriebrunnen in Düsseldorf und am Jahrhundertbrunnen in Essen. Beim Mülheimia-Brunnen von Albermann wurde die Industrie mit Zahnrad und Drahtspule von einem Knaben verkörpert (vgl. Schmidt 2001, S. 115 f.). 542 | Meurer 2014, S. 9. 543 | Eine theoretische Auseinandersetzung erfolgte lange Zeit vorher bei namhaften Autoren wie Johann Joachim Winckelmann, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Wilhelm Joseph
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Abbildung 44: Müller-Crefeld, Adolf, Die Arbeit, um 1910
Quelle: Türk 2009, S. 58
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etwa stand dieser Ausdrucksform kritisch gegenüber und verlangte – die künstlerische Praxis seiner Zeit dennoch anerkennend – leicht verständliche Formen, in denen Figuren nicht als Handelnde auftreten. Diese Einfachheit forderte auch Jacob Burckhardt, da zu viele Motive den Betrachter ermüden würden.544 Der Theologe D.W. Bornemann sah die allegorische Kunst als Ausdruck einer Zeit, die dort auftaucht, »[…] wo das künstlerische Interesse lebhaft angeregt, aber der Sinn für Geschichte und Wirklichkeit nicht ebenso entwickelt ist, oder dort, wo man bei wachsendem Abstraktionsvermögen doch die sinnfällige Vermittlung nicht missen mag, oder dort, wo bei dem Mangel an grossen Stoffen und bedeutungsvollen Gedanken der Gestaltungstrieb die Schwierigkeiten der Form mit Vorliebe aufsucht […].«545
Zu visuell oder dem Titel nach eindeutigen Allegorien – was aus heutiger Sicht allegorisch anmutet, kann zu jener Zeit als ›naturalistische‹ Darstellung gedacht worden sein – im Medium Kleinplastik gehören zum Beispiel Martin Götzes Ruhm der Arbeit, 546 die Arbeit von Adolf Müller-Crefeld, 547 Schmied mit Zahnrad von Franz Iffland und Constatin Höland sowie Schmied mit Amboss und Zahnrad von Kowalczewski.548 Die Schmiede werden durch ihre Attribute als Personifikationen kenntlich gemacht. Vor allem das Zahnrad verweist auf die allegorische Bedeutung, weil es im Gegensatz zu Hammer und Amboss dem Arbeitskontext des Schmiedes ferner ist. Das gilt zumal, wenn es wie beim Essener Bismarck-Denkmal im Verhältnis zum Körper des
Schelling usf. Es ging um die Unterscheidung von Allegorie und Symbol: Erstere wurde abgewertet, weil das Symbol eine natürlich gegebene Verbindung von Bedeutung und Form war: »Das Symbol bezeichne nichts – im Unterschied zur Allegorie, die als Form der Bezeichnung expliziert und deshalb verworfen wird.« (Wenk 1996, S. 18) 544 | Vgl. Meurer 2014, S. 19-22. 545 | Bornemann zit. n.: ebd., S. 23. 546 | Götze hat viele weitere Statuetten mit Titeln wie Traumverloren, Frieden auf Erden, In Gedanken, Kind mit Jagdhund oder Arbeit krönt und Triumph der Arbeit geschaffen. Es handelt sich dabei jeweils um Figurengruppen mit einem Schmied und der weiblichen Personifikation des Sieges. 547 | Auch der Eisenbieger von Müller-Crefeld wird dem allegorischen Bereich zugeordnet (vgl. Türk 2009, S. 58). 548 | Vorformen von Darstellungen der Arbeit in Statuetten sind etwa die Werke Heinrich Kaehlers und Jacob Daniel Burgschmiets. Beide zeigen die Bildhauer Schadow und Burgschmiet im Selbstporträt mit Arbeitswerkzeugen. Burgschmiet wird sogar mit Schürze gezeigt, da er auch als Gießer tätig war (vgl. Maaz, Bd.1 2010, S. 176 f.). Es sind Formen der Repräsentation über den Beruf. Auch Werke von Hildebrand (Trinkender Knabe) gab es als Bonzestatuetten (vgl. ebd., S. 186).
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Abbildung 45: Gaudez, Adrien E., Schmied, o.D.
Quelle: Türk 2009, S. 182
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Abbildung 46: Iffland, Franz, Schmied mit Zahnrad, um 1895
Quelle: Türk 2009, S. 62
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Schmiedes überdimensioniert gestaltet ist. In diesem äußerst beliebten Motiv, das noch in Charlie Chaplins Modern Times das Emblem der Moderne ist, kommen verschiedene Komponenten zusammen: 1) Es ist Teil einer unsichtbaren Maschinenwelt, die der Mensch nicht mehr begreifen kann, aber dennoch zu beherrschen glaubt – Stichwort Webers »Entzauberung der Welt.« 2) Es ist Ausdruck von maschineller, traditioneller und industrieller Präzisionsarbeit. 3) Und es ist ähnlich wie die Uhr, die ja auch Zahnräder enthält, Sinnbild eines zeitlich getakteten Gefüges, das bestimmt wird durch Arbeit: Es ist das Rad der Welt. Des Weiteren verweisen die idealen, fast nackten Körper in heroischen Posen – stark ausgeprägter Kontrapost mit durchgedrücktem Rücken 549 – auf ihre Funktion als Allegorie. Sie können in dieser Gestaltung auch zu Verkörperungen politischer Ideale werden: »Es ist das erste Mal, dass wir auf ›Helden der Arbeit‹ treffen«550 , erklärt Türk. Dementsprechend wurde die Ikonografie des Schmieds nicht nur für Kleinplastiken zu einem beliebten allegorischen und damit abstrakten Motiv, das die negativen Seiten realer Arbeitsbedingungen ausblendete.551 Ebenso kann man feststellen, dass sich um 1900 zu den Kleinplastiken an öffentlichen Plätzen vielerorts Schmiedeplastiken gesellten.552 Sie reihten sich dann wiederum in das Repertoire beliebter Ladenbronzen ein. »Die meisten Elfenbeinstatuetten, die man in den quartären Schichten gefunden hat, sind Darstellungen nackter Weiber«553, so Konrad von Lange 1901. Dies änderte sich trotz der ebenfalls beliebten Schmiede-Darstellungen in diesem Kleinformat nicht: Für die vier Bände von Harold Berman zu kommerziellen Bronzen der Zeit von 1800 bis 1930 sichtete der Autor tausende Beispiele, die er in einer Auswahl auch fotografisch dokumentierte. Anhand seiner Recherchen formuliert Berman: »The do-
549 | Die Darstellung von Franz Iffland fällt hier heraus: Gezeigt wird ein älterer Mann mit Arbeitskleidung. Auch er hält ein übergroßes Zahnrad in der Hand, Hammer und Amboss stehen zu seinen Füßen (vgl. die Abbildung bei Türk 2009, S. 62). 550 | Türk und Grohmann 2003, S. 54. 551 | Schmiedeplastiken dieser Art waren vor allem in Frankreich und Deutschland beliebt. Sie wurden in einer großen Auflage produziert. Mehrere Beispiele gibt es von Adrien E. Gaudez (darunter auch die Figur eines Schmiedes aus dem 16. Jahrhundert) und Émile Louis Picault (vgl. ebd., S. 54 f.). Beide Künstler schufen weitere Darstellungen von Arbeit im Format der Kleinplastik, etwa Metallurgie oder Vulkan (Picault) oder Handwerker bei der Arbeit (Gaudez) (vgl. ebd., S. 54, S. 56, S. 350). Der Sammlungskatalog Mens en Werk des Gemeentemuseum Helmond zeigt Beispiele aus Frankreich und Belgien (vgl. Hogervorst 1990). 552 | Vgl. Türk 2009, S. 180. 553 | Lange, Bd. 2 1901, S. 193.
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minant characteristic of this period was realism-lifelike beauty of face and figure.«554 An anderer Stelle heißt es: »Nine works […] depict the noble worker in a peaceful, natural manner, posed with the tools of his trade. We find these laborers and the fishermen/farmers […] highly refreshing subjects – more so, because of the many battle related and/or idealistic representations of humanity that prevail in the field of art/sculpture.«555
Diese neun Beispiele sind einer Masse von rund 1.000 Kleinplastiken entgegenzustellen. Darunter sind Kinder (manchmal mit Mutter, aber nie mit Vater), Einzelfiguren (Sitzende, Betende oder auch mal ein Fischer, ein Bettler mit Hund, Bauern und Bäuerinnen), bewegliche Bronzen, wo Frauen (nie Männer) entkleidet werden, Küssende, Sklavenauktionen, Indianer, Cowboys, küssende Russen, Reiter, Napoleon, Judith, Jeanne d’Arc, Römer, Gallier, Hl. Georg, weibliche Personifikationen der Gerechtigkeit, der Wahrheit, von Tag und Nacht oder des Hörens, Elfen, Taucherinnen, starker Mann, Clowns, Erotisches unter dem Titel Kardiologe oder Unerwarteter Kuss, Büsten pubertierender Mädchen, Büsten berühmter Männer, Violinisten, nahezu nackte Personifikationen des Gesangs, Dudelsackspieler und weitere Musiker, bacchantische Szenen, Amor, Diana, Satyr, Mephisto, Allegorien der Arbeit, sich enthüllende Frauen, Falkner, Hermes, Soldaten, Affen, Fischerjungen, türkische Tänzer, Athleten, Ritter, griechische Philosophen, Büsten von Frauen mit Namen Ruth oder Muriel, Lampen mit weiblichen halbnackten Figuren, Schlangentänzerinnen oder weitere exotische Tänzerinnen, nackte pubertierende Mädchen,556 nackte stehende Frauen, Skifahrerinnen, Frauen, die paarweise Tanzen (auch vollkommen nackt), Frau mit Katze, nacktes Mädchen mit Spiegel, Hula-Hoop-Tänzerin, nackte Frau mit Fächer, nackte Venus, Toreros, Diana und Venus als aufeinander Lagernde, Personifikationen der Wissenschaft, Halali, nackter Mann mit Biest, Hühnerfütterin, Haremsdame, Amphitrite usf.557 – um hier nur einige der in diesem Band angeführten Beispiele zu benennen. Kleinplastiken dieser Art sollten vor allem den Wohnraum schmücken:
554 | Berman 1974, S. 9. 555 | Berman 1976, S. 376. 556 | Maaz merkt zur Statuette Erwacht von Gustav Eberlein an: »Das brust- und vulvalose Mädchen reckt sich gleichwohl mit fraulicher Geste, ist im erotischen Sinne noch unerweckt und unerwacht, bedient die erotischen Intentionen eines Käuferkreises, das hiermit nicht so sehr formale Ansprüche als vielmehr pädophile Untertöne und androgyne Indifferenz zu befriedigen scheint. Viel zu wenig weiß man darüber, wer welche derartigen Kunstwerke wann und wo kaufte und wie man sie aufstellte oder verbarg.« (Maaz, Bd. 1 2010, S. 190) Ähnliches gilt wohl für das Werk Erblüht von Otto Petri. 557 | Vgl. Berman 1976.
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Abbildung 47: Eberlein, Gustav, Erwacht, 1903
Quelle: Maaz, Bd.1 2010, S. 190
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»Arbeitende Bilder« »Einfach als ›schön‹ gedacht, mit etwas historischem Ideengehalt beladen, oder heiteres Genre sollten Frauenfiguren, Ritter, fröhliche Zecher, Fischerknaben die bürgerliche Welt bereichern, den Geist unterhalten und das Gemüt anrühren. Dabei läßt sich keine scharfe Grenze zu dem ziehen, was man damals Idealplastik nannte: konzeptionell anspruchsvoller gemeinte und großformatige Arbeiten, die an Kunstsammler bzw. Leute mit wirklich großen Zimmern, Vestibülen, Treppenhäusern und Gärten adressiert waren, bzw. nach der öffentlichen Aufstellung im Park oder Museum drängten.«558
Auch Bloch konstatiert die Dominanz des Genres für diese Plastiken: »Das idyllische Genre ist ein in besonderer Weise am Geschmack einer breiten Käuferschicht orientiert – eine heile Welt naiver und glücklicher Menschen in bürgerlichem oder ländlichem Rahmen: […]. Der Verkaufskatalog der Gladenbeckschen ›Ladenbronzen‹ (um 1910) breitet die ganze Palette speziell dieses Typus aus.«559
In der Malerei entspricht dies den trivialen Darstellungen in Ölbildern, meist Öldrucken (etwa der berühmte röhrende Hirsch oder religiöse Szenen wie Kind mit Schutzengel), die zum Großteil um 1900 gemalt wurden, deren Vorläufer aber schon in Bildserien aus der Zeit um 1860 existierten.560 Der Wille zur Ausstattung bürgerlicher Wohnhäuser war in dieser Form auch Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert: Rivalisierende Bürgerschichten orientierten sich am Habitus früherer Feudalkreise und wurden durch die technisierten Produktionsmöglichkeiten im Sektor Kunst bestärkt.561 Der Schmied bei Janensch und anderen Bildhauern ist eine allegorische Genreskulptur – und nicht etwa naturalistisches oder gar realistisches Berufsporträt – wie die vielen nackten Frauen. Deshalb konnte er zum Sammelobjekt avancieren.562 Walther Gensel charakterisierte am Beispiel Constantin Meuniers diese Form der Sammelaktivität bereits 1905 als eine »Mode« unter »Snobs«:
558 | Feist 1987, S. 325. Maaz erläutert, »die Normen mythologischer Kleinplastik« habe den Boden für »die romantisch-biedermeierliche Epoche, die keiner mythologischen Sujets mehr bedurfte, sondern sich ganz der irdischen Daseinsbeschreibung widmete« vorbereitet (Maaz, Bd. 1 2010, S. 28). Er nennt Ridolfo Schadows Sandalenbinderin von 1813, die auf die Ausdrucksfiguren, etwa von Hildebrand und später von Lehmbruck, des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorausweist (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 28). 559 | Bloch, Kunst 1990, S. 301. 560 | Vgl. Nutz 1975, S. 19-25. 561 | Vgl. Beeh 1976, S. 104. 562 | Der Hanauer Juwelier Carl Michel entwarf in den 1860ern Schmuck, für den Formen von Schrauben, Muttern oder Zahnrädern verwendeten wurden (vgl. Klotz 2000, S. 76). Die Allegorie
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Abbildung 48: Janensch, Gerhard, Mann am Martinofen, 1916
Quelle: Türk 2009, S. 229
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»Arbeitende Bilder« »Weitaus die meisten von Meuniers Werken sind Figuren von 50 oder 60 Zentimeter Höhe. Aber sie tragen durchaus nichts von dem Niedlichen an sich, das man gewöhnlich mit dem Namen Statuetten verknüpft, sondern einen so monumentalen Zug wie nicht eben viele Werke. Das bringt allerdings insofern einen gewissen Mißstand mit sich, als nur wenige Liebhaber sich entschließen werden, diese Werke, die so wenig im banalen Sinne Erfreuliches, sondern beinah etwas Beunruhigendes haben, in ihre Zimmer zu stellen (eine kurze Zeit war es allerdings bei unsern Snobs Mode, dies zu tun).«563
Künstlerische Wirklichkeit von Material und Produktion – zusammenfassende Betrachtung Gensel macht in seiner Bemerkung zu den Kleinplastiken von Meunier auf einen Widerspruch aufmerksam, der die gesamte Skulptur zum Thema Arbeit betrifft: die Frage nach dem Realismus auf der einen und der Produktionswirklichkeit von Kunst auf der anderen Seite. Gattung, Gestaltung und Ikonografie als sozialkritische Einheit zu denken, bleibt nahezu unerfüllt: Es gab kein öffentlichkeitswirksames Denkmal für den Arbeiter – oder gar die Arbeiterin – als den Ausgebeuteten in einer wegweisenden Formensprache. Das Fallbeispiel Janensch dokumentiert diesen Zustand: Dieser wird von Bloch der Gruppe der neobarocken Bildhauer zugeordnet.564 Einholz differenziert diese Zuordnung: »Fast das gesamte Oeuvre ist geprägt von der Auffassung eines nüchternen Realismus mit nur leichten Anklängen an malerische neubarocke Tendenzen. Ein Überwinden des Erlernten durch Hinwendung zu den seine Generationskollegen faszinierenden modernen Tendenzen fand im Oeuvre Janenschs nach 1900 nur ansatzweise statt.«565
Janensch war demnach kein Avantgardekünstler, was seinen Stil betraf, und auch keine herausstechende Figur, was Ikonografie und die von ihm bedienten Aufgaben anging. Er war in seiner Art, wie er das Thema Arbeit anging, 566 ein typischer Vertreter seiner Zeit, wenn er etwa Arbeiterfiguren durch den Kontext literarischer Stoffe allegorisch erscheinen lässt.
der Industrie konnte auch für einen Tafelaufsatz dienen. Einen solchen ließ sich ein Kölner Fabrikantenehepaar zur Silberhochzeit nach den Entwürfen von Johann Baptist Schreiner anfertigen. Er zeigt sieben Figuren, darunter Collonia, aber auch Arbeiter und Arbeiterinnen sowie eine Weberin (vgl. Meurer 2014, S. 42 f.). 563 | Gensel 1905, S. 44 f. 564 | Vgl. Bloch 1978, S. 173. 565 | Einholz, Janensch 1990, S. 133. 566 | Janensch schuf noch einige weitere Beispiele wie Eisengießer, Mann am Martinofen, Der Kesselschmied und nach dem Ersten Weltkrieg Der Hammerschwinger.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Es war eine Zeit, in der sich durch die Verwendung bestimmter Materialien (Granit für öffentliche Denkmäler oder Galvanobronze für Kleinplastiken) und Produktionsformen (die Zusammenarbeit von Bildhauern mit Kollegen und Architekten für Monumentalprojekte oder mit industriellen Gießereien für Ladenbronzen) auch die sozialen Produktionsverhältnisse des Kaiserreiches für Bildhauerei offenbarten. Es war ein Arbeiten für Auftraggeber beziehungsweise eine anvisierte Käuferschicht, deshalb wurden bestimmte inhaltliche und formale Motive567 mehrfach verwendet, auch aus ökonomischen Erwägungen. Es war eine Zeit, in der Bilder von Produktion respektive Arbeit in ihren konkreten Ausformungen produktiv wurden. Die verwendeten Motive zur Darstellung von Produktion respektive Arbeit gingen in Genredarstellungen oder Allegorien auf. Skulptur wirkte so gesellschaftsstabilisierend, da sie die Rollen bestätigte, die sowohl den Arbeitern als auch den Unternehmern zugewiesen wurden. Sie ist daher als Mittel gesellschaftlicher Distinktion zu betrachten. Die Aneignung des Schmiedes mit seinem ganzen ikonografischen Verweissystem auf Nation, Volk, Männlichkeit, Kraft, Krieg, Industrie und letztlich auch Arbeit bot sich hierfür in besonderer Weise an. Aufgrund etwa der Ikonografie des Vulkans oder der speziellen Materialikonografie wurde der Schmied zu einem beliebten und durch die neuen Produktionsbedingungen von Kunst weit verbreiteten Bildmotiv. Innerhalb der Ikonografie der Arbeit gehörte er zu einem der wenigen Berufe, die überhaupt dargestellt wurden, wenngleich auch in genrehafter oder allegorischer Gewandung weitestgehend ohne konkreten Bezug zur Arbeitssituation des Deutschen Kaiserreiches. Meurer definiert eine der wichtigsten Funktionen der Allegorie und liefert somit einen wichtigen Verweis darauf, die (allegorischen) Skulpturen dieser Zeit als ›arbeitende Bilder‹ zu deuten: »Schließlich ging es ganz wesentlich darum, die notwendige Akzeptanz zur Vermarktung bisher unbekannter Produkte zu schaffen, diese durch den Gebrauch traditioneller Kunstformen zu nobilitieren und von den beträchtlichen Problemen abzulenken, die mit Industrialisierung und Produktion einhergingen: Unfälle, Umweltverschmutzung, soziale Spannungen, Landflucht, Zerstörung überkommener Lebensweisen und einiges Weitere.«568
Arthur Schopenhauer und Walter Benjamin charakterisieren die Allegorie ebenfalls treffend: »Eine Allegorie ist ein Kunstwerk, welches etwas Anderes bedeutet, als es
567 | Zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine große Anzahl von Vorlagemappen, derer man sich bedienen konnte. Sie beinhalteten auch allegorische Motive aus der gesamten Kunstgeschichte bis zur Gegenwart (vgl. Meurer 2014, S. 25). 568 | Ebd., S. 10.
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darstellt.«569 Das Allegorische »[…] bedeutet genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt.«570
4.3 I konografie der A rbeit 4.3.1 Ein Bildthema zwischen Tradition und Moderne
»Unter den Vermittlungen von Kunst und Gesellschaft ist die stoffliche, die Behandlung offen oder verhüllt gesellschaftlicher Gegenstände, die oberflächlichste und trügerischste.«571
Kunsthistorisch gesehen ist die Darstellung von Arbeit zwar von jeher üblich, aber nicht selbstverständlich. Georg Treu schrieb 1889: »Das achtzehnte Jahrhundert hatte mit dem Leben der unteren Stände in Maskenscherzen getändelt. Selbst die bürgerliche Kunst der Holländer im siebzehnten stellte die Bauern als rauchende und trinkende Tölpel dar. Das Altertum vollends hatte für den Arbeitssklaven nur den Hohn der Karikatur übrig gehabt. Was durfte für unsere Anschauung wohl bezeichnender sein, als diese neue Wertung der Arbeit und des Arbeiters.«572
Überblickswerke der kunsthistorischen Forschung573 zu diesem Themenkomplex weisen von der Antike bis heute auf Darstellungen von Arbeit sowohl in der Malerei und Grafik als auch in der Skulptur hin. Die Rolle solcher Darstellungen bewertet Klaus Türk folgendermaßen:
569 | Schopenhauer 2014, S. 179. Schopenhauer sieht die Allegorie als unkünstlerisch an, weil sie versuche, etwas zu leisten, was der Schrift viel vollkommener gelinge (vgl. ebd.). Vor Schopenhauer hatte sich Winckelmann in seiner Schrift Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst (1766) mit dieser Thematik auseinandergesetzt und die Allegorie als Andeutung von Begriffen durch Bilder definiert (vgl. Meurer 2014, S. 19). 570 | Benjamin 1991, S. 406. 571 | Adorno 1973, S. 341. 572 | Treu zit. n.: Goetz 1984, S. 243. 573 | Neben Türk, dessen Anthologie einen bemerkenswert breiten Bildfundus bildet, kann man beispielsweise Hütt und Schnack als Überblickswerke zu diesem Thema nennen (vgl. Türk 2000, Hütt 1974 und Schnack 1965). Brandt und Schmücker stellen zwei sehr frühe Auseinandersetzungen mit diesem Thema dar (vgl. Brandt 1919 und Schmücker 1930).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Bilder sind dann als Bestandteile von gesellschaftlichen Diskursen zu verstehen, in denen es um die Verteilung von Macht geht. Betroffen von dieser ideologischen Bewußtseinspolitik und den diskursiven Machtkämpfen sind insbesondere solche Lebensbereiche, die für die Aufrechterhaltung einer solchen Gesellschaftsstruktur von strategischer Bedeutung sind. […] Mit dem Thema ›Arbeit‹ wird deshalb ein ›hochempfindlicher‹ gesellschaftlicher Bereich zur Anschauung und ins Bewußtsein gebracht. Wo das Arbeitsbild auftaucht, hat es somit zwangsläufig eine politisch-gesellschaftliche Tendenz. […] Die künstlerische Darstellung von Arbeit nimmt also stets zu der jeweiligen historischen Form der Arbeit Stellung; […]. Im Medium der Arbeit und seiner sozialen Regulierung reproduzieren sich die Menschen und ihre Sozialitätsformen, und das heißt nicht zuletzt: die gesellschaftlichen Herrschafts- und Hegemonialverhältnisse.«574
Folgt man dieser Sichtweise, sind es in der Kunstgeschichte die mittelalterlichen Monatsbilder, die Gartenskulptur des 16. bis 18. Jahrhunderts, die Porzellanskulptur des 18. Jahrhunderts, die barocke Genremalerei575 sowie die Malerei und Skulptur des 19. Jahrhunderts im Umfeld von Naturalismus und Realismus, die hier vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches wichtige Umbrüche markieren. Die Genremalerei hatte sich seit dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts vor allem in den südlichen Niederlanden als wichtige Gattung etabliert.576 Darstellungen von Arbeit sind hier Teil eines Bildkosmos, der das ›einfache‹ Leben mit seinen Freuden (etwa Feste, Kirmes, Schlittschuhlaufen) und Pflichten577 künstlerisch aufbereitet. Diese Bilder, so Jutta Held und Norbert Schneider, sind eine Reaktion auf sozialen und ökonomischen Wandel.578 Genredarstellungen konnten als Erziehungsprogramme fungieren. Impulse kamen hier aus der Emblematik.579
574 | Türk 1997, S. 10 f. 575 | Türk nennt zuvor beispielsweise die Allegorie der Arbeit von Maarten van Heemskerck von 1571 (vgl. ebd., S. 128). Skrandies führt dieses Werk zum Beleg für folgende Aussage an: »Durch die diskursive Verknüpfung von ›Arbeit‹ mit der Vorstellung individueller sinnlicher und ökonomischer Produktivkraft, mit Fleiß, Eigentum und Disziplin, findet sich ab dem 16. Jahrhundert auch die Eigenständigkeit von Arbeit als Motiv und Thema ein […].« (Skrandies 2014, S. 338) 576 | Vgl. Held und Schneider 1993, S. 84. 577 | Der Begriff Arbeit leitet sich immerhin vom althochdeutschem Wort »arapeit« für Mühsal oder Anstrengung ab (vgl. Feist 2011, S. 76). 578 | Vgl. Held und Schneider 1993, S. 84. 579 | Vgl. ebd., S. 115. Genge und Stercken betonen ebenfalls diesen Aspekt. Sie weisen hierzu auch auf das Gattungsproblem im akademischen Diskurs und die damit verbundene Frage nach dem Wahrheitsanspruch von Kunst hin (vgl. Genge und Stercken 1999, S. 49 f.).
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Doch erst im 19. Jahrhundert wird durchweg der Beginn des ›Arbeiterbildes‹ konstatiert.580 In dieser Zeit erfuhr die Genremalerei581 im Rahmen von Antiakademismus und Realismus einen großen Aufschwung.582 Frankreich spielt für diese Entwicklung eine wichtige Rolle:583 »Genre! Everywhere genre! Genre in portraits, genre in landscape!«584, so der verzweifelte Ausruf eines Salonkritikers. Mit dem Pariser Salon von 1868 hatte das Genre über die Historienmalerei triumphiert.585 Progressive Theoretiker wie Jules-Antoine Castagnary begrüßten diese Entwicklung.586 Das Genre bot den Künstlern auch die Möglichkeit, sich verstärkt Themen der modernen Welt zuzuwenden – in ihrer prekären, aber auch ganz trivialen Ausprägung. Wie schon im Holland des 17. Jahrhunderts war der Aufschwung der Genre- und Landschaftsmalerei die Folge eines immer größer werdenden Einflusses des Bürgertums,587 ohne dass sich dieses Thema nicht auch in adeligen Kreisen außerhalb Hollands größter Beliebtheit erfreute. Genre und Landschaft588 konnten in kombinierter Form auftreten, und gerade an dieser Schnittstelle bewegten sich zwei wichtige Protagonisten: Gustave Courbet und Jean-Francois Millet. Beide Maler widmeten sich dem bäuerlichen Genre, das im 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Bildthemen gehörte.589 Vor allem mit der Revolution von 1848 wendete man sich verstärkt diesen Themen zu.590 »Sie können sich
580 | Vgl. Hofmann 1974, S. 104. 581 | Selbst in der Historienmalerei begannen zum Beispiel Théodore Géricault und Eugène Delacroix zu Beginn des Jahrhunderts in Frankreich damit, sich tagesaktuellen Themen zuzuwenden (vgl. Pochat 1986, S. 553). 582 | Vgl. Held und Schneider 1993, S. 115. 583 | Frankreich konnte hier nicht nur auf die niederländische Malerei zurückgreifen, sondern auch auf Maler wie die Brüder Le Nain (17. Jahrhundert) und Jean Siméon Chardin (18. Jahrhundert). 584 | Etienne Palma zum Salon von 1868 zit. n.: Mainardi 1987, S. 190. 1884 sprach Adolf Rosenberg davon, die Malerei werde herabgedrückt auf den Maßstab der Genrebilder (vgl. Ruppert 1998, S. 90). 585 | Vgl. Mainardi 1987, S. 187. Genge und Stercken weisen auf die gleiche Entwicklung in Deutschland hin und führen etwa den Ausdruck ›Kunst für’s Volk‹ von Jacob Burckhardt an (vgl. Genge und Stercken 1999, S. 50). 586 | Vgl. Mainardi 1987, S. 187. 587 | Vgl. Buchinger-Früh 1989, S. 118. 588 | Paradigmatisch hierfür war die Schule von Barbizon, die als wichtiger Vorläufer des Impressionismus gilt (vgl. Parinaud 1994). 589 | Der Bauer wurde aber nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der französischen Literatur, etwa bei George Sand oder Honoré de Balzac, thematisiert (vgl. Herbert 1962, S. 38). 590 | Vgl. Fidell-Beaufort, 1980, S. 63.
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nicht vertreten, sie müssen vertreten werden«591, schrieb schon 1852 Karl Marx über den französischen Bauern. Pierre-Joseph Proudhon propagierte den »französischen Bauern in seiner aufrichtigen Art«592. Er wurde zum positiven Gegenbild des urbanen Proletariers, indem er seine Arbeit mit Würde tat und niemals über sein Los klagte.593 Millet und Courbet stehen repräsentativ für die unterschiedlichen künstlerischen Verarbeitungsweisen des Schicksals dieser Figur.594 Im Salon 1850/51 waren je eins ihrer wichtigsten Werke ausgestellt: Die Steineklopfer von Courbet und Der Sämann von Millet.595 Vor allem der Bauer – weniger die Bäuerin – wurde durch Millet und Courbet zum Studienobjekt, aber auch zum Symbol, zur Erlöserfigur, zur Inkarnation einer heilen Welt. Ihm konnte die Zeit nichts anhaben, und so wurde der Bauer auch zum Inbegriff moralischer Unbescholtenheit.596 Nur wenige Künstler beschäftigten sich bis zum Impressionismus597 mit der Darstellung von Arbeitern. François Bonhomme598 und Philippe-Auguste Jeanron, beide während der Revolution von 1830 aktiv, konfrontierten das Publikum mit Industriearbeitern und setzten sich damit von den pittoresken Darstellungen des einfachen Lebens in der Tradition des 18. Jahrhunderts ab.599 Nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern widmete man sich diesen Themen. Der Grafik kommt hierbei eine besondere Rolle zu.600 In Frankreich sind es Courbet, Millet, Jules Bastien-Lepage, Léon Augustin Lhermitte und Théophile-Alexandre Steinlen, in den Niederlanden Jozef Israëls, in Deutschland Max Liebermann und Adolph von Menzel und in England Ford Madox Brown. Neben der Grafik ist die Fotografie, selbst ein Produkt des Industriezeitalters und damit besonders geeignet, ein wichtiges Medium zur Dar591 | Marx 1927, S. 117. 592 | Proudhon 1988, S. 179. 593 | Vgl. Fidell-Beaufort 1980, S. 69-71. 594 | Courbet und Millet wurden beide in bäuerlichen Verhältnissen geboren, sodass ihnen dieses Genre vertraut war (vgl. Lullin 1996, S. 469). Millet wehrte sich gegen die Unterstellung von sozialistischen Tendenzen für seine Bilder (vgl. Simon 1932, S. 12). Anders Courbet: »Herr Garcin nennt mich einen sozialistischen Maler; diese Bezeichnung nehme ich mit Freuden an; ich bin nicht nur Sozialist, sondern auch Demokrat und Republikaner, mit einem Wort, Anhänger der gesamten Revolution und vor allem Realist.« (Courbet zit. n.: Herding 1984, S. 23) 595 | Der sozialkritische Ton beider Werke führte dazu, dass beide Künstler von der Kritik zu sozialistischen Revolutionären erklärt wurden (vgl. Herbert 1984, S. 41). 596 | Vgl. Thompson 1980, S. 1. 597 | Beispiele wären Edgar Degas’ Büglerinnen oder Die Parketthobler von Gustave Caillbotte. 598 | Türk bezeichnet Ignace-François Bonhommé als den ersten Industriemaler (vgl. Türk und Grohmann 2003, S. 21). 599 | Vgl. Doesschate 1980, S. 25. 600 | Vgl. Klingender 1974, S. 157.
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stellung moderner Ikonografien.601 So trugen die fotografischen Körperstudien von Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge zur Verfestigung von Denk- und Verhaltensmuster bei. Timo Skrandies zum Einfluss solcher Fotografien: »Choreographisch-zyklographische Körperschulung, Messbarkeit und mediale Darstellbarkeit gehen hier ineinander über […]. So mag es nicht verwundern, dass die Bewegungen des Fleischers, der vor seinem Haus an der Schlachtbank stehend die Keule bearbeitete, irgendwie bekannt oder zumindest vertraut vorkommen. Der Fleischer zeigt normierte Bewegungen des ziel- und zeitgenauen Handwerkens, die ein Körper-Schema bedienen, wie es uns aus dem Bildgedächtnis der Moderne etwa von Eadweard Muybridge oder Étienne-Jules Marey überliefert ist.«602
Alfred Krupp nutzte schon in den 1860ern die Fotografie zur Produktivitätssteigerung, indem er anhand von Fotografien die Bewegungsabläufe studierte und so optimierte. Aber sie waren auch – oder vielleicht sogar in erster Linie eine zeitgemäße, moderne Form der Selbstrepräsentation.603 Als Körperideal in der Fotografie galt einmal mehr der griechische Athlet und so entstanden in dieser Zeit nicht nur zahlreiche Fotos antiker Skulpturen, sondern auch Fotografien für Bodybuilding-Zeitschriften604, die die realen Körper skulpturengleich vorführten, indem dieselben Ablichtungsmodalitäten gewählt wurden: isoliert, stark beleuchtet und vor dunklem Hintergrund, sodass die Muskeln gut zur Geltung kommen. In Deutschland waren es zunächst die romantischen Maler wie Carl Blechen oder Alfred Rethel, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der beginnenden Industrialisierung beschäftigten.605 Klaus Herding hierzu: »Gab Blechen eine Antwort auf die Erfahrung einer gewaltsamen Veränderung der Natur, so faßt Rethel die politisch-soziale Revolution ins Auge. Sein um 1832/35 entstandenes Bild stellt die Umwandlung von Burg Wetter an der Ruhr in eine Maschinenfabrik dar. Der epochale Umbruch muß dem jungen, politisch interessierten Rethel bewußt gewesen sein […].«606
601 | Vgl. Herding 1987, S. 434. 602 | Skrandies 2014, S. 331 und S. 346. 603 | 2011 fand unter dem Titel Krupp. Fotografien aus zwei Jahrhunderten in der Villa Hügel in Essen eine Ausstellung zu diesem Thema statt, die das Spannungsfeld zwischen Dokumentation, Öffentlichkeitsarbeit und wissenschaftlicher Forschung der Fotografien aus dem Archiv der Firma zeigte (http://www.krupp-stiftung.de/upload/Presseinfo_Fotoausstellung_in_der_Villa_H_gel_2011.pdf vom 18.04.2016). 604 | Genannt sei die Bodybuilding-Zeitschrift La Culture physique (vgl. Garb 1998, S. 69 ff.). 605 | Vgl. Herding 1987, S. 460. Der Mensch wurde in solchen Industriebildern zur Staffage (vgl. Brandt 1919, S. 283). 606 | Herding 1987, S. 460.
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Arbeit wird also in erster Linie über den Ort und den Produktionsprozess und weniger über die dort Tätigen thematisiert. So ist das Industriebild als Teil oder Nachfolgerin des Landschaftsbildes zu verstehen, das sich der Gattung entsprechend auf bestimmte phänomenale Aspekte konzentriert, etwa das Atmosphärische. Und dennoch: »Zwar erfahren wir, wie bei Blechen, nichts über die Art der Produktion, aber industrielle Produktivität als solche hat ihre Bildform gefunden.«607 Mit Menzel entstand eine neue Form des Arbeitsbildes: »Im Grunde war es die Quadratur des Zirkels, eine Bildgattung etablieren zu wollen, die den Rang des Historienbilds erreichen, im Gegenstand sich auf der Ebene des gegenwärtigen Alltags bewegen und in der Form die außergegenständlichen Reflexionen der Avantgarde weitertreiben sollte. […] Dem ist sogleich hinzuzufügen, daß Menzel mißverstanden würde, wollte man diese Art der Vergegenwärtigung mit Entgeschichtlichung gleichsetzen. Vielmehr integriert Menzel Verfahren und Sichtweisen des Historien- und des mythologischen Bildes in seine Konzeption der Moderne.«608
Menzel, so Herding, ging es mit diesem Bild nicht darum, »jenen Zwang darzustellen, der damals durch Steigerung der intensiven Arbeitsweise ausgeübt wurde. […] Dem widerspricht das Bild. Es zeigt weder Kommandostrukturen noch uniforme Tätigkeiten; weder sind die Arbeiter den Maschinen unterworfen noch wird dem Fabrikanten gehuldigt. Vielmehr sehen wir einen in mehreren Szenen entfalteten Vorgang, bei dem die Spannung zwischen Kollektiv und Individuum in alltäglich-unheroischen Bewegungskomplexen verarbeitet ist.«609
Mit den Werken der Düsseldorfer Malerschule oder des belgischen Realismus wird im 19. Jahrhundert auch das Schicksal der Arbeiter als Folge der Industrialisierung gezeigt.610 Auch utopische Gegenentwürfe – etwa die Darstellung ›traditioneller‹ Ar-
607 | Ebd., S. 457; vgl. dazu auch Bätschmann 1989. 608 | Herding 1987, S. 463. 609 | Ebd., S. 467. Die Sicht von oben, die Herding auch thematisiert, kommt im Werk durch die Figur des »überwachenden Fabrikbesitzers im Hintergrund« vor (vgl. Feist 2011, S. 78). Lützeler konstatiert, Menzel habe dieses Bild aus Betroffenheit gemalt (vgl. Lützeler 1987, S. 420). 610 | Beispielhaft seien genannt Julius Hübeners Schlesische Weber, Johann Peter Hasenclevers Arbeiter vor dem Magistrat, Felix Schlesingers Auswanderungsbüro oder Arthur Kampfs Die letzte Aussage. Friedrich Engels äußerte sich zu dem Bild von Hübner überaus positiv (vgl. Türk 2000, S. 167). Auf belgischer Seite ist neben Meunier vor allem Cécile Douard zu nennen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kam in Belgien eine sozial-realistische Malerei auf, die zunächst an Ausmaß und Intensität einmalig in Europa war (vgl. ebd., S. 180).
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beitsformen beziehungsweise Arbeitszustände oder einer unversehrten Landschaft – können als Kritik am bestehenden System verstanden werden.611 Bilder der Arbeiterbewegung kommen zwar vor, sind aber selten. Eigens produzierte Bilder gab es erst in der Gewerkschaftsphase.612 Streik wurde zum Thema gemacht 613 , sodass diese Werke als bildlicher Ausdruck des Arbeiterkampfes gelesen werden können. Als ikonenhaftes 614 Beispiel ist hier Der vierte Stand von Giuseppe Pellizza da Volpedo zu nennen, der das Bild aus eigenem Antrieb schuf. Es handelt sich dabei um ein langgestrecktes Querformat, das eine Masse von – in erster Linie männliche – Arbeitern zeigt, die auf den Betrachter zumarschiert und fast die gesamte Bildfläche einnimmt. Hinter der Gruppe befindet sich ein Streifen, der eine in Dunkelheit getauchte Landschaft zeigt. Das Bild ist als Sinnbild des vierten Standes zu verstehen, der aus Frauen, Kindern und Männern besteht, die – mit den Folgen der Industrialisierung überfordert – bereit dazu sind, die Umstände nicht länger hinzunehmen, darum wissend, dass dies nur als Gemeinschaft funktionieren kann. Ähnlich prominent, aber unter ganz anderen Vorzeichen wird auch im Werk Lebensgeschichte einer Lokomotive von Paul Meyerheim das Thema Arbeit inszeniert. Das von Albert Borsig in Auftrag gegebene Werk zeigt in einem Zyklus aus sieben Bildern auf Kupfer anekdotenhafte Szenen wie
611 | Vgl. Feist 2011, S. 78. 612 | Vgl. Herding 1987, S. 430. Pohl, der die bildagitatorische Didaktik der SPD untersucht hat, bestätigt den Rückgriff auf eine klassische Ikonografie. Es wurden vor allem Allegorien verwendet, weil sie in einer langen kunsthistorischen Tradition standen und in fast allen bildnerischen Medien zu finden waren (vgl. Pohl, S. 55 ff.). Türk spricht jedoch von einem umfangreichen Material zu diesem Komplex, wenn auch zum großen Teil die ironisierende Form der Karikatur gewählt worden sei (vgl. Türk 2000, S. 66). Zur Thematisierung von Armut und Reichtum bemerkt Seidl: »Erst mit den sich immer mehr zuspitzenden sozialen Bedingungen der Frühindustrialisierung, die nun nicht mehr als gottgegeben erschienen, entstanden immer pointiertere sozialkritische Darstellungen von Armut und Reichtum. Sie propagierten endgültig nicht mehr das ursprüngliche Ideal der Armut, sondern prangerten diese mehr und mehr als wachsendes soziales Übel an.« (Seidl 2011, S. 85 f.) 613 | Beispiele hierfür sind Der Streik von Robert Koehler, Hendrik Luyten (hier sogar im Format eines Triptychons) und Jules Adler sowie Streikabend von Eugène Laermans (vgl. Türk 2000, S. 212-217). 614 | »Vielleicht das gewaltigste Werk jener Zeit um 1900, das den Kampf der untersten Klasse thematisiert […].« (Türk 2000, S. 16) Noch Joseph Beuys greift bei seinem Werk La rivoluzione siamo Noi darauf zurück. Sicherlich war es auch wichtige Inspiration für Otto Griebels Werk Die Internationale.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Montage und Verladen einer Lokomotive oder das Erntedankfeste bei der Familie Borsig. Es verknüpft so Industrie- und Familiengeschichte. 615 Beide Werke sind moderne Historienbilder – sowohl aufgrund ihrer Ikonografie als auch ihres Formats – und damit per se schon ungewöhnlich. Der für Borsig entstandene Bildzyklus wurde in einem nach oben mit einem Rundbogen abschließenden Hochformat realisiert, wie es häufig bei Kirchengemälden Verwendung fand. Daher wird bereits in der Formatwahl ein höchster, gleichsam religiösen Sinn stiftender Anspruch formuliert. 616 Die Annäherung an das Thema Arbeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Volpedo: Der Borsig-Zyklus war der Produktion der Moderne gewidmet und stellte durch den Titel das Produkt in den Vordergrund. 617 Arbeit bietet hier auch eine ikonografische Gelegenheit, sich durch Malerei dem Atmosphärischen zu nähern, dramatische Kompositionen mit radial angeordneten Figurengruppen und vielen Diagonalen zu entwickeln. Arbeit wird als dynamischer Prozess durch bewegte (meist männliche) Körper visualisiert und durch Rauch als Symbol der industriellen Produktionsweise.618 Diese Pole der Bildproduktion zum Thema Arbeit – Verherrlichung und Problematisierung – sind typisch für die Zeit um 1900: »Die kleine Zeitspanne […] zwischen 1870 und 1945 kann als die eigentliche Epoche des Arbeitsbildes in der gesamten Bildergeschichte des Abendlandes gelten. […] Es wird für und im Auftrag der Unternehmer gemalt, erste Kunstausstellungen zu diesem Thema werden 1912, im Jahre des 100. Jubiläums Krupps, veranstaltet. Das Feld differenziert sich, neue Formen werden gesucht und gefunden; es beginnt ein veristischer Realismus mit ausgeprägter sozialkritischer
615 | Vgl. Schlecking 2016, S. 110 f. Das Werk war zwar Teil der Wohnausstattung der Familie Borsig, konnte aber gegen ein geringes Eintrittsgeld zugunsten karitativer Zwecke betrachtet werden (vgl. ebd., S. 111). 616 | Ein weiteres Beispiel dieser Art (hier in einem Triptychon) ist Die Arbeit von Ludwig Dettmann. 617 | Türk fasst diese Werke unter dem Titel Apotheose der Industrie zusammen (vgl. Türk 2000, S. 189-201). In diesem Zusammenhang sind neben den zahlreichen Gemälden in Europa (etwa Le Travail von Puvis de Chavanne) oder in Deutschland (etwa Die Industrie von Hugo Vogel, das er für das Vestibül der Darmstädter Bank in Berlin malte) auch Plakate für Ausstellungen (etwa Kraft- und Arbeitsmaschinenausstellung 1898 in München oder die Gewerbeausstellung 1896 in Berlin) zu nennen. Zu den Kuriositäten gehört das Würfelspiel Unter rauchenden Schloten von Fritz Gärner (vgl. ebd., S. 199). Das Thema Arbeit war demnach omnipräsent. Plakate gab es auch vorher schon, so etwa Werbeplakate der Firma Krupp von 1857. 618 | Van de Velde bezeichnet die Rauchschwaden der Hochöfen als Flügel der Engel, die uns die frohe Botschaft verkünden (vgl. Brand 1979, S. 208).
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»Arbeitende Bilder« Tendenz sich dem affirmativen Industriebild entgegenzustellen (Hoetger, Kollwitz, Hasse, Baluschek z. B.).«619
Käthe Kollwitz gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der sozialkritischen Kunst.620 Von großer Bedeutung für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war vor allem ihr grafischer Zyklus zum Werk Die Weber von Gerhart Hauptmann, den sie – und hier wird die Betonung des Sozialkritischen einmal mehr deutlich – mit Ein Weberaufstand betitelte. Die Grafiken wurden in der Zeitschrift Sturm publiziert. Durch Max Klingers Schrift Malerei und Zeichnung sowie sein künstlerisches Schaffen begriff Kollwitz, dass sich ihre Inhalte vor allem durch die Linie, also im Medium der Grafik, verwirklichen ließen.621 So äußerte Kollwitz 1922: »Freilich, reine Kunst […] ist meine nicht […]. Ich bin einverstanden damit, daß meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.«622 Unabhängig von ihrem ideologischen Impetus sind die in der Kunst dargestellten Formen der Arbeit vielfältig, 623 wie bereits ansatzweise für Frankreich in der ersten Jahrhunderthälfte (hier vor allem die bäuerliche Arbeit) dargestellt wurde. Künstler wie Constantin Meunier oder Herman Heijenbrock spezialisierten sich in einer Wei-
619 | Türk 2000, S. 21. Die Ausstellung von Krupp wurde von Ernst Gosebruch in der Kunst für Alle besprochen: »Es ist der besondere Zweck des Essener Unternehmens, die verschiedenen Auffassungen des Problems, das Industriemotiv als Landschaft, als Interieur, als Arbeiterbild in Hauptwerken vorzuführen.« (Gosebruch 1912, S. 506) Hier wird deutlich, dass sich das Bild von Arbeit als eigenes Sujet noch nicht vollständig etabliert hat. Gosebruch geht überwiegend auf die Gestaltung der Malereien ein, daneben werden allein Plastiken von Meunier von ihm erwähnt. Er spricht von Rhythmik, heroischem Linienzug oder Farbharmonie. Seine Besprechung verweist zum Ende auf das Bild Kohlenarbeiter: »Unvergeßlich ist auf dem letzten Bild des Rhythmus der Getragenheit, der langsame und unerbittliche Rhythmus, der seit Jahrtausenden die Schulter der Menschheit beugt und hebt, der den Genossen dem Genossen gleichmacht, sie alle nur Glieder der verhängnisschweren Kette.« (Ebd.) Gosebruchs Beschreibung offenbart, dass dieselben Vokabeln (»Rhythmus«) verwendet werden wie zur Erfassung formaler Phänomene. Darstellung von Arbeit ist ein formales Problem. Held und Schneider verweisen auf eine Aussage von Käthe Kollwitz, nach der sie den Arbeiter zunächst aus ästhetischen Gründen und nicht aus Mitgefühl für sich entdeckt habe (vgl. Held und Schneider 1993, S. 404). 620 | Vgl. etwa Simon 1932, S. 13: »Erst Käthe Kollwitz hat durch die Wucht der sozialen Anklage und die Stärke ihrer Schöpferkraft die naturalistische Literatur mit einem Schlag überholt.« 621 | Vgl. Klotz 2000, S. 246. 622 | Kollwitz und Kollwitz 1952, S. 16. 623 | Grundlegend hierzu Türk, der seine Anthologie nach paradigmatischen Arbeitsformen wie Landarbeit, Textilarbeit, Schmieden, Bauen, Tragen und Ziehen gliedert (vgl. Türk 2000).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
terentwicklung der Fabrik- und Vedutenmalerei der ersten Jahrhunderthälfte auf das Industriebild:624 »Das Industriebild als Thema der bildenden Kunst war mehr als der Wille Einzelner, die Veränderung in der Welt um sich herum malend zu kommentieren. Es war der Aufschein einer neuen Zeit, in der Technikoptimismus und fortschreitende Industrialisierung neue Bildwelten, neue Interpretationen und neue Mythen produzierten. […] Wie kaum eine andere Branche verkörperte die Schwerindustrie, also ›Eisen und Stahl‹ das Neue und Dominante dieser Zeit.«625
Die Figur des Schmieds – ob in seiner traditionellen Form als Handwerker oder als Industrieschmied – wird deshalb eine der wichtigsten Bildfiguren. Der Bereich der Arbeit – dies gilt nicht nur für die Industrie – wird überwiegend als männlicher Bereich ausgewiesen, so es sich nicht um allegorische Darstellungen handelt. Weibliche Allegorien konnten bisher unbekannte Energieformen wie die Elektrizität verkörpern: »Die Metaphorik des Vortrags [von Eugen Wolff] überschritt nicht nur die im bürgerlichen Kontext selbstverständliche Dissoziation zwischen Frau und Arbeit. Auch wurde im Bild der Weiblichkeit versöhnt, was in bürgerlichen Diskursen strikt getrennt wurde: die ›Voluptas‹, durch die Metapher der fliegenden Haare und der irdischen Schönheit symbolisiert, und die ›Virtus‹ der verantwortungsbewußten, reinen, mütterlichen Weiblichkeit.«626
Bernd Nicolai ergänzt diese Beobachtung Maria Osietzkis: »Das Bild der erotisierten Frau wird im 19. Jahrhundert dämonisiert und eignet sich nicht nur zur literarischen oder künstlerischen Femme Fatale, sondern auch zur Darstellung noch nicht restlos beherrschbarer Bereiche der maschinellen und industriellen Revolution. […] Verherrlichung der Maschinenkraft und Negativseite der industriellen Revolution sind hier als ein sich bedingendes Zusammenspiel aufgefasst.«627
Wie die zahlreichen Plakate, Briefköpfe oder Grafiken belegen, die auch als Werbung für Firmen fungierten, erfuhr die Verbildlichung von Arbeit oftmals eine Wendung ins Allegorische. Die Ikonografie der Arbeit steht auch für die Auseinandersetzung von Kunst mit den jeweiligen historischen Arbeitsformen beziehungsweise Begriffen von Arbeit. In der Forschung kam es deshalb schon früh zu einer Betrachtungsweise dieser Bilder, deren Schöpfer je nach ideologischer Gesinnung kategorisiert wurden.
624 | Vgl. ebd., S. 21. 625 | Engelskirchen 2002, S. 108. 626 | Osietzki 2001, S. 20. 627 | Nicolai 2004, S. 210 f.
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So subsumiert Emma Simon etwa Millet, Meunier, Israëls und Fritz von Uhde unter die Sentimentalen, Courbet und Liebermann unter die Sachlichen und Honoré Daumier, Heinrich Zille, George Grosz, Otto Dix, Kollwitz und Ernst Barlach unter die Anklagenden.628 Robert Herbert fasst die unterschiedlichen Strömungen zusammen und bewertet sie zugleich aus der Perspektive eines späteren politischen Bewusstseins: »Some artists have been conscious interpreters of their time, others have attempted to translate its intangible spirit, still others have tried to capture only the universal and timeless.«629 Die Darstellung von Arbeit legt wie kaum eine andere das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit dar.
Die Darstellung von Arbeit in der Skulptur des europäischen Auslands »Indem er uns unser tiefstes Leben noch einmal in der Sphäre der Kunst erleben lässt, erlöst er uns von eben dem, wie wir es in der Sphäre der Wirklichkeit erleben.«630
Die Hinwendung zum Thema Arbeit in der Skulptur vollzog sich wie in der Malerei über die Gattung Genre und hierfür etablierte Orte. Mit anderen Worten: Das Thema Arbeit und seine Orte, die auch Orte der Arbeit sind, erzeugen das Genre als Gattung. Zu nennen sind hier vor allem Gärten631 und Brunnen. Im Mittelalter waren es Kirchenfassaden, etwa mit kosmologischem Bezug zu den Monatsarbeiten. 632 Auch die Kleinplastik – insbesondere in Porzellan633 – bot Gelegenheiten für das Thema. Im 19. Jahrhundert findet sich auch auf Friedhöfen in Paris 634 , Mailand oder Genua eine
628 | Vgl. hierzu die grundsätzliche Gliederung ihrer Arbeit (vgl. Simon 1932). 629 | Herbert 1961, S. XIII. 630 | Simmel, Rodin 1919, S. 186. 631 | Vgl. hierzu die Ausführungen am Beispiel Villani (vgl. Wiener 2008). 632 | Vgl. hierzu die Ausführungen am Beispiel des italienischen Hochmittelalters (vgl. Wiener, Leben 2014). 633 | Genredarstellungen wie die Figuren der Comedia dell’Arte waren im Porzellan des Rokokos äußerst beliebt. Zu ihnen gehörten auch bäuerliche Figuren. Es gab aber auch Darstellungen von Bergarbeitern, so die Serie der Fürstenberger Porzellanmanufaktur Große Bergbande von 1757 (vgl. Türk 2009, S. 168-177). In Frankreich führten namhafte Künstler wie Jean-Baptiste Pigalle im Ersatzstoff Biskuit Genredarstellungen als Sammlerstücke aus, etwa zwei Varianten von Kind und Vogelkäfig. In Deutschland kommt das Genrehafte in Werken von Friedrich Drake zum Ausdruck (Schmetterling fangende Nymphe). 634 | Öffentliches Denkmal oder Grabmal? und Friedhöfe werden zu Museen sind Überschriften in der Forschung, die belegen, dass der Aufwand im 19. Jahrhundert in Sachen Grabskulptur
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Fülle an Beispielen für eine neue Wirklichkeitsnähe, entsprungen wohl einem neuen Verständnis von Porträt. Es lässt sich also eine Hinwendung zu moderneren Darstellungsformen und Ikonografien in der Skulptur feststellen. Die unter den Vorzeichen von Industrialisierung und Moderne erfolgte Darstellung von Arbeit in der Skulptur entwickelte sich maßgeblich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,635 also später als in der Malerei und Grafik. Sie wurde anders als in diesen beiden Gattungen aufgrund gattungsbedingter Gegebenheiten vornehmlich über Einzelfiguren, das heißt über Statuen, nicht aber über Erzählungen verhandelt. Hierbei spielte die Genreskulptur Frankreichs eine wichtige Rolle, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftrat. Zunächst ist daher François Rude anzuführen: Mit seinem Werk Aufbruch der Freiwilligen positionierte er sich als politischer, pro-republikanischer Künstler.636 Er unterlag dabei den Anforderungen der Historie und ordnete folgerichtig historisches und allegorisches Personal reliefartig vor dem Hintergrund des Arc de Triomphe an.637 Schon vor diesem Werk dokumentiert der Fischerjunge (1831), der die öffentliche Aufmerksamkeit erregte,638 eine Hinwendung zum Naturalismus und damit zu anderen Themen als im Klassizismus.639
als enorm wahrgenommen wird (vgl. Le Normand-Romain 2002, S. 884–889). Beispiele in Paris sind: Antoine Ètex, Grabmal für Théodore Géricault, 1840 (Paris, Cimetière du Père-Lachaise); François Rude, Grabmal für Godefroy Cavaignac, 1845-47 (Paris, Cimetière de Montmartre); Jules Franceschi, Grabmal von Mieczysław Kamieński, 1861, (Paris, Cimétière de Montmartre). Vorbild für Jules Dalous Grabmal für Victor Noir könnte das Werk von Aimé Millet gewesen sein (Grabmal für Alphonse Baudin, 1872, Paris, Cimetière der Montmartre). Lindsay weist in ihrer Publikation nicht nur auf die Modernität einiger Gräber hin, sondern auch auf den mit diesen Werken verbundenen politischen Kult (vgl. Lindsay 2012, S. 6). 635 | Vgl. Türk 2009, S. 8. Sieht man von den Beispielen in der Antike – der gute Hirte, im Klassizismus als Schäfer wieder aufgegriffen, oder der Scherenschleifer – ab, könnte man auch Pigalles Citoyen am Denkmal Louis XV. (Reims, 1765) nennen (vgl. Mittig 1972, S. 455-464). Arbeiter findet man in der Skulptur beispielsweise im Gefolge von Sinnbildern des Handels, aber der Arbeiter an sich wurde bis 1880 als nicht darstellenswert empfunden (vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 253). Rheims verweist darauf, dass sich in den Niederlanden Handwerker aus Standesbewusstsein in Arbeitskleidung skulptieren ließen (vgl. Rheims 1977, S. 181). 636 | Rudes Marseillaise stellt nach Janson einen emotionalen Aufruf dar, sich mit der Republik zu identifizieren (vgl. Janson 1985, S. 112). 637 | Rude verpasst nach Kuhn dem Klassizismus den Todesstoß (vgl. Kuhn 1922, S. 38). Für Baumgart ist es ein »wertvolles Beispiel […], das die Möglichkeiten späterer Entartung erkennen läßt, ohne von ihr ergriffen zu sein.« (Baumgart 1957, S. 187) Ignoriert man die nach 1945 immer noch verwendete Kategorie der Entartung, so wird deutlich, dass hier ein Werk vorliegt, das stilistisch für die Hinwendung zur realistischen Kunst eine wichtige Marke bildet. 638 | Vgl. Selz 1963, S. 45.
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Ein Vorläufer von Rudes Werk ist etwa die Junge Griechin auf dem Grab von Marcon Botzaris von David d’Angers. Ihm gehen stilistisch zwar Skulpturen wie Antoine-Denis Chaudets Amor mit dem Schmetterling voraus, aber hier wird weiterhin ikonografisch der Bezug zur Mythologie aufrechterhalten. Bei der Grabskulptur Junge Griechin kann man sowohl aufgrund der Figur des jungen Mädchens als auch aufgrund ihrer Tätigkeit – sie malt gedankenverloren mit dem Finger in den Sand – von ›echter‹ Genredarstellung sprechen. Dieser Bilderfindung folgt auch François Joseph Bosios Junge Indianerin, obwohl hier einmal mehr der antike Dornauszieher evoziert wird. Fortgeführt wird dies durch Jean-Baptiste Carpeaux,640 der wie Rude akademische Normen infrage stellte.641 Wieder ist es die Skulptur eines jugendlichen Fischers, die in Gestaltung und Ikonografie zu den wenigen Beispielen dieses Themas in jener Zeit gehört.642 Das Motiv wurde wegen seiner großen Beliebtheit beim Publikum vermutlich der Malerei der 1820er Jahre entlehnt.643 Diese Skulpturen stellen zwar ›einfache‹ Menschen dar, aber es sind zum einen keine Erwachsenen, weshalb sie das Gefühlvolle im Sinne einer Verniedlichung betonen, und zum anderen arbeitet hier niemand, sondern es ist der Bereich der Freizeit dargestellt. Für Janson ist der wenig rezipierte Auguste Préault – vor allem durch sein Werk Gemetzel bekannt – der interessanteste Vertreter dieser neuen Bildhauergeneration: »His debut in the Salon of 1833 included three subjects (none of them preserved) characteristic of the Romantic preoccupation with suffering: Gilbert Dying, Two Poor Women, and The Beggar-
639 | »Rude was the first to isolate a figure from this repertory and make it the subject of a life-size marble, challenging a basic tenet of Neoclassicism that regarded scenes from everyday life as unworthy of sculptor’s art.« (Janson 1985, S. 112) 640 | Vgl. Kuhn 1922, S. 40. 641 | Vgl. Hammacher 1973, S. 68. Als völlig unakademisch wird Carpeaux’ Der Tanz für die Pariser Opéra angesehen. Blanchot bescheinigt solchen Werken eine »vitalite suffisante« (vgl. Blanchot 1931, S. 194). 642 | Ein drittes Beispiel ist der Tarantella tanzende Fischer von Francisque Joseph Duret, Schüler Bosios. Und noch in den 1870er Jahren greift Vincenzo Gemito mit seinem Fischer oder mit seinem Wasserträger dieses Thema auf. 643 | Vgl. Janson 1985, S. 112. So verwundert es nicht, wenn Le Normand-Romain diese Werke unter der Überschrift Die pittoreske Strömung fasst (vgl. Le Normand-Romain 2002, S. 878). Das Thema des aufständischen neapolitanischen Fischers Tommaso Aniello bot zu Beginn des 19. Jahrhunderts gleich für mehrere Komponisten Stoff zur Vertonung – darunter auch der Franzose Daniel-François-Esprit Auber. Der Florentiner Sänger von Paul Dubois mag hier als weiteres Beispiel in dieser Reihe dienen.
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Abbildung 49: Canciani, Alfonso, Bauplastik, Artariahaus Wien, 1901
Quelle: Türk 2009, S. 210
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»Arbeitende Bilder« women. […] Wheather Préault should be credited with a social conscience of the basis of these early efforts seems doubtful, since he did not pursue any of these themes later on.«644
Darstellungen sozialer Themen sind, wie an anderer Stelle angeführt, der Ratapoil oder die Büsten Die Berühmtheiten des Juste Milieu von Daumier, die aber in ihrer kritischen Direktheit – vermutlich unter dem Schutz der Karikatur – eine Ausnahme darstellen.645 Als Personifikationen – oftmals mit architektonischem Bezug – werden über die Darstellung von Arbeit plastische Symbole für die neue Zeit (etwa die Allegorie der Industrie von Elias Robert für den Gare d’Austerlitz von 1867 oder der Genius des Handels von Eugène Guillaume in der Marseiller Börse von 1860) kreiert.646 James Pradiers Die Büglerin gehört zu den Einzelfiguren, die genrehaft das Thema Arbeit verhandeln. Hier ›verkommt‹ Arbeit zur Pose des süßen Nichtstuns647 Darstellung. Anders verhält es sich mit dem Werk von Henri Chapu, denn hier wird Jeanne d’Arc in einer ehrfürchtigen Haltung als einfaches Bauernmädchen dargestellt.648 In seiner Nachfolge kann man durchaus das Frühwerk von Jules Dalou sehen. Zu Beginn seines Schaffens stehen Werke wie die Französische Bäuerin, ihr Kind stillend, die Bezüge zu Millet oder auch Chapu erkennen lassen, und weitere Darstellungen mütterlicher Fürsorge wie das Werk Der Schaukelstuhl. Dalous Triumph der Republik von 1879 – und somit vor den Ideen für ein Denkmal der Arbeit – kann indirekt als ein Triumph der modernen Ikonografie und Folge ideologischer Veränderungen gelten: Das vielfigurige allegorische Figurenpersonal weist auch die Allegorie der Arbeit auf, die hier den Triumphwagen der Republik nicht nur symbolisch begleitet.649 »Weiterhin hat Dalou große Bedeutung für realis-
644 | Janson 1985, S. 118. 645 | Neben Daumier muss man für die Art der Darstellungen auch Jean-Pierre Dantan nennen, zu dem Janson schreibt: »To be caricatured by Danton became a mark oft distinction.« (Ebd., S. 104) 646 | Von Guillaume gibt es beispielsweise auch einen Mäher in Kopenhagen. Die Art der Bauskulptur war durchweg üblich, sowohl zeitlich als auch örtlich. Ein besonderes aufwendiges Beispiel sind die wie Hermen gestalteten Skulpturen von Alfonso Canciani am Artaria-Haus in Wien – darunter eine Frau mit Apfel und ein Mann mit Schmied, vermutlich Personifikationen der Industrie und der Landwirtschaft. 647 | Es handelt sich um dieselbe Pose wie bei Rudes Jeanne d’Arc lauscht den himmlischen Stimmen. 648 | Chapus Werk war in einer verkleinerten Bronzeversion als Sammlerstück erhältlich. 649 | Vgl. Pingeot, Republik 2002, S. 916 f. und Janson 1985, S. 196. Als Befürworter der Kommune war es nicht verwunderlich, dass Dalou das Grabmal für den linken Journalisten Victor Noir schuf, der von Prinz Bonaparte erschossen wurde und durch diesen ›Märtyrertod‹ zum Symbol wurde (vgl. Pingeot, Republik 2002, S. 923). In seiner – hier auch anklagenden – Drastik kann man
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Abbildung 50: Dalou, Jules, Triumph der Republik (Detail), Paris, 1889
© Jürgen Wiener
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Abbildung 51: Dalou, Jules, Triumph der Republik, Paris, 1889
© Jürgen Wiener
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tische, sozial motivierte Arbeiterdarstellungen, deren Beliebtheit in Paris in hohem Maße auf das Wirken des Belgiers Constantin Meunier (1831-1905) zurückzuführen sind«650, so Susanne Kähler. Meunier gilt als der eigentliche Begründer der Arbeiterskulptur, obwohl schon vor den 1880er Jahren Darstellungen ganzfiguriger Statuen von Arbeitern existierten. Künstler wie Dalou, der in Frankreich neben Auguste Rodin auch Meuniers Idee eines Denkmals der Arbeit aufgriff, folgten ihm.651 Auch in England gab es Beispiele der denkmalhaften Arbeiterfiguren im Stile Meuniers,652 etwa verschiedene Varianten des Mähers von Hamo Thornycroft653 oder einen thronenden Arbeiter als Personifikation der Industrie von George Frampton.654 Der amerikanische Bildhauer Daniel Chester French schuf nicht nur die damals erfolgreiche Statue Minute Man, sondern auch die Allegorien Wissenschaft kontrolliert die Kraft des Dampfes und der Elektrizität und Arbeit, Kunst und Familie.655 Das Werk Proximus Tuus des Italieners Achille D’Orsi wurde schon Anfang der 1880er Jahre in Venedig ausgestellt und erregte so viel Aufmerksamkeit, dass es auch der Tessiner Bildhauer Vincenzo Vela gekannt haben könnte.656 In den Sozialistischen Monatsheften von 1897 rezipierte man es als Sinnbild für den ausgebeuteten Arbeiter.657 Dementsprechend kommt hier anders als bei Dalous Bäuerin eine neue, weniger unter ›Genreverdacht‹ stehende Darstellungsweise auf. Solche und andere Werke provozieren die Frage:
es mit dem Grab von Saint-Marceaux Abbé Miroy in Reims oder von Frédéric-Auguste Bartholdi für die 1870 gefallenen Nationalgardisten Voulminot, Wagner und Linck in Colmar vergleichen. Starken Verismus findet man in Deutschland bei Reinhold Begas’ Grab für den Eisenbahnhersteller Arthur Strousberg. 650 | Kähler 1996, S. 34. 651 | Als einen belgischen Künstler in der Nachfolge von Meunier kann man beispielsweise Karl van der Stappen und sein Werk Die Erbauer der Stadt sehen. 652 | Die Bildhauer Jakob Gruber und E.A. Swoboda haben für die ehemalige Handelskammer in Wien Reliefs geschaffen, die sehr eng mit dem Stil, aber auch mit den Bilderfindungen von Meunier – vor allem für das Denkmal der Arbeit – zusammenhängen. Gruber schuf darüber hinaus die Plastik Verschüttete Bergknappen. 653 | Janson bezeichnet den Mäher von 1884 in Bronze als »[…] the pioneer example of ist kind, although less radical than ist counterparts on the other side oft he Channel.« (Janson 1985, S. 243) Des Weiteren schuf er eine aufwendige Figurengruppe als Allegorie des Handels (vgl. Türk 2000, S. 195). 654 | Vgl. Türk 2000, S. 196. 655 | Vgl. Janson 1985, S. 259. 656 | Vgl. ebd., S. 220. 657 | Vgl. Olberg 1897, S. 447.
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»Arbeitende Bilder« »Spiegelt der Realismus ein neues Bewußtsein oder veränderte Machtverhältnisse wider? Der Proximus Tuus (Dein Nächster) von Achille d’Orsi bildet das Tor zu dieser neuen ›Welt der Erde‹, da er in Lebensgröße dargestellt war und eindeutig nicht nur auf das Evangelium Bezug nahm.«658
Vela machte wie D’Orsi und Meunier in seiner Figurengruppe Grubengas die existenziellen Gefahren der Arbeit zu seinem Thema. Er war bekennender Republikaner und engagierte sich sozialpolitisch. Ein wichtiges künstlerisches Beispiel hierfür ist das Denkmal für die beim Bau des Gotthard-Tunnels verunglückten Arbeiter, also die Opfer der Arbeit. Er hatte diese Denkmal aus eigenem Antrieb und ohne Bezahlung umgesetzt.659 Es zeigt Arbeiter, die wie in einem Trauerzug ihren toten Kameraden auf einer Bahre tragen. Zwei von ihnen sind mit nacktem Oberkörper dargestellt, sodass der durch die Arbeit gestählte Körper zur Schau gestellt wird. Ihre Gesichter verschwinden unter den Kopfbedeckungen. Sie werden damit zu anonymen Gestalten, zu Stellvertretern für eine Masse von Arbeitern, die beim Bau des Tunnels ihr Leben lassen mussten.660 Vela wollte dieses Werk am Tunnelausgang angebracht haben, dazu kam es aber erst 1932.661 Janson hebt die wichtige Stellung der beiden Werke hervor: »Proximus Tuus and The Victims of Labor share a desire to monumentalizie the manual worker that anticipates Dalou’s by a decade an Meunier’s, at least in sculpture, by a year oder two.«662 Beide standen in der Tradition des italienischen Verismo, wie ihn schon Adriano Cecioni vertrat.663 In diese Reihe steht auch Enrico Buttis Bergmann mit Laterne (Düsseldorfer Nordfriedhof), das eine stark abgewandelte Variante des
658 | Pingeot, Republik 2002, S. 920. 659 | Vgl. Janson 1985, S. 177. 660 | 1906 schuf Henri Bouchard, der einige Arbeiterfiguren fertigte, mit Steinbruch ein weiteres Beispiel für dieses Thema. Weitere Werke wie Der Transportarbeiter oder Ausruhender Bauer verweisen eindeutig auf Meunier. Bei Alexandre Charpentier verweist vor allem die schiebende Arbeiterfigur im Relief Steinhauer auf Meunier. Auch Eugène Carrière wurde durch Meunier dazu angeregt, die Arbeiterthematik aufzugreifen. So schuf er das Werk Der Bergarbeiter aus der Loire. Alle Werke – bis auf den Steinbruch und Ausruhender Bauer – befinden sich heute im Musée d’Orsay in Paris. 661 | Vgl. Janson 1985, S. 220. 662 | Ebd. Auch Kuhn hebt die enorme Bedeutung hervor und attestiert Velas Werk »höhere Ansätze« (Kuhn 1933, S. 210). Schmoll gen. Eisenwerth macht darauf aufmerksam, dass wie bei Courbet auch bei Velas Opfer der Arbeit oder bei Meunier keine Maschinen auftauchen (vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 254). 663 | Vgl. Janson 1985, S. 219. Beispielhaft von Cecioni kann hier das Werk Selbstmord stehen. Im Grunde gab es diesen ausgeprägten Naturalismus schon im Spätbarock, beispielsweise bei Antonio Corradini, der im 19. Jahrhundert – man denke an das Motiv der verschleierten Frau – für Raffaele Monti wichtig wird.
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Abbildung 52: Vela, Vincenzo, Denkmal für die Opfer des Gotthardtunnelbaus, 1882-83
© Paebi
Minatore ist. Für die Familie Besenzanica schuf er in Mailand das ungewöhnliche Grabmal mit zwei Bauern, die ein Ochsengespann zum Pflügen des Ackers antreiben. Anhand solcher oder ähnlicher Werke erläutert Dietrich Schubert, was er für die legitime Moderne hält.664 Die Hinwendung zur Wirklichkeit drückt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Frankreich und in anderen europäischen Ländern vor allem in genrehaften Werken aus. Auch Bildhauer bedienen sich in ihren Darstellungsweisen bei ›Personen von der Straße‹, was von Alfred Kuhn für das Denkmal von Gustave Doré für Alexandre Dumas kritisiert wird.665 Dessen Kritik träfe vermutlich auch das Denkmal für Louis Pasteur von Alexandre Flaguière ebenso wie das von Eugène-Jean Boverie, das er für Camille Desmoulins angefertigt hatte, letzteres vor allem in Bezug auf den at-
664 | Vgl. Schubert 1984, S. 113. 665 | Vgl. Kuhn 1922, S. 44.
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tributiv beigefügten Stuhl als Agenten der Wirklichkeit.666 Und auch noch 40 Jahre nach Kuhn zeigt Jean Selz wenig Verständnis: »Auf dem Gebiet der offiziellen Kunst, die öffentliche Plätze und Friedhöfe stürmte, glichen alle Statuen einander durch den völligen Mangel an Stil und Geist und die Theatralik ihrer Posen und Gesten. […] Die Elemente der großen Allegorischen Kompositionen schienen auswechselbar: Carrier-Belleuse etwa brauchte seine Phantasie wahrlich nicht zu überanstrengen, als er nach seiner Die Industrie bringt der Welt Licht und Frieden eine andere Der Frieden bedenkt mit seinen Wohltaten die Industrie modellierte.«667
Ein besonders signifikantes Beispiel für die Hinwendung zur Wirklichkeit beziehungsweise vermeintliche Trivialisierung668 die sowohl über die Ikonografie als auch über die mediale Brechung im Kunsthandwerk moderner Themen erfolgte, betraf die Tänzerin Loïe Fuller. Sie hatte auf der Pariser Weltausstellung 1900 ein eigenes Theater, in dem sie von elektrischem Licht in Szene gesetzt wurde. Von François-Raoul Larche entstand so sinnigerweise eine Tischlampe mit ihr.669 Rodin, der als einer der einflussreichsten Bildhauer des 19. Jahrhunderts gilt, wandte sich hingegen nur in wenigen Ausnahmen explizit einer dem modernen Leben entspringenden Ikonografie zu. In seinen jungen Jahren schuf er Werke für die Brüsseler Börse,670 die unter anderem mit plastischem Schmuck (in Form eines Figurenfrieses), mit ›arbeitenden‹ Putten (als Gärtner, bei der Weinlese, als Schäfer, in einer Druckerei oder als Tuchhändler) sowie mit vier freiplastischen Nischenfiguren von Guillaume de Groot (Personifikationen für den Ackerbau durch den Bauer mit Sense, die Industrie oder das Handwerk durch den Schmied, die Wissenschaft und die Künste) versehen wurden. Ebenfalls in der Zeit als Rodin aufgrund des Krieges außerhalb von Frankreich arbeitete, entstand der Hafenarbeiter am Denkmal des Bür-
666 | Vergleichbar ist dieses Werk mit dem Grabmal für Grand-Guillaume auf dem Friedhof Pasde-Calais in Arras, das von einem nicht namentlich bekannten Künstler geschaffenen wurde. Pingeot verweist darauf, es sei wie in Deutschland zu einer inflationären – hier nur vonseiten der Linken – Denkmalsetzung gekommen (vgl. Pingeot, Republik 2002, S. 934). 667 | Selz 1963, S. 80. 668 | Im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Darstellungen von Arbeitern im Format der Kleinplastik, ob allegorisch gewendet oder als Verbildlichung einer Arbeit beziehungsweise eines Arbeiters. Genannt werden können etwa Zwei Stahlarbeiter des Franzosen Henri Louis Levasseur, Heimkehrender Landarbeiter des Spaniers Juan José Cardona Morea, Bergmann mit Drucklufthammer des Belgiers Victor Demanet, Arbeiter mit Hammer des Österreichers Canciani. Selbst in Japan findet sich ein Beispiel (vgl. Türk 2009, S. 226, S. 112, S. 132, S. 210, S. 11). 669 | Vgl. Osietzki 2001, S. 22. 670 | Vgl. Rilke 2014, S. 7.
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Abbildung 53: Groot, Guillaume de, Allegorie der Industrie, Brüssel, um 1870
© Ad Meskens
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germeisters Loos in Antwerpen.671 Sein Initialwerk der Moderne – Der Mann mit der zerbrochenen Nase – könnte als Genreporträt gelesen werden, wurde aber wie viele Werke dieser Art als Bild allgemeiner Menschlichkeit verstanden, so auch von Rainer Maria Rilke.672 Als revolutionär modern gilt sein Denkmal für die Bürger von Calais, wobei in der Regel formale Dinge (zum Beispiel die Sockellosigkeit) hervorgehoben werden. Dennoch – oder gerade deswegen – wird dieses Werk als ein Arbeiterdenkmal gedeutet.673 Auch Peter Feist betont die soziale Komponente: »Die Struktur einer Hierarchie, der Gegensatz von Mächtigen und Unterworfenen […] wurde seltener abgebildet […]. Den radikalen Umbruch zur demokratischen Hierarchielosigkeit und zur Gestaltung eines realistischen szenischen Bildes, den in den 80er Jahren August Rodin (18401917) in Frankreich mit seinen Bürgern von Calais gegen den zähen Widerstand von Auftraggebern und Publikum vollzog, machte damals kein anderer Bildhauer mit.«674
Für Janson ist es eher Ausdruck einer überzeitlichen Problematik, ein Denkmal für die menschliche Krise und ihre sechs Antworten in Form von Einzelfiguren.675 Maßgeblich wurden solche Bewertungen durch Georg Simmels Analysen geprägt, der, als er über Rodin schrieb, einerseits Form und Thema trennte, andererseits Stil selbst schon als Inhalt begriff: »So hat Meunier ein neues Objekt gefunden, an dem das Leben künstlerisch wertvoll sein kann, aber er hat keine neue Form, kein neues Stilprinzip gefunden, in dem das Leben überhaupt künstlerisch gesehen werden kann. Dies fand erst Rodin, der der Plastik keine wesentlich neuen Inhalte gab, aber als der Erste einen Stil, mit dem sie die Haltung der modernen Seele dem Leben gegenüber ausdrückt. […] So geht auch Rodin den Weg zu einer neuen Momentualität – der des Werdens der Bewegtheit, während sie bisher in das Sein, an die Substantialität des klassischen Ideals gebunden schien. Nichts andres als dies ist es, was er selbst einmal als ein Ziel seines Suchens ausgesprochen hat: den ›latenten Heroismus jeder natürlichen Bewegung‹.«676
671 | Vgl. Mittig 1972, S. 455-464. 672 | Vgl. Rilke 2014, S. 11 und S. 23. 673 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 277. 674 | Feist 1987, S. 322. 675 | Vgl. Janson 1985, S. 196-210. Die überzeitliche Darstellungsweise existenzieller Not ist ein Thema der Moderne, beispielsweise bei Jules Desbois’ Elend, das auch stilistisch mit Rodin verbunden ist. 676 | Simmel, Rodin 1919, S. 172-177.
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Fallbeispiel: Constantin Meunier »Meunier aber hatte sich gerade die modernen Sklaven als Modelle für seine Arbeiten ausgesucht. Wo der Hellene nur Häßlichkeit gesehen hätte, da sah er Charakter, Übereinstimmung von Form und Wesen.«677
Meunier gilt als der zentrale Bildhauer der Arbeiterskulptur. Zunächst Maler, schuf er ab 1880 zahlreiche Darstellungen dieser Thematik.678 Schon die zeitgenössische Forschung attestierte ihm seine herausragende Rolle: »Meunier hat den Arbeiter in die Plastik eingeführt, den modernen Arbeiter in der Gestalt des belgischen Bergmanns mit all seinen zufälligen Eigentümlichkeiten und dabei dennoch ins Typische gesteigert.«679 Die Entscheidung für die Welt der Arbeit fiel 1879 nach einer Reise mit dem sozialistischen Schriftsteller Camille Lemonnier in das Kohlen- und Industrierevier Borinage.680 Und mit ihr wandte er sich der Skulptur zu.681 Er sah es als die Aufgabe des Künstlers an, sich den Fragen seiner Zeit zu widmen, wie Walther Gensel in seiner 1905 erschienenen Biografie zu Meunier betont. Meunier forderte beispielsweise eine Historienmalerei des Volkes.682 Sein wichtigstes Bildthema ist das der Arbeit.683 Sein Oeuvre umfasst in der Gattung Skulptur ganzfigurige Darstellungen von Arbeitern684
677 | Gensel 1905, S. 30 ff. 678 | Die Biografie Meuniers weist auf verschiedene Stationen hin, die ihn zu seinem Thema führten: Meunier ging den klassischen Weg und studierte an der Akademie in Brüssel. Obwohl er drei Jahre lang Gehilfe des Bildhauers Charles Auguste Fraikins war, begann er als Maler (vgl. Janson 1985, S. 228). Großen Einfluss übte Charles de Groux aus, nach Gensel der eigentliche Begründer der sogenannten Arme-Leute-Malerei (vgl. Gensel, Meunier, S. 8 f. und Schmoll gen. Eisenwerth, 1972, S. 255). 679 | Haack 1907, S. 418. Brandt hebt ebenso seine Sonderrolle in der Kunstgeschichte hervor (vgl. Brandt 1928). 680 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 255. Meunier war dort zeitgleich mit van Gogh (vgl. Türk 2003, S. 95). 681 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 256. 682 | Vgl. Goetz 1984, S. 53. 683 | Zeitnah mit dem Entstehen von Meuniers Werken zog man Parallelen zu Zolas: »[…] ce sont les illustrations de Germinal!« (L’Art Moderne 1886 zit. n.: Goetz 1984, S. 261) 684 | Mehrfach schuf Meunier auch reitende Arbeiter, etwa Reitender Crevettenfischer, Reitender Muschelfischer oder eine isolierte Darstellung von einem alten Grubenpferd. An der Tränke zeigt er zwar auch einen Arbeiter auf dem Pferd, aber hier scheint vielmehr der alte Topos der Unterwerfung des Animalischen durch den Menschen beziehungsweise Mann – oftmals Sinnbild des potenten Herrschers in der Tradition Alexander des Großen – Anlass für diese Darstellung
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Abbildung 54: Meunier, Constantin, Schiffslöscher, 1893
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sowie Büsten als Vollplastik und als Relief.685 Schwerpunkt bildet dabei der Sektor des Bergbaus, aus dem circa 25 Variationen bekannt sind. Andere Bereiche sind die Eisenverarbeitung, die Hafenarbeit oder das Handwerk, aber auch die Landwirtschaft.686 Mit Le Grisou (Grubengas), das 1889 auf der Weltausstellung gezeigt wurde, thematisierte er die Gefahren der Arbeit anhand des durch Grubengas verursachten Todes eines Bergmanns. Er soll hierfür Zeichnungen von aufgebahrten Opfern einer Grubenkatastrophe angefertigt haben.687 Dem toten Corpus Christi gleich688 präsentiert Meunier den ausgezehrten Körper eines auf einer Erdscholle liegenden Bergmanns – eine profanisierte Beweinungsszene beziehungsweise eine Aktualisierung der christlichen Passion unter den Vorzeichen der industriellen Revolution.689 Über ihn beugt sich eine Frau, die ihre Hände als Zeichen ihrer Verzweiflung krampfhaft an die Oberschenkel drückt, eine Mater dolorosa. Auch die Hand des Toten wird zum Verweis auf seinen Schmerz: Sie ist zur Fuast geschlossen und ruht auf seinem Oberkörper. Meunier zeigt hier die körperlichen Gefahren der Arbeit religiös überhöht am Schicksal eines Einzelnen. Dies sei Bettina Brand zufolge sein gängiges Vorgehen.690
gewesen zu sein. Eine weitere moderne Variante dieses Topos ist der Bronco Buster von Frederic Remington. 685 | Auch die Profilansicht im Relief ist dabei vertreten, eine Form, wie sie aus den Kaiserdarstellungen auf antiken Münzen bekannt ist. Indem Meunier nur den Kopf des Arbeiters oder der Arbeiterin darstellt, trifft er mehrere Entscheidungen: Der Arbeiter ist nun nicht in erster Linie Körper, sondern auch Kopf, auch ein Denkender. Er ist aber auch Charakter, Charakterkopf. Und er ist Mensch und Individuum, dessen seelischer Zustand durch die Konzentration auf das Gesicht in besonderer Weise gezeigt werden soll. Außerdem fertigte Meunier viele Kinderbüsten an. 686 | Eisenverarbeitung: Kopf eines Puddlers, 1890; Der Puddler (rastend), 1886; Ruhender Puddler, 1890; Hafenarbeiter: Büste eines Schiffslöschers, circa 1896; Der Lastträger, 1889; Büste eines Lastträgers, circa 1890; Der Dockarbeiter, 1893; Handwerker: Der Glasbläser, 1889; Der Hammerschmied, 1886; Der Steinmetz, 1898; Der Metzger, circa 1890; Sitzender Schmied, 1892; Landwirtschaft: Mäher, Säer, der Pflüger, außerdem Fischer, Holzsammlerin oder Holzhacker. 687 | Vgl. Gensel 1905, S. 36. 688 | Dorren hat in seiner Studie auf verschiedene Arten der modernen Aneignung religiöser Ikonografien verwiesen. Christliche Themen werden im 20. Jahrhundert allgemein menschlich interpretiert, um beispielsweise politische Inhalte zu transportieren (die Hl. Familie als deutsche Familie, die Pietà für Revolutionsopfer von Hoetger oder Arno Brekers Kameraden; vgl. Dorren, Trauer 1992, S. 57). 689 | Vgl. Goetz 1984, S. 180. 690 | Vgl. Brand 1979, S. 208. Diese Einschätzung ist zu pauschalisierend. Nach Goetz schuf Meunier im Gefolterten einen Arbeiter-Christus, der stilistische Vergleichspunkte zu Rodins Ehernes Zeitalter aufweist. Sicher ist, dass sich Meunier auch in anderen Arbeiten explizit christlichen
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Abbildung 55: Meunier, Constantin, Der Hammerschmied (Le Marteleur), 1890 (1886)
Quelle: Türk 2009, S. 14
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Zu seinem bekanntesten und für sein Gesamtwerk repräsentativsten Figur gehört der Hammerschmied. Meunier zeigt diesen in der klassischen Pose des Kontraposts. Die eine Hand legt er locker auf die Hüfte oberhalb des Standbeins, die andere umfasst fast schon spielerisch sein Arbeitsgerät. Der Kopf ist zur Seite gedreht und schaut gedankenverloren leicht nach unten. Kleidung und Werkzeug weisen ihn als Schmied aus. Der Körper ist muskulös und seine Oberarme zeichnen sich unter dem Oberteil ab. Er verkörpert das Bild männlicher Potenz. Kraft seines Körpers führt er seine Überlegenheit auch selbst noch in der Untätigkeit glaubhaft vor Augen – gleich dem Herkules Farnese oder Michelangelos David. Christine Goetz stellt fest, Meuniers Hammerschmied stehe in der Tradition des belgischen Klassizismus eines Guillaume Geefs.691 Weiter ist auf de Groot zu verweisen, der neben weiteren Arbeiten692 schon um 1870 zeitgleich mit Rodin vollplastische Figuren eines Arbeiters und eines Bauern für die Brüsseler Börse schuf.693
Überlegungen zum Stil Einzelfiguren, denkmalgleich, nehmen einen großen Teil in Meuniers Oeuvre ein. In ihrer Isoliertheit haben sie die Aura des Heroischen,694 die vor allem durch ihre Körper zum Ausdruck kommt. Haltung ist hier symbolisch.695 Über die Körper zeigt Meunier sein Verständnis von Kunst und Arbeit. Wie in fast allen Skulpturen sind sie Ausdrucksträger schlechthin. In seinen Skulpturen stellt Meunier im Gegensatz zu seinen Gemälden und Zeichnungen oftmals die Arbeiter mit nackten Oberkörpern dar. Goetz erklärt, dass Meunier durch »die Nacktheit in Kombination mit der dunklen Bronze die physische Präsenz der düsteren, kohlegeschwärzten Arbeiterkörper am eindrucksvollsten vorführen« konnte.696 Es ist ausnahmslos eine männliche Nacktheit. Goetz führt für das Relief Rückkehr von der Grube an, Meunier zeige zur
Themen widmete. Zu nennen sind: Ecce homo, Gottvater und der Gekreuzigte, Der heilige Hieronymus; indirekt auch Denkmal des Pater Damien in Löwen; zumindest dem Titel nach Der verlorene Sohn, wobei die Darstellung in seiner auf zwei nackte Männer reduzierten Form auch Sinnbild allgemeiner existenzieller Themen sein kann (vgl. Goetz 1984, S. 185). 691 | Mit Geefs’ Werk General Belliard vergleicht Mirabeau Meuniers Skulptur in seiner Salonbesprechung (vgl. Goetz 1984, S. 170). 692 | Türk erwähnt beispielsweise die Kleinplastik Die Arbeit, die er als Real-Allegorie umschreibt (vgl. Türk 2000, S. 196). 693 | Vgl. Rilke 2014, S. 7. 694 | Meuniers Figuren verleiten zu diesem Sprachgebrauch, der im Folgendem noch thematisiert wird. 695 | Ähnliche Körperposen weisen etwa der Schiffsbelader, Lastträger Bergarbeiter mit Axt und Trinkender Mann, Juni auf. 696 | Vgl. Goetz 1984, S. 147.
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Vereinheitlichung der Figuren die Arbeiter alle mit nacktem Oberkörper und verzichte deshalb auf die Frauenfiguren, die im Gemälde noch auftauchen.697 Demnach treffe Meunier die Entscheidung für oder gegen die Nacktheit aus rein formalen Gründen.698 Aussagen wie die von Gensel bestätigen diese Annahme auf den ersten Blick: »Wir sehen künstlerische Dinge immer noch viel zu literarisch an. Gewiß spielt bei Meunier genau so wie bei Millet die Sympathie mit seinen Modellen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aber für die Wahl und erst recht für die Ausgestaltung des einzelnen Kunstwerks geben fast immer rein künstlerische Momente den Ausschlag.«699
Gensel bemerkt weiter, Meunier zeige ›seine‹ Arbeiter aufgrund der Arbeitsumstände weitgehend unbekleidet. Frauen hingegen würden Männerkleidung tragen, die ihre »herben Formen stark zum Ausdruck bringt«. Nacktheit, »dessen Darstellung ja immer die vornehmste Aufgabe des Bildhauer bleiben wird«, bliebe »ganz ungezwungen« Thema, wenn auch nicht im »Ebenmaß der hellenistischen Bildhauerwerke«, da dies nicht zum modernen Leben passe:700 »Aus dem System der Sklaverei entsprang bei den Hellenen die Freiheit. Weil ihnen alle gemeinen Arbeiten abgenommen wurden, konnten sie ihre Körper zur höchsten Schönheit entwickeln. Meunier aber hatte sich gerade die modernen Sklaven als Modelle für seine Arbeiten ausgesucht. Wo der Hellene nur Häßlichkeit gesehen hätte, da sah er Charakter, Übereinstimmung von Form und Wesen.«701
697 | Vgl. ebd., S. 142. 698 | Ebenso wäre auch die Unterrepräsentation weiblicher Figuren zu erklären. Die Alte Holzsammlerin, Bergarbeiterin und Bergarbeiterin mit Grubenlampe stechen besonders hervor. Die beiden letzten entsprechen in der Körpermodellierung und -haltung den gängigen Darstellungen. Es sind keine weiblichen Körper gängiger Vorstellungskonventionen. Das Werk Mutter und Kind meint vermutlich auch eine Arbeiterin, wirft aber eher einen sentimentalen Blick auf eine klassische Frauenrolle. Dieser Modus ist in abgeschwächter Form – der prominent in Szene gesetzte nackte Oberarm widerspricht dem – beim Relief Die Ernte für das Denkmal der Arbeit zu finden: Die Frau ist in ihrer Körperhaltung als statische Figur aufgefasst, während die im Arbeitsprozess begriffene Männergruppe – nur ein Mann streckt sich zur Stärkung vorher noch einmal – an den rechten Bildrand drängt. Nach Gensel nannte Meunier die Frauenfigur Maternité (vgl. Gensel 1905, S. 57). 699 | Ebd., S. 36. 700 | Vgl. ebd., S. 30. Gensel erwähnt in seiner Arbeit das Werk Reitende Frau. Inzwischen hat sich die Forschung darauf geeinigt, dass es sich um einen reitenden Crevettenfischer handelt. 701 | Ebd., S. 30 ff.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 56: Meunier, Constantin, Das Grubengas, 1893
© Georges Jansoone
Nahezu dieselben Argumente begegnen den Lesern 1905 in der Zeitschrift Die Christliche Kunst: »Vielleicht hat Meunier überhaupt in der Plastik die richtigste Form zur Darstellung des Arbeiters gefunden. Denn der moderne ›Athlet‹, der dem Ringer, Diskoswerfer, Wettläufer der Antike gleichkommt, ist unser Arbeiter. Nur er besitzt heute jene Muskelkraft und Muskelanspannung, die diese im Altertum besaßen. […] Unsere Sitten schließen eine sinnfällige Darstellung des Nackten fast ganz aus. Das moderne Gewand ist zur bildhauerischen Darstellung ungeeignet. Hier nun liegt Meuniers zweiter Erfolg. Er wählt sich zur plastischen Darstellung eine Gruppe von Menschen, die nicht nur dank ihrer Muskelarbeit sich zur nackten Darstellung eignen, und deren Beschäftigung eine teilweise Entblössung des Körpers sinnfällig erscheinen läßt, sondern deren Gewandung auch eine stilvolle plastische Darstellung zuläßt. Auch durch den stumpfen,
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»Arbeitende Bilder« düsteren Ton der Bronzen kommt er auf dem Wege der Farbenstimmung dem Vorwurf, dem rußgeschwärzten Arbeiter, im Gesamtkolorit ziemlich nahe.«702
Die (nicht nur) zeitgenössische Sicht auf Meuniers Körper zeigt, dass diese nicht als rein formales Problem, sondern als soziale Körper aufgefasst wurden: »An den Hochöfen, in den Bergwerken begegnete er Menschen, denen die Nacktheit des Körpers durch eine vitale Funktion, durch die Arbeit vorgeschrieben ist. Diese Nacktheit ist echt«703 . Oder Julius Meier-Graefe: »Schön in dem überlieferten Sinne war auch das Nackte bei Meunier nicht, aber es war ernst und von sozialer Bedeutung, ein Zeichen der Zeit«704 . Mit Blick auf Le Grisou bestätigt sich, dass Meunier den Körper in seiner symbolischen, sinnhaft verweisenden Form versteht: Mutter und toter Sohn entsprechen in ihrer Körperlichkeit dem seelischen Zustand Leid und Not. Vor allem der Sohn ist, durch die Gestrecktheit seines Leibes zusätzlich betont, über die Maßen ausgemergelt dargestellt. Bei einem Vergleich zwischen Der alte Bergmann und beispielsweise Ein Glasbläser sind in der Körperbildung kaum Unterschiede wahrzunehmen. Spuren des Alters weist nur das Gesicht des Bergmanns auf. Sonst entspricht sein Körper der üblichen Körperauffassung, die für die Gruppe der denkmalhaften Einzelfiguren gilt, sodass auch sein Körper durch die Gestaltung jenseits des Naturalismus zu einer Würdeformel stilisiert wird. Simmel stellt hinsichtlich des Körpers bei Meunier fest: »Die Arbeit macht den Körper zum Werkzeug; Meunier erfasste es, dass mit ihr auch das Werkzeug zum Körper wird. Indem für Meunier die Arbeitsbewegung den Sinn der menschlichen Erscheinung auf eine in sich befriedigte, geschlossene Art ausdrückte, hat er den Arbeiter für das Reich der ästhetischen Werte entdeckt.«705
Körper – und das klang bereits bei Gensel an – ist aber auch Stil, und dieser wiederum ist intentional: impressionistisch beziehungsweise expressionistisch für Darstellungen des Leides, klassizistisch für heroische Posen. Diese hier als Konzepte und nicht in erster Linie als historisch zu begreifenden Stilformen706 können sich in den Körperrauffassungen und der Materialbehandlung ausdrücken. In Bezug auf die Oberflä-
702 | Scapinelli 1905, S. VI. 703 | Hausenstein 1916, S. 282 f. 704 | Meier-Graefe 1904, S. 541. 705 | Simmel, Rodin 1919, S. 169. 706 | Der Körper bei Meunier ist natürlich auch Kunstgeschichte: Auf den klassizistischen Körper der Antike oder den Körper von Geefs wurde bereits verwiesen. Und auch Brandt sieht im extremen Kontrapost des Abladers einen Donatello (vgl. Brandt 1928, S. 266). Es wird behauptet, Meunier habe die Griechen nie überwunden (vgl. Simon 1932, S. 15).
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chenmodellierung (etwa in Ausfahrt aus der Grube) konstatiert Goetz: »Hier gilt kein anatomischer Realismus, sondern ein Pathos, das den Zustand dieser Leute charakterisieren soll […]. Jeder Fuß, jedes Werkzeug und jede Geste ist Würdeform, feierlich ins Bedeutende gesteigert.«707 Dabei nutzt Meunier die Eigenschaften des Werkstoffes Bronze in all seinen Möglichkeiten. Er operiert mit Licht, das sich in den markanten Höhlungen und Wölbungen bricht und so für Dynamik sorgt.708 Goetz weist auch darauf hin, dass Meunier beim Relief Rückkehr von der Grube auf eine Pastellzeichnung zurückgriff.709 Dieser Medien- und Materialwechsel von der Zeichnung als erzählerisch konzipierte Komposition zum Relief erhält durch die eher impressionistische Gestaltung eine äquivalente Darstellungsform. Besonders treffend beobachtet Goetz am Beispiel Le Grisou: Die Frau ist wie versteinert im Unglück und so wird »das Material selbst zum charakterisierenden Faktor, und auch die mühsame, fast qualvolle Arbeitstechnik.«710 Die Materialqualität von Skulptur respektive Plastik macht im Vergleich zu Meuniers Malerei eine Steigerung ins Monumentale möglich.711 Gensel bemerkt im Zusammenhang mit den Reliefs für das Denkmal der Arbeit: »Das Niederdrückende, Entwürdigende der schweren Arbeit war vor dem Heroischen, das in der Bewältigung der Materie liegt, zurückgewichen.«712 Stil beziehungsweise Form unterstützen dies. Gensel weist, wie auch an anderer Stelle angeführt, auch auf Folgendes hin: »Weitaus die meisten von Meuniers Werken sind Figuren von 50 oder 60 Zentimeter Höhe. Aber sie tragen durchaus nichts von dem Niedlichen an sich, das man gewöhnlich mit dem Namen Statuetten verknüpft, sondern einen so monumentalen Zug, wie nicht eben viele Werke.«713
Genre,714 Historie und Realismus der Ikonografie scheinen bei Meunier vereint: »Er scheint diesen Konflikt zwischen niederem Thema und den hohen Anforderungen des Mediums so gelöst zu haben, daß er das Arbeiterthema entsprechend auffaßte, d. h. aller schmutzigen und niedrigen Elemente entledigte und damit allerdings auch von den Realitä-
707 | Goetz 1984, S. 147. 708 | Vgl. ebd., S. 142. 709 | Vgl. ebd., S. 139. 710 | Ebd., S. 181. 711 | Vgl. ebd., S. 136. 712 | Gensel 1905, S. 57. 713 | Ebd., S. 44 f. Die Rezeption von Meuniers Werken scheint damals wie heute von Reproduktionen auszugehen beziehungsweise von den zahlreichen Vergrößerungen seiner Plastik. 714 | Gensel bemerkt zur Mutter am Denkmal der Arbeit: »So ist auch hier das Genrebild zum Symbol gesteigert.« (Gensel 1905, S. 57)
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»Arbeitende Bilder« ten der Arbeiterexistenz entfernte. In dieser Abstraktheit gleichen die Arbeiter den Helden der Vergangenheit.«715
Die Frage nach der Sozialkritik Die Wahl der Darstellung wird bei Meunier intentional gelesen. Es stellt sich die Frage, ob Meunier mit seinen Werken vermeintlich nicht-künstlerische Inhalte transportieren wollte. Verschriftlichte Äußerungen zu seiner Kunst – wie bisher schon ersichtlich wurde – kreisen um Begriffe wie Pathos, Held, Heroismus, Parteinahme, soziale Bedeutung oder Anliegen, Achtung, Mitgefühl/Mitleid, Wirklichkeit, Verlogenheit, sozialistisch, agitatorisch, Realistik/Realismus, Naturalismus, Monumentalität, Veredelung, Vornehmheit, Größe, revolutionär, oberflächlich, trügerisch, Stolz, Milieu, Verherrlichung. Die folgenden Darstellungen, die von zeitgenössischen und gegenwärtigen Auseinandersetzungen zeugen, belegen dies ausführlich und geben darüber hinaus paradigmatisch die Arten der Annäherung an den Komplex Kunst und Wirklichkeit wieder: »Schon Meunier hat, trotzdem er gemäß den Bezeichnungen seiner Bronzen eine ganz bestimmte Klasse von Menschen bei ganz bestimmten Manipulationen darstellt, Menschen und Dinge, deren Stoffgebiet früher in der Skulptur kaum vorhanden war, nichts von dem Kuriosen, das außerhalb des Künstlerischen die Neugier befriedigt. […] Meunier stellt die Arbeit dar; fast immer tragen seine Gestalten die Narben ihres Schaffens aufrecht. Es sind durchaus keine Opfer des Elends; das Fett, das ihnen fehlt, ist durch Muskeln ersetzt, es sind Heroen der Arbeit, die, selbst am Boden liegend, noch imponieren.«716
Ähnlich wie Meier-Graefe bemerkt Gensel zu den Bergarbeitern: »Wie Helden erscheinen sie uns.«717 Das Heroische konstatiert auch Georg Malkowsky: »Ein Vortrag über den Bildhauer Meunier, den Verherrlicher des Sieges der organisierten körperlichen Arbeit über die rohe Naturgewalt, wird stets mit dem Verständnis der breitesten Massen zu rechnen haben.«718 Willi Wolfradt fordert für die neue Skulptur das Monumentale und äußert in Bezug auf Meunier: »Der Proletarier ist vielleicht in der Gedrungenheit und alatenten Dynamik seiner gleichsam durch den sozialen Druck zusammengepreßten Erscheinung nicht das ungeeignetste Vorbild einer echten Plastik. […] Auch als Vertreter der Volksmasse, in der bei all ihrer quantitativen Schwere ungeheure Kräfte der Erhebung und Entladung aufgespeichert sind, käme dem Wollen
715 | Goetz 1984, S. 54. 716 | Meier-Graefe 1904, S. 542 f. 717 | Gensel 1905, S. 20. 718 | Malkowsky 1919, S. 16.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich der neuen Skulptur rein stofflich entgegen. Meunier ist an diesen Möglichkeiten nicht vorübergegangen. […] Ein bißchen Genre, Zolaismus schleppt nach. In seinem Themenkreis aber tat es ihm keiner nach.«719
Paul Brandt betont, Meunier habe dem belgischen Sozialismus Sympathien entgegengebracht, wenn ihm auch der agitatorische Stil eines Courbet fremd gewesen sei.720 Selz formuliert 1963: »Sein ganzes Werk ist Hymnus auf die Arbeit und spiegelt in einem spröden, manchmal sentimentalen Lyrismus die sozialen Anliegen des ausgehenden Jahrhunderts wider. Arbeiter […] sind die Modelle, die er unablässig in all ihrer Müh’ und Plage darstellte, mit einer Kraft und Vornehmheit, die der Größe nicht entbehren, aber auch den Eindruck der Monotonie hervorrufen, woran ziemlich beschränkte Ausdrucksmittel die Schuld tragen mögen.«721
Janson weist auf die gattungsbedingten Voraussetzungen einer Idealisierung von Arbeiterfiguren hin: »[…] his first experiments with sculpture were surely motivated by search for a more ›heroic‹ medium. The heroism of labor, is pride and is pathos, was to bet his theme as a sculptor.«722 Wolfgang Hütt stellt Meunier in eine Reihe mit Kollwitz: »Weit davon entfernt, der Wehleidigkeit der bürgerlichen ›Armeleutemalerei‹ zu folgen, hat Meunier, ähnlich wie Käthe Kollwitz, sehr früh die Schönheit und Größe der arbeitenden Menschen erkannt und ihren Heroismus zum wesentlichen Gegenstand seiner Kunst gemacht.«723
Goetz bemerkt, Meunier stelle bei seinen Arbeiterdarstellungen Milieuszenen oder gar Milieukritik kaum dar.724 Die »Ausschaltung von Milieucharakteristik und beschreibender Anekdote«725 sieht Goetz nicht als Mangel, sondern als besondere Qualität. Meuniers Werke würden nicht zum Mitleid oder zur Anteilnahme auffordern,726 wie auch Liesbeth Jans betont:
719 | Wolfradt 1920, S. 69 f. 720 | Vgl. Brandt 1919, S. 258. 721 | Selz 1963, S. 84 f. 722 | Janson 1985, S. 229. 723 | Hütt 1974, S. 16. 724 | Vgl. Goetz 1984, S. 132. 725 | Ebd., S. 143. 726 | Vgl. ebd., S. 52.
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Der sozialkritische Gehalt der Arbeiten von Meunier war und ist ständiger Diskussionspunkt: »Unter den Vermittlungen von Kunst und Gesellschaft ist die stoffliche, die Behandlung offen oder verhüllt gesellschaftlicher Gegenstände, die oberflächlichste und trügerischste. Daß die Plastik eines Kohlenträgers gesellschaftlich a priori mehr besage als eine ohne proletarische Helden, wird nachgerade nur dort noch nachgebetet, wo die Kunst, nach volksdemokratischem Sprachgebrauch, strikt ›meinungsbildend‹, als wirkender Faktor in die Realität einbezogen und deren Zwecken subsumiert wird, meist um die Produktion zu steigern. Meuniers idealisierter Kohlenträger fügte sich samt seinem Realismus jener bürgerlichen Ideologie ein, die dadurch mit dem damals noch sichtbaren Proletariat fertig wurde, indem sie auch ihm schönes Menschentum und edle Physis bescheinigte.«728
Theodor Adornos ›linke‹ Sicht auf Meuniers Kunst ist nach wie vor aktuell. Er betrachtet sie als Produkt eines Verblendungszusammenhangs, das zur Stabilisierung der Verhältnisse beiträgt: »Der Arbeiter wird als von Gott auferlegtes Los des Menschen gewürdigt; eine gesellschaftskritische Anklage wird nicht formuliert. Gleichwohl findet man bei Meunier eine Zwiespältigkeit. In seinen Gemälden wird häufig die drückende Last extremer Arbeitsbedingungen hervorgehoben, in seinen Skulpturen drückt sich demgegenüber häufig eine Heroisierung des Arbeiters aus.«729
Sozialkritik als eine Frage des Stils Auf den ersten Blick bemerkenswert ist, dass sich die Frage nach der Sozialkritik auch an die Frage des Stils und mit ihm an Medium und Gattung knüpft:730 »[C]an art serve
727 | Jans, Plastik 1992, S. 92. 728 | Adorno 1973, S. 341. 729 | Türk 2003, S. 95. Das Gemälde Bergarbeiterin auf der Treppe – bezeichnenderweise eine Frau – kann als Beispiel für die Darstellung einer Pause von der drückenden Last der Arbeit herhalten. 730 | Nicht nur Stil, sondern auch Medium beziehungsweise Gattung sind hier zu beachten: »Die Griffelkunst hat die Malerei mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Elendesmalerei
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social ends without losing its qualities as art?«731 Kuhn bemüht sich um eine differenzierte Einschätzung Meuniers: »Die Grundstimmung der Zeit war sozialen Themen zugeneigt. Meunier war aktuell.«732 Meunier sei gegenüber den Problematiken seiner Zeit nicht blind gewesen. Kuhn charakterisiert seine Kunst daher folgendermaßen: »Er verband Realistik der äußeren Aufmachung, unpathetische Sujets mit einer Monumentalität der Form und einer Plastizität im einzelnen, die erregten.«733 Auffällig ist die Formulierung »Realistik der äußeren Aufmachung«, die sich im Folgenden klärt: »Die über das Individuelle hinausgehobene Typik seiner Figuren, das unter Schurzfell, Arbeiterhose versteckte Klassische, das Imposante der Gesichtsbildung, kurz die Adelung des Arbeiters taten das Nötige. Das Romanische stellte das heroische Pathos, […] Steigerung des Nurcharakteristischen ins Klassischideelle, wie überhaupt für den ganzen antiken Apparatus, der unter den Bergmannskleidern immer sichtbar wird. Nur wenn man sich dies klar macht, kann man begreifen, daß diese im Grunde doch verlogene Kunst, deren Verlogenheit man erst richtig faßt, wenn man Blätter von Käthe Kollwitz daneben hält, auf die Gebildeten einen solchen Eindruck machen konnte. Der Arbeiter, der neue Gott der Zeit, war idealisiert. Man brauchte sich nicht um seine soziale Lage zu betrüben, man bekam keine Anklagen in Gestalt unangenehm naturgetreuer Realistika zu sehen, sondern man erblickte den durch die Arbeit gefürsteten Heroen. Auf einmal schien eine Synthese gefunden. […] Das Proletariat, sofern es überhaupt Kunst besah, fühlte sich geschmeichelt, das Bürgertum behielt seine Ruhe und seinen gesundheitsfördernden Mittagsschlaf.«734
Zwei Dinge werden hier – und das vor Adorno – deutlich: Kuhn sieht den Darstellungsmodus, das heißt die Verwendung einer an der antiken Klassik geschulten Formensprache als Zeichen einer verlogenen Kunst an. Wie schon Heinrich Hübsch kritisiert Kuhn den Klassizismus als »Lügen-Styl«735. Aufgabe der Künstler müsse es demnach auch sein, eine zeitgemäße Gestaltungsform zu entwickeln. Meunier bleibe jedoch in kunsthistorischen Formeln verhaftet. Und durch so eine Kunst, so der zwei-
und Rinnsteinkunst forderten auch eine Proletarisierung der Darstellungsmittel.« (Simon 1932, S. 56) 731 | Herbert 1961, S. XIV. 732 | Kuhn 1922, S. 74. 733 | Ebd., S. 74. Ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Autoren ist die Formulierung »unpathetisch«. Pathos war bei vielen eine entscheidende Beschreibungsvokabel. Goetz überschreibt ihr Kapitel zum plastischen Werk Meuniers sogar mit Arbeit und Pathos (vgl. Goetz 1984, S. 130). 734 | Kuhn 1922, S. 75. 735 | Hübsch 1828, §11.
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te wichtige Aspekt, können sowohl Bürger als auch Arbeiter weiterhin unkritisch die bestehenden Verhältnisse hinnehmen. Simon reiht sich ebenfalls hier ein: »Meuniers derbste Arbeiter wirken fast heldenhaft neben den Gestalten aus Zolas Germinal. Erst Käthe Kollwitz hat durch die Wucht der sozialen Anklage und die Stärke ihrer Schöpferkraft die naturalistische Literatur mit einem Schlag überholt. Meunier ist ebenfalls nicht im vollen Sinne des Wortes modern. Er modelliert seine Statuen so, ›wie die Griechen es getan hätten, wenn sie anstatt reinlichen Heroenkultus zu treiben, mitleidigen Sinnes ihre Sklaven nachgebildet hätten‹ (Scheffler, S. 79).«736
Bei Meunier, so Wilhelm Hausenstein 1916, »[…] zeigt sich das sozial-ästhetische Problem im Verhältnis von Plastik zur Kultur des Zeit.«737 Brandt ›prüft‹ das Verhältnis von Form und Inhalt weniger stark in Bezug auf die Frage nach dem sozialkritischen Impetus: »Wie modern-realistisch dieser muskelstarke Arbeiter mit Stiernacken und kleinem Kopf, der sein Pferd zur Schwemme reitet! […] Die monumentale Größe des Werkes liegt, ähnlich wie 168 [= der Mäher von Meunier], in der Bändigung und Veredelung des modernen Realismus durch klassisch-antikes Stilgefühl.«738
Simmel schickt seinen Analysen zu Rodin auch einige Gedanken zu Meunier vorweg: »Zwei Plastiker, beide mit der Neuheit ihres Werkes die Neuheit unsrer Zeit verkündend, bedeuten das Verschiedenste für unsre Kultur eben dadurch, dass von dem einen die Plastik einen neuen Inhalt von dem andern eine neue stilistische Ausdrucksform gewinnt, jener sozusagen einen neuen Kulturgedanken, dieser das neue Kulturgefühl in seiner Kunst lebendig machte: Meunier und Rodin.«739
Die Rezeptionsgeschichte von Meunier steht exemplarisch für den Diskurs über Stil in Hinsicht auf das Dekorum. Kunstwürdigkeit korreliert dabei mit Stilgerechtigkeit.
736 | Simon 1932, S. 10-14. »Auch bedeutet Meuniers Mitleid keine energische Bedrohung bestehender Verhältnisse. Dennoch haben sozialistische Blätter mit Recht seine Kunst für Tendenzzwecke verwertet […]. Mit Genugtuung spiegelt sich der moderne Arbeiter in dieser imposanten, bei aller Realistik der technischen Mittel, idealisierenden Darstellung, lieber vielleicht als in der erbarmungslos wahrhaftigen Anklagekunst der Käthe Kollwitz.« (Ebd., S. 13) 737 | Hausenstein 1916, S. 181. 738 | Brandt 1919, S. 61. Brandt vergleicht den Diskobol von Myron mit dem Mäher von Meunier (vgl. ebd., S. 100). 739 | Simmel, Rodin 1919, S. 168.
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Goetz betont, dass Meuniers Zeitgenossen – beispielhaft sei Franz Mehring genannt, der sich 1891 begeistert zu Meuniers Kunst äußerte – ein heroisches Arbeiterbild als angemessen ansahen und dieses auch erwarteten.740 Und obwohl Meuniers Intention über jedwede Kritik – etwa der Vorwurf der Ausbeutung des Arbeiters im Sinne einer reinen Objektivation durch die Kunst – erhaben ist, so kommt in seinen Werken eine ›Ästhetik des Widerstandes‹ nur bedingt zum Tragen: Eine linke Anschauung – hier im doppelten Wortsinn – ist nicht erkennbar und wird laut Kuhn und Simon erst später bei Kollwitz sichtbar.741 Meunier selbst formulierte sein Anliegen folgendermaßen: »Moi […] je ne fais pas de politique par humanité. J’ai une grande sympathie pour l’ouvrier si digne d’intérêt et que l’on exploite souvent odieusement – je trouve le Travail assez noble pour être glorifié.«742
Die Rolle Meuniers für die Kunstgeschichte »So wie sich Meuniers Zeitgenossen fast durchgängig positiv zu seinen Arbeiterdarstellungen äußerten, fand der Künstler auch empathisches Lob bei Autoren der 20er Jahre und auch noch heute noch wird sein Werk mit Anerkennung betrachtet«743,
so Goetz. In der zeitnahen Forschung findet Meunier große Beachtung:744 »Der berühmteste Plastiker Belgiens ist C. Meunier, […].«745 Oder: »He also discernes better than any other sculptor the estetic values of labor’s body, molded, muscularized, made lithe, and hardened by toil.«746 Karl Ernst Osthaus lobte Meunier, weil dieser dem Modell nur das künstlerisch Verwertbare entnehme und alles ins Wesentliche steigere.747 Allein indem Meunier das Thema der Arbeit so prominent aufgriff, es zu einem darstellenswerten Sujet machte, konnte ein wichtiger Entwicklungsschritt innerhalb der Kunstgeschichte vollzogen werden. Meunier gehört auch deshalb zum Kanon der
740 | Vgl. Goetz 1984, o. S. Schmoll gen. Eisenwerth verweist auf die positive Rezeption des Werkes aufseiten der Sozialisten (vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 260). 741 | Simmel sieht Meuniers Werk durchaus als Verbildlichung der Ideale der Arbeiterbewegung (vgl. Simmel, Rodin 1919, S. 170 f.). 742 | Brief von Meunier an Carl Jacobsen zit. n.: Levine 1996, S. 36. 743 | Goetz 1984, o. S. 744 | Darunter beispielsweise auch Meier-Graefe 1904, S. 541. 745 | Kuhn 1933, S. 210. 746 | Post 1921, S. 184 ff. 747 | Vgl. Lülf 1993, S. 150.
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etablierten Kunstgeschichte und zahlreiche Künstler setzten sich außerhalb Belgiens748 mit seinem Werk auseinander. Darunter waren etwa Wilhelm Lehmbruck 749, Bernhard Hoetger750 oder Karel Niestrath751. »Ich muß sagen, ich habe sehr wenig dafür übrig, meiner Anschauung fehlt […] hierfür sogar jegliches Verständnis […] nun ja, ich gehöre auch zum alten Eisen«752, so die Antwort von Reinhold Begas auf die Frage nach Rodin und Meunier. Diese Äußerung kommt im Hinblick auf den Status Meuniers als ›modernem‹ Künstler einer Adelung gleich. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Denkmals der Arbeit war Meunier ein gefeierter Künstler im In- und Ausland und seine Werke fanden sich, wie sein Freund Lemonnier stolz berichtet, auch in den Häusern der Reichen und Mächtigen.753 Sie waren auf zahlreichen Ausstellungen präsent, fanden dort lobende Worte seitens der Kunstkritik und wurden von privaten Sammlern und Museen vor allem in Frankreich und Deutschland angekauft.754 Viel Beachtung fanden die 1885 im Salon Le XX. in Brüssel ausgestellten Werke Puddler und Lastenträger. Daraufhin wurde 1886 der Hammerschmied in Paris gezeigt, den Kritiker wie Gustave Geffroy und Octave Mirabeau begeistert besprachen.755 Ein anonymer Kritiker der Jeune Belgique beschreibt den Hammerschmied als ehrenwerte Ausnahme von den sonst dort präsentierten Werken.756 Nach Schmoll gen. Eisenwerth wurden sowohl die neue Thematik des Industriearbeiters als auch die formale Umsetzung mit ihrer anspruchsvollen Monumentalisierung allgemein wertgeschätzt.757 Werke von Meunier wurden auf der Eröffnungsausstellung der Galerie Cassirer in Berlin 1898, auf der Ausstellungen der Berliner Sezession 1900 und 1901 und im selben Jahr auf der VII. Internationalen Ausstellung im Münchener Glaspalast gezeigt.758
748 | Meuniers Einfluss kann man in Deutschland, Österreich und Skandinavien sehen (vgl. Janson 1985, S. 231). 749 | Vgl. Hüfler, Lehmbruck 1984, S. 162. 750 | Vgl. Dorren, Trauer 1992, S. 60. 751 | Vgl. Lülf 1993, S. 106. 752 | Begas zit. n.: Kähler 1996, S. 210. 753 | Vgl. Goetz 1984, S. 235. 754 | Vgl. ebd., S. 58. 755 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 256. 756 | Vgl. Goetz 1984, S. 162. Ausgerechnet die Darstellung der Kleidung wird hier als innovatives Element gewürdigt (vgl. ebd., S. 160). 757 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 256. 758 | Vgl. Jans, Plastik 1992, S. 92. Eine weitere Ausstellung fand etwa 1899 statt (Berliner Sezession mit Adolf von Hildebrand und Fritz Klimsch (vgl. Kuhn 1922, S. 72). Der Schiffsbelader wurde zu einem Symbol für Antwerpen (vgl. Janson 1985, S. 230).
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Hieraus wird zum einen deutlich, welche wichtige Rolle Meunier für die Verbreitung und Etablierung des Themas Arbeit in der modernen Kunst spielte, und zum anderen zeigt sich, dass Arbeiter bei Meunier für den Salon – ob nun für den offiziellen als Groß- oder für den heimischen als Kleinplastik – geschaffen wurden.759 Deshalb arbeiten die Arbeitenden bei Meunier auch nicht durchweg, sondern erscheinen zumeist als denkmalgleiche Einzelfiguren – eine Form der Abstraktion, die auch allegorische Darstellungen bestimmt. Meunier war laut Türk darum bemüht, »[…] die Realität der hochkapitalistischen Industriearbeit aus der Arbeiterperspektive heraus darzulegen und nicht aus der Perspektive der Nutzung menschlicher Produktivkraft«760 . Dementsprechend bleibt offen, wie sehr diese Skulpturen den Arbeitenden galten, für sie – etwa als mögliche Käufer – wurden sie in jedem Fall nicht geschaffen.
Die Darstellung von Arbeit in der Skulptur des Deutschen Kaiserreichs »Realistische Arbeiterdarstellungen waren in Berlin um die Jahrhundertwende noch unbeachtet. Im Hinblick auf den Realismus aber gibt es durchaus Werke, die damit verglichen werden können, so z. B. Adolph Brütts Fischer (Gerettet, 1887), die Darstellung eines alten Fischers in seiner Arbeitskleidung, der aber nicht in seiner Eigenschaft als Arbeiter, sondern durch die Tat der Rettung einer jungen Frau zum Motiv für eine lebensgroße Bronze werden konnte. Gerhard Janenschs Der Schmied (Bronze 1897) ist zwar realistische Arbeiterdarstellung, beinhaltet aber den literarischen Bezug zu Schillers Glocke.«761
Dieses für Deutschland gezeichnete Bild der Arbeiterdarstellungen in der Skulptur ist in dieser verkürzten Form durchaus zutreffend. Es waren zwei – längere Zeit in Paris lebende – Bildhauer der nicht mehr dem Historismus zugeordneten Generation, die zu den auffälligsten Vertretern dieses Bildthemas werden sollten: Hoetger und Lehmbruck.762 Über sie heißt es 1921: »The most prominent German sculptors
759 | Nach Brandt entstand 1886 mit dem Hammermeister – damit wird der Hammerschmied gemeint sein – die erste Großbronze von Meunier (vgl. Brandt 1928, S. 256). 760 | Türk 2000, S. 182. 761 | Kähler 1996, S. 34. 762 | Hoetger und Lehmbruck hielten sich längere Zeit in Paris auf, ohne eine staatliche oder private Kunstakademie besucht zu haben (vgl. Kähler 1996, S. 167).
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Abbildung 57: Lehmbruck, Wilhelm, Steinwälzer, 1904-05
Quelle: Lepper 2005, S. 59
who have been affectes by Maillol are Bernhard Hoetger and Wilhelm Lehmbruck.«763 Ungefähr 60 Jahre später hat sich die Bewertung nicht geändert: »Die [Düsseldorfer] Akademie konnte ihrem Kunstwollen keine Impulse verleihen. Ihre individuelle Stilfindung setzte unabhängig von der Lehre Janssens ein und orientierte sich an der europäischen Moderne.«764 Ist die Hinwendung zu modernen Themen deshalb nur notwendige Konsequenz des modernen, avantgardistischen Künstlers? Maurice Dorren erläutert, dass infolge der Industrialisierung und dem dadurch aufkommenden Kommunismus und Sozialismus das Interesse an Arbeitern größer wurde und sich
763 | Post 1921, S. 179 f. 764 | Dresch 1984, S. 110.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
deshalb auch Künstler wie Meunier und in seiner Nachfolge Hoetger und Lehmbruck diesem Thema zuwandten.765 Im Hinblick auf eine soziale Ikonografie ist das Relief Menschliche Maschine das zentrale Werk in Hoetgers Schaffen, sieht man von seinen späteren Figuren für das Bremer Volkshaus ab.766 In seiner Zeit (1902 bis 1905) in Paris entstanden mehrere kleine Bronzen wie Bettler und Tauzieher.767 In Paris lernte er den dort seit 1910 lebenden Lehmbruck kennen und beeinflusste dessen künftiges Schaffen.768 Für Lehmbrucks Frühwerk war wie für viele andere auch zunächst einmal Meuniers Einfluss entscheidend, den Jans beispielsweise im Werk Die Arbeit ausmacht.769 Dasselbe kann man für das Relief Bergmann vermuten, obwohl Lehmbruck mit der Welt der Industriearbeit aufgrund seiner Biografie – er ist in einer Bergbauregion aufgewachsen – bereits zuvor vertraut war. Mit seinem Eintritt in die Akademie in Düsseldorf 1901 zeigte er nicht nur Interesse an Meunier, sondern auch an George Minne und Rodin sowie an den Literaten Émile Zola und Gerhard Hauptmann. Es entstanden in dieser Zeit die Werke Schlagende Wetter, Nach der Arbeit, Eisengießer und Bettlerpaar.770 Wie Meunier zeigt auch Lehmbruck die körperlichen Gefahren der Arbeit am dramatischen Beispiel des Bergmanns, der durch auch ›Schlagende Wetter‹ genannte Grubengas starb. Während Meunier das Einzelschicksal durch seine Anleihen an die Ikonografie der Mater dolorosa und des toten Christus religiös überhöht, schafft Lehmbruck eher eine Situation familiärerer Trauer. Nach einer Italienreise im Jahr 1905 entfernte sich Lehmbruck vom Thema Arbeit, ohne es jedoch gänzlich aufzugeben, wie etwa der Entwurf für das Monument der Arbeit von 1907/08 zeigt. Stilistisch
765 | Vgl. Dorren, Trauer 1992, S. 59. Hoetger in der Nachfolge Meuniers zu sehen, ist gängige Forschungsmeinung, etwa auch bei Kähler (vgl. Kähler 1996, S. 184). Jans sieht die Entwicklung dieses Themas – und so auch die Tendenz zur Idealisierung – als Folge einer für den freien Markt geschaffenen Bildhauerkunst (vgl. Jans, Plastik 1992, S. 92). 766 | Schmoll gen. Eisenwerth führt die späteren Figuren am Volkshaus in Bremen auch unter dem Aspekt des Denkmals der Arbeit an (vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972). Van der Coelen erarbeitet an anderer Stelle anhand der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes einen bemerkenswerten Befund zu dieser auf den ersten Blick so sozialkritischen Arbeit Hoetgers: »Der Interpretation einiger Autoren aus Hoetgers unmittelbarer Umgebung folgend, sind sie eher aus einer Begeisterung für die Wiederbelebung des nationalen oder niederdeutschen Gedankenguts hervorgegangen, als aus der Affinität zum internationalen Klassenkampf. Die Wurzeln seiner Inspiration sind eher in den Mooren um Worpswede als in den Bremer Schiffswerften zu suchen.« (Coelen, Exkurs 1992, S. 172) 767 | Vgl. Honisch 1976, S. 104. 768 | Vgl. Kähler 1996, S. 186. 769 | Jans, Plastik 1992, S. 92. 770 | Vgl. Hüfler, Lehmbruck 1984, S. 162.
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Abbildung 58: Janssen, Karl, Steinklopferin, 1902
Quelle: Zacher 1992, S. 172
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
betrachtet ist in dieser Phase bei Hoetger eine große Nähe zu Rodin, bei Lehmbruck eher zu Meunier auszumachen. Die künstlerischen Biografien sind in ihren Darstellungen auch das Ergebnis einer Kunstgeschichte der Avantgarden, wie die eingangs aufgeführten Autoren belegen. Es ist keineswegs falsch, wenn das Interesse der Künstler am Arbeiter in Beziehung zur Industrialisierung und zum Sozialismus und Kommunismus gesetzt wird.771 Aber damit ist nicht gesagt, dass Avantgarde und Arbeitsthematik zusammengehören. Zeitgleich zu Hoetgers Menschliche Maschine und noch vor Lehmbruck entstand Die Steinklopferin des Lehrers der beiden und dem ›akademischen Stil‹ verhafteten Karl Janssen. Wie viele Beispiele belegen, war das Thema Arbeit in der Skulptur nicht der Avantgarde vorbehalten, wenn auch mit Dieter Honisch eine Entwicklung zu konstatieren ist, »[…] die sich immer stärker einer Analyse der künstlerischen und sozialen Verhältnisse zuwendet.«772 Die Steinklopferin stellt eine Ausnahme im Oeuvre Janssens dar. Er greift hier das von Courbet eingeführte Thema des Steinklopfens auf. Dasselbe Thema wählte 1880 vor ihm schon D’Orsi mit Proximus Tuus. Janssen verknüpft es jedoch mit der Darstellung einer Mutter-Kind-Szenerie. In ähnlicher Pose – auf den zu bearbeitenden Steinen sitzend, mit gespreizten Beinen – wendet der männliche Arbeiter bei D’Orsi den Kopf erschöpft nach unten, während die weibliche Arbeiterin bei Janssen ihren Kopf zu dem Säugling dreht, der neben ihr auf dem Boden liegt. Die Drehung offenbart nicht nur die soziale Komponente einer (liebevoll fürsorglichen) Mutter – trotz ihrer schweren Arbeit hat sie Zeit (ist es ihr wichtig), nach dem Kind zu schauen –, sondern inszeniert ihren Körper als einen gesunden, mütterlichen und zugleich erotischen: Sie ist in ein Mieder gekleidet, das nicht nur aufgrund der Körperdrehung spannt, der Blick in das Dekolleté wird durch Drehung und leichtes Beugen nach vorne gewährt. Ihre nackte Haut an Oberkörper, Beinen und Armen ist glatt und ebenmäßig – wie bei einer Statue möchte man sagen –,773 ihr Gesicht ist entspannt. Auch D’Orsi legt den Blick auf das Dekolleté durch einen tiefen Ausschnitt am Hemdkleid, das formlos den Körper bedeckt, frei. Sichtbar wird der ausgemergelte Brustkorb, der in seiner Inszenierung, das heißt durch die Form der Falten zum Stigma – ähnlich der Wunde Christi – seiner Existenz wird. Auch der übrige Köper ist fleischlos, sein Blick scheint leer. Bei einer solchen Gegenüberstellung verwundert die immer schon ambivalente Wahrnehmung nicht. So meint etwa Brandt 1928:
771 | Vgl. Dorren, Trauer 1992, S. 59. 772 | Honisch 1976, S. 94. 773 | Dies ist stilistisch – auch in der psychologisierenden Charakterisierung der Frau – ein Frauentyp, wie ihn Chapu für seine Jeanne d’Arc entworfen hat, nur dass Janssen die erotische
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Abbildung 59: Röttger, Johannes/Bauer, August, Bismarck-Denkmal (Industrie), Düsseldorf 1899
© Jürgen Wiener
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Von der Arbeit der Frau geben wir ein so liebenswürdiges Werk wie des Düsseldorfers Karl Janssen Steinklopferin. […] Der Anschluß an die Natur ist durch Vereinfachung geadelt, die Mütterlichkeit ohne Sentimentalität und Effekthascherei gegeben – ein Lächeln auf dem schönen Angesicht der Mutter, und der entzückende, zwischen Heiterkeit und Ernst mitten inneschwebende Eindruck der Gruppe, die Milderung der schweren, der weiblichen Natur im Grunde nicht gemäßen, nur durch die Not auferlegten Arbeit durch das edelste Gefühl, wäre bedenklich erschüttert.«774
Der Düsseldorfer Sammlungskatalog erläutert zu dem Werk: »Die realistisch modellierten Einzelheiten, besonders der Kleidung, betonen durch den Kontrast die stimmungsvolle Szene. Das Bürgertum nannte Werke dieser Thematik abwertend ›Armeleutekunst‹. […] Während Courbets Gemälde von seinen Zeitgenossen als häßlich abgelehnt wurde, fand die Steinklopferin von Janssen, wohl wegen der gefühlsbetonten Darstellung der Mutter-Kind-Beziehung Anerkennung und wurde bereits 1902 von der Stadt Düsseldorf für ihre Kunstsammlungen erworben.«775
Nach Peter Bloch zeigt Janssen »[…] keineswegs einen progressiven Schritt in das proletarische Milieu, sondern Anleihen bei Motiven einer Genremalerei, wie sie gerade die Düsseldorfer Schule pflegte. […] Mutterglück beseelt das amorphe Stück Erde und geht zu Herzen.«776 Dementsprechend kann der folgenden Beschreibung Alfred Meurers der Figur der Industrie am Bismarck-Denkmal in Düsseldorf von Johannes Röttger und August Bauer auch nur bedingt zugestimmt werden: »Die Erscheinung Industrias vermittelt weniger den Eindruck einer allegorischen Idealfigur als den einer nur geringfügig idealisierten deutschen Fabrikarbeiterin: kräftig gebaut, in selbstbewusster, breitbeiniger Sitzhaltung, den linken Arm in die Hüfte gestemmt, entschlossen in die Ferne schauend. Alle Merkmale von Physiognomie, Körperhaltung, Mimik und Kleidung tragen zum Eindruck einer arbeitswilligen und -fähigen Leistungsträgerin bei. Es ist ›die Frau aus dem Volke‹ […], als Zeichen der ›kräftig aufblühenden Industrie‹, wie der Düsseldorfer Baurat Eduard Endell als zeitgenössischer Kommentar des Denkmals formuliert hat. Wie ihr gesamter Körper, so ist auch die einfache Arbeitskleidung mit Schürze von grober, praktisch verwendbarer Be-
Komponente mit einbringt, wie sie deutlich auch bei mehreren von Władysław Marcinkowskis geschaffenen Figuren (beispielsweise Sitzendes Mädchen) zu finden ist. 774 | Brandt 1928, S. 328 f. 775 | Zacher 1992, S. 172. 776 | Bloch 1975, S. 60.
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»Arbeitende Bilder« schaffenheit, wobei die straffe Schnürung ihres Oberteils und die sich daraus ergebende horizontale Faltung des Stoffes ein weiteres Mal auf die Kraft ihres Körpers hinweist.«777
Und an anderer Stelle heißt es: »Die Typen der weiblichen Figuren lassen sich unterteilen in solche, die entsexualisiert wirken, vermännlicht, wie die Arbeiterin des Düsseldorfer Bismarckdenkmals, oder unnahbar keusch […] und andere, die durch sinnliche Fülle, kalkulierte Sparsamkeit der Bekleidung und den Körper betonenden Gesten die erotischen Reize hervorkehren.«778
Es mag eine Frau in einfacher Kleidung gezeigt werden, dennoch ist nicht von einer »geringfügigen« Idealisierung und Entsexualisierung der Arbeiterin, wie die Analyse von Körper und Kleidung gezeigt hat, zu sprechen: Hier überlagern sich stolze Posen einer Germania779 und ein sexualisierter Frauenkörper:780 Die Brust einer Frau verweist nicht nur in dieser Zeit eher auf ihre sinnlichen Reize und nicht wie bei männlichen Figuren – auch wenn hier ebenfalls der Aspekt der Sinnlichkeit (durchaus homoerotischer Art) nicht ausgeklammert werden darf – auf Stärke oder gar im sprichwörtlichen Sinn auf eine Heldenstatur. In diesen komplexen Überlagerungen
777 | Meurer 2014, S. 41 f. Die Figur einer scheinbar dem Volke entstammenden Frau als Personifikation kommt bereits beim Denkmal für Peter Beuth vor. 778 | Ebd., S. 211. Plagemann bemerkt dazu: »Das Düsseldorfer Denkmal stellt die ›aufblühende Industrie‹ als schöne Frau, bar jeder Probleme dar.« (Plagemann 1972, S. 247) 779 | Auch der Körper der Germania als weiblicher Körper unterlag bestimmten Konstruktionsmustern: »Blickt man genauer hin, und beachtet man vor allem den Rezeptionskontext derartiger Figuren, so lässt sich feststellen, dass mithilfe der zahlreichen Germania-, Helvetia-, Mariannedarstellungen nichts anderes intendiert war, als eben jenes Potential des weiblichen Körpers als Geschichtsallegorie doppelter (natürlicher und politischer) Konnotation dienstbar zu machen. Die vermeintliche Zeitlosigkeit des Weiblichen verlieh diesen Allegorien – neben den durch Attribute verliehenen traditionell ikonographischen Konnotationen.« (Genge 2002, S. 23) Es gab außerdem Bedenken, ob eine weibliche Figur mit der Idee der Wehrhaftigkeit zu vereinen sei. So meinte Otto von Bismarck angesichts des Niederwalddenkmals: »Die Figur der Germania finde ich nicht passend. Ein weibliches Wesen mit dem Schwert in dieser herausfordernden Stellung ist etwas Unnatürliches.« (Bismarck zit. n.: Hoffmann 2002, S. 72) 780 | Meurer ist sich durchaus der »[… ] erotischen Sicht männlicher Begehrlichkeit und den männlich bürgerlichen Rollenverständnissen […]« (Meurer 2014, S. 210) dieser Zeit bewusst und sieht die mit ihren Schlüsselreizen lockende Frau vor allem im Bereich der Produktwerbung, etwa der Elektroindustrie (vgl. ebd., S. 210 f.).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 60: Breuer, Peter, Industrie, 1897
Quelle: Bloch, Kunst 1990, S. 303
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von Sinnebenen entspricht sie ganz einer weiblichen Allegorie.781 Konrad von Lange bemerkt 1901 allgemein zur Allegorie: »Die inhaltlich abstrakteste Allegorie ist künstlerisch berechtigt, wenn sie nur vom Maler mit natürlichem Leben erfüllt ist, wenn man nur angesichts ihrer Darstellung das Gefühl hat, dass das lebendige Menschen von Fleisch und Blut sind.«782 Silke Wenk trifft in Anlehnung an Aby Warburgs Konzept des sozial bestimmten Bildgedächtnisses und Walter Benjamins Annahme des optischen Unbewussten folgende Aussage: »Trotz des vielfach behaupteten ›Endes der Allegorie‹ haben weibliche Allegorien in der Bilderwelt des 19. Jahrhunderts eine große Verbreitung. […] Man verständigt sich mittels Bildern des weiblichen Körpers, ohne darüber zu sprechen. […] Gegen die Vorstellung ihrer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit ist historisch zu analysieren, wie ihr Bedeutendsein geworden ist.«783
Singulär ist das Werk von Janssen in jedem Fall: Es zeigt wie nur wenige einen weiblichen Arbeiter.784 Als weiteres Beispiel ist Fritz Heinemanns Heimkehr vom Felde zu nennen. Auch hier wird wieder eine Mutter mit zwei Kindern gezeigt.785 Das Gipsmodell wurde vermutlich als Vorlage für die kommerzielle Vervielfältigung angefertigt und dient Bloch als Beispiel für auftragsfreie Kunst.786 Weibliche Personifikationen zum Thema Arbeit gehören jedoch sowohl als Einzelfiguren als auch architekturbezogen zum gängigen Repertoire der Skulptur dieser Zeit. Als Einzelfiguren waren sie beliebte Motive für industrielle Bronzen und dienten etwa als Jubiläumsgeschen-
781 | Man wollte bewusst mehrere, sich überlagernde Bedeutungen in Denkmälern ausdrücken (vgl. Feist 1987, S. 316). »Man kann die Repräsentationsverhältnisse der Bilder des Weiblichen nur paradox beschreiben. Bilder des Weiblichen repräsentieren in zweifacher Weise: gesellschaftliche Bereiche, aus denen Frauen ausgeschlossen sind, und nicht Abbildbares – Werte, Normen, Institutionen dieser Bereiche.« (Wenk 1996, S. 61 f.) Und weiter: »Die Bilder weiblicher Körper in der Allegorie bedeuten ›Weiblichkeit‹ nur in Opposition zu ›Männlichkeit‹.« (Ebd., S. 67) Dementsprechend wird der Körper der weiblichen Allegorie im Düsseldorfer Beispiel inszenatorisch ausgestellt. 782 | Lange, Bd. 2 1901, S. 228. 783 | Wenk 1996, S. 47. 784 | Meunier stellte mehrere Bergarbeiterinnen dar, bei Dalou waren es in der Regel Bäuerinnen. 785 | Weibliche Themenkomplexe dieser Art wie Lieblichkeit, Schönheit und Häuslichkeit gehören zu den beliebtesten Motiven des 19. Jahrhunderts (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 26). Das ist zum einen ein Ausdruck der Zerrissenheit dieser Zeit – Fortschrittsgläubigkeit und Verzweifeln an den Umständen der Zeit – und zum anderen ein Bild für die Geschlechterkonstruktionen: die Frau als Leidende und Inbegriff des Passiven, der Mann als Schaffender und Inbegriff des Aktiven. 786 | Vgl. Bloch, Kunst 1990, S. 301.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 61: Geyer, Karl Ludwig Otto, Flussschiffahrt, 1877
© Jotquadrat
ke für verdiente Mitarbeiter.787 Dies gilt etwa für Breuers Industrie, die aufgrund der Darstellungsweise als Personifikation anzusprechen ist: »Sie ist barfüßig und nur mit Rock und einer langen, derben Arbeitsschürze bekleidet. Der Oberkörper ist nackt. In der Rechten hält sie einen Schmiedehammer […]; die linke Hand umfaßt ein auf dem Oberschenkel abgestütztes, grobes Zahnrad. Das Ganze gibt im ersten Moment den Eindruck einer Fabrikarbeiterin wieder – allerdings in idealisierter Form und nicht der Wirklichkeit entsprechend, denn es ist kaum vorstellbar, daß eine Frau mit so schwerem Arbeitsgerät hantieren soll.«788
787 | Vgl. ebd., S. 303. Besondere Leistungen im Umfeld des Kunsthandwerks wurden mit Medaillen zur Förderung des Gewerbefleißes geehrt, auf denen etwa Minerva mit der Fackel als Symbol der Erhellung und Thalos mit der von ihm erfundenen Säge zu sehen sind (vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 451). 788 | Einholz, Breuer 1990, S. 56 f.
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Das ist wahr und dies gilt auch für die männlichen Beispiele, wenn auch die weiblichen überwiegen: Niemand arbeitet wirklich. Meist sind die Dargestellten nahezu nackt, ob nun Personifikation oder nicht. Für die Darstellung von Männern entspricht etwa Hugo Lederers Bergmann diesem Typus. Mit nacktem Oberkörper steht er unbewegt dar, hält in der einen Hand seine Lampe, die andere ruht auf dem Oberschenkel. August Hudlers Sensendengler sitzt komplett nackt auf einem Stein, während er die Klinge bearbeitet. Ebenfalls komplett nackt schreitet der Sämann von Fritz Klimsch in großen Schritten, der rechte Arm zum Auswurf der Saat im Schwung nach hinten begriffen. Dagegen wurde der Lotse von Julius Robert Hanning nicht nur mit arbeitsgerechter Kleidung versehen, sondern auch mit allerlei attributivem Beiwerk (etwa ein Seil) zu seinen Füßen ausgestattet und weist tüchtig in die Ferne. Das mit Fischfang bezeichnete Werk von Julius Moser zeigt einen bärtigen Mann in antikisierender Kleiderdraperie, wie dieser aus seinem Kescher Fisch in den Korb eines ebenso gekleideten Mädchens kippt. Das Werk gehört zu einer der vier Skulpturengruppen, die für die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Belle-Alliance-Brücke geschaffen wurden. Dazu gehören die Allegorien Flussschifffahrt von Otto Geyer, Gewerbefleiß von Eduard Lürssen, Marktverkehr von Friedrich Reusch (die beiden letzteren sind nicht mehr erhalten) sowie zwei Neptunköpfe.789 Auch die Schifffahrt wird durch eine zweifigurige Gruppe, bestehend aus zwei männlichen Figuren dargestellt, die in die gleiche ›Kleidung‹ gehüllt sind wie Fischer und Mädchen. Ruderstock, Seil auf Spule und Anker dienen als attributive Erkennungszeichen. Dazu reihen sich zahlreiche Beispiele, die im Format der Kleinplastik ausgeführt wurden: Deihles Färber, der Schlesischer Bergmann eines anonymen Künstlers, Müller-Crefelds Eisenbieger oder Die Arbeit oder Segers Arbeiter mit Zahnrad. Der Schmied ist darunter etwa aufgrund seiner ikonologischen Wendung als Schmied der Nation besonders hervorzuheben. Durchaus nackt – im Gegensatz zu ihrer Kollegin von Michael Six – ist die Säerin Hermann Hallers: Sie mutet in ihrer Gewandung antikisch an, während die Säerin bei Six eher dem Typus der einfachen – germanischen (?) – Frau entspricht. Die Arbeiterin von Fritz Gärtner rastet gerade. Ausnahmen bilden da Ludwig Cauers Winzerin, Hudlers Kartoffelhackerin und Gärtners Kartoffelgräberin. Die Arbeit von Ludwig Manzel muss nicht arbeiten, sie ist eine Personifikation. Als Kolossalstatue790 schmückte sie den Lichthof des Kaufhauses Wertheim in Berlin. Sie steht dort neben weiteren künstlerischen Ausstattungsstücken wie den Gemälden von Max Koch und Fritz Gehrke zu den Themen der Modernisierung und Technisierung des Handels.
789 | Vgl. Thiemann und Desczyk 2012, S. 84. 790 | Das Werk gab es auch als Bronzestatuette.
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Abbildung 62: Brütt, Adolf, Gerettet, Flensburg, 1887
© Ichwarsnur
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Die Figur »[…] vereinigt – wieder einmal – Handarbeit (rechte Hand) und Kopfarbeit (linke Hand). Die Uhr über der Arbeit ist vielleicht nur durch Zufall sinnfälliges Emblem industrieller Zeitdisziplin. […] Sie verkörpert nur ein abstrakt-produktives Prinzip, symbolisiert den kapitalistisch-nützlichen Wertcharakter, desymbolisiert dagegen jeglichen Ausdruck konkreter Arbeit und ihrer Bedingungen.«791
Zur ›Aufgabe‹ der Personifikation beziehungsweise der Allegorie gehört die Abstrahierung vom Konkreten. Dadurch wird aber nicht die Frage obsolet, warum gerade diese Form zur Darstellung von Arbeit gewählt wurde. Allegorien fordern mehrfigurige Darstellungen. Herder weist gerade deswegen die Allegorie als der Gattung Skulptur nicht angemessen zurück. Dennoch begegnen uns Figurengruppen auch außerhalb des Denkmalkontextes, etwa bei Lehmbrucks Schlagende Wetter und auch bei Janssens Steinklopferin. Rudolf Maisons vermutlich für ein Denkmal gedachter Entwurf Der Streik792 ist ein weiteres Beispiel für diese Gestaltungsform, die heute noch Geringschätzung erfährt: »Maisons Plastik sucht eine Illusion, die der Malerei allzu stark entlehnt ist, ja gerät in Wettstreit zur Malerei.«793 Neben der Allegorie begegnet Betrachtern auch die Kombination – man könnte es auch Überlagerung oder gar Verharmlosung nennen – des Arbeitsthemas mit Aspekten des Genres, wie Kähler für die Werke Gerettet von Bütt und auch für Janenschs Schmied herausgestellt hat.794 Es ist eine wie im Fall von Rudolf Schadows Spinnerin oder Ludwig Wichmanns Wasserträgerin als ikonografische Unbestimmtheit oder wie Fall von Kiss’ Hl. Georg als ikonografische Kreativität gelebte Praxis, wie sie auch in klassizistischen Werken vorkommt und in dieser Zeit zumeist unter dem ›Deckmantel‹ antiker Motivik verhandelt wird. Im Kaiserreich erweitert sich das ikonografische Spektrum. Das Thema – sofern der Begriff überhaupt zutrifft – der durch einen Mann geretteten Frau – wie kann es anders sein – findet sich in starker erotischer Wendung bei Rettung aus Seenot von
791 | Türk 2000, S. 195. 792 | Auch Hermann Hidding schuf für die Staßfurter Kaliwerke ein mehrfiguriges Werk, das als Modell auf der Pariser Weltausstellung 1900 zu sehen war (vgl. Gnewuch 1990, S. 125). Auch hier kann man vermuten – auch aufgrund des vermutlich allegorischen Personals –, dass es für die Aufgabe Denkmal bestimmt war. 793 | Schubert 1977, S. 282. 794 | Vgl. Kähler 1996, S. 34.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 63: Begas, Reinhold, Elektrischer Funke, 1887
Quelle: Bloch, Kunst 1990, S. 307
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Hugo Berwald-Schwerin795 und in einer ›exotischen‹ Variante bei Ernst Herters796 Der seltener Fang, bei der statt einer Frau eine Nixe797 ins Netz gegangen ist. Brigitte Hüfler bemerkt dazu: »Das kompositionelle Vorbild ist in der Gruppe Raub der Sabinerin von Reinhold Begas zu sehen […]. Die Idee des polaren Mann-Frau-Verhältnisses – gewaltsamer Kampf (Begas), […] Rettung (Brütt) – erfährt eine Umdeutung, der launische Zufall führt Herters Figuren harmonisch zusammen.«798
Begas’ Vorliebe für die im Manierismus und Barock beliebte und schon damals gern zweckentfremdete Raptusgruppe799 wird auch für eine seiner wenigen, der modernen Welt entspringenden Ikonografien zum kunsthistorischen Vorbild: Das Werk Elektrischer Funke, 1887 auf der Berliner Akademieausstellung als Kolossalgruppe ausgestellt,800 fand großen Anklang,801 so sehr, dass dieses Werk sinnfälliger Weise auch als Lampe produziert wurde.802 Nach Einholz war es »[…] ein origineller Versuch, einen technischen Prozeß allegorisch zu umschreiben: Der flüchtige Kuß eines Paares soll die Übertragung der elektrischen Kraft symbolisieren.«803 Das auch jenseits der Genderperspektive problembehaftete Thema der Raubdarstellungen erfährt durch die Wendung in eine Allegorie eine weitere Banalisierung: Nun fliegen bei Mann und zwecks Beischlaf respektive Vergewaltigung entführter oder geraubter Frau die Funken. Oder kunsthistorisch formuliert:
795 | Vgl. Hüfler, Bildhauer 1990, S. 416. 796 | Herters ehemals als Heinrich-Heine-Denkmal konzipiertes Werk wurde zu einem Loreley-Brunnen (vgl. ebd., S. 479). 797 | Märchen wurden im Kaiserreich auch in der Plastik zu beliebten Themen, etwa der sogenannte Rotkäppchen-Brunnen von Georg Petzold und Heinrich Düll oder Das Dornröschen von Louis Sussmann-Hellborn. 798 | Hüfler, Herter 1990, S. 124. 799 | Vgl. Wiener 2009, S. 221-238. 800 | In der Zeitschrift Kunst für Alle von 1887/88 wird die Gruppe erwähnt und als Kolossalgruppe bezeichnet. Des Weiteren sind Briefe von Begas vorhanden, in denen er um eine gute Platzierung (vor einer Wand oder einer Nische, nicht aber in der Saalmitte) bittet und somit indirekt auf das große Format geschlossen werden kann (vgl. Maaz, Bd. 2 2010, S. 520). 801 | Vgl. Bloch 1990, S. 43. 802 | Vgl. Feist 1987, S. 327. 803 | Einholz, Begas 1990, S. 26.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Mit dem Neubarock traten Sujets in den Vordergrund, die die Welt des Apollinischen durch jene des Dionysischen ersetzten: herkulische Männer und üppige Frauen. […] Sein Elektrischer Funke setzte erotische Spannung in ein Sinnbild technischen Fortschritts um.«804
4.3.2 Fallbeispiel: Bernhard Hoetger, Menschliche Maschine Hoetger entschied sich nach dem von der Düsseldorfer Akademie organisierten Besuch der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900, dort zu bleiben. Nach einer anfänglichen Zeit der Obdachlosigkeit und des Hungers erzielt er erste Erfolge805 und wird als einer der ersten deutschen Künstler von Rodin beeinflusst.806 In diesem Kontext entsteht auch das Werk La machine humaine (Menschliche Maschine) in Bronze. Kähler bemerkt hierzu: »Was die Thematiken seiner Arbeiten betrifft, ist der Bildhauer in dieser Zeit zu den sozialkritisch engagierten zu zählen. Das Relief La machine humaine (1902) ist in dieser Hinsicht mit Plastiken des Belgiers Constantin Meunier vergleichbar, dessen Bronzen häufig in Paris zu sehen waren.«807
Im Hinblick auf eine soziale Ikonografie gehört dieses Relief zu den zentralen Werken seines Schaffens.808 Hoetger wählte den vielsagenden Titel Menschliche Maschine: Aus dem Schacht eines Bergwerks quält sich ein muskulöser Arbeiter mit nacktem Oberkörper, den Kopf nach vorne gestreckt – ähnlich wie die Haltung eines Zugtieres –, um noch mehr Kraft aus seinem Körper zu pressen. Der Eingang des Schachts ist nicht nur formaler Rahmen, sondern versinnbildlicht die Beschränkung, das Gefangensein des Bergarbeiters in seinem Schicksal, das Los harter Arbeit. Formal vermittelt Hoetger diesen Eindruck, indem die Figur des Arbeiters den gesamten Raum innerhalb dieser Rahmung ausfüllt. Der Aspekt des Nach-vorne-Drängens wird nicht nur durch
804 | Bloch, Überblick 1990, S. 306. 805 | Vgl. Kähler 1996, S. 182. Rodin hatte einen eigenen Pavillon mit seinen Werken nahe der Weltausstellung errichtet (vgl. Berger 1998, S. 8). 806 | Vgl. Coelen, Hoetger 1992, S. 214. 807 | Kähler 1996, S. 184. 808 | Zu nennen sind außerdem die späteren Figuren für das Bremer Volkshaus und – je nach Deutung – der Niedersachsenstein sowie das Revolutionsdenkmal von 1919. Küster hierzu: »Unter dem Eindruck des Krieges hatte Hoetger seine bildhauerische Form ins Expressive gewandelt, sich in Bekenntnis der sozialen Aufgabe der Kunst 1918 der Berliner ›Novembergruppe‹ angeschlossen. Aus dieser Haltung entstand 1919 das Revolutionsdenkmal auf dem Friedhof in Bremen-Walle: eine Pietà richtet ihren elend gestorbenen Sohn demonstrativ auf.« (Küster 1990, S. 10)
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Abbildung 64: Hoetger, Bernhard, Die menschliche Maschine, 1902
Quelle: Türk 2009, S. 68
die Körperhaltung verstärkt, sondern auch durch die Richtung, in die der Körper ziehend strebt (von links nach rechts), sowie durch die Diagonale, die durch den Körper beschrieben wird (von oben nach unten). In der Modellierung der Oberflächen wird wenig zwischen Körper und Bergwerk differenziert und lässt die Muskeln zu Gesteinsmassen, zu sinnbildlichen Muskelbergen werden. Ähnlich wie in manchen Werken Meuniers wird dies durch die Schwärze der Bronze verstärkt. Gemeint ist der
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
›versteinerte‹ Mensch, der infolge harter Arbeit erstarrt und dessen Menschlichkeit auf Körperlichkeit reduziert ist – der entfremdete Mensch im marxistischen Sinne.809 Deutungsansätze ergeben sich vor allem aus der Titelgebung und dem Entstehungskontext dieses Werkes, denn auch hier könnte im Hinblick auf weitere Arbeiterdarstellungen wieder in erster Linie ein heroisches Bild von Arbeit und den kraft seines Körpers potenten Arbeiter gezeichnet werden. Laut Türk gehört die Arbeit des Ziehens zu den beliebtesten Bildmotiven.810 Der Werktitel verweist in wertender Weise auf die Folgen der Industrialisierung – für den Menschen, für seine Arbeitswelt und damit für seinen Körper: Es ist ein Sinnbild für die Degradierung des Menschen zum bloßen Werkzeug.811 Schon Zeitgenossen sahen es so: »Neben Carabin, […] nenne ich ganz besonders den in Paris lebenden Deutschen Bernhard Hoetger, dessen Machine humaine, ein durch die stumpfsinnige Arbeit zur Maschine gewordener Karrenzieher mit mächtig ausgebildeten Muskeln und verkümmertem Gehirn, in Idee wie in Ausführung das höchste Lob verdient.«812
Hoetgers Bronze813 bildet das Titelmotiv für die politisch-satirische Zeitschrift L’Assiette au Beurre, die um die Jahrhundertwende in Paris erschien und für die viele namhafte Künstler arbeiteten. Der hauptsächlich als Bildhauer tätige Hoetger schuf für sie im Jahr 1903 den grafischen Zyklus Dur Labeur (Harte Arbeit), der mit Versen umgangssprachlichen Tons von Jehan Rictus versehen wurde.814 Die Grafik des Schiffsziehers ist von der Gesamtanlage der Menschlichen Maschine am ähnlichsten und eine fast exakte Übersetzung von Hoetgers Plastik mit dem selben Titel in das Medium
809 | Jans bespricht dieses Werk in einem Aufsatz und nennt es den ersten modernen Torso von Hoetger. auf Anraten von Janssen hatte er zuvor einen solchen als Bewerbungsarbeit geschaffen (vgl. Jans 1998, S. 20). Jans bezieht sich in ihrer Studie auf Äußerungen Hoetgers zum Torso, der darin den vollkommensten Ausdruck des nur Gefühlten und nicht Gemachten sieht, eine höhere Ästhetik, die Gefühlsästhetik und menschliche Ethik verbindet (vgl. ebd., S. 27 f.). Sie kommt dann aber zu dem Schluss: »Rückblickend drängt sich die Frage aus, ob der Torso als Kunstform so wichtig war, wie er es selbst in seinen letzten Notizen glaubhaft machen wollte.« (Ebd., S. 27) Im Übrigen sehe ich in Hoetgers Menschlicher Maschine auch keinen ›klassischen modernen‹ Torso wie bei Rodin, dessen Werk die ganze Diskussion um dieses Thematik ausgelöst hat. Die abgeschnittenen Gliedmaßen lassen sich in diesem Fall aus der Erzählform dieses Reliefs erklären. 810 | Vgl. Türk 2000, S. 112. 811 | Vgl. ebd., S. 113. Zu den prominentesten Beispielen zählt sicher Ilja Repins Wolgatreidler. 812 | Karl Eugen Schmidt 1904 in der Kunstchronik, zit. n.: Jans und Hartog 1998, S. 421. 813 | Diese wurde erstmals 1904 in Paris ausgestellt (vgl. Türk 2000, S. 108). 814 | Vgl. ebd., S. 108-111
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Abbildung 65: Hoetger, Bernhard, Bettler, 1902
Quelle: Honisch 1976, S. 104
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Grafik. Diese Darstellung wurde mit folgenden Versen versehen: »Etwas Mumm und die Knie gestrafft! Wenn man nicht vom Fleisch der Reichen ißt, muß man eben schuften, wie es scheint! […] In zwei Wochen würd ein Pferd dran krepieren, und ich, ich mach das nun schon zwanzig Jahre!«815 Der Ton dieser Verse ist durchgängig explizit sozialkritisch. Zur Gemüsehändlerin aus demselben Zyklus heißt es: »Arme Frau, die du unter dem feindlichen und scheelen Blick der kleinen Ladenbesitzer dein Gemüse verkaufst, […]. Nimm dich in acht vor dem Stadtpolizisten, der seine Tricks für dich bereit hält, statt die Diebe zu verhaften, die großen Betrüger und Bankiers.«816 Die Verse nebst Bildern bieten einen Überblick über alle möglichen Arbeiten von Männern und Frauen, die als herabgewürdigt dargestellt werden. Türk dazu: »Aus der sozialen Niedergedrücktheit lassen Hoetger und Rictus ein klares Gesellschaftsbewusstsein entspringen – die höheren Klassen werden von den Arbeitenden verhöhnt, eine scharfe Sozialkritik wird den dargestellten Protagonisten in den Mund gelegt. Es sind die ganz basalen, gesellschaftlich aber substanziell notwendigen Arbeiten, welche die Unterschichten zu verrichten haben, die nichts weiter besitzen als ihre Arbeitskraft und ihren Spott bezüglich der Reichen.«817
Wichtiges Thema dieses Zyklus ist das Tragen (beispielsweise bei der Fischhändlerin, dem Lastträger, Kohlenträger oder Möbelpacker), das als Innbegriff von Schwerstarbeit zum allegorischen Ausdruck für die Last der untersten sozialen Schichten wird. Die Figuren nehmen – grundsätzlich vergleichbar mit der Menschlichen Maschine und augenfällig vor allem im Schlussbild – einen Großteil der Bildfläche ein. Über die Monumentalisierung erfolgt eine Art von Heroisierung, durch die uns Hoetger diese Figuren nicht nur sprichwörtlich näherbringt. Wir blicken in ihre Gesichter, die teilweise karikaturesk verzerrt wirken und zum Ausdrucksträger ihrer Qual werden. Dieter Golücke bemerkt zu den Zeichnungen: »So ist hier bei aller impressionistischen Arbeitsweise im Formalen (Spiel der Lichter und Schatten) doch schon eine starke Hinwendung zum Expressiven zu spüren. In dieser Wechselbeziehung von impressionistischer Form und expressiver Aussage hat Hoetger Gemeinsamkeiten mit Vincent van Gogh.«818
Von 1902 bis 1905 schuf Hoetger in Paris mehrere Kleinbronzen (Bettler, Tauzieher, Sämann, Bretonische Frauen, Kohlenträger, Lumpensammler, Grubenarbeiter, Vaga-
815 | Rictus in deutscher Übersetzung zit. n.: Türk 2000, S. 110. 816 | Ebd., S. 111. 817 | Türk 2000, S. 108. 818 | Golücke 1984, S. 126. Die Nähe zu van Gogh mag dann nicht nur formaler, sondern auch ikonografischer Natur sein.
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bund, Der Blinde oder Straßenmusikanten und Lebemann)819, die im Zusammenhang mit der Arbeit an der Menschlichen Maschine stehen: »Durch die Kombination eines Rodininesken Stils mit neuen, durch die Thematik von Meunier und Steinlen inspirierten Gegenständen kommen persönliche Arbeiten zustande, womit Hoetger, als einer der ersten und einer der wenigen deutschen Bildhauer, einen gewissen Erfolg in Paris hat. Aber nicht nur in Paris, sondern auch in Deutschland wird seine Arbeit bekannt […].« 820
Zu Hoetgers Tauzieher von 1902 bemerkt Honisch, dass er hier zwar in der Nachfolge Rodins stehe, aber ohne dessen Körperverständnis.821 Ähnliches merkt auch Bernd Küster an: »Nach Art eines Théophile-Alexandre Steinlein schuf er sozialkritische Zeichnungen, nach Art des großen Rodin impressive Bildhauereien in kleinem Format: Milieustudien von Arbeitern und einfachen Leuten, die zuweilen etwas manieriert erscheinen, insofern ihre Form ganz unorganisch empfunden ist und Wirkung aus der belebten Oberfläche bezieht. Es scheint, als habe Hoetger die Figuren nur erdacht, aber niemals richtig gesehen.«822
Hans Hildebrandt äußerte 1915 zu dieser Werkgruppe jedoch: »Kleinplastiken, doch nur dem Format, nicht der Gesinnung nach. Sie sind durchweg groß und unbedingt plastisch gedacht. Das Beste an ihnen aber ist die Kraft des Ausdrucks.«823 Hoetgers Stil zeigt Anleihen an Formen und Themen der ihm bekannten Künstler. Die Oberflächenmodellierung ist unverkennbar mit Rodin vergleichbar. Dies bestätigt auch K. E. Schmidt 1905 im ersten Artikel zu Hoetger in einer deutschen Zeitschrift, konstatiert aber folgenden Unterschied: »Und seine sozialen und seelischen Probleme scheinen mir fester und tiefer erfaßt und eindringlicher dargestellt als bei Rodin.«824 Was das Thema betrifft, wird vor allem Meunier entscheidende Einflüsse geliefert haben: Das Motiv der aus dem Bergwerk ausziehenden Bergarbeiter kommt bei Meuniers Re-
819 | Vgl. hierzu beispielsweise Honisch 1976, S. 104. 820 | Coelen, Hoetger 1992, S. 214. 821 | Vgl. Honisch 1976, S. 97. 822 | Vgl. Küster 1990, S. 6. Golücke führt die Hinwendung zu diesen Themen gerade auf seine persönlichen Erfahrungen zurück: »Dazu kommt sein inneres Verstehen der Lage dieser Leute aus eigenen Erfahrungen, die er auf seiner Wanderschaft als Geselle und in den ersten Pariser Hungerjahren sammeln konnte.« (Golücke 1984, S. 126) Hieraus wird deutlich, wie beschränkt die Mittel der biografischen Deutung sein können. 823 | Hildebrandt und Hoetger 1915, S. 8. 824 | Schmidt zit. n.: Jans 1998, S. 21.
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lief Heimkehr der Bergleute für das Denkmal der Arbeit vor, und in Die Scholle zeigt Meunier in ähnlicher Weise zwei sich wie Zugtiere nach vorne drängende Arbeiter. Hoetger war wie Lehmbruck an der Düsseldorfer Akademie Schüler von Janssen.825 Dessen eher dem Stil des naturalistischen Neobarock verpflichtetes Werk spielt bei Hoetger kaum noch eine Rolle – wenn auch Janssens Steinklopferin zeitgleich entstand und bei beiden somit das Interesse an einer Ikonografie der sozialen Wirklichkeit zu beobachten ist. An der Düsseldorfer Akademie waren soziale Sujets innerhalb der Malerei ein weitverbreitetes Thema, sodass ihm diese auch schon vor Paris vertraut waren.826 Janssen hatte Hoetger in einem Brief vor den Einflüssen einer Stadt wie Paris gewarnt, als jener beschloss, dort zu bleiben.827 Doch sollte Paris sich für Hoetger als wichtige Station erweisen: Seine Kleinplastiken (die Straßentypen, Arbeiter, Bettler und Soldat, aber auch zwei von Fuller inspirierte Tänzerinnen) bot Meier-Graefe im Verkaufskatalog unter der Rubrik Statuettes décoratives an.828 Auch der Bronzegießer und Verleger Eugène Blot vertrieb seine Werke. Unter dem Titel Bête humaine (wie der gleichnamige Roman von Émile Zola)829 bot Blot die Menschliche Maschine im Katalog von 1905 in nur sechs Güssen an.830 Hoetger wurde jedoch, obwohl zunächst in Paris tätig, vor allem von Deutschen wie Hugo von Tschudi, Osthaus, der seine Werke 1903 im Hagener Museum Folkwang zeigte, und Eduard von der Heydt gekauft.831 Hoetger kann als Beispiel für einen Künstler der Moderne, in der ein ›Ismus‹ den nächsten ›jagte‹, gelesen werden, aber letztlich praktizierte auch er eine Form von Historismus. So eignete er sich Stile für bestimmte Aufgaben832 oder Wirkphasen an. Mag auch für die Moderne lieber der Begriff der Epigonenkunst oder, unwesentlich positiver, Eklektizismus verwendet werden. Stil wiegt in der an der Betrachtung der
825 | Vgl. Hüfler, Lehmbruck 1984, S. 162. 826 | Vgl. Berger 1998, S. 9. Thiemann führt an, dass Hoetger in Paris auch Kollwitz kennengelernt hatte »[…] und lehnte sich an ihre expressive Sozialkritik an. Seine Dur-Labeur-Blätter weisen ihn als kollwitz-nah aus, auch sein Schiffszieher.« (Thiemann 1990, S. 65) 827 | Vgl. Jans und Hartog 1998, S. 420 f. In diesem Brief bedankt sich Janssen für die Zusendung von Fotos der jüngsten Werke von Hoetger. Er fand vor allem Gefallen an dem Grubenarbeiter (vgl. ebd.). 828 | Vgl. Lindhout 1998, S. 30. 829 | Türk bemerkt zur Menschlichen Maschine von Hoetger: »Es ist die Arbeit von Zugtieren, die Menschen hier zu leisten haben […].« (Türk 2000, S. 112) 830 | Vgl. Berger 1998, S. 12. 831 | Vgl. ebd., S. 13. Mit seiner Berufung in die Darmstädter Mathildenhöhe zog Hoetger endgültig nach Deutschland zurück (vgl. ebd.). 832 | Thiemann nennt hierfür das Beispiel des Bismarck-Denkmals Walsee (vgl. Thiemann 1990, S. 48).
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Moderne geschultem Blick mehr als Inhalt. Ikonografie wird in der Moderne als nur aufzugreifende Geschichte begriffen, während man sich Form erarbeiten muss. Hoetger erscheint vor diesem Hintergrund nicht als ›Avantgardekünstler‹, weder was seinen Stil noch was seine Ikonografie angeht, denn schließlich lässt sich beides durch Anleihen von anderen Künstlern erklären. Die Forschung macht Hoetger, um ihn nicht gänzlich aus dieser als Erfolgsgeschichte stilisierten Epoche auszuschließen, innerhalb der Avantgardekunst zum Außenseiter, da seine starke Auseinandersetzung mit der Ikonografie dem nicht nur nicht gemäß, sondern auch hinderlich ist: »Liegt vielleicht dieser Verkennung der inneren Gesetze der Kunst der Grund dafür verborgen, daß Hoetger aus einer Entwicklung herausfällt, die sich immer stärker einer Analyse der künstlerischen und sozialen Verhältnisse zuwendet?«833 Hoetgers Werk fällt in jedem Fall durch seinen sozialkritischen Ton, der, wie bereits ausgeführt, auch oder vor allem kontextuellen Bezügen geschuldet ist, aus den üblichen Darstellungen zum Thema Arbeit im Kaiserreich heraus. Zu nennen ist hier auch das Werk Schlagende Wetter von 1905/06, das in Anlehnung an Meuniers Le Grisou von 1888/89 entstand: Hoetger zeigt zum einen arbeitende Menschen und nicht ›nur‹ Statuen von Arbeitern. Zum anderen zeigt er die mit den historischen Arbeitsbedingungen verknüpften Folgen für den Menschen. Und auch arbeitende Frauen werden von Hoetger dargestellt. Am kritischsten ist Hoetger jedoch im Medium der Grafik beziehungsweise im Gesamtwerk von Text und Bild834 für die Zeitschrift L’Assiette au Beurre. Doch auch dort kommt es immer wieder zur Entschärfung durch Ironie, etwa beim Kärrner: »Mit ihren Autos, ihren Kalechen, ihren vornehmen Sportkutschen betrachten sie einen mit Verachtung, weil man nur so ein Gefährt hat. Baronin! kommen Sie nur mit mir und profitieren Sie von meinen Wagen. Genauso wie diese anderen ›Kreaturen‹ werden wir im Wald Petersilie pflanzen [= flirten].«835
Es mutet beliebig an, wenn seine Straßentypen836 von Meier-Graefe direkt neben seinen Tänzerinnen verkauft werden. Letztlich offenbaren sich hierin jedoch die Produktionsbedingungen eines jungen Bildhauers in Paris, der sich immer wieder neu erfinden muss oder erfinden will: Nach dem Versuch von Franz Nölken, einem Künstlerfreund Hoetgers, diesen in Paris zu besuchen, äußerte er:
833 | Honisch 1976, S. 94. Die Rolle des Außenseiters sehen auch noch andere Autoren, beispielsweise Bernd Küster, der seine Biografie zu Hoetger mit Lebenslinie eines Außenseiters der Moderne betitelt (vgl. Küster 1990). »Sein Genie war nicht frei von dilettierenden Zügen, seine Größe stand immer leicht am Abgrund des Verfalls.« (Thieman 1990, S. 4) 834 | Hier stellt sich die Frage, ob die Bilder ohne die Texte dasselbe ›kritische Potenzial‹ haben. 835 | Rictus in deutscher Übersetzung zit. n.: Türk 2000, S. 108. 836 | Der Lumpensammler von Hoetger ist auch als Meißner Porzellan erhältlich.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Weißt du, der hat keine Zeit für uns. Er poliert tagelang an großen Alabastereien herum und sagt, das sei das einzig Wahre. Ich versteh das ganz gut, er hat den richtigen Künstlerfimmel, die Muskelknubbelei von Rodin hängt ihm zum Hals raus, nun muss es das blanke Gegenteil sein.«837
Das »Genrebild zum Symbol gesteigert« statt arbeitende Arbeiter(-innen) – zusammenfassende Betrachtung Eine Ikonografie der Arbeit in der Skulptur des Kaiserreichs wird über das Genrehafte im Sinne des Erzählerischen verhandelt, wobei sowohl auf überzeitlich-existenzielle Motive (beispielsweise Mutter und Kind, Mann und Frau) zurückgegriffen werden kann als auch auf die im 19. Jahrhundert beliebten Erzählungen (beispielsweise Märchen838 , Gedichte und Sagen). Für eine genuine Ikonografie der Moderne – beispielsweise für abstrakte Konzepte zeitgenössischer Arbeit oder physikalische Phänomene wie Elektrizität – wird auf das ikonografische Muster der Allegorie oder Personifikation ausgewichen, 839 erleichtert durch den Rückgriff auf kunsthistorische Formeln. Auch hier spielt das Erzählerische eine Rolle. Es wird vor allem in den Attributen von Einzelfiguren und in der Figureninteraktion von Gruppen sichtbar. Der Körper wird zu einem der wichtigsten Erzähl- und Stilmittel und dies auch im ideologischen Sinn, aus der Sicht der Moderne etwa bei progressiven Künstlern wie Hoetger oder bei rückständigen Künstlern wie Begas. Arbeit wird verbildlicht als Effekt auf den Körper. Frauen verkörpern Arbeit weitaus seltener als Männer und wenn, dann zumeist in allegorischer Weise. Der ikonografische Entwurf von Arbeit in der Skulptur funktioniert über Abstraktion. Das Prozessuale und damit die konkreten Abläufe und Umstände von Arbeit kommen weniger zum Tragen. Dieses Phänomen gilt grundsätzlich auch für die Skulptur außerhalb Deutschlands, wenn man einmal von wenigen Einzelwerken wie Proximus Tuus, Le Grisou und Opfer der Arbeit von D’Orsi, Meunier und Vela absieht. Im Ausland wandte man sich jedoch dem Thema Arbeit innerhalb der Skulptur früher und intensiver zu, wie vor allem Meunier und Dalou belegen. Die von den Künstlern dargestellten Arbeiten können sowohl einer modernen Produktionswelt als auch Tätigkeiten entlehnt sein, die die Menschheit seit Jahrtausenden vollzieht (zum Beispiel Ackerbau oder Fischerei). Bestimmte Arbeitsbereiche wie das Schmieden werden im Deutschen Kaiserreich zu ikonologischen Repräsentationssymbolen.
837 | Berger 1998, S. 15. 838 | Ausdruck hierfür ist die beliebte Form des Märchenbrunnens, etwa in Chemnitz, Frankfurt, Berlin, Wuppertal usw. Im Aufgreifen von Themen wie Nixen, Zwergen oder Hexen wendet man sich von den akademischen Prinzipien wie Klassizität und Mythologie ab (vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 79 f.). 839 | Hiervon erzählen auch die Plakate zu den Elektrizitätsausstellungen, etwa in Nürnberg 1912, München 1911 oder Frankfurt 1891 (vgl. Spilker 2001).
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Dies alles lässt sich politisch lesen, resultiert aber auch aus den kunsthistorischen Bedingungen der Gattung Skulptur, wie der Vergleich mit der Malerei beziehungsweise Grafik am Beispiel Hoetgers gezeigt hat. Die Erweiterung des Begriffes von Skulptur im Sinne einer stilistischen Abstraktion von Form und Inhalt 840 beginnt erst langsam Gestalt anzunehmen. 841 Im Deutschen Kaiserreich wird eine Ikonografie der Arbeit praktiziert, in der Arbeit ein abstrakter Begriff ist. Es ist keineswegs eine Ikonografie, die den Arbeiter – noch weniger die Arbeiterin – selbst thematisiert oder gar für sie geschaffen wird. Die Ikonografie der Arbeit steht in dieser historischen Konstellation vor allem für einen positiv konnotierten Begriff von Arbeit und begibt sich damit paradoxerweise in Gefahr, allein durch die Thematisierung dieses hochpolitischen Bereiches ›gegen sich zu arbeiten‹. Die Eigengesetzlichkeiten von Kunst – vermeintlich klare Inhalte bekommen in unterschiedlichen Formen unterschiedliche Bedeutungen, Abstraktion schafft Polyva-
840 | In der Kunsttheorie von Konrad Fiedler und Adolf von Hildebrand – auch wenn Hildebrands plastisches Werk doch ›hinter‹ diesen Ideen zurückzubleiben scheint – ist dies jedoch schon gedacht. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Theorie der Praxis vorauseilt, was beispielsweise das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit betrifft. Wobei diese Formulierung einmal mehr der Grundannahme einer Kunstgeschichte des Fortschritts und der Avantgarden geschuldet ist. Wenn man Wassily Kandinsky als den ersten Künstler eines rein abstrakten Bildes ansieht, dann hat Fiedler dies zuvor bereits schriftlich fixiert beziehungsweise schon weitergedacht: »Für Fiedler war nicht die Wirklichkeit der Dinge das Beharrende, ›sondern allein die Form, die das Wirkliche durch uns annimmt.‹ […] Das Kunstwerk solle deshalb beim Betrachter möglichst keine Assoziationen auslösen, die zu irgendeiner Begrifflichkeit leiten oder Stimmungen verursachen.« (Krauskopf 2002, S. 67) Die Betrachtung von Fiedler und Hildebrand ist bei Krauskopf Teil seiner Forschungen zum Bismarck-Denkmal auch als Weg zur modernen Architektur. Er hebt hier vor allem Hildebrand hervor, ein Ansatz, den auch Hans Rudolf Morgenthaler 2015 in seiner Publikation The meaning of modern architecture: its inner necessity and an empathetic reading verfolgt hat (vgl. Morgenthaler 2015). Dennoch hat auch der Einwurf von Bock seine Berechtigung: »Die Merkmale der beiden Grundbegriffe ›Form‹ und ›Vorstellung‹ beschreibt Hildebrand in dieser Schrift in einer Synthese von kritischen wahrnehmungspsychologischen Selbstbeobachtungen mit Denkformeln der zeitgenössischen und älteren idealistischen Philosophie. Jedoch ist das Ergebnis seiner Überlegungen weit entfernt von der verführerischen These, die in der künstlerischen Form und ihrer autonomen Wirkung die wesentliche Wirkungsmöglichkeit eines Kunstwerks sieht. Denn gleichwertig mit der Form bezeichnet für Hildebrand der Begriff der Vorstellung den unentbehrlichen Inhalt jeder Kunst, ihren Maßstab ebenso wie ihren Ursprung.« (Bock 1972, S. 230) 841 | Bereits an früherer Stelle dieser Arbeit wurde beispielsweise auf Pablo Picasso, Wladimir Tatlin oder Herrmann Obrist verwiesen.
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lenz, unkalkulierbare Aneignungsformen aufseiten der Rezipienten – arbeiten als Risiko und Chance gleichermaßen mit.
4.4 D ie A ufgabe D enkmal 4.4.1 Die Rolle des Denkmals zwischen Omnipräsenz und Ambivalenz
»Gibt es keinen ewigen Kunstwert, sondern bloß einen relativen, modernen, so ist der Kunstwert eines Denkmals kein Erinnerungswert mehr, sondern ein Gegenwartswert.«842
Die Aufgabe Denkmal ist gerade im Vergleich zur Bauskulptur auf den ersten Blick stark an eine bestimmte Ikonografie geknüpft: an die Darstellung historischer Personen und mit ihnen verbundener Ereignisse. Dementsprechend könnten – so der gängige, aber nicht der einzige Ansatz – die Werkbeispiele der Gattung Denkmal im Deutschen Kaiserreich ›nur‹ nach dem benannt werden, den und was sie darstellen. In dieser Zeit waren es in der Regel Persönlichkeiten und Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Demnach wäre eine Unterscheidung nach Personendenkmälern, bei denen direkt (mittels figürlicher Darstellungen) oder indirekt (über Symbole und Wappen) auf bestimmte Personen verwiesen wird, und Ereignisdenkmälern – wobei Überschneidungen hier oftmals gewollt sind – als eine grundlegende Typologie denkbar. Problematisch erscheint an der engen Auffassung des Denkmals als Erinnerungsträger – dem Aspekt der memoria – die Abstraktion: Die Darstellung abstrakter Begriffe, beispielsweise Werte oder Ideen, werden zumeist notgedrungen über Personen oder Ereignisse vermittelt. Zu nennen wäre hier insbesondere der Begriff der Nation. Eine weitere und von jeher übliche Form ist die Allegorie oder Personifikation, die in dieser Zeit beispielsweise in Form der Germania 843 auftritt. Abstrakte Darstellungsformen durch Architekturen oder Symbole 844 kommen im Denkmal dieser ebenfalls Zeit vor, sind aber weitaus weniger häufig. Zu nennen ist hier die weitverbreitete und für die Kunstgeschichte wichtige Form der Bismarck-Säule. Ein höherer Abstraktionsgrad führt häufig zu Vermittlungsschwierigkeiten, was wiederum der Funktion
842 | Riegl 1903, S. 5 f. 843 | Es gab auch Bedenken, ob eine weibliche Figur mit der Idee der Wehrhaftigkeit zu vereinen sei, so etwa von Otto von Bismarck angesichts des Niederwalddenkmals (vgl. Hoffmann 2002, S. 72 f.). 844 | Zu den Symbolen gehörten Reichskrone, Wappen oder Personifikationen der Bundesstaaten wie Adler oder Löwen (vgl. Krauskopf 2002, S. 112).
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des Denkmals zuwiderläuft. Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit ist kein Problem, das sich mit dem rein abstrakten Denkmal ergibt, etwa bei Walter Gropius’ Denkmal für die Märzgefallenen (1922) oder Ludwig Mies van der Rohes Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (1926). Deshalb erscheint es zwar zunächst banal, aber dennoch essenziell, wenn eine reine Betrachtung der Figuren beim Denkmal nicht ausreicht, um seine Aufgabe vollends zu erfassen Auch Aufstellungsort, Mehransichtigkeit, Sockel und Inschriften845 sowie die Gestaltung im Hinblick auf Stil und Form oder Material müssen bedacht werden. Ein weiterer kritischer Punkt bei der Definition von Denkmälern als Erinnerungsträger ist die Frage nach dem normativ-appellativen Impetus – dem Aspekt des exemplum: Denkmäler als Mahnmäler, als Ehrenmäler, als Propaganda, als Repression, als Machtdemonstration, als Dekoration und vieles mehr. Monumentales Erinnern ist kein zweckfreier Akt. Demnach gilt es hier, die Nuancen der Stoßrichtungen im Auge zu behalten. Daneben gibt es fließende Gattungsgrenzen, wenn man den Aspekt der Erinnerung zum Kernpunkt des Denkmals macht. Demnach sind auch Gräber Denkmäler und Friedhöfe Orte der Erinnerungskultur.846 Friedhöfe des 19. Jahrhunderts waren von bewusst gesetzten Erinnerungsmalen bestimmt. 847 Peter Bloch konstatiert sogar eine parallele Entwicklung von Grabmal und Denkmal. 848 Die Grabmalskulptur bildet ein spezielles Feld, da es sich bei Friedhöfen um einen halböffentlichen Raum handelt, der zwar jedem zugänglich ist, doch aufgrund seiner topografischen Verortung und des zweckgebundenen Besuchs einen Sonderstatus hat. Auch Skulpturen, die im öffentlichen Raum installiert werden, etwa Bauskulptur oder Brunnen849, können eine denkmalhafte Funktion haben, müssen es aber nicht und sind damit unter dem Aspekt, der auch für alle anderen Denkmalformen gilt, ornamentum zu betrachten.
845 | Vgl. Erben 2011, S. 237 f. 846 | Die Denkmäler von Gropius und Mies van der Rohe wurden ebenso auf dem Friedhof aufgestellt wie Gefallenendenkmäler (vgl. Müller 1980, S. 265). Dass Grabmäler schon in vormoderner Zeit als Denkmäler verstanden wurden, zeigt beispielsweise die Forschung von Tanja Michalsky (vgl. Michalsky 2000). 847 | Vgl. Meyer-Woeller 1999, S. 48. 848 | Vgl. Bloch 1978, S. 245. 849 | Bloch führt beispielsweise bildhaft eine Verwässerung der Denkmalsidee durch Brunnen an (vgl. Bloch 1984, S. 28). Als typisches Beispiel nennt Bloch hierfür Ernst Herter. Sein Denkmal zu Ehren Heinrich Heines wandelte sich in einen Loreley-Brunnen für New York. Aber auch Trivialitäten wie August Gauls Schwanenbrunnen oder Elefantenbrunnen in Krefeld beziehungsweise Leverkusen gehören dazu (vgl. ebd.).
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Denkmalgeschichte ist wie (re-)konstruierte Geschichte selbst zum Großteil Personen- und/oder Ereignisgeschichte und weniger Sozialgeschichte. Deshalb wird hier betrachtet, welche Personen beziehungsweise Ereignisse dargestellt wurden und welche nicht. Das Denkmal gilt in der Rückschau auf diese Zeit als die wichtigste Aufgabe der Skulptur, 850 und das bestimmende Thema in den zeitgenössischen Schriften zur Skulptur ist das Denkmal. 851 Die reiche Quellenlage zum Denkmal im 19. Jahrhundert entspricht damit der künstlerischen Produktion. Daher ist eine fokussierte Betrachtung dieser Aufgabe für die Analyse der Skulptur im Deutschen Kaiserreich unumgänglich – zumal unter der Prämisse, dass Skulpturen als ›arbeitende Bilder‹ erachtet werden. Denn keine andere Untergattung erzielte so eine große Wirkung in der Öffentlichkeit, sowohl auf diskursiver als auch auf topografischer Ebene.
Der zeitgenössische Denkmalbegriff Im 19. Jahrhundert setzte nicht nur in der künstlerischen Praxis eine intensive Beschäftigung mit dem Denkmal ein. Die Klärung des Denkmalbegriffes auf theoretischer Ebene – Was ist und was soll ein Denkmal? – beginnt zwar schon vor 1800 bei Johann Georg Sulzer, meist wird aber auf den Historiker Johann Gustav Droysen und das Conversations-Lexikon von 1816 verwiesen, 852 in dem die Aufgabe des Denkmals umrissen wird: Es soll Erinnerungsträger sein. »Somit sind Denkmäler nur mittelbare Zeugen historischer Tatsachen, aber unmittelbare Dokumente einer Geistes- und Ideologiegeschichte.«853 Der Denkmalbegriff des 19. Jahrhundert umfasst, so Helmut Scharf, »[…] ein vorwiegend architektonisches oder plastisches Kunstdenkmal, das formal und ideell überhöht in Erscheinung tritt: formal, weil es häufig auf einem Sockel steht, einen exponierten räumlichen, städtebaulichen oder landschaftlichen Standort hat und in Stilgebung, Vorbild, Materialien und Maßen als ›Überkunstwerk‹ wirkt; ideell, weil es ausschließlich an herausragende Persönlichkeiten, Ereignisse, Ideen oder Institutionen der Gesellschaft, der Politik oder der Kultur erinnert.«854 »Erinnerungswürdige Personen oder Begebenheiten wurden nach Auffassung des 19. Jh. in öffentlichen und Staatsdenkmälern (Nationaldenkmälern) geehrt, denen das private oder Individualdenkmal untergeordnet war, denn – so hieß es – ›das Einfache ziemt der Privattugend; Grö-
850 | Vgl. Bloch 1984, S. 9. 851 | Vgl. Bischoff 1985, S. 9. 852 | Vgl. Alings 1996, S. 6-9. 853 | Scharf 1984, S. 20. 854 | Ebd.
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»Arbeitende Bilder« ße, Würde, Pracht dem, was die Großthaten einer ganzen Nation oder ihrer Führer und Helden verewigen soll.‹ (Conversations-Lexikon oder Enzyclopädisches Handwörterbuch...).«855
Als Reaktion auf die bemerkenswert hohe 856 und von Zeitgenossen als minderwertig eingestufte Denkmalproduktion erfolgte schon früh eine ausgeprägte Denkmalkritik. Definitorische und normative Aussagen in theoretischen Auseinandersetzungen oder im Rahmen von Kunstwerkanalysen überlagern sich schnell gegenseitig: »Börnes Antipode, Heinrich Heine, stand dem Phänomen Denkmal Zeit seines Lebens nicht nur skeptisch gegenüber, da er im Denkmal – Nietzsche antizipierend – ein Symptom ›historischer Krankheit‹ erblickte […].« 857 Knapp zehn Jahre später spricht August Fr. Siebert anlässlich der Hermannsfeier und des angegliederten Denkmalprojekts von einer aufkommenden »Denkmalwuth« (1839) und Arthur Schopenhauer gar von »herrschender Monumentensucht« (1837). 858 Laut Schopenhauer blieben der untersten Klasse die Verdienste eines großen Geistes unzugänglich, ihr erschließe sich lediglich der sinnliche Eindruck des Denkmals. Das ist nach Hans-Ernst Mittig ein häufig geäußerter Vorwurf. 859 Der negative Tenor bleibt bestehen: 1873 bezeichnet Ferdinand Kürnberger die »Denkmal-Pest« als »überflüssig, zwecklos und in dieser Zwecklosigkeit rein unbegreiflich«, sie führe zur »gedanken- und inhaltsleeren Nachahmung fremder Zeiten, fremder Sitten, fremder Bedürfnisse und fremder Zustände«.860 Vorgaben zur Gestaltung von Denkmälern wurden vielfach geäußert: Franz Kugler verlangte von einem Denkmal, einfaches Beiwerk und Volkstümlichkeit zu sein. 861 Richard Muther konstatierte im Anblick der »Denkmalseuche«, der Staat könne der Kunst keine Inhalte mehr geben und es werde zudem keinerlei Leid gezeigt.862 Grundsätzlich kritisierte man, Stifter würden Reklame für ihre Produkte machen wollen
855 | Ebd., S. 12. 856 | Nach einer vielzitierten Zählung gab es 18 öffentliche Denkmäler im Jahr 1800 und ungefähr 800 im Jahr 1883 (vgl. Mittig 1972, S. 287). 857 | Schubert 1985, S. 83. 858 | Ebd., S. 80. 859 | Vgl. Mittig 1972, S. 286. 860 | Kürnberger zit. n.: Reuße 1995, S. 123 f. Max Schaslers Kritik an der »Denkmalswuth« schloss 1878 daran an (vgl. Reuße 1995, S. 132). 861 | Vgl. Mittig 1972, S. 286. 862 | Vgl. ebd., S. 288 ff.
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oder Gastwirte würden mehr Gäste anlocken wollen. 863 Der Meinung der Kunsttheoretiker schloss sich bald auch ein Teil des Bürgertums an. 864
Der Werkbestand der Denkmäler im Kaiserreich Betrachtet man beispielsweise den Düsseldorfer Bestand an Denkmälern im Untersuchungszeitraum ergibt sich folgendes Bild: Peter Bürger, Ehrenmal Kolonialkrieger (1909); Karl Hilgers, Kriegerdenkmal im Hofgarten (1892 eingeweiht) und das unfigürliche Kriegerdenkmal in Gerresheim; Viehoff, Kriegerdenkmal 1871 (1887); Josef Tüshaus und Joseph Hammerschmidt, Helmuth-Karl-Bernhard-von-Moltke-Denkmal (1901 eingeweiht); Karl Janssen, Kaiser-Wilhelm I.-Denkmal (1896); Johannes Röttger und August Bauer, Bismarck-Denkmal (1899). 865 Neben diesen genuinen Denkmälern stehen weitere Skulpturen im öffentlichen Raum: Mariensäule (1873 eingeweiht ) von Anton Joseph Reiss (Modell) und Gottfried Renn (Ausführung), Neckereibrunnen (1909) von Gregor von Bochmann, Jröne Jong (1900) Hammerschmidt, Märchenbrunnen (1905 aufgestellt) Max Blondat, Vater Rhein und seine Töchter (1897) von Janssen und Tüshaus oder auch die Brunnenanlage von Hammerschmidt zu Ehren des Augenarztes Albert Mooren (1910). Letzteres Beispiel zeigt, wie die Aufgabe Brunnen dazu genutzt wurde, ein Personendenkmal zu installieren. Der Industriebrunnen (1911-1913) des Architekten Gotthold Nestler und des Bildhauers Friedrich Coubillier sollte an die Industrie- und Gewerbeausstellung von 1902 in Düsseldorf erinnern. 866 Die Typen der Denkmäler in Düsseldorf stehen exemplarisch für die Denkmäler im gesamten Deutschen Kaiserreich: Es waren vornehmlich Kriegerdenkmäler, Denkmäler für Monarchen, Militär und Staatsvertreter sowie Denkmäler für bedeutende Personen des öffentlichen Lebens. 867 Sie prägten neben weiteren Formen der öffentlichen Skulptur wie Brunnen und Bauskulptur die Kulturlandschaft. 868 Die Forschung spricht für das Deutsche Kaiserreich im Wesentlichen von folgenden Reprä-
863 | Vgl. ebd., S. 290. 864 | Vgl. Nicolai 2004, S. 208. Ein Beispiel hierfür ist die Siegesallee: Bald schon hatte sich der Spottname »Puppenallee« für dieses Skulpturenprogramm, das unter der Leitung von Begas in Beteilung von 27 Bildhauern entstand war, verbreitet (vgl. Knopp 1990, S. 11). 865 | Vgl. Looz-Corswarem und Purpar 1996 und Bloch 1975, S. 49-61. 866 | Bloch 1980, S. 329 und Dresch 1984, S. 106. 867 | An dieser Stelle sei einmal mehr darauf hingewiesen, dass es sich bei den Personen fast ausschließlich um Männer handelte – sollte dies nicht so sein, wird dies explizit kenntlich gemacht. 868 | Des Weiteren gab es Beispiele der Skulptur aus dem Kaiserreich, die heute, aber nicht damals das Stadtbild prägen, darunter Sämann von Fritz Klimsch oder die Sandalenbinderin von August Kraus. Ebenso gibt es Beispiele, die heute nicht mehr oder in anderer Form erhalten sind, etwa das Moltke-Denkmal von Josef Tüshaus und Joseph Hammerschmidt.
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sentationsgruppen: Denkmäler für Wilhelm I., Otto von Bismarck, weitere Vertreter des Militärs und für Personen öffentlichen Ranges sowie Denkmäler, die einem Ereignis gewidmet werden. Scharf nennt unter dem Titel Denkmäler des imperialistischen Zeitalters in erster Linie Kaiser-Wilhelm-, Bismarck- und Kriegerdenkmäler. 869 Heinrich Lützeler ordnete den Denkmalbestand in drei Gruppen ein: Träger der Nation, Kreis der Kultur und Kreis der Wirtschaft. 870 Hieran anschließend folgt an dieser Stelle eine Unterteilung der Denkmäler in Repräsentationen des Staates (Adel, Militär und Politik), des Bürgerlichen (Bürger ohne politisches Amt wie Künstler, Wissenschaftler oder Industrielle), der Geistlichkeit und der Arbeitenden (Industrie, Handwerk und Landwirtschaft).
Repräsentation des Staates »Neben diesen beiden Gruppen der Kaiser-Wilhelm- und Bismarck-Denkmäler schuf der kleindeutsch-preußische Nationalstaat eine dritte Gruppe von Monumenten, deren Aufgabe es war, neben den beiden politischen Gründergestalten den zweiten Hauptaspekt des deutschen Kaiserreichs, das Militär, zu repräsentieren. […] Im Mittelpunkt steht die Verherrlichung des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71), daneben wird der Versuch deutlich, die für die Einigung als Entscheidungsjahre in die Geschichte eingegangenen Zeiteinheiten ›1813‹ und ›1848/49‹ im kleindeutsch-preußischen Sinne zu deuten und umzudeuten.«871
Antje Laumann-Kleineberg konstatiert für die Zeit ab den 1870ern eine große Zahl an Kaiser-, Krieger- und Siegesdenkmälern beziehungsweise Nationaldenkmälern. 872 Die Skulptur des Kaiserreiches wird deshalb stark mit der Aufgabe assoziiert, die heute unter dem Begriff Nationaldenkmal etabliert ist. Es sind diese großen Projekte, Monumentaldenkmäler – um einen deskriptiveren Begriff zu wählen –, die das Bildgedächtnis damaliger und heutiger Zeit prägen. Neben den außergewöhnlichen Aus-
869 | Vgl. Scharf 1984, S. 217-255. 870 | Lützeler 1987, S. 376. 871 | Scharf 1984, S. 239. 872 | Vgl. Laumann-Kleineberg 1989, S. 15. Scharf nennt die Denkmäler an der Porta Westfalica, am Kyffhäuser, am Deutschen Eck, in Hohensyburg, das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal in Berlin mit Kaiser Wilhelm I. als Hauptfigur, das Bismarck-Nationaldenkmal in Berlin, am Starnberger See, Knivsberg, Kamerun, Hamburg, Elisenhöhe bei Bingerbrück mit Bismarck als Hauptfigur sowie die Kriegerdenkmäler Siegesallee, Völkerschlachtdenkmal, Kriegerdenkmal Edenkoben, Burschenschaftsdenkmal, Denkmäler in Elsaß-Lothringen und das Denkmal für die Vorkämpfer der Deutschen Einheit (vgl. Scharf 1984, S. 217-255). Ergänzt werden kann diese Liste noch um das Niederwald-Denkmal oder das Hermann-Denkmal bei Detmold. Vorläufer dieser Art sind die Walhalla, die Bavaria samt Ruhmeshalle, die Befreiungshalle bei Kehlheim und auch die Berliner Siegessäule.
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maßen verbindet sie eine exponierte Lage (meist in eine Landschaft eingebunden), ein komplexes Zusammenspiel aus Figur, Symbol und Allegorie sowie ein kompositorisches Gefüge aus Bildhauerei und Architektur in exklusiver Materialwahl und reflektierter Formensprache. Die Verknüpfung von Personen- und Ereigniskult bildet dabei stets eine wirkmächtige Allianz: Krieg873 und markante Personen wurden als Grundlage der deutschen Einheit inszeniert. So zeigt etwa der Reichsgründungsbrunnen von Wilhelm Albermann die Dreieinigkeit der Gründerväter. Erhöht auf einem Sockel steht Wilhelm I., darunter um den Sockel gruppiert befinden sich Bismarck und Moltke. 874 Krieg kam von jeher auch eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zu:875 »Obgleich die Kriegserfahrungen [...] schon vor dem Ersten Weltkrieg die Schwelle zur Massentötung zu überschreiten begannen, blieb die Memoralisierung militärischer Aktionen zumindest im Denkmalareal der Kapitalen ikonographisch wie rhetorisch einem unerschütterten Heroentopos verbunden.«876
Dietrich Schuberts zusammenfassende Feststellung – »Meist spiegeln die Denkmäler autoritäre Strukturen und Ideen, – außer sie trauern um Opfer und Gefallene der Kriege«877 – erweist sich aber als problematisch. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges zeigen sich zwei gegenläufige Formen des Umgangs mit sozialer Wirklichkeit im Denkmal: die ersten Anti-Kriegsdenkmalentwürfe (etwa der singuläre Entwurf für ein Friedensdenkmal von Rudolf Maison) 878 und die sogenannten Nagelmänner.
873 | Die Neue Wache in Berlin war eine Form, an die gefallenen Soldaten der Befreiungskriege und der Napoleonischen Kriege zu erinnern. Wie in der folgenden Zeit wurde der Soldat dort als Teil eines Kollektivs und nicht als Einzelperson geehrt. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die neue Form des Denkmals für den unbekannten Soldaten. Ziemann hierzu: »Es ist bereits oft bemerkt worden, daß Deutschland beinahe der einzige Teilnehmerstaat des Ersten Weltkrieges gewesen ist, der kein solches Grabmal des unbekannten Soldaten als zentrale Erinnerungsstätte für die Toten geschaffen hat. Als bislang wohl wichtigste Erklärung dafür wurde die föderale Zersplitterung der politischen Verfassung im Deutschen Reich angeführt.« (Ziemann 2000, S. 67 f.) 874 | Vgl. Schmidt 2001, S. 124. 875 | Vgl. Speitkamp 2000, S. 9. 876 | Rausch 2006, S. 685. 877 | Schubert 1985, S. 83. 878 | Schubert hierzu: »[D]er Entwurf für ein Friedensdenkmal (Holz/Gips bemalt) entstand 1895 im Zusammenhang mit der 25jährigen Friedenszeit und dem Wettbewerb für ein Siegesund FriedensDenkmal am unteren Ende der Prinzregentenstraße, München, (Abb. 58), also als Konkurrenz zum ausgeführten Friedensengel von H. Düll/G. Pezold und Max Heilmeier, vollendet 1899.« (Schubert 1977, S. 287 f.)
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Abbildung 66: Begas, Reinhold, Siegfried, das Reichsschwert schmiedend am Bismarck-Nationaldenkmal, Berlin, 1901
© James Steakley
Bereits 1914 fasste Käthe Kollwitz den Entschluss, ein ›Anti-Kriegsdenkmal‹ zu schaffen, und begann mit ersten Entwürfen zur Gestaltung dieses Werkes.879 Der Tod ihres Sohnes 1914 bildete den Anlass. 880 Kollwitz war lange mit diesem Projekt beschäftigt und erst in den frühen 1920ern wurde das Denkmal mit dem trauernden Elternpaar fertig. 881 Je nach Deutung kann auch Bernhard Hoetgers Niedersachsenstein in diesem Zusammenhang genannt werden: »Der Niedersachsenstein verändert sich eher von einem Siegesdenkmal in ein Zeichen für ein zukünftiges Wiederaufleben Deutsch-
879 | Vgl. Trier 1999, S. 313. 880 | Ihr Sohn Peter starb auf dem Weg zum Schützengraben (vgl. Seeler 2014, S. 115). 881 | Vgl. Dorren, Trauer 1992, S. 63 f. Viele Künstler sprachen sich zunächst für den Krieg aus – etwa Ernst Barlach, der 1914 noch ganz der Kriegseuphorie verpflichtet den Rächer als Reaktion auf die Kriegserklärung Englands anfertigte. Er erhoffte sich tiefgreifende soziale Veränderungen (vgl. Dorren, Rächer 1992). Später änderte sich seine Haltung und er schuf in der Nachfolge von Käthe Kollwitz 1931 ein Denkmal für die Gefallenen des Krieges in Form einer trauernden Mutter.
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lands, von einem Adler zu einem Phönix.«882 Die Kriegsnagelungen waren eine in ganz Europa verbreitete kulturelle Praxis des Bürgertums im Kontext Denkmal, bei der Skulpturen mit Nägeln beschlagen wurden, die zuvor gegen eine Spende zugunsten des Militärs erworben wurden. Eines der im Ausmaß mit den Nationaldenkmälern vergleichbaren Beispiele war der sogenannte Eiserne Hindenburg in Berlin, eine Holzstatue von über zwölf Metern Höhe aus dem Jahr 1915 vom Bildhauer Georg Marschall. 883 Hugo Ball ließ sich 1918 spöttisch hierüber aus: »Die patriotischen Hurrahyänen heulen durchs Land. Und da die Hyäne ein Raubtier ist, so nageln sie denn. […] Und wie hat man den Kriegskrüppeln Gelegenheit gegeben aufs Postament hinaufzukommen? Mittels Dampfkran, Aufzug oder Rutschbahn?«884 Der Bereich der Arbeit wird in Denkmälern der Repräsentation des Staates im Deutschen Kaiserreich vor allem über zwei Formen verhandelt: über die Assistenzfigur (entweder als Statue an Sockeln beziehungsweise beigestellte Figuren oder im Relief) und über die Allegorie, wobei fast immer beide Formen zusammenfallen. Eine Vorform sind beispielsweise Friedrich Drakes Reliefs am Sockel des Wilhelm-Beuth-Denkmals aus den 1850ern. Sie zeigen Darstellungen zu Preußens Wirtschafts- und Landwirtschaftsentwicklung, etwa in Form von Allegorien zum Zusammenwirken von Handel und Industrie, Kunst und Wissenschaft sowie Szenen einer Schmiede, einer Druckerei oder eines Fotografen beim Ablichten von Mutter mit Kindern. 885 Die szenischen Darstellungen bilden den unteren und schmaleren Sockelteil, der wie ein erzählerisches Band herumgeführt wird, wohingegen die Allegorien ihren Platz in vier großen, eigens gerahmten, quadratischen Feldern darüber finden. Etwa zur gleichen Zeit schuf Gustav Blaeser in Anlehnung an Christian Daniel Rauchs Denkmal für Friedrich III. ein diesem Herrscher gewidmetes Werk für den Kölner Heumarkt. Unter dessen Sockelfiguren ist auf Augenhöhe, neben überregionalen Berühmtheiten auch der Unternehmer Otto von Camphausen zu finden.886 Arbeit wird hier über verdiente Bürger verkörpert. Zu den wichtigsten Denkmälern dieser Zeit gehört das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal von Reinhold Begas in Berlin aus dem Jahr 1897, eine Anlage monumentalen Ausmaßes. Neben der aufwendigen Architekturstaffage und der großen Zahl von Assistenzfiguren (darunter auch vier Löwen) finden sich dort vier allegorische Gruppen, die neben der Kunst und der Wissenschaft, auch Handel und Schifffahrt sowie Ackerbau und Gewerbefleiß darstellen. Nahezu als ideologisches Pendant dazu kann das
882 | Coelen, Hoetger 1992, S. 216. 883 | Vgl. Diers 1997, S. 90 f. 884 | Ball 1991, S. 213 f. 885 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 143. 886 | Vgl. ebd., S. 115.
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Berliner Bismarck-Nationaldenkmal mit der Figur des Siegfrieds als Schmied (ebenfalls von Begas) gelten, bei dessen Einweihung Kaiser Wilhelm II. einen Kranz mit der Inschrift »Des großen Kaisers großem Diener« niederlegte. 887 Das Düsseldorfer Bismarck-Denkmal verweist durch die Personifikation der Industrie zu Füßen des Kanzlers auf den mythologisch überhöhten Wirtschaftsbereich der Metallverarbeitung. Moltke, der neben Bismarck oft als Assistenzfigur bei Kaiser-Wilhelm-Denkmälern verwendet wurde und als dessen zweiter Paladin galt, wurde in Düsseldorf ein von den Bildhauern Josef Tüshaus und Joseph Hammerschmidt realisiertes Denkmal gesetzt. Es zeigt nicht nur Moltke erhöht auf einem Sockel, sondern auch Assistenzfiguren neben dem Sockel: zum einen einzelne Figur (jubelnder Soldat) und zum anderen eine Figurengruppe (ein alter Schmied berichtet einem Jungen von den großen Taten des Generals).888 Auch im Denkmal für die Vorkämpfer der deutschen Einheit und in Erinnerung an das erste deutsche Parlament spielt der Schmied eine wichtige Rolle: 1903 entstand in Zusammenarbeit des Architekten Friedrich Maximilian Hessemer und des Bildhauers Hugo Kaufman ein Steinobelisk, dessen Sockel mit drei Reliefs und zwei heute nicht mehr erhaltenen sitzenden Bronzefiguren geschmückt war. 889 Auf dem Obelisken wurde Clio als Personifikation der Geschichte platziert, die ein Schild mit der Inschrift »Seid einig« hält. Die Reliefs zeigen die Szenen Abschied des Jünglings vom Vater, Zum Kampf bereit und auch Das Schmieden der Waffen. Die Wahl des letzten Themas kann als Ausdruck der nach der Jahrhundertwende verstärkt auftretenden martialischen Gesinnung und Militarisierung gelesen werden, aber auch als eine Referenz auf den als staatstragend verstandenen Bereich der Arbeit, der mit dem antiken Topos der Schmiede des Vulkans verknüpft wurde. Die Hamburger Denkmäler für Kaiser Wilhelm I. von Johannes Schilling890 und Gustav Eberlein891 sind Beispiele dieser Denkmalform in ihrer aufwendigsten und ikonografisch aufgeladensten Form. Beide zeigen den Monarchen als Reiter in Uniform,
887 | Vgl. Bischoff 1985, S. 233. 888 | Müller bezeichnet den Schmied als Invaliden (vgl. Müller 1980, S. 264). 889 | Vgl. Scharf 1984, S. 249 f. 890 | Vgl. Alings 1996, S. 224-235. 891 | Eberlein setzte sich danach mit Auguste Rodin und Constantin Meunier auseinander. Um die Jahrhundertwende wurde er politisch aktiv, rief zur Abrüstung auf und trat gegen den Sittlichkeitsparagrafen der Lex Heinze ein. Später modellierte er Büsten von Karl Marx und Ferdinand Lassalle (vgl. Hoffmann 1990, S. 84). Jochum-Bohrmann hingegen konstatiert: »Begas starb 1911 auf der Höhe seines Ruhms, Eberlein mußte sich dagegen nach 1918 den veränderten politischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen und biederte sich mit dem Standbild für Lasalle sowie Büsten von Marx und Bebel bei den neuen Machthabern an.« (Jochum-Bohrmann 1990, S. 27)
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Abbildung 67: Schilling, Johannes, Kaiser-Wilhelm-Denkmal, Weltverkehr, Hamburg, 1903
© Claus-Joachim Dickow
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Abbildung 68: Schilling, Johannes, Kaiser-Wilhelm-Denkmal, Altersvorsorge, Hamburg, 1903
© Claus-Joachim Dickow
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platziert auf einem hohen Sockel, um den weitere Figuren gruppiert sind. 892 Bei Schilling sind es vier Allegorien, je eine für: den Weltverkehr, das einheitliche Maß- und Münzwesen, das Invaliditäts- und Altersvorsorgegesetz und das einheitliche Reichsgesetz. 893 Jede Allegorie besteht aus drei Figuren, einer Hauptfigur (etwa Hermes oder Justitia) sowie zwei Nebenfiguren (etwa zwei Kinder, die mit Globus und Telefon spielen, ein junger Schmied, der eine Münze in eine Sparbüchse steckt oder ein alter Mann, der im Arm der Caritas etwas trinkt). Eberlein ergänzt den Monarchen um eine Figurengruppe, bestehend aus einem Krieger nebst der sich die Hände reichenden Personifikationen Schleswig und Holstein sowie der Figur eines Schmiedes und eines Fischers, die als Verweise auf das Handwerk und die Industrie beziehungsweise auf den Handel und die Schifffahrt gelesen werden können. Beide Denkmäler thematisieren aktuelle Sozialgeschichte – vor allem Schilling, indem er die neuen Gesetze, die infolge der sozialen Frage erlassen wurden, in Form von Allegorien darstellt. Zu diesem Kontext gehört auch das Denkmal für den Sozialpolitiker Hermann Schulze-Delitzsch, das mit bronzenen Sockelfiguren aus zwei Zweiergruppen (Landarbeiter und Schmied sowie aus Mutter und Knabe) ausgestattet ist 894 und dem Weltbild der damaligen Zeit gleicht: Eine patriarchale Denker- und Tatfigur – der pater familias – steht über den Arbeitern sowie über Frau und Kind als Sinnbild von Häuslichkeit. Die Ökonomie gehört auch zu den regionalen oder stadtspezifischen Repräsentationsmotiven, etwa beim Denkmal für Johann Smidt, Bürgermeister der Stadt Bremen und Gründer Bremerhavens, dessen Sockelfiguren Allegorien des Handels und Seefahrt bilden.895 Wenn auch die Werkbeispiele zeigen, dass sich der Staat einer Ikonografie der Arbeit im repräsentativen Rahmen des Denkmals bediente, so mag das letzte Beispiel darauf verweisen, dass dies dennoch nicht selbstverständlich war: Dem Bildhauer Johannes Boese wurde 1902 der Professorentitel durch Kaiser Wilhelm II. erst verliehen, nachdem dieser die Figur des huldigen Landarbeiters vom Denkmal für Kaiser Friedrich III. in Posen entfernt hatte. 896
892 | Wilhelm I. zu Ross mit Assistenzfiguren ist ein gängiges Schema. Beispiele dafür sind des Weiteren die Denkmäler in Danzig, Breslau, Bremen, Duisburg-Kaiserberg, Frankfurt a. M. oder Dortmund (Hohensyburg). Die Assistenzfigur(en) konnte(n) auch direkt neben dem Pferd (aufrecht oder sitzend) platziert sein wie beim Denkmal Deutsches Eck, das Kyffhäuser oder in Düsseldorf. 893 | Vgl. Feist 1987, S. 320. 894 | Vgl. Maaz, Bd. 1 2010, S. 96. 895 | Anzahl und Gestaltung von Bürgermeisterdenkmälern im Bild der Städte differieren stark (vgl. Meißner 1987, S. 100). 896 | Vgl. Lehnert 1990, S. 51.
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Repräsentation der Geistlichkeit Denkmäler für Geistliche können Ausdruck einer kommunalen Selbstdarstellung sein, wenn Geistliche als verdiente Bürger897 von ihrer Stadt oder Region geehrt werden. Das zeigt das Beispiel von Sebastian Kneipp: Kneipp gründete schon Ende des 19. Jahrhunderts die heute noch produzierenden Kneipp-Werke zur Herstellung von Naturheilprodukten. 898 Ihm wurden an seinem Sterbeort Bad Wörishofen gleich mehrere Denkmäler gewidmet. Auch an anderen Orten wurden ihm Denkmäler errichtet, 899 sogar auf der Ringstraße in Wien. Sie sind Ausdruck eines Personenkultes um einen Mann, der Geistlicher war, aber weniger für seine Verdienste als katholischer Würdenträger als für seine Leistungen in der Medizin ausgezeichnet wurde. Er ist ein Repräsentant der neuen, industrialisierten Zeit: Einerseits reagierte er mit seiner Medizin auf die Folgen des modernen Lebens, andererseits nutzte er die Strukturen des modernen Lebens für sich als Unternehmer. Die Düsseldorfer Mariensäule wurde anlässlich des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis geplant und ist darüber hinaus ein politisches Bekenntnis der papsttreuen, katholischen Einheit im beginnenden Kulturkampf.900 Vor dem Hintergrund des Kulturkampfes und der sozialen Frage erscheint das Denkmal für Adolph Kolping in Köln (Johann Baptist Schreiner) deshalb auch durchaus politisch. Die Inschrift auf dem Sockel des Denkmals lautet: »Adolf Kolping – Der Gesellenvater«. Kolping wird hier nicht als Sohn einer Stadt, sondern als Begründer der sogenannten Kolpingwerke,901 die reisenden Handwerkern Unterkunft boten, präsentiert. So ist ihm auch einer der von ihm betreuten Gesellen an die Seite gestellt. Zur Lösung der sozialen Frage wird hier die Solidarisierung von katholischer Kirche und Arbeitern, symbolisiert durch das Händereichen, vorgeschlagen.902 Ob das Denkmal auch als eines für die Berufsgruppe der ehrenhaften, weil gläubigen Handwerker gelesen werden kann, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Bestenfalls geschieht dies indirekt: Der Ge-
897 | Geistliche wurden damit von Bürgern zu ihren Repräsentanten gemacht – eine Tradition, die im 19. Jahrhundert mit den Plänen zum Luther-Denkmal beginnt. 898 | Vgl. http://www.kneipp.de/ueber_uns/unternehmensportraet.html vom 04.04.2018. 899 | Vgl. Roloff 2012, S. 248 ff. 900 | Vgl. Trier 1980, S. 185 und S. 196. 901 | Auf die Rolle der Kirche in Bezug auf die soziale Frage wurde bereits hingewiesen. Hier sei dennoch kurz erwähnt: Die Präsenz dieser Thematik war innerhalb der katholischen Kirche so groß, dass Papst Leo XIII. als erster seines Amtes eine Sozialenzyklika verfasste und so auf die sozialen Umstände seiner Zeit reagierte. Das trug ihm den Beinamen »Arbeiterpapst« ein (vgl. Ritter 1998, S. 18 f.). 902 | Für Bocholt wurde eine fast identische Kopie dieses Denkmals angefertigt (siehe Fotos im Bocholter Stadtarchiv, http://www.bocholt.de/rathaus/nachrichten/artikel/stadtgeschichtedas-kolping-denkmal-an-der-st-georg-kirche/ vom 04.04.2018).
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selle ist die Assistenzfigur des Geistlichen, das Denkmal aber ist Kolping gewidmet, auch wenn die Figur des Gesellen prominent inszeniert wird. Dies entspricht insgesamt den Darstellungskonventionen von Arbeitern als Assistenzfiguren. Sicher ist das Denkmal Ausdruck der Ehrung und Repräsentation der christlichen Ideale der Nächstenliebe und Fürsorge, verkörpert durch den Geistlichen Kolping – auch als Mann seiner Zeit.903
Repräsentation des Bürgerlichen »Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein, dann bringt Arbeit Segen, dann ist Arbeit Gebet.«904
Denkmalkult ist nicht zuletzt ein Phänomen bürgerlicher Selbstvergewisserung: »Das Bürgertum begann vor und nach 1871 verstärkt seine Herrschaft durch Denkmäler und Standbilder ihrer politischen und geistigen Führer und ihrer Erfinder und Entdecker zu legitimieren. Der Genie-Kult brachte die Denkmäler für Musiker, Dichter und Wissenschaftler.«905 Thomas Nipperdey verweist anhand des Wittenberger Martin-Luther-Denkmals und des Denkmals für die Befreiungskriege auf dem Tempelhofer Berg in Berlin auf zwei wichtige Beispiele bürgerlicher Repräsentation im Denkmal vor 1871:906 In ihnen offenbaren sich bürgerliche Aneignungsstrategien, indem Personen oder Ereignisse für die bürgerliche Sache vereinnahmt wurden. Zum bürgerlichen Selbstverständnis gehörte der Wunsch, sich dem Adel anzunähern, während im Gegenzug der Adel bürgerlicher wurde. Das Bürgertum war keine abgeschlossene Klasse, sondern ein Sammelsurium von Identitätsanstrengungen, zu denen wesentlich auch das Bedürfnis zählte, geadelt zu werden. Dem zur Seite stehen Denkmäler, die bürgerlichen Personen gewidmet sind, etwa das Johannes-Gutenberg-Denkmal in Mainz von 1837 und das Friedrich-Schiller-Denkmal in Stuttgart von 1839. Bürgerliche Personen waren, wie Nipperdey anführt, auch die für das deutsche Selbstverständnis so wichtige Gruppen der Dichter und Denker, der Musiker und
903 | Das Denkmal Marienborn in Neuss verweist vor allem auf Maria als Mutter. Mit Blick auf das Kolping-Denkmal eröffnet es Aspekte der mütterlichen Fürsorge, die in der christlichen Ikonografie immer schon angelegt sind, und verweist zudem ganz zeitgenössisch auf Familie und karitative Zuwendungen vor allem für Kinder. 904 | Inschrift am Denkmal für Krupp von Alois Mayer. 905 | Schubert 1985, S. 83. Laumann-Kleineberg konstatiert im Einverständnis mit der gängigen Forschung in Deutschland für die Zeit ab 1800 große Umbrüche im Bereich Denkmal, das nun nicht länger in erster Linie Heilige oder Fürsten zum Thema hatte (vgl. Laumann-Kleineberg 1989, S. 110). 906 | Vgl. Nipperdey 1968, S. 140 f. und S. 152.
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Künstler907 – die sogenannten Geistesheroen.908 Nipperdey weist auch ihnen eine nationale Funktion zu.909 Schubert sieht ebenfalls die politische Komponente dieser Denkmäler: »Es handelt sich um öffentliche Kunstwerke (meist mehr Material als Kunst) mit Beeinflussungsabsicht, die jedenfalls nach Sinn und Form eine wie auch immer geartete Ideologie transportieren und einen Appell anschaulich wirksam werden lassen sollten.«910 Auch Felix Reuße bestätigt diese Einschätzung: »Einzelne Persönlichkeiten verkörperten stellvertretend den neuen Anspruch des Bürgertums. Folglich trat dieses auch als Auftraggeber in Konkurrenz zu der feudalen Schicht. Dem Hang zur bürgerlichen Selbstdarstellung kam das figürliche Standbild entgegen.«911 Das Beispiel Heinrich Heine zeigt jedoch, dass ein kritischer jüdischer Dichter keineswegs zum bürgerlichen Selbstbild dieser Zeit gehörte: Zwar hatte der Bildhauer Ernst Herter einen Denkmalentwurf für ihn geschaffen, dieser wurde aber zu einem Loreley-Brunnen umfunktioniert.912 Sowohl in Düsseldorf als auch in Mainz wurde ihm ein Denkmal verweigert.913 Die Repräsentation des Bürgertums erfolgte aber nicht nur durch die Darstellung im Denkmal, sondern auch indirekt über die Rolle als Auftraggeber beziehungsweise Finanzier – sei es für Denkmäler bürgerlicher Personen oder für sogenannte Nationaldenkmäler wie das Hermanns-Denkmal, für deren Finanzierung eigens Vereine gegründet wurden: »Die Detmolder Bürger verfolgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Hermannsdenkmal und der Vereinsbewegung ein doppeltes Ziel, das auf eine zukünftige, noch zu reali-
907 | Wissenschaftlich aufgearbeitet wurde diese Form des Denkmals beispielsweise in der Studie von Gerd Reichardt (vgl. Reichardt 2009). 908 | Der Begriff »Geistesheros« wurde durch König Ludwig I. von Bayern – dem Erbauer der Walhalla – bekannt und entstand in Analogie zum Begriff »Schlachtenheros« (vgl. Bischoff 1985, S. 110). 909 | Vgl. Nipperdey 1968, S. 148. 910 | Schubert 1985, S. 83. Scharf sieht im Denkmalbau einen Gradmesser für das bürgerliche Selbstbewusstsein (vgl. Scharf 1984, S. 12). Ähnlich formuliert es auch Plagemann, der das Denkmal als Medium bürgerlicher Selbstbestätigung und Selbstverständigung, also als Ausdruck patriotischen bürgerlichen Stolzes betrachtet (vgl. Plagemann, Hamburg 1972, S. 21). 911 | Reuße 1995, S. 123. Tacke betont, die Denkmalbewegung mit ihren Vereinen und Festen habe das Bürgertum als sozial und kulturell abgegrenzte Klasse konstituieren und festigen sollen (vgl. Tacke 1995, S. 294). 912 | Vgl. Hüfler 1990, S. 479. 913 | Bloch spricht in diesem Zusammenhang von der gesellschaftskonformen und staatserhaltenden Funktion von Denkmälern, die mit einer Person wie Heine nicht verwirklicht werden konnte (vgl. Bloch 1975, S. 75).
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Durch das finanzielle, ideelle oder ehrenamtliche Mitwirken915 an Projekten für Nationaldenkmäler verlieh das Bürgertum seiner Rolle Ausdruck, an der Entstehung eines deutschen Nationalstaates beteiligt zu sein. Die bürgerlichen Argumentationsstrategien der Partizipation an der Konsolidierung des deutschen Staates sind meist retrospektiver Natur, wie zahlreiche Beispiele belegen. Zu nennen ist hier vor allem das Denkmal für die Vorkämpfer der Deutschen Einheit,916 bei dem den Liberalen daran gelegen war, ihre Verdienste um die deutsche Einheit herauszustellen. Dieses Unterfangen blieb freilich relativ erfolglos.917 Bürgerliche Versuche der Autonomisierung und Abgrenzung von der staatlichen Elite wurden unterminiert und es lässt sich, wie Charlotte Tacke verdeutlicht, »[…] anhand der Vereinsgeschichte des Detmolder Vereins für das Hermannsdenkmal zeigen, wie die bürgerliche Denkmalsinitiative zunehmend auf regionaler wie auch auf nationaler Ebene vom monarchischen Staat vereinnahmt wurde. Dabei spielte besonders die doppelte Loyalität der Vereinsmitglieder als Bürger und Beamte eine entscheidende Rolle.«918
Zudem zielen Personendenkmäler auf eine lokale oder regionale Identität: »Nationale Symbole, Feste und Rituale zielten zwar in ihrer Rhetorik auf die Nation und vermittelten auch überregionale Identitäten. […] In den untersuchten Vereinen, Subskriptionen und
914 | Tacke 1995, S. 130 f. Das Hermanns-Denkmal bei Detmold von Ernst von Bandel, der bereits 1830 den Vorschlag dafür gemacht hatte, avancierte nach seiner Fertigstellung 1875 schnell zum Symbol des Sieges über die Franzosen. Krupp hatte dafür das riesige Schwert gestiftet (vgl. Klotz 2000, S. 198). 915 | Die ab dem 19. Jahrhundert auftretenden, in Vereinen und Interessenverbänden organisierten bürgerlichen Stifter von Denkmälern führten auch zu einer Veränderung der Programme (vgl. Erben 2011, S. 241). 916 | Ähnlich kann man auch das Hutten-Sickingen-Denkmal von Robert und Ludwig Cauer sehen. Die Sockelinschrift lautet: »Den Vorkämpfern / deutscher / Einheit und Größe / Ulrich von Hutten / Franz von Sickingen«. 917 | Vgl. Rausch 2006, S. 684; Scharf 1984, S. 249 f. 918 | Tacke 1995, S. 80.
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»Arbeitende Bilder« Festen repräsentierte sich das Bürgertum gleichzeitig als Vertreter der Nation und als sozial führende soziale Gruppe in Stadt und Region.«919
Das Kaiserreich war aber nicht nur eines der Dichter und Denker oder Vorkämpfer, sondern auch des modernen Menschen, etwa in Gestalt von Wissenschaftlern, Erfindern920 und Industriellen. Durch die Denkmalsetzungen für solche Personengruppen wurde die staatstragende Funktion des Bürgertums demonstriert – freilich nicht retrospektiv wie bei den Denkmälern für die Vorkämpfer der Einheit, sondern aufgrund eines aktuellen Status in der Gesellschaft, der in erster Linie Folge einer Profession war und die Möglichkeit bot, den Nationalstaat zu prägen, zu gestalten, zu stützen, aufzubauen und voranzubringen. In dieser Zeit werden vermehrt Denkmäler für Industrielle umgesetzt. Ähnlich wie bei den Grabmälern findet sich das Thema Arbeit hier , indem Verweise auf die Herkunft oder den Beruf (in Form von Attributen) platziert werden. Beispiele hierfür sind die Denkmäler von Fritz Schaper. Das Denkmal für Alfred Krupp, das von der Stadt Essen in Auftrag gegeben wurde, die sich auf dem Sockel mit der Inschrift »Die dankbare Vaterstadt« erkenntlich zeigt,921 verweist durch den teilweise mit einem Schurzfell bedeckten Amboss neben Krupp allegorisch attributiv auf die Profession des Dargestellten. Ein vergleichbarer kompositorischer Aufbau findet sich bei Schapers Bronzedenkmal für Carl Ferdinand Stumm, das diesen mit Arbeitsgeräten der Montanindustrie (Lupenzange und Kokille) darstellt. Sehr aufwendig gestaltet sind die Krupp-Denkmäler von Alois Mayer und Hugo Lederer. Das Denkmal von Mayer entstand im Auftrag der Belegschaft und zeigt nicht nur Krupp erhöht auf einem Sockel, auf dem Krupps Leitspruch – »Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein, dann bringt Arbeit Segen, dann ist Arbeit Gebet« – angebracht ist, sondern auch zwei unter ihm sitzende Assistenzfiguren, von der die eine eine junge Arbeiterwitwe mit Kind ist, die einen Rotulus mit Johann Wolfgang von Goethes Worten »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!« in der Hand hält, und die andere ein Schmied. Das nicht mehr erhaltene Denkmal von Lederer zeigt Krupp
919 | Ebd., S. 291 f. In dem Sinne erscheinen Studien wie die von Tacke als sinnvoll, da sie eine mikroperspektivische Sicht auf eine spezielle topografische und historische Konstellation einnehmen (vgl. die Erläuterungen hierzu bei Tacke 1995, S. 290). Bürgerliche Topografien für Denkmäler konnten aber nach Held und Schneider auch weniger stark politisch besetzte Orte sein, Gärten oder Parks sind in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. Held und Schneider, 2007, S. 82). 920 | Es finden sich für alle diese Berufsgruppen mehrere Beispiele, so etwa Denkmäler für Wilhelm von Humboldt (Martin Paul Otto), Johannes Gutenberg (Carl Dopmeyer), Heinrich Bürgers (Anton Werres) oder Werner Siemens (Wilhelm Georg Wandschneider). 921 | Vgl. Kellen 1902, S. 87.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
als Standfigur auf einem Sockel, hinterfangen von einer halbrunden Wandfläche, an der auf niedrigeren Sockeln vier weitere Figuren als Hochrelief paarweise angeordnet sind und sich einander zuwenden.922 Hierbei handelt es sich zum einen um zwei Arbeiterfiguren und zum anderen um eine Mutter mit einem Säugling im Arm und einen Vater als Sinnbild für die Arbeiterfamilie. Die beiden Gruppen sollen den privaten und den beruflichen Alltag von Arbeitern symbolisieren. Zwischen den Figurengruppen sind Inschriftentafeln angebracht, auf denen es heißt: »In Dankbarkeit die Angehörigen seiner Werke die Vaterstadt die Freunde 1907« und »Friedrich Alfred Krupp 1854-1902 stand seit 1887 an der Spitze der Werke die Schöpfung seines Vaters treu pflegend und weiterbauend«. Krupp wird hier als Patriarch seiner ›zweiten Familie‹ – die seiner Arbeiter – präsentiert. Auch die Sepulkralskulptur kann eine den sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts geschuldete Ikonografie zeigen,923 wobei antike Formen umgedeutet oder mit modernen Motiven kombiniert werden. Das Mausoleum der Familie Lanz in Mannheim, dessen figürliche Ausstattung von August Kraus stammt, besteht aus der Liegefigur von Heinrich Lanz sowie aus Ceres und einem Schmied als Standfiguren in Nischen. Bernhard Maaz bemerkt dazu: »Darüber hinaus kann man in Ceres als der Göttin des Ackerbaus sogar noch einen Verweis darauf sehen, daß Lanz bevorzugt Landwirtschaftsmaschinen herstellte […]. Das Gegenstück zu dieser Figur stellt einen Schmied mit Hammer dar, eine ganz aus der Zeit gegriffene Schöpfung. Damit ist dem weiblichen Prinzip das männliche gegenübergestellt – und der Idealität der Gottheit eine Realität des Menschen. Dieses Motiv ist zweifellos nicht nur in einem Interesse am Verweis auf Lanz’ Firma entsprungen, sondern es transportiert auch die Tatsache, daß der Firmeninhaber seine Belegschaft überdurchschnittlich gut behandelte und unter sozialen Aspekten sehr für sie sorgte.«924
922 | Vgl. Jochum-Bohrmann 1990, S. 80. Die strukturelle Gestaltung – mittlere Standfigur auf Sockel hintergangen von einer Mauer – erinnert an das Denkmal für den Mediziner Albrecht von Graefe von Rudolf Siemering. Die Wand wurde jedoch mit Terrakottareliefs geschmückt, auf denen Szenen mit Kranken und Geheilten zu sehen sind, und stammt als Architektur von Martin Gropius und Heino Schmieden. 923 | In dieser Gattung kommt in besonderer Weise die Profanisierung der Welt seit dem 19. Jahrhundert zum Ausdruck (vgl. Kapner 1991, S. 132). Die Grabgestaltung konnte etwa so aussehen: Ein mit einem Tuch um die Hüften bekleideter Mann stützt seinen Ellbogen auf eine Sphinx und führt im Trauergestus die Hand zur Stirn. In einem Werk von Hammerschmidt bewachen Hagen und Volker aus der Nibelungensage das Mausoleum der Familie Toelle. 924 | Maaz, Bd. 1 2010, S. 258.
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Abbildung 69: Butti, Enrico, Bergmann mit Laterne auf dem ehem. Grabmal der Familie von Gahlen, Düsseldorf, um 1900
© A. Savin
Die Familie Lanz dürfte sich bewusst für diese Ikonografie und den Verweischarakter der einzelnen Elemente des Grabmals entschieden haben. Dafür musste sie vorab festlegen, welche Aspekte betont werden sollen. Ein Verweis auf die Produkte der Firma Lanz muss nicht automatisch zu der Überlegung führen, dass Lanz ein Wohltäter war. Das Grab kann auch im Sinn von »Tue Gutes und rede darüber« gelesen werden. Schmied und Ceres als Verweise auf das karitative Gebaren des Verstorbenen erschließen sich indes nicht so leicht. Gerade der Schmied ist eine so vielfach eingesetzte Figur, die vor allem mit dem Bereich der Schwerindustrie verknüpft ist und/ oder als ›germanische Figur‹ gelesen werden kann. Wie dieses Beispiel zeigt, wird Arbeit an Gräbern allegorisch thematisiert. Als weitere Beispiele können hierfür das Dürener Grab von Joseph Uphues für die Eheleute Philipp und Anna Schoeller oder die weibliche Grabfigur mit Zahnrad als Attribut von Boese stehen. Der Spiralbohrerfabrikant Robert Stock war Förderer des
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Bildhauers Gerhard Janensch und kaufte von ihm die Statue eines Schmiedes, die er als Bronzefigur später auf seinem Grab aufstellen ließ.925 Auch die auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof aufgestellte Grabplastik der Familie von Gahlen, die später von der Industriellenfamilie Grillo weiterverwendet wurde, ist Ausdruck eines bürgerlichen Repräsentationsbedürfnisses, weil sie auf den beruflichen Status beziehungsweise den Bergbau verweist. Konkret schmückt die Grabstätte die Figur eines Bergmanns mit Laterne (nach dem Original des italienischen Künstlers Enrico Butti).926 Ein vergleichbares Beispiel stellt das Grab der Familie Laute in Bonn dar. Wilmar Laute war, wie die Inschrift auf dem Sockel ausweist, Bergrat. Es ist nach Meyer-Woeller das erste Beispiel für ein Montangrabmal mit Arbeiterdarstellung im Rheinland.927
Repräsentation der Arbeiter »Rüstig zur Arbeit – froh in der Rast.«928
Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth zufolge war der belgische Maler und Bildhauer Constantin Meunier der erste Künstler, der die Idee zu einem Denkmal der Arbeit hatte.929 Im Anschluss an ihn folgten unter anderem Jules Dalou, Auguste Rodin und Wilhelm Lehmbruck.930 Meunier hatte bei der Realisierung seines Werkes mit der
925 | Vgl. Einholz 1990, S. 134 f. 926 | Meyer-Woeller 1999, S. 118 f. und S. 126 f. 927 | Vgl. ebd., S. 126. 928 | Inschrift am Jahrhundertbrunnen von Ulfert Janssen in Essen. 929 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 254. Scharf sieht Jules Dalou und seine geheimen Pläne ab 1889 für ein Denkmal zum Ruhme der Arbeit als Initiator, dem Meunier folgte (vgl. Scharf 1984, S. 213). Clemen bemerkte 1912 zu dieser Frage: »Hat Dalou Meunier gekannt? Seine späteren Arbeiten wohl sicher – aber jene Studien Dalous nehmen ihren Anfang im Jahre 1889, als Meunier in Paris noch eine unbekannte Größe war. Und denkt man angesichts dieses Riesenplanes Dalous, dem die Vollendung nicht beschieden war, nicht auch an Rodins Säule der Arbeit, an Barnards Tempel der Arbeit, die gleichfalls in dem gigantischen Projekt stecken geblieben sind?« (Clemen 1912, S. 377) 930 | Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 261-275. Die Veranstalter hatten geplant, bei der Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris ein Denkmal der Arbeit zu zeigen, sofern sich mehrere Künstler zu einem Gemeinschaftsprojekt zusammenfänden. Dieses Vorhaben scheiterte, sodass lediglich der Fries der Arbeit von M. Guillot – die Initiale M. ist in jedem Fall falsch und wahrscheinlich nur ein Flüchtigkeitsfehler – über dem Eingangsportal der Ausstellung angebracht wurde (vgl. Türk 2000, S. 196 f.). Janson spricht von einem Vorschlag eines Journalisten für dieses Werk (vgl. Janson 1985, S. 199). Laut Scharf wurde der Kunstkritiker und Kunstbeamte Armand Dayot durch Meuniers Werk dazu angeregt, im Sinne der Klassenharmonie für die Pariser Weltausstellung
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Abbildung 70: Hammerschmidt, Joseph, Grab der Familie Laute, Bonn, 1911
© A. Savin
offiziellen Kulturpolitik zu kämpfen.931 Zum Entstehungszeitpunkt932 war Meunier ein gefeierter Künstler im In- und Ausland und seine Werke – dies berichtete der befreundete belgische Literat Camille Lemonnier – fand man auch in den Häusern der Reichen und Mächtigen. Trotz einer großen Verschönerungsmaßnahme mit Denkmälern unter König Leopold II. am Jahrhundertende wurde sein Vorschlag zur Errichtung eines Denkmals der Arbeit abgelehnt,933 obwohl er sogar anbot, nur gegen ein geringes oder kein Honorar zu arbeiten. Lediglich die Entstehungskosten sollten ihm erstattet werden.934 Zahlreiche prominente belgische Autoren versuchten, das Projekt publizistisch zu fördern:935 Octave Maus etwa bezeichnete das Werk als
von 1900 einen allegorischen Fries zum Thema Arbeit für das Eingangstor des Ausstellungsgeländes bei Anatole Guillot in Auftrag zu geben (vgl. Scharf 1984, S. 213-216). 931 | Vgl. Goetz 1984, S. 232. 932 | Nach Scharf begann Meunier 1893 mit seinen Plänen (vgl. Scharf 1984, S. 213). 933 | Vgl. Goetz 1984, S. 232-235. 934 | Vgl. Gensel 1905, S. 49. 935 | Vgl. das Folgende nach Goetz 1984, S. 231-236 und Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 258.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 71: Meunier, Constantin, Denkmal der Arbeit, ab 1893
© DIMSFIKAS
Apotheose Belgiens und keineswegs als staatsfeindlich. Die Regierung kaufte 1903 zunächst Teile des Denkmals für ein Museum an, verbot aber die Aufstellung im Freien. Émile Vandervelde, späterer Führer der Arbeiterpartei, vermutete 1907 in seinen Essais socialistes, die Regierung fürchtete, das Denkmal könne ein Versammlungsort sozialistischer Kundgebungen werden. Im Rahmen einer Retrospektive 1909 wurde der Versuch unternommen, das Monument im Freien zu errichten. Der Ausstellungskatalog betonte dazu den friedlichen Charakter des Werkes, wie Meunier es schon zu Lebzeiten getan hatte. Erst nach seinem Tod kam es zur vollständigen Realisierung. In der seit 1930 in Brüssel aufgestellten Version (nach den Entwürfen des Architekten Mario Knauer) besteht das Denkmal aus den vier Steinreliefs Industrie, Bergwerk, Hafen und Ernte,936 der Standfigur Sämann sowie den Sitz- beziehungsweise Kniefiguren
936 | Gensel sieht hier die Möglichkeit, diese auch als die Verbildlichung der vier Elemente zu lesen (vgl. Gensel 1905, S. 53).
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Ahne, Schmied, Bergmann und Mutterschaft aus Bronze.937 Meunier schrieb einmal in einem Brief an Carl Jacobsen: »[…] je trouve le Travail assez noble pour être glorifié.«938 Und Goetz konstatiert: »Es verwundert nicht, daß Meunier schon relativ bald auf den Denkmalsgedanken verfiel, es ist eine Konsequenz seiner Auffassung von Arbeiter und Arbeit. […] Folgerichtig war es nur, daß er jene Figuren, die Entbehrung und Leiden vorführen […] für sein Denkmal nicht in Erwägung zog […].«939
Arbeit wurde nach Goetz einmal mehr als Teil der nationalen Ehre deklariert.940 Ähnlich bemerkt es auch Schmoll gen. Eisenwerth, der das Denkmal der Arbeit als »Krönung aller Bemühungen um einen Beitrag der bildenden Kunst zur Lösung der sogenannten Arbeiterfrage und zur Bewußtmachung einer neuen Würdevorstellung vom Menschen im Arbeitsprozeß«941 ansieht. Das Denkmal von Meunier ist für Schmoll gen. Eisenwerth nicht nur aufgrund der Auswahl der Figuren, sondern aufgrund seines Aufbaus, der denen von Fürstendenkmälern ähnelt, an sich schon eine Würdeformel. Meuniers Reliefs fanden bereits vor der Errichtung des Denkmals eine postume Verwendung, und zwar im Denkmal für Ernst Abbe, das ein Gemeinschaftswerk des Architekten Henry van de Velde sowie der Bildhauer Max Klinger, der die Büste Abbes schuf, und Meunier darstellt.942 Oliver Lemuth führt an, Abbe sei von Zeitgenossen als Prophet betitelt worden, und erläutert das Denkmal folgendermaßen: »Die Anbindung der technisch-industriellen Semantik an klassische Werte von Kultur und Bildung erfolgt im Detail über den ›Kunstgriff‹ der Ästhetisierung von Arbeit, wie sie in Meuniers Relief zum Ausdruck kam, sowie über die in Klingers Werks versinnbildlichte Einheit von produktiver Arbeit und wissenschaftlichem Genie.«943
937 | Türk 2009, S. 44-47. Nach Gensel nannte Meunier die Frauenfigur Maternité (vgl. Gensel 1905, S. 57) und bemerkt zur Mutter am Denkmal der Arbeit: »So ist auch hier das Genrebild zum Symbol gesteigert.« (Gensel 1905, S. 57) 938 | Meunier zit. n.: Levine 1996, S. 36. 939 | Goetz 1984, S. 238 f. 940 | Vgl. ebd., S. 240. 941 | Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 253. 942 | Vgl. ebd., S. 259 f.; Grohé 1996, S. 8. 943 | Lemuth 2007, S. 488.
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Abbildung 72: Dalou, Jules, Modell für Denkmal der Arbeit, nach 1896
Quelle: Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 453
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Abbildung 73: Rodin, Auguste, Turm der Arbeit, 1898
Quelle: Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 455
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Meuniers Idee wurde weiter verfolgt. Rainer Maria Rilke hat 1903 in seiner Schrift zu Rodin dessen Plan, ein Denkmal der Arbeit zu erschaffen, ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin heißt es: »Er denkt daran, eine hohe Säule zu schaffen, um die ein breites Relief-Band sich aufwärtswindet. Neben diesen Windungen wird eine gedeckte Treppe hergehen, die nach außen durch Arkaden abgeschlossen ist. In diesem Gange werden die Gestalten an den Wänden, wie in ihrer eigenen Atmosphäre, leben; eine Plastik wird entstehen, die das Geheimnis des Helldunkels kennt, eine Skulptur der Dämmerung, verwandt jenen Bildwerken, die in den Vorhallen alter Kathedralen stehen. So wird das Denkmal der Arbeit sein. Auf diesen langsam aufsteigenden Reliefs wird eine Geschichte der Arbeit sich entwickeln. In einer Krypta wird das lange Band beginnen […]. Am Eingang sollen zwei Gestalten aufragen: Tag und Nacht, und auf dem Gipfel werden zwei geflügelte Genien stehen, die Segnungen, die sich aus hellen Höhen zu diesem Turme niederließen.«944
Rilkes Beschreibung macht den Anspruch an dieses Denkmal deutlich, das von seinen Ausmaßen, aber auch in der Verbindung von Bildhauerei und Architektur den Großprojekten der Nationaldenkmäler gleicht. Es sollte ein Monument mit enormer Präsenz entstehen, das nicht nur für eine frontale Rezeption, sondern für eine Begehung geplant war. Der Turm der Arbeit wird dadurch zur Kathedrale der Arbeit, um auf Rilkes Worte zurückzugreifen. Er sieht die Wahl des Themas in Rodins Person begründet: »Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat: Daß er ein Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz, mit allen seinen Kräften, in das niedrige und harte Dasein seines Werkzeugs einzugehen.«945 Einmal mehr wird hier der Topos vom Bildhauer als Arbeiter bemüht. Wilhelm Hausenstein, der durchaus Ansätze des Marxismus in seine Kunstbetrachtung integrierte, bemerkte 1916 zu den Projekten von Meunier und Rodin: »[…] als Rodin das tektonische Monumentalkunstwerk der Tour du Travail erfand, da versagte sein Geschmack. Auch Meunier versagt gerade in dem Augenblick, in dem er eine Lücke in der Gesellschaft als einzelner zu füllen, ein Gesamtkunstwerk, das Monument du Travail, entsann.«946
Das Projekt von Dalou wurde ebenfalls nie ausgeführt. Horst Janson geht davon aus, dass Dalou die Arbeiter auf der Straße studiert hat, und bemerkt: »The glorification of labor had been a growing concern of artists during the last two decades of the century, but Dalou’s idea, which he conceived as early as 1889, was unique in scope and ambi-
944 | Rilke 1913, S. 71 f. 945 | Ebd., S. 73. 946 | Hausenstein 1916, S. 182.
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tion.«947 Sein Entwurf sah Einzelfiguren von Arbeitern vor, die um eine monumentale Säule gruppiert werden sollten.948 Die eine Figur zeigt einen stehenden Arbeiter, der seinen Kopf tief über eine Schaufel neigt.949 Ebenso gestaltete er die zweite Figur, vermutlich einen Bauern, der entweder Saat oder seine Ernte in einem Tuch trägt. Paul Clemen erläutert in einem Artikel von 1912 zu Dalou die Rolle kleiner Statuetten in seinem Atelier in Bezug auf sein Denkmal der Arbeit: »Es schlummert hier noch eine fast unabsehbare Truppe von Figurinen, der Plan zu einem Riesendenkmal – oder sind es die Ruinen eines solchen? Nicht weniger als hundertfünfzig Figürchen, Skizzen zu Arbeitern aller Art, Lastträgern, Schiffern, Erntearbeitern, Bergarbeitern, Männern und Frauen mit allerlei Werkzeugen – in immer neuen Varianten. Das ist Dalous geheimster Künstlertraum, der bei seinen Lebzeiten nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatte, […]. War er doch selbst eines Arbeiters Sohn und fühlte sich als Arbeiter, […] so wollte er am Ende dieses Jahrhunderts der Arbeit auch dieser Arbeit selbst als dem eigentlich Treibenden und Beherrschenden unserer ganzen Kultur ein gewaltiges Denkmal setzen.«950
Chronologisch schließen sich um 1900 die Entwürfe für ein Denkmal der Arbeit des österreichischen Architekten Josef Hoffmann an. Er plante ebenfalls eine monumentale Anlage als Baugruppe in der Art eines Völkerkongress-Palastes zur Verherrlichung der sozialen Errungenschaften der Menschheit.951 Ein gleichsam indirektes Denkmal der Arbeit entwarf George Minne: »Seine Gruppe Solidarität (1898), zwei magere Knaben in einem schwankenden Boot, die einander zu stützen suchen, wäre das frühste Beispiel für ein allegorisches Denkmal, und zwar für den Sozialistenführer Jean Volders, geworden, wenn die belgische Arbeiterpartei den Entwurf akzeptiert hätte.«952
In der Reihe der nicht ausgeführten Denkmäler steht auch der Entwurf von Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin und seinem Denkmal für die Dritte Internationale. Es handelte
947 | Janson 1985, S. 199. 948 | Abbildungen dieser Werke finden sich in der Kunst für Alle von 1912 im Artikel von Clemen zu Dalou und waren deshalb schon früh rezipierbar (vgl. Clemen 1912, S. 365-377). 949 | Türk sieht hier »[…] ein Mahnmal für den unbekannten Bauarbeiter fast ganz im Stil einer Friedhofsskulptur.« (Türk 2000, S. 95) 950 | Clemen 1912, S. 376. 951 | Vgl. Scharf 1984, S. 216. 952 | Feist 1996, S. 17. Diese Aussage ist ziemlich fraglich, da nahezu alle Denkmäler allegorisch waren. Das Werk wird schon 1904 auch von Meier-Graefe erwähnt, der Minne schätzte (vgl. Meier-Graefe 1904, S. 545 f.).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 74: Lehmbruck, Wilhelm, Modell für das Monument Arbeit, 1907-08
Quelle: Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 458
sich dabei ebenfalls um ein zwischen Architektur und Skulptur angesiedeltes Monumentalprojekt, das sich in Größe und Konstruktion mit Werken wie dem Eiffelturm messen wollte.953 Weit bescheidender sind im Deutschen Kaiserreich die Ideen von Lehmbruck, der selbst aus einer Bergarbeiterregion stammte und durch sein privates Umfeld mit der Thematik vertraut war. Für sein Denkmal der Arbeit (um 1907/08)
953 | Lederers Figurentyp am Fechterbrunnen mag hierfür ein Vorbild gewesen sein.
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wählte er vermutlich einen Brunnen, dessen Reliefs nach Schmoll gen. Eisenwerth weniger realistische Figuren als Sinnbilder der Arbeitskraft zeigen.954 Da in der dem Denkmal untergeordneten skulpturalen Aufgabe Brunnen das Thema Arbeit vermehrt vorkam, könnte sich Lehmbruck für diese etablierte Form entschieden haben. Noch vor Lehmbruck findet sich ein frühes Beispiel: der aus Muschelkalk gemeißelte Jahrhundertbrunnen von Ulfert Janssen. Den Brunnen stiftete die Firma Krupp. Er sollte an die Jahrhundertjahrfeier der Vereinigung von Stadt und Stift Essen mit dem Königreich Preußen im Jahre 1802 erinnern.955 Die Inschrift lautet: »Rüstig zur Arbeit – froh in der Rast.« Hier wird über die Figur des Arbeiters, der allein durch den auf seiner linken Schulter abgelegten Schlägel zu identifizieren ist, Essens Selbstverständnis als arbeitsame und fröhliche Stadt präsentiert.956 Das weitere Personal besteht dementsprechend aus zwei in der Tradition von Putten dargestellten nackten Knaben, die mit einem Fisch und einem Füllhorn spielen. Die in Aachen legendäre Figur des wehrhaften Schmiedes veranlasste den Verschönerungsverein zur Ausschreibung für einen Brunnen, der 1909 eingeweiht wurde,957 sich aber nicht erhalten hat. Carl Burger schuf hierfür eine überlebensgroße Bronzestatue in heldenhafter Pose, über die Bloch sagt: »Der Typus des Arbeiterdenkmals verbindet sich mit der Drohgebärde des Waffenschmiedes zu einer heroischen Formel nationalen Selbstbewußtsein, kurz vor dem Ersten Weltkrieg.«958 In die Denkmalsetzungen für das Thema Arbeit kann man auch den schon erwähnten, in der Zusammenarbeit des Architekten Nestler mit dem Bildhauer Coubillier entstandenen Industriebrunnen einreihen, der an die Industrie- und Gewerbeausstellung von 1902 in Düsseldorf erinnern soll.959 Der Brunnen stellt durch seine Figuren den Bezug zur die Region prägenden Eisenindustrie und zum Bergbau her.960 Bei der Hauptfigur handelt es sich um den Schmiedegott Vulkan, der auf einem Am-
954 | Vgl. Hohl 2002, S. 993. 955 | Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 274. 956 | Vgl. Bloch 1980, S. 328. Im Sinne des Repräsentationsbedürfnisses einer Stadt boten Jubiläen einen willkommenen Anlass, diese auch mit Denkmälern zu feiern. Ein Beispiel hierfür ist der Gerechtigkeitsbrunnen von Bernhard Hoetger für Elberfeld, der von dem einflussreichen Bürger August von der Heydt, Bankier und Kunstmäzen, gestiftet wurde (vgl. Jans, Hoetger 1992, S. 53). Elberfeld – für das auch die Personifikation Elberfeldia in Denkmalform existiert – wird über die Figur der Gerechtigkeit verkörpert, eine stärker abstrakte Form der Selbstrepräsentation als in Essen. 957 | Regionale beziehungsweise städtische Hinweise auf bestimmte Arbeitszweige können auch in weniger prominenten Formen wie Tafeln oder Reliefs vorkommen. 958 | Vgl. Bloch 1980, S. 321. 959 | Ebd. 960 | Vgl. ebd., S. 329.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 75: Janssen, Ulfert, Jahrhundertbrunnen Essen, 1902-07
© Wiki05
boss sitzt, an den eine Schiffsschraube gelehnt ist, und einen Hammer hält. Zu den weiteren Figuren gehören ein Bergmann mit Spitzhacke, an dessen Seite ein Hüttenarbeiter mit Eisenzange steht. Neben der Erinnerungsfunktion an das industriell geprägte Ausstellungsereignis kann der Brunnen auch als ein Ehrenmal für Industrie und Bergbau gelesen werden.961 Eine ähnliche Konstellation zeigt etwa Adolf von Hildebrands Wittelsbacher Brunnen, der sowohl ein Erinnerungsmal an die Fertigstellung der Münchener Wasserleitung als auch ein Ehrenmal für die bayerische Dynastie ist.962 Vergleichbar damit sind auch der ehemalige Eisengießer-Brunnen in Dortmund und Albermanns Schmied-Brunnen in Solingen, der vom Verschönerungsverein der Stadt gestiftet wurde. Solingen repräsentiert sich als Klingenstadt über die symbolische Figur des Waffenschmieds, der in Arbeitskleidung mit Amboss gezeigt wird.963 Ähnlich, aber anders gewendet präsentierte sich die Stadt Mühlheim: Der Mülheimia-Brunnen mit plastischen Werken, ebenfalls von Albermann, wurde vom Verschönerungsverein der aufstrebenden Industriestadt gestiftet und zeigt die Personifikation der Stadt erhöht auf einer Säule. Um sie herum sind drei Knabenfiguren als Personifikationen von Industrie (mit Zahnrad und Drahtspule), Landwirtschaft und
961 | Vergleichbar hiermit ist etwa der Jubiläumsbrunnen mit einer Arbeiterfigur am Sockel von Ernst Wenck. Er hatte ihn für die Firma Spindler angefertigt und er wurde auf dem Firmengelände aufgestellt (vgl. Hoppen 1990, S. 339). 962 | Vgl. Scharf 1984, S. 255. 963 | Vgl. Schmidt 2001, S. 133.
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Handel gruppiert.964 Eine Kombination aus Personendenkmal und Brunnen bildet Janenschs Werk für den Unternehmer Heinrich Schüchtermann in Dortmund. Der architektonische Aufbau gliedert sich in zwei gegenüberliegende erhöhte Brunnenbecken, die durch ein Sockelelement voneinander getrennt sind, aus dem das Wasser in die Becken fließt, das aber auch Platz für die erhöhte, auf einem weiteren Sockel befindliche Bronzebüste Schüchtermanns bietet. Außerdem befinden sich drei mit einer Girlande spielende Kinder auf der Vorderseite und die Sitzfigur eines in seine Arbeit vertieften älteren Mannes auf der Rückseite des Sockels. Weniger augenscheinlich wird das Thema Arbeit in den folgenden Plastiken dargestellt: Einmal mehr in der Gattung Brunnen vergegenwärtigt ein Geldzähler von Ernst Wenck, dass der Aufstellungsort ein ehemaliger Marktplatz war.965 Beliebig scheint hier die Wahl der Figur, sie diente wohl dem Zweck, sich mit den Stil- und Köpererfindungen der Antike auseinanderzusetzen, um diese im monumentalen und demgemäß in Muschelkalk ausgeführten Stil der 1910er Jahre umzusetzen. In vielen Punkten vergleichbar ist hiermit die Figur des Tauziehers von Nikolaus Friedrich in Köln, zu der Bloch bemerkt, es sei »[…] durch den Topos der Aufstellung am Hafenkai ein Arbeiterdenkmal im Sinne Meuniers, in der heroischen Nacktheit des Menschen und der in sich selbst verschränkten Pose freie, von den herkömmlichen Funktionen gelöste Kunst.«966 Ein letztes Beispiel für diese die Form wie den Inhalt betreffende Stilstufe sind Arthur Bocks Brunnenskulpturen auf dem Hamburger Sievekingplatz: Einer Gruppe aus drei Männern, die Technik, Handel (erkennbar an Hermes’ Flügelhelm) und Industrie verkörpern, wird eine Frauengruppe zur Seite gestellt, die Personifikationen der Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen. Dass der mit Potenz verbundene Bereich der Arbeit hier von männlichen Figuren verkörpert wird, denen weibliche Stadtpersonifikationen entgegengesetzt werden, entspricht ganz dieser Stilstufe. Allein auf Friedhöfen967 konnte auch der Opfer der Arbeit gedacht werden: »Es waren zunächst die Opfer von Grubenunglücken, denen mittels Denkmälern gedacht wurde, hauptsächlich in Bochum und Dortmund. Die sogenannten Ehrenmäler dienten vorwiegend der Trauer um die Verstorbenen und heben sich damit deutlich von den übrigen im öffentlichen Raum errichteten Denkmälern ab, zumal sie ausschließlich auf Friedhöfen, zumeist an der Begräbnisstätte der Bergleute errichtet wurden. […] Als identitätsstiftende oder -darstellende
964 | Vgl. ebd., S. 115 f. 965 | Die Figur entstand im Rahmen eines Wettbewerbes von 1907, bei dem weder Form noch Material vorgegeben wurden. Ziel war es, die Bildhauer Berlins zu fördern (vgl. Hoppen 1990, S. 342). 966 | Bloch 1984, S. 28. 967 | Im foucaultschen Sinne erfüllen Friedhöfe die Funktion der Heterotopie (vgl. Foucault 2013, S. 13-16).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich Zeichen wurden die betreffenden Ehrenmäler nur in geringem Maße genutzt. Weder die Arbeiterschaft noch die Sozialdemokratie nutzten die Gedenkzeichen zur Anprangerung von Missständen. Es ist auch keine sozialdemokratische Initiative für ein zentrales Bergarbeiter-Denkmal bekannt.«968
Karin Schwarz führt als Beispiel ein Werk aus Bochum an, das für die 115 Opfer des Grubenunglücks in der Zeche Lothringen von 1912 errichtet wurde: »Besonders starke öffentliche Beachtung dieses Unglücks brachte der Umstand mit sich, dass zum Zeitpunkt des Unglücks Kaiser Wilhelm II. zu Besuch bei der Familie Krupp in Essen weilte und sein Programm für einen Besuch in Gerthe unterbrach. Zweifellos war dies ein symbolischer Akt strategisch eingesetzter Selbstdarstellung wie ihn auch die Unternehmer der betroffenen Bergwerke nutzten, um über das gemeinsame Gedenken Verbundenheit mit der Arbeiterschaft auszudrücken.«969
Ein weiteres, aufwendig gestaltetes Beispiel ist die von Ernst Müller-Braunschweig realisierte Gedenkstätte Zeche Radbod in Bockum-Hövel. Sie zeigt ein Figurenpaar (eine trauernde Witwe mit Kind und ein kniender Knappe) und eine Namenstafel gegenüber. Die Gedenkstätte wird damit auch zum Sinnbild zweier Bereiche: die Arbeit, verkörpert durch den Mann, und das Heim, verkörpert durch die Mutter.
4.4.2 Fallbeispiel: Reinhold Felderhoff, Bismarck-Denkmal, Essen Das Bismarck-Denkmal in Essen, das für den Bismarckplatz im Südviertel der Stadt Essen in den Jahren zwischen 1894 und 1899 erschaffen wurde,970 gliedert sich in einen zweifach gestuften, durch eine bronzene Girlande aus Eichenlaub und Eicheln unterteilten quadratischen Sockel aus Kösseine-Granit, der an allen vier Seiten mit Bronzereliefs verkleidet wurde und auf dem eine überlebensgroße Bronzestatue Bismarcks aufgestellt wurde. Die Reliefs zeigen,971 erstens wie sich ein preußischer und ein bayerischer Soldat, von den Schwingen des Reichsadlers überfangen, nach dem Kampf gegen Frankreich über dem Wappen Bismarcks die Hände zur Einigung reichen, zweitens wie Krupp dem Kanzler Bismarck vermutlich während seines Besu-
968 | Schwarz 2007, S. 67. 969 | Ebd., S. 68. 970 | Vgl. Kellen 1902, S. 158 und Bloch 1984, S. 18. 971 | Vgl. Bloch 1984, S. 18, Bloch 1978, S. 253, Plagemann, Bismarck 1972, S. 242 und Kellen 1902, S. 158 f.
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Abbildung 76: Felderhoff, Reinhold, Bismarck-Denkmal, Essen, 1899
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ches 1864 in Essen972 eine Kanone präsentiert, drittens wie Germania973 schützend die Hände über einen Hüttenmann und einen Bergmann breitet, die die Attribute Zahnrad und Hammer halten, und viertens wie Bismarck, von einer die Reichskrone tragenden Viktoria begleitet, Wilhelm I., über dem ein Adler in die Sonne fliegt und neben dem Friedrich Wilhelms I. Motto »Nec soli cedit« (»Selbst der Sonne weicht er nicht«) steht, zum Kaiser ausruft.974 Jedes Bildfeld ist zu beiden Seiten mit Eichenstämmen eingefasst. Bismarck steht aufrecht und scheint von oben herab in die Ferne zu schauen. Nur wenige Bewegungen brechen die frontal gerichtete Achsialität auf: Der rechte Fuß ist nach vorne gesetzt, sodass er über die Plinthe ragt. Der einen Degen haltende linke Arm ist nach vorne gestreckt und der Kopf ist nur leicht nach links gewendet. Bismarck trägt Uniform, Mantel und Pickelhaube. Hans-Walter Hedinger dazu: »Die Uniform – etwa als Topos des Staatlichen – zeigt den Kanzler in seiner amtlichen Tätigkeit, die zur Reichsgründung führte. Sie erinnert an die im Krieg gewonnen Einheit, mahnt zur bewaffneten Wachsamkeit, um das Erreichte zu erhalten.«975 In seiner anderen Hand hält er körpernah eine Schriftrolle, die wie Schwert oder Degen auf die Reichsverfassung verweist.976 Zu seinen Füßen ist auf dem Sockelabschluss in voller Fläche sein Name in Deutscher Schrift977 eingemeißelt.
972 | Bismarck wurde 1879 der erste Ehrenbürger der Stadt Essen (vgl. Laumann 1975, S. 12). 973 | Nach Bloch, Kellen und Plagemann ist die Figur ein Genius (vgl. Bloch 1984, S. 18, Kellen 1902, S. 159 und Plagemann, Bismarck 1972, S. 242). Mit Blick auf die Krone und die fehlenden Flügel sowie das Beispiel des Bismarck-Denkmals am Starnberger See ist es eher eine Germania. Plagemann verweist auf das Relief des Berliner Bismarck-Denkmals von Begas – heute nicht mehr vorhanden –, wo die Verkörperung des Reiches mit Krone den Personifikationen von Arbeit und Kunst die Hand reicht (vgl. Plagemann, Bismarck 1972, S. 247). Dementsprechend ist die Benennung der Figur als Germania auch unter diesem Aspekt wahrscheinlich. Dass es sich bei der Figur um einen Genius des Friedens handelt, wurde von Autoren wie Plagemann und weiteren von Max Ehrhardt-Apolda (1903) übernommen (vgl. Fußnote in ebd., S. 252). 974 | Die Komposition lehnt sich grundsätzlich an Anton von Werners zweite Fassung der Kaiserproklamation für die Ruhmeshalle an: links der Kaiser auf einigen Stufen erhöht, rechts schaut Bismarck zu ihm auf. 975 | Hedinger 1981, S. 287. 976 | Vgl. Laumann 1975, S. 15. 977 | Bismarck hatte die Deutsche Schrift bevorzugt, dementsprechend verwendete man diese bei den Denkmalinschriften (vgl. Hedinger 1981, S. 293). Viele Inschriften bezeichneten Bismarck als Mann von Blut und Eisen (vgl. Plagemann, Bismarck 1972, S. 241).
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Abbildung 77: Felderhoff, Reinhold, Bismarck-Denkmal (Relief), Essen, 1899
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Abbildung 78: Felderhoff, Reinhold, Bismarck-Denkmal (Relief), Essen, 1899
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Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Abbildung 79: Felderhoff, Reinhold, Bismarck-Denkmal (Relief), Essen, 1899
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Abbildung 80: Felderhoff, Reinhold, Bismarck-Denkmal (Relief), Essen, 1899
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Zum Selbstbild der Städte gehörte, wie der Jahrhundertbrunnen und die Essener Krupp-Denkmäler gezeigt haben, auch die Identifikation mit den ›großen Söhnen‹ der Stadt,978 aber auch mit den sie prägenden Wirtschaftszweigen. Der Bismarckplatz liegt zwischen Bismarckstraße und Kruppstraße und wurde zwischen 1895 und 1898 zum Bauplatz der Königlichen Eisenbahn Direktion, die sich hier ein repräsentatives Verwaltungsgebäude errichten ließ.979 Durch seine topografische Verortung sollte das Denkmal die Bedeutung des Gebäudes der Eisenbahndirektion hervorheben. Finanziert wurde es aber sehr wahrscheinlich auch von Alfred Krupp. Im Jahr 1890 wurde die Essener Bevölkerung erstmals mittles eines gedruckten Aufrufs zur Sammlung für ein Bismarck-Denkmal aufgefordert, nachdem zuvor schon mehrere Spenden eingegangen waren. Vier Jahre später wurde unter dem Vorsitz des Buchhändlers Johannes Baedeker ein Denkmalkomitee installiert.980 Das Komitee forderte, Bismarck wie in den siegreichen Jahren um 1870 in voller Manneskraft darzustellen, und lehnte deshalb erste Entwürfe ab, die einen greisen Bismarck zeigten. Im späteren Auswahlverfahren saßen als Berater auch Bildhauer wie Emil Hundrieser und Karl Janssen im Komitee. Dieses traf nach Laumanns Vermutung wohl auch die Entscheidung für das Programm der Reliefs, bei dem Allegorien anstelle heraldischer Darstellungen bevorzugt wurden. Die ursprünglich geplante Darstellung des jungen Bismarcks mit Krupp vor einem Amboss und einem mit Putten geschmückten Kanonenrohr wurde verworfen. Der bisher weitgehend unbekannte Bildhauer Reinhold Felderhoff erhielt als Schüler Begas’ und Vertreter der Idealplastik den Zuschlag zur Ausführung. Er hatte von 1881 bis 1884 an der Berliner Akademie studiert, wo er 1883/84 bei Schaper lernte, um danach das Meisteratelier von Begas zu besuchen. Nach einem zwischenzeitlichen Italienaufenthalt – er erhielt 1885 den Staatspreis mit Romstipendium981 – machte er sich selbstständig.982 Nach der Jahrhundertwende wandte er sich vom Neobarock seines Lehrers Begas ab.983 Zu seiner Stilentwicklung heißt es:
978 | Im Sitzungssaal des Essener Rathauses befanden sich »[…] lebensgrosse Oelbilder der Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III., ebenso Brustbilder von Bismarck und dem verstorbenen Oberbürgermeister Hache. Das daselbst sich befindliche Oelbild des Geh. Kommerzienrats Alfred Krupp ist von seinem Sohne, Sr. Excellenz dem Wirklichen Geheimen Rat Friedrich Alfred Krupp, der Stadt Essen geschenkt worden.« (Kellen 1902, S. 154) 979 | Ebd., S. 154-157 980 | Vgl. das Folgende nach Laumann 1975, S. 12-15. 981 | Vgl. Hüfler 1990, S. 447. 982 | Vgl. Bloch 1978, S. 318. 983 | Vgl. Einholz, Felderhoff 1990, S. 97. Generell sieht Bloch einen geringen Einfluss Begas’ auf seine Schüler (vgl. Bloch 1984, S. 18).
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Felderhoff – durch das Studium bei Reinhold Begas – im neubarocken Formenkanon ausgebildet, vertrat diesen Stil zunächst in Werken wie Eitelkeit, Diana und in den Portraitbüsten. In späteren Arbeiten gelangte er – wohl über Tuaillon vermittelt, der zum römischen Kreis um Marées und Hildebrand gehörte – zur Reduktion von Inhalt und Form, zum Neoklassizismus. Seine Brahms-Sitzstatuette, das Mädchen mit dem toten Jüngling […], sind Zeugen der Moderne im Oeuvre Felderhoffs.«984
Bloch ordnet Felderhoff dem Neoklassizismus zu, auch wenn dieser den impressionistischen Stil für sich entdeckt habe.985 Das Essener Werk aber sei eines »[…] der typischen neubarocken Bismarck-Denkmäler.«986 Die Frage beziehungsweise das Problem der stilistischen Einordnung der Bildhauer des Kaiserreiches wird anhand dieser wenigen Zuschreibungen deutlich: Neobarock (Begas), Impressionismus (Rodin), Neoklassizismus (Hildebrand). Die Zuordnung zum Stil der Moderne konnte vieles heißen: Expressionismus wie man ihn Lehmbruck, Barlach oder Hoetger zuschreibt, monumentale Verquickungen von Jugendstil und Neoklassizismus zu einer Art Monumentalstil bei Metzner oder Lederer – und bis zu Rudolf Bellings abstraktem Werk Dreiklang ist es auch nicht einmal mehr ein Jahrzehnt. Hüfler hat mit ihrem Verweis auf die Moderne bei Felderhoff sein Werk Mädchen mit dem toten Jüngling von 1910 vor Augen, das aber wohl eher als eine Weiterentwicklung des hildebrandschen Neoklassizismus zu lesen ist, wie er bei Georg Kolbe und dann auch bei den ›Künstlern des Nationalsozialismus‹ wie Josef Thorak und Arno Breker vorkommt. Insgesamt waren neobarocke Figurenerfindungen verbreitet. Sie prägten deutschlandweit (und teilweise darüber hinaus) von 1880 bis in die 1910er Jahre die figürlichen Bismarck-Denkmäler.987 Felderhoffs Werk weist in der Figurengestaltung durchaus Ähnlichkeiten mit Begas’ Bismarck-Denkmal auf. Stilistisch und typologisch ist es auch mit den Beispielen aus Darmstadt, Mannheim, Dortmund und Hohensyburg (Bismarck als Assistenzfigur am Kaiser-Wilhelm I.- Denkmal) vergleichbar. Das Berliner Denkmal erscheint durch die stärkere Kopfwendung, die Draperie, den ange-
984 | Hüfler, Felderhoff 1984, S. 110. Felderhoff lernte Louis Tuaillon während seines einjährigen Italienaufenthaltes kennen (vgl. ebd., S. 109). 985 | Vgl. Bloch 1978, S. 473 und S. 174. 986 | Bloch 1984, S. 16. 987 | Alings spricht mit Verweis auf den Aufsatz Der Bismarck-Kult (Hans-Walter Hedinger) von Plänen für mindestens 700 Denkmäler, von denen mehr als 500 verwirklicht wurden (vgl. Alings 1996, S. 130) und auch im Ausland aufgestellt wurden (vgl. Ehrhardt 1903). Die Verbreitung der Bismarck-Denkmäler begann mit der Reichsgründung und nahm mit seiner Entlassung 1890 rapide zu (vgl. Alings 1996, S. 131). Frühste Formen der Bismarck-Verehrung entstanden nach dem Deutschen Krieg 1866. So wurden etwa Schiffe oder Orte – auch in den Vereinigten Staaten – nach ihm benannt (vgl. Hedinger 1981, S. 279).
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winkelten Degen und die Gewandfalten bewegter. Die Denkmäler in Bielefeld und Pforzheim unterscheiden sich durch das Fehlen des zweiten Attributes in der rechten Hand, in Dillenburg, Goslar und Lübeck kommt eine andere Haltung der rechten Hand hinzu. Auch die Denkmäler in Düsseldorf, Wuppertal-Elberfeld (zerstört) und Wuppertal-Barmen sowie in Frankfurt-Hoechst gehören dem gleichen Figurentypus an. Unterschiede finden sich in den Handhaltungen und der Kleidung in Kiel und Heilbronn. Die größten Unterschiede kann man wohl aber in der Gesamtanlage des Denkmals finden. Es gibt Exemplare mit einem einfachen, weitgehend ungeschmückten Steinsockel wie in Köln, Goslar und Lübeck und solche mit einem geschmückten Steinsockel wie in Essen, Heilbronn und Elberfeld. Die Beispiele aus Barmen, Düsseldorf und Berlin sind noch aufwendiger gestaltet. Hier erhielten die Denkmäler nicht nur eine komplexe Sockelarchitektur, die in Berlin szenische Reliefs einschloss, sondern auch Assistenzfiguren.988 In Berlin sind es Germania, Sybille, Atlas sowie Siegfried, der das Reichsschwert schmiedet,989 in Barmen eine sitzende Clio990 und in Düsseldorf die Personifikation der Industrie sowie ein antiker Krieger mit Helm als Sitzfiguren. Der Vollständigkeit halber sei hier noch auf weitere Denkmaltypen jenseits der uniformierten Standfigur auf Sockel verwiesen: Bismarck wurde auch als ein Mann des Volkes gezeigt, das heißt mit Hund, als Spaziergänger, als Biertrinker, aber auch als Lotse, Schmied, Baumeister, Steuermann und Ingenieur.991 Es gibt Gedenksteine, Tafeln, Obelisken, Warten992, Türme und (Feuer-)Säulen993 sowie Reiterstand-
988 | Nach Plagemann gehörte es zu den üblichen Darstellungsformen, den Bismarck-Denkmälern historische Figuren und Szenen – darunter auch Huldigungsszenen – beizufügen (vgl. Plagemann, Bismarck 1972, S. 241). Auch in diesem komplexen Zusammenspiel, das sich aus dem kompositorischen und materiellen Gefüge von Figur, Personifikation oder Allegorie, Symbol und Architektur sowie einer ikonografisch und ikonologischen Bezüglichkeit konstituiert, kann man als ›das Barocke‹ dieser Denkmäler ansprechen. 989 | »Die Interpretationen des Berliner Bismarck-Denkmals blieben in der Regel Teil der machtstaatlichen Nationaldeutungen, nehmen sich aber weniger monarchozentrisch aus. Hier wurde nun immerhin auch die Binnenperspektive auf die Nation eröffnet und das Phänomen sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft angesprochen.« (Rausch 2006, S. 685) Bismarck wird nicht nur mit der Person des Schmiedes, sondern konkret mit Siegfried verbunden (vgl. Parr 1992, S. 74). Auch bei Langbehn wird die Figur Siegfrieds als politischer Heilsbringer beschworen (vgl. Langbehn 1922, S. 355). 990 | Vgl. zu den Wuppertaler Bismarck-Denkmälern Engelskirchen 1998. 991 | Vgl. Plagemann 1972, S. 246. 992 | Vgl. Alings 1996, S. 130. 993 | Vgl. Nipperdey 1968, 166 f.
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Abbildung 81: Hildebrand, Adolf, Bismarck-Denkmal, Bremen, 1910
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Abbildung 82: Lederer, Hugo, Bismarck-Denkmal, Hamburg, 1905
Quelle: Lange 1995, Abb. 152
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bilder994 wie in Bremen995 oder Nürnberg. Die Wappenpflanze Bismarcks regte zu kleeblattförmigen Denkmälern an.996 Zwei Denkmäler stechen durch ihre aufwendige Gestaltung hervor: das von Lederer in Hamburg und das von Adolf Brütt auf dem Knivsberg in Dänemark. Letzteres, ein Bismarck-Turm mit Standfigur, das im August 1945 von der dänischen Widerstandsbewegung gesprengt wurde, beschreibt Kai Krauskopf folgendermaßen: »Für das Bauwerk wurden unbearbeitete oder nur einfach gespaltene Granitfindlinge verwendet, die ihm eine rustikale Anmutung gaben. Dieses insgesamt besonders martialische Bild, das von der Bismarckfigur im Waffenrock beherrscht wurde, unterstütz[t]e man hier noch mit wabernden Flammen.«997
Auch wenn die architektonische Gestaltung durchaus dem Monumentalstil zugerechnet werden kann, ist der Figurentypus Bismarcks hier immer noch mit den bereits vorgestellten Beispielen von Standbildern vergleichbar, wenn auch etwas massiger und statuarischer. Anders sieht es beim Hamburger Beispiel aus. Hier findet eine stilistische Veränderung statt, die sich in ihrer Formensprache von der Standfigur unterscheidet, weil die Figur hier als Architektur gedacht wird. Es handelt sich um ein Denkmal, das nun komplett aus Stein und nicht wie zuvor aus einer Kombination von Bronzestandbild und steinernem Sockel beziehungsweise Architekturrahmung gestaltet ist. Der Hamburger Bismarck besteht aber nicht nur aus Stein, sondern er ist bis auf den Kopf gemauert.998 Bismarck wird hier selbst zu einer Säule oder einem Turm der Gesellschaft.999 Als Körperstatue blieb er dennoch weiterhin eine wichtige Denkmalform. Dies erklärt sich etwa mit Blick auf Julius Langbehn:
994 | Nach Reinartz und Krockow eine eher untypische Form (vgl. Reinartz und Krockow 1991, S. 22), da sie eher mit Denkmälern von Kaiser-Wilhelm I. in Verbindung gebracht werden (vgl. Krauskopf 2002, S. 106 f.). 995 | Diese Variante von Hildebrand steht immer noch in der Tradition der Reiterstandbilder der Renaissance, vor allem Donatellos Werk in Padua. 996 | Vgl. Hedinger 1981, S. 292. 997 | Krauskopf 2002, S. 110 f. 998 | Die Relieffiguren rund um den oberen Teil der Architektur sind zwar durch drei übereinander gestapelte Blöcke zusammengesetzt, doch wirken sie aufgrund ihrer plastischeren Ausarbeitung der Oberfläche und ihrer weniger starken Fugen weit weniger gemauert. Dennoch verschmelzen auch sie mit der Architektur. Ihre massigen Körper befreien sich wie bei Michelangelo gleichsam aus dem Stein. 999 | So sieht es auch Nipperdey, der als historische Referenz auf die Rolandssäulen verweist (vgl. Nipperdey 1968, S. 167 f.).
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»Arbeitende Bilder« »Den Fortschrittlern wie den sogenannten Junkern ist etwas mehr von gesunder deutscher Gesinnung zu wünschen, als sie oft zeigen. Bismarck besaß eine solche; er ist, wie er selbst öfters betont hat, von linkselbischer Abstammung, diese scheidet ihn, ethnographisch und politisch, von Junkern wie von Fortschrittlern.«1000
Und an anderer Stelle heißt es: »Auch der Körper will sein Recht; dieser wichtige Faktor deutscher Bildung darf nicht vergessen werden. Wie sehr von gesundem ›Blut‹ die gesunde Sittlichkeit abhängt, weiß jeder […]. Andererseits ist es das Gute am preußischen wie an allen Militärstaaten, daß der Körper in ihnen auch etwas gilt, während er im heutigen deutschen Gelehrtenstande häufig an seinen Rechten verkürzt wird. Bismarck und Mommsen z. B. sind nicht nur geistige, sondern auch körperliche Antipoden. Es ist charakteristisch, daß der letztere einmal vorgeschlagen hat: Denkmäler für geistig bedeutende Männer ›nur in Büstenform‹ zu errichten; der Körper soll eskamotiert werden, er wird nicht mehr zur Persönlichkeit gerechnet; freilich mitunter aus persönlichen Gründen.«1001
Bismarck galt als ideale Verkörperung nationaler Eigenschaften, die der deutschen Mannesnatur vermeintlich von Grund auf innewohnten: reckenhafte Gestalt, hart wie Granit oder Eichenholz, von Blut und Eisen.1002 Dies wird auch bei Langbehn zum entscheidenden Topos.1003 Nach 1900 wurden architektonische Bismarck-Denkmäler von Architekten (etwa von Theodor Fischer, der durch Hildebrand dazu angeregt wurde, und insbesondere von Wilhelm Kreis) als ernsthafte und in seiner Festlichkeit beglückende Werke begrüßt.1004 Die Wendung zu diesen Denkmälern ist Teil eines theoretischen Diskurses1005 um Begriffe wie Masse, Monumentalität1006 und Einheitlichkeit – etwa bei Muther, der in Bezug auf die Denkmäler einheitlich architektonische Massen präferierte.1007 Das Ideal der »Einheitlichkeit« wurde nach Krauskopf aber auch als primäre Aufgabe der Gesellschaft verstanden: »Der Begriff der ›Einheitlichkeit‹ bündelt also
1000 | Langbehn 1922, S. 187. 1001 | Ebd., S. 309 f. 1002 | Plagemann 1972, S. 246. 1003 | Vgl. Langbehn 1922, S. 340 f. 1004 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 19. 1005 | Vgl. ebd., S. 176. 1006 | Vgl. ebd., S. 119 f. Der italienische Kunsthistoriker Guerrisi sieht dies 1930 als »falso monumentalita« (Guerrisi 1930, S. 184). 1007 | Vgl. Krauskopf 2002, S. 21.
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nicht nur formale Kriterien, sondern auch Aspekte der Ideologie.«1008 Für den Figuren- beziehungsweise Denkmaltypus zuvor konstatiert Krauskopf, dass »[…] die figürlichen Kaiserdenkmäler mit ihren hin und wieder beigefügten allegorischen Gestalten auf lebhafte und direkte Weise zu den Sinnen der Betrachter sprechen [sollten]. […] Bildsäulen dieser Art sollten dem ganzen Volk in ihrer Aussage verständlich sein. Mit naturalistisch gefertigten Personendarstellungen versuchten die Denkmalserbauer eine Geschichte zu erzählen.«1009
Folgt man Krauskopf, dann besteht die vornehmliche Aufgabe des Essener Denkmals von Felderhoff darin, eine Geschichte zu erzählen, denn typologisch, formal, materiell und ikonografisch ist es konventionell. Die Geschichte, die erzählt wird, ist die Geschichte von Bismarck, der Einigung und Gründung des Kaiserreiches sowie von Krupp und der Stadt Essen als Industriestadt. Die tragende Rolle Bismarcks für die Einigung Deutschlands wurde dauerhaft betont. So auch von Wilhelm von Pechmann, Direktor der Bayerischen Handelsbank in München. Er sprach in seiner Einweihungsrede des Bismarck-Denkmals am Starnberger See (Fischer), abgedruckt in der Allgemeinen Zeitung, von den figürlichen Darstellungen: Der »deutsche[n] Adler« erhebe sich über dem »blutgetränkten Schlachtfeld von Sedan«. Die »leidgeprüfte[n] Mutter Germania« schließt »ihre edlen, aber ach so schwer verträglichen Söhne« nach den Einigungskriegen in die Arme.1010 Er bezeichnete Bismarck als denjenigen, der die Kette geschmiedet habe, die die auseinanderstrebenden deutschen Stämme umschlingen soll. Daher verwundert es auch nicht, wenn ihm mehr Denkmäler gesetzt wurden als dem Kaiser.1011 Max Ehrhardt-Apolda, der die bis 1903 entstandenen Denkmäler auflistet, erklärt, warum es zu diesen Denkmalsetzungen kam: »Die Menschheit hat doch einmal Symbole nötig für ihre Ziele [...]. Wann wirst du uns einen zweiten Bismarck schenken? Und erst, wenn wir den haben, – ja dann wird die deutsche Welt aufhören, ihrem Bismarck Denkmäler zu setzen.«1012 Rolf Parr legt in seiner Studie zu Bismarck differenziert dar, welche Rollen dem Kanzler zugeschrieben wurden und inwiefern Bismarck als mythische Figur »zum Zwecke sozialer Integration«1013 gelesen werden kann:
1008 | Ebd., S. 22. 1009 | Ebd., S. 17. 1010 | Pechmann zit. n.: Krauskopf 2002, S. 59. 1011 | Vgl. Scharf 1984, S. 229. »Gleichwertig und gleichzeitig neben dieser Gruppe der Kaiser-Wilhelm-Denkmäler entstand in ebenfalls mehr als hundertfacher Ausführung – Ehrhardt-Apolda zählte allein bis 1903 mehr als 120 Beispiele – die Gruppe der Bismarck-Denkmäler.« (Ebd.) 1012 | Ehrhardt-Apolda zit. n.: Alings 1996, S. 130. 1013 | Parr 1992, S. 47 f.
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»Arbeitende Bilder« »Drei […] Anschauungsformen [...] des mythischen Trickster-Helden Bismarck [...] lassen sich unterscheiden: Erstens die ›Deich/Flut‹-Symbolik, in der Bismarck als ›Deichhauptmann einen sich nicht bewegenden ›Technik/Körper‹ darstellt, der gerade durch seine Statik die Verhältnisse der Restaurationszeit ›in Bewegung bringt‹. [...] Zweitens die ›Boden‹-Symbolik, die zwar den Aufstieg [...] zuläßt, aber immer zugleich die Verbindung mit der Erde beibehält, so daß ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ in einem zweifachen chiastischen Positionstausch reproduziert werden: [...]. Drittens das Trickster-Konzept vom ›Baumeister‹, ›Schmied‹ und ›Künstler‹ Bismarck, das es erlaubt, vorgängige ›Ideen‹ in realistisches ›Handeln‹ zu überführen, so daß ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ im Kunstwerk beziehungsweise in der Person des realistischen Künstlers zusammenkommen.«1014
Für den Kontext des Denkmals in Essen sind folgende Beobachtungen interessant: »Bismarck erscheint nun zum einen als derjenige, der mittels des technischen Spezialdiskurses [...] und durch sein militärisches Handeln in die realistische Diskursposition eingesetzt wird und diese damit symbolisch für die deutsche Nation zurückgewinnt.«1015
Dies führt Parr weiter aus: »Wichtiger Bildbereich innerhalb des Technik-Paradigmas ist dabei der des ›Schmiedens‹. Denn der Rekurs auf frühindustrielle Praktiken ermöglicht die Integration des gesamten Komplexes der ›Schmiede‹-, ›Schmelz‹-, ›Eisen‹- und thermodynamischen Symboliken mit dem Paradigma des ›deutschen Gemüts‹, und zwar vor allem dann, wenn die Schmiede- und Eisensymbole nicht nur als repräsentative Elemente technischer Praxis eingebracht werden, sondern – via Applikation aus dem Nibelungenlied – zugleich als repräsentative Elemente des deutsch-romantisch-idealistischen Paradigmas und damit des literarischen Interdiskurses erscheinen können. […] Nibelungen, Germanen, ›Tiefe‹ der deutschen ›Erde‹, aus der das ›Erz‹ gehoben wird, und zugleich Krupp, Stinnes und Haniel können aus dieser Perspektive die Kurzformel für den Bismarck-Mythos lauten.«1016
1014 | Ebd., S. 192 f. Parr weist darauf hin, dass Bismarck in zeitgenössischen Positionen als Künstler betrachtet wurde, etwa beim Publizisten Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß in seinem Werk Bismarck als Künstler des Wortes, das in der von ihm herausgegeben Zeitschrift Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist erschienen war, oder beim Psychiater und Essayisten Georg Lomer in dessen Werk Bismarck als Nervenmensch (vgl. ebd., S. 129 ff.). Bismarck ist auch der Baumeister, Architekt und Bildhauer (vgl. ebd., S. 133). Parr bezieht sich in seiner Arbeit auf die Trickster-Definition von Claude Lévi-Strauss, die ein gleichzeitiges Ausüben einer regressiven und progressiven Funktion durch einen mythischen Helden vorsieht (vgl. ebd., S. 76). 1015 | Ebd., S. 140 f. 1016 | Ebd., S. 193 f.
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Scharf bestätigt diese Sichtweise: »Waren die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler die politisch-dynastischen Symbole des kleindeutschpreußischen Nationalstaates, die meist offiziell vom Reichstag bzw. von den Provinziallandtagen errichtet wurden, so hatten die Bismarck-Denkmäler […] die Aufgabe, die symbolische nationalstaatliche Klammer zwischen den miteinander konkurrierenden und opponierenden (Industrie- und Handelsbürgertum, Großgrundbesitzer) sowie den ausgebeuteten (Proletariat, Kleinbürgertum) Klassen und Gesellschaftsschichten als auch für die geographisch-enthnographischen Gruppen innerhalb des Deutschen Reiches (z.B. Bayern – Nordschleswig) zu bilden. Die Widerspiegelung der wirtschaftspolitischen Entwicklung innerhalb des Deutschen Reiches findet sich in der Tatsache, daß die bedeutendsten Bismarck-Denkmäler von Persönlichkeiten oder Verbänden in Auftrag gegeben wurden, die direkt oder indirekt Interessen des Handels, Industrie und in der Schiffahrt verfolgten.«1017
Die Denkmäler wiederum trugen dazu bei, das vielfältige Bismarck-Bild zu verfestigen, auszubauen und zu verbreiten – auch durch die von Volker Plagemann angeführten Bismarck-Gedenkgegenstände, -Souvenirs oder den Bismarck-Nippes.1018 Handwerker, Arbeiter, Bauern und Frauen, so Plagemann, spielten im gesamten Entstehungskontext von Bismarck-Denkmälern keine Rolle.1019 Eine von Scharf angeführte Persönlichkeit der Industrie war beispielsweise Krupp, der mit seiner Stahlproduktion nicht nur Motor der deutschen Industrialisierung, sondern auch wichtiger Rüstungslieferant war.1020 Die kruppschen Kanonen leisteten für Preußens Siege einen wichtigen Beitrag (1864 im Deutsch-Dänischen Krieg, 1866 im Deutschen Krieg und 1870/71 im Deutsch-Französischen Krieg), was ihm den Na-
1017 | Scharf 1984, S. 236. Reinartz und Krockow weisen darauf hin, dass der Hauptanteil der Finanzierung für das Denkmal bei Bingerbrück, das nicht verwirklicht wurde, aus der rheinisch-westfälischen Industrie kam (vgl. Reinartz und Krockow 1991, S. 21). 1018 | Vgl. Plagemann, Bismarck 1972, S. 243. 1019 | Vgl. ebd., S. 221. Dennoch erhielt Bismarck zum 80. Geburtstag Geschenke wie stählerne Wappentafeln aus der Bismarckhütte oder einen Amboss der Bergischen Schmiede (vgl. ebd., S. 238). Dies wurde wohl aber kaum von den Arbeitern angeregt. 1020 | Des Weiteren betätigte sich Krupp auch als Kunstförderer, so etwa für die Kunstausstellung im Essener Kunstmuseum zum Thema Arbeit (vgl. Köhne-Lindenlaub 1982, S. 68). Köhne-Lindenlaub widmet sich zwar ausführlich der Kunstförderung durch Krupp, erwähnt aber an keiner Stelle Aufträge für Denkmäler, sondern nur für Porträts in Malereien (vgl. ebd., S. 77). Zur umfangreichen Kunstförderung durch Krupp gehörte beispielsweise die Bezahlung eines Orchesters, das seit 1900 zweimal wöchentlich in einer der kruppschen Arbeitersiedlungen spielte (vgl. ebd., S. 67). Zu Repräsentationszwecken nutzte Krupp die Malerei, aber auch die Fotografie und Bronzestatuetten (vgl. ebd., S. 58 f.).
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men »Kanonenkönig« einbrachte.1021 Krupp wurde damit Teil des Gründungsmythos des Kaiserreiches und Essen zum industriellen Zentrum.1022 Die Industrie beziehungsweise Industrielle wie Krupp hatten im Staate großen Einfluss.1023 Karl Scheffler dokumentiert, wie positiv die Rolle der Industriellen von Zeitgenossen bewertet wurde: »Der Unternehmer, der diesem Willen folgt, der, für sich selbst bedürfnislos, eine gewaltige Macht in seiner Hand zu vereinigen strebt, mit Herrschergelüsten eine Herrschertätigkeit entfaltet und sein ganzes Volk in gewisser Weise revolutioniert und aufrüttelt, hat immer auch Tugenden des großen Kaufmanns. In ihm ist gestaltende Leidenschaft, er ist Künstler, sozialer Bildner, er dichtet mittels des Kapitals und ist ein Kulturführer so gut wie der Entdecker oder wie der siegreiche Feldherr.«1024
Aus kunsthistorischer Perspektive steht das Denkmal in der Tradition von im Kaiserreich entwickelten Gestaltungskonventionen.1025 Die hierfür bestimmenden Faktoren sind wie immer vielfältig. Zum einen ist es die Aufgabe selber: Das Denkmal soll in einer würdigenden Form an Personen und Ereignisse erinnern. Tony Kellen formuliert dies 1902 angesichts des Essener Denkmals für Kaiser Wilhelm I. folgendermaßen: »Die Mitwelt, der die ehrwürdige Gestalt des alten Kaisers noch in frischer Erinnerung lebt, verlangt mit Recht ein getreues Abbild seiner persönlichen Erscheinung, während man andererseits von dem ehernen Denkmal, das einer fernen Nachwelt das Bild des siegreichen Helden
1021 | Vgl. Kellen 1902, 34, 181. 1022 | »Im Jahre 1864 begannen die Nachwirkungen der Krise zu schwinden. Der dänische Krieg kam der deutschen Kohlenindustrie durch Hemmung der englischen Einfuhr sehr zu statten. Von der schwindelhaften Erregung, die das Geschäftsleben zu Anfang der 70er Jahre ergriff, blieb auch Essen nicht unberührt. Allein während des Jahrzehnts von 1863-1873 erwarb sich Alfred Krupp seine Weltstellung und trug damit wesentlich zum Aufschwung Essens bei.« (Kellen 1902, S. 34) 1023 | Vgl. Scharf 1984, S. 217. Indikator hierfür sind beispielsweise auch die vielen Besuche von Erzherzog Johann von Österreich bis Wilhelm II. bei Krupp (vgl. Kellen 1902, S. 37 f.). Scheffler zu Personen wie Krupp: »Wer könnte verkennen, wieviel Gutes mit solcher Pionierarbeit schon eingeleitet worden ist und wer möchte nicht die Hoffnung pflegen, daß die Arbeit solcher sittlich überzeugten Kaufleute nichts ist als das Symptom einer Massengesundung! […] Braucht man doch auch Namen wie Krupp oder Schichau nur zu nennen, um den Ruhm deutschen Unternehmergenies zu künden; […].« (Scheffler 1909, S. 83 f.) 1024 | Scheffler 1909, S. 80 f. 1025 | Die großen stilistischen und typologischen Übereinstimmungen bei der Gestaltung der Denkmäler förderte über den Wiedererkennungswert auch ein größeres Identifikationspotenzial.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich und des Begründers der nationalen Einheit überliefern soll, eine monumentale Gestaltung verlangen muss, die der gewaltigen historischen Bedeutung entspricht.«1026
Zum anderen unterliegt das Denkmal einer künstlerischen Entscheidung und so darf man auch für Felderhoff davon ausgehen, dass er eine solche nicht nur getroffen hat, um seinen aktuellen und potenziellen Auftraggebern gerecht zu werden. Bloch führt an, das Denkmal hebe sich durch die Sockelreliefs von den üblichen Varianten ab, weil damit ein Bezug zur Stadt Essen beziehungsweise zur Beziehung zwischen dem Eisernen Kanzler Bismarck und Krupp hergestellt werde.1027 Darüber hinaus schafft es Felderhoff so, dem hinsichtlich seines narrativen Potenzials als defizitär verstandenen Medium Skulptur verstärkt Erzählaspekte abzugewinnen. Einerseits gelingt dies durch die Form des Reliefs, die wie Malerei in der Gattung Skulptur funktioniert. Der Künstler wählte – vermutlich gattungsbedingt –eine formal reduzierte, zugleich aber inhaltlich komplexe Darstellungsweise. Jedes Bildfeld enthält zwei bis drei Hauptfiguren im Hochrelief sowie Symbole (Wappen, Adler) oder erzählerisches Beiwerk (Geschütze, Treppenarchitektur) im Flachrelief. Die Komposition ist in allen Feldern an einer vertikalen Mittelachse orientiert, sodass sich eine Aufteilung in zwei Bildbereiche ergibt, die an den Außenseiten durch die ins Bild ragenden Eichenstämme- und zweige gerahmt werden. Dadurch wird die Konzentration auf das einzelne Bildgeschehen verstärkt. Zugleich schaffen sie eine Verbindung aller Felder. Andererseits setzt sich das Figurenpersonal aus historischen Personen (Bismarck, Krupp, Kaiser Wilhelm I.), allgemeinen lebensweltlichen Figuren (Soldaten, Arbeiter) und Personifikationen zusammen. Je nach Deutung ergeben sich in diesem Zusammenspiel ganze Allegorien. So sieht Bloch in der Darstellung der Arbeiter neben einem Genius eine Allegorie des Arbeitsfriedens.1028 Kellen beschreibt die Szene als einen Genius des Friedens, der schützend und zugleich segnend die Hände ausbreitet. Er soll den segensbringenden Einfluss des Friedens auf Berg- und Hüttenindustrie symbolisieren. In der Darstellung mit Bismarck und dem Kaiser sieht er eine Apotheose auf die Errichtung des Kaiserreiches.1029 In jedem Fall gilt, dass die eingesetzten Personifikationen hier als kunsthistorische Würdeformeln agieren, die durch weitere Motive (Wappen, Eichenlaub, Sonne mit Adler) ergänzt werden und so die Personen Bismarck und Wilhelm I. stärker in einer Genealogie preußischer Herrscher historisiert werden. In der Gesamtkomposition des Denkmals ergeben sich ebenfalls verschiedene Verweisebenen: Die Vorderansicht, die zugleich Hauptschauseite ist, zeigt das Relief
1026 | Kellen 1902, S. 83. 1027 | Vgl. Bloch 1978, S. 319. Laumann teilt diese Einschätzung (vgl. Laumann 1975, S. 16). 1028 | Vgl. Bloch 1978, S. 463. 1029 | Vgl. Kellen 1902, S. 158 f.
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mit den Soldaten und dem Wappen Bismarcks, die Inschrift mit seinem Namen darüber und die Statue Bismarcks in einer auf Frontalität ausgerichteten Haltung. Zu Bismarcks rechter Seite – hier hält er die Schriftrolle – ist das Kaiser-Relief, zu seiner linken – hier hält er den Degen – das Krupp-Relief. Das Links und Rechts im Bild ist auch symbolisch. ›Hinter‹ Bismarck befindet sich das Arbeiter-Relief, das somit gegenüber der Eisenbahndirektion angebracht wurde. Letztlich werden auch über die verschiedenen Materialien Bezüge aufgezeigt:1030 Die Statue selbst wurde in Bronze und der Sockel in Granit gestaltet. Dieser Materialwechsel weist verschiedene Ebenen aus: Plastik als Narration (auch die Eichenlaubgirlande gehört dazu) und Sockelarchitektur als statische Form, Bronze als seit der Antike an mit Würde aufgeladener Werkstoff und Verweis auf die Eisenindustrie Krupps und Granit als der feste Stein deutschen Bodens, wie ihn schon Zeitgenossen würdigten: »›Wo eine deutsche Landschaft unsrem Bismarck ein Denkmal errichten will, da erbaue sie es aus den Steinen der engsten Heimat, damit überall aus solchen Bestreben herausklinge das stolze Bekenntnis, daß Bismarck jeder deutschen Landschaft, jeder deutschen Stadt gleichmäßig gehört.‹«1031
Erzählt dieses Denkmal darüber hinaus von dem von Reinartz und Krockow konstatierten Verrat zwischen den Zeilen?1032 Zwei unterschiedliche Positionen der Forschung seien hier angeführt: Plagemann sieht die Funktion der Bismarck-Denkmäler in der Verschleierung bestimmter Interessen und als ein Mittel der Propaganda. Zu Felderhoffs Denkmal bemerkt er: »Das Programm des Essener Denkmals deutet immerhin – sicherlich unbeabsichtigt – wirtschaftliche Hintergründe der Bismarck’schen Politik und die bestehenden Klassenunterschiede an: […] Krupp, der Kapitalist und Rüstungsindustrielle, wird einer persönlichen Darstellung gewürdigt; er steht Bismarck – der 1887 den Reichstag aufgelöst hatte, weil dieser ihm die Verlängerung des Rüstungsbudgets abgelehnt hatte – gleichberechtigt gegenüber […]. Die Proletarier dagegen sind anonym als ›ein Bergmann‹ und ›ein Hüttenmann‹ dargestellt […].«1033
Hiergegen wendet sich Laumann:
1030 | Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Krupp Teil eines geflügelten Wortes wurde: Hitler propagierte in seiner Parteitagsrede 1935 den deutschen Jungen, der zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein hatte. 1031 | Plagemann, Bismarck 1972, S. 238. 1032 | Vgl. Reinartz und Krockow 1991, S. 8 f. 1033 | Plagemann, Bismarck 1972, S. 247.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Die Anspielung auf den industriellen Aufschwung der Stadt Essen durch die Kruppwerke aufgrund der Bismarckschen Rüstungspolitik liegt heute nahe. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß der Sinn dieser Darstellung zu seiner Zeit eine Berechtigung hatte. (Es ist nicht richtig, aus unserer heutigen Kenntnis der politischen und wirtschaftlich-sozialen Zusammenhänge der Wilhelminischen Zeit den Erbauern von Denkmälern stets nur Verschleierungstechnik und Kritiklosigkeit diesen Zuständen gegenüber vorzuwerfen.)«1034
Entscheidend hierfür ist die Betrachtung des Verhältnisses von Statue und Sockel und dessen Gestaltung. Silke Wenk bemerkt grundsätzlich zum Sockel: »Der Sockel hat sowohl die Funktion, den Raum zu gliedern, eine dauerhafte (gebaute) Markierung des bedeutsamen Platzes für eine bedeutsame Person zu garantieren, als auch diese Person über das gegebene Ambiente und die Menschen emporzuheben. Material und Bau des Sockels bedeuten auf ihre Weise.«1035
Und weil dies so sei, gilt auch: »[…] die Sockelfigur sagt, ihr bzw. dem, was sie vertritt, habe man sich zu unterstellen.«1036 Die Platzierung der Arbeiter am Sockel entspricht bildhaft der ambivalenten Sichtweise auf sie. Zum einen kommt dem Arbeiter und dem Unternehmer eine staatstragende Rolle zu. Beide sind es Wert, Teil eines öffentlichen Denkmals, der Kunstform im Dienste der Nation1037 schlechthin, zu werden. Zum anderen sind sie aber ›nur‹ auf dem Sockel dargestellt, dem Unterbau der Statue Bismarcks. Sie bilden also die historische Basis für eine mythisch verklärte Figur. Ihr Beitrag zur Erfolgsgeschichte Deutschlands reicht nur für das weniger prominente Format des Sockelreliefs. Insgesamt entspricht der ›lebenswirkliche‹ Charakter der Arbeiter im Kunstwerk aufgrund der Art, wie sie das zu groß geratene Zahnrad und den Hammer halten, eher der Darstellung von Personifikationen mit Attributen oder noch drastischer formuliert: der von Putten. Die Repräsentation der Arbeiter wurde mit der abstrakten Form der Personifikation verknüpft beziehungsweise durch diese ersetzt. Sie werden zum Ornament, Teil einer allegorischen Wirklichkeit. Es ist eine Form der Abstraktion, die von jeher ein Mittel der Distanzierung ist. Durch Symbol und Allegorie gelingt die Verharmlosung, ein Akt künstlerischer Aneignung sozialer Wirklichkeit.
1034 | Laumann 1975, S. 15. 1035 | Wenk 1996, S. 83. 1036 | Ebd., S. 73. 1037 | Tacke stellt heraus, dass Denkmäler von den Zeitgenossen in Frankreich mit linker und in Deutschland mit rechter Ideologie verbunden wurden (vgl. Tacke 1995, S. 18).
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Denkmal und (Unter-)Repräsentation – eine zusammenfassende Betrachtung Angesichts der erheblichen Mengen, etwa von Kaiser-Wilhelm-Denkmälern, ist von einer Unterrepräsentation bestimmter Gesellschaftsgruppen1038 zu sprechen. Sie tritt nicht nur durch die Anzahl der Denkmäler, sondern auch durch ihre Darstellungsmodi vor Augen. Die Forschung vertritt diese Meinung durchgängig: »[…] politische Denkmäler werden im Wesentlichen von etablierten Kräften, vom Staat oder von ›staatstragenden‹ Gruppen gebaut. Die Opposition baut, solange sie nichts als Opposition ist, keine Denkmäler.«1039 Ähnlich äußert sich auch Reuße: »Daß das Denkmal sich an eine breite Öffentlichkeit richtet, muß allerdings nicht bedeuten, daß es auch einen breiten gesellschaftlichen Konsens in Bezug auf das zu Kommemorierende gäbe. Im Gegenteil, oft soll damit ein Anspruch der Denkmalsetzer erst konsensfähig gemacht werden.«1040
Anders formuliert es Mittig: »Statt durch Kritik scheinen manche Denkmäler die gesellschaftliche Wirklichkeit dadurch in Frage zu stellen, daß sie Schilderungen gesellschaftlichen Glücks wie Gegenbilder entwickeln.«1041 Ihm zufolge sind Denkmäler politische Kunstwerke. Sie sind nicht Werke des ganzen Volkes, sondern nur bestimmter Schichten oder Interessengruppen, entstanden oftmals aus Krisen und als Ausdruck von Herrschaftszuständen.1042 In dieselbe Richtung zielt auch Dietrich Erben: »Denkmäler sind paradoxe Erscheinungen. Fast immer liegen den Anlässen, denen sie ihre Entstehung verdanken, soziale Konflikte zugrunde. Hingegen nötigen sie den Betrachter gemäß der Absicht der Stifter stets zu einer positiven Identifikation mit der Vergangenheit. Denkmäler übernehmen eine prekäre Erinnerungsfunktion, denn sie machen nicht Aussagen über die Inhalte der Geschichte, sondern über deren Aneignung.«1043
Damit ist die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Wirklichkeit und hier konkret zwischen ›Abbild‹ von sozialer Wirklichkeit und Denkmal angesprochen. Dietrich Schubert etwa schreibt, ohne empirische Angaben dazu zu machen:
1038 | Denkmäler für Erfinder und Techniker gab es erst spät, für Volksführer kaum oder gar nicht vor dem Ersten Weltkrieg (vgl. Nipperdey 1972, S. 19). 1039 | Nipperdey 1968, S. 133 f. 1040 | Reuße 1995, S. 17. 1041 | Mittig 1972, S. 291. 1042 | Vgl. ebd., S. 289. 1043 | Erben 2011, S. 235.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich »Dabei ist dem öffentlichen Denkmal nicht selten die Verfälschung der Geschichte, von sozialen Zuständen oder wenigstens die Abstraktion von diesen eigen. Meist spiegeln die Denkmäler autoritäre Strukturen und Ideen […]. Ihre Zahl nimmt zu, wenn die Gesellschaftsformen zum Totalitären neigen […].«1044
Rausch hingegen formuliert es vorsichtiger und differenzierter: »Realhistorische Heterogenitäten der jeweiligen Gesellschaften werden ungeachtet mancher Symbolkonkurrenzen oder -konflikte immer nur unvollständig widergespiegelt, weil Unterprivilegierte oder Oppositionelle grundsätzlich geringere öffentliche Deutungsmacht erhielten. Andererseits haben die jeweiligen Herrschaftseliten auf keinem der untersuchten Terrains uneingeschränkt absolute Symbolhegemonien oder Deutungsmonopole behaupten können.«1045
Reinartz und Krockow erkennen in Denkmälern unbewusste respektive unbeabsichtigte Verweisfunktionen: »Dennoch lohnt es sich, die traditionellen Bilder aufmerksam zu betrachten. Denn Denkmäler üben Verrat. […] Doch umso mehr verraten Monumente ihre Erbauer. Sie reden vom Stolz, von Verwegenheit oder Verblendung, von den Ängsten und Aggressionen, vom Selbstbewusstsein oder von Minderwertigkeitsgefühlen ihres Zeitalters. Als Selbstdarstellung einer Epoche ermöglichen sie deren Analyse.«1046
Doch nicht nur das, was Denkmäler zeigen, sondern auch die kulturelle Praxis in Vereinen, Komitees, Feiern, Reden etc., die rund um die Denkmäler stattfindet, entlarvt sie als ›Abbild von Herrschaft‹. Indirekte Repräsentationsformen waren theoretisch für alle Schichten gegeben, beispielsweise durch das Mitwirken an Denkmalprojekten, scheiterten aber an den real-sozialen Bedingungen: »Die Spendenaktion dokumentierte ihrem Anspruch nach nicht nur die Beteiligung einzelner Individuen an der Errichtung des Nationaldenkmals und damit ihre Anbindung an die Nation, sondern sie bot darüber hinaus ein ausdrucksstarkes Mittel sozialer Distinktion. Da die Spendenlisten öffentlich zirkulierten und publiziert wurden, bestimmten die einzelnen Spender ihren Beitrag nicht nach ihrem individuellen Interesse an der Errichtung des Denkmals oder ih-
1044 | Schubert 1985, S. 83. 1045 | Rausch 2006, S. 672. Als Beispiel eingeschränkter Deutungsmonopole führt sie an: »Gleichwohl haben sich zumindest linke Kommentatoren die Beschwichtigungsrhetorik mythenkritisch verbeten und nach den Existenzformen der Nation unter den Bedingungen beschleunigter Modernisierung und Industrialisierung gefragt.« (Rausch 2006, S. 684) 1046 | Reinartz und Krockow 1991, S. 8 f.
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Nicht nur in den Formen der Mitwirkung durch Vereine und Spendenaktionen, sondern auch bei den Festakten1048 für die Denkmäler ist Analoges zu beobachten: »In allen Fällen spiegelten die Festordnungen die realen Sozialordnungen der jeweiligen Gesellschaften kaum wider. […] Zu den üblichen Erscheinungsformen ritueller Praxis zählten der abgesperrte Festplatz und der kanalisierte Zugang für privilegierte Ehrengäste. Die Beteiligungshierarchien drängten Kleinbürger, vor allem aber unterbürgerliche Schichten und Frauen regelmäßig an den Rand des Geschehens.«1049
Allen Gesellschaftsschichten wurde die ihnen passende Rolle zugedacht: »Der Adel sollte repräsentieren. Das Bildungsbürgertum sollte spenden. Das Bildungsbürgertum sollte Künstlerwettbewerbe entwerfen, Festschriften konzipieren, Ansprachen halten, Gedichte verfassen. Das Kleinbürgertum, das Bauerntum und die Arbeiterschaft durften, wenn sie nicht im Gesangsverein vertreten waren, vor allem zuschauen und applaudieren.«1050
Plagemann, wie bereits angeführt, betont für die Bismarck-Denkmäler, dass Handwerker, Arbeiter, Bauern und Frauen im gesamten Entstehungskontext keine Rolle spielten.1051 »Beeinflußt werden sollten offensichtlich in erster Linie die Männer, die das Wahlrecht und die Wehrpflicht hatten und als das wichtigste Arbeitspotential galten«1052, so seine Schlussfolgerung. Unterrepräsentiert waren damit im Denkmal der Kaiserzeit nicht nur bestimmte Gesellschaftsschichten wie Arbeiter, sondern auch Frauen. Wenk dazu: »Denkmäler für Frauen sind […] kaum zu finden. […] Aber ein zweiter Blick auf die Denkmäler stößt eben ständig auf die Bilder von Weiblichkeit mit allegorischer Funktion. […] Weibliche Ge-
1047 | Tacke 1995, S. 165. 1048 | »Besonders die Militarisierung der Festkultur überbrückte innere gesellschaftliche Widersprüche, da Militär und Kriegervereinswesen eine egalitäre Symbolik der nationalen Verteidigung und Kameradschaft mit hierarchischer (Unter-)Ordnung verbanden.« (Tacke 1995, S. 295) 1049 | Rausch 2006, S. 674. 1050 | Plagemann, Bismarck 1972, S. 244. 1051 | Vgl. ebd., S. 221. 1052 | Ebd., S. 244.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich stalten repräsentieren Bereiche, in denen Frauen nicht vorkommen sollten, wovon wiederum die Denkmäler für namentlich gekennzeichnete Personen zeugen.«1053
Vergleichbar sind auch die Muster der Verhandlung von Weiblichkeit beziehungsweise Arbeit über die speziellen Bildformen der Allegorie beziehungsweise Personifikation: »Im Unterschied zum Bild von Männern scheint ein auf Frauen verweisendes Bild besser tauglich zur Repräsentation eines Allgemeinen, genauer: einer imaginären nicht-antagonistischen Gemeinschaftlichkeit, da Frauen außerhalb der die Beziehungen zwischen Männern strukturierenden Konkurrenz stehen (sollten).«1054
Frauen und Arbeiter als Außenseiter bestimmender Herrschaftsstrukturen können damit als Bilder instrumentalisiert werden. Frauen oder weiblichen Figuren wird im Denkmal derselbe Ort wie den Arbeitern zugewiesen: vornehmlich unten. Es ist für die Aufgabe Denkmal in seiner historischen Konstellation im Kaiserreich leicht zu erklären, weshalb es nicht zur Realisierung eines Denkmals der Arbeit oder für den Arbeiter, geschweige denn für die Arbeiterin kam: Zum größten Teil lag es an der gesellschaftlichen Ordnung und an der sozialen und finanziellen Ohnmacht dieser Gruppe als Auftraggeberschaft, aber auch an einer Konzentration auf den Klassenkampf, der zu diesem Zeitpunkt den Bereich Kunst nicht einschloss. Der Eindruck, es gebe eine Fülle an unterschiedlichen Denkmälern1055 für alles und jeden, wie es auch von den Zeitgenossen formuliert wurde, täuscht also. Für alle Bevölkerungsgruppen omnipräsent war das Denkmal dennoch aufgrund seiner Aufstellung im öffentlichen Raum und den damit verbundenen Diskursformen textlicher (etwa Zeitungsnachrichten) oder performativer Natur (die Einweihungs-
1053 | Wenk 1996, S. 80 f. Zu den Ausnahmen gehören die Denkmäler für Königin Luise von Preußen, Sophie Charlotte oder Kaiserin Viktoria (vgl. ebd., S. 80). 1054 | Ebd., S. 100. 1055 | Stilistisch bestätigt sich dieses Bild ebenfalls: Die meisten Denkmäler wurden bis zum sogenannten monumentalen Stil – der anfänglich noch Bezüge zum Jugendstil und Neoklassizismus aufwies – und auch noch danach in einer Art neobarockem Naturalismus geschaffen. Das gilt etwa auch für die Denkmäler des Hauptvertreters des Neoklassizismus Hildebrand für Prinzregent Luitpold in München oder für Bismarck in Bremen. Besonders im Kontrast zu der Reitenden Amazone von Tuaillon im neoklassizistischen Stil wird dies augenfällig. Der Stil des gemäßigten Neobarocks und des Monumentalen kann – wie sich aus zeitgenössischen Aussagen etwa von Kellen oder Hildebrand rekonstruieren lässt – als eine für die Aufgabe Denkmal angemessene Wahl verstanden werden (vgl. Kellen 1902, S. 83, Hildebrand 1985, S. 220 und Krauskopf 2002, S. 106 f.).
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feste oder Sammlungen). »Das breite Publikum vermutet ein Denkmal, sobald es die Gestalt des Kaisers wiedererkannte.«1056 Die Ikonografie der Arbeit wurde Teil einer bürgerlichen und staatlichen Repräsentationsikonografie, der in Denkmälern Form verliehen wurde, – klassisch, als Brunnen oder als Grab. Arbeit wurde zum Attribut von Bürger und Staat. Wie zuvor die Tugenden charakterisieren nun Personifikationen der Arbeit als Begleitfiguren die zu memorierende Person in ihrer sozialen Rolle, die nun aber wesentlich über ihr Verhältnis zur Arbeit definiert wird. Die Fülle der Figuren, die am Postament der Denkmäler platziert wurde, bezeichnet Hildebrand als eine moderne Erfindung, »[…] welche nicht aus einer künstlerischen Anschauung, sondern aus einem gedanklichen Bedürfnis entstanden ist. Hier ist die künstlerische Beziehung der Figuren zum Postament eine ganz äußerliche, weil, so zu sagen, kein anderer Platz vorhanden ist. Ihre decorative Anordnung am Postament wirkt ihrer eigenen Bedeutung zuwider […].«1057
Hildebrand konstatierte hier einen künstlerischen Mangel der Denkmäler. Dem mag man zustimmen oder nicht, letztlich ist er nicht von großer Relevanz. Er weist aber in jedem Fall auf zweierlei hin: Die inhaltliche Seite, das heißt die zu vermittelnden Ideen oder Ansichten, bestimmte zum einen oft so sehr die Gestaltung der Denkmäler, dass künstlerische Aspekte wie eine stimmige Komposition von Haupt- und Nebenfiguren zweitrangig wurden. Das Denkmal wurde zu einem Medium oder ›arbeitenden Bild‹. Zum anderen wurden alle Figuren am Postament, historische ebenso wie allegorische, zur Dekoration degradiert. Im großen Gefüge der Denkmäler bekommen die Postamentfiguren den Platz, der ihnen in Bezug auf die Hauptfigur zusteht, »weil, so zu sagen, kein anderer Platz vorhanden ist«, um es mit Hildebrand auszusprechen.1058 Es ist der Platz der Soldaten, der Mütter, der Arbeiter usf. und damit Ausdruck einer herrschaftlichen Topologie. Immerhin sind sie mit dem Betrachter auf Augenhöhe und werden womöglich eher registriert als die Hauptpersonen. Das verleiht ihnen unfreiwillig ein Identifikationspotenzial. Als Hauptakteure in Denkmälern kommen Arbeiter aber nicht vor. Prominent – als Einzelstatuen großen Ausmaßes – als Personifikationen findet man Arbeiter an Brunnen wie in Essen oder Düsseldorf. Hier fehlt nicht viel, um diese Werke als Denkmäler der Arbeit – aber gewiss nicht für die Arbeiter – zu lesen. Doch handelt es sich um Brunnen und damit im Sinne der Gattungshierarchie um ein Aufgabenfeld, das seit Langem mit dem Dekorativen verknüpft ist, auch wenn es ambitionierte
1056 | Krauskopf 2002, S. 112. 1057 | Hildebrand 1985, S. 226 f. 1058 | Ebd.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich
Gegenbeispiele gibt,1059 weshalb die Ansprüche des Denkmals verwässert werden wie Bloch es bildhaft formuliert hat.1060 Zudem ist ihre Benennung als Jahrhundertbrunnen oder Industriebrunnen symptomatisch,1061 denn nicht erst seit Marcel Duchamp oder René Magritte weiß man, dass die Vergabe eines Titels selbst ein kreativer Akt ist. Die Bezeichnung des Bezeichneten wirkt ebenso wie das Bezeichnete selbst. Zugunsten der Unmittelbarkeit des Blicks wussten Betrachter aber auch schon immer Titel zu ignorieren, und dieser ermöglichte eine selektive Identifikation wider Willen, eine Aneignung ›arbeitender Bilder‹ auf unterschiedlichen Seiten.
1059 | Der Brunnen als Ort sozialer und politischer Selbstvergewisserung erreichte mit der Fontana Maggiore in Perugia (1275-1278) bereits einen Höhepunkt. Bei vielen Brunnen in Versailles ist die politische Botschaft mal versteckter, mal evidenter. 1060 | Vgl. Bloch 1984, S. 28. 1061 | Ich spreche hier bewusst von Benennung, da nicht klar ist, ob es sich um einen Titel handelt. Es ist also nicht eindeutig, ob diese Bezeichnung bewusst vom Künstler vergeben wurde. Titel gehören zum künstlerischen Konzept eines Werkes, Bezeichnungen können zeitgenössische oder nachgelagerte Benennungen sein, die aber dennoch viel über das Werk verraten (vgl. hierzu grundlegend Kim 2015).
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5 Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ zu decodieren, erfordert, wie in den vorherigen Kapiteln geschehen, eine Darlegung der bestimmenden Diskursformationen künstlerischer und nicht-künstlerischer Art sowie die werkanalytische Betrachtung der Skulptur dieser Zeit. Um sich der Frage nach dem »Warum«, das heißt die Frage nach den Gründen für die konkreten Darstellungsweisen innerhalb der Skulptur, anzunähern, werden im Folgenden unter Zuhilfenahme einschlägiger Methoden und Forschungserkenntnisse zentrale Aspekte erneut aufgegriffen. Thomas Großböltings Forschungen zu den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen eröffnen abseits des Themas zunächst wichtige Erkenntnisse zum zeitgenössischen Begriff von Arbeit im Deutschen Kaiserreich und komplettieren und festigen damit gleichermaßen den zuvor vorgestellten Begriff von Arbeit und ihre Darstellungsformen. Den für die Skulptur nicht nur in dieser Zeit prägenden Konstrukten von Körper, Geschlecht und Rasse widmeten sich Norbert Elias und Michel Foucault vor allem unter dem Aspekt der Disziplinierung und Modellierung: der Zugriff auf den Körper zur Ausübung von Macht. Für das Verständnis von Körper als Kapital greift der erweiterte Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu. Diese Ansätze legen Strukturen frei, die das Körperbild künstlerischer Produktion maßgeblich geprägt haben. Damit wird Kunst als Teil gesellschaftlicher Bedingungen verstanden. Der Funktion von Kunst – und schon in dieser Formulierung offenbart sich ein wichtiger Kernpunkt dieser Diskussion – beziehungsweise die Rolle von Kunst im Reich der Notwendigkeit – um es mit Karl Marx zu sagen – wird mal mehr (Charles Baudelaire, Theodor Adorno), mal weniger (Pierre-Joseph Proudhon, Franz Mehring) Bedeutung zugemessen. Dennoch hat das Ideal von Kunst als Reich der Freiheit weiter Bestand: Kunst produziert eine eigene Wirklichkeit, die soziale Wirklichkeit reflektiert und so zum Akteur wird, das Gattungswesen Skulptur wird zum ›arbeitenden Bild‹.
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5.1 I m R eich
der
A rbeit1 »Komm mit, wir wollen die Arbeit zusammen ansehen!«2
In einer umfangreichen Untersuchung widmet sich Großbölting den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen in der Zeit von 1790 bis 1914 im Hinblick auf die in ihnen repräsentierte gesellschaftliche Ordnung. Seine zentrale These formuliert er so: »Die Expositionen waren […] Deutungsangebote und Erfahrungsorte für den technischen und industriellen Fortschritt, die Ausbildung der Konsumgesellschaft, die Verlockungen und Angebote einer entstehenden Freizeitindustrie. […] Sie boten Interpretation der Beziehungen zwischen Produkt und Konsum, indem sie die zunächst anonyme industrielle Ware über vielfältige Rahmungen sowohl in ein Ordnungssystem eingliederten als auch in den Sinnhorizont von Konsumenten einführten. Sie wiesen einzelnen Sozial- und Statusgruppen ihren Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie der Gesellschaft zu. Sie ließen die Ausstellungsbesucher in Ritualen und Zeremonien an der Praxis der industriellen Gesellschaft teilhaben.«3
Das konnte funktionieren, da diese Ausstellungen – darin den Denkmälern vergleichbar – ein hohes Maß öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich zogen.4 Großbölting hat anhand dieser Ausstellungen verschiedene Aspekte erarbeitet, die nicht nur für dieses Format von Bedeutung waren, sondern einem verbreiteten Begriff von Arbeit im Deutschen Kaiserreich entsprachen. Ziel der Ausstellungen war nicht mehr nur die Anregung von Gewerbefleiß oder der Austausch zwischen Fabrikant und Käufer, sondern auch das Wecken von Konsumbedürfnissen, das Erschließen neuer Märkte und die Popularisierung wissenschaftlicher oder technischer Innovationen.5 Arbeit wurde als Grundlage einer prosperierenden Nation betrachtet, als Grundlage von Wohlstand. Ordnung und Konsum galten daher als Bedingungen dieses Wohlstandes.6 Mit dem Begriff von Arbeit verbanden sich auch immaterielle Werte, weshalb wirtschaftlicher Realismus und bürgerlicher Idealismus eine Ethik der Arbeit prägten:
1 | Im Reich der Arbeit lautet eine Ausgabe der Ausstellungsbriefe von Friedrich Naumann von 1913. 2 | Naumann zit. n.: Großbölting 2008, S. 9. 3 | Großbölting 2008, S. 11. 4 | Ebd., S. 11. 5 | Ebd., S. 14. 6 | Ebd., S. 423.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ »In den Repräsentationen der Ausstellungen wurde auch darüber hinaus der Tugend- und Normenkatalog des Bürgertums facettenreich visualisiert: auf der einen Seite der starke Akzent auf die selbst verantwortete Lebensführung des Einzelnen, auf der anderen Seite die Nutzung moralischer Imperative zur Integration nach innen und zur Abgrenzung nach außen. Mit der Zurschaustellung betrieblicher, später auch staatlicher Sozialfürsorge setzte das Unternehmertum auf die Befriedung der Arbeiter, denen ihr Anteil an den wirtschaftlichen Erfolgen vor Augen geführt werden sollte. Zugleich ließ sich über die Wohltätigkeit die wachsende Schicht der Besitzbürger in das kulturelle Geflecht der Bürgerlichkeit einordnen.«7
Die Präsentation des Erfolges der Arbeiterschaft am wirtschaftlichen Aufschwung wurde jedoch extrem marginalisiert: »Die Arbeit und die Arbeitsleistung (un)gelernter Arbeiter kam in ihnen nur vermittelt und im Kontext eines sozialpaternalistischen und zugleich gesellschaftsharmonisierenden Arbeitsbildes vor. [...] Die industrielle Arbeit, die mit dieser Maschine verrichtet wurde, schien sich selbsttätig zu erledigen. [...] Die Exposition als Ganze war als Gemeinschaftswerk organischer und ›freier Arbeit‹ inszeniert und subjektiv erfahrbar. […] Die Darstellung von ›Arbeit‹ auf den Ausstellungen war eingebunden in ein doppeltes Verweissystem: Stellte man Menschen bei der Arbeit dar, dann stattete man diese mit handwerklich-zünftischen Attributen aus. Neben diesen traditionell anmutenden Arrangements standen Exponate der modernsten Maschinentechnik, die deutlich auf neue Produktionsregimes verwiesen.«8
Die Ausstellungen sollten ein Massenpublikum ansprechen. Dementsprechend gab es zum einen Tage mit freiem Eintritt, aber zum anderen die sogenannten Elitentage, an denen über die Eintrittspreise Distinktion betrieben werden konnte.9 Auch ArbeiterInnen und ihre Familien besuchten die Ausstellungen, aber Arbeit wurde ihnen in abstrakter Form durch Maschinen und Produkte vorgeführt und nicht als ein Prozess, an dem sie beteiligt waren: »Der Gesellschaft inhärente Spannungen und Ungleichheiten wurden auf diese Weise ausgeblendet. Stattdessen wurden in aufwändigen Inszenierungen Möglichkeiten zu individueller Bildung gezeigt, welche sich laut Botschaft der Ausstellungen mit einem sozialen Aufstieg und entsprechender Absicherung verband. Diesem Ausstellungspart wurden Visualisierungen
7 | Ebd., S. 409. 8 | Ebd., S. 316 ff. und S. 429. Das Format Ausstellung wurde bereits nach didaktischen Leitlinien – orientiert am Erkenntnisinteresse, aber auch am Geschlecht – konzipiert (vgl. ebd., S. 301). 9 | Vgl. ebd.
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»Arbeitende Bilder« staatlicher, betrieblicher und privater Wohlfahrtseinrichtungen und Sozialfürsorgesysteme an die Seite gestellt.«10
Arbeitern wurde so vorgeführt, dass sich aus der Industrialisierung eine Welt des technischen Fortschritts entwickeln werde, die alle Möglichkeiten eines guten und luxuriösen Lebens biete, wenn sich die Arbeiter zu einer Integration in eine bürgerliche Gesellschaft entschließen würden und diese durch Arbeitskraft, Fleiß und Bildung zu erreichen suchten: »Der Arbeiter war Nutznießer der neuen Welt des Luxus und der Absicherung von Grundrisiken, ohne aber eine darüber hinaus weisende Rolle zu erhalten.«11 Industrielle und Fabrikanten wurden auf den Ausstellungen als diejenigen präsentiert, die die Wirtschaft zum Wohle aller ordneten und lenkten.12 Kulturelle Rituale wie die Eröffnungsfeierlichkeiten trugen hierzu maßgeblich bei.13 Allen wurden die Vorzüge einer kapitalistischen Gesellschaft vor Augen geführt, die finanziellen und sozialen Aufstieg gleichermaßen bedeutete. Das Format dieser Ausstellungen schuf und prägte dieses Bewusstsein vor allem über ästhetische Strategien gleichermaßen. Die Ausstellungsprodukte wurden beispielsweise durch Dekorationen aufgeladen: »Dabei dominierten zwei Tendenzen: zum einen die Rückbindung an mythische und traditionell als kulturell hochwertig erachtete Gehalte, zum anderen verstärkt seit der Reichsgründung die ›Aufladung‹ mit nationalen Implikationen.«14 Die präsentierte Kunst auf den Ausstellungen sollte die Industrieprodukte veredeln, mit symbolischem Kapital ausstatten.15 »Stark geprägt durch das Bildungsbürgertum, war die Kunst zur ›Trägerin menschlicher Ideale‹ und des Nationalgedankens avanciert und ihre Pflege zu einer Staatsaufgabe geworden. Symbolisch stand die Kunst für ›Wahrheit und Sinn‹.«16 Der Repräsentationsdruck etwa der Industriellen gegenüber der bildungsbürgerlichen Kulturpraxis führte sogar so weit, dass Stahlerzeugnisse in Form von Musikinstrumenten oder dorischen Säulen präsentiert wurden.17 In den Vordergrund sollte die Versöhnung von Tradition und Moderne durch ästhetische Formen treten.18 Die Ausstellungen produzierten Denkbilder und fungierten als deutende Instanz.19
10 | Ebd., S. 409. 11 | Ebd., S. 431. 12 | Vgl. ebd., S. 424. 13 | Vgl. ebd., S. 304. 14 | Ebd., S. 302. 15 | Vgl. ebd., S. 412. 16 | Ebd., S. 380 f. 17 | Vgl. ebd., S. 410 f. 18 | Vgl. ebd., S. 411. 19 | Vgl. ebd., S. 418.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
Friedrich Naumann informiert in seinen Ausstellungsbriefen seine Leser über nationale und internationale Industrie- und Gewerbeausstellungen.20 Die Bedeutung der Ausstellungen stufte Naumann sehr hoch ein, denn hier entschied sich für ihn die deutsche Zukunft.21 »Niemand begreift die Gegenwart, der für ihre Arbeitsweise keinen Sinn hat«22, so Naumann. Sinn und Zweck des Besuches dieser Ausstellungen erläutert er folgendermaßen: »Sagen Sie, Verehrtester, was will eigentlich unsereiner in einem Museum, wenn er kein Geld hat, in Bildern zu spekulieren? […] was ihm aber bleibt, ist eine Gewöhnung an die Methode der Anschauung, in der sich die Künstler berufsmäßig üben. Der Besuch einer Bildergalerie ist Schwimmstunde für das Auge. Und der Besuch von Düsseldorf? Schwimmstunde für volkswirtschaftliches Denken!«23
Für Marx galt die Weltausstellung von 1851 in London als »[…] schlagender Beweis von der konzentrierten Gewalt, womit die große moderne Industrie überall die nationalen Schranken niederschlägt und die lokalen Besonderheiten in der Produktion, den gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Charakter jedes einzelnen Volkes mehr und mehr verwischt.«24
Walter Benjamin charakterisierte ganz im Sinne von Marx die Großausstellungen als Wallfahrtsstätten für den Fetisch Ware.25 Das von Großbölting aufgearbeitete Fallbeispiel der deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen führt einmal mehr vor Augen, wie stark Arbeit beziehungsweise der Begriff von Arbeit den gesellschaft-
20 | Vgl. ebd., S. 9. 21 | Vgl. ebd. 22 | Ebd. Gessner zu Naumann: »Ein profilierter Kritiker des Kaiserreichs wie Friedrich Naumann vermißte in dieser Entwicklung, die von einem Zusammentreffen von wirtschaftlicher Machtentfaltung und staatlichem Repräsentationsbedürfnis gekennzeichnet war, und die er als ›Parade der kapitalistischen Produktion‹ und als ›Jahrmarkt der Leistungsfähigkeit‹ kritisch zu charakterisieren suchten, die Darstellung der sozialen Arbeitswelt als einer dieser Repräsentation zugrunde liegenden kulturellen Gegenwelt.« (Gessner 1982, S. 145) 23 | Naumann 1909, S. 116 f. 24 | Großbölting 2008, S. 13. Nur kurz sei in diesem Zusammenhang auf die Kolonialausstellungen verwiesen, bei denen sogenannte Eingeborene der deutschen Kolonien dieselbe Schaulust – wenn dieser Begriff nicht eigentlich zu neutral ist – befriedigten. Die Darstellung der Kolonien erfolgte auch über Kolonialdenkmäler, etwa das Wissmann-Denkmal in Hamburg oder Straßennamen. 25 | Vgl. ebd., S. 12.
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»Arbeitende Bilder«
lichen Diskurs prägte. Die mediale Aufbereitung von Arbeit durch Kunst, durch Ausstellungen, Besprechungen etc. repräsentierte Arbeit zumeist als das, was sie sein sollte, und nicht als das, was sie war. Das Sollen ist aber ebenso ein Teil von Wirklichkeit wie das Sein. Es wurden Bilder – nicht Abbilder – von Arbeit entworfen, die zu Denkbildern wurden. Ästhetische Strategien wie Abstraktion, Symbolisierung beziehungsweise Allegorisierung, Inszenierung, Auratisierung, Synchronisierung von Asynchronem produzieren ›arbeitende Bilder‹ und stellen sich in den Dienst einer Rhetorik der Macht zur Ordnung der Dinge im Reich der Arbeit.
5.2 Das R eich
der
Freiheit
»Kunst negiert die der Empirie kategorial aufgeprägten Bestimmungen und birgt doch empirisch Seiendes in der eigenen Substanz.«26
Arnold Hauser fasst die kontextuelle Komplexität wie folgt zusammen: »Die Produktion künstlerischer Werke hängt als sozialgeschichtlicher Prozeß von einer Anzahl verschiedenartiger Faktoren ab. Sie vollzieht sich naturalen und kulturellen, geographischen und ethnographischen, zeitlichen und örtlichen, biologischen und psychologischen, ökonomischen und sozial standortmäßigen Bedingungen entsprechend. Keine dieser Voraussetzungen macht sich stets im gleichen Sinne geltend; jede gewinnt ihre besondere Bedeutung je nach Konfiguration, in der sie mit den übrigen Faktoren der Entwicklung erscheint.«27
Kunstproduktion ist daneben auch geprägt von einer Idee der Kunstwirklichkeit: »So stellt sich die Kunstwirklichkeit neben die Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens. Es ist ein äußerliches Daneben, ein gleichgültiges Außereinander zweier einander nicht berührender Wirklichkeitsweisen. Sie verflechten sich nicht, sie verschmelzen nicht; trotz allseitiger räumlicher Berührung gehen beide Welten aneinander vorbei. […] Die Kunstwirklichkeit ist leichtwiegend, schwebend im Vergleich zu der groben, lastenden gewöhnlichen Wirklichkeit.«28
26 | Adorno 1974, S. 14 f. 27 | Hauser 1973, S. 101. 28 | Volkelt 1919, S. 356. Lange fasst den Begriff der Kunstwirklichkeit unter den Begriff der Illusion: »Wenn wahrhaft gute Kunst von jeher Illusion erzeugt hat und alle naiven Künstler von jeher nach Erzeugung von Illusion gestrebt haben, so gehört es eben zum Wesen der Kunst, dass sie Illusion erzeugen muss.« (Lange, Bd. 1 1901, S. 28)
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
Johannes Volkelt bezieht sich mit seinem Begriff der Kunstwirklichkeit auf Theodor Lipps’ Konzept der ästhetischen Realität.29 Beide konstatieren eine Autonomie der Kunst, die sich im Sinne Baudelaires selbst genügt. Durch Proudhon erfuhr diese Sichtweise Widerspruch: »Der Fortschritt der Kunst, wenn es hier einen Fortschritt gibt, hat seine Ursachen nicht in der Kunst selbst: ihr Wachstum wird von außen bestimmt. […] Ich definiere also die Kunst als eine idealistische Darstellung der Natur und unserer selbst mit dem Ziel der physischen und moralischen Vervollkommnung unserer Gattung. […] Die Kunst um ihrer selbst willen, l’art pour l’art, wie man sie genannt hat, eine Kunst die sich nicht selbst legitimieren noch begründen kann, taugt nichts.«30
An diesen Polen – die autonome, zweckfreie und die gesellschaftlich geprägte, auf soziale Zwecke gerichtete Kunst – arbeitet sich die Kunsttheorie noch heute ab.31 Gerade soziologische Theoretiker wie Simmel oder Adorno versuchen, die Rolle der Kunst für die Gesellschaft zu ergründen. Simmel formuliert in seiner Schrift zu Rodin: »Die Kunst, als ein Träger oder ein Spiegel der allgemeinen Kultur, offenbart dies, indem der Genius, der sie eine Stufe aufwärts führt, ihre überlieferten Formen zugängig für Inhalte zeigt, die sich jenen bis jetzt völlig zu entziehen schienen oder, – um Originalität des Inhaltes unbekümmert, eine Form, einen Stil schafft, der nur eine neue Ausdrucksmöglichkeit; aber nun für eine Unbegrenztheit – von Inhalten bedeutet.«32
Ute Faath konstatiert bei Simmel ein befreiendes Potenzial der Kunst: »Simmel spricht – um 1900 – dezidiert von der Erfahrung einer Erlösung von der Wirklichkeit, die die Kunst ermögliche. Gleichzeitig verweist er auf ein Moment der Freiheit, das mit der ästhetischen Anschauung umgesetzt wird. Allein diesem Moment liegt jedoch bereits ein Impuls
29 | Vgl. Volkelt 1919, S. 356. 30 | Proudhon 1988, S. 88 und S. 98 f. 31 | Besondere Konsequenzen hat diese Fragestellung für die Kunstsoziologie: »Kann der l’art pour l’art-Standpunkt aufrechterhalten und das Kunstwerk als ein in sich geschlossenes System betrachtet werden, das durch jede Art von Transzendierung, jede noch so geringfügige Überschreitung seiner Grenzen als Mikrokosmus gefährdet und mit Zerfall bedroht ist, so muß sich der Anspruch, die Bedeutung und Bestimmung der Kunst soziologisch festzustellen, als illegitim und unerfüllbar erweisen.« (Hauser 1983, S. 335) 32 | Simmel, Rodin 1919, S. 168.
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»Arbeitende Bilder« zugrunde, der über rein innerliche ästhetische Kontemplation des Individuums hinausweist und den gesellschaftlichen Raum in dieser Erfahrung einbeziehen will.«33
Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit beschreibt Adorno folgendermaßen: »Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt. Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität, die der Kunst gestattet, nach ihrem Bedürfnis das Verhältnis von Ganzem und Teilen zu modeln, wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz. […] Aber der Akzent auf dem Moment des Artefakts in der Kunst gilt weniger ihrem Hervorgebrachtsein als ihrer eigenen Beschaffenheit, gleichgültig, wie sie zustande kam. […] Gerade als Artefakte aber, Produkte gesellschaftlicher Arbeit, kommunizieren sie auch mit der Empirie, der sie absagen, und aus ihr ziehen sie ihren Inhalt. Kunst negiert die der Empirie kategorial aufgeprägten Bestimmungen und birgt doch empirisch Seiendes in der eigenen Substanz. Opponiert sie der Empirie durchs Moment der Form – und die Vermittlung von Form und Inhalt ist nicht zu fassen ohne deren Unterscheidung –, so ist die Vermittlung einigermaßen allgemein darin zu suchen, daß ästhetische Form sedimentierter Inhalt sei.«34
Adornos Äußerungen erscheinen wie die Versöhnung gegensätzlicher Positionen: Er betont das Gemachtsein von Kunst und verweist damit zum einen auf seine ProduzentInnen, die Menschen, und zum anderen auf den Status von Kunst als Artefakt geformter Materie, die per se ein totes Ding sei. In der Negation der Empirie konstatiert Adorno die eigene Wirklichkeit von Kunst, die Kunstwirklichkeit. Dennoch tritt das Kunstwerk in eine Kommunikation, ist immanente zweckmäßig, das Kunstwerk wird zum Sein zweiter Potenz. Konrad Fiedler begreift es als das dritte Prinzip: »Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätigkeit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streites nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst, als ein Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.«35
An dieses Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit knüpft auch die Frage nach dem Politischen von Kunst an. Kunst ist bei Kaiser Wilhelm II. politisch gedacht, wenn sie erzieherisch auf das Volk einwirken soll, wenn sie dazu beitragen soll, die arbeitende Klasse auf ihrem Weg aus den sie bestimmenden Kreisen heraus- und emporzuhe-
33 | Faath 1998, S. 116. 34 | Adorno 1974, S. 14 f. 35 | Fiedler 1983, S. 133.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
ben.36 Julius Langbehn interpretiert die Situation der Kunst als Symptom einer kranken Zeit, sieht aber gleichzeitig ihr grundlegendes Potenzial, mithilfe einer gesunden, monumentalen, männlichen Kunst – Rembrandt als Erzieher – das deutsche Volk in eine neue Zeit zu führen. Das Krisenhafte der Kunst – oder gar das Ende der Kunst37– gehörte zu einer übergreifenden Diagnose der Zeit: »Bergson wandte sich gegen die Omnipräsenz des Banalen, gegen die von der Zivilisation heraufgeführte, ständig anschwellende Woge der Alltäglichkeiten. Sie überziehe das Leben wie ein Mehltau. Allen voran das politische Leben banalisierte mit seinen Gemeinplätzen alles. Der Alltag sei die Lüge.«38
Die zeitgenössische Kunst war nach Mehring zutiefst pessimistisch, das Proletariat hingegen voller Optimismus.39 Der Kunst kam im Klassenkampf demnach keine tragende Rolle zu. Eine proletarische Kunst kann erst im Reich der Freiheit entstehen: »So lange es in diesem heißen Kampfe steht, kann und wird es keine große Kunst aus seinem Schooße gebären.«40 Das Politische ist Teil einer Geschichtlichkeit von Kunst. Infolgedessen ist Kunst eine Konstruktionsleistung: »Die Wahl der Bildgegenstände, die Strukturen der Beobachtungen wie auch die realisierten Formen gehören der ›diskursiven‹ Sphäre der jeweiligen Epoche der Gesellschaftsgeschichte, also der Sphäre der gesellschaftlichen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit an. Dies wird besonders deutlich, wenn man nicht nur einzelne Bilder betrachtet, sondern Bildfelder auszumachen und zu analysieren versucht.«41
Als Konstruktionen sind Bilder damit keine Abbilder, Kunst ist eine Konstruktion mit eigener Gesetzlichkeit. Das Kunstwerk wird bei Adorno zu einem Sein zweiter Potenz, bei Klaus Türk, der sich auf Niklas Luhmann bezieht, zu einer Beobachtung zweiter Ordnung: »Vielmehr liegt die Funktion des Werkes, wenn es nicht allein für die Selbstreflexion seines Schöpfers hergestellt wurde, […] darin, […] eine Beobachtung ›zweiter Ordnung‹ anzuregen.
36 | Vgl. Kaiser Wilhelm II. n.: Bischoff 1985, S. 252. 37 | Der Topos vom Ende der Kunst ist vor allem mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel verbunden, wurde aber bereitwillig weitergedacht (vgl. Hauser 1983, S. 699). Vgl. hierzu auch Geulen 2002 oder Adorno 1974, S. 12 f. 38 | Thiemann 1973, S. 62. 39 | Vgl. Mehring 1896-1897, S. 129. 40 | Ebd., S. 132. 41 | Türk 2002, S. 37.
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»Arbeitende Bilder« Kunstbetrachtung ist stets die Beobachtung von (im Kunstwerk mitgeteilten) Beobachtungen der Welt oder auch: die Wahrnehmung von kunstmedial übermittelten Wahrnehmungen des Autors bzw. der Autorin. […] Das Besondere der Kunst liegt darin, dass sie sich in ihrem Medium selbst sowie durch ihre Präsentationsformen und -räume (Galerie, Museum, Atelier, Kunstzeitschrift etc.) explizit als originelles, besonderes, vielleicht höchst individuelles Artefaktum darstellt und der Betrachtung anbietet. Ein Kunstwerk kann dabei seine Künstlichkeit, seine Konstruiertheit mehr oder weniger zu verbergen suchen (man kann dann vielleicht von ›Naturalismus‹ sprechen) oder, im Gegenteil, die Künstlichkeit der Kunst im Kunstwerk selbst thematisieren.«42
Türk formuliert folglich die gesellschaftliche Rolle von Kunstwerken als reflexive Mitproduzenten der Gesellschaft.43
5.3 Das R eich
der
N otwendigkeit
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«44
Wie nun stellt sich das Bild der Wirklichkeit dar, das sich der Kunst im Kaiserreich bot: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. […] Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. […] Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.«45
Diesem Bild von Marx hätten wohl die wenigsten Zeitgenossen widersprochen, Kapitalismus- beziehungsweise Materialismuskritik war weitverbreitet. 46 Während Naumann das Maschinenzeitalter feierte, wurde diese Zeit vielfach als krisenhaft be-
42 | Ebd., S. 35. 43 | Vgl. ebd., S. 36. 44 | Marx und Engels 1998, S. 16 f. 45 | Ebd. 46 | »Die Zeitgenossen waren sich des Umbruchcharakters dieser Epoche z. T. bewußt. Technische Erfindungen und wissenschaftlicher Fortschritt, Industrialisierung und Arbeiterfrage, Aufstieg der ›nützlichen Wissenschaften‹, Frauenemanzipation in Wissenschaft und Kunst: […].« (Düwell 1983, S. 27)
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
schrieben47 – ein zwiespältiges Phänomen, das mit Ernst Bloch als Ungleichzeitigkeit zu beschreiben wäre.48 Benjamin und Simmel formulieren als Ausdruck der Krise um 1900 ein Gefühl der Entfremdung.49 Die Rede von der Krise um 1900 »[…] gehört zu den Denkmustern und Selbstvergewisserungstopoi der Moderne«50 , so Teresa Ende. Unterschiede zeigen sich in den Reaktionen auf diese Krise beziehungsweise in den Lösungsvorschlägen für die bestimmenden Fragen dieser Zeit (die soziale Frage, die Frauenfrage, die Judenfrage etc.).51 Erklärungsmuster für diese Unterschiede bieten Theorien der Mentalitätsgeschichte.52 Mentalität definiert der Wirtschaftssoziologe Theodor Geiger als »[…] geistig-seelische Disposition, als unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen. Ideologie dagegen meint Lebens- und Weltdeutung […]. Die Ideologie kann ›falsch‹ sein; gegenüber der Mentalität ist die Frage ›richtig‹ oder ›falsch‹ logisch unerlaubt.«53
In der entzauberten Welt des 19. und 20. Jahrhunderts gilt der Nationalismus nach Elias als das mächtigste Glaubenssystem.54 Der Untertan wird nicht nur bei Heinrich Mann zum Menschentyp des Kaiserreiches schlechthin: Max Weber etwa konstatierte eine starke Veränderung der Einstellung der Untertanen zu ihrem Herrscher.55 Die Untertanenmentalität bildet nach Hans-Ulrich Wehler das psychische Pendant zum
47 | Zum kontrovers, aber ubiquitär diskutierten »Verhältnis der Gesellschaft zum Fabrikzeitalter« vgl. Engelskirchen 2002, S. 108. In Hinblick auf die Kunst im Industriezeitalter bemerkt Mielke: »Mag auch die Industrie den Volkswohlstand gehoben, mag sie manchen Gegenstand der Behaglichkeit in die Hütte des Ärmsten getragen haben, den sich dieser früher selbst und unvollkommen herstellte: eine Kunst ist sie uns schuldig geblieben.« (Mielke 1904, S. 55) 48 | Hofmann verweist dabei auf Musil: »Im Augenblick, wo die Wirklichkeit als schwankend und wandelbar erlebt wird, erlebt man sie in ihrem gegenwärtigen Zustand als vorläufig. […] Als Geisteshaltung entspricht ihr der von Robert Musil entworfene ›Möglichkeitssinn‹.« (Hofmann, Studien 1979, S. 53 f.) 49 | Vgl. Ende 2015, S. 18. 50 | Ebd. 51 | 1902 formulierte ein Zeitgenosse: »Unzählige sind bemüht, unsere Verhältnisse zu reformieren. Reform ist das Stichwort unserer Tage.« (Kratzsch 1983, S. 373) 52 | Der Historiker Karl Lamprecht charakterisiert rückblickend die Zeit um 1900 als eine Mischung aus Egoismus und Idealismus, Aufrichtigkeit und Heuchelei, in der Brutalität, Berechnung und Erfolgswillen zur neuen Moral wurden (vgl. ebd., S. 372 f.). 53 | Hoffmann 1994, S. 259. 54 | Vgl. ebd. 55 | Vgl. Büschel 2006, S. 25.
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»Arbeitende Bilder«
Obrigkeitsstaat.56 Der Mensch hatte sich nach Elias im »Prozess der Zivilisation« dem gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang unterworfen: »Von den frühesten Zeiten der abendländischen Geschichte bis zu Gegenwart differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr. […] Gerade dies ist charakteristisch für die Veränderung des psychischen Apparats im Zuge der Zivilisation, daß die differenziertere und stabilere Regelung des Verhaltens dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet wird, als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußtsein will.«57
Jede Gesellschaftsschicht unterlag ihren spezifischen Selbstzwängen. Sie wurden durch eine Setzung als Tugenden zu Distinktionskriterien. Der Blick nach oben oder unten modifizierte jedoch soziale Strukturen, die infolge großer Wandlungen durchlässig geworden waren: »Die Hauptfunktion der höfischen Aristokratie – ihre Funktion für den mächtigen Zentralherrn – ist es ja gerade, sich zu unterscheiden, sich als unterschiedene Formation, als soziales Gegengewicht gegen die Bourgeoisie aufrechtzuerhalten. […] Sie sind weniger für die Durcharbeitung des Verhaltens und des Geschmacks freigesetzt; sie haben einen Beruf. […] noch ist der höfische Kreis auch für einen guten Teil der bürgerlichen Menschen, die etwas auf sich halten, das Vorbild. Sie werden ›Bourgeois Gentilhommes‹. Sie ahmen den Adel und seine Manieren nach.«58
Elias erfasst hier ein Phänomen, das bei Zeitgenossen unter dem Schlagwort Talmi bekannt war.59 Für die Zeit des Kaiserreiches bemerkt er: »Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufstieg berufsbürgerlicher Schichten zur Funktion der Oberschicht, hört alles das auf, im Zentrum der gesellschaftlichen Formungstendenzen zu stehen. Nun bilden Gelderwerb und Beruf die primären Angriffsflächen der gesellschaftlichen Zwänge, die den Einzelnen modellieren […].«60
56 | Vgl. Wehler 1983, S. 133. 57 | Elias 1969, S. 312 und S. 316 f. 58 | Ebd., S. 415. 59 | Vgl. Wolfradt 1920, S. 60 und Bandmann 1971, S. 152 f. Es ist der »Stil der Stillosigkeit« (Ahlers-Hestermann 1956, S. 23). 60 | Elias 1969, S. 417. Tacke zum Verhältnis von Bürger und Adel: »Die Schwäche des deutschen Bürgertums gegenüber dem Adel galt als eines der zentralen Argumente für einen deutschen Sonderweg im Prozeß der Modernisierung der europäischen Gesellschaft.« (Tacke 1995, S. 79)
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
Elias beschreibt den Prozess der Zivilisation als eine Geschichte der Affektkontrolle, die sich in den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten spezifisch darstellt. Foucault und Bourdieu denken die Konzepte von Elias weiter. Eine Geschichte der Zivilisation ist bei Foucault geprägt durch Kulturtechniken zur Ausübung von Macht – Überwachen und Strafen etwa durch Gefängnisse oder Psychiatrien. Die Disziplinierung und Optimierung des Körpers werden hier zu den wichtigsten Ansatzpunkten:61 »Zu behandeln wäre der ›politische Körper‹ als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzten und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen.«62
Die Verwissenschaftlichung des menschlichen Körpers trägt hierzu maßgeblich bei. 63 Wissen und Wissenschaftlichkeit unterliegen als diskursives System ebenso Strukturen der Macht.64 Wissen schafft eine Ordnung der Dinge, die ob ihrer Autorität nicht weiter hinterfragt wird: »Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann.«65 Der Körperdiskurs im 19. Jahrhundert liest sich mit Foucault vor allem als ein Diskurs der Macht, an dem das scheinbar objektive Wissen der Naturwissenschaften einen großen Anteil hat – eine Macht, die nach Bourdieu auch über symbolische Formen praktiziert wird. Hierfür denkt Bourdieu den Kapitalbegriff in dreifacher Gestalt als ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital:
61 | Vgl. Foucault 1992, S. 43. Auch der Bereich der Sexualität wird als Dispositiv von Foucault näher untersucht: »Die Macht über den Sex vollzieht sich auf allen Ebenen in gleicher Weise. […] Sie funktioniert in den einfachen und endlos wiederholten Räderwerken des Gesetzes, des Verbotes und der Zensur […].« (Foucault 1986, S. 105). Und weiter: »Es geht also nicht an, eine Geschichte der Sexualität an die Instanz des Sexes zu binden. Vielmehr ist zu zeigen, wie ›der Sex‹ von der Sexualität historisch abhängig ist. […] Glauben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt; man folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexualdispositivs. Man muss sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren […].« (Ebd., S. 187) 62 | Ebd., S. 40. 63 | Vgl. ebd. 64 | Vgl. ebd., S. 39. 65 | Ebd.
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»Arbeitende Bilder« »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; […] Sozialkapitalbeziehungen können nur in der Praxis, auf der Grundlage von materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen existieren, zu deren Aufrechterhaltung sie beitragen.«66
Die ›feinen Unterschiede‹ offenbaren sich durch den Habitus eines sozialen Akteurs, der sich durch die Teilhabe an den unterschiedlichen Kapitalformen bestimmt. Kunst bietet in diesem System etwa ein Distinktionsinstrument: »Kulturelle Güter können somit entweder zum Gegenstand materieller Aneignung werden; dies setzt ökonomisches Kapital voraus. Oder sie können symbolisch angeeignet werden, was inkorporiertes Kulturkapital voraussetzt.«67 Aneignungsprozesse schaffen eine symbolische Wirklichkeit, »[…] die den Zauber des Geweihten in sich trägt.« 68 Kunst als Repräsentationsform ist nur vermeintlich symbolischer Stellvertreter69 eines zu Repräsentierenden: »Potentiell gilt die Logik der Repräsentation auch für solche Phänomene wie den ›Personenkult‹ oder die Identifikation von Parteien, Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen mit ihrem Führer. Sie läuft darauf hinaus, daß das Zeichen sich an die Stelle des Bezeichneten, der Repräsentant sich an die Stelle der von ihm Repräsentierten setzt.«70
Die Deutungsmacht über den Körper, mit der das Feld Arbeit wie kaum ein anderes verbunden ist, und die Kunst schaffen symbolisches Kapital, das sich als ökonomisches Kapital reproduziert.
66 | Bourdieu 1983, S. 191. 67 | Ebd., S. 189. 68 | Ebd., S. 193. 69 | Kunst war vielmals eher Ersatz als Stellvertreter: »Je weniger sich die Utopievorstellungen der befreiten Humanität, des bürgerlichen Aufbruchs des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Realität der Industrie- und Konkurrenzgesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einlöste, um so mehr wurden die ins ›allgemein Menschliche‹ transferierten Ideale der ›höheren‹ Sphäre des Kunst zugewiesen.« (Ruppert 1998, S. 537) 70 | Bourdieu 1983, S. 195.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
5.4 I m D eutschen K aiserreich – G attungswesen S kulptur »Neben diesen […] Werken [Nationaldenkmälern] stand der zahlenmäßig stärkste Anteil der Gründerzeit entstandenen allegorischen Darstellungen im Dienste der Repräsentation privatwirtschaftlicher Unternehmen. Sie vereinnahmten die alte Gattung zunehmend für ihre Zwecke, sei es in Form von Firmenzeichen, als Reklame, als Fassaden- oder Innenraumschmuck von Firmengebäuden oder als Dekoration von Ausstellungsarchitektur.«71
Mit Blick auf die Theorien und Erklärungsmuster von Kunst und Gesellschaft erscheint die Skulptur im Deutschen Kaiserreich vor allem in der Aufgabe Denkmal und den mit ihr verbundenen sozialen Praktiken im Dienste einer Rhetorik staatlicher und bürgerlicher Macht,72 die im gesellschaftlichen Diskurssystem – Medizin, Politik, Kunst etc. – Argumente entwickelt und durch Inszenierungsstrategien (re-) produziert. Denkmäler entwickeln Denkbilder durch Gegenbilder: »Mit aller Deutlichkeit wird klar, daß die Denkmäler, gerade weil sie soziale Probleme nicht nennen, dazu Stellung nehmen: sie dienten den Interessen derjenigen, die an einer Verschleierung der vorhandenen Probleme interessiert waren.«73 Ausgegrenzt wurden bestimmte Gesellschaftsschichten sowie – auch jenseits dieser Schichten – Frauen. Formal wurden Arbeiter und Frauen durch ihre Funktion als Sockelfiguren und/oder Personifikationen marginalisiert und gleichermaßen instrumentalisiert. Personifikationen in Form von Arbeitern und Frauen werden zu Verweisfiguren auf das im Denkmal zu Repräsentierende und erhalten so ihre symbolische Rolle in einer Ordnung, die über Strategien der Integration Orte zuweist. Denkmäler schaffen durch ihre omnipräsente Verbreitung Topografien der Macht, die andererseits aber offensichtlich nicht mehr ohne die Repräsentation von Arbeit und Frau auskommen, so scheinbar marginalisiert sie auch sind, in Wirklichkeit aber – vermutlich unfreiwillig subversiv – dem Betrachter auf Augenhöhe begegnen. Bildliche Omnipräsenz durch Masse statt durch Maße konnte auch durch industrielle Ladenbronzen produziert werden. Das Format der Statuette eignete sich immer schon in besonderer Weise für die Praxis des Sammelns. Sie konnten als Kleinode
71 | Meurer 2014, S. 9. 72 | »Weder dieses Publikum, noch die Kritiker waren an einer Beachtung oder Analyse politischer, soziologischer und wirtschaftlichen Bedingtheiten in der Kunst interessiert.« (Laumann-Kleineberg 1972, S. 27) 73 | Plagemann, Bismarck 1972, S. 247.
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»Arbeitende Bilder«
den intimen Bereich des Häuslichen bereichern. Als Massenfabrikation in Surrogatmaterialien büßten sie diesen Preziosenstatus ein, prägten und formten jedoch weitgehend das Bildgedächtnis des Deutschen Kaiserreiches. Zu den beliebtesten Motiven gehörten Frauen und Arbeiter. Das Objekt Arbeiter tritt nun neben das Objekt Frau mit seiner Jahrtausende alten Tradition. Beide befriedigen die Sammelleidenschaft bürgerlicher Männer.74 Eine doppelte Objektivation erfahren sie durch die auch in dieser Gattung häufig praktizierte Allegorisierung. Das Allegorische legt hierdurch »[…] genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt.«75 fest. Unter kunsthistorischen Prämissen wird in einer Ikonografie der Arbeit in der Skulptur das »[…] Genrebild zum Symbol gesteigert […]«.76 Über Rückgriffe auf Genre und Allegorie verdichten sich etablierte Muster zu einer Ikonografie der Moderne, die zum einen eine konkret historische Ausformung von Ikonografie dieser Zeit ist und zum anderen eine Ikonografie ist, die die Moderne zum Inhalt hat. Dies wird in der Skulptur vor allem über den Körper verhandelt, der zu den wichtigsten Erzähl- und Stilmitteln gehört (etwa der Schmied der Nation als eine Mischung aus Vulkan und Herkules). Es werden stillgestellte Verkörperungen von Arbeit präsentiert, selten das Prozessuale. Folglich werden konkrete Abläufe und Umstände von Arbeit ausgeblendet. Bilder, in denen die positiven Effekte der Arbeit auf den männlichen Körper als muskulös und die unversehrte Schönheit des weiblichen Körpers zu ideologischen Metaphern werden, produzieren einen symbolischen Wert von Arbeit, der die realen Folgen auf den Körper ausblendet. Die entworfenen Körper sind Teil eines Diskurses um Krankheit und Gesundheit, Männlichkeit und Weiblichkeit, Nation und Volk, aber vor allem Teil einer Stilgeschichte der Kunst. Im Historismus – als Chance und Krise gleichermaßen begriffen – gehört die bewusste Auseinandersetzung mit vergangenen Stilen ebenso wie die Suche nach neuen Ausdrucksformen, bei der auch Materialien eine wichtige Rolle spielen, zum künst-
74 | Gensel bezeichnet diese Form der Sammelaktivität 1905 als eine Mode unter Snobs und damit auch als ein Phänomen der sogenannten Talmi-Aristokratenkultur (vgl. Gensel 1905, S. 44 f.). Ahlers-Hestermann hierzu: »In einer Kunstzeitschrift las ich: ›Die wahre Kunst Bilder aufzuhängen besteht darin, daß man die wirklichen Lücken an der Wand erspäht, und daß man diese richtig zu füllen weiß‹, und weiterhin: ›Das Ölgemälde muß daher möglichst zum Ton der Tapete stimmen.‹ […] Denn wie es in einem zeitgenössischen Aufsatz heißt: ›um Effekte zu erzielen, wendet der geschickte Dekorateur jedes sich ihm darbietende Mittel an.‹« (Ahlers-Hestermann 1956, S. 22 f.) Aneignung als Objektivation ist ein Phänomen, das auch die Großausstellungen dieser Zeit prägte, wenn beispielsweise ›Arbeiter‹ live vor Ort ›arbeiteten‹ oder Dörfer fremder Länder aufgebaut wurden. Das Hameau de la Reine in Versailles oder die Ziereremiten in Landschaftsgärten sind frühere Beispiele. 75 | Benjamin 1991, S. 406. 76 | Gensel 1905, S. 57.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
lerischen Strategierepertoire. Der Stilbegriff wird wie der Körperbegriff denselben gesellschaftlichen Diskursivierungen unterworfen. Die Wahl des Stils wurde demgemäß nicht allein zur Sache der KünstlerInnen, sondern auch zu der des Auftraggebers beziehungsweise Käufers, der auf diese Weise Repräsentationsformen, die die KünstlerInnen ihm anboten, für sich produktiv machte.
5.5 Kunstwirklichkeit – D ie produktive M aterialität der G attung S kulptur »Skulptur vermag mit ihrer Ästhetik, die Präsenz und Abwesenheit gleichermaßen bedeutet, in hervorragender Weise zu bannen und fixieren.«77
Die Aneignung von Skulptur als Medium der Macht lässt sich aus dem grundsätzlichen gesellschaftlichen Verständnis von Kunst erklären, hängt aber in erster Linie mit der Gattung und den Qualitäten einer Materialität von Skulptur zusammen. Materialität ist neben Form und Ikonografie Teil des Gestaltungssystems Skulptur. Diese Trias kann Ausdruck eines Zeitstils sein und gattungsübergreifend Gültigkeit erlangen. Materialität, Form und Ikonografie sind darüber hinaus aus der Gattung heraus entwickelte Gestaltungsphänomene. Das gattungsspezifische Gestalten kommt vor allem in der Materialität zum Tragen. Materialität stellt sich als ein Mehr von Material, als nach Adorno aufgespeicherte Geschichte78 und somit als Mehrwert künstlerischer Arbeit dar. Künstlerische Arbeit als Gestaltungsprozess eignet sich die Materie an, indem konkrete Eigenschaftspotenziale von Materialien – ideologischer oder physikalischer Natur – bewusst eingesetzt werden. Diese als ein produktives Mehr von Inbesitznahme gedachte Aneignung ist ein Produktionsprozess, den unterschiedliche Faktoren bestimmen: die Bearbeitung des Materials, die Arbeitsumstände (etwa das akademische Atelier), das Auftrags- und Vertriebswesen oder der Berufsstatus. Materialität als das Kapital von Skulptur befördert die Medialität von Skulptur. Präsenz wird zur Leitidee und damit zum Gestaltungsprinzip: Omnipräsenz durch Maße und Masse, Dauerhaftigkeit, Unmittelbarkeit. Dingliche Präsenz ist per se Wirklichkeit. Die in der Skulptur vor Augen geführte leibliche Präsenz steigert diese Wahrnehmung noch: »Kunstwerke bilden unsere Vorstellungen von Körper, Geschichte und Welt, sie geben Vergangenheit und Gegenwart ein Antlitz als, nach Walter Benjamin, ›dialektische Bilder‹. […] [Es] gilt die Vorstellung vom stillgestellten, der Zeit enthobenen Erkenntnis-Moment doch gerade für
77 | Wenk 1996, S. 123.
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»Arbeitende Bilder« die Werke gegenständlich arbeitender Künstler, die den menschlichen Körper, den Judith Butler als ›Ort der Dramatisierung kultureller Phantasien‹ bezeichnet hat, zum Hauptgegenstand ihres Schaffens machen.«79
Zu dieser Unmittelbarkeit von Skulptur bemerkt Silke Wenk: »Skulptur vermag mit ihrer Ästhetik, die Präsenz und Abwesenheit gleichermaßen bedeutet, in hervorragender Weise zu bannen und fixieren. […] Das Medium Skulptur ist aufgrund seiner Geschichte, seiner Funktion und auch seines spezifischen Illusionismus – Rundumansichtigkeit und Präsenz – selbst Aussage. Skulptur ist eine Form der Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem und eine Form seiner Entrückung und Erhöhung. […] Sie hält es in Gang und versucht es stillzustellen. Als ›Stützpfeiler des Zusammenhalts‹ ist sie immer wieder von neuem zu sichern und bleibt Ausgangspunkt und Material weiterer Bilderproduktion.«80
Skulpturen im Deutschen Kaiserreich werden zu ›arbeitenden Bildern‹ – und dies in erster Linie nicht nur, weil sie Arbeit zeigen. Bilder von Arbeit produzieren einen (zeitgenössischen) Begriff von Arbeit. Timo Skrandies charakterisiert dies folgendermaßen: »Möchte man etwas über ›Arbeit‹ als kulturelles Paradigma erfahren, möge man sich (unter anderem) mit ihrem medienästhetischen ›Design‹, ihrer Formierung und visuellen Darstellung befassen. […] Bilder der Arbeit wiederholen Arbeit an sich selbst – und an uns. Die Beziehung, die wir mit ihnen eingehen, eröffnet einen ›Schauplatz wechselseitigen Begehrens‹.«81
Demgemäß produziert die Gattung Skulptur auch blinde Flecken: ›unbewusst‹, wenn sie ihr eigenes Gattungswesen nicht hinterfragt, die etablierte Kunstwirklichkeit von Skulptur unkritisch akzeptiert, oder ›bewusst‹, wenn sie die Gattungsqualitäten (macht-)strategisch nutzt. 82
78 | Vgl. Raff 1994, S. 104. 79 | Ende 2015, S. 17. 80 | Wenk 1996, S. 123. 81 | Skrandies 2014, S. 336 f. 82 | Im Idealfall benennt Kunst die blinden Flecken einer Gesellschaft: »Jede Kunst ist, wie T. S. Elliot erklärte, ›ein Angriff auf das Unartikulierte‹ inmitten einer Ordnung der Dinge, von der ein Teil unformulierbar und artikulationsbedürftig bleibt, und in deren Schilderung die Lücken nicht nur eine Unzulänglichkeit bezeichnen, sondern auch auf ein Geheimnis, ein ineffabel Höheres und Tieferes, ein Absolutes hinweisen, das im Chaos des Unzugänglichen verborgen ist. Die Kunst als ›Angriff auf das Unartikulierte‹ ist Teil des Kampfes gegen dieses chaotische Element. Man hat sie also vorerst als ein Ringen um die Sprache, als Mittel der Unterscheidung und Be-
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
5.6 Ä sthetik
des
Widerstands »Die Kunst will nicht länger als Vehikel ethischer, religiöser oder sozialer Ideale aufgefasst werden.«83
»Nur in ganz seltenen Fällen kann man von einer tendenziösen Plastik reden.«84 Was bei Konrad von Lange wie ein Lob klingt, offenbart die künstlerische Wirklichkeit von Skulptur als eine, die sich dem Sozialen – zumal mit kritischer beziehungsweise agitatorischer Intention – verschließt. Die Annahme einer sozialkritischen Skulptur hat so gut wie keinen Bestand: »Sie blieb sogar bis zum Auftreten Barlachs im frühen 20. Jahrhundert, verglichen mit einzelnen Erscheinungen in Frankreich (Dalou), Belgien (Meunier), Italien (Orsi, Vela), selbst Russland (Golubkina, Konenkov), sehr zurückhaltend in der thematischen Reflexion der ›sozialen Frage‹, des Bewusstseins vom Dasein und historischen Aufstieg der Arbeiterklasse. Soweit wir bisher sehen können, wurde der arbeitende Mensch, speziell der Industriearbeiter, fast nur im Rahmen eines abstrakt-ethischen ›Lobes der Arbeit‹, in das auch der Bürger einstimmte, und das heißt, meistens in einem patriarchalischen Bezug auf den ›arbeitgebenden‹ Unternehmer oder den alle vereinenden Staat zum Gegenstand für Bildhauer – nicht aber in sozialkritischer Sicht auf Ausbeutung und Elend und schon gar nicht als soziale und politische Alternative.«85
Diesen Umstand schreibt Max Imdahl einer vermeintlich kategorialen affirmativen Natur der Gattung Skulptur zu, die gleichsam ontologisch nicht kritikaffin sei – eine Ansicht, die aber nur entlarvt, wie sehr der Denkmalbegriff den Skulpturenbegriff historisch besetzt hat: »Während die Malerei (und Graphik), zumal die realistische, das Milieu und das Situationale von Szenen umfassender, veristischer, das heißt der Not und Misere der sozialen Wirklichkeit angemessener vergegenwärtigt und auch zu deren kritischer Beleuchtung fähig ist, bleibt die Plastik – kategorial begriffen – ein ungeeignetes Medium solcher Milieudarstellung und Kritik, denn die Plastik ist ihrem Wesen nach affirmativ.«86
nennung der Dinge, und erst durch den Besitz der Sprache als eine Form des Kampfes gegen die Schwierigkeiten und für die Ziele des Daseins zu deuten.« (Hauser 1983, S. 801) 83 | Lange, Bd. 1 1901, S. 26 f. 84 | Ebd., S. 108. 85 | Feist 1987, S. 334 f. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Forschungen von Peter Feist, Mitglied der SED, auch vor dem Hintergrund eines durch die DDR propagierten Kunstbegriffes zu sehen sind. 86 | Imdahl zit. n.: Goetz 1984, S. 130.
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»Arbeitende Bilder«
Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth dagegen verweist auf die historischen Bedingungen am Beispiel Jules Dalou: »Allerdings muß bei einem solchen Vergleich berücksichtigt werden, daß eine direkte revolutionäre Agitation immer nur durch Schrift und illustrative Bilder möglich ist, niemals durch aufwendige Monumente in Stein und Erz, für die eine Erlaubnis und die Mittel zur Ausführung immer durch eine herrschende Regierung bewilligt werden könnten. Insofern darf man gar nicht erwarten, daß im Rahmen der bürgerlichen Regierungsformen sozialrevolutionäre Arbeiterdenkmäler hätten ernsthaft geplant und errichtet werden können.«87
Das (politisch) Passive gehörte aber ebenso zum Zeitgeist: »Die ebenso heterogenen wie produktiven künstlerischen Strömungen um 1900 kennzeichnet Aufbruchsgeist und heroisches Pathos, Selbstüberhebung, übersteigertes Sendungsbewusstsein und kreativer Veränderungswille ebenso wie Kulturpessimismus, Melancholie und jenes von Wilhelm Worringer titulierte ›Vergeblichkeitsbewusstsein‹.«88
Helmut Pfeiffer diagnostiziert eine Überforderungssituation der Kunst, die durch die industrielle Revolution entstanden sei, auf der einen und einen übersteigerten Theorieanspruch auf der anderen Seite. 89 Wenn überhaupt, werde der Malerei, der Grafik oder der Literatur kritisches Potenzial zugeschrieben: »Die Griffelkunst hat die Malerei mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Elendesmalerei und Rinnsteinkunst forderten auch eine Proletarisierung der Darstellungsmittel.«90 Doch Malerei bleibt nach Klaus Herding affirmativ, solange nur Themen, nicht aber auch die Formen kritisch waren: »Ein 1833 in Paris ausgestelltes Streikbild hatte kaum Nachfolge, und das vielzitierte, von Peter Weiß so überschätzte Streikbild von Robert Koehler (1871) trägt das Geschehen nicht in einer Bildform vor, welche die Situation der Streikenden perspektivisch entwickeln hülfe. […] Nicht wegen ihres Inhalts, sondern aufgrund der Zurückgebliebenheit ihrer Form entziehen sich diese Triptychen und Genrebilder dem Aspekt der Modernität. Die ästhetische Forderung: ›Il faut être de son temps‹, in den 1820er Jahren zunächst generell erhoben, von Daumier dann auf Probleme des Kleinbürgertums angewandt, bedeutete für den engagierten Künstler nicht nur,
87 | Schmoll gen. Eisenwerth 1972, S. 276. 88 | Ende 2015, S. 18. 89 | Vgl. Pfeiffer 1987, S. 275. 90 | Simon 1932, S. 56.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ zeitgenössische Themen aufzugreifen, sondern auch, sie in den Formen der Avantgarde zu bearbeiten. Diesem Junktim nahmen erst Légers Industriebilder den Geruch der Affirmation.«91
Vor dem Hintergrund dieses Avantgardeparadigmas, das das Fortschrittliche allein der Form zuordnet, konnte kaum eine Kunst bestehen. Und doch beginnt Weiss seine Geschichte zur Ästhetik des Widerstands mit der Beschreibung eines antiken, plastischen Bildwerks: »Gewiß waren es hochgezüchtete Gestalten, die hier barbarische Mischwesen niedertraten, und es waren nicht jene verewigt worden, die unten in den Gassen der Stadt die Mühlen, Schmieden und Manufakturen betreiben, die tätig waren auf den Märkten, in den Werkstätten, den Werften am Hafen, […] gewiß waren nur die Namen einiger der Meister überliefert, Menekrates, Dionysades, Orestes, und nicht die Namen derer, die die Zeichnungen auf die Quadern übertragen, mit Zirkel und Bohrer die Schneidepunkte festgestellt […] und trotzdem, […] gereichte der Fries nicht nur den Götternahen zum Ruhm, sondern auch denen, deren Stärke noch verborgen lag, denn unwissend waren auch sie nicht, auf ewig wollten sie sich nicht knechten lassen.«92
»Jede Kunst ist gut, die der Gattung nützt, jede Kunst ist schlecht, die ihr schadet.«93 Büßt Kunst ihre Qualitäten ein, wenn sie nicht gesellschaftskritisch ist? Wohl kaum! »Die Kunst will nicht länger als Vehikel ethischer, religiöser oder sozialer Ideale aufgefasst werden […]. Alles […] läuft im Grunde darauf hinaus, dass die Kunst vom Inhalt und von der Form emanzipiert, ganz auf sich selbst gestellt werden müsse.«94 Gewinnt Kunst, wenn sie gesellschaftskritisch ist? Trotzdem, ja! Und Weiss zeigt, wie Kunst gegen ihre Intention in der Rezeption subversiv werden kann.
5.7 Das D ritte R eich »Auch der ›heimliche Kaiser‹, wenn er kommen sollte, wird etwas von dieser Eigenschaft an sich haben müssen. Das Feuer seines Geistes wird die alten Volksanschauungen zerschmelzen und die Kraft seines Arms wird sie zu neuen, und darum
91 | Herding 1987, S. 431. Dieses ganz durch die Brille der Moderne beurteilte Diktum ließe sich auch umkehren: Selten war Arbeitsdarstellung so affirmativ wie bei Fernand Léger. 92 | Weiss 1975, S. 12 f. 93 | Lange, Bd. 1 1901, S. 14 f. 94 | Ebd., S. 26 f.
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»Arbeitende Bilder« doch alten, streit- wie sieghaften Anschauungen umformen müssen. Möge er kommen!«95
Richard Hamann und Jost Hermand bemerken zur Situation um 1900: »Während man auf reaktionärer Seite das einzige gesellschaftliche Heilmittel in einer konsequenten Restaurierung des personalen Denkens erblickte und die kapitalistische Eliminierung des ›Gemüthaften‹ durch eine konservative Vertiefung spezifisch ›organischer‹ Gemeinschaftsformen wie Familie, Männerbund, Stamm, Volk oder Kultverband zu überwinden hoffte, propagiert der progressive Flügel dieser Bewegung neuzeitliche Organisationsprinzipien wie Gartenstadt, Siedlung oder Werkgemeinschaft, in denen alle ›Schaffenden‹ den gleichen Rang repräsentieren und in einem bescheidenen Maße am Gewinn beteiligt werden. Nicht Kirchen oder Paläste, sondern Fabriken, Warenhäuser und Bahnhöfe standen hier im Vordergrund, […]. Auf Grund dieser inneren Identität läßt sich vor allem in den Jahren zwischen 1910 und 1914 beobachten, wie eine ›antikapitalistische‹ Strömung nach der anderen in den Sog des Blutsmäßig-Irrationalen und damit Expansiv-Imperialistischen gerät, […]. Man hat diesen Vorgang, der hier nur skizzenweise angedeutet werden kann, manchmal lakonisch ›Wege zu Hitler‹ genannt.«96
Lakonismus zeigt sich in den Worten Langbehns dagegen keineswegs: »Es wäre zu wünschen, daß einem solchen unwahren und frivolisierenden Treiben, das vielfach soziale Fäulniskeime in sich birgt, auch einmal von oben her Einhalt geboten würde; daß die besseren Klassen sich ihm endgültig entziehen würden: wir wollen Reinlichkeit! […] Der eigentliche Daseinskampf des modernen Menschen ist der nicht materielle, sondern sittliche Kampf gegen das Geld: er soll es sich, aber nicht sich ihm unterjochen; der moderne Siegfried – der wiedergeborene Deutsche – soll diesen gleißenden Drachen töten. […] Die neue Zeit wird unter neuen Zeichen stehen; sie wollen beachtet und gedeutet sein; sie wollen befolgt sein. Es ist längst bekannt, daß das menschliche Blut Eisen enthält; Blut und Eisen haben das jetzige Deutsche Reich nach außen gegründet.«97
Einmal mehr zeigen die Worte Langbehns, wie sehr Konzepte von Körper, Geschlecht und Rasse schon lange vor dem Nationalsozialismus zu einer völkischen Theorie beitrugen. Siegfried der Schmied wurde zum Bild des idealen männlichen Deutschen und dies nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch oder schriftlichen Diskurs, sondern auch in der Skulptur des Deutschen Kaiserreiches. Damit waren unter anderem die Begriffe der Masse und des Monumentalen verbunden – Begriffe, die zu Stilpara-
95 | Langbehn 1922, S. 355 f. 96 | Hamann und Hermand 1967, S. 14-17. 97 | Langbehn 1922, S. 344 f. und S. 340.
Die Skulptur im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹
metern der Kunst und gleichermaßen zum Selbstbild des deutschen Volkes dieser und der nachfolgendenden Zeit wurden. Damals wie heute gelten die Worte Bertold Brechts wenig: »Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert. / Und handelt, statt zu reden noch und noch. / So was hätt einmal fast die Welt regiert! / Die Völker wurden seiner Herr, jedoch / Daß keiner uns zu früh da triumphiert.«98
98 | Brecht 1968, S. 124.
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6 Zusammenfassung
Das Interesse der Forschung an der Skulptur des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland ist weiterhin gering und umfasst vor allem künstlermonografische Arbeiten oder Überblickswerke zu bestimmten Zeitabschnitten. So beschäftigt sich etwa eine zweibändige Publikation von Bernhard Maaz mit der Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg (2010), die sich diesen Werken, anders als in der Vergangenheit vielfach praktiziert, nicht mit einem abwertenden Tenor widmet. In einer Kunstgeschichte der Avantgarden werden bestimmte künstlerische Phänomene im besten Fall nur marginalisiert, im schlechtesten Fall zur rückständigen Massenware degradiert, vermutlich auch, weil schon Zeitgenossen diese Sichtweise geprägt haben. Die Diskursivierung der ›arbeitenden Bilder‹1 fokussiert einen Aspekt der Skulptur an der – durch sie zugleich hinterfragten – Epochenschwelle vom Historismus zur Moderne in dem Bewusstsein, selbst für diesen vergleichsweise überschaubaren Ausschnitt im Feld der skulpturalen Produktion keine erschöpfende Abhandlung vorlegen zu können, sondern Skulpturen nur exemplarisch, sofern sie scheinbar auf die alltägliche Lebenswelt bezogen sind, als hochgradig ideologisch besetzte Diskursträger zu erläutern. Künftige Einzelfallanalysen werden die vorgelegten Ergebnisse sicherlich erweitern und differenzieren. Die Arbeit ist von der Grundannahme bestimmt, dass sich Form und Inhalt im Hinblick auf ihre Kontexte gegenseitig bedingen und damit eine rein ikonografische beziehungsweise ikonologische Herangehensweise zu kurz greift, möchte man die Skulpturen im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitende Bilder‹ dekodieren. Unter jeweils anderer Gewichtung erfolgte deshalb eine überblickshafte werkanalytische Betrachtung der Aspekte Stil, Material und Form sowie Aufgabe, an die sich eine vertiefende Einzelfallanalyse anschloss. Die erweiterte Fragestellung nach den Skulpturen im Deutschen Kaiserreich als ›arbeitenden Bildern‹ und nicht allein nach einer Darstellung von Arbeit in der Skulp-
1 | Der Begriff wurde entlehnt bei Dubois 1998, S. 19.
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»Arbeitende Bilder«
tur untersucht, wie der Begriff der Arbeit und somit auch die mit der Industrialisierung einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen in der Kunst reflektiert werden. Sie fragt aber ebenso nach der produktiven Rolle dieser Bildwerke für die soziale Wirklichkeit unter dem Gattungsprimat Skulptur. Dies machte eine Kontextualisierung künstlerischer, aber auch außerkünstlerischer Diskursformationen unumgänglich und bildete die Vorstufe zur werkanalytischen Betrachtung. Dazu gehörte die Darlegung sozialhistorischer Ereignisse und Strukturen sowie des zeitgenössischen Arbeitsbegriffs. Hier hat sich gezeigt, dass letzterer maßgeblich durch die Begriffe Körper, Geschlecht und Rasse mitbestimmt war. Diese Begriffe wiederum prägten und prägen vor allem die Diskurse zur Gattung Skulptur als der »Körperbildnerin«2. Daran anschließend wurde der Versuch unternommen, mithilfe unterschiedlicher Theorieansätze Erklärungsmuster für die zuvor herausgearbeiteten Phänomene zu entwerfen. Die auf diese Weise erarbeiteten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Maßgeblicher Teil der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs ist geprägt von einer meist als industrielle Revolution bezeichneten Veränderung der Produktionsweisen, Produktionsorte und Produktionsziele, die weitreichende Folgen für die soziale Wirklichkeit der Menschen hatte. Teil dieser Geschichte ist auch eine künstlerische Produktion, die auf den ersten Blick kaum darüber erzählt. Das Thema Arbeit – von den hiermit verknüpften sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Krankheit abgesehen – nimmt in der Skulptur nur einen geringen Platz ein. Skulptur im Deutschen Kaiserreich war zu einem großen Teil entweder kostenintensive Auftragsarbeit oder kleinformatige und im Extremfall massenhafte Reproduktionskunst mit einem hohen Grad an Öffentlichkeit, die mit dem gerade im 19. Jahrhundert vertretenen Diktum der autonomen Kunst im Widerspruch zu stehen schien. Der Kunstdiskurs zu Zeiten der Industrialisierung war zudem bestimmt von einer kontroversen Auseinandersetzung um eine Ikonografie der Moderne: Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen künstlerischer Aneignung und sozialer Wirklichkeit, in dem Skulpturen zu ›arbeitenden Bildern‹, zu produktiven Akteuren verschiedener Seiten werden, ohne dass die Gesetze der »Kunstwirklichkeit«3 je außer Kraft treten. Die Ikonografie von Skulptur war im Deutschen Kaiserreich weiterhin wesentlich durch das seit der Antike tradierte Gattungskonzept bestimmt. Damit verband sich die Annahme, dass Skulptur in erster Linie den menschlichen Körper als Statue darstellen sollte, Repräsentation ob ihrer Dauerhaftigkeit und Kostbarkeit zu ihren vordersten Qualitäten gezählt wurde und abstrakte, allegorische Inhalte und nicht mimetische Narrationen vermittelt werden sollten. Das Gattungswesen Skulptur unterstand demnach selbst in der Verarbeitung moderner Themen diesen Vorgaben und
2 | Trier 1999, S. 21. 3 | Volkelt 1919, S. 256.
Zusammenfassung
unterschied sich damit deutlich von den zweidimensionalen Bildkünsten wie Malerei, Zeichnung oder Druckgrafik. Skulptur unterlag spezifischen Produktionsbedingungen: So war Skulptur stärker als Malerei von der Auftraggeberschaft und Käuferschicht abhängig. Sie wurde orts- und aufgabenspezifisch geplant und war zeitlich aufwendig. Diese Bedingungen hatten zwar im Deutschen Kaiserreich weiterhin Bestand, erfuhren jedoch infolge der Industrialisierung gravierende Neuerungen. Zu ihnen zählten unter anderem die Erschließung neuer Vertriebswege wie Großausstellungen, bürgerliche Finanzierungsmaßnahmen, neue industrielle Produktionsformen und Materialien. Skulptur im Deutschen Kaiserreich war vor allem Stilkunst, das heißt, sie griff selbst in der Entwicklung einer Ikonografie der Moderne stark auf etablierte Motive und Formen zurück und schuf so größere Akzeptanz auf der Rezipientenseite. In einer ›freien‹ Wahl der Stile konnten Auftraggeber von Skulptur ihren Begriff von Arbeit nicht nur durch künstlerische Repräsentationsformen vor Augen führen, sondern produktiv machen. Skulptur bekommt aber schon von Zeitgenossen den Makel der Rückständigkeit beziehungsweise fehlender oder wenigstens mangelnder Zeitgenossenschaft zugeschrieben.4 Dies bezieht sich sowohl auf ihren künstlerischen ›Wert‹ im Sinne einer Avantgardegeschichte als auch auf ihr als nicht vorhanden wahrgenommenes sozialkritisches Potenzial. Die Gattung Skulptur produziert demgemäß auch blinde Flecken: ›unbewusst‹, wenn sie ihr eigenes Gattungswesen nicht hinterfragt, die etablierte Kunstwirklichkeit von Skulptur unkritisch akzeptiert, oder ›bewusst‹, wenn sie die Gattungsqualitäten (macht-)strategisch nutzt. Über Denkmalkunst, Bauskulptur oder seriell gefertigte Kleinplastiken prägen Skulpturen im Deutschen Kaiserreich den öffentlichen Raum ebenso wie das heimische Wohnzimmer und werden so zu ›arbeitenden Bildern‹ – und dies nicht in erster Linie, aber auch, weil sie Arbeit zeigen. Bilder von Arbeit produzieren einen (zeitgenössischen) Begriff von Arbeit und reproduzieren Machtverhältnisse. Diese Bilder wirken gesellschaftsstabilisierend und tragen zu gesellschaftlicher Distinktion bei, indem sie Arbeiter und Arbeiterinnen, aber auch Unternehmer und die ihnen zugewiesenen Rollen präsentieren. Augenscheinlich wird dies, weil Arbeit in erster Linie über symbolische Einzelfiguren und nicht den Produktionsprozess Arbeit, über allegorische Assistenz- beziehungsweise Sockelfiguren und den männlichen, deutschen Körper dargestellt wird. Der ikonografische Entwurf von Arbeit in der Skulptur funktioniert über Abstraktion. Das Prozessuale und damit die konkreten historischen Abläufe und Umstände von Arbeit kommen weniger zum Tragen. Die Aneignung des Schmiedes mit seinem ganzen ikonografischen Verweissystem (bei-
4 | Vgl. Rübel, Plastizität 2005, S. 283.
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»Arbeitende Bilder«
spielsweise im literarischen Medium) auf Nation, Volk, Männlichkeit, Mythos, Kraft, Krieg, Industrie und letztlich auch Arbeit bot sich hierfür in besonderer Weise an. Der Körper wird zu einem der wichtigsten Erzähl- und Stilmittel, denn Arbeit wird vornehmlich als positiver Effekt auf den Körper verbildlicht. Infolgedessen wird Arbeit durch Frauen weitaus seltener verkörpert als durch Männer und wenn, dann zumeist in allegorischer Weise. Vor allem diese Aspekte bieten der Kunst im Nationalsozialismus – gleiches gilt für die hiermit verbundenen schriftlichen Diskurse etwa bei Julius Langbehn – wichtige Ansatzpunkte, ohne die Skulptur im Deutschen Kaiserreich per se als proto-nationalsozialistische Kunst abstempeln zu wollen. Derlei ideologische Verengungen sind ebenso unfruchtbar wie zu einseitige Perspektivierungen, die nach dem Modernismus von Formen, eventuell noch Materialien fragen und hiermit gar Wahrheits- beziehungsweise Wahrhaftigkeitsansprüche5 verknüpfen. Im Deutschen Kaiserreich wurde die Ikonografie der Arbeit über einen abstrakten Begriff von Arbeit verhandelt. Sie stellte sich damit keineswegs als eine dar, die Arbeiter oder Arbeiterinnen als historische Personen thematisieren wollte oder gar für sie geschaffen wurde. Und dennoch konnte allein durch die Thematisierung dieses hochpolitischen Bereiches (etwa im öffentlichen Denkmal) der von staatlicher Seite positiv aufgeladene Begriff von Arbeit paradoxerweise in Gefahr geraten, denn in seiner prominenten Präsentation bot er Ansatzpunkte für unterschiedliche Aneignungsstrategien, die sich nicht gänzlich steuern ließen. 6 Kunst entwickelt Eigengesetzlichkeiten und kann deshalb nur bedingt gezielt zur Formung von sozialer Wirklichkeit beitragen, oder um es pointiert mit Frank Zappa zu sagen: »There are more love songs than anything else. If songs could make you do something we’d all love one another.«7
5 | Zur Frage nach dem Evidenzanspruch von Künstlern und Kunstwerken allgemein vgl. etwa Siegmund 2007. 6 | Hier liegen auch die Gründe dafür, dass Constantin Meuniers Denkmal der Arbeit zunächst nicht verwirklicht wurde. 7 | Zappa zit. n.: Gioia 2015, S. 230.
7
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Literatur- und Quellenverzeichnis
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b) Abbildungen Abb. 2: Membeth, https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Tuaillon#/media/File: Luetzowplatz.Erymanthischer.Eber.jpg vom 14.06.2018 Abb. 5: Norud, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kulturdenkmale_in_Lehesten#/media/ Fi le:Schmiedebach_Friedhof_mit_Kapelle_und_Grabst%C3%A4tte_Karl_ Oertel_ Grabmal_Oertel_1903_1904_von_Hermann_Obrist.jpg vom 14.06.2018 Abb. 6: SteffenG, https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerschlachtdenkmal#/ media/File:V%C3%B6lkerschlachtdenkmal_20131030_151606.jpg vom 14.06.2018 Abb. 11: Gertrud K., https://www.flickr.com/photos/gertrudk/30364445703 vom 14.06.2018 Abb. 12: Martin Geisler, https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Kaffsack#/media/ File:Kaffsack_Telegraphie.jpg vom 14.06.2018 Abb. 36: ONAR, https://de.wikipedia.org/wiki/Weinhaus_Rheingold#/media/ File:Berlin_Weinhaus_Rheingold_Steinsaal_Gewoelbepfeiler_3_DKD.jpg vom 14.06.2018 Abb. 37: ONAR, https://de.wikipedia.org/wiki/Weinhaus_Rheingold#/media/File: Berlin_Weinhaus_Rheingold_Fassadenrelief_Kunst_DKD.jpg vom 14.06.2018 Abb. 38: Assenmacher, https://de.wikipedia.org/wiki/Victoria_Versicherung_(Berlin Kreuzberg)#/media/File:Victoria-Versicherung_Lindenstra%C3%9Fe_ Haupteingang.jpg vom 14.06.2018
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»Arbeitende Bilder«
Abb. 41: Kürschner, https://de.wikipedia.org/wiki/Moltkedenkmal_(D%C3% BCsseldorf)#/media/File :Moltke-Denkmal_D%C3%BCsseldorf,_Schmied_mit_ Knabe,_2011_(2).jpg vom 14.06.2018 Abb. 42: Carolus Ludovicus, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wehrhafter_ Schmied,_Aachen,_Brunnenfigur.jpg vom 14.06.2018 Abb. 52: Paebi, https://de.wikipedia.org/wiki/Vincenzo_Vela#/media/File:Gotthardtunnel01. JPG vom 14.06.2018 Abb. 53: Ad Meskens, https://en.wikipedia.org/wiki/Guillaume_de_Groot#/media/ File:Brussel_beurs_ Nijverheid.JPG vom 14.06.2018 Abb. 54: EvaK, https://de.wikipedia.org/wiki/Constantin_Meunier#/media/File:Der_ Hafenarbeiter_Friedenbruecke_Frankfurt_1.jpg vom 14.06.2018 Abb. 56: Georges Jansoone, https://nl.wikipedia.org/wiki/Constantin_Meunier#/ media/File:Constantin_Meunier005.jpg vom 14.06.2018 Abb. 61: Jotquadrat, https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Geyer#/media/File: FlussSchiffahrt_Geyer.jpg vom 14.06.2018 Abb. 62: Ichwarsnur, https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Br%C3%BCtt#/media/ File:Standbild_Gerettet_Flensburg_Seitenansicht.jpg vom 14.06.2018 Abb. 66: James Steakley, https://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied#/media/File: Siegfried,_das_Reichs schwert_schmiedend_1.JPG vom 14.06.2018 Abb. 67: Claus-Joachim Dickow, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Kaiser-WilhelmDenkmal,_ Hamburg#/media/File:Kaiser-Wilhelm-Denkmal_in_HamburgNeustadt_4.jpg vom 14.06.2018 Abb. 68: Claus-Joachim Dickow, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaiser-Wilhelm-Denkmal_in_ Hamburg-Neustadt_3.jpg vom 14.06.2018 Abb. 69: A. Savin, http://www.wikiwand.com/de/Nordfriedhof_(D%C3%BCsseldorf) vom 14.06.2018 Abb. 70: A. Savin, https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Hammerschmidt#/media/ File:Poppelsdorf-friedhof08.jpg vom 14.06.2018 Abb. 71: DIMSFIKAS, https://el.wikipedia.org/wiki/%CE%9A%CE%BF%CE% BD%CF%83%CF%84%CE%B1%CE%BD%CF%84%CE%AD%CE% BD_%CE%9C%CE%B5%CE%BD%CE%B9%CE%AD#/media/File:Meunier_-_ Monument_au_Travail,_Bruxelles_2011.JPG vom 14.06.2018 Abb. 75: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Jahrhundertbrunnen_Essen#/media/ File:Essen,_Jahrhundertbrunnen1.JPG vom 14.06.2018 Abb. 76: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Essen)#/media/File: Bismarckdenkmal,_Essen_01.jpg vom 14.06.2018
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abb. 77: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Essen)#/media/File: Bismarckdenkmal,_Essen_03.jpg vom 14.06.2018 Abb. 78: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Essen)#/media/File: Bismarckdenkmal,_Essen_06.jpg vom 14.06.2018 Abb. 79: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Essen)#/media/File: Bismarckdenkmal,_Essen_07.jpg vom 14.06.2018 Abb. 80: Wiki05, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Essen)#/media/File: Bismarckdenkmal,_Essen_04.jpg vom 14.06.2018 Abb. 81: Jaggele25, https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(Bremen)#/media/File: Bismarck-Denkmal_2007-2.jpg vom 14.06.2018
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Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
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Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
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