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German Pages [361] Year 2017
Nachträgliche Korrekturen sind kostenpflichtig)
Ulrike Schult ist Südslawistin und Osteuropahistorikerin und beschäftigt sich mit der Alltags- und Sozialgeschichte Südosteuropas im 20. Jahrhundert.
978-3-643-13690-9
LIT www.lit-verlag.de
LITIT
15 Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas
Bei der Austragung sozialer Konflikte um Löhne, Sozialleistungen und Anerkennung standen den Industriebelegschaften im sozialistischen Jugoslawien die Mittel der Selbstverwaltung zur Verfügung. Neben diesen nutzten sie informelle Wege, um ihre Interessen zu verfolgen. In mikrohistorischer Perspektive zeigt das Buch, wie zugänglich die verschiedenen Wege unterschiedlichen sozialen Gruppen in den Fabriken TAM (Maribor/Slowenien) und Zavodi Crvena Zastava (Kragujevac/Serbien) waren. Archivalien und Publikationen aus Slowenien und Serbien bilden die Grundlage für die Untersuchung.
Ulrike Schult
Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas
Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung
freigegeben:
Ulrike Schult
Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung Eine Mikrogeschichte sozialer Konflikte in der jugoslawischen Fahrzeugindustrie 1965-1985
LIT
Ulrike Schult
Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung
Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas herausgegeben von
Prof. Dr. Wolfgang Höpken (Universität Leipzig) und
Prof. Dr. Holm Sundhaussen (†)
Band 15
LIT
Ulrike Schult
Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung Eine Mikrogeschichte sozialer Konflikte in der jugoslawischen Fahrzeugindustrie 1965 – 1985
LIT
Umschlagbild: Delavci TAM na poti iz službe, 24. April 1961. Quelle: Webseite der Tageszeitung Veˇcer (http://www.podstresje.si/default.asp?kaj=1&id=508116).
Die Arbeit wurde mit einem Stipendium im DFG-Graduiertenkolleg 1412 Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie einem Stipendium für Forschungsreisen der Fritz und Helga Exner-Stiftung gefördert. Der Druck dieses Buches wurde mit einem Druckkostenzuschuss des Lehrstuhls für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig unterstützt. Die Philosophische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte) hat die vorliegende Arbeit im Oktober 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae – Dr. phil. angenommen. Die Promotion wurde im August 2016 abgeschlossen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-13690-9 Zugl.: Jena, Friedrich-Schiller-Universität, Diss., 2016
©
LIT VERLAG Dr. W. Hopf
Berlin 2017
Verlagskontakt: Fresnostr. 2 D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-62 03 20 E-Mail: [email protected] http://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag Fresnostr. 2, D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-620 32 22, E-Mail: [email protected] E-Books sind erhältlich unter www.litwebshop.de
Danksagung Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU Jena) am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte verfasst und im September 2015 eingereicht habe. Das Promotionskolloqium fand im August 2016 statt. Ich möchte mich bei einer Reihe von Menschen bedanken, die dazu beigetragen haben, dass die Arbeit in dieser Form entstehen konnte. Meinem akademischen Betreuer Joachim von Puttkamer von der FSU Jena bin ich für die verlässliche Beratung im Entstehungsprozess der Arbeit zu Dank verpflichtet. Auch den fruchtbaren Rahmen, in dem die Arbeit in Jena entstanden ist, hat er wesentlich geprägt. Wolfgang Höpken von der Universität Leipzig bin ich für die langjährige wissenschaftliche Begleitung sowie für wichtige Impulse für diese Arbeit dankbar. Ich danke Sabine Rutar für die anregenden Gespräche und vielfache Ermutigung. Ebenfalls hat mich das Interesse an meiner Arbeit, das Radina Vučetić, Ivana Dobrivojević, Tanja Petrović, Ulf Brunnbauer, Marsha Siefert und Susan Zimmermann gezeigt haben, bestärkt. Von ihnen kamen hilfreiche Ratschläge für die Archivarbeit, praktische Unterstützung in Serbien und Slowenien sowie wertvolles Feedback im Entstehungsprozess der Arbeit. Sehr anregend waren der Gedankenaustausch mit den anderen „jugoslawischen ArbeiterInnen“ Kathrin Jurkat, Marko Miljković, Ivan Rajković und Goran Musić. Für ihre Zeit und Mühe bei der Durchsicht des Manuskripts danke ich vor allem Angelika Schult. Neben ihr haben mich André Kapuczinski, Annegret Beier, Daniel Lepetit, Dorothea Warneck, Heiner Grunert, Jana Fuchs, Jana George, Janine Söllinger-Weist, Lisa Schlegel, Martin Czygan, Nicole Immig und Sabine Stach mit ihrer Textkritik unterstützt. Danken möchte ich auch den MitarbeiterInnen in Bibliotheken und Institutionen in Serbien und Slowenien. Ehemaligen ArbeiterInnen von Zastava und TAM danke ich dafür, dass sie in Hintergrundgesprächen ihre Erinnerungen an den Arbeitsalltag in den beiden Fabriken mit mir geteilt haben. Für die finanzielle und ideelle Unterstützung bin ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Dank verpflichtet. Als Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs 1412 Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa konnte ich in einem anregendem Umfeld konzentriert am Manuskript arbeiten. Das Imre-Kertész-Kolleg Jena und die Fritz
und Helga Exner-Stiftung ermöglichten mir Studien- und Forschungsreisen, bei denen ich meinen Horizont erweiterte und mir die Archivsituation in meinem Forschungsgebiet erschloss. Schließlich unterstützte der Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig finanziell den Druck dieses Buches.
Inhaltsverzeichnis Danksagung..........................................................................................................5 1. Einleitung..........................................................................................................9 2. Ideologischer und ökonomischer Hintergrund...............................................33 2.1. „Die Fabriken den Arbeitern“: Ideologisch-normative Perspektiven.......34 2.2. Wirtschaftsentwicklung zwischen Plan und Markt...................................41 3. Zwei jugoslawische Fahrzeugfabriken...........................................................47 3.1. Die Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM in Maribor/ Slowenien.....47 3.2. Die Zavodi Crvena zastava – Zastava in Kragujevac/ Serbien................53 4. Formale Wege der Konfliktaustragung...........................................................61 4.1. Kollektive Formen der Konfliktaustragung..............................................66 4.1.1. Partikularinteressen der dezentralisierten Betriebsteile...................71 4.1.2. Löhne als zukünftige Schulden: Die Verhandlungsmacht der Belegschaften..................................................................................82 4.1.3. Kollektive Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte......98 4.2. Individuelle Formen der Konfliktaustragung.........................................102 4.2.1. Individuelle Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte. 103 4.2.2. Zunehmende Komplexität in den 1970er Jahren I: Die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle..............................................122 4.2.3. Zunehmende Komplexität in den 1970er Jahren II: Die Gerichte der vereinten Arbeit........................................................132 4.3. Zwischenfazit..........................................................................................144 5. Informelle Praktiken.....................................................................................147 5.1. „Undisziplinierte ArbeiterInnen“ oder die Kombination mehrerer Einkommensquellen...............................................................................149 5.2. Disziplinarische Regulierung und ihre eingeschränkte Reichweite: Kooperative Praktiken............................................................................165 5.3. Klientelismus und Korruption: Gewollte, notwendige und illegitime Begünstigungen......................................................................................182 5.4. Fluktuation: Arbeit als Ware?.................................................................199 5.5. Streiks: Provokante Gratwanderungen zwischen dem im System Akzeptablen und Inakzeptablen.............................................................216 5.6. Zwischenfazit..........................................................................................232 6. Soziale Differenzierung der Belegschaften..................................................237
6.1. Ideologisch prominente Kategorien: „Klasse“ und Teilnahme am Kampf der kommunistischen PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg.......239 6.2. Qualifikation/ Beruf: Un- und Angelernte, qualifizierte MetallarbeiterInnen................................................................................255 6.3. Alter: Junge Beschäftigte........................................................................274 6.4. Geschlecht: Die „sozialistische Emanzipation“ von Frauen im Industriebetrieb.......................................................................................289 6.5. Herkunft: Land-Stadt- und jugoslawische BinnenmigrantInnen............309 6.6. Zwischenfazit..........................................................................................326 7. Resümee........................................................................................................329 Abkürzungen.....................................................................................................337 Tabellen und Abbildungen................................................................................341 Quellen- und Literaturverzeichnis....................................................................343
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1. Einleitung Die sozialistischen Systeme Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten soziale Konflikte in der Industrie nicht grundlegend lösen. Erst ansatzweise wurde in historischer Perspektive diskutiert, wie die Belegschaften diese Konflikte in jugoslawischen Industriebetrieben, in denen die Arbeiterselbstverwaltung die zentrale Planwirtschaft der unmittelbaren Nachkriegsjahre ersetzt hatte, austrugen. Die Selbstverwaltung als ideologischer Anspruch und konkrete Betriebsverfassung prägte die heterogene Gruppe von IndustriearbeiterInnen und ihr Verhalten in sozialen Konflikten. Auseinandersetzungen um knappen Wohnraum, Einkommenshöhen und Anerkennung fanden in den Fabriken des serbischen Kragujevac und des slowenischen Maribor sowohl in den Gremien der Selbstverwaltung als auch auf alternativen Schauplätzen statt. Ein Blick auf das Zusammenspiel dieser vielfältigen Handlungsformen und auf die sozialen Unterschiede innerhalb der Belegschaften, die sich in den Konflikten niederschlugen, ist daher äußerst lohnenswert. Wer die entsprechenden Verbindungen hatte, konnte Netzwerke aktivieren. Wer keine Wohnung bekam, musste pendeln, ein Haus bauen, auf einen Platz im Wohnheim der Fabrik hoffen oder als UntermieterIn hohe Mieten zahlen. Um dafür oder für Konsum Einkommen aufzustocken, griffen ArbeiterInnen auf Nebenerwerb aus verschiedenen Quellen zurück. Wer im heimatlichen Umland der Fabrik Land bewirtschaftete, nebenbei Reparaturen erledigte oder Handel betrieb, konnte damit in der Fabrik Anstoß erregen. Unzufriedene SpezialistInnen hatten die Möglichkeit damit zu drohen, auf einen Arbeitsplatz in einem anderen Unternehmen oder im Ausland zu wechseln, ArbeiterInnen streikten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es existierten damit vielfältige informelle Wege, auf denen Belegschaftsmitglieder ihrer Interessen verfolgten. Ein leitender Angestellter, ein hoch qualifizierter männlicher Arbeiter, ein Migrant aus Bosnien in einer slowenischen Fabrik, eine teilqualifizierte weibliche Arbeiterin und ein junger unqualifizierter Arbeiter hatten jeweils unterschiedliche Chancen, mit den Mitteln der Selbstverwaltung oder auf informellem Wege ihre Interessen zu verfolgen. Diese Dynamiken wie auch der diskursive Umgang mit ihnen sorgte in der historischen Forschung bisher für wenig Diskussion. Als historische Mikrostudie geht dieses Buch der Frage nach, wie die heterogenen Industriebelegschaften zwischen 1965 und 1985 unter den Bedin-
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gungen der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung soziale Konflikte austrugen und wie sie dabei mit der politischen Führung im Einparteienstaat interagierten. Damit wird das soziale Gefüge im Alltag selbstverwalteter Industriebetriebe weiter erhellt und der Charakter des jugoslawischen Sozialismusmodells präziser als bisher bestimmt.
Problemaufriss und Fragestellung Die jugoslawische Gesellschaft erlebte in der Periode der staatssozialistischen Periode grundlegende Transformationen. Diese betrafen sowohl die politische, wirtschaftliche als auch die Ebene der Lebensgewohnheiten der Bevölkerung. Die kommunistische Einparteienherrschaft forcierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine rasche Industrialisierung des vormaligen Agrarlandes, sodass zwischen 1945 und 1965 der Anteil der in der Landwirtschaft aktiven Bevölkerung von 75 % auf 57 % sank.1 Der Wiederaufbau des vom Krieg stark zerstörten Landes überlagerte sich dabei mit intensiven Migrationsprozessen vom Land in die schnell wachsenden Städte. Der Zuzug in die Zentren war dabei nicht wie z. B. in Bulgarien, Albanien und der Sowjetunion durch ein Meldesystem beschränkt. Gleichzeitig erlebte Jugoslawien in dieser Periode ein außerordentliches Wirtschaftswachstum und Lebensstile veränderten sich in Anbetracht konsumorientierter westlicher Vorbilder. Im Zuge all dieser Veränderungen stiegen auch die Erwartungen der Bevölkerung an ihre Lebensbedingungen. Ab den 1970er Jahren machte sich nach dieser ausgeprägten Wachstumsphase die Krise der Industriemoderne, die über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg wirkte, auch in Jugoslawien bemerkbar. Sie traf Jugoslawien nur wenige Jahrzehnte, nachdem die umfassende Industrialisierung überhaupt begonnen hatte. Sowohl die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse als auch die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen, die ab den 1970er Jahren in unterschiedlicher Intensität spürbar waren, gingen mit vielfältigen sozialen Verwerfungen einher. Unter den Bedingungen knapper Ressourcen bei gleichzeitig gestiegenen Ansprüchen an den Lebensstandard war es problematisch, die wachsende Stadtbevölkerung mit Wohnraum und Arbeit zu versorgen. Die Konkurrenz um diese Güter war dementsprechend groß und an ihr entzündeten sich soziale Konflikte. Veränderte Arbeits- und Lebensweisen, die sich auch in modifizierten Familienstrukturen und Rollenbildern ausdrückten, erhöhten die Komplexität an Herausforderungen, der sich die jugoslawische Gesellschaft ausgesetzt sah. Weitere Umstände, die die sozialen Konflikte prägten, waren der partizipative Anspruch der jugoslawischen kommunistischen Ideologie. Mit der 1950 eingeführten Selbstverwaltung sollte den ArbeiterInnen die Macht in den Fabriken übergeben werden. In der Mitte der 1960er Jahre folgte die bedingte Liberalisierung der jugoslawischen Wirtschaft. Doch Stechuhr und Selbstverwaltung waren nicht ohne weiteres miteinander vereinbar: Die Vision, traditionelle Hier1
Marie-Janine CALIC, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, 206.
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archien und Kontrollmechanismen innerhalb von kapitalistischen aber auch planwirtschaftlich geführten Industriebetrieben zu durchbrechen, musste sich bald an den Widersprüchen messen lassen, die sich in der Praxis ergaben. Die kommunistische Führung reagierte auf das anhaltende Machtgefälle zwischen ArbeiterInnen und Betriebsleitungen sowie auf Protest, der sich gegen andere Elemente ihrer Herrschaftspraxis ab dem Ende der 1960er Jahre öffentlich bemerkbar machte, unter anderem mit häufigen Reformen der Selbstverwaltung. Diese beinhalteten sowohl die Umverteilung von Kompetenzen zwischen Betriebsleitung, den Arbeiterräten sowie verschiedenen Ebenen innerhalb der Unternehmen als auch die Freiheit der Betriebe, Geschäftsentscheidungen unabhängig von staatlichen Maßgaben zu treffen. Obwohl die jugoslawische Bevölkerung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand erreichte, entstanden soziale Konflikte, die sich in den Fabriken vor allem an der Verteilung von Wohnraum, Einkommen und sozialer Anerkennung bemerkbar machten. Deshalb steht hier im Fokus, wie sich IndustriearbeiterInnen in den konkreten Umgebungen der Betriebe in Auseinandersetzungen um diese Güter verhielten. Die Situation der ArbeiterInnen war in mehrfacher Hinsicht zentral für die Legitimität der Herrschenden. Einerseits hing die Leistungsfähigkeit der Industrie zu einem guten Stück von den ArbeiterInnen ab. Andererseits begründeten die KommunistInnen ihren Herrschaftsanspruch damit, für die Interessen der Arbeiterklasse einzustehen. In Jugoslawien bekam dieser Anspruch durch die Arbeiterselbstverwaltung im politischen Selbstverständnis des Staates eine herausgehobenere Bedeutung als in anderen kommunistisch geführten Staaten. Die Modi der Interessenvertretung, welche die Selbstverwaltungsordnung formal zuließ zu betrachten, lässt sich sinnvoll dadurch ergänzen, die im Informellen komplementär dazu existierenden Handlungsoptionen zu berücksichtigen. Eine weitere oft ausgeblendete Dimension bilden die sozialen Voraussetzungen, die sich darauf auswirkten, ob und inwieweit verschiedene Gruppen von Beschäftigten überhaupt in der Lage waren, ihre Interessen zu vertreten. Unter anderem deswegen kommt der Analyse des diskursiven Umgangs mit sozialen Konflikten in öffentlichen und nichtöffentlichen Foren ein hoher Stellenwert zu. Das Verhalten von ProduktionsarbeiterInnen ist jedoch vielfach erst in der Interaktion mit Angestellten der Leitung und Verwaltung der Unternehmen auszumachen. Für die Untersuchung ist erstens von Interesse, wie Beschäftigte die formalen Mittel, die ihnen die Selbstverwaltung an die Hand gab, nutzten und welche Art von kollektivem und individuellem Handeln sich dabei in sozialen Konflikten manifestierte. Daran schließen sich weitere Fragen an: Inwieweit und auf welche Art unterstützte der formale Rahmen der Selbstverwaltung kollektives Handeln von ArbeiterInnen? Inwieweit bezog sich kollektives Handeln auf übergeordnete Interessen der ArbeiterInnen? Förderte die Selbstverwaltung also eher partikulare Interessen oder die Solidarität innerhalb von Belegschaften? Zweitens standen ArbeiterInnen informelle Mittel zur Verfügung, mit denen sie ihre Interessen verfolgten. Beschäftigte versuchten z. B., die Stechuhr zu
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entmachten und Kontrolle über ihre Arbeitszeit auszuüben, was das Management verständlicherweise für sich beanspruchte. Damit einhergehendes Konfliktpotential äußerte sich in Verhandlungen zu „Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin“. Auf eine ganz andere Art standen ArbeiterInnen in Streiks für höhere Löhne ein und bewegten sich damit ebenfalls außerhalb bzw. am Rande des formalen Rahmens der Selbstverwaltung. Welche weiteren Formen informeller Interessenvertretung bildeten sich heraus und wie wurden sie in öffentlichen und nichtöffentlichen Foren reflektiert? Vor allem interessiert dabei, wie die AkteurInnen in den Betrieben und an der Staatsspitze die sehr heterogenen informellen Strategien deuteten, wenn diese von der geltenden ideologischen und institutionellen Ordnung abwichen. Hier werden diese Formen der Konfliktaustragung jedoch nicht allein als Abweichungen von einer gesetzten Norm gedeutet, sondern als Strategien, mit denen Beschäftigte auf die Herausforderungen der politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten reagierten. Dem dritten Analysekomplex liegt die Annahme zugrunde, dass eine starke Identifikation mit der „Arbeiterklasse“ unter den ArbeiterInnen durch vielfache soziale Fragmentierung infrage zu stellen ist. Gleichwohl war „Klasse“ innerhalb von Industriebetrieben eine deutlich hervortretende Kategorie sozialer Ungleichheit. Jedoch manifestierte sich auch unter ProduktionsarbeiterInnen entlang mehrerer Linien soziale Ungleichheit: Der Qualifikationsgrad/ Beruf, das Alter, das Geschlecht sowie die Herkunft beeinflussten die soziale Position von ArbeiterInnen auf erhebliche Weise, sodass sich diese Fragen ergeben: Welcher Anteil der Belegschaften fiel in die jeweilige Kategorie und wie wirkten sich die Faktoren, die soziales Gefälle markierten, auf die Teilhabe an Entscheidungsprozessen der Selbstverwaltung sowie auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen aus? Welche typische Konstellationen von Kategorien existierten, an die in besonderer Weise soziale Privilegien oder Nachteile geknüpft waren? Nicht zuletzt lohnt es sich auch hier nachzuzeichnen, auf welche Weise öffentliche und nichtöffentliche Foren in Betrieb und Gesellschaft diese Ungleichheiten thematisierten und wie sie sie in Bezug auf die herrschende Ideologie bewerteten. Mit der Selbstverwaltung rückte man in Jugoslawien die Emanzipation von IndustriearbeiterInnen stärker als in anderen kommunistisch geführten Ländern in den Mittelpunkt der Herrschaftslegitimierung. Hier interessiert, wie schwer die Bedürfnisse dieser Schicht im konkreten Betriebsalltag wogen und wie sie konkret im System der betrieblichen Selbstverwaltung zum Tragen kamen. Auf welche Weise forderten Beschäftigte in Industriebetrieben die von der Staatsführung gemachten Versprechen ein und wie bezogen sie sich auf sie? Welche Relevanz konnten diese Legitimationsangebote unter Belegschaften von Industriebetrieben entfalten und wohnte ihnen nicht gleichzeitig ein Potential inne, welches die Legitimität der herrschenden Ordnung schwächte? Der Blick allein auf die Mikroebene reicht jedoch nicht aus, weshalb die Mikro- und Makroebene von Gesellschaft in ihrem Zusammenspiel analysiert werden: Auf welche Resonanz stieß das Verhalten von ArbeiterInnen bei staatlicher Politik. Wie wirkten sich wiederum die Reaktionen der Staatsspitze und die
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der AkteurInnen in den Betrieben wechselseitig aufeinander aus? Anders gesagt: Welche Strategien wandte der kommunistische Staat zu unterschiedlichen Zeiten an, um unter IndustriearbeiterInnen auf Loyalität gegenüber der bestehenden Ordnung zählen zu können? Und schließlich: Als wie stark können die Bindekräfte angesehen werden, welche die Arbeiterselbstverwaltung und egalitäre Werte im sozialistischen Jugoslawien zu verschiedenen Zeiten unter IndustriearbeiterInnen zu erzeugen in der Lage waren? Die Frage inwiefern sich die jugoslawische Betriebsrealität von der in anderen sozialistischen Systemen unterschied oder ihr ähnelte, liegt nahe. Obwohl hier punktuell Vergleiche gezogen werden, leistet diese Arbeit keine systematische Einordnung des jugoslawischen Falles in den Kontext der kommunistisch geführten Staaten Europas. Die Art der hier verwendeten Quellen bedingt den Fokus auf Phänomene, bei denen die spannungsreichen Facetten in den Beziehungen zwischen den unterschiedlichen AkteurInnen zum Vorschein kamen. Damit soll nicht behauptet werden, dass sich die Industriebelegschaften mit dem sozialistischen Gesellschaftsentwurf in keiner Weise identifizierten. Ebenso soll nicht unterschlagen werden, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung ArbeiterInnen eine Aufmerksamkeit einräumte, welche für ihre KollegInnen in liberalen Demokratien und kapitalistischen Wirtschaftssystemen undenkbar waren. Dennoch stehen die Brüche und Ambivalenzen dieses Systems im Vordergrund, die aus dem Auseinanderklaffen von ideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Praxis resultierten.
Konzepte und Begriffe Die kontroversen Auseinandersetzungen zwischen der strukturgeschichtlich orientierten Sozialgeschichte und alltags- und kulturgeschichtlichen Ansätzen, die seit dem cultural turn davon geprägt sind, die Wahrnehmungen und Deutungen der Handelnden zu berücksichtigen, überwand die deutsche Geschichtswissenschaft mit den 1990er Jahren weitestgehend. Es entstand Raum dafür, beide Herangehensweisen zu integrieren. Alf Lüdtke plädiert zurecht dafür, sozialstrukturell erfassbare Prozesse wie Urbanisierung und Industrialisierung aus einer mikrohistorischen Perspektive zu erfassen. Das bedeutet für die Arbeit, die Wechselwirkung zwischen den Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen von lokalen AkteurInnen in Industriebetrieben und politischen, ökonomischen Entwicklungen im gesamtjugoslawischen Maßstab einzubeziehen. Dabei prägten zum einen Veränderungen auf der Makroebene die Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von AkteurInnen auf der Mikroebene, zum anderen wirkte soziales Handeln auf der Mikroebene aber auch auf die übergeordneten Strukturen zurück. Gesellschaftliche „Strukturen und die Art und Weise, wie sie von der Bevölkerung gedeutet wurden, sind nicht getrennt voneinander betrachtbar. Dementsprechend rücken hier die Repräsentationen dieser Deutungen in den Blick. Sie vermitteln sich hauptsächlich durch Texte, die sowohl von Eliten als auch Nicht-Eliten produziert wurden und im foucaultschen Sinne als Teile von übergreifenden Diskursen zu begreifen sind. Deren Produktion war spezifischen
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Bedingungen der disziplinierenden Kontrolle und Organisation unterworfen.2 Im Sinne Bourdieus Plädoyer, die soziale Position der kommunizierenden Subjekte einzubeziehen, werden hier den AkteurInnen und ihren Zugangsmöglichkeiten zu Sprache und den damit verbundenen Möglichkeiten große Bedeutung beigemessen.3 Der Staat, dessen außerordentliche Stellung Bourdieu bei der Produktion von Denkkategorien hervorhebt, war in staatssozialistischen Systemen besonders relevant. Mit Martin Sabrows Überlegungen zu Vergangenheitsdiskursen in der DDR aus dem Jahr 2000 lässt sich die Bedeutung dieser Instanz gut fassen. Der „Herrschaftsdiskurs“ war „vor allem von den ideologischen Normen und politischen Ansprüchen der sozialistischen Diktatur bestimmt.“4 Trotz dieser relativen Macht, die die herrschende Partei über den von Sabrow untersuchten Vergangenheitsdiskurs besaß, liefen dennoch Reflexionsprozesse ab. Ähnlich verhielt es sich mit der Kontrolle der jugoslawischen KommunistInnen über Diskurse zur Praxis der Selbstverwaltung in den Betrieben und sozialer Ungleichheit. Obwohl der BdKJ ähnlich wie die SED Kontrolle ausübte, eröffnete sich auch innerhalb der so kanalisierten Diskurse Raum für Aushandlungsprozesse. Somit wird hier davon ausgegangen, dass die zulässigen Deutungen der sozialen Wirklichkeit mitunter auch widersprüchlich sein konnten, sich entwickelten und damit die Grenzen des Sagbaren verschiebbar waren. Eine solche Perspektive fehlt bisher in der jugoslawienbezogenen Forschung zu industrieller Arbeit. Die „Herrschaft der Arbeiterklasse“ und das Organisationsprinzip Selbstverwaltung fungierten als wesentliche Legitimierungselemente des jugoslawischen Sozialismus. Insofern war die soziale Welt der Betriebe herrschaftsrelevant und Abweichungen von den Normen der Selbstverwaltung und die sozialen Konflikte in den Betrieben spielten sich in einem ideologisch stark aufgeladenen Feld ab. Für die Untersuchung sind daher folgende Begriffe zentral: Herrschaft und Legitimität, soziale Konflikte, Formalität und Informalität sowie soziale Differenzierung. Oft wurde das Herrschaftssystem Jugoslawiens unter Josip Broz Tito als „liberaleres“ und „freiheitlicheres“ im Kontrast zu den übrigen staatssozialistischen Ländern hervorgehoben. Nichtsdestotrotz handelte es sich um eine kommunistische Einparteienherrschaft, die in bestimmten Zyklen Repressivität und Liberalität erlebte.5 Von einem Herrschaftssystem auszugehen, das die totale Kontrolle einer Gesellschaft und die exklusive Gestaltung der Beziehungen in 2
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Vgl. Hannelore BUBLITZ, Diskursanalyse als Gesellschafts-„Theorie“. „Diagnostik“ historischer Praktiken am Beispiel der „Kulturkrisen“-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende, in: Hannelore BUBLITZ u. a. (Hgg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt 1999, 22–48, 23–25. Vgl. Pierre BOURDIEU, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990, 75. Martin SABROW, Einleitung. Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, in: DERS. (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR. Köln, Wien u.a. 2000, 9–35, 19.
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ihr durch die Machthabenden annimmt, ist dagegen wenig plausibel. Vielmehr ist Jürgen Kocka zuzustimmen, dass von einer „Durchherrschung“ der DDRGesellschaft durch die kommunistischen MachthaberInnen keine Rede sein konnte, allenfalls sei dies ein Anspruch der Herrschenden gewesen. Dennoch aber sei „die Gesellschaft der DDR in hohem Maß als künstliches Produkt politischer Herrschaft, von dieser ermöglicht, durchformt und abhängig.“6 Dies gilt auch für Jugoslawien, wobei die Rolle der Beherrschten genauer betrachtet werden muss. Alf Lüdtkes Konzept von Herrschaft als sozialer Praxis setzt voraus, dass sowohl Herrschende als auch Beherrschte als AkteurInnen auftreten.7 Unter Rückgriff auf Max Weber begreift Lüdtke Herrschaft als eine Form von Machtausübung oder „Übermächtigung“, die auf formaler Autorität beruht. Macht bedeutet bei Weber die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.8 Herrschaft, der die Chance innewohnt, für Befehle Gehorsam zu finden und die für ihre Machtausübung formale Autorität besitzt, bedarf dabei der Legitimität. Lüdtke lenkt den Blick auf die Asymmetrie von Machtverhältnissen, welche in der Praxis von Herrschen und Beherrscht-Werden existiert. In dieser Sicht verfügen auch die Nicht-Eliten über Macht, denn in einem Kräftefeld, das nicht als zweipolig gedacht wird, interagieren Herrschende und Beherrschte miteinander und sind voneinander und von anderen abhängig. Dies gilt auch für die Produktion von Legitimität in jugoslawischen Industriebetrieben. Der mikrohistorische Untersuchungsrahmen der Fabriken ermöglicht es, die Herrschaftspraktiken in der Arbeitsumgebung der jugoslawischen Bevölkerung differenziert in den Blick zu nehmen. Wenn hier soziale Konflikte analysiert werden, dann bezieht sich der Begriff einerseits auf die konkreten Umgebungen der Betriebe. Konflikte, die sich aus den unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen verschiedener Gruppen ergaben, betrafen sowohl ihren materiellen als auch ihren symbolischen Status im sozialen Gefüge der Fabrik. Andererseits erlaubt die Bezeichnung sozialer Konflikt aber auch, Prozesse, die sich auf höheren gesellschaftlichen und politischen Ebenen abspielten, zu erfassen. Ob und wie soziale Diffe5
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Eine differenzierte Betrachtung der Qualität kommunistischer Herrschaft in Jugoslawien unternimmt: Wolfgang HÖPKEN, „Durchherrschte Freiheit“. Wie „autoritär“ (oder wie „liberal“) war Titos Jugoslawien?, in: Hannes GRANDITS / Holm SUNDHAUSSEN (Hgg.), Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat? Wiesbaden 2013, 39–65. Jürgen KOCKA, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut KAELBLE / Jürgen KOCKA / Hartmut ZWAHR (Hgg.), Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, 547– 553, 550, 552. Vgl. Alf LÜDTKE, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: DERS. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthroplogische Studien. Göttingen 1991, 9–63. Vgl. Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 51980, 28.
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renzierungen sowie unerwünschte Entwicklungen in der betrieblichen Selbstverwaltung in Bezug auf die herrschende Ideologie thematisiert wurden, konnte die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Forschung in Jugoslawien bis in die Mitte der 1980er Jahre nicht öffentlich fragen. Damit, wie die politische Elite auf diese Verwerfungen reagierte, wurde sich ebenfalls bis dato kaum auseinandergesetzt. Es war im ideologischen Anspruch des Selbstverwaltungssystems angelegt, dass viele dieser Konflikte aufgehoben würden. Daher rührt das besondere Interesse, soziale Auseinandersetzungen und ihre Manifestationen in und ihre Auswirkungen auf die Selbstverwaltungspraktiken zu analysieren. Dass die Konflikte anhielten, lag unter anderem an den Bedingungen, unter denen die Arbeiterselbstverwaltung verwirklicht werden sollte. Jugoslawien befand sich in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg in einem rapiden Industrialisierungsprozess, in dem innen- und außenpolitischen Destabilisierungen drohten und das Land sich mit der Markt- und Grenzöffnung den Einflüssen global wirkender Wirtschaftszyklen aussetzte. Häufige Reformen und ein sich ständig verzweigendes Institutionengefüge der Selbstverwaltung erzeugten Unsicherheit bei den AkteurInnen. Geringe Wirtschaftskraft zu Kriegsende und später schwankende Wirtschaftsleistung, die sich unter anderem in der Knappheit von Wohnraum und früh genug auch von Arbeitsplätzen äußerte, stellten Stoff für soziale Konflikte dar. Besonders schwer wiegt dabei, dass große Gruppen von IndustriearbeiterInnen, die gemäß der visionären Ziele der Arbeiterselbstverwaltung zu den bestimmenden Kräften in diesem Gesellschaftsgefüge werden sollten, sich häufig in marginalen Positionen wiederfanden. Darüber hinaus schufen Sozialismus und Arbeiterselbstverwaltung teils gar neue Formen von Benachteiligung, anstatt soziale Konflikte abzumildern, in denen ProduktionsarbeiterInnen auf unterlegene Positionen verwiesen waren. Eine weiterer zentraler Aspekt in der Analyse von Aushandlungsprozessen im selbstverwalteten Industriebetrieb ist die Bedeutung informeller Strukturen und Handlungsweisen. Thomas Lindenberger präzisiert für die DDR: Die konkrete Ausübung von Herrschaft folgt demnach nicht ohne weiteres den durch ihre formalen Strukturen vorgegebenen Wegen. Sie ist zugleich von in sie eingelagerten informellen Strukturen und Handlungsweisen geprägt, die nicht auf die Logik des Befehlens und Gehorchens reduziert werden können.9
Allerdings bestanden die formal vorgesehenen Handlungsweisen in den jugoslawischen Industriebetrieben gerade nicht im Prinzip von Befehlen und Gehorchen, sondern in dezentralen Partizipationsrechten der Belegschaften mittels gewählter Arbeiterräte. Jedoch existierten auch dort informelle Formen der Interessenwahrnehmung seitens der ArbeiterInnen. Ein solches Spektrum informeller Handlungsstrategien ist mit Detlef Pollack nicht als autonomes System zu verstehen, sondern als komplementär im Verhältnis zu den geltenden Nor9
Thomas LINDENBERGER, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: DERS. (Hg.), Herrschaft und Eigensinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln, Weimar, Wien 1999, 13–44, 22.
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men. So waren „die informellen Gemeinschaften, etwa in den Betrieben, auf das System bezogen […] und [stellten] insofern keine Form systemunabhängiger Beziehungen dar […].“10 Der Nährboden für informelle Beziehungen, mit Pollack verstanden als Produkt von Widersprüchen und Abweichungen, welche durch Überregulierung erzeugt wurden, war in Jugoslawien mit seiner „institutionelle[n] Hypertrophie des Systems“11 reichhaltig. Pollack spricht im Zusammenhang mit dem Umgang der Staatsführung der DDR mit informellen Mechanismen weiter von der Notwendigkeit, „unintendierte Folgewirkungen offiziell auszugrenzen und propagandistisch zu bemänteln“.12 In eben diesem Sinne stellt sich für Jugoslawien die Frage, wie mit informeller Interessenwahrnehmung umgegangen wurde. Neben den Spielarten, in denen sie auftrat, lohnt es, ihr Verhältnis zu den formal gegebenen Strukturen auszuloten sowie den stabilisierenden und destabilisierenden Wirkungen der informellen Beziehungs- und Handlungskonstellationen nachzugehen. Während die Aufladung solcher Differenzen im Spannungsfeld von ideologischen Ansprüchen und sozialen Verhältnissen charakteristisch für staatssozialistische Systeme war, stellte die Existenz informeller Beziehungen in Industriebetrieben jedoch keinesfalls ein Spezifikum sozialistischer Wirtschaftssysteme dar.13 Noch im Jahr 1996 sprach Thomas Welskopp davon, dass es sich bei der Analyseperspektive der „Doppelwirklichkeit“ des kapitalistischen Industriebetriebes, nämlich des Ineinandergreifens von formalen und informellen Strukturen, um einen lediglich in der deutschsprachigen (historiografischen) Erforschung von Industriebetrieben unterbelichteten Blickwinkel handelt.14 Spätestens zehn Jahre danach hat die Bedeutung informeller Beziehungs-, Handlungs- und Kommunikationsräumen in Betrieben ihren festen Platz in der industriesoziologischen Forschung zugewiesen bekommen.15 Die jugoslawische Staatsspitze strebte in der konkreten alltagsweltlichen Umgebung der Fabriken danach, Legitimität für ihre Herrschaft zu erzeugen. Diese speiste sich aus wirtschaftlichen und sozialen sowie aus symbolischen und kulturellen Quellen.16 Für Jugoslawien erfüllte die Selbstverwaltung, die 10 Detlef POLLACK, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die
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DDR-Gesellschaft homogen?, Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), H. 1, 110– 131, 122. HÖPKEN, „Durchherrschte Freiheit“, 55. POLLACK, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR, 121. Vgl. Informelle Beziehungen, in: Karl-Heinz HILLMANN (Hg.), Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 52007, 372f., 372. Vgl. Thomas WELSKOPP, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), H. 1, 118–142, 131. Vgl. Fritz BÖHLE / Annegret BOLTE, Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Kooperation im Arbeitsalltag. Frankfurt/Main 2002; HILLMANN, Informelle Beziehungen. Vgl. Ulf BRUNNBAUER, Staat und Gesellschaft im Realsozialismus. Legitimitätsstrategien kommunistischer Herrschaft in Südosteuropa, in: Mihai-D. GRIGORE /
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sich als Ernstnehmen der emanzipativen Ziele des Marxismus und als Abgrenzung zu den als bürokratisch diffamierten kommunistischen Herrschaftsentwürfen sowjetischen Typs versta nd, eine wichtige Rolle. Wolfgang Höpken hält fest, dass diese politische Ordnung in Kombination mit weiteren legitimitätsstiftenden Elementen eine „negative Loyalität“ produzierte. Als „Bindekräfte“ des jugoslawischen Systems beschreibt er das außenpolitische Renommee, die „räumliche Ent-Grenzung“, welche sich in den ab 1962 nach beiden Richtungen offenen Grenzen ausdrückte sowie auf den relativen Wohlstand und die Konsummöglichkeiten.17 Offizielle Konstruktionen von „der Arbeiterklasse“, welche kommunistische Regierungen für ihre Herrschaft einsetzten, blendeten die vielfachen Differenzierungen innerhalb von Industriebelegschaften aus. Es ist daher wichtig, sich dem sowohl von Lüdtke als auch von anderen HistorikerInnen formulierten Anspruch zu stellen, den Mythos von der geeinten Arbeiterklasse aufzubrechen und die Heterogenität von Belegschaften in Industriebetrieben aufzudecken.18 Wenn man wie hier einen mikrohistorischen Zugang wählt, dann werden die differenzierten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse offenkundig, welche die Lebenslagen von ArbeiterInnen ausmachten. Bezieht man die Grundkategorien sozialer Ungleichheit wie der Stellung im Arbeitsprozess, Qualifikationsgrad, Geschlecht, Herkunft und Alter ein, so lassen sich betriebliche Konflikte und ihre Relevanz für die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung schärfer konturieren. Die soziale Differenzierung von IndustriearbeiterInnen war für die Legitimation kommunistischer Herrschaft relevant, wurden doch die ArbeiterInnen als einheitliche Klasse konstruiert.19 Soziale Ungleichheit, welche die Gesellschaft insgesamt, aber auch die Verhältnisse unter ProduktionsarbeiterInnen im Staatssozialismus charakterisierte, kann mit Jens Gieseke in gewollte und ungewollte Ungleichheit unterschieden werden.20 Gieseke versteht die gewollte Ungleichheit, wie etwa die ökonomische und politische Entmachtung der bürgerlichen Eliten oder die Konzentration von politischer Macht bei den Parteieliten, als
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Radu H. DINU / Marc ŽIVOJINOVIĆ (Hgg.), Herrschaft in Südosteuropa. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2012, 21–52. Vgl. HÖPKEN, „Durchherrschte Freiheit“, 39, 59–63. Vgl Alf LÜDTKE, Einleitung, in: DERS. (Hg.), Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993, 9–22, 13; Mark PITTAWAY, Introduction. Workers and Socialist States in Postwar Central and Eastern Europe, International Labor and Working-Class History (2005), H. 68, 1–8. Vgl. Jennifer SCHEVARDO, Zweite Sektion. „Arbeitsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, Arbeiterexistenzen“, in: Peter HÜBNER / Christoph KLESSMANN / Klaus TENEFELDE (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln, Weimar, Wien 2005, 215–226, 215. Vgl. Jens GIESEKE, Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, Zeithistorische Forschungen 10 (2013), H. 2, 171–189, 173, unter , 15.1.2015.
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konzeptuell in staatssozialistischen Ordnungen angelegt. Ungewollte Ungleichheit entstehe demgegenüber als ein Ergebnis „mangelnder Steuerungskapazität gegenüber konkurrierenden inneren oder äußeren Einflüssen“.21 Im Fall der Selbstverwaltung in Jugoslawien kann der differenzierte Blick auf Privilegierung und Benachteiligung verschiedener sozialer Kategorien die Voraussetzungen aufzeigen, unter denen sich die Aneignung der formellen und informellen Mechanismen des Systems vollzog. Daher ist es wichtig zu fragen, wie sich die soziale Differenz konstituierte, wie sie repräsentiert wurde und wie Selbstverwaltungsstrukturen, Massenorganisationen und die politische Führung mit diesem Widerspruch zum egalitaristischen Grundtenor des Sozialismus umgingen.
Fallbeispiele und Untersuchungszeitraum Für die Analyse sozialer Konflikte und ihrer Austragung unter den Bedingungen der Selbstverwaltung bieten sich Lokalstudien zu konkreten Fabriken an. Nur hier ist beobachtbar, wie sich Beschäftigte der Instrumente, die die Selbstverwaltung bereitstellte, und informeller Wege, die sich an die Strukturen der Selbstverwaltung anlagerten, bedienten. Da sich die Partei- und Massenorganisationen des sozialistischen Staats bis in die einzelnen Betriebsteile von Fabriken hinein erstreckten, wird hier überdies deutlich, in welcher Weise sich Mikro- und Makroebene der Gesellschaft miteinander verschränkten und in Wechselwirkung miteinander standen. Als Fallbeispiele dienen zwei Fahrzeugfabriken in Slowenien und Serbien, der Industriekomplex Zavodi Crvena zastava – ZCZ oder kurz Zastava (Rote Fahne-Werke) im serbischen Kragujevac und die Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM (Auto- und Motorenfabrik) im slowenischen Maribor. Diese beiden Fabriken wurden in der Annahme ausgewählt, dass sich aufgrund historischer, sozioökonomischer und kultureller Unterschiede der beiden jugoslawischen Regionen markante Differenzen in der Art, wie Industriebelegschaften Konflikte austrugen, erkennen lassen. Mit Fortschreiten des Forschungsprozesses jedoch stellte sich heraus, dass ein systematisches Kontrastieren der Fabriken unter anderem aufgrund der fragmentarischen Quellensituation nur bedingt möglich war. Die beiden Unternehmen werden also eher als sich in einigen Punkten unterscheidende Beispiele des einen jugoslawischen Falles behandelt. Die übergreifenden ideologischen und institutionellen Rahmenbedingungen bildeten dabei das bestimmende Faktorenbündel. Da es sich um Unternehmen derselben Branche handelte, verfügten sie darüber hinaus über ähnliche innere Strukturen. Zwischen den verschiedenen Bereichen, die am Produktionsprozess beteiligt waren, herrschten ähnliche Beziehungen, unter anderem da beide nach tayloristischem Prinzip produzierten. Für die Fertigung brauchten die Unternehmen überdies die gleichen Rohstoffe und Zulieferprodukte. Ebenso waren sie in ähnlicher Weise von makroökonomischen Entwicklungen sowie der föderalen jugoslawischen Wirtschaftspolitik betroffen.
21 Ebenda.
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Als Fahrzeugfabriken waren die Fallbeispiele Teil der Metallindustrie. Der Industriekomplex Crvena zastava im serbischen Kragujevac war jedoch ungleich größer und älter als TAM im slowenischen Maribor. Trotz ihrer unterschiedlichen Größe, zählten sie beide zu den größeren jugoslawischen Industriebetrieben der Zeit. So zählte die Belegschaft bei TAM 1970 etwa 6.000 Beschäftigte, während im Zastava-Unternehmenskomplex im selben Jahr etwa 25.500 MitarbeiterInnen arbeiteten, wovon etwa 2.000 auf die Zastava-Nutzfahrzeugfabrik entfielen, die ein Betriebsteil von Zastava war.22 Ordnet man diese Betriebsgrößen in gesamtjugoslawische Verhältnisse der beginnenden 1970er Jahre ein, so zeigt sich, dass die MitarbeiterInnen der beiden Betriebe wie beinahe 41 % der Beschäftigten in der jugoslawischen Industrie insgesamt in Betrieben mit über 2.000 Personen tätig waren.23 Ebenfalls waren beide Unternehmen die größten in der jeweiligen Stadt. Allerdings stellte Zastava in Kragujevac das dominierende Unternehmen dar und war sogar eines der größten in Jugoslawien überhaupt. TAM in Maribor hingegen war einer unter etlichen Industriebetrieben unterschiedlicher Branchen in der Stadt. Mit Fokus auf die Mikroebene von Betrieben, die es möglich macht, Aushandlungspraktiken dort sehr differenziert zu betrachten, rückt die systematische Einbeziehung der Spezifika der jeweiligen Republiken in den Hintergrund. Dies betrifft vor allem die divergierenden wirtschaftspolitischen Kurse, die die Republiken im Rahmen ihrer Freiheiten im hochgradig föderalisierten Staat verwirklichen konnten. Als Bezugsrahmen der Makroebene dienen hier in den meisten Fällen ideologische Richtungsangaben BdKJ-Führung sowie institutionelle Veränderungen, die im Zuge der Reformen des Selbstverwaltungssystems alle föderalen Einheiten gleichermaßen betrafen. Dennoch erwiesen sich strukturelle Unterschiede der beiden Fabrikstandorte an einigen Stellen als bedeutsam für soziale Konflikte. Das gilt insbesondere für solche Konflikte, die mit den komplexen Ursachen und Auswirkungen von Migrationsprozessen in Zusammenhang standen. Diese Divergenzen gehen auf die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Republiken bzw. Regionen zurück, die den Ausgangspunkt für die Wahl der Beispiele bildeten. Maribor war neben Ljubljana ein industrielles Zentrum Sloweniens, die zweitgrößte Stadt der Republik und verfügte über ein relativ gut ausgebautes Netz an Verkehrsinfrastruktur. An den regionalen und überregionalen Straßen- und Eisenbahnverkehr war Maribor mit seiner geografischen Lage im Dreieck zwischen Ljubljana, Zagreb und Graz anders als Kragujevac bestens angebunden. Die Lage im äußersten Norden Jugoslawiens bedingte unter anderem 22 SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, S. 31; Branislav ČUKIĆ, XI
– Kadrovi i zapošljavanje, in: Grupa autora (Hg.), Zastava u drugoj polovini XX veka. Kragujevac 2013, 337–363, 337; Kamenko SRETENOVIĆ, V – Razvoj i proizvodnje privrednih i terenskih vozila, in: Grupa autora (Hg.), Zastava u drugoj polovini XX veka, 213–244, 424. Der Fokus auf die Zastava-Nutzfahrzeugfabrik ist dabei der Quellensituation geschuldet, s.u. 23 Zahlen aus dem Jahr 1972 finden sich bei: Christopher PROUT, Market Socialism in Yugoslavia. Oxford 1985, 226.
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die ausgeprägten Handelsbeziehungen mit westeuropäischen Staaten sowie deren Bedeutung als Zielländer von slowenischer Arbeitsmigration. Kragujevac war zwar ebenfalls eines der industriellen Zentren in Serbien, liegt jedoch dreißig Kilometer landeinwärts von der Bahn- und Fernstraßenverbindung zwischen Niš (Richtung Sofia/ Istanbul sowie Skopje/ Thessaloniki) und dem 140 Kilometer nördlich gelegenen Belgrad. Zudem musste Kragujevac zwischen 1961 und 1981 deutlich größere Anpassungsleistungen vollbringen, wuchs doch seine Bevölkerung um etwa 36 %, während Maribor in derselben Periode nur etwa 18 % Bevölkerungszuwachs erlebte.24 Ein weiterer struktureller Unterschied zwischen den Standorten der Fabriken bestand darin, dass die Arbeitslosigkeit in Maribor erst zu Beginn der 1980er Jahre in nennenswertem Umfang auftrat, während Kragujevac schon ab den frühen 1970er Jahren spürbar unter ihr litt. Aufgrund der geografischen Nähe war für ArbeiterInnen in Maribor die ab 1962 legalisierte Arbeitsmigration ins westeuropäische Ausland einfacher, obwohl auch Kragujevacer Beschäftigte ihre Arbeitsplätze für eine Beschäftigung im Ausland aufgaben. Beide Städte waren Anziehungspunkt für Land-Stadt-MigrantInnen aus ihrem regionalen Einzugsgebiet. Maribor hingegen war darüber hinaus wie andere slowenische Industriestandorte Anziehungspunkt für ArbeitsmigrantInnen auch aus anderen jugoslawischen Republiken, insbesondere aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Dies bedeutete im Gegensatz zu Kragujevac, wo die Belegschaft fast ausnahmslos Serbisch sprach, dass in Maribor ein Teil der Beschäftigten in einer fremdsprachigen Umgebung lebte und arbeitete. Obwohl in diesen Punkten erkennbare Unterschiede zwischen den Fabriken existierten, wurden in der Analyse die Ähnlichkeiten deutlicher sichtbar als die Unterschiede. Als Konsequenz daraus und aus der fragmentarischen Quellenlage folgt die Arbeit einem thematischen Prinzip anstatt en bloc jeweils eine Fabrik zu behandeln. Der Untersuchungszeitraum von von 1965 bis 1985 ist so gewählt, dass er mehrere sowohl wirtschaftliche als auch politische Krisenmomente des sozialistischen Jugoslawien einschließt. 1965 lagen die Abkehr von der Sowjetunion 1948, die Einführung der Selbstverwaltung 1950 sowie die Liberalisierung von Politik und Gesellschaft ab der Mitte der 1950er Jahre bereits (mehr als) ein Jahrzehnt zurück. Sowohl Reformen der Selbstverwaltung als auch der rapide stattfinden gesellschaftliche Wandel von einem Agrarland zu einem industriellen Schwellenland waren in vollem Gange. Gleichzeitig strebte die Bevölkerung, die die entbehrungsreichen Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg hinter sich gebracht hatte, nach Konsummöglichkeiten und höherem Lebensstandard. Diese Themen erhielten ihren Platz auch auf der politischen Agenda. Mit den Wirtschaftsreformen von 1965, welche eine Liberalisierung des Finanzwesens, größere Autonomiespielräume für Unternehmen in gesellschaftlichem Besitz und die Öffnung der jugoslawischen Wirtschaft zum Weltmarkt brachten, reagierte die jugoslawische Führung auf die erstmals seit dem Zweiten Welt24 Statistički godišnjak Jugoslavije 1968. Beograd 1968, 523, 525 (im Folgenden
„SGJ [Jahr]“); SGJ 1984, 619, 622.
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krieg sinkenden Wachstumsraten. In der Rezession, die sich in der Folge der Reformen einstellte, besteht der erste Krisenmoment, an dem diese Untersuchung einsetzt. Der Übergang der 1960er zu den 1970er Jahren, als Studierende in den Hauptstädten der jugoslawischen Republiken protestierten und sich innerhalb der Partei AbweichlerInnen zu Wort meldeten, markiert einen deutlichen politischen Umbruch. Dieser ging mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für soziale Verwerfungen in der jugoslawischen Gesellschaft einher. Gleichzeitig entschied sich die jugoslawische Führung, auf diese Situation mit parteiinternen Säuberungen, politischer Umgestaltung in Richtung starker Föderalisierung und Reformen des Selbstverwaltungssystems zu reagieren. Die 1970er Jahre waren also eine Periode, in der einhergehend mit einem globalen wirtschaftlichen Strukturwandel die „Krise der sozialistischen Moderne“25 offenbar wurde. Sich „normalisierende“ soziale Konflikte als auch deren Zuspitzung zum Ende des Jahrzehnts hin fanden in der Forschung bisher selten Beachtung. Die zweite Ölkrise 1979, der Tod des Staatsführers Josip Broz Tito 1980 und das politische Eingeständnis tiefgreifender wirtschaftlicher Probleme zwischen 1981 und 1983 bildeten einen weiteren markanten Einschnitt im Untersuchungszeitraum. Bis in die Mitte der 1980er Jahre lässt sich beobachten, wie sich dieser Einschnitt auf die Austragung betrieblicher Konflikte und die Legitimität von sozialistischer Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien auswirkte.
Forschungsstand Nach der politischen Wende und der Öffnung der Archive in Ost- und Südosteuropa, rückten die ArbeiterInnen der ehemals staatssozialistischen Länder sowie die sozialen Konflikte und deren Austragung unter den Bedingungen kommunistischer Einparteienherrschaft in den Blick historischer Forschung. Gerade die herausgehobene Rolle, die ArbeiterInnen für die Legitimierung kommunistischer Herrschaft spielten, bewirkte ein Interesse an sozialgeschichtlichen Studien zu ost- und südosteuropäischen ArbeiterInnen und ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Staatsführungen.26 Die sozialen Differenzierungen innerhalb von Belegschaften bilden oft einen Randaspekt in dieser Forschung, bisweilen werden auch nur einzelne soziale Kategorien untersucht.27 25 Marie-Janine CALIC / Dietmar NEUTATZ / Julia OBERTREIS, Einleitung, in:
DIES. (Hgg.), The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Göttingen 2011, 7–27. 26 Vgl. für einen Überblick den Sammelband, der im Rahmen eines Kolloquiums am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung 2003 entstand: Peter HÜBNER / Christoph KLESSMANN / Klaus TENEFELDE (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln, Weimar, Wien 2005; sowie folgenden guten Überblick über Forschung bis 2010: Peter HEUMOS, Workers under Communist Rule. Research in the Former Socialist Countries of Eastern-Central and South-Eastern Europe and in the Federal Republic of Germany, International Review of Social History 55 (2010), H. 1, 83–115.
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Während historiografische Studien zu den ArbeiterInnen anderer südosteuropäischer Länder wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Albanien existieren, sucht man neuere Forschung dieser Art zu Jugoslawien beinahe vergeblich.28 Im Kontext des gewaltsamen Zerfalls des Landes ab 1991 richtete sich das analytische Interesse zunächst insbesondere auf Fragen der nationalen und ethnischen Identität und Mobilisierung sowie auf das Verhältnis von Minderheiten zum Staat. Hier suchten SüdosteuropawissenschaftlerInnen Erklärungsansätze für die Kriege der 1990er Jahre. Das historiografische Interesse an ArbeiterInnen im jugoslawischen Sozialismus setzte somit zeitlich versetzt zu Forschungen über andere staatssozialistische Länder ein. Sicher spielten dabei die großen Hoffnun27 Vgl. Donald A. FILTZER, Soviet Workers and De-Stalinization. The Consolidation of
the Modern System of Soviet Production Relations, 1953–1964. Cambridge 1992; Sándor HORVÁTH, Everyday Life in the First Hungarian Socialist City, International Labor and Working-Class History (2005), H. 68, 24–46; Peter HEUMOS, „Wenn sie sieben Turbinen schaffen, kommt die Musik“. Sozialistische Arbeitsinitiativen und egalitaristische Defensive in tschechoslowakischen Industriebetrieben und Bergwerken 1945–1965, in: Christiane BRENNER (Hg.), Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948–1968. München 2005, 133–177; Małgorzata MAZUREK, Das Alltagsleben im sozialistischen Betrieb am Beispiel der „Rosa-Luxemburg-Werke“ in Warschau an der Schwelle zur „kleinen Stabilisierung“, in: HÜBNER / Christoph Kleßmann / TENEFELDE (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus, 291–317; Dragoş PETRESCU, Workers and Peasant-Workers in a Working-Class´ „Paradise“. Patterns of Working-Class Protest in Communist Romania, in: HÜBNER / Christoph Kleßmann / TENEFELDE (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus, 119–140; Andrew I. PORT, Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010; Biljana RAEVA, Migracijata selo – grad i „seljanite – rabotnici” v socialističeskija Dimitrovgrad, in: Elena GEORGIEVA / Nedjalka TODOROVA (Hgg.), Svetăt na bălgarina prez XX vek. Sbornik s dokladi ot nacionalnata naučna konferencija 9.–10. juni, Dimitrovgrad. Sofia 2011, 89–96. 28 Vgl. zu Bulgarien: Petăr PETROV, Sozialistische Arbeitsfeiern im Betrieb, in: Klaus ROTH (Hg.), Arbeit im Sozialismus – Arbeit im Postsozialismus. Erkundungen zum Arbeitsleben im östlichen Europa. Münster 2004, 148–165; Radost IVANOVA, „Wir bauen für die Volksrepublik“. Die Jugend-Baubrigaden – eine Schule der kommunistischen Erziehung, in: ROTH (Hg.), Arbeit im Sozialismus – Arbeit im, 59–69; RAEVA, Migracijata selo – grad; (Bulgarien und Albanien): Ulf BRUNNBAUER / Visar NONAJ / Biljana RAEVA, Workers, Steel Factories, and Communism. Labor in Kremikovci (Bulgaria) and Elbasan (Albania) under State Socialism, IOS Mitteilungen (2013), H. 62, unter . Zu Rumänien: PETRESCU, Workers and Peasant-Workers; Călin MORAR-VULCU, Becoming Dangerous. Everyday Violence in the Industrial Milieu of Late-Socialist Romania, European History Quarterly 45 (2015), H. 2, 315–335. Zu Ungarn: HORVÁTH, Everyday Life in the First; Mark PITTAWAY, The Workers' State. Industrial Labor and the Making of Socialist Hungary, 1944–1958. Pittsburgh/ PA 2012; Eszter BARTHA, Alienating Labour. Workers on the Road from Socialism to Capitalism in East Germany and Hungary. New York, Oxford 2013. Zu Albanien: Visar NONAJ, „Neues Werk, neue Menschen“. Die Rekrutierung von Arbeitskräften für das albanische Stahlwerk „Stahl der Par-
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gen und die bereits ab dem Ende der 1960er Jahre eingetretenen Enttäuschungen eine Rolle, die man sowohl in- als auch außerhalb Jugoslawiens in die Arbeiterselbstverwaltung gesetzt hatte. Es standen einerseits regionale Disparitäten und nationale Konflikte sowie andererseits die Bedeutung von kultureller Liberalität, Konsum und Alltagskultur in der Jugoslawienforschung im Mittelpunkt. Über die Fabriken TAM und Zastava existieren in unterschiedlichem Maße Publikationen, wobei für keines der beiden Unternehmen eine betriebswirtschaftlich fundierte Fabrikgeschichte vorliegt, welche die Bedingungen der Selbstverwaltung berücksichtigt und als Hintergrund für die vorliegende Arbeit dienen könnte. In sozialistischer Zeit gaben die Unternehmen Selbstdarstellungen in Form von bebilderten Monografien heraus. Zwischen 1973 und 1987 präsentierten sie darin ihre Geschichte, die seinerzeitigen Produktionsbereiche und Erzeugnisse. Daneben rühmten sie sich ihrer ihrer allgemeinen Bedeutung und sozialpolitischen Errungenschaften.29 Im Fall von Kragujevac spiegelt sich die Bedeutung, welche dem ZastavaIndustriekomplex für die Entwicklung der Industrie in Serbien zugewiesen wird, in populärwissenschaftlichen, autobiografischen Publikationen sowie in unterschiedlichen Selbstdarstellungen einzelner Betriebsteile wider.30 Bereits in der Zeit vor 1991 ist Zastava in einer 1985 von Branislav Čukić, einem langjährigen Mitarbeiter der Personalabteilung des Unternehmens, verfassten soziologischen Arbeit zu „Absentismus bei der Arbeit und in der Selbstverwaltung“ zum Gegenstand kritischer Betrachtungen geworden.31 1993 widmete sich dann der britische Wirtschaftshistoriker Michael Palairet dem Unternehmen und fällte ein negatives Urteil über das Management bei Zastava.32 Allerdings lässt er dabei zwei wichtige Faktoren außer Acht, welche die Betriebsführung maßgeblich bedingten: die sozialistische und selbstverwalterische Verfasstheit von Staat und Wirtschaft. 2013 legte Marko Miljković eine geschichtswissenschaftliche Abschlussarbeit vor, die unter erstmaliger Verwendung von Archivalien aus dem Unternehmen und von jugoslawischen tei“, Südost-Forschungen 72 (2013), 319–348. 29 Vgl. Mirko MILOJKOVIĆ (Hg.), Od topa do automobila. 1853–1973. Kragujevac o. J.
[1973]; Milovan ZEKOVIĆ / Aleksandar VLAJIĆ, Dvadeset godina proizvodnje automobila. Zavodi „Crvena zastava“, 1954–1974. Kragujevac 1975; Milena IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor 1947–1987. Maribor 1987. 30 Vgl. Zastava-Nachfolgeunternehmen/ Geschichte vormaliger Betriebsteile: Miodrag Stojilović, Kovačke vatre. Prilozi za istoriju Zastava kovačnice. Kragujevac 2002; Branko Bogdanović, Kolevka srpske industrije. Sto petdeset godina Fabrike oružja u Kragujevcu. Kragujevac 22008. Populärwissenschaftliche Publikationen: Slobodan Janković, Zapisi o Zastavi. Kragujevac 1993; Danijel Kadarjan, Zastava automobili. Priča o jednom brendu. Novi Sad 2010; Grupa autora (Hg.), Zastava u drugoj polovini XX veka. Kragujevac 2013; Momir M. Zečević, O posleratnoj obnovi vojne industrije i izgradnji automobilske proizvodnje. Moja sećanja iz Zavoda „Crvena Zastava“. Kragujevac 2006. 31 Branislav ČUKIĆ, Apsentizam u radu i samoupravljanju. Kragujevac 1985. 32 Michael PALAIRET, Mismanaging Innovation. The Yugo Car Enterprise (1962–1992), Technovation 13 (1993), H. 3, 117–132.
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Regierungsbehörden Zastava als Beispiel von Technologietransfer von Westnach Südosteuropa untersucht.33 Schließlich wendet sich die sozialanthropologische Dissertation Ivan Rajkovićs den Verteilungskämpfen bei Zastava im jahrzehntelang währenden Schwebezustand zwischen Schließung und Privatisierung des Unternehmens nach 1991 zu.34 In Maribor, wo TAM 1996 Insolvenz anmeldete, widmeten sich bisher ein Dokumentarfilm, eine Ausstellung im Regionalarchiv einschließlich eines Kataloges sowie eine gemeinsam von einem digitalen Geschichtsportal, den Universitäts- und Stadtbibliotheken und dem Regionalarchiv initiierten Projekt der Geschichte des Unternehmens und seiner MitarbeiterInnen.35 Angesichts des Niedergangs eines Großteils der Mariborer Industrie ist in der Stadt ein generelles Bewusstsein für das industrielle Erbe der Stadt gegenwärtig. So wurde in Maribor 2012, als die Stadt eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte war, ein Lehrpfad der Industriegeschichte und eine Dauerausstellung zum Thema gestaltet.36 Das wissenschaftliche Interesse für die Mariborer Fabrik TAM ist dagegen bisher merklich kleiner. Die Sozialhistorikerin Marta Rendla fertigte 2010 anhand der Fabrikzeitung Skozi TAM eine Bestandsaufnahme betrieblicher Sozialpolitik in sozialistischer Zeit an, ohne dass sie deren Funktion, Bedeutung oder Spezifika hinterfragt. Boris Brovinsky zeichnet ebenfalls 2010 den Weg nach, wie aus einem Lizenznehmer TAM ein eigenständiger Fahrzeugproduzent wurde.37 Eine sich durch ihr kritisches Potential von diesen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten unterscheidende Perspektive auf selbstverwaltete Fabriken nahmen zeitgenössische jugoslawische SozialwissenschaftlerInnen ein. Im Zuge der Liberalisierung der jugoslawischen Gesellschaft ab der Mitte der 1950er und besonders der 1960er Jahre begannen die jugoslawischen ForscherInnen da33 Marko MILJKOVIĆ, Western Technology in a Socialist Factory. The Formative Phase
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of the Yugoslav Automobile Industry 1955–1962. Unveröffentlichte Masterarbeit, Central European University. Budapest 2013, unter , 15.1.2015. Ivan RAJKOVIĆ, Struggles for moral ground. Problems with work and legitimacy in a Serbian industrial town. Unveröffentlichte Dissertation. Manchester 2015. Bojan Labović, Umrli gigant. Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor. Maribor 2002; Slavica Tovšak (Hg.), Tovarna avtomobilov Maribor. Sledovi mariborskega gospodarstva v arhivskem gradivu Pokrajinskega arhiva Maribor. Maribor 2007; Mariborska knjižnica Tezno, TAM na razstavi, spletu in filmu 2013, unter , 5.1.2015. Industrijske pešpoti, unter , 5.1.2015. Marta RENDLA, Mariborski gospodarski gigant TAM v skrbi za izboljšanje življenjske ravni zaposlenih, in: Željko OSET / Aleksandra BERBERIH SLANA / Žarko LAZAREVIĆ (Hgg.), Mesto in gospodarstvo. Mariborsko gospodarstvo v 20. stoletju. Ljubljana, Maribor 2010, 553–576; Boris BROVINSKY, Tam v Mariboru, kjer delajo kamione. Od licence do lastnega programa vozil, in: OSET / BERBERIH SLANA / LAZAREVIĆ (Hgg.), Mesto in gospodarstvo, 393–416.
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mit, den Entwicklung ihrer eigenen Gesellschaft zu hinterfragen.38 Forschung zur Praxis selbstverwalteter Unternehmen lieferte die Industriesoziologie, als deren herausragende Vertreter Josip Županov, Veljko Rus und Vladimir Arzenšek gelten. In ihren Publikationen aus den 1960er bis 1980er Jahren wiesen sie auf etliche Divergenzen hin, welche sich zwischen Theorie und Praxis der Selbstverwaltung in jugoslawischen Unternehmen aufgetan hatten, auch wenn sie die Ursachen dafür unterschiedlich verorteten: in fehlenden formalen Mechanismen der Konfliktaustragung, in kollektivem Egoismus dezentralisierter Unternehmensteile, in einer „oligarchischen Machtverteilung“ bzw. „Entfremdung“ von ArbeiterInnen angesichts der Macht bürokratischer Unternehmensführungen, in ideologischer Überfrachtung sowohl der Rolle der ArbeiterInnen als auch von DirektorInnen sowie im fehlenden Verantwortungsgefühl auf allen Ebenen angesichts sicherer Arbeitsplätze und unklar verteilter Verantwortung in Leitungsgremien.39 Die Industriesoziologie bediente sich dabei entweder Befragungen von Beschäftigten verschiedener Hierarchiestufen und Tätigkeitsfelder oder auch der teilnehmenden Beobachtung von Gremiensitzungen der Selbstverwaltung.40 Die ForscherInnen legten dabei unter anderem offen, aus welchen Branchen und jugoslawischen Republiken die untersuchten Betriebe stammten, wie viele MitarbeiterInnen sie hatten und ob sie wirtschaftlich erfolgreicher oder weniger erfolgreich waren. Einzelstudien zu nicht anonymisierten Betrieben gab es nur wenige. Die bereits oben angeführte Studie Čukićs zu Zastava bildete eine dieser Ausnahmen. Soziale Ungleichheit, die sich im Gefüge der sozialistischen Gesellschaft herausbildete, thematisierten SozialwissenschaftlerInnen seit den 1960er Jahren unter vielen Blickwinkeln: So wurde z. B. untersucht1968 wie soziale Ungleichheit ihren Ausdruck in den Wohnverhältnissen fand und 1971 welchen Einfluss die Land-Stadt-Migration auf die soziale Stellung hatte. Studien ab der Mitte der 1980er Jahre benannten das Zusammenspiel von herrschender Ideologie, dem Fehlverhalten gesellschaftlicher Eliten und bestehender sozialer Schief38 Für einen Überblick über Entwicklung, Themen und HauptvertreterInnen siehe:
Mladen LAZIĆ, Sociology in Yugoslavia. Correlation Dynamics between Critical and Integrative Social Theory in Liberal Socialism, in: Ulf BRUNNBAUER (Hg.), Sociology and Ethnography in East-Central and South-East Europe. Scientific Self-Description in State Socialist Countries. München 2011, 87–106. 39 Stellvertretend für die umfangreichere Forschung nur dieser drei Industriesoziologen seien hier genannt: die zuerst 1969 erschienene Aufsatzsammlung Županovs: Josip Županov, Samoupravljanje i društvena moć. Prilozi za socijologiju samoupravne organizacije. Zagreb 21985; Veljko Rus, Odgovornost in moč v delovnih organizacijah. Kranj 1972; Vladimir Arzenšek, Struktura i pokret. Beograd 1984. 40 Befragungen z. B. bei: Rus, Odgovornost in moč; Josip Županov, Je li položaj direktora privlačan za stručnjake?, in: ders., Samoupravljanje i društvena moć, 262– 290, Josip Obradović, Utjecaj veličine organizacije na strukturu odlučivanja i ponašanja pojedinaca u procesu donošenja odluka, Sociologija 19 (1977), H. 4, 559–596.
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lagen deutlich.41 Auch soziale Konflikte in Betrieben, die sich in Form von Streiks entluden, waren Gegenstand sowohl akademischer Publikationen als auch solcher des slowenischen Gewerkschaftsbundes.42 Allen diesen Analysen ist gemeinsam, dass sie die Ursachen dieser Konflikte, die auch das Einparteiensystem kommunistischer Herrschaft als Faktor mit einbezogen, nur bedingt benennen konnten. Je nach aktuell herrschendem politischen Klima, das verschiedene Wellen von Liberalität und Repression erlebte, findet die Rolle des BdKJ Berücksichtigung oder nicht. Ab der Mitte der 1980er Jahre schließlich, als die politische Ordnung ernsthafte Anzeichen von Erosion zeigte, begannen auch ForscherInnen und PublizistInnen die Rolle des politischen Machtanspruchs der Partei in den herrschenden Zustände offener zu reflektieren.43 Die vorliegende Arbeit analysiert – bisherige Ansätze überschreitend – in Ergänzung zu den kritischen zeitgenössischen Ansätzen den diskursiven Umgang mit den gesellschaftlichen Widersprüchen in der öffentlichen und nichtöffentlichen Sphäre des Betriebes und seitens offizieller Verlautbarungen der Staatsspitze. Neben allgemeinen Darstellungen der Theorie und Praxis jugoslawischer Selbstverwaltung, die in der Bundesrepublik z. B. in den 1970er Jahren erschienen,44 ragt eine sozialwissenschaftliche Studie heraus, weil sie sich auf die Be41 Beispielhaft seien hier genannt: Mirolsav ŽIVKOVIĆ, Jedan primer segregacije u raz-
voju naših gradova, Sociologija 10 (1968), H. 3, 37–58; Peter KLINAR, Asimilacija doseljenika iz ruralnih područja u urbanizovanoj sredini, Sociologija 13 (1971), H. 4, 529–540; Boris VUŠKOVIĆ, Social Inequality in Yugoslavia, The New Left Review (1976), H. I/95; Mihailo V. POPOVIĆ, Klasno-slojne nejednakosti u jugoslovenskom društvu, Sociologija 26 (1984), H. 3–4, 265–292; Eva BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti u Jugoslaviji. Beograd 1986. Die zeitgenössische jugoslawische Forschung zu sozialen Unterschieden ist hier nicht erschöpfend ausgewertet. Einen Überblick dazu gibt: Rory Archer, Social Inequalities and the Study of Yugoslavia’s Dissolution, in: Florian Bieber / Armina Galijaš / Rory Archer (Hgg.), Debating the End of Yugoslavia. Aldershot 2014, 135–154; spezieller zu ungleichen Wohnverhältnissen: Rory Archer, Imaš kuću – vrati stan. Housing inequalities, socialist morality and discontent in 1980s Yugoslavia, Godišnjak za društvenu istoriju 20 (2013), H. 3, 119–139. 42 Stellvertretend sei hier die bekannteste Monografie zu Streiks genannt: Neca JOVANOV, Radnički štrajkovi u Socijalističkoj Federativnoj Republici Jugoslavije od 1958. do 1969. godine. Beograd 1979. Publikationen des slowenischen Gewerkschaftsbundes: Marjan ŠETINC, Družbena protislovja in protestne ustavitve dela. Ocena pojava za obdobje avgust 1973–avgust 1974. Ljubljana 1975; Ilija GLOBAČNIK, Družbena protislovja in protestne ustavitve dela v Sloveniji. Poročilo o protestnih ustavitvah dela v letih 1974, 1975 in 1976. Ljubljana 1977; Lidija MOHAR, Razprava o prekinitvah dela. Ljubljana 1985. 43 BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti; Vesna PEŠIĆ, Kratki kurs o jednakosti. Koncepcija jednakosti u zvaničnoj ideologiji jugoslovenskog društva. Beograd 1988. Zu den Spielräumen und Grenzen kritischer Öffentlichkeit in den frühen 1980er Jahren siehe: CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 267–270. 44 Herwig ROGGEMANN, Das Modell der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien. Frankfurt/ Main 1970; Gudrun LEMÂN, Das jugoslawische Modell. Wege zur Demo-
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triebsebene konzentrierte. Im Laufe der 1970er Jahre forschte Wolfgang Soergel in drei Fabriken in Slowenien, Kroatien und Mazedonien, wobei er methodisch Befragungen, teilnehmende Beobachtung und das Studium von dokumentierten Selbstverwaltungsprozessen miteinander kombinierte.45 Wie auch die jugoslawischen KollegInnen kam Soergel in seiner Studie unter dem Titel „Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus“ hinsichtlich der Frage, ob sich die jugoslawischen ArbeiterInnen als Subjekte der in den Betrieben herrschenden Ordnung begriffen, zu ernüchternden Ergebnissen. Nirgendwo finden sich konkretere Beschreibungen und detailliertere Analysen zur Frage, wie einzelne Gremien der Selbstverwaltung in konkreten (Konflikt-)Situationen funktionierten. Das Interesse der Geschichtswissenschaft an IndustriearbeiterInnen und der Art, wie sie in Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Selbstverwaltung soziale Konflikte in Tito-Jugoslawien austrugen, ist erst in den letzten Jahren aufgekommen. Der slowenische Wirtschaftshistoriker Jože Prinčič legte 2008 eine Studie zu der sich wandelnden und problematischen Rolle von DirektorInnen unter den Bedingungen häufiger Reformen der Selbstverwaltung vor.46 Das Interesse der Migrationshistorikerin Karolina Novinšćak gilt den ab den 1960er Jahren nach Deutschland migrierten kroatischen ArbeiterInnen sowie deren Remigration. In einem Beitrag von 2009 untersucht sie die ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für Migrationsentscheidungen. Zu den Beweggründen gehörten unter anderem soziale Konflikte und die Situation auf dem jugoslawischen Arbeitsmarkt.47 Predrag Marković aus Belgrad wendet sich in einem Artikel von 2014 dem Phänomen der jugoslawischen Streiks unter anderem im Sozialismus zu, wobei er hauptsächlich die bestehende Forschung rekapituliert und die Ambivalenz des Phänomens anhand einer punktuellen Analyse der zeitgenössischen jugoslawischen Gewerkschaftspresse illustriert.48 Sabine Rutar analysiert in einer anregenden Mikrostudie von 2015 in Form eines Zeitschriftenbeitrags einen gewaltsamen Streik im Hafen der slowenischen Stadt Koper. Sie legt dabei besonderes Augenmerk auf die Ambivalenzen, die der Konfliktbearbeitung in selbstverwalteten Unternehmen innewohnten und fokussiert die widersprüchlichen Aufgaben und Rollen des Direktors. In diesem Gefüge, so Rutar, markierten vielschichtige soziale Konflikte wie Streiks die Grenze von akzeptablem und inakzeptablem Verhalten in einem kratisierung. Frankfurt/ Main 1976. 45 Wolfgang SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus. Eine empi-
rische Untersuchung in jugoslawischen Industriebetrieben. München 1979. 46 Jože PRINČIČ, Direktorska funkcija v jugoslovanskem socialističnem gospodarskem
sistemu, in: Jurij FIKFAK / Jože PRINČIČ / Jeffrey D. TURK (Hgg.), Biti direktor v času socializma. Med idejami in praksami. Ljubljana 2008, 57–101. 47 Karolina NOVINŠĆAK, The Recruiting and Sending of Yugoslav `Gastarbeiter´ to Germany. Between Socialist Demands and Economic Needs, in: Ulf BRUNNBAUER (Hg.), Transnational societies, transterritorial politics. Migrations in the (Post-)Yugoslav region 19th–21th century. München 2009, 121–144. 48 Predrag J. MARKOVIĆ, Radnički štrajkovi u socijalističom i tranzicionom društvu Jugoslavije i Srbije, Tokovi istorije (2014), H. 1, 53–74.
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Einparteienstaat. Sie demonstriert darüber hinaus, wie der Streik in Elitenkonflikten benutzt wurde, um einen Direktor abzusetzen. Überdies wenden sich mehrere laufende Forschungsprojekte u. a. in Form von Dissertationen verschiedenen Aspekten selbstverwalteter Betriebe sowie der Konfliktaustragung jugoslawischer ArbeiterInnen zu. So legt Igor Stanić in einem Beitrag von 2014 eine kenntnisreiche Zusammenstellungen von Fakten über die formalen Abläufe der Selbstverwaltung der Werft Uljanik im kroatischen Pula vor. Zwar wirft er darin einige übergeordnete Fragen der problematischen Praxis selbstverwalteter Betriebe in der Expansionsphase der jugoslawischen Industrie der 1960er Jahre auf, bettet sie aber leider kaum in den Kontext kommunistischer Herrschaft und deren Umgang mit zeittypischen sozialen Konflikten ein.49 Kathrin Jurkats Promotionsprojekt analysiert die Wechselwirkungen makroökonomischer Entwicklung und betrieblicher Beziehungen am Beispiel zweier serbischer Betriebe in Zrenjanin. Ihre Betrachtung postsozialistischer Transformation setzt dabei in den krisenhaften 1980er Jahren ein.50 Rory Archer und Goran Musić werfen hingegen die Frage auf, wie soziale und national(istisch)e Forderungen, die ArbeiterInnen in den 1980er Jahren in Serbien und Montenegro stellten, ineinander übergingen.51 Neben diesen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen interessierten sich mehrere neuere ethnologische Studien für die Erfahrung der postsozialistischen Transformation und die Erinnerung an Arbeit in jugoslawischen Industrieunternehmen. Dabei stehen häufig gerade nicht Konflikte im sozialistischen Betrieb im Mittelpunkt, sondern die Funktionen von (nostalgischer) Erinnerung an Arbeitsbeziehungen in einer Gesellschaftsordnung, die mit dem sozialistischen Jugoslawien aufgehört hat zu existieren.52 49 Igor STANIĆ, Što pokazuje praksa? Presjek samoupravljanja u brodogradilištu Ulja-
nik 1961–1968. godine, Časopis za suvremenu povijest 46 (2014), H. 3, 453–474. 50 Kathrin JURKAT, Promotionsprojekt an der Humboldt-Universität Berlin, unter
, 14.8.2015. 51 Rory ARCHER / Goran MUSIĆ, Between class and nation. Working class communities in 1980s Serbia and Montenegro 2014, unter , 26.3.2015. Eine ähnliche Fragestellung behandelt Musić in seinem Promotionsprojekt: Goran Musić, Promotionsprojekt am Europäischen Hoschulinstitut Florenz (EUI), unter , 14.8.2015. 52 Predrag MARKOVIĆ, Wahrheit und Erinnerung an die Arbeit im sozialistischen Jugoslawien. Zwischen Kritik und Märchen vom Schlaraffenland?, in: ROTH (Hg.), Arbeit im Sozialismus – Arbeit im, 259–271; Nina VODOPIVEC, Labirinti postsocializma. Socialni spomin tekstilnih delavk in delavcev. Ljubljana 2007; Tanja PETROVIĆ, „When we were Europe“. Socialist Workers in Serbia and Their Nostalgic Narratives. The Case of the Cable Factory Workers in Jagodina, in: Maria TODOROVA (Hg.), Remembering Communism. Genres of Representation. New York 2010, 127–153; Chiara BONFIGLIOLI, Gender, Labour and Precarity in the South East European Periphery. The Case of Textile Workers in Štip, Contemporary Southeastern Europe 1
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Historiographische Arbeiten, die in diachroner Perspektive empirisch fundiert sowohl archivalische als auch publizierte Materialien besonders der Mikroebene einbeziehen und damit einen komplexen Blick auf Aushandlungspraktiken in selbstverwalteten Betrieben ermöglichen, fehlen bisher bzw. sind noch im Entstehen. Ebenso lassen sich bisher keine Studien finden, die die sozialen Differenzierungen unter den IndustriearbeiterInnen systematisch in den Blick nehmen würden und somit die materielle und symbolischen Trennlinien innerhalb der ArbeiterInnenschaft sowie ihre diskursive Einbettung nuanciert betrachten. Genau an diesem Punkt setzt diese Arbeit an.
Quellen Da der mikrohistorische Ansatz hier den Ausgangspunkt bildet, fungieren Quellen der lokalen Ebene, vor allem Betriebsarchive und die in beiden Orten zugänglichen Fabrikzeitungen, als Basis der Untersuchung. Welche Art von Archivalien aus den Fabriken überliefert sind und wie sie zugänglich sind, unterscheidet sich jedoch in beiden Fällen. Das Fabrikarchiv der Zavodi Crvena zastava befindet sich in Kragujevac in der Obhut der Nachfolgefirmen und wurde nicht an das lokale historische Archiv (Istorijski Arhiv Šumadije, Dt.: Historisches Archiv der Šumadija) übergeben. Der Aktenbestand des größten und prominentesten Betriebsteils, nämlich der Autofabrik Zastavas stand nicht zur Verfügung. Die NATO-Bombardements 1999, der Sturz der Miloševićs im Jahr 2000 und schließlich die Übernahme eines Teils der Autofabrik durch FIAT 2008 resultierten laut Angaben von VertreterInnen der Nachfolgefirmen darin, dass die Unterlagen entweder zerstört oder in der Stadt verteilt wurden. So stand als Ausweichbestand neben dem Archiv der oberen Betriebsebene das der ZastavaNutzfahrzeugfabrik zur Verfügung. Der Zugang zu beiden war formal nicht geregelt und die vorhandenen Unterlagen sind kaum archivalisch erfasst. Im Archiv der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik bedeutete dies, sich recht explorativ und mit der Taschenlampe den Weg zwischen den Regalen mit Aktenordnern hin zu den relevanten Quellen zu bahnen. Das zentrale Archiv der Zastava-Werke beinhaltet alle Unterlagen, die die Gesamtbetriebsebene des Unternehmens betreffen. Sie reichen von Protokollen der Selbstverwaltungsgremien wie Arbeiterrat und Verwaltungsausschuss, über die selbstverwaltete Arbeiterkontrolle bis zu Geschäftsberichten. Die gesamten Personalakten des Zastava-Standortes in Kragujevac, die nach dem Austrittsjahr und Nachnamen der MitarbeiterInnen geordnet sind, befinden sich ebenfalls dort. Im gesonderten Archiv der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik fanden sich die Unterlagen der Selbstverwaltungsgremien für den Betriebsteil und seine Untereinheiten. Sie wurden von Dokumentationen der Disziplinar- und Wohnungsvergabekommissionen ergänzt sowie von Einspruchs- und Beschwerdeschreiben der Beschäftigten an die Selbstverwaltungsgremien. Dank dieser Materialien war der so maßgebliche Blick auf die unterste Ebene des Werks möglich.
(2014), H. 2, 7–23, 14.8.2015.
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In Maribor lagert das Werksarchiv der Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM im Pokrajinski archiv Maribor (Regionalarchiv Maribor), womit sich der Zugang um einiges leichter als in Kragujevac gestaltete. Jedoch umfasst das Archiv hauptsächlich die technische Dokumentation der TAM-Erzeugnisse. Nur wenige Protokolle von Sitzungen des zentralen Arbeiterrats von 1966 sind dort archiviert. Das bedeutet, dass für die einzelnen produzierenden Teile des Betriebs und für andere Zeiträume keine vergleichbaren Materialien wie in Kragujevac zur Verfügung standen. Dies gilt zudem für Kommissionen, die über Disziplinarfragen und Wohnungsangelegenheiten entschieden. Lediglich Kurzprotokolle über Beschlüsse des zentralen Arbeiterrats und des Verwaltungsausschusses aus den 1970er Jahren und von der Mitte bis zum Ende der 1980er Jahre sowie die Geschäftsberichte des Gesamtunternehmens und einige Regelwerke sind erhalten. Die ebenfalls zugänglichen Personalakten waren für TAM nach einem anderen Prinzip als bei Zastava, nämlich anhand der Nachnamen der Beschäftigten ohne Berücksichtigung ihres Austrittsjahrs geordnet. Ein umfangreiches Fotoarchiv, dessen Bilder unter anderem in der Fabrikzeitung erschienen, ergänzt diesen Bestand. Es wurde in dieser Arbeit nur in eingeschränktem Maße einbezogen. Eine weitere, sehr grundlegende Bedeutung für die vorliegende Arbeit kommt neben den Werksarchiven den Fabrikzeitungen zu. Beide Publikationen, Crvena zastava und Skozi TAM, sind für den gesamten Untersuchungszeitraum in öffentlichen Bibliotheken zugänglich und wurden hier systematisch analysiert. Im Gegensatz zu den Materialien aus den Fabrikarchiven, deren Inhalt auf diese Art häufig nur in den betreffenden Gremien bekannt waren, bilden die Fabrikzeitungen einen beobachtbaren Teil der offiziellen Betriebsöffentlichkeit. Anfangs fungierte in Kragujevac der Sozialistische Bund des werktätigen Volkes – SBWV53 als Herausgeber, während später eine Redaktion in der Fabrik zuständig war. Nur sporadisch finden die lokalen Tages- und Wochenzeitungen Zeitungen Večer (Maribor) und Svetlost (Kragujvac) Verwendung, die ebenfalls in den Bibliotheken oder online zugänglich waren.54 Der Bund der Kommunisten und Massenorganisationen wie die sozialistische Jugend oder die Gewerkschaften unterhielten ihre Organisationseinheiten auf unterster gesellschaftlicher Ebene in den Betrieben. Die entsprechenden Archivalien der quasi-staatlichen Organisationen der Werks-, Stadtteil- bzw. Stadtebene lagern in den regionalen Archiven. In Maribor waren diese sowie die Fallakten des Gerichts der vereinten Arbeit55 zugänglich, während im Istorijski arhiv Šumadije in Kragujevac mit der Begründung, die Fonds seien noch unsortiert, keinerlei Einsicht in diese Art von Materialien möglich war. 53 Die Massenorganisation SBWV trat 1953 die Nachfolge der Volksfront an. Srb.: „So-
cijalistički savez radnog naroda – SSRN“; Slow.: „Socialistična zveza delovnega ljudstva – SZDL“. 54 Die Mariborer Tageszeitung Večer besitzt ein kostenpflichtiges Online-Archiv: Večer, unter , 10.8.2015. 55 Srb.: „Sud udruženog rada“, Slow.: „Sodišče združenega dela“.
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In den Archiven auf der nächst höheren Ebene der Republiken (vormals Teilrepubliken Jugoslawiens, heute mit eigener Staatlichkeit), boten die Fonds des Bundes der Kommunisten der Republiken, der Gewerkschaften und der Jugendorganisation ergänzende Einblicke. So ließen sich die beobachteten Phänomene aus den Fabriken in manchen Fällen in größere Zusammenhänge der jeweiligen Republik einbetten. Bei den eingesehenen Archivalien handelte es sich um Unterlagen der Beschwerdekommissionen des Bundes der Kommunisten und der Gewerkschaften sowie um Sitzungsprotokolle von Kommissionen, die sich mit die IndustriearbeiterInnen betreffenden sozialen Fragen beschäftigten. Da auch Berichte und Rundschreiben, welche die föderale Ebene an die Republiken und Gemeinden schickte, auf diese Weise zugänglich waren, ist punktuell auch eine Einordnung in gesamtjugoslawische Trends möglich. Darüber hinaus bieten Materialien auf Republiksebene Aufschluss darüber, wie die Kommunikation zwischen der Mikroebene von Fabrik/ Stadt und der Makroebene von Republiks- und Bundespolitik funktionierten. Als Sekundärliteratur mit Quellencharakter fungieren in der Untersuchung die (Industrie-)soziologischen Veröffentlichungen, welche aus den jugoslawischen Universitäten, aber auch gewerkschaftseigenen oder -nahen Forschungen hervorgingen. Neben monografischen Publikationen erschienen in der führenden soziologischen Fachzeitschrift Sociologija etliche auch kritische Beiträge, die hier herangezogen wurden. In Slowenien veröffentlichte insbesondere das Raziskovalni center za samoupravljanje RS ZSS (Forschungszentrum für Selbstverwaltung des Republiksrats des Bundes der Gewerkschaften Sloweniens) ab den frühen 1970er Jahren Studien zu kritischen sozialen Themen wie Streiks und Arbeitsmigration nach Slowenien. Aber auch bundesdeutsche Studien und andere ausländische Studien von vor 1989 bewegen sich an der Grenze zwischen zu analysierenden Quellen und Sekundärliteratur. Unveröffentlichte Diplomarbeiten sozialwissenschaftlicher Disziplinen, die an jugoslawischen Universitäten angefertigt wurden, beinhalteten zeitgenössische Lokalstudien. Publikationen zur Fabrikgeschichte bzw. zeitgenössische Werbepublikationen liefern sowohl statistische und historische Daten als auch die Einsicht, dass die Selbstverwaltung als ideologisches und organisatorisches Prinzip weder zur Zeit ihrer Bedeutung als staatstragendes Dogma noch danach reflektiert wurde. Publizierte Reden des Staatschefs Josip Broz Tito sowie zentrale ideologische Dokumente wie Reden und Artikel Edvard Kardeljs bilden gemeinsam mit Verfassungs- und Gesetzestexten wichtige Quellen für die offiziellen ideologischen Standpunkte der Parteiführung Jugoslawiens. Das Statistički godišnjak Jugoslavije – SGJ (Statistisches Jahrbuch Jugoslawiens), welches vom dortigen statistischen Bundesamt veröffentlicht wurde, bietet dagegen eine Orientierung innerhalb der sozioökonomischen Faktoren, welche den Rahmen der Untersuchung, aber auch in Teilen ihren Gegenstand bildeten. Grundlegende statistische Angaben über die Belegschaften der Fabriken ließen sich demgegenüber nur aufwendig aus den archivalischen und teilweise publizierten Materialien zusammentragen.
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Anmerkungen zur Sprache Die Verwendung geschlechtersensibler Sprache dient dem Zweck, die Anwesenheit von Frauen in den untersuchten Gruppen wahrnehmbar zu machen. Ausnahmen bilden dabei Begriffe mit dem Status von Eigennamen von Institutionen und Organisationen wie „Arbeiterrat“, „Bund der Kommunisten“ oder „Arbeiterselbstverwaltungskontrolle“, aber auch der Begriff „Arbeiterklasse“. Damit soll die Verfälschung zeitgenössischer Termini vermieden werden. Eine weitere sprachliche Anmerkung betrifft die Originalsprachen der Quellen und Materialien. Soweit möglich werden zur Orientierung für Institutionen und Begriffe aus dem Untersuchungskontext die serbischen und slowenischen Benennungen angeführt. Slowenisch war und ist die offizielle Sprachbezeichnung. Der Status des Idioms, das zu jugoslawischer Zeit „Serbokroatisch“ hieß und heute unter den Bezeichnungen „Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch/ Montenegrinisch“ bekannt, ist Objekt politischer und linguistischer Debatten.56 Da es sich beim hier benutzten Material hauptsächlich um Quellen aus Serbien handelt, wird als Sprachbezeichnung die heute dort geltende Bezeichnung der Amtssprache „Serbisch“ benutzt.
2. Ideologischer und ökonomischer Hintergrund Die Arbeiterselbstverwaltung, welche den Status einer Staatsdoktrin besaß, bestimmte maßgeblich die Bedingungen, unter denen Belegschaften in jugoslawischen Industrieunternehmen soziale Konflikte austrugen. Die Prinzipien, die ihr zugrunde gelegt wurden und ihre institutionellen Ausformungen sollen im Folgenden anhand der jugoslawischen Verfassungs- und Gesetzestexte sowie Reden und Texten Josip Broz Titos umrissen werden. Welchen Stellenwert hatte Produktionsarbeit in der Konzeption, wie sollten Löhne festgelegt werden? Wie bezog man sich unter den Bedingungen von sozialistischer Selbstverwaltung und einer teilweise liberalisierten Wirtschaft auf Fragen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Solidarität? Eine anschließende Darstellung der Grundzüge der makroökonomischen Entwicklung Jugoslawiens im Untersuchungszeitraum ergänzt die Diskussion der strukturellen Bedingungen, in die das Verhalten von Industriebelegschaften und ihre soziale Differenzierung eingebettet waren. 56 Ksenija CVETKOVIĆ-SANDER, Sprachpolitik und nationale Identität im sozialistischen
Jugoslawien (1945–1991) Serbokroatisch, Albanisch, Makedonisch und Slowenisch. Wiesbaden 2011.
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2.1. „Die Fabriken den Arbeitern“: Ideologisch-normative Perspektiven Im kommunistisch geführten Jugoslawien übte laut ideologischen Postulaten der Zeit die „revolutionäre Arbeiterklasse“ die Macht aus. Die politische Führung enteignete nach 1945 die bestehenden Industrieunternehmen und überführte sie in staatliches Eigentum. Nach der Informbürokrise 1948, in deren Folge sich das Land von sowjetischer Vorherrschaft lossagte, nahmen die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung und die Selbstverwaltung in den Betrieben zentrale Plätze in der ideologischen Konzeption ein. Mit dieser wandte sich Jugoslawien unter der Federführung des „Vaters“ der Selbstverwaltung, des Slowenen Edvard Kardelj, deutlich vom sowjetischen Zentralismus ab: Der Staat sollte in Anlehnung an Engels und Lenin „absterben“.1 Anlässlich der Verabschiedung des „Gesetzes über die Leitung der staatlichen Wirtschaftsbetriebe durch die Arbeitskollektive“ im Juni 1950 betonte Josip Broz Tito die Rolle der Selbstverwaltung als Schritt zur Übernahme der Macht durch die ArbeiterInnen: Selbstverständlich kommt es darauf an, dass das Proletariat auch wirklich in jeder Hinsicht an die Macht kommt. Dieses Absterben des Staates beginnt zuerst `in seinen Wirtschaftsfunktionen´, in der Leitung der Produktion durch die Produzenten, in einer schrittweisen Uebertragung [sic!] der Wirtschaftsfunktionen vom Staat auf die Arbeitskollektive […].2
Weiter betonten die Grundsätze der Verfassungen von 1963 und 1974 die Humanisierung der Arbeit – insbesondere der Produktionsarbeit – als Ziel der sozialistischen Ordnung. Ungleichheitsbeziehungen würden im System der Selbstverwaltung obsolet werden: Das sozialistische System stützt sich in Jugoslawien auf die Beziehungen zwischen den Menschen als freie und gleichberechtigte Produzenten und Schaffende, deren Arbeit ausschließlich zur Befriedigung ihrer persönlichen und gemeinsamen Bedürfnisse dient. […] Im Einklang damit stellt folgendes die unantastbare Grundlage der Stellung und Rolle des Menschen dar: […] die Befreiung der Arbeit als Überwindung der historisch bedingten gesellschafts-politischen Ungleichheit und Abhängigkeit der Menschen bei der Arbeit, die durch die Aufhebung der Lohnverhältnisse, die Selbstverwaltung der Werktätigen, die allseitige Entwicklung der Produktivkräfte, der Verringerung der gesellschaftlich nötigen Arbeitszeit, […] sichergestellt wird [.]3
Die Selbstverwaltung stellte damit einen weiteren Schritt nach der Enteignung der Produktionsmittel und ihrer Überführung in Staatsbesitz dar, wie er in der Sowjetunion und in den kommunistisch geführten Staaten Ost- und Südosteuro1 2 3
Für einen Überblick zur den Anfängen des Selbstverwaltungssozialismus in Jugoslawien siehe: LEMÂN, Das jugoslawische Modell, 23–25. Josip B. TITO, Die Fabriken in Jugoslawien werden von Arbeitern verwaltet. Belgrad 1950, 30f. Die Verfassung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Beograd 1963, 4–6. Fast wortgleich in der Verfassung von 1974: Die Verfassung der SFR Jugoslawien. Eingeleitet von Herwig Roggemann. Berlin 1979, 108f.
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pas vollzogen worden war. Die jugoslawische Führung ging also weiter als dort und wies darauf hin, dass in der Sowjetunion ArbeiterInnen wegen der zentralistischen Organisation der Wirtschaft keinen Einfluss auf ihre Arbeit hätten und weiterhin in Abhängigkeitsbeziehungen verharren würden.4 Nach einer zweijährigen Probephase, in der die Selbstverwaltung in einer begrenzten Anzahl von Betrieben eingeführt wurde, wählten die Beschäftigten ab 1952 in allen Betrieben in gesellschaftlichem Besitz Arbeiterräte. Diese bestimmten wiederum einen Verwaltungsausschuss als Exekutivorgan und überwachten seine Tätigkeiten, erließen eine Betriebsordnung und genehmigten die Pläne und Geschäftsberichte des Betriebes. Die operativen Aufgaben, wie monatliche Pläne zu verfassen, die Produktion zu organisieren und die Betriebsordnung zu entwerfen, erledigte der Verwaltungsausschuss. In diesen frühen Jahren der Selbstverwaltung wurden DirektorInnen, die auch Mitglieder der betrieblichen Verwaltungsausschüsse waren, von staatlichen Stellen eingesetzt. Sie leiteten das operative Geschäft, vertraten den Betrieb nach außen, stellten MitarbeiterInnen ein und konnten Kündigungen aussprechen. Gegen solche Entscheidungen konnten Beschäftigte beim Verwaltungsausschuss und später auch beim Arbeiterrat Einspruch einlegen.5 Aufgaben und Verantwortung des Verwaltungsausschusses und von DirektorInnen waren wenig klar voneinander getrennt, beide nannte das Gesetz als verantwortlich für die Geschäfte eines Betriebes. Im Laufe der Zeit griffen zahlreiche weitere von Partei und Staatsführung induzierte Reformen in die Betriebsstrukturen ein. So wurden mit der Verfassung von 1963 parallel zu Dezentralisierungen in Staat und Partei die Betriebe aufgegliedert. Einheiten unterhalb der Gesamtbetriebsebene richteten eigene Arbeiterräte ein.6 Daneben gab es Arbeiterversammlungen als Selbstverwaltungsinstanzen offenbar schon bevor sich Arbeiterräte auf dieser Ebene in den Betriebsteilen gründeten.7 Jedoch ist über die Stellung von Arbeiterversammlungen in der betrieblichen Selbstverwaltung wenig bekannt. Ihre Kompetenzen im Verhältnis zu Betriebleitungen, Arbeiter- und Verwaltungsräten legten offenbar die Betriebsstatute fest.8 Ihre geringe Präsenz sowohl im offiziellen Selbstverwaltungsdiskurs, in den Materialien der Betriebsarchive als auch in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung lässt darauf schließen, dass sie vor allem als Kommunikationsinstrument dienten. Offenbar konnten sie jedoch punktuell eine starke Wirkung entfalten, wenn die Statuten ihre Zustimmung zu wichtigen Entscheidungen vorsahen, die die Betriebe als Ganzes betrafen (siehe Kapitel 4.1.1.). 4 5 6 7 8
Vgl. TITO, Die Fabriken in Jugoslawien, 27f. Vgl. Auszug aus dem Gesetz über die Selbstverwaltung von 1950 in: ebenda, 53– 62. Vgl. zu den Neuerungen 1963: Die Verfassung der SFRJ 1963, 44–47. Srb./ Slow.: „Zbor radnika/ delavcev“. Die Verfassung von 1963 erwähnt Arbeiterversammlungen in Artikel 35: ebenda, 27. Vgl. LEMÂN, Das jugoslawische Modell, 78f.; Edvard KARDELJ, Slobodni udruženi rad. Brionske diskusije, in: DERS., Udruženi rad i samoupravno planiranje, Bd. 3. Sarajevo 1982, 193–478, 451–453.
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Ab 1961 wurde den Betrieben größere Autonomie gegen über dem Staat eingeräumt, was sich einerseits in der Verwendung der erwirtschafteten Mittel ausdrückte, andererseits aber auch in der Bestimmung der DirektorInnen. Diese sollten nun über öffentliche Ausschreibungen gefunden werden und über eine Kommission, gebildet aus Mitgliedern der Betriebe, der Gemeinde, der Massenorganisationen und des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ)9 ausgewählt werden. Zudem wurden die Kompetenzen von DirektorInnen formal eingeschränkt, indem die Verfassung sie stärker den Beschlüssen von Arbeiterrat und Verwaltungsausschuss unterstellte.10 Mit den Reformen in der Mitte der 1960er Jahre liberalisierten die jugoslawischen KommunistInnen zudem das gesamte Wirtschaftssystem. Die Aufgabe, Investitionsmittel zu vergeben, ging fortan von einem Bundesfonds weitgehend auf Banken über, der jugoslawische Markt wurde zum Weltmarkt hin geöffnet und die Abgaben der Unternehmen an den Staat verringerte sich. An der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren erlebte Jugoslawien mit den Protesten von 1968, dem „Kroatischen Frühling“ 1971 und der Entmachtung der „liberalen“ und „nationalistischen“ Parteiführungen in weiteren Teilrepubliken 1972 die schwerste politische Krise seit 1948. Eine Maßnahme, die die politische Führung unternahm, um das Land zu stabilisieren, bestand in der Novellierung der Verfassung. Die Verfassungszusätze von 1971, bzw. unter ihnen die so genannten „Arbeiterzusätze“11 stärkten die Autonomie von Betriebsteile gegenüber dem Gesamtunternehmen. Die Untereinheiten konnten sich nun als Grundorganisationen der vereinten Arbeit – GOVA12 konstituieren. Beschäftigte sollten auf diese Weise – so die ideologische Zielrichtung – direkter und näher über die Bedingungen ihrer Arbeit und die Verteilung des Einkommens in ihrem Betriebsteil mitentscheiden können.13 Um die negativen Auswirkung der bereits seit Beginn der 1960er vorangetriebenen Dezentralisierung Auf dem Gebiet der föderativen Einheiten der Sozialistischen Republik Slowenien und der Sozialistischen Republik Serbien waren die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Republiksparteiorganisationen tätig. Nach der Umbenennung der „Kommunistischen Partei“ in „Bund der Kommunisten“ 1952: „Zveza komunistov Slovenije – ZKS“ (Bund der Kommunisten Sloweniens – BdKSl) und „Savez komunista Srbije – SKS“ (Bund der Kommunisten Serbiens – BdKS). 10 Siehe zur Position von DirektorInnen im Wandel der Selbstverwaltung: PRINČIČ, Direktorska funkcija. 11 Die Zusätze XX–XXIII wurden populär „Arbeiterzusätze“ genannt, siehe dazu: Belgrad ARHIV JUGOSLAVIJE, Amandmani na Ustav SFRJ iz 1963. godine, unter , 11.11.2014. 12 Srb.: „Osnovna organizacija udruženog rada – OOUR“, Slow.: „Temeljna organizacija združenega dela – TOZD“, Holm Sundhaussen übersetzt das mit „vereinte Arbeit“, siehe Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918–1980. Stuttgart 1982, 202; die offizielle jugoslawische Übersetzung verwendet auch den Begriff der „assoziierten Arbeit“, siehe: Das Gesetz über assoziierte Arbeit. Ljubljana 1977. 9
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auszubalancieren, schufen die Verfassungszusätze mit den Selbstverwaltungsabkommen und den gesellschaftlichen Verträgen die Instrumente der jugoslawischen Vereinbarungswirtschaft.14 Die Verfassung von 1974 trieb die Föderalisierung des jugoslawischen Staates noch weiter voran. Gleichzeitig dehnte sie das Selbstverwaltungsprinzip über die wirtschaftliche Sphäre hinaus auf die unteren Verwaltungsebenen des Staates sowie auf Bildungs-, Kultur- und Gesundheitseinrichtungen aus. Das Delegiertensystem ersetzte ein repräsentatives Wahlsystem, womit die IdeologInnen die Selbstverwaltung auf eine höhere Stufe gestellt sahen. Für Betriebe wurde es nun zur Pflicht, sich aus GOVA zusammenzusetzen, die gegenüber den Gesamtbetrieben mit viel Autonomie ausgestattet waren. Parallel dazu sah die Verfassung von 1974 eine Integration dezentralisierter Industrieunternehmen vor. Ziel war es dabei, Unternehmen sowohl vertikal als auch horizontal in sogenannten „Zusammengesetzten OVA“ zu integrieren – ähnlich Konzernen in kapitalistischen Ländern und Kombinaten im sowjetischen Einflussbereich.15 Dies, so formulierte es das 1976 verabschiedete „Gesetz über die assoziierte Arbeit“16 detaillierter, sollte einerseits dazu dienen, von der Rohstoffgewinnung bis zum Vertrieb alle Geschäftsbereiche in einem Unternehmen zu vereinen. Andererseits sollte die Konstruktion der Zusammengesetzten OVA bezwecken, der unwirtschaftliche Zersplitterung von Branchen in viele Betriebe entgegenzuwirken.17 Im betrieblichen Institutionengefüge wurde 1971 die Rolle der Arbeiterräte gegenüber den Verwaltungsausschüssen formal gestärkt, indem konkretere Geschäftsentscheidungen nun in ihren Wirkungsbereich fielen. Wie der Zagreber Industriesoziologe Josip Županov bereits für die späten 1960er Jahre feststellte,18 blieb die Rolle von DirektorInnen weiterhin ambivalent, bereiteten sie doch die Entscheidungen der Arbeiterräte vor, führten sie aus, sollten aber gleichzeitig von den Arbeiterräten kontrolliert werden. Neben diesen Umgestaltungen und Kompetenzverschiebungen resultierten die Reformen in einer gesteigerten Komplexität der Institutionenlandschaft. Ein neues Element bestand in der betrieblichen Arbeiterselbstverwaltungskontrolle (ASVK), welche bereits vor der Verabschiedung der neuen Verfassung 1974 in einigen Betrieben eingerichtet 13 Vgl. Verfassungszusatz XXI in: Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien,
Bundesversammlung, Verfassungsänderungen XX bis XLII. Belgrad 1972, 5–13. 14 Srb./ Slow.: „Samoupravni sporazum“, „Društveni/ Družbeni dogovor“. Siehe Ver-
fassungsänderung XXI., Abs. 4 in: ebenda, 8. 15 Slow.: „Sestavljena organizacija združenega dela – SOZD“, Srb.: „Složena organi-
zacija udruženog rada – SOUR“. Vgl. Artikel 38 in: Die Verfassung der SFRJ 1974, 140. 16 Srb.: „Zakon o udruženom radu“; Slow.: „Zakon o združenom delu“. Es existieren verschiedene Varianten der deutschen Übersetzung: „Gesetz über die vereinte Arbeit“, „Gesetz über assoziierte Arbeit“ 17 Vgl. Artikel 382–387: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 306–310. 18 Vgl. ŽUPANOV, Je li položaj direktora privlačan, 265.
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wurde.19 Sie sollte dafür sorgen, dass Abweichungen von geltenden Selbstverwaltungsprinzipien geahndet wurden. Auch in den 1974 geschaffenen Gerichten der vereinten Arbeit äußerte sich ein Reflexionsprozess der Staatsführung. Wie die Arbeiterkontrolle sollten sie betriebliche Konflikte lösen, die trotz formal realisierter Arbeiterselbstverwaltung in Unternehmen auftraten.20 Dieser umfangreiche Reformzyklus der 1970er Jahre blieb bis in die Mitte der 1980er Jahre die letzte Veränderung im Institutionengefüge der Selbstverwaltung. Parallel zu den Selbstverwaltungsgremien waren Partei und sozialistische Massenorganisationen wie die Gewerkschaft und die Jugendorganisation in den Unternehmen präsent. Obwohl die führende Rolle des Bundes der Kommunisten in den Verfassungen verankert war, taucht die organisatorische Durchdringung der Betriebe seitens der sogenannten „gesellschafts-politischen Kräfte“ in den gesetzlichen Akten zur Betriebsverfassung nicht auf. Das Absterben von Staat und Partei, für das die Selbstverwaltung stehen sollte, erwies sich dennoch auf organisatorischer Ebene der Betriebe als reine Rhetorik. Am Beginn des Kapitels 4 folgt eine ausführlichere Charakterisierung des Status der Organisationen in den Unternehmen.
Prinzipien der Lohnverteilung Für die Festsetzung von Löhnen war seit 1957 die betriebliche Selbstverwaltung zuständig, während vorher staatlich festgelegte Tarife galten. Mit der inneren Dezentralisierung von Unternehmen, die in der Selbstverwaltungsterminologie als Arbeitsorganisationen bezeichnet wurden, zu Beginn der 1960er Jahre konnten die Betriebsteile die Löhne weitgehend selbst festsetzen. Gleichzeitig lehnte die jugoslawische Ideologie den Lohnbegriff an sich ab. Künftig bezeichnete in die offizielle Sprache Lohn ausschließlich als „persönliches Einkommen“.21 Dieses sollte sich anhand der „Leistung“ berechnen, wobei damit zweierlei Prinzipien gemeint waren. Zum einen sollte berücksichtigt werden, welche Arbeitsleistung jemand investiert hatte. Zum anderen bedeutete das Leistungsprinzip nach der Integration von Marktelementen in das jugoslawische Wirtschaftssystem, die Erfolge („Resultate“) des Betriebes mit einzubeziehen: Jedem Werktätigen in der Arbeitsorganisation gebührt – im Einklang mit dem Prinzip der Verteilung entsprechend der geleisteten Arbeit – ein persönliches Einkommen entsprechend den Resultaten seiner Arbeit, der Arbeit der betreffenden Arbeitseinheit sowie der Arbeit der gesamten Arbeitsorganisation.22 19 Slow./ Srb.: „Samoupravna delavska/ radnička kontrola“, abgekürzt auch: „delavs-
ka/ radnička kontrola“; Arbeiterkontrolle. Bei Zastava war 1974 davon die Rede, dass die Verfassungsänderungen 1971 die Grundlage für diese neue Institution gelegt hatten: Slavoljub FILIPOVIĆ, Samoupravne radničke kontrole i služba unutrašnje kontrole – organska celina, Crvena zastava, 10.4.1974, 4. Explizit taucht sie in der Verfassung von 1974 in Artikel 107 auf: Die Verfassung der SFRJ 1974, 169. 20 Vgl. Art. 226 in der Bundesverfassung von 1974: ebenda. 21 Srb.: „Lični dohodak“, Slow.: „Osebni dohodek“. In dieser Analyse sollen dafür sowohl die Begriffe „Einkommen“ als auch „Löhne“ verwendet werden. 22 Vgl. Die Verfassung der SFRJ 1963, 18.
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Hier war zudem schon die größer werdende Autonomie der Betriebsteile (Arbeitseinheiten) angelegt, die mit späteren Verfassungsdokumenten noch gestärkt werden sollte. Darüber hinaus erweckten die Formulierungen des Gesetzestextes den Eindruck, dass eine objektiv gerechte Verteilung gesichert sei bzw. dass sich die Grundsätze ohne Weiteres operationalisieren ließen. Neben dem Leistungsprinzip in seinen verschiedenen Ausprägungen sollte in der Lohnverteilung überdies ein Solidaritätsprinzip gelten. Die Verfassung von 1963 konkretisierte diesen Grundsatz als die „Befriedigung der persönlichen und gemeinsamen Bedürfnisse der Werktätigen“.23 Auf diese Weise nahm der Verfassungstext auf Einkommen und die soziale Situation von Beschäftigten noch recht allgemein Bezug und betonte das Visionäre der Selbstverwaltung stark. Dagegen schien in den nachfolgenden Gesetzeswerken ein Problembewusstsein durch, das die Realität prekärer sozialer Existenzen von ArbeiterInnen stärker berücksichtigte. Hier reagierte die jugoslawische Führung auf Kritik an sozialen Missständen, die sie auf unterschiedlichen Wegen erreichte. Der Verfassungszusatz XXI aus dem Jahr 1971 legt explizit fest: Jedem Arbeiter in vereinter Arbeit mit gesellschaftlichen Mitteln wird der Erwerb des persönlichen Einkommens und die Geltendmachung anderer Rechte mindestens in der Höhe […] gewährleistet, die seine soziale Sicherheit und Stabilität sicherstellen.24
Dieser Abschnitt legt nahe, dass das in der Praxis nicht immer der Fall war, sonst wäre es keiner Erwähnung in einem Text mit Verfassungsstatus wert. In eben diesem Verfassungszusatz wurde überdies erstmals die Arbeitsplatzsicherheit unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens festgeschrieben, welche jugoslawische ArbeiterInnen vorher nicht garantiert war.25 Als Reaktion auf die instabile wirtschaftliche und politische Situation, die an der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren die Legitimität des BdKJ gefährdete, wandten sich Tito und Stane Dolanc als Parteiführung im Herbst 1972 in einem Brief an die Parteiorganisationen im ganzen Land.26 Dieses wichtige Dokument sollte in den folgenden Jahren unter der Bezeichnung „Titos Brief“ in sozialpolitischen Debatten präsent bleiben. Neben der Abrechnung mit unerwünschten Strömungen inner- und außerhalb des BdK thematisierte die Parteispitze im Brief soziale Ungleichheit. Dabei führte sie diese maßgeblich auf die
23 Ebenda, 6. 24 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, Bundesversammlung, Verfassungs-
änderungen XX bis XLII 1971, 9. 25 Vgl. ebenda, 11. 26 Vgl. Stane DOLANC / Josip B. TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums des
BdKJ und Präsident Titos, in: Reden von Tito, Kardelj und Dolanc. Die ideelle und politische Offensive des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Belgrad 1972, 109–118. Zur Bedeutung des Schreibens in den politischen Konflikten der Zeit siehe: Holm SUNDHAUSSEN, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Köln, Weimar, Wien 2012, 186f.
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Einkommen Privilegierter zurück, die „nicht auf geleisteter Arbeit beruh[t]en“.27 Bereicherung, Korruption und Diebstahl, so hieß es weiter, lägen in Abweichungen vom geltenden Verteilungsprinzip begründet und seien die Ursachen gravierender sozialer Ungleichheit. Der Verfassungstext von 1974 verbot demgemäß in Artikel 15 explizit den Missbrauch von Stellungen in Unternehmen zur persönlichen Vorteilsnahme, wies auf gesetzliche Sanktionen bei der „Störung“ des Einkommensmaßstabs „Verteilung nach der Arbeit“ hin.28 Das Gesetz über die assoziierte Arbeit von 1976, das über sechshundert Paragrafen umfasste, schrieb die genannten Punkte aus der Verfassung von 1974 fort. Im Vergleich zu früheren Dokumenten entwarf es ein deutlich weniger visionäres Bild von den Arbeitsbeziehungen im gesellschaftlichen Sektor. So schlug der Gesetzestext z. B. ein Vermittlungsverfahren in „Streitfällen, die nicht auf ordentlichem Weg erledigt werden können“ – also im Falle von Streiks – vor.29 In Artikel 638 hieß es: Ist der Streitfall von solcher Art, daß er zu Störungen bei der Arbeit und in den Selbstverwaltungsbeziehungen führen oder daß als seine Folge ein erheblicher Schaden entstehen könnte, sind die Arbeiter verpflichtet, darüber die Gewerkschaft, die gesellschaftlich-politischen Organisationen und die Versammlung der gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft zu unterrichten. Gleichzeitig haben die Arbeiter ihre Delegierten zu bestimmen, die mit den Vertretern der Gewerkschaft und der anderen gesellschaftlich-politischen Organisationen und der Versammlung der gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft einen gemeinsamen Ausschuß für die Lösung des entstandenen Streitfalls bilden.30
Hier wurde ein weiteres Mal in einem normativen Akt explizit eingestanden, dass die vorhandenen Institutionen der Selbstverwaltung Konflikte nicht effektiv beilegen konnten. Implizit gestand die Staatsführung so überdies ein, dass die Einkommensverteilung „gemäß der Arbeit“ nicht in der Lage sei, eine dem Sozialismus angemessene Existenzgrundlage zu für alle zu bieten: Neben dem Grundsatz der Verteilung nach der Arbeit wenden die Arbeiter in der Grundorganisation auch den Grundsatz der Solidarität an, vor allem bei der Nutzung der Mittel für den gemeinsamen Verbrauch, zum Zweck der Mitwirkung und der Befriedigung bestimmter sozialer und anderer Bedürfnisse von Arbeitern mit niedrigem persönlichen Einkommen und deren Familienmitgliedern.31
Im Umkehrschluss hieß das, dass in marktorientierten jugoslawischen Unternehmen mit Selbstverwaltung eine soziale Umverteilung notwendig war. Hier wurde ein Segment der ArbeiterInnenschaft zum Empfänger sozialer Umverteilung, welche staatlich verordnet wurde. Demzufolge wies bereits der Gesetzestext darauf hin, dass die betreffenden ArbeiterInnen in der Arbeiterselbstverwal27 28 29 30 31
Vgl. DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums, 116. Vgl. Art. 15, 21, 47 in: Die Verfassung der SFRJ 1974, 129, 132, 145–146. Vgl. Art. 636–640 in: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 448–450. Ebenda, 449. Ebenda, 152.
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tung keine Stimme besaßen, die einflussreich genug war, um eine grundlegende soziale Sicherung zu erwirken. Die kommunistische Führung musste zwischen den 1950er und 1980er Jahren damit umgehen, dass nach den visionären Anfängen der Selbstverwaltung zusehends unerwünschte soziale Realitäten offenbar wurden. Unter den Bedingungen von wirtschaftlicher und politischer Instabilität, besonders in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, wählte sie die Strategie, das System der Selbstverwaltung bis zum Jahr 1976 ständig zu reformieren. Die Einkommensverteilung war und blieb ein umkämpftes Thema, das in den von wirtschaftlichen Problemen geprägten 1980er Jahren zusätzlich an politischer Brisanz gewann.
2.2. Wirtschaftsentwicklung zwischen Plan und Markt Neben den geschilderten institutionellen Rahmenbedingungen prägten zudem wirtschaftliche Faktoren die Konflikte in den Betrieben. Welche makroökonomischen Entwicklungen vollzogen sich, während die Betriebe den beschriebenen institutionellen Wandel umsetzen mussten? Auf welche Weise bekamen Beschäftigte die schwankende Wirtschaftslage zu spüren? Nicht zuletzt gaben makroökonomische Bedingungen den Anstoß für Migrationsprozesse, welche die sozialen Verhältnisse in den Fabriken maßgeblich beeinflussten. Nach 1945 setzte im wirtschaftlich und infrastrukturell heterogenen und vom Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Jugoslawien eine staatlich forcierte Industrialisierung ein. Hatte es vor allem in Slowenien und einigen städtischen Zentren in den übrigen Gebieten Jugoslawiens vor 1941 nur einen industriellen Nukleus gegeben, so hob die kommunistische Führung nun zu einem rasanten Ausbau der Industrieproduktion in einem weitgehend agrarischen Land an.32 In einem anfangs nach sowjetischen Vorbild eingerichteten zentralen System förderte der Staat im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende vor allem den Ausbau der Schwer- und Grundstoffindustrie. Ab Mitte der 1950er Jahre floss auch die Förderung der Konsumgüterindustrie stärker in die staatliche Wirtschaftspolitik mit ein. Zu Beginn der 1960er Jahre machte sich in Jugoslawien nach einer Periode des starken industriellen Wachstums seine Verlangsamung bemerkbar. Der BdKJ beschloss daraufhin – nicht ohne Kontroversen – 1965 Reformen, die die jugoslawische Wirtschaft liberalisierten. Das Land öffnete sich zum Weltmarkt: Die schon seit 1958 gelockerte staatliche Kontrolle über Produktion, Preise und Löhne wurde weiter gelöst. Fortan vergaben nicht mehr staatliche Investitionsfonds sondern hauptsächlich Banken Investitionsmittel. Mit der Öffnung Jugoslawiens zum Weltmarkt gingen starke Preisanstiege für die industrielle Produktion einher. Auftragsrückgänge bewirkten die Stagnation bei der Einstellung von Arbeitskräften sowie Entlassungen. Wuchsen die Beschäftigtenzahlen 1965 im Vergleich zum Vorjahr um 1,5 %, so sanken sie 1966 um 2,2 %.33 Einen Ausweg 32 SUNDHAUSSEN, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, 534. 33 PROUT, Market Socialism, 225. Prouts Daten basieren auf den von der publizierten
OECD Wirtschaftsstatistiken: OECD Economic Surveys: Yugoslavia, 1973, 1980,
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suchten viele Beschäftigte in der Arbeitsmigration ins Ausland: Zwischen 1965 und 1966 stieg der Anteil der EmigrantInnen an der gesamten aktiven Bevölkerung von marginalen 0,6 % sprunghaft auf 10,3 % an,34 was deutlich für eine Krise auf dem jugoslawischen Arbeitsmarkt spricht. Um die Lage auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu entschärfen, ließ die jugoslawische Regierung bereits ab 1962 die „zeitweilige Arbeit im Ausland“ zu und schloss Anwerbeabkommen mit westeuropäischen Ländern. Durchschnittseinkommen, Produktivität und Preise in Jugoslawien 1955–1981 50
Steigerungsrate in %
40 30 20 10 0 -10 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19
Durchschnittseinkommen Lebenshaltungskosten
Produktivität
Abbildung 1: Anstieg Durchschnittseinkommen, Produktivität und Preise in Jugoslawien 1955–1981, Quelle: Christopher PROUT, Market Socialism in Yugoslavia. Oxford 1985, 225, 232.
1983. Zum Umgang der politischen Führung mit dem Problem der Arbeitslosigkeit: Susan L. Woodward, Socialist Unemployment. The Political Economy of Yugoslavia 1945–1990. Princeton, NJ 1995; Đorđe Tomić / Stefan Pavleski, Das werktätige Volk ohne Arbeit. Arbeitslosigkeit und Selbstverwaltung im sozialistischen Jugoslawien als Forschungsgegenstand: Eine kritische Bestandsaufnahme, Südosteuropäische Hefte 4 (2015), H. 2, 73–90. 34 PROUT, Market Socialism, 225.
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Die Löhne derjenigen, die in Jugoslawien blieben und im öffentlichen Sektor35 beschäftigt waren, konnten bis 1973 stetig mit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten mithalten. Einer Erholung der jugoslawischen Wirtschaft am Ende der 1960er Jahre folgte jedoch mit der weltweiten Rezession und Strukturkrise der Industrie, die sich 1973 mit der ersten Ölkrise ankündigte, ein weiterer tiefer Einschnitt. Bereits 1971 nahm Jugoslawien Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch, sodass fortan „Sparen“ und „Stabilisierung“ in den Betrieben ständig präsente Forderungen darstellten.36 Arbeitslosigkeit und Arbeitsemigration in Jugoslawien 1965–1981
Anteil an aktiver Bevölkerung in %
14 12 10 8 6 4 2 0 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19
Registrierte Arbeitslosigkeit
Arbeitsemigration
Abbildung 2: Arbeitslosigkeit und Arbeitsemigration in Jugoslawien 1965–1981, Quelle: PROUT, Market Socialism in Yugoslavia, 225.
Augenfällig ist, dass zwischen 1973 und 1975 die Löhne anstiegen, obwohl die Produktivität sank und jugoslawische Unternehmen Absatzprobleme auf internationalen und heimischen Märkten hatten. Möglich war dies, da die Betriebe im dezentralisierten Wirtschaftssystem relativ autonom Löhne festlegen und
35 Der sogenannte öffentliche oder gesellschaftliche Sektor (Srb./ Slow.: „društveni/
družbeni sektor“ gliederte sich in die nichtwirtschaftliche Sphäre mit Tätigkeiten in Kultur, Bildung, Sozialfürsorge, Verwaltung und Massenorganisationen (Srb.: „vanprivredne delatnosti“; Slow.: „negospodarske dejavnosti“) und die Sphäre der Wirtschaft (Srb.: „privreda“; Slow.: „gospodarstvo“). 36 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 251.
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fehlende Lohnmittel durch Kredite, Verzicht auf Investitionen oder den Verbrauch ihrer Rücklagen kompensieren konnten. Marie-Janine Calic weist darauf hin, dass nicht nur steigende Reallöhne, sondern auch die kreditfinanzierten Investitionsschübe in Wirtschaft und öffentliche Infrastruktur in den 1970ern den Eindruck eines stetig wachsenden Wohlstandes vermittelten, der nicht der jugoslawischen Wirtschaftsleistung entsprach.37 Aber auch private Konsumkredite wurden in den 1970er Jahren rege in Anspruch genommen. Dies war einerseits durch die Zugänglichkeit günstiger Kredite attraktiv, andererseits aber auch deshalb, weil Kredite aufgrund der Inflation relativ leicht zurück gezahlt werden konnten.38 Neben steigenden Einkommen und Krediten trugen auch Transferzahlungen aus dem Ausland zur Kaufkraft der jugoslawischen Bevölkerung bei. Zwischen 1966 und 1981 schwankte der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, der in Deutschland, Österreich oder in anderen westeuropäischen Ländern ein Auskommen suchte, zwischen 3,4 % und 12,2 %. Die bis 1973 steigende Zahl von Emigrierten vermochte den Arbeitsmarkt in Jugoslawien zeitweilig zu entlasten. Nachdem allerdings infolge der weltweiten Rezession die Zielländer 1973 Anwerbestopps verhängten, verschärfte die Rückkehr von ArbeiterInnen nach Jugoslawien das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit noch zusätzlich. Mit der zweiten Ölkrise 1979 endete die Erwartung ständig steigenden Wohlstands bei denjenigen, die nicht schon in den Jahren davor Einschnitte hatten hinnehmen müssen. Es trat ein, was seit Beginn der 1960er Jahre nur einmal 1973 der Fall gewesen war: Die Lebenshaltungskosten wuchsen schneller als die Einkommen im öffentlichen Sektor. Dessen wurde sich, wie der kroatische Historiker Igor Duda bemerkt, die Bevölkerung nun im Alltag viel deutlicher bewusst: War die Ölkrise 1973 an Benzinpreisen für private Verbraucher kaum spürbar, so schränkte die Bundesregierung in Belgrad nach dem Ölpreisschock 1979 per Gesetz bis 1985 den Individualverkehr ein.39 Stellten sich, wie Duda festhält, aus der Perspektive der Bevölkerung die 1970er Jahre als „goldene Jahre“ dar, so betont Calic, dass die jugoslawische Politik die Krisensymptome in dieser Periode systematisch ignorierte.40 Ein hohes Handelsbilanzdefizit, Arbeitslosigkeit, Inflation, der Anstieg der Lebenshaltungskosten und das sich verschärfende Wohlstandsgefälle zwischen den jugoslawischen Republiken und Regionen hätten deutliche Anzeichen für ein konsequentes wirtschaftspolitisches Gegensteuern sein müssen. In akuten politischen Konflikten im Kosovo (1968), in Slowenien (1969) und in Kroatien (1971), äußerten sich als national verstandene Interessen der Republiken und Regionen in Vorwürfen der wirtschaftlichen Ausbeutung. Dies veranlasste die kommunis37 Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 256. 38 Vgl. Igor DUDA, Pronađeno blagostanje. Svakodnevni život i potrošačka kultura u
Hrvatskoj 1970-ih i 1980-ih. Zagreb 2010, 231–239. 39 Vgl. ebenda, 270–274. 40 Vgl. ebenda, 394; Marie-Janine CALIC, The Beginning of the End – The 1970s as a
Historical Turning Point in Yugoslavia, in: CALIC / NEUTATZ / OBERTREIS (Hgg.), The Crisis of Socialist Modernity, 66–86, 74.
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tische Führung am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre dazu, mit harter Hand die Priorität auf die Entschärfung national konnotierter Konflikte zu legen. Die Verfassung von 1974 dezentralisierte den jugoslawischen Staat in erheblichem Maße, was Rufe nach mehr Selbstbestimmung der Völker Jugoslawiens besänftigen und die Gefahr infrage gestellter Legitimität der kommunistischen Herrschaft abmildern sollte. Durch die Föderalisierung erlangten die Republiken und autonomen Gebiete jedoch die Möglichkeit, Bundespolitik zu blockieren, sodass die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit des Bundes stark abnahm. Er konnte bundespolitische Vorhaben aufgrund der starken Positionen der Republiken nicht gegen das Veto einzelner Gebietskörperschaften durchsetzen.41 Eine effektiv regulierende Wirtschaftspolitik, wie sie nötig gewesen wäre, war unter diesen Umständen nicht durchführbar. Ab Beginn der 1980er Jahre wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Jugoslawiens für immer breitere Schichten der Bevölkerung deutlich spürbar. Strenge Auflagen des IWF, der Jugoslawien bereits zu Beginn der 1970er Jahre Kredite gewährt hatte, veranlassten die jugoslawische Regierung 1982 zu Sparprogrammen, die sich in der Rationierung von Benzin und Strom sowie einem merklich geringeren Warenangebot in den Geschäften für die Verbraucher bemerkbar machte.42 1980 nahm die Inflation mit 35 % Fahrt auf und lag 1985 bei 100 %. Produktion und Arbeitsproduktivität stagnierten und die Realeinkommen in Jugoslawien sanken um die Hälfte.43 Eine von der föderalen Regierung in Belgrad 1981 beauftragte Kommission unter der Leitung des slowenischen Vorsitzenden des Staatspräsidiums Sergej Kraigher legte 1983 in ihrem Abschlussbericht Reformvorschläge für die jugoslawische Wirtschaft vor.44 Diese wurden jedoch nicht umgesetzt. Jugoslawien war wirtschaftlich und politisch in acht föderale Einheiten fragmentiert und einer gemeinsamen Reformanstrengung standen selbst angesichts gravierender struktureller Wirtschaftsprobleme die Interessen der Regionen und Republiken im Wege. Vor allem die divergierenden Agenden in der Wirtschaftspolitik der Republiken und Provinzen, aber auch die Prinzipien der Selbstverwaltung in den Betrieben behielten so bis zum Ende der 1980er Jahre ihre Gültigkeit.
41 Vgl. Dijana PLEŠTINA, Regional Development in Communist Yugoslavia. Succes,
Failure, and Consequences. Boulder, San Francisco, Oxford 1992, 85f. 42 Vgl. ebenda, 119; SUNDHAUSSEN, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, 208. 43 PLEŠTINA, Regional Development in Communist Yugoslavia, 106; CALIC, Geschichte
Jugoslawiens, 265. 44 Die Kommission aus etwa 300 PolitikerInnen und ExpertInnen wurde nach ihrem
slowenischen Vorsitzenden Sergej Kraigher, der seit den 1940er Jahren hohe politische Funktionen auf Republiks- und oberster staatlicher Ebene ausübte, „Kraigher-Kommission“ genannt. Sie legte ihr „Langzeitprogramm der wirtschaftlichen Stabilisierung“ 1983 vor. Die Vorschläge der Kommission wurde in vier Bänden veröffentlicht: Milivoje Dimić (Hg.), Dokumenti Komisije, 1–4. Beograd 1982, 1983.
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3. Zwei jugoslawische Fahrzeugfabriken 3.1. Die Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM in Maribor/ Slowenien Obwohl in Maribor das Bewusstsein um das industrielle Erbe der Stadt heute recht gegenwärtig ist, ist die Fabrikgeschichte der Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM erst in Ansätzen geschrieben. Die Produktion von Nutzfahrzeugen im Stadtteil Maribor Tezno ging auf eine Fabrikgründung unter nationalsozialistischer Besatzung 1941 zurück. Unter Einsatz von ZwangsarbeiterInnen sowie bezahlter Arbeitskräfte wurde die Fabrik im Zweiten Weltkrieg als ein Teil der Flugzeugmotorenwerke Ostmark, deren Hauptsitz sich in Wien befand, in Maribor errichtet. 1942 waren etwa siebentausend Personen in der Fabrik beschäftigt, ungefähr viertausendreihundert von ihnen arbeiteten in der Produktion. Die restlichen ArbeiterInnen waren mit dem Bau von Fabrik und Wohnbaracken betraut.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Fabrik zum Jahr 1947 als Tovarna avtomobilov Maribor Tezno neu gegründet und zunächst zur Produktion verschiedener Erzeugnisse genutzt: Neben der Instandsetzung von Lastwagen aus Reparationen, dem Bau von mobilen Feldküchen, Ventilatoren für Bergwerke und Kompressoren begann man mit tschechoslowakischer Lizenz Lastwagen des Typs Pionir zu bauen. Als die jugoslawische Führung 1950 die Arbeiterselbstverwaltung einführte, fungierte TAM als eines der achtundvierzig Unternehmen, in denen modellhaft Arbeiterräte gegründet wurden, bevor die Selbstverwaltung dann 1952 für alle Betriebe in gesellschaftlichem Eigentum verpflichtend wurde. Erste Exporte tätigte TAM 1955 und belieferte in den späten 1970er Jahren Länder in Europa, Asien, Afrika und Südamerika. Um den Fahrzeug- und Motorenbau zu entwickeln, schloss das Unternehmen nach mehrjähriger Suche und Verhandlungen mit westeuropäischen Unternehmen 1957 ein Lizenzvertrag mit der Kölner Firma Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD). Bestanden die Geschäftsbeziehungen anfangs im Erwerb von Lizenzen, entwickelten beide Unternehmen ab den 1960er Jahren gemeinsam Fahrzeuge und Motoren in dem bei TAM 1961 gegründeten Forschungs- und Entwicklungsinstitut. Im Laufe der 1960er Jahre wurde die Selbstverwaltung im Betrieb ausgebaut. Nun gab es nicht mehr nur einen zentralen Arbeiterrat mit fünfundvierzig Mitgliedern, der Kommissionen ein1
Vgl. Slavica TOVŠAK, Šest desetletij od začetkov Tovarne avtomobilov Maribor, in: DIES. (Hg.), Tovarna avtomobilov Maribor, 3–8, 4.
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richtete und einen Verwaltungsrat wählte, sondern schon 1961 neun Arbeiterräte mit 183 Mitgliedern in den Betriebsteilen.2 In den 1970er Jahren wurde TAM in mehreren Schritten mit anderen Betrieben zusammengeschlossen. Eine Zusammenlegung mit einem der ältesten Unternehmen Maribors fand – durch ein Referendum aller Beschäftigten legitimiert – im Jahr 1971 statt. Nun wirtschaftete TAM in einer gemeinsamen Betriebsstruktur mit der Fahrzeug- und Wärmetechnikfabrik „Boris Kidrič“ (TVT Boris Kidrič), wobei die beiden Fabrikstrukturen jedoch erhalten blieben.3 Im Zuge der Verfassung von 1974 konstituierten sich die Unterabteilungen beider Fabriken als Grundorganisationen der vereinten Arbeit (GOVA, Slow.: „TOZD“). Die als Gemeinsame Dienste bezeichneten Abteilungen erledigten Verwaltungsarbeiten für das Unternehmen. Die beiden Großbetriebe TAM und TVT Boris Kidrič bildeten zukünftig ein Unternehmen in zwei TOZD-Gemeinschaften: die Gemeinschaft der TOZD Straßenfahrzeuge (Slow.: „Skupnost TOZD cestnih vozil“) und die Gemeinschaft der TOZD Schienenfahrzeuge (Slow.: „Skupnost TOZD tirnih vozil“). Hinzu kam die Integration von externen Betrieben als eigenständige GOVA, welche die Funktion von Zulieferern hatten. Auch die Verkaufs- und Servicestellen in ganz Jugoslawien sowie die Kantinen und die Wohnungsverwaltung des Betriebs operierten dann in der Form von GOVA außerhalb der beiden „Gemeinschaften“ unter dem Dach der Arbeitsorganisation TAM (Slow.: „Delovna organizacija TAM – DO TAM“). Gemäß den Idealen der Selbstverwaltung wurde diese staatlich initiierte neue Betriebsstruktur formal als „freiwilliger Zusammenschluss freier Produzenten“ von den Arbeiterversammlungen des Betriebs beschlossen. Hier steht die Fahrzeug- und Motorenfabrik TAM, im engeren Sinne also der Produzent der Straßenfahrzeuge, im Fokus. Sie wurde weiterhin als TAM bezeichnet, obwohl auch für alle integrierten Betriebsteile die übergeordnete Betriebsbezeichnung DO TAM galt. Aus dem Geschäftsbericht des Jahres 1975 ist ersichtlich, dass die Gemeinschaft Straßenfahrzeuge in Form von dreizehn TOZD operierte, in denen Produktion, Qualitätskontrolle und Verkauf organisiert waren. Schmiede, Gießerei, Lackiererei, Härterei, Werkzeugmacherei, Montage, Karosseriebau, Mechanische Fertigung und andere Produktionsabteilungen hatten nun in ihrer jeweils eigenen TOZD weitreichende Entscheidungsspielräume. Die Produktionsvorbereitung, Materialbeschaffung, Personalund Finanzwesen waren in vier Gemeinsamen Diensten organisiert, welche als eigenständige betriebliche Untereinheiten agierten und ihre Dienstleistungen den TOZD in Rechnung stellten. Nutzte TAM bisher eine gemeinsame Buchführung für das gesamte Unternehmen, stellten die VerfasserInnen des Geschäftsberichts 1975 mit bedauerndem Ton folgendes fest: „Die neuen Vorschriften der Buchführung, die für 1975 gültig sind, erlauben uns keinen gemeinsamen Ge2 3
Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delavskemu samoupravljanju Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 1961. Die Tovarna vozil in toplotne tehnike „Boris Kidrič“ (Fahrzeug- und Wärmetechnikfabrik `Boris Kidrič´) Maribor ist aus der Keimzelle der Mariborer Industrie, den 1863 gegründeten Mariborer Südbahnwerken entstanden.
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schäftsbericht der Gemeinschaft der TOZD [Straßenfahrzeuge, U.S.] mehr. Die Vorschrift darüber ist Mitte des Jahres veröffentlicht worden und hat uns große Schwierigkeiten verursacht – die Aufteilung der bisher einheitlichen Buchführung auf dreizehn Grundorganisationen und vier Arbeitsgemeinschaften.“4 Daneben verzögerte der zu erwartende Erlass des Bundesgesetzes über die vereinte Arbeit die Konsolidierung der neuen Strukturen, wie im Geschäftsbericht 1975 antizipiert wurde.5 Die Verfassung von 1974 sah eine weitere Integration von Industrieunternehmen vor. Als Ziel war hier unter anderem formuliert, Unternehmen sowohl vertikal als auch horizontal in sogenannten Zusammengesetzten Organisation der vereinten Arbeit (Slow.: „SOZD“), zu integrieren – ähnlich Konzernen in kapitalistischen Ländern und Kombinaten im sowjetischen Einflussbereich.6 1978 vollzogen die schon vorher unter einem Dach kooperierenden Betriebsteile die Vereinigung zur SOZD ZIV7 TAM. Wie bereits seit den 1960er Jahren verfügten in dieser betrieblichen Großstruktur alle Ebenen über Selbstverwaltungsorgane, die gemeinsam mit den Leitungen der Betriebsteile Managementfunktionen ausübten. Im Jahr 1984 löste sich die SOZD ZIV TAM wieder in acht Unternehmen auf, von denen die hier betrachtete Fabrik TAM mit Abstand das größte war.8 Als Geschäftsgemeinschaft TAM (Slow.: „Poslovna skupnost TAM“) arbeiteten die Einzelunternehmen aber weiter eng zusammen. TAM im engeren Sinne produzierte in den 1980er Jahren eine breite Palette von Fahrzeugen und Metallerzeugnissen: Lastwagen und Spezialfahrzeuge, Busse, militärische Geländefahrzeuge, Motoren, Werkzeuge und Werkzeugmaschinen, Getriebe, Schmiedestücke sowie Gusserzeugnisse. Die Jugoslawische Volksarmee (Slow.: „JLA“)9 war eine wichtige Kundin des Unternehmens. So produzierte TAM seit den 1960er Jahren Lastwagen für das Militär, ab Ende der 1970er Jahre geländegängige Militärfahrzeuge und in den 1980er Jahren Panzer.10 In den 1980er Jahren machte die Produktion für die JLA ein Drittel des Geschäftsvolumens der Mariborer TAM-Fabrik aus.11 In den Export, vor allem SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, S. 3. Mit „Arbeitsgemeinschaften“ sind hier die Gemeinsamen Dienste gemeint. 5 Vgl. ebenda. 6 Vgl. Artikel 38 in: Die Verfassung der SFRJ 1974, 140. 7 Združena industrija vozil – ZIV. (Vereinte Fahrzeugindustrie). 8 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: 8. rednega in zadnjega zasedanja Delavskega sveta SOZD Združenega industrija vozil TAM Maribor, 25.04.1984. 9 Slow.: „Jugoslovanska ljudska armada – JLA“, Srb.: „Jugoslovenska narodna armija – JNA“. 10 Vgl. IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 45. Panzerfahrzeuge des Typs M86 aus Mariborer Produktion von Ende der 1980er Jahre befinden sich noch heute im Bestand der serbischen Armee, vgl. Webseite der Vojska Srbjije: Vojska Srbije, Borbeno oklopno vozilo policije M86, unter , 5.1.2015. 11 Vgl. Martin PRAŠNIČKI, Oris glavnih razvojnih mejnikov in proizvodov Tovarne avtomobilov Maribor, in: TOVŠAK (Hg.), Tovarna avtomobilov Maribor, 9–33, 25. 4
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in die blockfreien Staaten und nach Westeuropa, ging in der Mitte der 1980er Jahre ungefähr ein Viertel des gesamten Produktionsumfangs.12 Demnach war der jugoslawische Markt, der etwa 70 % der zivilen und militärischen Produkte des Mariborer Unternehmens abnahm, von fundamentaler Bedeutung.
Beschäftigtenzahlen TAM 1960–1988 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
8000
9000
Anzahl Beschäftigte
Abbildung 3: Beschäftigtenzahlen TAM 1960–1988, Quellen: IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S.; Jahre 1966–69: SI-PAM f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 31; 1976–1980: SI-PAM f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan Delovne organizacije Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor za obdobje 1981–1985, 13; 1981–85: SI-PAM f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan za obdobje 1986–1990, 8; 1987/88 : SI-PAM f. 0990, šk. 750: Poslovno poročilo DO TAM za leto 1988, 21.
12 Vgl. IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 64.
51
Die jugoslawische Wirtschaftskrise, die sich in den 1980ern immer dramatischer entwickelte, war – trotz der im Vergleich mit den anderen Republiken der Föderation günstigeren Entwicklung Sloweniens – auch bei TAM zu spüren. Im Juni 1988 entlud sich die Unzufriedenheit der Belegschaft über ausbleibende Löhne in einem Massenstreik. Mehrere Tausend Beschäftigte zogen ins fünf Kilometer entfernte Stadtzentrum Maribors, um auf dem Hauptplatz zu protestieren. Mit dem Zerfall des jugoslawischen Staates und dem Übergang Sloweniens in die staatliche Selbständigkeit erfuhr TAM mehrere Umstrukturierungen und meldete schließlich 1996 Konkurs an. Im Laufe ihrer Entwicklung wuchs die Belegschaft von TAM bis 1986 stetig an. Ein kurzzeitiges Absinken machte sich als Folge der Wirtschaftsreformen 1965 bemerkbar. Auch zwischen 1977 und 1978 stagnierten die Beschäftigtenzahlen, um 1980 gegenüber 1979 sogar leicht abzusinken. Nach einem letzten deutlichen Anstieg verringerte sich ab 1986 schließlich die Belegschaft in einem bis zur Schließung andauernden Trend. Während die deutliche Mehrzahl der Belegschaft bei TAM in für die Metallindustrie charakteristischer Weise Männer waren, bewegte sich der Frauenanteil konstant zwischen 20 % und 25 %, ohne im Untersuchungszeitraum gravierenden Schwankungen zu unterliegen.13 Ein Schlüsselfaktor beim Ausbau der Industrie waren ausgebildete Fachkräfte. Schon für die Flugzeugmotorenwerke Ostmark im Zweiten Weltkrieg wurde in Fabriknähe im Stadtteil Maribor Tezno eine berufsbildende Schule für Metallberufe gegründet. In der sozialistischen Periode bestand diese Berufsschule fort und leistete zusammen mit einem TAM-internen Ausbildungszentrum wichtige Qualifizierungsarbeit für das Unternehmen.14 So konnten Beschäftigte in mehrwöchigen Kursen eine Teilqualifizierung erlangen.15 Mehrjährige – auch als Abendkurs angebotene – Berufsausbildungen führten zum formalen Prädikat des „qualifizierten Arbeiters“.16 Während eine vom Werk publizierte Statistik als niedrigsten Bildungsgrad die achtjährige allgemeinbildende Grundschule angab, befand sich unter den Betreffenden ein guter Teil, der keinen Grundschulabschluss besaß. Im Jahr 1967 belief sich ihre Zahl auf ca. 1.500, also etwa 29 % der Gesamtbelegschaft.17
13 Stanislav AJDIČ, Drobni zapisi iz kronike, in: TOVŠAK (Hg.), Tovarna avtomobilov
14 15 16 17
Maribor, 97f., 97; SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, S. 15; SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 31; IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 90. Vgl. RENDLA, Mariborski gospodarski gigant TAM, 564–568. Slow.: „polkvalificiran delavec – PK delavec“, entspricht dem Status angelernter ArbeiterInnen. Slow.: „kvalificiran delavec – KV delavec“, entspricht der deutschen Ausbildungsstufe FacharbeiterIn. Vgl. ebenda, 568.
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Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM 1950–1985 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 0,00%
20,00%
40,00%
60,00%
80,00%
100,00%
Anteil TAM-Belegschaft
Grundschule (>8 J.) Mittelschule (4 J.) Magister
Berufsschule (3 J.) Höhere Bildung (2 oder 4 J.) Promotion
Abbildung 4: Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM 1950–1985, Quelle: IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S.
Der überwiegende Teil der Belegschaft war in Maribor und Umgebung zu Hause. Das nähere Einzugsgebiet, das sowohl die umliegenden ländlichen Gegenden als auch kleinstädtische Milieus umfasste, dehnte sich vor allem nach Südosten bis in die nordkroatischen Gebiete Međimurje, Varaždin und des kroatischen Zagorje aus. Fach- und Führungskräfte zog es darüber hinaus aus anderen städtischen Zentren in Slowenien nach Maribor. Sowohl gut Ausgebildete als auch Unqualifizierte wanderten aus anderen jugoslawischen Regionen wie z. B. Bosnien-Herzegowina sowie Kosovo zu, nicht zuletzt, um ins westeuropäische Ausland migrierte lokale Arbeitskräfte zu ersetzen. Einigen Beschäftigten bot das Werk organisierten Busverkehr für das tägliche Pendeln über Entfernungen bis zu siebzig Kilometer an.18 Dennoch stellte sich für einen großen Teil der Belegschaft entweder die Frage nach dem täglichen Weg zur Arbeit oder nach einer Unterkunft in Maribor. Das Privileg, in einer betriebseigenen Wohnung zu leben, konnten zwischen 1965 und 1982 weniger als ein Viertel der Belegschaft genießen, vor allem diejenigen, die als qualifizierte Kräfte an die Fabrik gebunden werden soll18 Vgl. LABOVIĆ , Umrli gigant.
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ten.19 Es war jedoch die gesamte Belegschaft, die regelmäßig in den Wohnungsfonds des Betriebes einzahlte. Von der Werkswohnung als charakteristischem Merkmal einer betriebszentrierten Lebensweise im jugoslawischen Sozialismus kann für das Unternehmen TAM also nur bedingt die Rede sein. Da die Vergabe einer Wohnung ein kostspieliges Instrument der betrieblichen Sozial- und Rekrutierungspolitik darstellte, wurden – als eine unter mehreren Alternativen – auch Baukredite vergeben. Vierunddreißig Beschäftigte konnten 1965 einen Kredit von TAM erhalten,20 1980 waren es 195,21 die mit finanzieller Hilfe ihres Arbeitgebers ihre Wohnung oder ihr Haus selbst bauen konnten.
3.2. Die Zavodi Crvena zastava – Zastava in Kragujevac/ Serbien Die Zastava-Werke im zentralserbischen Kragujevac haben im Gegensatz zu TAM in Maribor eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurück reicht. Sie wurden als Kanonengießerei während der Herrschaft des Fürsten Aleksandar Karađorđević von Serbien 1853 gegründet und entwickelte sich bis zur Mitte der 1980er Jahre zu einem der größten Industriekomplexe Jugoslawiens. In der sozialistischen Periode wirkte der Betrieb mit seiner Autoproduktion als Katalysator für eine sich entwickelnde Industrie, die sich voller Selbstbewusstsein in der Stadt Kragujevac und der jugoslawischen Öffentlichkeit präsentierte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts stellte das Vojnotehnički zavod (Militärtechnisches Werk) Waffen her. 1886 bekam die Stadt Kragujevac einen Eisenbahnanschluss, der sie an die Bahnlinie Belgrad-Niš (im Süden Richtung Sofia/ Istanbul sowie Skopje/ Thessaloniki) anband. Von knapp über einhundert im Jahr 1856 war die Zahl der Beschäftigten bis 1915 auf 4.850 angestiegen, um 1940 mit zwölftausend ihren vorläufigen Höhepunkt zu erreichen.22 Für die wachsende Belegschaft stellte das Unternehmen 1929 und 1939 zwei Siedlungen mit Wohnhäusern und Baracken fertig, die man später Stara und Nova radnička kolonija (Alte/ Neue Arbeiterkolonie) nennen sollte. Schon ab Beginn des 20. Jahrhunderts montierten ArbeiterInnen in Kragujevac Fahrzeuge verschiedener ausländischer Firmen. Im Zweiten Weltkrieg benutzte die deutsche Besatzungsarmee die Produktionsstätten dann als Reparaturwerkstätten für Fahrzeuge, teilweise wurde auch Munition produziert. Insgesamt prägte laut der offiziellen Werksgeschichtsschreibung aber Demontage und Zerstörung das Schicksal der Fabrik während des Krieges.23 Nach dem Zweiten Weltkrieg benannte die kommunistische Staatsführung das Werk 1946 in Zavodi Crvena zastava (Rote 19 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 76; SI-PAM, f. 0990,
20 21 22 23
šk. 750: Gospodarski načrt za leto 1983, S. 204; IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 87; SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan za obdobje 1986–1990, S. 8. SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 76. SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan Delovne organizacije Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor za obdobje 1981-1985, S. 15. Vgl. Miroslav D. POPOVIĆ, Kragujevac i njegovo privredno područje. Prilog privrednoj i socijalnoj geografiji grada i okoline. Beograd 1956, 535. Vgl. MILOJKOVIĆ (Hg.), Od topa do automobila, 48f.
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Fahne-Werke) um. Die Produktion erlebte jedoch nach 1948 einen Einschnitt, als die Bundesregierung in Belgrad die in Kragujevac traditionelle Waffenherstellung nach dem Bruch mit Stalin aus strategischen Gründen in andere Landesteile Jugoslawiens verlegte. Die späten 1940er und frühen 1950er Jahren waren dementsprechend von der Suche nach einer alternativen Produktion geprägt, welche die freigewordenen Arbeitskräfte in einen Industriebetrieb hätte einbinden können. Wie in Maribor verlegte man sich auf die Produktion von Kraftfahrzeugen und schloss 1954 nach einer kurzen Episode mit dem US-amerikanischen JeepHersteller Willys eine Lizenzvereinbarung mit FIAT aus dem italienischen Turin. Mit dem offenbar nur widerwillig gegebenen Einverständnis der jugoslawischen Bundesregierung wurde 1958 der Bau einer neuen Fahrzeugfabrik beschlossen, in der Autos, leichte Transportfahrzeuge, Geländewagen und Traktoren der Marke FIAT für den jugoslawischen Markt hergestellt werden sollten. 1962, im Jahr der Fertigstellung dieser Fabrik, gründete sich zudem ein fabrikeigenes Forschungsinstitut und Zastava tätigte die ersten Exporte.24 In der Mitte der 1960er Jahre umfasste die Produktpalette der Zastava-Werke Kraftfahrzeuge, Militärausrüstung, Werkzeuge, Maschinenausstattung sowie Schmiede- und Gusserzeugnisse.25 Zu dieser Zeit nannten sich die Betriebsteile Fabriken und Sektoren: In der Automobilfabrik, der Rüstungsfabrik, der Werkzeugfabrik und der Schmiedestückfabrik fand die Produktion statt; die Sektoren für Beschaffung, Bau, Verkauf, Ersatzteile, Import und Export, Personal, der Rechtsdienst und die Abteilung „gesellschaftlicher Standard“26 kümmerten sich um organisatorische und Verwaltungsaufgaben. Wie in Maribor bestanden 1965 sowohl auf der Ebene des Gesamtbetriebes als auch in seinen Untereinheiten Arbeiterräte und von ihnen eingesetzte Verwaltungsausschüsse. Im zentralen Arbeiterrat der ZastavaWerke saßen 1965 achtzig Delegierte, von denen fast 70 % formal in die Kategorie Arbeiter fielen. Dies waren vornehmlich Facharbeiter und Meister, nur eine Person im Arbeiterrat war angelernt, Unqualifizierte waren nicht vertreten und unter den achtzig Personen befand sich nur eine Frau.27 Während sich eine Reihe von Betrieben als Zulieferer für Zastava spezialisierten, ging das Unternehmen in den 1960er Jahren dazu über, bestehende Lieferantenbetriebe einzugliedern sowie Fabriken für seinen Bedarf zu gründen oder zu modernisieren. So wurde Zastava in den 1960er Jahren in den kosovarischen Orten Peć und Klina (Alb.: Peja, Klina), im mazedonischen Ohrid und im 24 Vgl. R. MICIĆ u. a., Program automobila „Zastava“. Razvoj, proizvodnja i plasman,
in: Grupa autora (Hg.), Zastava u drugoj polovini XX veka, 101–212, 170. 25 Vgl. ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Opšti deo izveštaja. 26 Srb.: „Društveni standard“, zuständig für Sozialleistungen wie Kantinen, Urlaubs-
heime, Wohnungsbau usw. 27 Vgl. ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Izveštaj o radu Radničkog saveta i Upravnog
odbora za 1965. godinu, S. 2. Srb.: „kvalifikovan radnik“ und „visokokvalifikovan radnik“. Diese Ausbildungsstufen entsprechen dreijährigen, bzw. drei- plus vierjährigen Ausbildungen.
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südserbischen Surdulica mit Produktionsstätten aktiv. Zastava nutzte für diesen Ausbau seiner Kapazitäten unter anderem Investitionsmittel aus dem Bundesentwicklungsfonds für die weniger entwickelten Regionen Jugoslawiens. Zastava begann noch im Jahr der Fertigstellung der neuen Autofabrik in Kragujevac 1962 mit dem Export von Autos. FIAT hatte Mitte der 1960er Jahre eine Kooperation mit Zastava, der sowjetischen und polnischen Autoindustrie angebahnt, sodass am Ende des Jahrzehnts die Produktion von FIAT-Lizenzmodellen über die Blockgrenzen hinweg arbeitsteilig geschah. Zu dieser Zeit machten die Exporte in die Sowjetunion und nach Polen etwa die Hälfte des Exportumfangs der Kragujevacer Autofabrik aus.28 Neben den Ausfuhren in europäische sozialistische Staaten begannen in den 1970er Jahren zudem Exporte in afrikanische und asiatische Länder. Neben dem Export von Automobilen fand sich 1976 unter den Auslandskooperationen auch ein Projekt zum Bau einer Fabrik für automatische Waffen im Irak.29 Im Jahr 1969 traf die Leitung Zastavas und der Autofabrik eine Entscheidung, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist: Bis dahin fand die Produktion von Nutzfahrzeugen unter dem Dach der Autofabrik statt. Ab 1969 begann die Nutzfahrzeugfabrik (Srb.: „Fabrika Privrednih vozila – FPV“) innerhalb der Zastava-Betriebsstrukturen auf eigenen Beinen zu stehen. Die Fabrika privrednih vozila führte nun eigenständig Verhandlungen mit dem italienischen Lizenzgeber und führte auch ihr eigenes Werksarchiv, das für dieses Forschungsprojekt im Gegensatz zu dem der Autofabrik zugänglich war. Die Verfassungszusätze von 1971, welche die Aufgliederung von Betrieben in wirtschaftlich sehr selbständige Grundorganisationen der vereinten Arbeit – GOVA (Srb.: „Osnovna organizacija udruženog rada – OOUR“) vorsahen, wurden bei Zastava im Juni 1973 mit einem „Selbstverwaltungsabkommen über die Assoziation von OOUR als Zavodi Crvena zastava und Programmgemeinschaften“30 umgesetzt. Aus den Betriebsteilen gründeten fünfunddreißig OOUR und mehrere Radne zajednice31. In den Programmgemeinschaften waren die drei Produktionssparten der Zastava-Werke gruppiert: die Autoproduktion als größte mit sechzehn OOUR, die Waffenproduktion und die Produktion von Nutzfahrzeugen, die drei OOUR umfasste. Die fünfunddreißig Grundorganisationen, aus denen der Gesamtbetrieb nun bestand, umfassten Produktions-, Verkaufs- und Servicestellen in ganz Jugoslawien und waren unter den Bestimmungen der Selbstverwaltung aufwendig zu koordinieren. Im Jahr 1977 stand abermals eine Reform der Organisationsstruktur an. Nun wirtschaftete Zastava als SOUR, als Zusammengesetzte OUR bestehend aus zehn Arbeitsorganisatio28 Vgl. JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 82, 85. 29 Vgl. Važni datumi „Zastave“ od 1940. do 2000. godine, in: Grupa autora (Hg.), Za-
stava u drugoj polovini XX veka, 431–435, 433. 30 Srb.: Samoupravni sporazum o udruživanju OOUR u Zavode Crvena zastava i pro-
gramske zajednice, siehe: ebenda. 31 Dt.: „Arbeitsgemeinschaften“, auch „zajedničke službe“, Dt. „Gemeinsame Diens-
te“: Einheiten, die verwalterische, kaufmännische und andere Tätigkeiten für die OOUR ausübten.
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nen,32 wie sich die Organisationsebenen unterhalb des Gesamtunternehmens und oberhalb der Grundorganisationen nannten. Die Nutzfahrzeugfabrik konstituierte eine eigene Arbeitsorganisation, die sich bis 1980 in 12 OOUR aufteilte.33 Im Gesamtunternehmen Zastava wuchs die Zahl der OOUR durch Eingliederungen und Aufspaltungen bis zum Jahr 1986 auf einhundertdrei an.34 Die weiterhin größte Fabrik innerhalb der Zastava-Werke, die Autofabrik, stand 1979 für einen Anteil von 72,4 % an der gesamten jugoslawischen Autoproduktion und erlebte mit der Herstellung des Kleinwagens YUGO ab Beginn der 1980er Jahre und dessen späterem Export in die USA einen bemerkenswerten Produktionsanstieg.35 Die Fabrika privredna vozila erneuerte im Laufe der 1970er und 1980er Jahre mehrmals ihre Kooperationsverträge mit dem westeuropäischen Nutzfahrzeughersteller IVECO36. Sie produzierte unter dessen Lizenzen für den jugoslawischen Markt, fertigte aber auch Fahrzeugkomponenten an, die sie nach Italien lieferte. Gegen Ende der 1970er Jahre erlebte die Produktion von Nutzfahrzeugen in Kragujevac einen Anstieg, nachdem mit Hilfe des westeuropäischen Partners in neue Produktionskapazitäten investiert worden war und unter seiner Anleitung nach einer Periode der technologischen Stagnation wieder zeitgemäßere Fahrzeugmodelle hergestellt wurden. Während die Zastava-Nutzfahrzeugfabrik dauerhaft in einem Konkurrenzverhältnis zu TAM im slowenischen Maribor stand, waren Panzerfahrzeuge wie das in den 1980er Jahren hergestellte Modell BOV M86 ein gesamtjugoslawisches Projekt, bei dem TAM und die Zastava-Waffenfabrik miteinander kooperierten.37 Schwierigkeiten, die Produktion mit Zulieferprodukten und Rohstoffen zu versorgen, machten sich in den 1970er Jahren deutlich bemerkbar und sorgten im Laufe der 1980er Jahre für andauernde Schwierigkeiten, die Produktion aufrecht zu erhalten.38 Sowohl Devisenmangel als auch die Probleme der Zulieferfirmen waren für diesen Zustand verantwortlich. Seit 1989 erlebten die ZastavaWerke im Zuge der sich zuspitzenden Krise und des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens einen Niedergang, der mit mehreren Wechseln der Geschäftsform und der Schrittweisen Entlassung von Beschäftigten einherging. Trotz Teilprivatisie-
32 Srb.: „SOUR – Složena organizacija udruženog rada“; Srb.: „Radna organizacija –
RO“ (Arbeitsorganisation). Vgl. SRETENOVIĆ, V – Razvoj i proizvodnje, 243f. Vgl. Zastava danas. Kragujevac 1986, 11f. Vgl. JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 111. IVECO entstand 1975 aus der Nutzfahrzeugsparte von FIAT, zwei weiteren italienischen, einem französischen Unternehmen und der deutschen Firma Magirus-Deutz, mit der TAM Lizenzverträge hatte, siehe Homepage der Firma IVECO, unter , 10.2.2015. 37 Vgl. Dragoljub GRUJOVIĆ / Dragoslav ROSIĆ, II – „Zastava oružje“ posle Drugog svetskog rata, in: Grupa autora (Hg.), Zastava u drugoj polovini XX veka, 13–88, 75. 38 Vgl. MICIĆ u. a., Program automobila „Zastava“, 200; JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 116f. 33 34 35 36
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rungen, Entlassungen und Sozialprogrammen sind die Schicksale aller ZastavaNachfolgefirmen bis heute nicht noch nicht endgültig entschieden. Die Belegschaft bei Zastava insgesamt und der Nutzfahrzeugfabrik im Besonderen lässt sich nur anhand fragmentarischer Daten charakterisieren. In der Entwicklung der Belegschaftszahlen lassen sich die Einschnitte nach den Wirtschaftsreformen 1965 und in der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1980er erkennen. Während die Gesamtbelegschaft bei Zastava mit Ausnahme des Jahres 1965 bis 1989 ständig wuchs, verringerte sich die Belegschaft der Nutzfahrzeugfabrik sowohl im Jahr der ersten Ölkrise 1973 als auch 1983. Begann die Produktion von Nutzfahrzeugen bei der Ausgliederung aus der Zastava-Autofabrik 1969 mit 1.625 Beschäftigten, erreichte die Belegschaft bis 1989 eine Zahl von 4.679.39 Der Anteil von Frauen an der Gesamtbelegschaft Zastavas betrug ähnlich wie bei TAM in den 1980er Jahren zwischen 22 % und 27 %.40
Beschäftigte und Produktion Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1969–1990 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 Beschäftigte
Fahrzeuge
Abbildung 5: Beschäftigte und Produktion der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1969– 1990, Quelle: Sretenović, V – Razvoj i proizvodnje, 242.
Das Qualifikationsniveau lag vor allem in den 1960er Jahren, die von einem raschen Anwachsen der Beschäftigtenzahlen in der Autofabrik gekennzeichnet waren, unter dem Bedarf in der Produktion: Mit 46 % war der Anteil von 39 Zahlen für die gesamten Zastava-Werke: ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 337;
für die Zastava-Nutzfahrzeugfabrik: SRETENOVIĆ, V – Razvoj i proizvodnje, 242. 40 Zastava danas. Kragujevac 1979, 25; Zastava danas 1986, 22.
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ungelernten und angelernten Arbeitskräften41 im Jahr 1965 um fast die Hälfte höher als in den Personalplanungen vorgesehen. An FacharbeiterInnen und MeisterInnen hingegen fehlte es: Ihr Anteil von 37 % an der Belegschaft der Autofabrik lag beinahe um die Hälfte niedriger als von der Personalabteilung vorgesehen.42 Eine Analyse der Qualifikationsstruktur der Nutzfahrzeugfabrik von 1976 zeigt, dass trotz eines Anteils an FacharbeiterInnen und MeisterInnen von 51 %, was im Vergleich zu 1965 einen Fortschritt darstellte, noch immer Beschäftigte dieser Profile fehlten. Nur etwa 60 % der Arbeitsplätze, welche einen Abschluss als FacharbeiterIn verlangten, waren auch mit entsprechend Qualifizierten besetzt.43 Die Belegschaft der Zastava-Werke in Kragujevac war ethnisch weitaus homogener als die bei TAM in Slowenien. Der überwiegende Teil der Beschäftigten kam aus Kragujevac, den umliegenden Dörfern oder aus zentralserbischen Regionen. Auch aus den südserbischen Gebieten, dem Sandžak und dem Kosovo zog es ArbeiterInnen nach Kragujevac. Die Personallisten verzeichnen nur selten als muslimisch erkennbare südslawische Namen. Auch albanische Namen finden sich unter der Kragujevacer Belegschaft der Zastava-Werke kaum, sodass wohl beinahe durchgängig Serbisch gesprochen worden sein wird.44 Die Konkurrenz um Werkswohnungen im rapide wachsenden Kragujevac war bei Zastava höher als bei TAM. Mit dem sehr starken Anwachsen der Belegschaft zwischen 1960 und 1989 konnte der betriebliche Wohnungsbau nur in geringerem Maße mithalten als in Maribor. In den Zastava-Werken standen 1972 insgesamt nur für 15 % der Belegschaft Werkswohnungen zur Verfügung.45 Die Quote von 13,5 % für eine der zwölf OOUR der Nutzfahrzeugfabrik im Jahr 1984 weist auf eine kaum veränderte Situation gut zehn Jahre später hin.46 Entsprechend der Wirtschaftspläne der Bundesebene verschob sich der nach dem Zweiten Weltkrieg geltende Schwerpunkt auf der Entwicklung der Schwerindustrie ab Mitte der 1960er Jahre unter anderem zugunsten der He41 Unqualifizierte (Srb.: „nekvalifikovani“): Beschäftigte, die nur die achtjährige
42
43 44 45 46
Grundschule mit oder ohne Abschluss besucht haben. Angelernte ArbeiterInnen (Srb.: „polukvalifikovani“): Grundschule zuzüglich eines mindestens mehrwöchigen Kurses. Vgl. ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ 1965: Izveštaj o radu Fabrike automobila u 1965. godini, S. 5; FacharbeiterInnen (Srb.: „kvalifikovani“): Beschäftigte mit Grundschulabschluss und mehrjähriger Berufsausbildung. MeisterInnen (Srb.: „visokokvalifikovani“): FacharbeiterIn mit berufsbegleitend absolvierter zweijähriger Zusatzausbildung. ZCZ-FPV, RS, 1976: Analiza planskih zadataka u 1975. godini, Februar 1976, S. 19. Vgl. ZCZ-CA, Pers. 1964–69; ZCZ-CA, Pers. 1970–75; ZCZ-CA, Pers. 1976–80; ZCZ-CA, Pers. 1981–85. MILOJKOVIĆ (Hg.), Od topa do automobila, 91. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Program stambene izgradnje i rešavanja stambenih potreba radnika u organizacijama udruženog rada, drugim samoupravnim organizacijama i zajednicima za 1984 godine, Mai 1984.
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bung des Lebensstandards.47 Für viele ArbeiterInnen wurde damit sowohl in Maribor als auch in Kragujevac der Erhalt oder das vergebliche Warten auf eine Betriebswohnung zum Gradmesser ihrer Loyalität gegenüber der Fabrik und der herrschenden politischen Ordnung insgesamt.
47 Vgl. Rudolf BIĆANIĆ, Economic Policy in Socialist Yugoslavia. Cambridge u.a.
1973, 60–62.
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4. Formale Wege der Konfliktaustragung Das Konzept der jugoslawischen Selbstverwaltung sah vor, den ArbeiterInnen in den Betrieben die Macht zu übertragen, sodass sie dort zu den tatsächlich Herrschenden würden. Hier davon auszugehen, dass in einem im Wandel begriffenen System keine von der Theorie der Selbstverwaltung abweichenden Machtverhältnisse bestanden, die diesem Ideal zuwider liefen, ist nicht plausibel. Vielmehr sollte ein Blick darauf geworfen werden, wie verschiedene betriebliche Gruppen unter den herrschenden sozio-ökonomischen Bedingungen mit den Instrumenten umgingen, welche ihnen die Selbstverwaltung in den von Massenorganisationen und Partei organisatorisch durchwirkten Betrieben formal zur Verfügung stellte. Bis zur staatlich verordneten Einführung der Selbstverwaltung 1950 übten von der Partei ernannte DirektorInnen die betriebliche Entscheidungsgewalt aus, welche den Generaldirektionen der jeweiligen Branchen in Belgrad unterstellt waren. Mit der Einführung von Marktprinzipien ab der Mitte der 1960er Jahre und der fortschreitenden Dezentralisierung der Wirtschaft wurden unternehmerische Kompetenzen Schritt für Schritt in die Betriebe hinein verlagert. Durch die ebenfalls in der Mitte der 1960er Jahre hinzugekommenen Anforderungen, auf dem (Welt-)Markt erfolgreich sein zu müssen, wandelten sich auch die Ansprüche an DirektorInnen und anderes hohes Leitungspersonal, indem ihnen zunehmend Managementfähigkeiten abverlangt wurden. Gleichzeitig aber war die Rolle der Leitung im Gefüge der Gremien der Selbstverwaltung ungenau und teilweise widersprüchlich definiert und die formalen Befugnisse der DirektorInnen variierten zwischen den 1960er und 1980er Jahren stark.1 Dies gilt ebenso für Kompetenzen der Selbstverwaltungsgremien. Soziale Beziehungen in Industriebetrieben waren demnach in ein komplexes Geflecht von ideologischen, institutionellen und ökonomischen Prämissen eingebettet. Dabei entwickelten sich um Einkommensfragen, Arbeitsbedingungen und die Verteilung von Sozialleistungen konkrete Konflikte für einzelne Beschäftigte oder Gruppen von Beschäftigten. Aufgrund der Forschungsergebnisse der jugoslawischen Industriesoziologie, die ab dem Ende der 1960er Jahre kritische Kommentare zur Praxis der Selbstverwaltung lieferte, kann man davon ausgehen, dass der normative Anspruch auf „Beziehungen zwischen den Menschen als freie und gleichberechtig1
PRINČIČ, Direktorska funkcija.
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te Produzenten und Schaffende“ sowie auf „Überwindung der historisch be-
dingten gesellschafts-politischen Ungleichheit und Abhängigkeit der Menschen bei der Arbeit“2 in vielem nicht erfüllt wurde. Während die Macht betrieblicher Eliten formal begrenzt wurde, hielten sich hierarchische Machtstrukturen, die informell wirkten, sehr hartnäckig bzw. konnten sich durch diffuse Rollenverteilungen erst neue Formen ihrer Ausübung entwickeln. So wies der Zagreber Industriesoziologe Josip Županov nach Studien in kroatischen Betrieben bereits 1969 darauf hin, dass in den Arbeiter- und Verwaltungsräten die am höchsten qualifizierten Mitglieder am aktivsten an den Sitzungen teilnahmen. Vor allem ungleich verteilte fachliche Kompetenz und administratives Wissen sowie den unterschiedlichen Grad an politischer Vernetzung stellte Županov als ausschlaggebend für den Einfluss in den Gremien der Selbstverwaltung heraus.3 Studien zu Betrieben in Kroatien und Slowenien, die im Laufe der 1970er Jahre Daten erhoben, bestätigten diesen Befund.4 Vladimir Arzenšek sprach 1984 in Bezug auf seine Forschungen in slowenischen Betrieben der 1970er Jahre infolge ähnlich beschriebener Machtverhältnisse sogar von „entfremdeter Arbeit“. Bei den IndustriearbeiterInnen sei diese Nicht-Identifikation mit ihrer Arbeit und dem Betrieb am stärksten ausgeprägt, was Arzenšek auf das Wesen der industriellen Arbeitsteilung an sich zurückführte, welche die jugoslawische Praxis der Selbstverwaltung nicht überwunden habe.5 Ein Aspekt, den die jugoslawische Industriesoziologie aus der Binnenperspektive des kommunistisch geführten Staates nur in Ansätzen behandeln konnte, war die Einbettung dieser Machtverhältnisse in das System der Einparteienherrschaft. Denn neben den Institutionen der Selbstverwaltung waren der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), Gewerkschaften und Jugendorganisationen – ähnlich wie in anderen Ländern des kommunistisch regierten Teils von Europa – in den formalen Strukturen der Betriebe präsent. Zwar galten sie nicht als Teil der Selbstverwaltung, erfüllten ihr gegenüber aber unterschiedliche Rollen, wie im Folgenden skizziert werden soll. Obwohl der BdKJ nicht als Akteur in der offiziellen Konzeption der Selbstverwaltung vorkam, waren auf Gesamtbetriebsebene und in den Unterabteilungen die Mitglieder des BdKJ in Betriebsparteiorganisationen zusammengeschlossen. Die konkreten Beziehungen zwischen ArbeiterInnen und der Partei fanden bisher in der auf Jugoslawien bezogenen Forschung noch keine Beachtung. Im Rahmen dieser Arbeit soll versucht werden, das Verhalten von Par2 3
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Die Verfassung der SFRJ 1963, 4, 6. ŽUPANOV, Samoupravljanje i društvena moć, 129–140; Veljko Rus´ Überblick über Forschung zur Einflussverteilung in jugoslawischen Unternehmen der 1960er Jahre bestätigt den Befund, dass das obere Management in Betrieben immer noch am dominantesten Entscheidungen beeinflusst: Veljko RUS, Influence Structure in Yugoslav Enterprises, Industrial Relations 9 (1970), H. 2, 148–160. Siehe für Kroatien: Miloš VEJNOVIĆ, Struktura utjecaja u samoupravnoj radnoj organizaciji, Naše teme 18 (1974), H. 6, 993–1017, für Slowenien: ARZENŠEK, Struktura i pokret, 9–17. Ebenda, 14–18.
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teivertreterInnen und ArbeiterInnen in der Aushandlung von Konflikten nachzuzeichnen. Grundsätze und konkrete Politik der Partei in der konkreten alltagsweltlichen Umgebung – am Arbeitsplatz – zu verwurzeln, muss auch im jugoslawischen Fall als Aufgabenbereich der Basisorganisationen angesehen werden. Dazu gehörten vor allem die Förderung und Kontrolle der Selbstverwaltung in den Fabriken, aber auch, die Belegschaft für die Produktion zu motivieren. Partei und Massenorganisationen bedienten sich hier unterschiedlicher Mittel wie Produktionswettbewerbe, Rationalisierungskampagnen und eines Anreizsystems für die Einreichung von „inventivni predlozi“ (Srb. für „erfinderische Vorschläge“) und „predloge tehničkih izboljšav“ (Slow. für „Vorschläge für technische Verbesserungen“) ähnlich dem Neuererwesen in DDR-Betrieben. Produktionswettbewerbe wurden sowohl auf Betriebsebene als auch bis hinauf zur Republiks- oder der föderalen Ebene ausgetragen.6 Organisatorisch verantwortlich für die Ausrichtung solcher Wettbewerbe waren die Massenorganisationen, die analog zum BdKJ bis in die untersten Strukturen in den Betrieben vertreten waren. Auch in der Funktion der Gewerkschaften ergeben sich viele Analogien zu anderen staatssozialistischen Ländern der Zeit. In einer vergleichenden Studie stellen Thirkell, Petkov und Vickerstaff 1998 vier Grundmerkmale von Gewerkschaftsarbeit und -organisation im sowjetischen Einflussbereich heraus, wobei sie das jugoslawische Beispiel ausdrücklich ausklammern.7 Gewerkschaften seien Thirkell u. a. zufolge erstens (1) ein Teil des Regierungsblocks ohne Autonomie und eigene Handlungsspielräume. Wolfgang Höpkens Untersuchung zum Pluralismus-Potential des jugoslawischen Staatsmodells zeigte dagegen 1984, dass die Gewerkschaften in Jugoslawien phasenweise über nennenswerte Spielräume verfügten, eigene Problemlösungsalternativen für (sozial-)politische Fragen einzubringen. Ihr Charakter oszillierte zwischen stärker pluralistischer Ausprägung und der Funktion als Transmissionsriemen für Parteipolitik.8 Das zweite Merkmal (2) der Gewerkschaften im Staatssozialismus bestand laut Thrikell u. a. in ihrer Organisationsstruktur, welche diejenige der Parteiorganisationen spiegelte und von der höchsten bis zur niedrigsten Stufe im Staat reichte. Hierin glichen ihnen die jugoslawischen Gewerkschaften. Während sie, so Thirkell u. a. in den zentralen Planwirtschaften bei der Planerfüllung nur assistierten, war der Partei die Rolle zugewiesen, die Planerfüllung zu kontrollie6
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Vgl. A. RANKOVIĆ, Počelo takmičenje za najboljeg mladog proizvođača, Crvena zastava, Nr. 108, März 1965, 5; Koordinacijski odbor Saveza sindikata, Sistem proizvodnih takmičenja radnika SOUR Zavodi „Crvena zastava“. Kragujevac 1981; SIPAM, f. 0990, šk. 656: Pravilnik o tekmovanju med Osnovnimi organizacijami Zveze socialistične mladine; 17. kovaške igre Slovenije. Žar ognja in pesem kladiv, Skozi TAM, 28.9.1984, 1. Vgl. John THIRKELL / Krastyo PETKOV / Sarah VICKERSTAFF, The Transformation of Labour Relations. Restructuring and Privatization in Eastern Europe and Russia. Oxford, New York 1998, 75–78. Wolfgang HÖPKEN, Sozialismus und Pluralismus in Jugoslawien. Entwicklung und Demokratiepotential des Selbstverwaltungssystems. München 1984, 147–286.
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ren. Den Druck, den außerhalb des kommunistischen Lagers der Markt auf die Produktion ausübte, würden im Staatssozialismus Plan und Politik aufbauen. Zweifelsohne gilt diese Feststellung für Jugoslawien nur in abgewandelter Form, da seit der Wirtschaftsreform 1965 der Markt recht großen Einfluss auf die Produktion hatte. Dennoch fiel auch in Jugoslawien den Gewerkschaften die Aufgabe zu, die Produktivität der Betriebe zu beurteilen und die Belegschaften zu gesteigerten Anstrengungen anzuhalten. Nochmals betonen Thirkell u. a. mit der dritten Funktion (3) von Gewerkschaften, dass der Charakter als Transmissionsriemen durch die Symmetrie mit Partei- und Verwaltungsorganisation gesichert wurde. Dies geschah, indem Entscheidungen und Zielvorstellungen der Partei den Gewerkschaftsmitgliedern an der Basis übermittelt wurden. Für Jugoslawien ist dies ebenfalls plausibel, konnten die Gewerkschaften doch z. B. im Jahr 1970 86,6 % der Beschäftigten ihre Mitglieder nennen,9 während nur ein viel geringerer Teil der Belegschaften im BdKJ organisiert waren. So waren beispielsweise in den serbischen ZastavaWerken 1979 nur 26 % und 1984 sogar nur 18 % der Beschäftigten Parteimitglieder gegenüber einer alle MitarbeiterInnen umfassenden Gewerkschaftsorganisation.10 In der vierten (4), funktionalen Dimension von Gewerkschaftsarbeit, so Thirkell u. a., seien staatssozialistische Gewerkschaften den ursprünglichen Vertretungs- und Schutzfunktionen gegenüber den ArbeiterInnen am nächsten. So waren die Gewerkschaften für die Verteilung von Sozialleistungen zuständig. Jugoslawische Gewerkschaften nahmen gegenüber den Beschäftigten ebenfalls diese Stellung ein. Über sie wurden Urlaubsplätze und Kuraufenthalte vergeben, staatliche Fest- und Feiertage in den Betrieben ausgerichtet, Hilfsleistungen im Fall von Arbeitslosigkeit und Krankheit gewährt sowie Ausflüge zu näheren und weiteren Zielen organisiert. Allerdings lag die Verteilung von Wohnraum im Kompetenzbereich der betrieblichen Selbstverwaltung. In Streitfällen zogen sowohl Selbstverwaltungsgremien als auch die Beschäftigten die GewerkschaftsvertreterInnen zurate. So existierten Beratungs- und Unterstützungsangebote der Gewerkschaft, wie z. B. eine Rechtshilfeabteilung für Mitglieder der slowenischen Gewerkschaft.11 In Konfliktfällen, die Beschäftigte mit den Selbstverwaltungsstrukturen austrugen, stand ihnen so die Unterstützung der Massenorganisation zur Verfügung. Wie der BdKJ und die Gewerkschaft verfügte zudem die Jugendorganisation, der „Bund der sozialistischen Jugend“ (Slow.: „Zveza socialistične mladine – ZSM“, Srb.: „Savez socijalističke omladine – SSO“) über hierarchisch organisierte Organisationsstrukturen, die von der Bundesebene bis in die Schulen, Be-
9 SGJ 1971, 68, 347. 10 Zastava danas 1979, 26; R. RADOVIĆ / O. S. TOMIĆ, Priznatije u društvu nego u poro-
dici, Crvena zastava, 6.3.1985, 5; ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 338. 11 Vgl. SI-AS, f. 540, šk. 536: Odvetniška Pisarna pri RSS Ljubljana an Centralni svet
zveze sindikatov Jugoslavije, Beograd, Ljubljana 24.02.1966, vom 1966.
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triebe und andere Institutionen hinein reichten.12 Sie erfüllte (politische) Bildungs-, Kontroll- und Mobilisierungsfunktionen. In ihr übten junge Menschen die Aktivitäten in sozialistischen Massenorganisationen ein und sie diente als Rekrutierungsbasis für die Partei. Analog zu Gewerkschaft und BdKJ unterhielt die Jugendorganisation ein Berichtswesen in Richtung Republiks- und Bundesspitze und agierte als Transmissionsriemen von Parteivorgaben zurück an die gesellschaftliche Basis. Politische Seminare, Produktionswettbewerbe, Jugendbrigaden sowie Kulturveranstaltungen und andere Freizeitaktivitäten sollten junge Menschen dafür mobilisieren, im Sinne der Dogmen von Sozialismus und Selbstverwaltung zu leben und zu arbeiten. In den Selbstverwaltungsstrukturen fiel der Jugendorganisation außer derjenigen, junge ArbeiterInnen im Sinne der Selbstverwaltung zu aktivieren, keine bestimmte Rolle zu. Darin unterschied sie sich von den Gewerkschaften, die zu einigen Entscheidungen der Gremien ihre Einschätzung abgeben musste und somit systematisch in die Selbstverwaltung eingebunden war. Wenn die Massenorganisationen auch begrenzte formale Einflussmöglichkeiten in der Selbstverwaltung hatten, so darf doch ihre Bedeutung als informelles Beziehungsnetzwerk keinesfalls unterschätzt werden. Mehrere Funktionen in Selbstverwaltung und Massenorganisationen inner- und außerhalb der Unternehmen trafen nicht selten in einzelnen Personen zusammen.13 Damit kann man davon ausgehen, dass informelle und formale Entscheidungsstrukturen vielfach ineinander übergingen. Die Aufgaben der Massenorganisationen trugen neben Widersprüchen in der Konzeption der Selbstverwaltung dazu bei, dass Zuständigkeiten diffundiert wurden: Obwohl formal die Selbstverwaltungsstrukturen Management- und andere Entscheidungen in den Betrieben fällten, waren die Massenorganisationen beauftragt, diese zu begleiten, zu fördern und zu kontrollieren. Dieses institutionelle Umgebung von Selbstverwaltung, Partei und Massenorganisationen sowie ihre Verschränkungen untereinander bildeten den Rahmen, innerhalb dessen Beschäftigte in den Betrieben ihre Interessen auf formalen Wegen verfolgten. Um Investitionen für den eigenen Betriebsteil innerhalb des Gesamtunternehmens zu erwirken, die Klärung einer strittigen Lohneinstufung herbeizuführen oder im Fall einer erfolglosen Bewerbung um eine Betriebswohnung Widerspruch anzumelden, standen einzelnen Beschäftigten und Gruppen von ihnen formale Mechanismen der Selbstverwaltung zur Verfügung. Dieses Kapitel untersucht, wie derlei Konflikte auf diesen formal gegebenen Wegen ausgetragen wurden. Die Analyse unterscheidet dabei zwischen kollektiven und individuellen Strategien, die die ArbeiterInnen anwandten.
12 Zur Rolle der Jugendorganisation in sozialen Auseinandersetzungen in den Betrie-
ben Kapitel 6.3. 13 Vgl. SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 60f.
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4.1. Kollektive Formen der Konfliktaustragung Wenn von kollektiver Interessenvertretung die Rede sein wird, so ist nicht „das Kollektiv“ im Sinne des ideologischen Sprachgebrauchs für Belegschaft gemeint. Stattdessen wird unter kollektivem Handeln verstanden, dass ein gemeinsames Handeln vieler Menschen stattfindet, das sich auf einen gemeinsamen Zweck richtet. Die betriebliche Selbstverwaltung stellte auf unterschiedlichen Ebenen Möglichkeiten dafür bereit, von denen drei Formen in den folgenden Abschnitten im Mittelpunkt stehen. Einzelne Betriebsteile konnten ab den 1960er Jahren ihre Interessen gegenüber anderen Abteilungen mittels ihrer dezentralisierten Selbstverwaltungsstrukturen verfolgen (Kapitel 4.1.1.). Innerhalb von Abteilungen lässt sich beobachten, wie Belegschaften sich über die Selbstverwaltungsgremien mit den Geschäftsleitungen über Löhne auseinandersetzten (4.1.2.). Schließlich schlossen sich noch eine Ebene darunter in einigen Fällen kleine Gruppen von Beschäftigten zusammen, um mit Einsprüchen oder gerichtlichen Mitteln gegen Entscheidungen der Arbeiterräte vorzugehen (4.1.3.). Lohnhöhen waren ein zentraler Gegenstand derartiger Auseinandersetzungen. Um einzuordnen, auf welche Weise Belegschaften kollektiv, aber auch individuell, über das Gefüge der Selbstverwaltung Einfluss auf die Einkommenshöhe nehmen konnten, folgt eine Darstellung, wie Löhne in den Betrieben zustande kamen. Die folgende Erläuterung geht dabei über die allgemein in den Verfassungstexten festgelegten Prinzipien hinaus, die in Kapitel 2.1. besprochen worden sind.
Lohnverteilung in der jugoslawischen Selbstverwaltung Der Lohnverteilung in den Betrieben, die sich als tertiäre Verteilung konkret in den Betrieben abspielte, fand parallel zur primäre und sekundären Einkommensverteilung statt. Diese beziehen sich auf die gesamte Volkswirtschaft bzw. auf Steuern und Transferzahlungen. Die tertiäre Einkommensverteilung betrifft hingegen die Mittel, die nach der sekundären Verteilung für die Akkumulation und Löhne innerhalb der Betriebe und der Betriebsteile zur Verfügung standen.14 In grundlegenden Punkten folgte das Verteilungssystem zwischen den frühen 1960er und den 1980er Jahren ähnlichen Abläufen. Jedoch verlagerten sich bestimmte Kompetenzen zwischen den betrieblichen Ebenen wie auch die Zuständigkeiten einzelner Selbstverwaltungsgremien. Ebenso wandelten sich die legislativen Eingriffe seitens Bundes- und Republiksgesetzgebung mit der Zeit, während das Grundmuster selbstverwalterischer Lohnverteilung ähnlich blieb. Ein zentraler Baustein der jugoslawischen Selbstverwaltungsideologie war der Anspruch, die Beschäftigten sollten selbst über ihre Einkommen entschei14 Vgl. Hans-Christian IVERSEN, Tertiäre Einkommensverteilung in Jugoslawien und
Ansätze der jugoslawischen Einkommenspolitik, in: Jürgen G. BACKHAUS / Thomas EGER / Hans G. NUTZINGER (Hgg.), Partizipation in Betrieb und Gesellschaft. Fünfzehn theoretische und empirische Studien. Frankfurt/ Main, New York 1978, 277– 319, 227f.
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den. Zentralstaatlich gesetzte Tariflöhne existierten nur bis 1957, sukzessive übergab man die Verteilung in die Kompetenz der Betriebe.15 Um sich sowohl von kapitalistischen als auch vom Wirtschaftsmodell der zentralen Planwirtschaft in den Staaten sowjetischen Typs abzusetzen, wandte man sich in Jugoslawien ab 1961 von Begriffen wie Lohn, Gehalt, Profit und Gewinn ab. Stattdessen entwarf man ein „Einkommenssystem“, in dem der Ertrag eines Unternehmens mit „Einkommen“ und Lohn und Gehalt „persönliche Einkommen“ (Srb.: „lični dohodak“; Slow.: „osebni dohodek“) genannt wurden.16 Für die Analyse sollen hier jedoch die Begriffe „Lohn“ und „Einkommen“ synonym dafür verwendet werden, was in der Sprache des jugoslawischen Systems als „persönliches Einkommen“ bezeichnet wurde. Die jugoslawische Ideologie rückte insbesondere das Moment der Leistung in Form von „geleisteter Arbeit“ als grundlegendes Verteilungskriterium in den Mittelpunkt, kombinierte sie jedoch mit dem Markterfolg, den die Produkte oder Dienstleistungen erzielten. In einer Rede, die Josip Broz Tito 1969 zum fünfzigsten Jahrestag der Parteigründung hielt, begründete er diesen Fokus folgendermaßen: Unter den Bedingungen des Staatseigentums wurden alle Arbeiter und Leiter nach der Arbeitszeit und Qualifikation entlohnt ohne Berücksichtigung der geleisteten Arbeit und der wirtschaftlichen Ergebnisse der Betriebe. Der Arbeiter verhielt sich gegenüber der Arbeit, als stünde er im Lohnverhältnis und war daher nicht unmittelbar am besseren Wirtschaften und an größtmöglichen Ergebnissen seines Betriebes interessiert. Er war auch weiterhin von den Produktionsmitteln getrennt und konnte die Produktionsbedingungen nicht ändern, da dies alles in der Zuständigkeit des Staatsapparates lag. Die Produzenten sorgten sich kaum um die Bedürfnisse des Marktes und die Forderungen der Verbraucher, denn durch die Verteilung war der Absatz der produzierten Waren gesichert.17
Diese Abwendung vom Lohnbegriff hin zu „persönlichem Einkommen“ eignete sich als ein Abgrenzungsmerkmal vom sowjetischen Modell, als dessen Kritik sich das jugoslawische System verstand. Sowohl Partizipation durch Dezentralisierung und Selbstverwaltung als auch Marktelemente sollten dezidiert Einfluss auf die Einkommensverteilung haben, wobei behauptet wurde, dass es möglich sei, individuelle Arbeitsleistung inklusive die Resultate, die diese Leistung erbrachte, genau und objektiv zu beziffern. So erließen die Selbstverwaltungen der Betriebe Regelwerke (Srb./Slow.: „pravilnik“), welche festlegten, wie Einnahmen sowohl unter den Betriebsteilen als auch unter den MitarbeiterInnen verteilt werden sollten. Der Dezentralisierung der Betriebe selbst war es geschuldet, dass Regelwerke, die für den gesamten Betrieb galten, von solchen er15 Vgl. LEMÂN, Das jugoslawische Modell, 25. 16 Vgl. Veljko CVJETIČANIN, Die Entwicklung der Selbstverwaltung in Jugoslawien, in:
Rudi SUPEK / Branko BOŠNJAK (Hgg.), Jugoslawien denkt anders. Wien u. a. 1971, 237–254, 245; LEMÂN, Das jugoslawische Modell, 156. 17 Vgl. Josip B. TITO, 50 Jahre revolutionärer Kampf der Kommunisten Jugoslawiens. Aus der Rede auf der Festsitzung des IX. Parteitags des BdKJ, 11.03.1969, in: DERS., Ausgewählte Reden. Berlin 1976, 5–30, 22.
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gänzt wurden, die die jeweiligen Betriebsteile anwandten. Nachdem in der Mitte der 1970er Jahre die Aufteilung der Unternehmen in Grundorganisationen der vereinten Arbeit (GOVA) Verfassungsstatus erlangt hatte, wurden die Koordinierungsinstrumente der Selbstverwaltungsabkommen etabliert, die die Beziehungen zwischen Betriebsteilen regelten. Zu diesen Beziehungen zählten auch gemeinsame Rahmenbedingungen für die Einkommensverteilung. Änderungen an allen Regelwerken waren im Rahmen der geltenden Bundes- und Republiksgesetze möglich und konnten von den beteiligten Arbeiterräten beschlossen werden. Konkret setzten sich die Löhne aus mehreren Elementen zusammen. Zum einen existierte ein relativ fester Lohnanteil, zum anderen wurde diese „Startgrundlage“ durch einen beweglichen Einkommensteil in Form eines Prämiensystems ergänzt. Der Grundlohn (Srb.: „startna vrednost radnog mesta/ startna osnovnica“18; Slow.: „obračunska osnova osebnega dohotka“19) ergab sich zum einen aus der Kategorisierung des Arbeitsplatzes in Kombination mit den persönlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten der MitarbeiterInnen, die bestimmte Arbeitsplätze besetzten. Beide Einordnungen unterlagen einem Aushandlungsprozess, der sich idealtypisch zwischen den Fachdiensten des Managements und den Selbstverwaltungsorganen abspielte. So wurde für den gesamten Betrieb(steil) eine „Systematisierung“ (Srb.: „sistematizacija“) von Arbeitsplätzen erstellt. Sie definierte, welche Anforderungen und Aufgaben für jeden konkreten Arbeitsplatz bestanden, die in einem Punktesystem festgehalten wurden. So waren 1972 in der Abteilung Produktionsvorbereitung der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik verschiedenen Arbeitsplätzen folgende Punktwerte zugeordnet: TechnologIn/ NormerstellerIn 774, DreherIn 648, TransportarbeiterIn 398.20 Um den Punktwert zu erhalten, wandte man ein Kategorisierungssystem an, das sich „analytische Einstufung von Tätigkeiten/ Arbeitsplätzen“ (Srb.: „analitična procena poslova/ radnih mesta“21; Slow.: „analitična ocena delovnega mesta“22) nannte. Kategorien wie die formale Ausbildung, die Art der Aktivitäten am Arbeitsplatz, der Grad der Verantwortung und die Arbeitsbedingungen waren für diese Einstufung von Bedeutung und spiegelten sich je nach ihrer Ausprägung in hohen oder niedrigen Punktwerten wider. Zwar schlugen die Fachleute im Management die Systematisierung und Bewertung der Arbeitsplätze vor, jedoch musste sie formal von der Selbstverwaltung in Kraft gesetzt werden. Das bedeutete, dass die Belegschaft Einspruch gegen vorgeschlagene Bewertungen von Arbeitsplätzen einlegen konnte. Konflikte entspannen sich unter anderem um die Gewichtung einzelner Kriterien bei der Beschreibung von Arbeitsplätzen 18 Beilage: Nacrt Pravilnika o raspodeli ličnih dohodaka radnika Zavoda, Crvena zas-
tava, 13.1.1971, 1–24, S. 5. 19 SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delitvi dohodka, 1967, S. 30. 20 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 8. sednice Radničkog saveta Fabrike
privrednih vozila, 18.12.1972, S. 10. 21 Branislav ČUKIĆ, Aktuelno. Šta je novo u APP, Crvena zastava, Nr. 110, April 1965,
6. 22 SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delitvi dohodka, 1967, 31.
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wie auch um die Art der Verteilung von Anforderungsprofilen auf die in einer Betriebseinheit zu erledigenden Arbeiten. An eben diesen Punkten konnten die Kommissionen des Arbeiterrates oder die Fachdienste nachjustieren, wenn Beschäftigte höhere Löhne verlangten oder wenn sie eine Person besonders begünstigen wollten. Zwar bedeuteten die Punktzahlen eine relativ konstante „Startgrundlage“ von Löhnen, denn sie blieben über längere Zeiträume stabil. Jedoch ordneten die SelbstverwalterInnen einer Punktzahl nicht dauerhaft einen festen Geldwert zu, sondern bestimmten den Geldwert eines Punktes jeden Monat neu. Darin sollte sich die aktuelle Leistung des Betriebs(teils) abbilden. War ein Punkt im Juni 1973 in der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac 1,85 Dinar wert, so bedeutete das für eine Transportarbeiterin mit 398 Punkten einen Ausgangslohn von etwa 736 Dinar. Bewerteten die Fachdienste und der Arbeiterrat einen Punkt einen Monat später mit 1,90 Dinar, so stieg der Ausgangslohn der Arbeiterin mit 398 Punkten um 20 Dinar auf etwa 756 Dinar. Auf diese Weise konnte auch die „Startgrundlage“ der Löhne von Monat zu Monat variieren. Die individuelle Leistung von Beschäftigten, welche die Verfassung im Slogan der „persönliche[n] Einkommen entsprechend den Resultaten [ihrer] Arbeit“ so sehr betonte,23 schlug sich auf andere Art im beweglichen Teil des Einkommens, dem Prämiensystem, nieder. So konnten bei Zastava je nach Art des Arbeitsplatzes für Norm- und Planerfüllung, Materialeinsparungen, die Einhaltung von Terminen oder Kreativität Zusatzzahlungen vergeben werden. Hinzu kamen für ProduktionsarbeiterInnen Leistungen für Überstunden und Nachtarbeit sowie für Zeit, die sie während Stillständen der Produktion am Arbeitsplatz verbrachten.24 Je nach Art der Tätigkeit und Entscheidungen der Selbstverwaltung gab es die Entlohnung auf Stundenbasis und nach Einzel- oder Gruppennorm, die nach jeweils festgelegten Bedingungen in die Verteilung einflossen. Die Bemessung und Gewichtung all dieser Elemente bestimmten ebenfalls Regelwerke, welche von der Selbstverwaltung genehmigt werden mussten. Ebenso hatten die jeweiligen Geldwerte von Lohnpunkten den Status von Selbstverwaltungsentscheidungen und konnten verhandelt sowie mittels Einsprüchen auf legitime Weise angefochten werden. Während der Grundmechanismus betrieblicher Einkommensverteilung im Wesentlichen über die hier betrachteten Jahrzehnte kontinuierlich wirkte, wandelten sich die Kompetenzen einzelner betrieblicher Ebenen sowie der Management- und Selbstverwaltungsgremien. Ebenso veränderten sich die Eingriffe seitens der Bundes- und Republiksgesetzgebung und ab den 1970er Jahren wurden die Selbstverwaltungsabkommen und gesellschaftlichen Verträge als Koordinierungsinstrumente eingeführt. So hatte die dezentralisierte Einkommensverteilung innerhalb der Betriebe bei TAM in Maribor offenbar 1966 Premiere. Alle Anforderungen, die für die neu eingerichteten Arbeiterräte und ihre Kommissio-
23 Artikel 12 der Verfassung von 1963: Die Verfassung der SFRJ 1963, 18. 24 Vgl. Beilage: Nacrt Pravilnika o raspodeli, 8–17.
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nen daraus resultierten, besaßen großen Neuigkeitswert.25 Mit den 1970er Jahren vergrößerte sich die Selbständigkeit der Betriebsteile gegenüber den Gesamtunternehmen noch, sodass mit größeren Autonomiespielräumen auch mehr Koordination notwendig wurde. Die Koordinierungsinstrumente der Selbstverwaltungsabkommen hatten unter anderem die Aufgabe, in Betrieben gemeinsame Rahmenbedingungen für die Lohnverteilung zu schaffen. In Kragujevac plante der Verwaltungsausschuss 1971 zehn Monate für die Verabschiedung eines Rahmenabkommens zur Lohnverteilung ein, das für die gesamten ZastavaWerke gelten sollte.26 Auf welche Weise es bei solchen Selbstverwaltungsprozessen zwischen den Betriebseinheiten zu kollektiv ausgetragenen Konflikten kommen konnte, beleuchtet Kapitel 4.1.1. am Beispiel von TAM. Dort scheiterte im Jahr 1976 ein Selbstverwaltungsabkommen am Widerstand der TOZD Werkzeugmacherei und musste unter Beteiligung aller Betriebsteile neu verhandelt werden, da solche Übereinkünfte nur im Konsens verabschiedet werden konnten. Ein überbetriebliches Kontrollinstrument für Lohnhöhen, das mit dem Gesetz über die vereinte Arbeit von 1976 stärker in die Verteilung eingebunden wurde, war der „Gesellschaftliche Buchführungsdienst“ (Srb.: „služba društvenog knjigovodstva – SDK“; Slow.: „služba družbenega knjigovodstva – SDK“). Offenbar in Reaktion auf einen schon 1971 spürbaren Trend, dass Unternehmen Löhne auszahlten, die sie gar nicht erwirtschaftet hatten,27 mussten Betriebe nun Zwischenabrechnungen und Abschlussrechnungen an die örtlichen Filialen des SDK melden. Das Gesetz sah ebenfalls eine Auffangmaßnahme vor, wenn Unternehmen aufgrund von Illiquidität ihren Belegschaften nicht einmal die gesetzlich garantierten Minimaleinkommen zahlen konnten. Die Mechanismen der Aufsicht durch den SDK und die Gemeinde sowie Maßnahmen zur Beseitigung von „Störungen“, die durch Illiquidität hervorgerufen wurden, subsumierte das Gesetz unter der Überschrift „Berichterstattung über das Einkommen“.28 Für die Analyse in den folgenden Abschnitten bleibt festzuhalten, dass die Lohnverteilung innerhalb der betrieblichen Selbstverwaltung auf mehreren Ebenen der Aushandlung bedurfte. Einerseits setzten die Gremien ganz grundsätzliche Bestimmungen wie die Systematisierung von Arbeitsplätzen in Kraft, die die Arbeitsabläufe der Unternehmen in ein Schema konkret definierter Tätigkeiten übertrug. Andererseits diskutierte und verabschiede die Selbstverwaltung die Regelwerke, welche die Kriterien für die Einkommensbemessungen sowohl für den relativ stabilen als auch für den monatlich variierenden Anteil festlegte. Jeder Tätigkeit war in der Systematisierung ein Punktwert zugeordnet. Schließlich entschieden die Gremien der Selbstverwaltung monatlich, welchen Geldwert ein Punkt haben würde, anhand dessen sich das Starteinkommen der Beschäftigten 25 Vgl. Tomislav PERLIČ, Predstavljamo vam lakirnico in tapetništvo, Skozi TAM, Sep-
tember 1966, 6–8. 26 Vgl. Beilage: Nacrt Pravilnika o raspodeli, 3. 27 Vgl. Josip B. TITO, Borba za dalji razvoj socijalističkog samoupravljanja. Sarajevo
1977, 147. 28 Vgl. Artikel 139–155 in: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 160–172.
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bemaß. Anhand immer neu zu bestimmender Geldwerte für einen Punkt und anhand variierender Prämien kamen so für die Beschäftigten potentiell monatlich unterschiedliche Einkommenshöhen zustande. Dieses System bot etliche Stellen, an denen sich für die Belegschaften Einflussmöglichkeiten auf ihre Verdiensthöhen eröffneten. Dementsprechend waren die Gremien auch verpflichtet, mit den Belegschaften die Kommunikation über die Selbstverwaltungsprozesse zu ermöglichen. Informationstafeln mit Beschlüssen der Gremiensitzungen, Berichterstattung in der Betriebszeitung, der direkte Kontakt mit Delegierten der Arbeiterräte am Arbeitsplatz und Arbeiterversammlungen boten Raum für diese Kommunikation. ArbeiterInnen konnten demnach in unterschiedlichem Maße über verschiedene Kanälen Lohnforderungen auf legitime Weise artikulieren.
4.1.1.Partikularinteressen der dezentralisierten Betriebsteile Im Jahr 1967 wies ein Bericht der Gewerkschaft des Bezirks Kragujevac in allgemeiner Art auf die Fehlentwicklungen der sogenannten „Atomisierung“ von Betriebsteilen eines Unternehmens hin. Diese sei durch die Dezentralisierung verursacht worden. Jedoch formulierte die sozialistische Massenorganisation das nicht als ihre Haltung, sondern zitierte nicht genauer benannte BeobachterInnen, die der Meinung seien, dass die unmittelbare Selbstverwaltung auf der Basis der Arbeitseinheiten eine Atomisierung der Arbeitsorganisationen darstelle, dass damit eine Gefahr für die einheitliche Geschäftspolitik einhergehe und ähnliches. Demgegenüber wird betont, dass die Selbstverwaltung in den Vertretungsinstanzen bzw. den Arbeiterräten, am umfassendsten ist. Solche Auffassungen haben zum Ziel, zentralistische Positionen zu stärken und die Entwicklung der unmittelbaren Selbstverwaltung zu verzögern.29
Hinter diesem Befund steht, dass ab 1961 dezentralisierte Entscheidungen innerhalb der Unternehmen möglich wurden und offenbar eine als negativ wahrgenommene Fragmentierung nach sich zogen. Obwohl der Gewerkschaftsbericht diese Beobachtung dezidiert nicht teilt, vermittelt er jedoch, dass eine Wahrnehmung existierte, derzufolge durch stärkere Dezentralisierung die Integrität von Unternehmen als wirtschaftliche Subjekte gefährdet sei. Zwischen 1961 und 1974 übertrug man den Untereinheiten der Betriebe immer größere Befugnisse. So konnten sie autonom Arbeitsplätze besetzen, Einkommen an die Beschäftigten verteilen, Investitionen tätigen und die Produktion planen. Um daraus entstandenen Koordinationsproblemen und Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, sahen die Verfassungsänderungen von 1971 regulierende Instrumente vor, die gesellschaftlichen Verträge und Selbstverwaltungsabkommen. Dieses Kapitel beleuchtet, wie unter den Bedingungen sich intensivierender Dezentralisierung einzelne Betriebsteile mit den Mitteln der Selbstverwaltung ihre Interessen verfolgten. Als Beispiel dient insbesondere die Abteilung Werkzeugbau der 29 AS, Đ-82, k. 66: RVSSJ – za Srbiju, Sreska sindikalna veća Savez Sindikata Jugo-
slavjie. Sresko veće – Kragujevac. Izveštaj o radu 1965.–1967., 21.06.1967, S. 8.
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Auto- und Motorenfabrik Maribor, wobei deutlich wird, dass formale und informelle Strategien individueller und kollektiver Art ineinander übergingen. Diese Abteilung ist eine besondere unter den produzierenden Betriebsteilen, da der Werkzeugbau im Prozess der industriellen Metallverarbeitung eine Schlüsselposition einnimmt. Die Fahrzeugfabriken in Maribor und Kragujevac verfügten über eigene Werkzeugmachereien. In diesem Grenzbereich zwischen Produktion und Entwicklung arbeiteten hoch Qualifizierte, deren Tätigkeit Voraussetzung für weitere Produktionsstufen war. Diese Abteilungen fabrizierten Werkzeuge, die in Maschinen zum Fräsen, Schneiden, Bohren, Gießen, Schmieden aber auch zur Kontrolle fertiger Werkstücke eingebaut wurden. Im Gegensatz zu stark genormter und kontrollierbarer Arbeit an Fließbändern besaßen WerkzeugmacherInnen größere Kontrolle über ihre Arbeitsprozesse.30 Insbesondere in den Expansionsphasen der Fahrzeugunternehmen oder in Zeiträumen, in denen die Produktion neuer Erzeugnisse anlief, war man in erhöhtem Maße auf die Werkzeugherstellung angewiesen, wie ein Gewerkschaftsbericht aus Kragujevac im Jahr 1965 festhält.31 Die hohe Qualifizierung der Beschäftigten und diese Bedeutung der Werkzeugmachereien für die Produktion spiegelten sich in Maribor in den 1960er und 1970er darin wider, dass Beschäftigte dort die höchsten Einkommen unter den ProduktionsarbeiterInnen erzielten, die vereinzelt nur von den Beschäftigten der ebenfalls unternehmenseigenen Schmiede übertroffen wurden.32
Externe Aufträge als Autonomiefaktor der TAM-Abteilung Werkzeugbau Seit den frühen 1960er Jahren verfügten die Untereinheiten der Betriebe infolge der Dezentralisierung über die Möglichkeit, die Löhne für ihre Beschäftigten festzusetzen. Dies führte dazu, dass für ähnliche Berufsbilder innerhalb der Unternehmen unterschiedliche Löhne gezahlt wurden. Faktoren wie die Bedeutung von Abteilungen im Produktionsprozess, ihr wirtschaftlicher Erfolg und die Verfügbarkeit der betreffenden Qualifikationsprofile am Arbeitsmarkt beeinflussten somit über die individuelle Qualifikation, die Leistung und die Arbeitserfahrung der MitarbeiterInnen hinaus ihre Einkommen. Normative ideologische Positionen jedoch hoben hervor, dass es vor allem die individuellen Arbeitsleistungen sowie der Markterfolg der Produkte seien, an denen Einkommen bemessen werden sollten.33 Bereits 1965 problematisierte man in den Selbstverwaltungsstrukturen der Zastava-Werke, dass die unterschiedlichen Zastava-Fabriken unter30 Vgl. Sönke FRIEDREICH, Autos bauen im Sozialismus. Arbeit und Organisationskultur
in der Zwickauer Automobilindustrie. Leipzig 2008, 228. 31 Vgl. Iz sindikalnog odbora Zavoda. Održana godišnja skupština, Crvena zastava,
Nr. 109, März 1965, 1–4, S. 1. 32 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 84; SI-PAM, f. 0990,
šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 79; SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 68. Für das Jahr 1972 ist dieser Umstand auch für die Nutzfahrzeugfabrik Zastavas belegt: ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 8. sednice RS, 18.12.1972, 10.
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schiedliche Löhne für gleiche Tätigkeiten bieten konnten und mit ihrer Wohnungs- und Lohnpolitik beim Rekrutieren von MitarbeiterInnen in Konkurrenz zu anderen Werksteilen traten: Wegen der Disproportionen, die in den Diensten und Fabriken bezüglich der persönlichen Einkommen bestehen, geschieht es häufig, dass einige Dienste und Fabriken Leute auf solche Art anwerben, dass sie ihnen höhere Punktwerte – höhere persönliche Einkommen – versprechen, obwohl die Arbeitsplätze die gleichen sind. Es geschieht außerdem, dass einige Fabriken Kader aus der Abteilung Direktion und Geschäftseinheiten damit abwerben, dass sie ihnen sofort Wohnungen geben. Wir können das aber nicht. Wir finden, dass das nicht in Ordnung ist.34
Der Verfasser, der Vorsitzende des Arbeiterrats der Abteilung Direktion und Geschäftseinheiten, wandte sich mit einer grundsätzlichen Bitte an den Verwaltungsausschuss der Zastava-Werke, also ein zentrales Selbstverwaltungsgremium, das über denen der einzelnen Abteilungen angesiedelt war. Er bat darum, sich grundsätzlich mit dem Problem zu befassen, dass Betriebsteile wie seiner keine eigenen Mittel erwirtschafteten und deswegen weder im Wohnungsbau noch in der Lohnverteilung über informelle Rekrutierungsinstrumente verfügten, wie dies bei Einheiten an anderen Stellen des Produktions- und Geschäftsprozesses der Fall war. Am Beispiel der Werkzeugmacherei der Fabrik TAM in Maribor soll im Folgenden ein Beispiel erläutert werden, in dem ein Betriebsteil über vorteilhafte Bedingungen verfügte, Einkommen zu erwirtschaften. In den 1970er Jahren wurde das Handeln der Abteilung Werkzeugbau bei TAM unternehmensintern als Angriff auf die Integrität des Gesamtunternehmens gewertet. Die Bedingungen für hochgradig autonomes Handeln des Betriebsteils waren durch die fortschreitende Ausweitung der Kompetenzen dezentralisierter Betriebsteile geschaffen worden. So stärkten Justierungen im Selbstverwaltungssystem, die mit den Verfassungsänderungen 1971 eingeführt und später in der Verfassung von 1974 und dem Gesetz über die vereinte Arbeit 1976 bestätigt wurden, einerseits die Autonomie von Betriebsteilen. Andererseits brachten die Verfassungsänderungen die bereits erwähnten Regulierungsinstrumente, welche unter anderem das unerwünschte Auseinanderstreben von Betriebsteilen, die nun über erweiterte Autonomie verfügten, abmildern sollten. Der Ausbau der Befugnisse der 1971 als Grundorganisationen der vereinten Arbeit – GOVA neu benannten Betriebsteile, welcher erst mit der Verfassung 1974 für alle Unternehmen verpflichtend wurde, sollte die Selbstverwaltung näher an die ArbeiterInnen heranbringen. Damit nahm die Partei- und Staatsführung gesellschaftliche Kritik an den sozialen Verwerfungen der bisherigen Entwicklung von Selbstverwaltung und teilliberalisierter Wirtschaft auf, die ab dem Ende der 1960er Jahre in Protesten von Studierenden und im Umfeld des „kroatischen Frühlings“ laut geworden waren. Man wolle nun mit den Verfassungsänderungen gegen „bürokratisch-technokratische“ Tendenzen vorgehen, die „zur Ein33 Der Verfassung von 1963 bspw. ist dieses Prinzip als Grundsatz den konkreten Be-
stimmungen vorausgestellt: Die Verfassung der SFRJ 1963, 6. 34 Vgl. ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–1967: Upravnom odboru Zavoda, 11.01.1965.
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engung des Einflusses der Arbeiterklasse“ geführt hätten, betonte Josip Broz Tito auf einem Parteiplenum im Mai 1971, auf dem die harte Reaktion auf die Abweichung der Zagreber Parteispitze verkündet wurde.35 In den Verfassungszusätzen selbst hieß es: Das von der Grundorganisation der vereinten Arbeit erzielte Gesamteinkommen stellt die materielle Basis des Rechts des Arbeiters dar, über seine Arbeitsbedingungen und die Einkommensverteilung zu entscheiden sowie sein persönliches Einkommen im Einklang mit dem Grundsatz der Verteilung der Arbeitsleistung und der Zunahme der Produktivität der eigenen und der gesamten gesellschaftlichen Arbeit zu erwerben.36
Ein Element dieser vergrößerten Autonomiespielräume der GOVA, das in den Konflikten zwischen der Abteilung Werkzeugbau und dem Gesamtunternehmen TAM relevant wurde, bestand darin, dass Betriebsteile nun selbständig Geschäftsbeziehungen mit externen Unternehmen eingehen konnten.37 Der Geschäftsbericht der Auto- und Motorenfabrik in Maribor schlüsselte ab 1975 die Ergebnisse nach den einzelnen Grundorganisationen der vereinten Arbeit, slowenisch mit dem Akronym TOZD bezeichnet, auf. Für die TOZD Werkzeugmacherei verzeichnete der Bericht, dass die Abteilung in dem Jahr 21,7 % ihres Auftragsvolumens von externen Unternehmen erhielt.38 Somit arbeitete der Betriebsteil nur mit etwa 78 % seiner Kapazität für das Unternehmen TAM und konnte mit auswärtigen Aufträgen zusätzliches Einkommen erwirtschaften. Eine ähnliche Größenordnung umfassten die externen Aufträge in der Schmiede des Unternehmens mit etwa 21 %.39 Dort sank bis 1979 der Anteil der Produktion für auswärtige Bestellungen auf etwa 16 %,40 um bis 1982 nur noch knapp 11 % zu betragen.41 Welche Gründe für diesen gesunkenen Anteil an der Produktion für Unternehmen außerhalb TAMs verantwortlich waren, ist in den vorhandenen Quellen nicht auszumachen. Ebenso wenig wird in verfügbaren Geschäftsberichten und der Partei- oder Gewerkschaftsdokumentation weder beziffert noch anderweitig erwähnt, welche Entwicklung sich diesbezüglich nach 1975 in der Werkzeugmacherei des Unternehmens vollzog. Jedoch zeugt 35 Der BdKJ im Lichte der Selbstkritik, Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa 20
(1971), H. 6/7, 107–110, 108. 36 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, Bundesversammlung, Verfassungs-
änderungen XX bis XLII 1971, 6. 37 Für Leistungen, die innerhalb des Unternehmens für andere GOVA erbracht wur-
38 39 40 41
den, galten zwischen den Einheiten ausgehandelte „Transferpreise“, siehe: Thomas EGER / Peter WEISE, Arbeitskräfteallokation bei kapitalistischer und arbeiterselbstverwalteter Unternehmensorganisation, in: Hans G. NUTZINGER (Hg.), Mitbestimmung und Arbeiterselbstverwaltung. Praxis und Programmatik. Frankfurt am Main 1982, 67–109, 94f. SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 13. Ebenda, 7. SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik sestanka OOZK TOZD Kovačnica, 19.02.1979, S. 2. SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Gospodarski načrt za leto 1983, 59.
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eine in den 1980er Jahren auf Deutsch und Englisch erschienene Werbebroschüre davon, dass sich die WerkzeugbauerInnen bei TAM um internationale Kundschaft bemühten.42 Auf zwölf Seiten präsentierte der Betriebsteil dort mit großformatigen Farbfotos seine Produkte. Demnach kann man davon ausgehen, dass die Werkzeugbau-Abteilung nicht nur Geschäfte in einheimischer Währung abwickelte, sondern auch aus eigener Kraft Devisen erwirtschaftete. Angesichts der wirtschaftlichen Erschwernisse, die im Verlauf der 1970er Jahre zunahmen, waren diese immer schwieriger zu beschaffen, jedoch für die Unternehmen von großer Bedeutung. Bereits im April des Jahres 1975 wurde auf einer Sitzung der lokalen Gewerkschaft der Metallindustrie, die ausschließlich der „wirtschaftliche[n] und politische[n] Situation in der Automobil- und Motorenfabrik Maribor“ gewidmet war, kritisiert, dass einzelne Betriebsteile zu autonom agieren würden. Die Neukonstituierung des Betriebs als Gemeinschaft von Grundorganisationen der vereinten Arbeit war gerade vollzogen worden und in den Reihen der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung sprach man davon, dass „wir einige Grundorganisationen bei TAM haben, die wie Arbeitsorganisationen wirtschaften.“43 Welche Betriebsteile es konkret waren, die sich wie Arbeitsorganisationen, also eigenständige Unternehmen, verhielten, benannten die Beteiligten nicht. Jedoch findet sich etwa zwei Monate später, Ende Mai 1975, in den Kurzprotokollen der Entscheidungen, die im Geschäftsausschuss44 bei TAM getroffen wurden, die Information, dass die Unternehmensleitung das autonome Geschäftsgebaren der TOZD Werkzeugbau als destruktiv wahrnahm. Im Protokoll hieß es: Der Ausschuss hat sich mit dem Inhalt der Erläuterungen bekannt gemacht, die die Leitung der TOZD Werkzeugbau bezüglich der externen Aufträge abgegeben hat. [...] Aus dem erwähnten Bericht ist ersichtlich, dass die Kapazitäten der TOZD Werkzeugbau zu 22 % mit auswärtigen Aufträgen gebunden sind. Wir haben im vergangenen Jahr die Anfertigungen von 48 Vorrichtungen im Wert von 448.442,80 Dinar außerhalb von TAM bestellt. [...] Deswegen macht der Ausschuss sowohl die Leitung als auch die Selbstverwaltungsorgane, vor allem aber den Ausschuss der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle der TOZD Werkzeugbau darauf aufmerksam, 42 Vgl. Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, Tool shop – Werkzeug-Macherei
o.J. [1980er Jahre], unter , 1.7.2015. 43 SI-PAM, f. 1341, šk. 114: Zapisnik 19. skupne razširjene seje predsedstva OS ZSS in IO občinskega odbora sindikata delavcev kovinske industrije, Maribor, 01.04.1975, S. 16. 44 Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Soergel fällte im Anschluss an den in Skopje geborenen US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Ichak Adizes ein pessimistisches Urteil über dieses Selbstverwaltungsgremium und sein Demokratisierungspotential: Der Geschäftsausschuss konnte ab 1971 den vom Arbeiterrat gewählten Verwaltungsausschuss ersetzen. Er wurde als Ausschuss des Arbeiterrats gebildet und war in dem von Soergel untersuchten slowenischen Unternehmen SAVA in Kranj und dem mazedonischen USJE-Werk ausschließlich mit leitendem Fachpersonal besetzt: SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 57, 112.
76 dass auch der Werkzeugbau das Selbstverwaltungsabkommen über die Assoziierung zur Gemeinschaft der TOZD Straßenfahrzeuge unterschrieben hat (siehe Artikel 30), auch wenn es so aussieht, als ob man sich dessen in der TOZD Werkzeugbau zu wenig bewusst wäre.45
Nach der Darstellung des Geschäftsausschusses schädigte die Werkzeugmacherei den Gesamtbetrieb, da Leistungen, die innerhalb des Unternehmens hätten erbracht werden können, aufgrund des Geschäftsverhaltens des Werkzeugbaus an externe Unternehmen vergeben werden mussten. Der Grund dafür läge darin, dass die Kapazitäten der Abteilung unter anderem aufgrund auswärtiger Aufträge voll ausgelastet seien. Der Geschäftsausschuss bezog sich hier auf die „Gründungsurkunde“ des in TOZD umstrukturierten Unternehmens, das Selbstverwaltungsabkommen. Wie hier deutlich wird, schien das Selbstverwaltungsabkommen, das die betrieblichen Einheiten auf das gemeinsame Unternehmensziel verpflichtete, das „wirtschaftliche Gegeneinander“ einzelner Abteilungen46
im Falle von TAM jedoch nicht wirksam eindämmen zu können. Die Blockade von Selbstverwaltungsabkommen durch den Werkzeugbau bei TAM Neben dem Ausmaß, in dem sich die Werkzeugmacherei bei TAM auswärtigen Aufträgen widmete, machte sie im Folgejahr 1976 mit ihrer fehlenden Bereitschaft, sich betriebsübergreifenden Prinzipien der Einkommensverteilung zu unterwerfen, von sich reden. Auch in diesem Fall nutzte der Betriebsteil Mechanismen der Selbstverwaltung, um kollektive Interessen seiner Belegschaft gegenüber dem Gesamtbetrieb zu verfolgen. Divergierende Lohnhöhen für ähnliche Tätigkeiten innerhalb eines Betriebes boten sowohl in Kragujevac als auch in Maribor seit spätestens Mitte der 1960er Jahre Anlass zur Unzufriedenheit sowohl von Beschäftigten als auch von verantwortlichen LeiterInnen.47 Die Idee von innerbetrieblich wirkender Solidarität, welche ebenso wie die Eigenständigkeit der Betriebsteile in der Konzeption der Selbstverwaltung angelegt war, sahen sie in Frage gestellt. Beschäftigte betrachteten den „Egoismus“ von Abteilungen wie dem Werkzeugbau als moralischen Verstoß gegen die betriebliche Gemeinschaftsidee. Wie der weiter oben zitierte Brief eines Arbeiterratsvorsitzenden eines Zastava-Betriebsteils an den zentralen Verwaltungsausschuss des Unternehmens zeigt, problematisierte das Leitungspersonal in diesem Zusammenhang die ungleichen Chancen der Abteilungen, qualifiziertes Personal 45 SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 52. redne seje odbora za gospodarjenje in medse-
bojna razmerja v združenom delu skupnosti TOZD cestnih vozil Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 27.05.1975. 46 Die bundesdeutsche Betriebswirtschaftlerin Gudrun Lemân charakterisierte so die Fehlentwicklungen der 1960er Jahre: Lemân, Das jugoslawische Modell, 38. 47 Vgl. ZCZ-CA, RS ZCZ, 1965: Žalba na rešenje od 15. novembra 1964, 28.11.1964; Iz sindikalnog odbora 01.03.1965; Tomislav Perlič, Spoznajmo obrat spolšnega vzdrževanja, Skozi TAM, November 1966, 6f.; 1200 ton ulitkov letno, Skozi TAM, November 1966, 6f.
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zu rekrutieren.48 Da Fachkräfte in einigen Bereichen im gesamten Untersuchungszeitraum knapp waren, mussten Betriebe und auch Betriebsteile Beschäftigten materielle Anreize bieten, um sie an sich zu binden. Kapitel 5.3. beschäftigt sich näher mit dem informellen Druckmittel der Fluktuation, das Arbeitskräften, deren Qualifikationsprofile besonders nachgefragt waren, zur Verfügung stand. Lohnhöhen unterschieden sich für ähnliche Berufsprofile zwischen verschiedenen Abteilungen, da diese unter unterschiedlichen Bedingungen wirtschafteten. Ein Selbstverwaltungsabkommen sollte 1976 in Maribor die übergeordneten Prinzipien der Lohnbestimmung im Unternehmen im Sinne größerer Ausgeglichenheit der Lohnspannen abändern. Dazu dokumentierte im September 1976 ein Kurzprotokoll von Beschlüssen des zentralen Arbeiterrats bei TAM, dass die Arbeiterversammlung (Slow.: „Zbor delavcev“) in allen Grundorganisationen bis auf den Werkzeugbau einem dementsprechenden Abkommen zugestimmt hätten.49 Die Mitbestimmungsform der Arbeiterversammlung genoss sowohl in den normativen Dokumenten als auch den Analysen des jugoslawischen Systems nur geringe Aufmerksamkeit. Offenbar konnten Bundes- oder Betriebsgesetze oder gar die von den Selbstverwaltungen der Betriebe erlassenen Unternehmensstatute festlegen, welche betriebliche Entscheidungen von Arbeiterversammlungen bestätigt werden mussten. Ein Selbstverwaltungsabkommen, das wie 1976 einheitliche Regelungen für das gesamte Unternehmen vorsah, musste bei TAM einstimmig auf den Versammlungen aller TOZD beschlossen werden. Indem die Belegschaft der Werkzeugmacherei auf ihrer Vollversammlung die Zustimmung zum Abkommen verweigerte, nutzte sie also ein legitimes Mittel der Selbstverwaltung. Das Nein aus der Abteilung hatte offensichtlich einen solchen Stellenwert, dass es als kollektiver Konflikt zwischen der Abteilung und anderen Betriebsteilen bzw. dem Gesamtunternehmen in der Fabrikzeitung aufgegriffen wurde. Das verwundert nicht, musste doch in der Betriebsöffentlichkeit vorbereitet werden, dass es ein neues Abkommen geben würde, das eine neuerliche Abstimmung auf den Arbeiterversammlungen erfordern würde. Der Artikel vom Oktober 1976, der unter dem Titel „Gespräche über die TOZD Werkzeugbau: Persönliche Einkommen und Fluktuation“ erschien, dokumentierte ein Treffen zwischen der Betriebsleitung und der Leitungsebene des Werkzeugbaus, bei dem auch Partei und Massenorganisationen vertreten waren.50 Der Autor des Beitrags erkannte die Sonderstellung der Werkzeugmacherei im Betrieb an, und betonte, dass es gerade in dieser Abteilung die Fluktuation von Fachkräften, die teilweise in Gruppen das Unternehmen verließen, zu verhindern gelte. Verweise der zentralen Fachdienste TAMs darauf, dass die Einkommen in der TOZD Werk48 Vgl. ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–1967: Upravnom odboru Zavoda. 49 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 3. rednega zasedanja delavskega sveta Skup-
nosti TOZD cestna vozila Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 22.09.1976, S. 1. 50 Vgl. Tomislav PERLIČ, Razgovor o problemih TOZD Orodjarna. Osebni dohodki in fluktuacija, Skozi TAM, 8.10.1976, 5.
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zeugbau weder im innerbetrieblichen Vergleich, noch gegenüber denen in vielen anderen Werkzeugbaubetrieben niedrig seien, wiesen die Vertreter der Abteilung zurück. Man gehöre selbst im jugoslawischen Vergleich zu den Spitzenherstellern, weswegen hier Ausnahmeregelungen für Lohnsteigerungen notwendig seien, wie sie auch in anderen Betrieben den Werkzeugmachereien zugestanden würden. Der Direktor TAMs stimmte dieser Haltung unter der Einschränkung zu, dass ein neues Selbstverwaltungsabkommen, das solche Sonderregelungen erlaubte, der Zustimmung aller anderen Abteilungen bedürfe. Gerade in Hinblick auf die wirtschaftlich angespannte Situation im Unternehmen sei der Moment für solche Auseinandersetzungen jedoch ungünstig. In diesem Sinne schloss der Artikel mit der Mahnung, ein neues Abkommen über Lohnverteilung müsse festgelegte Höchstgrenzen für Löhne sowie das allgemeine Sanierungsprogramm, die beide für alle Abteilungen im Betrieb gälten, respektieren. Eine relativ kleine, aber für den Betrieb entscheidende Gruppe von Beschäftigten konnte demnach mit ihrem Veto Selbstverwaltungsabläufe blockieren. Hier wurde einem Teil der Belegschaft Partikularinteressen zugestanden, wobei die Fluktuationsdrohung und die außergewöhnlich große Bedeutung der Berufsgruppe als Argumente öffentlich gebilligt wurden. Man gewährte also einer Gruppe innerhalb des Unternehmens zugunsten des Wohles des Gesamtunternehmens Privilegien und stellte damit innerbetriebliche Solidaritätsgrundsätze hintan. Das schadete dem Betrieb offenbar im Kalkül der beteiligten in Management und Selbstverwaltung weniger als ein gänzliches Ausscheiden vieler Mitglieder dieser kritischen Gruppe. Zwar beinhaltete die öffentliche Botschaft in der Betriebszeitung auch, dass grundlegende Beschränkungen wie Höchstverdienst und das betriebliche Sanierungsprogramm eingehalten werden mussten, jedoch wurden diese Verweise auf gesamtbetriebliche Interessen und Solidaritätsgrundsätze recht zaghaft – beinahe wie lästige formale Anforderungen – kommuniziert. Der anschließende Verlauf des Konflikts zwischen dem Werkzeugbau und dem Gesamtunternehmen TAM lässt sich nicht weiter nachverfolgen. Dennoch illustriert die Episode auch bis zu diesem Punkt eine typische kollektive Konfliktkonstellation, in der einzelne betriebliche Gruppen ihre Partikularinteressen mit den Mitteln der Selbstverwaltung verfolgten. Diese Spannung zwischen dem Recht auf Selbstverwaltung, den Interessen einzelner Gruppen und dem übergeordneten Betriebsinteresse berücksichtigte auch Edvard Kardelj in seinen Kommentaren zur Implementierung der neuen Verfassung und des Gesetzes über die assoziierte Arbeit (1974 und 1976 verabschiedet): Einerseits hieß es bei Kardelj in Bezug auf Entscheidungen, die auf Arbeiterversammlungen fielen: Denn über alle Fragen, die eben die grundlegende Stellung des Arbeiters nicht nur in der assoziierten Arbeit, sondern in der Gesellschaft überhaupt ausmachen, kann niemand an ihm vorbei oder an seiner Stelle entscheiden.51 51 KARDELJ, Slobodni udruženi rad, 452. Der Beitrag erschien in dieser Form erstmals
1978.
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Hier betonte der „Vater der Selbstverwaltung“, dass das Recht auf Mitbestimmung von Belegschaften gesichert sein müsse. Gleichzeitig bezog Kardelj in seine Kommentare 1978 ein, dass bei dezentralisierten Entscheidungen in den Grundorganisationen (wie der TOZD Werkzeugbau) die Integrität von „Arbeitsorganisationen“ (Gesamtunternehmen wie TAM) nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfte. Damit ging der Chefideologe auf die Probleme ein, die seit den 1960er Jahren auftraten: Deswegen müssen wir der inneren Festigkeit, Verbundenheit und Beständigkeit der Arbeitsorganisationen in unserer Gesellschaft die höchste Sorge zuteil werden lassen. Deshalb habe ich schon früher betont, dass jede Grundorganisation der vereinten Arbeit Verantwortung für den Zustand und die Arbeitsresultate und das Wirtschaften der Arbeitsorganisation als Ganzes übernehmen muss. Daraus resultiert auch eine bestimmte Mitverantwortung der Grundorganisationen der assoziierten Arbeit für die Stellung derjenigen Grundorganisation der assoziierten Arbeit, die aus objektiven Gründen, also ohne ihre Schuld, ein unzureichendes Einkommen und damit einhergehend ungenügend Mittel für die Entwicklung der eigenen materiellen Arbeitsgrundlage erwirtschaften. Denn die Schwäche eines Gliedes in der Arbeitsorganisation zieht Schäden für alle anderen Grundorganisationen der assoziierten Arbeit in dieser Organisation nach sich. Deshalb müssen die Grundorganisationen der assoziierten Arbeit in der Arbeitsorganisation bei der Verteilung ihrer Einkommen auch die Bedürfnisse der Entwicklung der gemeinsamen Arbeitsorganisation im Blick behalten. Es versteht sich, dass eine solche Solidarität der Arbeiter keine soziale sein soll, sondern eine ökonomische, das heißt, begründet auf der wirtschaftlichen Notwendigkeit und dem Bedarf derjenigen Grundorganisationen der vereinten Arbeit, die ihr Einkommen aus dem Einkommen anderer Grundorganisationen der vereinten Arbeit erwirtschaften.52
Anlass für diese Ausführungen Kardeljs boten offenbar Konflikte in der Art der hier geschilderten Probleme, die bei Zastava und TAM vorkamen. Der Industriesoziologe Vladimir Arzenšek schrieb auf der Basis empirischer Daten aus den 1970er Jahren Industriebelegschaften ähnliche fehlende Solidarität zu, jedoch auf höherer Ebene: Er attestierte Belegschaften partikularistische Orientierungen, welche zur Folge hätten, dass die Bedeutung des eigenen Unternehmens höher als die anderer Unternehmen oder gar der Gesellschaft als Ganzes eingeschätzt würde.53 Damit befand sich die soziologische Analyse also keineswegs im Widerspruch zu Kardeljs Mahnungen an die Betriebe. Was Arzenšek für die Beziehungen zwischen Unternehmen feststellte, äußerte sich bei TAM, wie auch von Kardelj beschrieben, in partikularen Bestrebungen innerhalb eines Betriebes. Wolfgang Soergel kam anhand des Untersuchungsbeispiels des mazedonischen Betonwerks USJE in Skopje, das zur Zeit seiner Untersuchung zu Beginn der 1970er Jahre überdurchschnittlich prosperierte, zu ähnlichen Schlüssen wie Arzenšek.54 Unter der Überschrift „Betriebsegoismus“ schilderte er den Verlauf 52 Ebenda, 408. 53 Vgl. ARZENŠEK, Struktura i pokret, 52. 54 Vgl. SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 175–181.
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einer Sitzung im Arbeiterrat, an deren Ende die Delegierten nicht bereit waren, sich einem Repbuliksgesetz zu unterwerfen, welches maximale Einkommenshöhen in Relation zum Vorjahr vorschrieb. Der Hintergrund des Gesetzes war, dass man damit auf politischem Wege die Spannen zwischen Löhnen verschiedener Unternehmen begrenzen wollte. Angesichts allgemein sinkender Reallöhne bestanden die Delegierten darauf, die Situation der eigenen Belegschaft mit der Auszahlung von gesetzeswidrig hohen Löhnen, die das Unternehmen auch erwirtschaftet hatte, zu verbessern. Sie nahmen dabei bewusst in Kauf, Gesetze zu übertreten, welche Solidarität zwischen verschiedenen Fabriken sicherstellen sollten. In der Diskussion im Arbeiterrat argumentierten insbesondere die Delegierten mit dem Status von ArbeiterInnen eindringlich für einen Gesetzesbruch, wobei sie auf ungerechtfertigt hohe innerbetriebliche Einkommensspannen zwischen ArbeiterInnen und den Angestellten sowie auf das Sinken der Reallöhne hinwiesen. Innerhalb der Betriebe die Einkommensspannen zu senken, stellten sie damit als relevanter und moralisch dringlicher dar, während sie sich vergrößernde Einkommensspannen zu ArbeiterInnen anderer Betriebe hinnahmen. Entwicklungen wie im Falle der Werkzeugmacherei bei TAM, bei denen die Partikularinteressen oder der „Egoismus“ von Belegschaftsteilen den Interessen des Gesamtbetriebes bzw. der Gesamtbelegschaft untergeordnet wurden, spitzten sich in Fällen wie im USJE-Werk also ähnlich zu. Hier wird zudem deutlich, dass die unterschiedlichen Interpretationsrahmen für die Situation einer Belegschaft oder ihrer Teile verschiedene Urteile nahelegten. Beriefen sich die WerkzeugmacherInnen in Maribor einerseits auf ihre Bedeutung für das Unternehmen und ihre günstige Situation auf dem Arbeitsmarkt, so unterschlugen sie andererseits in ihrer Argumentation den geltenden Anspruch eines einheitlichen Vergütungsrahmens für ähnlich qualifizierte Tätigkeiten innerhalb des Unternehmens. Einer ähnlichen Strategie folgend, hoben die ArbeiterInnen im Skopioter USJE-Betonwerk sowohl ihren angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten zunehmenden Bedarf an höheren Einkommen hervor, wie auch die ungleichen Chancen für Angestellte und ArbeiterInnen auf Erhöhung von Einkommen.55 Da sich ihre soziale Lage verschlechterte, schenkten sie der Tatsache, dass ihr Werk im mazedonischen Vergleich Spitzeneinkommen zahlte, wenig Beachtung. Ebenso wernig konnte sie überzeugen, dass sie mit den zur Debatte stehenden Lohnsteigerungen gesetzliche Vorschriften brachen, welche Einkommensspannen zwischen den Branchen und unterschiedlich erfolgreichen Unternehmen im Sinne gesamtgesellschaftlicher Solidarität begrenzen sollten.
Fazit Wie am Beispiel des Werkzeugbaus bei TAM deutlich geworden ist, gab die Selbstverwaltung den Belegschaften dezentralisierter Betriebsteile Mittel an die Hand, partikulare Interessen gegenüber der Unternehmensleitung bzw. ihren KollegInnen in anderen Abteilungen zu verfolgen. Den Hintergrund dafür, dass 55 Zu ungleichen Chancen auf Einkommen zwischen Angestellten und ArbeiterInnen
siehe Kapitel 6.1.
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die TOZD Werkzeugmacherei eine solch starke Position in der betrieblichen Selbstverwaltung entwickeln konnte, bildeten folgende Umstände: Erstens handelte es sich um (hoch) qualifizierte ArbeiterInnen, die an einer Schlüsselstelle in der Produktion tätig waren. Gegenüber niedrig Qualifizierten, die in getakteten Arbeitsbereichen der Produktion tätig und somit stärker den Kontrollmechanismen tayloristischer Industrieproduktion unterworfen waren, verfügten Beschäftigte im Werkzeugbau zudem über relative Autonomie in der Planung und Erledigung ihrer Arbeit. Solche Arbeitsbedingungen stärkten die Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und damit die Möglichkeiten für Kommunikation unter den WerkzeugmacherInnen, was eine kollektive betriebspolitische Handlungsfähigkeit unter Ausnutzung formaler Mittel der Selbstverwaltung begünstigte.56 Zweitens bestand sowohl intern als auch extern eine hohe Nachfrage nach ihren Erzeugnissen. In den 1970er Jahren wurden die wirtschaftlichen Bedingungen für das Gesamtunternehmen schwieriger. Aufgrund der hohen Eigenständigkeit, welche die Selbstverwaltung der Werkzeugmacherei zugestand, konnte die Abteilung auch Einnahmen aus externen Aufträgen erwirtschaften. Damit nahm die TOZD Werkzeugbau gegenüber anderen Betriebseinheiten, die aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Geschäftsprozess dazu nicht in der Lage waren, innerbetrieblich eine starke Verhandlungsposition ein. Drittens stärkte die Knappheit an ausgebildeten WerkzeugmacherInnen die Position des Betriebsteils. Informelle Strategien, ihre Interessen zu verfolgen, wie die ständig drohende Fluktuation von MitarbeiterInnen und Streiks, verliehen den Forderungen des Werkzeugbaus in den formalen Bahnen der Selbstverwaltung zudem Nachdruck. Im Vergleich zu Planwirtschaften sowjetischen Typs, hatten die Beschäftigten des Werkzeugbaus bei TAM mit ihrer starken Position in der betrieblichen Selbstverwaltung formale Einflussmöglichkeiten, die ihren KollegInnen z. B. in der DDR fehlten. Wie die Untersuchung des Ethnologen Sönke Friedreich zum VEB Sachsenring in Zwickau zeigt, konnten die WerkzeugmacherInnen dort lediglich informelle Privilegien genießen.57 Im Gegensatz zu jugoslawischen Bedingungen konnten sie in den Trabant-Werken keine höheren Einkommen als Beschäftigte im betrieblichen Presswerk erzielen. Der schweren und gefährlichen Arbeit beim Pressen von Blechtafeln, die ehemalige Sachsenring-Beschäftigte mit der in Bergwerken verglichen, wurde in der DDR mit zentralen Tarif56 Thomas Welskopp stellt die Erfordernisse der spezifischer Arbeitsprozesse als einen
Faktor heraus, der Autonomie- und Dispositionsspielräume sozioprofessioneller Gruppen in der deutschen und amerikanischen Stahlinustrie bestimmten: Thomas WELSKOPP, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860ern bis zu den 1930er Jahren. Bonn 1994, 52. Speziell für die WerkzeugmacherInnen als Betriebselite betont Sönke Friedreich für Beschäftigte in der DDR-Automobilindustrie den Berufsethos, der an ihre hohe Qualifikation, Tätigkeitsprofilen und spezifischen Produktionsbedingungen geknüpft war: FRIEDREICH, Autos bauen im Sozialismus, 239, 250–255. 57 Vgl. ebenda, 251–255.
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vorschriften das höchste Einkommen unter den ProduktionsarbeiterInnen zugewiesen.58 Die weiter oben zitierten Einkommensverhältnisse der Mariborer TAM-Fabrik zeigen, dass die jugoslawischen WerkzeugbauerInnen im Gegensatz zu ihren ostdeutschen KollegInnen zusätzlich zum hohen Prestige des Werkzeugbaus auch die höchsten Einkommen in der Produktion erzielten. Die TOZD Werkzeugbau konnte die Selbstverwaltungsinstrumente auf eine solche Weise anwenden, dass sie die Situation der Beschäftigten nur ihrem Betriebsteil verbesserten. Darüber hinaus zeigt das Beispiel der kollektiven Interessenvertretung des Werkzeugbaus bei TAM, dass die vergrößerte Autonomie der Betriebsteile als GOVA und die Selbstverwaltungsabkommen, beides Elemente der reformierten Selbstverwaltung, das Wirken von Partikularinteressen einzelner Teile der Belegschaft nicht abmilderten. Andere Betriebsteile nahmen diese als „Egoismus“ wahr und warfen der Werkzeugmacherei vor, Solidaritätsverpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft – verstanden als die des Betriebes – zu verletzen. Die Verfasstheit als Unternehmen verpflichtete den Werkzeugbau in den Augen derjenigen, die die Solidarität der erfolgreichen Abteilung einforderten, dazu, ihre partikularen Interessen zurückzustellen. Es war jedoch eine der Selbstverwaltung grundlegend innewohnende Spannung, die beide Prinzipien, sowohl Solidarität als auch Interessen kleiner, sehr leistungsfähiger Gruppen, zuließ. Das bedeutet, dass gegensätzliche Haltungen dazu, welche Grenzen die Gruppe hätte, die gemeinsame Ziele verfolgte und für die Interessen ihrer Mitglieder einstand, mit Prinzipien der Selbstverwaltung begründet werden konnten. Die KritikerInnen werteten das Verhalten im Werkzeugbau klar als Verstoß gegen Selbstverwaltungsprinzipien. Wie die hier diskutierte zeitgenössische Forschung von Sozialwissenschaftlern wie Arzenšek und Soergel bestätigten, begünstigten die Reformen des Selbstverwaltungssystems in den 1970er Jahren also eher weitere Partikularisierungen der ArbeiterInnenschaft. Allerdings standen sie Forderungen nach mindestens betriebsweiter Solidarität, die einen allgemein akzeptierten Bezugspunkt in den Auseinandersetzungen darstellte, gegenüber.
4.1.2.Löhne als zukünftige Schulden: Die Verhandlungsmacht der Belegschaften Auf dem 2. Kongress der Selbstverwalter im Mai 1971 in Sarajevo, bei dem VertreterInnen aus Unternehmen ganz Jugoslawiens zusammenkamen, appellierte Josip Broz Tito an seine Landsleute, in den ökonomisch angespannten Zeiten nicht über ihre Verhältnisse zu leben: Wenn wir heute von der Durchführung des Stabilisierungsprogrammes sprechen, dann verlangen wir vor allem, dass niemand über seine realen Möglichkeiten und über die Mittel über die er verfügt hinaus Ausgaben tätigt. Wir können nicht mehr importieren als wir Devisen haben, wir können nicht ohne Deckungen investieren, der allgemeine Konsum kann nicht über den tatsächlichen Möglichkeiten liegen.59 58 Vgl. ebenda, 239–243. 59 TITO, Borba za dalji razvoj, 147.
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Man könnte hinzufügen, dass die Auszahlung höherer Löhne als wirtschaftlich gerechtfertigt ebenfalls ein „Leben über die Verhältnisse“ bedeutete. In der Rede des Staatschefs wird deutlich, dass sich im Mai 1971 an der Staatsspitze ein Bewusstsein vom instabilen Zustand der jugoslawischen Wirtschaft entwickelt hatte. Die Wirtschaft hatte in den 1960er Jahren die ersten Rezessionen erlebt und wuchs in den 1970er Jahren weniger stark als zuvor. Instabil waren auch die politischen Verhältnisse, was sich in verschiedenen Protestbewegungen in Partei und Gesellschaft äußerte. Das Staatsoberhaupt erwähnte in seiner Ansprache an die SelbstverwalterInnen ein Stabilisierungprogramm, das Jugoslawien aufgrund der Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) 1971 aufstellen musste, um einen Kredit zu bekommen.60 Es lagen also makroökonomische Diagnosen vor, die die Regierung zu Maßnahmen gegen die wirtschaftlichen Probleme des Landes greifen ließen. Daher erlangte die Rede von „Stabilisierung“ in den 1970er Jahren einen festen Platz in wirtschaftspolitischen und betrieblichen Diskursen. Der insgesamt eingeschränkte Erfolg solcher Anstrengungen äußerte sich unter anderem im Trend ständig steigender Löhne, dem die Arbeiterselbstverwaltung nicht entgegenwirkte, sondern nach Ansicht von BeobachterInnen trotz des Wissens um fehlende Mittel nachgab.61 So stiegen die Löhne in den gesamten 1970er Jahren stärker als die Produktivität. In den schwächsten Jahren des Jahrzehnts, 1974 und 1979, bedeutete dies in Zahlen ausgedrückt: -1,3 % und -2,2 % Produktivitätswachstum in Jugoslawien, während die Löhne im gesellschaftlichen Sektor in denselben Jahren dennoch um 27,6 % und 20,2 % anstiegen. Damit orientierten sie sich stärker an den Lebenshaltungskosten als an der Produktivität.62 Derartige Steigerungsraten waren nur auf Kosten der Akkumulation der Betriebe und kreditbasiert möglich, womit Lohnsteigerungen ein Element im Faktorenbündel ausmachten, das die Schuldenkrise Jugoslawiens nach sich zog.63 Im Rahmen dieser Analyse läge es nahe, die Mechanismen nachzuzeichnen, mit denen kollektiv Druck seitens der Belegschaften auf Selbstverwaltungsentscheidungen genommen wurde. Die konkreten Erscheinungsformen solcher Einflussnahme lassen sich aus den Akten jedoch nur ansatzweise rekonstruieren. Diskussionen auf Arbeiterversammlungen (Srb./ Slow.: „zbor radnika/ delavcev“) und an den Arbeitsplätzen, wo Delegierte der Arbeiterräte mit den Belegschaften kommunizierten, lassen sich angesichts der Quellenlage kaum rekonstruieren. Jedoch lassen sich Berichte in den Betriebszeitungen, Dis60 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 251. 61 Vgl. Ljubomir MADŽAR, The Economy of Yugoslavia. Structure, Growth Record and
Institutional Framework, in: John B. ALLCOCK / John J. HORTON / Marko MILIVOJEVIĆ (Hgg.), Yugoslavia in Transition. Choices and Constraints. New York, Oxford 1992, 64–96, 86; WOODWARD, Socialist Unemployment, 260f. 62 Abbildung 1 in Kapitel 2 visualisiert die Relation zwischen Lohn- und Produktivitätssteigerungen der jugoslawischen Wirtschaft zwischen 1965 und 1981, vgl. PROUT, Market Socialism, 225, 232. 63 Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 255–257.
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kussionen in den Arbeiterräten und die teilweise kommentierten Beschlüsse der Gremien von Selbstverwaltung und Massenorganisationen sowohl als Elemente als auch als Resultate dieser Aushandlungsprozesse lesen. Kapitel 4.1.2. spürt in diesem Sinne denjenigen Entscheidungen in den Selbstverwaltungsgremien nach, welche Lohnzahlungen zur Folge hatten, die über die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Betriebe hinausgingen. Ansatzweise treten dabei die Kommunikationsprozesse zwischen Belegschaften und FunktionärInnen verschiedener Strukturen zutage. Sie stellen sich als Ringen der Beteiligten dar, sowohl den vielfältigen Anforderungen des normativen Rahmens der Selbstverwaltung, den wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten als auch gleichzeitig den Forderungen der Beschäftigten gerecht zu werden. In den überlieferten Quellen treten diese Dynamiken insbesondere ab Beginn der 1970er Jahre in Erscheinung, sodass die Analyse zu diesem Zeitpunkt einsetzt.
TAM Noch vor den Einschnitten der ersten Ölkrise im Herbst 1973 machte sich am Übergang zwischen den 1960er und 1970er Jahren im jugoslawischen Durchschnitt ein schnelleres Wachstum von Preisen und Löhnen gegenüber einer langsamer wachsenden Produktivität bemerkbar.64 1968 verwies eine Mariborer Gewerkschaftskommission mit Besorgnis auf eine entsprechende Entwicklung in der Gemeinde.65 Ungeachtet dessen schrieben die Geschäftspläne (Slow./ Srb.: „gospodarski/ privredni plan“) wie der von TAM 1971 eine Erhöhung der Löhne um 12 % fest. In der Fabrikzeitung wurde dieses Vorhaben der Belegschaft bekannt gemacht.66 Bei Zastava in Kragujevac kündigte man für dasselbe Jahr auf ebendiesem Weg lediglich Einkommenssteigerungen von 3 % an.67 Einerseits planten die Betriebe also Lohnerhöhungen, sahen sich aber andererseits wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgesetzt, welche die Erfüllung dieser Zusagen erschwerten. Als Kommunikationsplattform zwischen Leitungsstrukturen und Belegschaft über diese Spannung dienten unter anderem die Arbeiterversammlungen in den Betriebsteilen. Dort konnten Beschäftigte konkrete Fragen oder Forderungen formulieren. In Maribor entschied man im Mai 1972, einige Fragen, die auf einer Versammlung aufgekommen waren, von den Verantwortlichen in der Finanzabteilung schriftlich in der Betriebszeitung beantworten zu lassen.68 Hier bekamen einerseits Belegschaftsmitglieder die Gelegenheit, sich kritisch zu äußern, andererseits konnte die Betriebsleitung wirtschaftliche und politische Zusammenhänge erklären, welche stärkere Lohnsteigerungen verhinderten, ein Austausch, der sehr selten auf diese Art öffentlich stattfand. So wurde unter an64 Vgl. PROUT, Market Socialism, 225, 232. Für eine Visualisierung dieses Zusammen-
hangs siehe Kapitel 2. 65 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 18: Zapisnik 2. redne – razširjene – seje komisije za gos-
podarstvo pri občinskem sindikalnem svetu Maribor, 27.05.1968, S. 8. 66 Vgl. Gospodarski plan za leto 1971 v javni razpravi, Vesti iz TAM, 27.2.1971, 2. 67 Vgl. J. P., Povećaće se lični dohoci, Crvena zastava, 2.6.1971, 2. 68 Vgl. Odgovori na vprašanja članov delovne skupnosti, Skozi TAM, 19.5.1972, 5f.
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derem erklärt, dass die Löhne der Monate Januar und Februar 1972 niedriger als erwartet ausgefallen seien, weil die Verkaufszahlen im entsprechenden Zeitraum hinter den Planziffern zurück geblieben waren. Selten wie kaum ein anderes Mal gab der Artikel ohne Umschweife kollektive Forderungen von Beschäftigten nach höheren Löhnen wieder, allerdings ohne genau zu benennen, wer die KritikerInnen waren und welchem Betriebsteil sie angehörten. Offenbar waren die Betriebszeitungen darum bemüht, Konflikte so anzusprechen, dass sie nicht zusätzlich angefacht wurden: Forderung: Wir fordern höhere persönliche Einkommen, daneben auch, dass sie beständig sind, denn momentan weiß ein Arbeiter nie, in welcher Höhe er das persönliche Einkommen empfangen wird. Antwort: Das System der Verteilung der persönlichen Einkommen ist von den Entschlüssen der Verwaltungsorgane und den Vorgaben der entsprechenden Regelwerke abhängig. Wenn die Selbstverwaltungsorgane beschließen, dass wir die persönlichen Einkommen in stabilen Beträgen empfangen, werden wir sie auch so auszahlen.69
Die Antwort geht zwar nicht auf die Forderung nach Lohnsteigerungen ein, allerdings hatten schon vorangegangene Abschnitte im Artikel zu dieser Frage Stellung genommen. Die Angestellten der Finanzabteilung, die die Fragen beantworteten, bemühten sich hier darzustellen, welche Faktoren Einfluss auf die Lohnzahlungen hatten. Im Beispiel der Forderung nach beständigen Löhnen bestand diese Kommunikationsstrategie im Hinweis auf die Selbstverwaltungsprozeduren im Unternehmen. Diese wurden an anderer Stelle im Artikel durch Erklärungen zu makroökonomischen Entwicklungen und staatlicher Wirtschaftspolitik ergänzt. Die Leitungsgremien und die VertreterInnen von Partei und Gewerkschaft im Betrieb bekräftigten die gesamten 1970er Jahre hindurch ihre Appelle an die Selbstverwaltungsgremien – und streng genommen auch an sich selbst – , der Belegschaft fortlaufend Informationen über die Situation des Unternehmens bereitzustellen, um deren Hoffnungen auf schnell und stark steigende Löhne abzumildern. Appelle an die Beschäftigten, besser, schneller und disziplinierter zu arbeiten, gingen meistens Hand in Hand mit solchen Informationen über die Geschäftsergebnisse. So informierte man die ArbeiterInnen und Angestellten in den 1970er Jahren ständig über die Stabilisierungsprogramme, welche die Steigerung der Produktivität zum Ziel hatten. Berichte in der Betriebszeitung erklärten die Einzelheiten dieser Programme, welche Leitung, Selbstverwaltung und Massenorganisationen offenbar gemeinsam für das Unternehmen und seine Betriebsteile aufstellten.70 In den Programmen und Berichten nannten die FunktionärInnen und JournalistInnen die Bedingungen, die für die Anhebung von Löhnen erfüllt wer69 Ebenda, 5. 70 Vgl. ebenda; R.M., Stabilizacijski program TOZD kovačnica v ospredju. Sestanki
oraganizacij Zveze komunistov TOZD in DSK, Skozi TAM, 10.1.1975, 3; Stabilizacijski program TOZD orodjarna za leto 1975, Skozi TAM, 16.2.1975, 6; D.V., Sprejeti ukrepi za izboljšanje gospodarskega stanja, Skozi ZIV TAM, 8.6.1979, 1.
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den mussten. Diese Berichterstattung in den Fabrikzeitungen ist als Teil der Kommunikationsstrategie zu verstehen, die Forderungen seitens der Belegschaft nach höheren Einkommen entgegen wirken sollte. Dennoch blieb die Spannung zwischen wirtschaftlichem Erfolg und vertretbaren Lohnhöhen in komplexen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen bestehen, wie das Protokoll einer Sitzung der Gewerkschaft der Metallindustrie in Maribor vom April 1975 illustriert.71 Darin wird deutlich, dass TAM Anstrengungen unternahm, ungedeckte Lohnanstiege zu vermeiden: Von 31 Unternehmen der Mariborer Metallindustrie war der Fahrzeugbauer dasjenige mit den geringsten Lohnanstiegen.72 Jedoch gab es deswegen in der Belegschaft Unruhe, wie die Aussage eines TAM-Vertreters, ausbleibende oder niedrige Lohnsteigerungen seien den Beschäftigten schwer zu erklären, deutlich macht. Schließlich ist für August 1976 belegt, dass bei TAM höhere Löhne ausgezahlt wurden, als das Unternehmen zu dieser Zeit erwirtschaften konnte. In einem Kurzprotokoll der Beschlüsse des Geschäftsausschusses der Fabrik, das auch von Stillständen in der Produktion berichtete, hieß es: „Der Ausschuss hat das Gesuch des Finanzsektors über die Aufnahme eines Kredites in der Höhe von 30.000.000 Dinar für die Auszahlung der persönlichen Einkommen erörtert und ihm stattgegeben.“73 Im Vorjahr, 1975, betrug der monatliche Durchschnittslohn im Unternehmen etwa 3.300 Dinar.74 Selbst wenn man von Preisund Lohnsteigerungen bis August 1976 ausgeht, so kann man bei einer Belegschaft von etwa 6.700 Personen im Jahr 197675 davon ausgehen, dass mit einem durchschnittlichen Anteil von etwa 4.400 Dinar pro MitarbeiterIn an der Kreditsumme ein großer Teil der Lohnzahlungen von einem solchen Kredit gedeckt wurden. Eine Karikatur in der Fabrikzeitung, die schon früher im Jahr 1976 erschien, verwies auf die ambivalente Rolle, die Kreditaufnahmen für laufende Lohnauszahlungen der Unternehmen spielten.76 Unter der Überschrift „Lohn auf die neue Art“, ist ein verwunderter Produktionsarbeiter in Arbeitskleidung zu sehen, der aus seiner Lohntüte einen Schuldschein zieht. In der unteren rechten Ecke ist das Kalenderblatt des 1. April zu sehen. Doppelbödig wurde hier einerseits der Eindruck erweckt, es sei natürlich ein Aprilscherz, dass Löhne als Schulden ausgezahlt würden. Gleichzeitig praktizierte die Betriebsleitung bei TAM 1976 Zahlungen auf Basis von Krediten, sodass die Karikatur eine Warnung darstellte, die man als Versuch auffassen konnte, Lohnforderungen einzudämmen. Offenbar kam es auch in späteren Jahren vor, dass das Unternehmen
71 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 114: Zapisnik 19. skupne razširjene seje. 72 Vgl. ebenda, 10. 73 SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 15. redne seje odbora za gospodarjenje in medse-
bojna razmerja v združenom delu Skupnosti TOZD cestnih vozil Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 24.08.1976. 74 SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 68. 75 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 13. 76 Vgl. Plača po novem, Skozi TAM, 2.4.1976, 8.
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für Löhne Kredite aufnahm, sprach doch ein Parteibericht der Schmiedeabteilung bei TAM von 1984 von hohen Zinsen, die dabei anfielen.77 Wie über den genannten Parteibericht hinaus auch andere Quellen belegen, befassten sich die Zweigstellen des BdKJ sowie die Gewerkschaft in den Betrieben ständig auf einander sehr ähnliche Weise mit Fragen der Betriebsführung. Die Strukturen dieser Organisationen verhandelten somit dieselben Themen und Probleme wie auch die Selbstverwaltung und die Betriebsleitung. Bedenkt man die markante Überrepräsentation von leitenden Angestellten in all diesen Gremien und den ebenfalls für andere jugoslawische Betriebe geltenden Befund, dass sich Funktionen in diesen Strukturen oft in ein und demselben engen Personenkreis häuften,78 so ist es beinahe unmöglich, festzustellen, worin eigentlich die spezifischen Entscheidungsspielräume der Selbstverwaltung bestanden. Bei TAM fällt in den frühen 1980er Jahren jedoch auf, dass in der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Lage, die starke Einschnitte im Lebensstandard der Belegschaft bewirkte, Gewerkschaftsberichte häufig auf die angespannte soziale Lage vor allem niedrig Verdienender im Unternehmen aufmerksam machten. Als diejenige Massenorganisation, die mit sozialen Fragen wie denen nach Wohnraum, Zuschüssen für Essen und Urlaub, aber auch mit der Hilfe in sozialen Notlagen betraut war, nahmen die ArbeiterInnen die Gewerkschaft offenbar als soziale Anlaufstelle wahr. Materielle Notlagen unter der Belegschaft vermerkten die Berichte zu Beginn der 1980er Jahre gehäuft und wiesen auf die hohe Dringlichkeit der jeweiligen Fälle hin. Wie in den Analysen der folgenden Kapitel deutlich wird und wie bereits frühere Studien nahelegten, waren die Gewerkschaften in Jugoslawien nicht in der Lage, als autonome, kollektive Interessenvertretung der ArbeiterInnen auftreten.79 Während in den beginnenden 1980er Jahren die Fabrikzeitung von TAM weiterhin berichtete, dass die Geschäftsergebnisse keine Lohnerhöhungen zuließen,80 stellte die Gewerkschaft auf einmal im September 1984 öffentlich Forderungen. Zwei Artikel berichteten davon, dass sich die Gewerkschaft im Betrieb an das Management gewandt und auf schnellere Lohnsteigerungen gedrungen hatte.81 Sie verlangte, die Löhne müssten mit den ständig steigenden Lebenshaltungskosten Schritt halten. Auf 77 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik 4 sestanka OOZK Kovačnica, 10.10.1984,
S. 1. 78 Vgl. SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 60f.; siehe dazu
auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 79 Vgl. z. B. HÖPKEN, Sozialismus und Pluralismus in Jugoslawien, 151–286. 80 Vgl. Ivan KAJBA, Izredno skromni rezultati, Skozi ZIV TAM, 11.9.1981, 9; Danilo
VINCETIČ, „Razpravljamo o sebi! Saj je menda tako prav?“, Skozi ZIV TAM, 5.6.1981, 3; B. KANIŽAR, Iz Tamovih tozdov in delovnih skupnosti. TOZD Družbeni standard, TOZD Kovačnica, Skozi TAM, 6.4.1984, 6; B. KANIŽAR, Iz Tamovih tozdov in delovnih skupnosti. TOZD Livarna, TOZD Montaža, TOZD Mehanska obdelava, Skozi TAM, 25.4.1984, 10. 81 Vgl. D. VINCETIČ, Sindikat zahteva hitrejšo rast osebnih dohodkov, Skozi TAM, 14.9.1984, 2; B. KANIŽAR, 3. rednega seja Izvršnega odbora ZS DO TAM. V ospredju osebni dohodki in socialna politika, Skozi TAM, 21.9.1984, 1.
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die bis dahin oft vorgebrachte Entgegnung, es könnte nur so viel ausgezahlt werden, wie erwirtschaftet wurde, entgegnete die Gewerkschaft hier das früher nur latent geäußerte Argument, dass die Beschäftigten nur mit angemessenem Verdienst zu Produktionssteigerungen motiviert werden könnten. Einige Gewerkschaftsorganisationen von Betriebsteilen bei TAM vertraten auch weiterhin, wie etwa zu Beginn des Jahres 1985, in ihren Berichten die Haltung, der Schlüssel zu Lohnsteigerungen läge in sorgfältigerer Arbeit. Laut dieser Sicht könnte die Belegschaft ihre Einkommenssituation nur verbessern, wenn sie ihr eigenes Verhalten änderte.82 Aus den Mitteilungen anderer Gewerkschaftsfilialen im Betrieb an die Ortsgewerkschaft sprach dagegen deutlich die Ernüchterung angesichts von Forderungen der Belegschaft, die Gewerkschaft solle sich stärker für ihre Interessen einsetzen.83 Ein solches Informationspapier ging im Januar 1985 sogar so weit, die eigene Machtlosigkeit gegenüber aktuellen Entwicklungen einzugestehen: Wir stellen zudem fest, dass die Gewerkschaft keinen Einfluss auf gesellschaftlichwirtschaftliche Ereignisse in unserer Wirtschaft hat. Deshalb sind wir als Gewerkschaftsaktivisten häufig dem Druck des Wunsches seitens der Mitglieder des Kollektivs ausgesetzt, den Standpunkt der Gewerkschaft umzusetzen, demzufolge ein Arbeiter für die allereinfachste Arbeit ein persönliches Einkommen erhalten muss, das ihm soziale Sicherheit gewährt.84
Hier richtete die Gewerkschaft weder Appelle an die Belegschaften, größere Anstrengungen bei der Arbeit aufzuwenden, noch wies sie, wie in den Jahrzehnten davor oft üblich, die Schuld an der misslichen Lage einer betrieblichen Gruppe einer anderen Gruppe im Unternehmen zu. Stattdessen brach sich die Resignation Bahn, was als deutlicher Kontrast zu früheren Positionen zu werten ist, selbst wenn dies keine öffentlich geäußerte Desillusionierung über die Rolle der eigenen Organisation in der Gesellschaft darstellte. Von einem selbstbewusst vorgetragenen Gestaltungsanspruch im Sinne einer sozialistischen Massenorganisation war man hier in der Mitte der 1980er Jahre weit entfernt.
Zastava Für den Fall der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac sind andere Einblicke als in Maribor möglich, da von dort Protokolle der Arbeiterratssitzungen aus den 1970er und 1980er Jahren erhalten sind. Über diesen gesamten Zeitraum hinweg reflektierten Mitglieder der Arbeiterräte in der Fabrik den Druck, den die Belegschaft auf sie ausübte, um höhere Löhne zu erhalten. Gleichzeitig wurde seit Beginn der 1970er Jahre immer deutlich gemacht, dass die dafür tatsächlich im Unternehmen verfügbaren Mittel für die verlangten Lohnsteige82 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Zapisnik letne konference SK OOZS TOZD 21 Me-
hanska obdelava, 30.01.1985, S. 5f. 83 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Poročilo o delu OOZS 3 oddelka grupne obdelave,
15.01.1985, S. 1. 84 SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Poročilo o delu sindikalne konference ZS TOZD Karoser-
nica v obdobju 1983–1984, 26.01.1985, S. 2.
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rungen nicht ausreichten. Hinter den Forderungen stand im Jahr 1972 zwar ebenfalls noch die Erwartung steigenden Lebensstandards, jedoch machten sich bereits Einschränkungen bemerkbar. Gefolgt vom Hinweis eines Mitarbeiters des Finanzdienstes darauf, dass in der Nutzfahrzeugfabrik höhere Löhne ausgezahlt worden seien als ökonomisch gerechtfertigt, schilderte ein Delegierter des Arbeiterrates die Stimmung unter den ArbeiterInnen: An jedem Arbeitsplatz im Rahmen unserer Fabrik fragen sich die Leute, was mit den persönlichen Einkommen ist. Der Lebensstandard ist immer stärker bedroht. Alle erwarten, dass es besser werden wird. Wenn sie hiervon erfahren, wird unter unseren ArbeiterInnen eine schlechte Situation entstehen. Man muss also noch niedrigere Einkommen erwarten als wir sie bisher gehabt haben.85
Die Löhne entsprechend der wirtschaftlichen Möglichkeiten der Fabrik abzusenken, erschien den Delegierten offenbar nicht als eine Option, die der Belegschaft gegenüber vertretbar war. Zwar warnte z. B. ein Mitarbeiter der Finanzabteilung vor ungedeckten Lohnsteigerungen, jedoch schien man gewillt, Schieflagen zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Fabrik und Lohnzahlungen in Kauf zu nehmen. In diesem Sinne ist auch die Reaktion des Direktors der Nutzfahrzeugfabrik im Arbeiterrat der Fabrik im Juli 1973 zu verstehen, der als nicht stimmberechtigtes Mitglied an der Sitzung teilnahm. Auf die Nachfrage eines Delegierten, ob genügend Mittel vorhanden seien um vorgesehene Prämien auszuzahlen, wischte der Leiter die Bedenken mit folgender Bemerkung vom Tisch: In unserer Arbeit hatten und haben wir auch heute genügend Probleme, aber ich kann sagen, dass wir gute Kader haben, mit denen wir die Probleme lösen werden. Ich finde, die Frage, ob Geld vorhanden ist, braucht man nicht stellen, denn wir haben so viel Geld, dass wir leben können.86
Verglichen mit der restriktiven Lohnpolitik in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, mutet diese Reaktion auf knappe Lohnfonds noch relativ sorglos an. Lohnbudgets zu überziehen war offenbar bis zum Ende der 1970er Jahre möglich, allerdings nicht ohne dass regelmäßig Stimmen laut geworden wären, die diese Absichten unter anderem mit Verweis auf die von der Bundesebene aufgelegten Stabilisierungsprogramme zu disziplinieren suchten. Hatte schon 1971 Josip Broz Tito gewarnt, man wirtschafte nicht entsprechend der realen Verhältnisse,87 so tauchten solche Mahnungen im Zuge von Spar- und Rationalisierungsprogrammen auch in der Betriebsöffentlichkeit regelmäßig auf. Wie in Maribor, so verwiesen in Kragujevac bei Zastava Karikaturen gleichermaßen auf die unsichere materielle Basis, die das Anheben von Löhnen erschwerte.
85 ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 6. sednice Radničkog saveta Fabrike pri-
vredna vozila, 09.10.1972, S. 5f. 86 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 5. sednice Radničkog saveta
OOUR za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 26.07.1973, S. 3. 87 Vgl. wie im Eingangszitat dieses Kapitels: TITO, Borba za dalji razvoj, 147.
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In einer Karikatur, die im Juli 1971 in der Zastava-Fabrikzeitung erschien, ist ein Arbeiter in Latzhose, auf der „Standard“ [= Lebensstandard, U.S.] geschrieben steht, zu sehen, der auf einem hohen Papierstapel sitzt. 88 Dieser Stapel ist mit dem Wort „Kredite“ versehen, sodass die warnende Botschaft heißen musste: Es besteht die reale Gefahr, dass die ArbeiterInnen ihren jetzigen Lebensstandard mit hoher Verschuldung bezahlen werden. In den 1970er Jahren brachte man die Inhalte staatlich initiierter Sparprogramme der Belegschaft über die Fabrikzeitung nahe, so wie dies auch in Maribor praktiziert wurde. 89 In Gemeinden und Betrieben mussten solche Stabilisierungspläne verpflichtend aufgestellt werden. Ziele wie Einsparungen bei Materialverbrauch und Arbeitszeit, höhere Arbeitsleistungen und bessere Produktqualität sollten in konkrete Maßnahmen überführt und umgesetzt werden. Über Erfolge und Rückschläge dieser Bemühungen berichtete sodann abermals die Fabrikzeitung. Auch die regelmäßig im Betriebsblatt abgedruckten Berichte des betrieblichen Parteikomitees waren ein Kommunikationsweg, über den der BdKJ Kritik daran übte, dass höhere Löhne ausgezahlt wurden, als dies die Produktivität erlaubte. Ein solcher Bericht aus dem Jahr 1977 bezog sich auf die gesamten Zastava-Werke, womit deutlich wird, dass es sich hier nicht um ein Phänomen handelte, das allein in der Nutzfahrzeugfabrik anzutreffen war.90 Das Bewusstsein für die Problematik nicht erwirtschafteter, aber ausgezahlter Löhne existierte demnach die gesamten 1970er Jahre hindurch. Darüber hinaus lassen die Protokolle der Arbeiterratssitzungen aus Kragujevac Rückschlüsse darauf zu, auf welche Weise verschiedene Lohnkomponenten zur Steigerung der Einkommen beeinflusst wurden. So setzte man das Prämiensystem zweckentfremdet ein, um die Belegschaft zu disziplinieren, wie ein Beispiel aus den frühen 1970er Jahren zeigt. Obwohl Prämien eigentlich einen Teil des leistungsbezogenen Einkommens einer Person ausmachen sollten, war die Prämie „für das regelmäßige Erscheinen am Arbeitsplatz“ offenbar als Mittel gegen verbreiteten Absentismus gedacht.91 Man setzte nicht nur in Kragujevac auf diese Disziplinierungsmaßnahme für ProduktionsarbeiterInnen, die auf der Basis von Normerfüllung vergütet wurden. Die Dachorganisation der jugoslawischen Gewerkschaften merkte 1977 in einem Standpunktepapier „über einige Fragen der Mittelverteilung gemäß erbrachter Leistung“ kritisch an, dass die Anwesenheit am Arbeitsplatz nur die Voraussetzung dafür sei, Arbeitsergebnisse zu erzielen. Lediglich am Arbeitsplatz zugegen zu sein, so die Gewerkschaft unmissverständlich, sei als Bemessungskriterium von Leistung ungeeig88 Vgl. B. NENADOVIĆ , Krediti, standard, Crvena zastava, 21.7.1971, 3. 89 Vgl. J.R., Ne ostvaruju se stabilizacione mere u Fabrici automobila, Crvena zasta-
va, 29.12.1971, 6; Izvršavanjem planskih zadataka do stabilizacije. Zajednički sastanak zavodske konferencije SK i radničkog saveta Zavoda, 23.03.1977, 1. 90 Vgl. Komunisti Zavoda u akciji, Crvena zastava, 19.8.1977, 1. 91 Vgl. J. RAKIĆ, U Fabrici automobila. Zbog grešaka u dokumentaciji – niži i viši lični dohoci, Crvena zastava, 28.7.1971, 5; ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 5. sednice Radničkog, 3.
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net.92 Die Definition dessen, was genau Gegenstand von Prämien sein sollte, war im konkreten Fall der Selbstverwaltung der Betriebe und ihrer Grundorganisationen überlassen, sodass sie hier Spielräume in den kollektiven Entscheidungen über die Lohnverteilung nutzen konnten. Prämien wurden in den 1970er Jahren dennoch nicht immer nach einem automatisch greifenden Mechanismus ausgezahlt, billigte doch die Selbstverwaltung ungerechtfertigte Prämienzahlungen nicht grundsätzlich und unwidersprochen. Ein Beispiel dafür bietet eine Diskussion im Arbeiterrat der Nutzfahrzeugfabrik von 1972, die auch Momente des Misstrauens und der Konkurrenz unter verschiedenen Betriebsteilen reflektierte, wie sie in Kapitel 4.1.1. besprochen werden.93 Eine Produktionsabteilung der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik befand sich im etwa 300 Kilometer entfernten Sombor in der Vojvodina. Auf einer Sitzung des gemeinsamen Arbeiterrats fragte ein Vertreter aus Kragujevac nach, weshalb in Sombor Prämien für Planerfüllung gezahlt worden seien, wo doch der entsprechende Produktionsbericht Rückstände gegenüber den aufgestellten Produktionszielen auswies. Ohne dass die Frage in der Diskussion aufgelöst worden wäre, zeigen sich hier zwei Dinge: Einerseits waren Beschäftigte in Sombor in der Lage, ihre VertreterInnen in der Selbstverwaltung zu wirtschaftlich offenbar unberechtigt hohen Lohnzahlungen zu bewegen. Andererseits wird deutlich, dass Delegierte einzelner Betriebsteile mit kritischen Nachfragen dieser Art die Interessen ihrer Belegschaften gegenüber denen anderer Organisationseinheiten des Unternehmens vertaten. Spielräume in der Lohnbemessung ergaben sich jedoch nicht nur anhand von Prämienzahlungen. Aus den Protokollen der Arbeiterräte geht hervor, dass die Delegierten ihre kollektiven Entscheidungen bei der Festsetzung des Geldwertes von Lohnpunkten ebenfalls auf das Verhalten von ArbeiterInnen in der Produktion bezogen. Als Beispiel dafür bietet sich an zu betrachten, wie gegen Ende der 1970er Jahre Überstunden vergütet wurden und wie die Delegierten dies zur Festsetzung des Geldwertes von Lohnpunkten in Bezug setzten, wenn die Belegschaften informell Druck ausübten. Die hohe Anzahl von Überstunden, die besser entlohnt wurden als die Normalarbeitszeit, bereitete den Arbeiterratsmitgliedern der Polsterei in der Nutzfahrzeugfabrik im März 1977 Kopfzerbrechen.94 Die Finanzabteilung warnte häufig vor dem anhaltend hohen Bedarf an Lohnmitteln für Überstunden. Zusätzliche Mittel mussten, wenn eine bestimmte Anzahl vorgesehener Überstunden überschritten war, gesondert vom Arbeiterrat genehmigt werden. In einer Diskussion einen Monat später bezogen die Mitglieder desselben Gremiums die Höhe des Geldwertes, der monatlich einem Lohnpunkt zugeordnet wurde, direkt auf die Masse an Überstunden: 92 Vgl. SI-AS, f. 1435, šk. 21: Rezime stavova o nekim pitanjima raspodjele sredstava
za lične dohotke prema radu i rezultatima rada (nacrt), Beograd, März 1977, S. 2. 93 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa sednice Radničkog saveta Fabrike
privrednih vozila, 1972, o.D., S. 3. 94 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa 7. sednice Radničkog saveta OOUR-a
„Tapacirnica“, 04.03.1977.
92 Milenko S.: Das ist eine sehr delikate Frage für uns. Diese Forderungen nach Erhöhung des Punktwertes gibt es seitens unserer Arbeiter häufig. [...] Viele Leute haben gesagt, dass sie dieser Punktwert nicht für die Arbeit stimuliert. Wenn wir dahin kämen, einen höheren Punktwert zu geben, dann müssten wir auch bessere Ergebnisse liefern. […] Stamenko V.: Die Leute erwarten von uns, dass wir den Punktwert korrigieren. Ich bin einhundertprozentig sicher, dass wir die Überstunden absenken werden, wenn wir einen höheren Punktwert bekommen.95
Jedem Arbeitsplatz wurde abhängig von Komplexität und Schweregrad der Tätigkeit eine Punktzahl zugeordnet. Laut normativen Vorgaben zur Lohnberechnung drückte der monatlich neu festzulegende Geldwert eines Punktes die aktuelle Produktivität sowie den Geschäftserfolg einer Betriebseinheit aus. Letztendlich stimmte der Arbeiterrat der Polsterei im April 1977 für einen höheren Punktwert, der dann automatisch die Starteinkommen aller Beschäftigten erhöhte. Als Rechtfertigung gaben die Delegierten in ihrer Entscheidung die leichte Tendenz zur Übererfüllung der monatlich geplanten Produktion an. Jedoch hatte sich in der vorangegangenen Diskussion entgegen diesem Argument der kollektive Druck von ArbeiterInnen als ausschlaggebend erwiesen. In der Aussage des Delegierten Stamenko V. nahm der erhöhte Punktwert eher die Bedeutung einer Vorschussprämie für übererfüllte Pläne an. Im Sinne informeller Verhandlungsmacht der Beschäftigten und dem Streben nach Konsens in betrieblichen Sozialbeziehungen (siehe Kapitel 5.1. und 5.2.) übten Beschäftigte mit vielen Krankmeldungen und dem großen Bedarf an Überstunden Druck auf die kollektiven Entscheidungen der Arbeiterräte aus. In der Konsequenz reagierte demnach die Selbstverwaltung mit ihren formalen Entscheidungen auf informelle Strategien der Beschäftigten, ihre Interessen zu verfolgen. In der Diskussion der Delegierten im Arbeiterrat der Polsterei 1977 deutete sich als weiterer Faktor, der in die Entscheidungen über Lohnhöhen einbezogen werden musste, die innerhalb des Betriebes geschlossenen Selbstverwaltungsabkommen an. Als Gegenargument zur Erhöhung des Punktwertes stand offenbar auch ein solches Abkommen im Raum, das die Bedingungen zur Lohnverteilung in den Zastava-Werken vereinheitlichen sollte. Ähnlich wie im Beispiel der dem Anschein nach ungerechtfertigt ausgezahlten Prämien im Betriebsteil in Sombor 1972 spielte in die Entscheidungen der Delegierten im Arbeiterrat der Polsterei zudem das Verhalten anderer Betriebsteile hinein. So führte 1977 ein Diskutant gegen die strikte Einhaltung von Selbstverwaltungsabkommen ins Feld, dass sich andere Betriebsteile (GOVA) der Zastava-Werke auch nicht daran hielten: Wir sollten den Punktwert nicht erhöhen, jedoch würde ich gern wissen, welche Kriterien die anderen GOVA hatten, die das Selbstverwaltungsabkommen verletzt haben. Wenn wir uns an die Prinzipien halten, dann müssen wir uns alle daran hal95 ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa 9 sednice Radničkog saveta OOURa Tapacir-
nica, 02.04.1977, S. 4.
93 ten, damit es nicht am Ende des Jahres dazu kommt, dass Geld ausgeliehen und Solidarität verlangt wird.96
Das geltende Abkommen zu brechen, schien die Delegierten nicht sonderlich zu schrecken, da sie dies auch bei anderen Betriebsteilen beobachteten. Sie fürchteten aber die Konsequenzen, die im Fall drohen konnten, wenn sie sich an das Abkommen hielten, nämlich, dass die Polsterei mit Solidaritätszahlungen für andere Grundorganisationen belastet würde. Laut dem Gesetz über die vereinte Arbeit von 1976, dessen Bestimmungen sich auch in den Regelwerken der Betriebe widerspiegelten, hatten die monatlichen Lohnzahlungen lediglich einen Charakter von Vorschüssen. Mit der Jahresendabrechnung wurde jeweils festgestellt, ob die Vorschüsse den tatsächlichen Ergebnissen der Grundorganisationen entsprachen. Falls sich abzeichnete, dass Löhne nicht gezahlt werden könnten, waren die Abteilungen formal gesehen verpflichtet, Programme zur Beseitigung „dieser Störungen“ aufzustellen.97 Artikel 155 des Gesetzes sah darüber hinaus vor, dass andere Grundorganisationen sowie Gemeindefonds den in Schwierigkeiten geratenen GOVA „wirtschaftliche und andere Hilfe“ gewähren sollten, „wenn dies in ihrem gemeinsamen oder im gesellschaftlichen Interesse [war].“98 Unter anderem diese Bestimmungen waren dafür verantwortlich, dass Lohnfonds systematisch überzogen werden konnten, ohne dass man Konsequenzen zog, wenn ein Betrieb oder seine Teile mit ihren Ausgaben nicht maßhielten. Der Delegierte des Arbeiterrats der Polsterei hatte offenbar derlei Verpflichtungen, die auf seine Grundorganisation zukommen könnten, im Sinn, als er zu bedenken gab, dass die eigene strenge Budgetkontrolle zur Folge haben könnte, später solidarische Hilfsleistungen für andere Abteilungen leisten zu müssen. Die Befürchtung, in die Situation zu kommen, mit niedrigeren Löhnen zwar erfolgreicher gewirtschaftet zu haben, dabei aber dem Unmut der Beschäftigten ausgesetzt gewesen zu sein und am Ende des Jahres auch noch die Budgets anderer Betriebsteile ausgleichen zu müssen, war gut geeignet, weniger strikt auf Lohnhöhen zu achten. Die Verhandlungen im Arbeiterrat der Polsterei 1977 zeigen also, dass überzogene Ausgaben für Löhne keinesfalls unbedacht beschlossen wurden. Stattdessen beruhten die Beschlüsse auf einer Taktik, die kollektive Verhaltensweisen verschiedener betrieblicher Gruppen mit einbezogen. Wie bereits erwähnt, machten die Massenorganisationen im Sinne einer stabilisierenden Wirtschaftspolitik punktuell die gesamten 1970er Jahre hindurch darauf aufmerksam, dass Lohnfonds nicht unbegrenzt gefüllt seien. Auch die Fabrikzeitungen wirkten daran mit, auf die Folgen aufmerksam zu machen, die das Aufzehren von Akkumulationsfonds und der Verzicht auf Investitionen zugunsten von Lohnzahlungen haben konnten. Die Rezession, die 1979/80 in den Industrieländern von der zweiten Ölpreiskrise ausgelöst wurde und auch Jugoslawien traf, fiel zeitlich mit dem Tod Josip Broz Titos 1980 zusammen. Nun bekamen Spar- und Sanierungsmaßnahmen im Land große Dringlichkeit. Hohe 96 Ebenda. 97 Artikel 152 in: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 169. 98 Ebenda, 172.
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Auslandsverschuldung und Inflation sowie ein ständig fallender Lebensstandard bewogen die jugoslawische Regierung 1979 ein weiteres Mal dazu, Hilfen des IWF in Anspruch zu nehmen.99 Staatlich verordnete Lohnkontrollen waren eine Bedingung, an die die Organisation ihre finanzielle Unterstützung knüpfte. 1981 wurde die Krise öffentlich eingestanden, als auf höchster staatlicher Ebene eine Expertenkommission gegründet wurde, die über die folgenden zwei Jahre einen Reformplan für Jugoslawien erarbeiten sollte, der den Forderungen des IWF genügte.100 Die verstärkte wirtschaftlichen Bedrängnis, in die Betriebe in dieser Zeit gerieten, schlug sich ebenso wie die in den Reformprogrammen vorgesehenen Lohnkontrollen auf die betrieblichen Aushandlungsprozesse nieder. In der Betriebszeitung Crvena zastava vervielfachten sich ab 1980 die Berichte über Maßnahmen der Stabilisierung und ihre (auch ausbleibenden) Effekte.101 Gleichzeitig konfrontierten Beschäftigte die Delegierten des Arbeiterrats und VertreterInnen der Massenorganisationen stetig mit Lohnforderungen. Die Aufwendungen für das tägliche Leben stiegen kontinuierlich und für viele in bedrohlichem Ausmaß, während die Lohnbudgets strenger der Kontrolle des Gesellschaftlichen Buchführungsdiensts in der Gemeinde Kragujevac unterlagen.102 Währenddessen machte sich unter den Delegierten der Arbeiterräte Unmut darüber breit, als TrägerInnen unpopulärer Lohnentscheidungen zu fungieren, während sie ihre Spielräume in diesen Beschlussfassungen durch andere Instanzen begrenzt sahen.103 Mitglieder des Arbeiterrats mussten oft Lohnhöhen beschließen, die Teilen der Belegschaft nicht zum Leben reichten, aber den restriktiven Budgetanforderungen entsprachen. Bis 1985 hatte dieses Dilemma nicht mehr zu ignorierende Ausmaße angenommen. Dies führte dazu, dass die Mitglieder des Arbeiterrats der Grundorganisation Mechanische Fertigung in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik im März 1985 die Rolle, welche ihnen im Gefüge der Selbstverwaltung 99 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 280. 100 Vgl. ebenda, 280–282, Dušan BILANDŽIĆ, Historija Socijalističke Federativne Repu-
blike Jugoslavije. Glavni procesi 1918–1985. Zagreb 31985, 474. Die Kommission veröffentlichte 1982 und 1993 vier Bände mit „Dokumenten“ ihrer Arbeit: Dimić (Hg.), Dimić, Dokumenti Komisije,. 101 Stellvertretend sei hier für 1980 Artikel über die Nutzfahrzeugfabrik Zastavas genannt: R. KOSTIĆ, Od štednje se očekuje najviše. Stabilizacija u OOUR „Privredna vozila“, Crvena zastava, 23.4.1980, 5; 1983 füllten mobilisierende Artikel an prominenter Stelle in der Zeitung ganze Seiten: Nema stabilizacije bez veće odgovornosti. Anketa: Radnici Zavoda o temi XV Susreta Samoupravljača, Crvena zastava, 9.2.1983, 2; in den Ausgaben der Fabrikzeitung im Jahr 1985 gibt es regelmäßig erscheinende Rubrik unter der Überschrift „Rationalisierung“: Racionalizacija. Nikad bez ideje, Crvena zastava, 6.2.1985, 6. 102 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 78. sednice Radničkog saveta OOUR-a „Preseraj i Karoserija“, 29.12.1981, S. 4. 103 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 76. sednice Radničkog saveta OOUR-a „Preseraj i Karoserija“, 16.12.1981, S. 1f.
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praktisch zufiel, grundsätzlich in Frage stellten.104 Es stand ein Beschluss an, den bereits festgesetzten Geldwert der Lohnpunkte von siebzehn Dinar auf 16,85 Dinar nach unten zu korrigieren. Dabei waren die Mitglieder des Arbeiterrats dem Druck der Fachdienste in der Geschäftsleitung und des Gesellschaftlichen Buchführungsdienstes auf der einen Seite und dem der Beschäftigten auf der anderen Seite ausgesetzt. Forderungen nach höheren Löhnen stand die Drohung seitens des Gesellschaflichen Buchführungsdienstes gegenüber, dass die Einkommen ohne die Absenkung des Punktwertes überhaupt nicht ausgezahlt werden könnten. Ein Delegierter äußerte sich über den Druck vonseiten derer, die er im Arbeiterrat vertrat: „Mir haben sie gesagt: Wage es ja nicht, die Hand für eine Absenkung des Punktwertes zu heben.“ Augenscheinlich übten diejenigen, die er im Arbeiterrat vertrat, Druck auf ihn aus. Andere Delegierte forderten, die politisch Verantwortlichen sollten den Preisanstieg aufhalten, anstatt den ArbeiterInnen den Lohn zu kürzen, „um den Leuten auf irgendeine Weise eine minimale Existenz zu ermöglichen.“105 Letztendlich stimmte der Arbeiterrat für die geforderte Absenkung des Punktewertes. Nun, in der Mitte der 1980er Jahre hatte sich eine veränderte Haltung zu Lohnbudgets durchgesetzt und ihre Beschränkung war nicht mehr zu ignorieren oder zu umgehen. Darüber hinaus sind die Reflexionen der Mitglieder des Arbeiterrates über ihr eigenes Verhalten und ihre Rolle im betrieblichen Entscheidungsgeflecht aufschlussreich. So verwies ein Delegierter darauf, dass Vorgaben des Finanzdienstes der Geschäftsleitung, falls sie für Beschäftigte Lohnsteigerungen bedeuteten, vom Arbeiterrat immer gern akzeptiert würden. Dagegen werfe man den Fachdiensten in Situationen, da sie nach Einschnitten verlangten, vor, sie arbeiteten fehlerhaft und stellten unangemessene Bedingungen, selbst wenn diese staatlich verordneter Stabilisierungspolitik entsprächen.106 Explizit hinterfragten Einzelne auch die undankbare Rolle, die dabei dem Arbeiterrat aus ihrer Sicht zukam: Das ist eine wirklich delikate Frage. Entweder wird niemand Lohn erhalten oder wir werden einen verringerten Betrag erhalten und von unten wird es Kritik geben. Wir werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir haben diese Selbstverwaltungsakte angenommen, aber sie wurden uns auch von jemandem vorgeschlagen. Wir werden von den Selbstverwaltungsakten und von den Geschäftsergebnissen eingeschränkt. [...] Zweitens, was den Punktwert angeht, ich habe mit den Genossen, die mich delegiert haben, gesprochen. Ihnen ist das schwer zu erklären. Aber es ist allemal besser, dass sie mich kritisieren, als das wir gar keine persönlichen Einkommen erhalten.107
Aus diesem Redebeitrag spricht Desillusionierung sowie der Widerwille, weiterhin als Entscheidungsträger vor die Beschäftigten zu treten, wenn die tatsäch104 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa nastavka drugog dela 38.
sednice Radničkog saveta OOUR-a „Mehanička obrada FPV“, 12.03.1985. 105 Ebenda, 2. 106 Vgl. ebenda, 3, 5. 107 Vgl. ebenda, 5.
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lichen Beschlüsse über Lohnhöhen außerhalb des Arbeiterrats gefällt wurden. Den Widerspruch, den die jugoslawische Industriesoziologie, unter anderem Josip Županov und Veljko Rus, schon Jahre früher attestiert hatte,108 waren nun die ProtagonistInnen in den Arbeiterräten nicht mehr gewillt, hinzunehmen: Die Konzeption der Arbeiterselbstverwaltung sah keine Konflikte zwischen den betrieblichen AkteurInnen vor. So fanden sich die Arbeiterräte in einer nicht klar abgegrenzten Rolle: Sie sollten gleichzeitig die Interessen des Managements und die der Belegschaft vertreten. Dabei wurde vom offiziellen ideologischen Standpunkt her behauptet, die ArbeiterInnen verwalteten die Betriebe selbst und führten die Geschäfte, sodass sich der Gegensatz zwischen Belegschaft und Management aufheben würde. Stimmen, die keine Konfliktlosigkeit mehr inszenieren wollten, ließen sich in internen Diskussionen der Arbeiterräte bei Zastava seit Beginn der 1980er Jahre vernehmen.109 Nun, im Jahr 1985, schlug in der bereits mehrmals zitierten Arbeiterratssitzung der Abteilung Mechanische Fertigung der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik ein Delegierter vor, die Täuschung, der Arbeiterrat würde unabhängig Entscheidungen treffen, nicht weiter aufrecht zu erhalten: Wir haben keinen Ausweg, nicht in Zukunft und auch jetzt nicht. Ich würde vorschlagen, dass es nicht mehr der Arbeiterrat sein soll, der über den Punktwert entscheidet, sondern dass das nur eine Information darstellt. Sollen doch alle Werktätigken wissen, dass es sich dabei lediglich eine Information des Arbeiterrats handelt.110
Ähnlich wie VertreterInnen der Gewerkschaft bei TAM in Maribor um diese Zeit weigerten sich einige Delegierte somit – immer noch in nicht öffentlichen Foren – , weiterhin ihre Rolle als entscheidende Kraft in betrieblichen Entscheidungen zu spielen, die die offiziell gültigen Vorgaben ihnen zuschrieben. Nach Jahren, in denen das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem immer tiefer in eine Krise geraten war, begannen die Delegierten damit, ihre Loyalität gegenüber einem zentralen Element der jugoslawischen sozialistischen Ideologie aufzukündigen, die dermaßen große Widersprüche produziert hatte.
Fazit Über die gesamten 1970er Jahre hinweg bestand in den Betrieben ein Bewusstsein davfür, dass den Beschäftigten Löhne ausgezahlt wurden, welche die wirtschaftliche Leistung in vielen Fällen nicht rechtfertigte. Es lassen sich mangels betriebswirtschaftlich aussagekräftiger Unternehmensgeschichten zwar keine klar abgegrenzten Phasen dieses Phänomens ausmachen, jedoch waren sie die 108 Vgl. Josip ŽUPANOV, Upravljanje industrijskom konfliktom u samoupravnom siste-
mu, Sociologija 13 (1971), H. 3, 427–448, 437; Veljko RUS, Conflict Regulation in Self-Managed Yugoslav Enterprises, in: Gerard B. J. BOMERS / Richard B. PETERSON (Hgg.), Conflict Management and Industrial Relations. Boston u. a. 1982, 375–393, 377. 109 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 76. sednice Radničkog, 1f. 110 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa nastavka drugog dela, 5.
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gesamten 1970er Jahre über präsent. Am Beginn des Jahrzehnts stand im Jahr 1971 ein Kredit des IWF an Jugoslawien, sodass die damit einhergehenden Stabilisierungsprogramme die Gesellschaft und konkret die Betriebe und Belegschaften zum rationalen Umgang mit finanziellen Mitteln anhielten. Diese Stabilisierungsbestrebungen hatten als Teil staatlicher Wirtschaftspolitik den Charakter eines Parteiziels des BdKJ.111 Die Partei und die Geschäftsführungen nutzten die Fabrikzeitungen, um Vorgaben der auf die Betriebe zugeschnittenen konkreten Sparmaßnahmen unter den Beschäftigten bekannt zu machen. Jedoch betonte man die Kontrolle der Lohnbudgets als ein Element dieser Politik nicht sehr stark. Stattdessen formulierten Leitungspersonen und AutorInnen von Berichten in den Zeitungen ausweichend, die Einkommen richteten sich nach den Geschäftsergebnissen und nicht erwirtschaftetes Geld könne nicht für Löhne ausgegeben werden. Die Beschäftigten auf der anderen Seite drangen sowohl in Maribor als auch in Kragujevac gegenüber VertreterInnen der Massenorganisationen und der Selbstverwaltung darauf, ihre Einkommen stabil zu halten oder zu erhöhen. Diesen Druck übten sie kollektiv in von der Selbstverwaltung vorgesehenen Bahnen aus, indem sie ihren Delegierten in den Arbeiterräten z. B. auf Arbeiterversammlungen ihren Unmut kundtaten. Hier ergab sich für die FunktionärInnen der Selbstverwaltung ein Konflikt. Zwar waren sie bestrebt, im Rahmen verfügbarer Budgets zu wirtschaften, aber gleichzeitig für das Wohlergehen der Belegschaften zu sorgen, die Einbußen in ihren Lohnhöhen nicht hinnehmen wollten. In den 1970er Jahren fand man trotz der avisierten Beschränkungen offenbar Wege, höhere Löhne auszuzahlen als aus wirtschaftlicher Sicht möglich war. Insofern ist das kollektive Handeln der SelbstverwalterInnen als formal vorgesehener Weg zu verstehen, die Interessen von Beschäftigten nach höheren Einkommen zu verfolgen. Zwar konnte dies nicht ständig und unwidersprochen geschehen, aber die Kontrolle durch die Politik konkretisierte sich erst im Laufe der Zeit. Dies geschah unter anderem, indem das Gesetz über die vereinte Arbeit von 1976 festlegte, dass mit den Gesellschaftlichen Buchführungsdiensten Instanzen von außerhalb der Betriebe Lohnhöhen überwachen sollten. Darauf, dass Lohnhöhen eine Komponente in der besorgniserregenden Wirtschaftsentwicklung waren, reagierte der Staat also mit der Schaffung von Kontrollinstanzen. Marie-Janine Calic macht unter dem Schlagwort der „Krise der sozialistischen Moderne“ darauf aufmerksam, dass die 1970er Jahre in mehrerlei Hinsicht als historischer Wendepunkt für Jugoslawien anzusehen sind.112 Wie schon die von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen der 1960er Jahre voraus geworfenen Schatten seien im folgenden Jahrzehnt krisenhafte Erscheinungen besonders in der ökonomischen Sphäre nicht ernst genug genommen worden. Dezentralisierung in Wirtschaft und Politik hätten strikte Budgetkontrollen verhindert. Diese Feststellung lässt sich anhand der hier betrachteten 111 Vgl. Der BdKJ im Lichte der Selbstkritik, 108; TITO, Borba za dalji razvoj, 147. 112 Vgl. CALIC, The Beginning of the End, insbes. 73.
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Lohnverhandlungen in den Unternehmen bestätigen. Große Investitionen in öffentliche Infrastruktur, die paradoxerweise in den 1970er Jahren allerorten sichtbar waren, so Calic weiter, seien kreditbasiert gewesen und hätten der Bevölkerung ein Wohlstandsniveau vorgespiegelt, das den tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten des Staates keineswegs entsprach. Jedoch muss angesichts der hier analysierten Aushandlungsprozesse, die auf der untersten gesellschaftlichen Ebene in den Betrieben stattfanden, eine Einschränkung zu diesem Befund gemacht werden. Wie Diskussionen und Veröffentlichungen aus den Betrieben zeigten, gab man nicht vorhandene Mittel nicht vorbehaltlos aus. Ebenso sprach die Staatsführung schon früh in den 1970er Jahren Warnungen aus, Jugoslawien lebe über seine Verhältnisse. Eine tatsächliche strengere Begrenzung der Ausgaben für Einkommen begann, wie auch Calic betont, an der Wende zu den 1980er Jahren. Ab 1979 war die wirtschaftliche Krise deutlich am fallenden Lebensstandard zu spüren und bedeutete für Jugoslawien nach Annahme neuer IWF-Kredite auch rigide Ausgabenkontrollen. Zu hohe Ausgaben für Löhne hatte man als einen Faktor der instabilen Wirtschaftslage identifiziert. Die aus dieser Gemengelage resultierenden sozialen Spannungen bewirkten zudem, dass die Loyalität der betrieblichen AkteurInnen gegenüber dem Dogma der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung schwand. Während in der Betriebsöffentlichkeit die bis dahin geltenden Grundsätze noch propagiert wurden, mehrte sich unter den FunktionärInnen die Unzufriedenheit darüber, dass sie den Forderungen der Belegschaften angesichts ihrer sich zuspitzenden sozialen Lage vermeintlich ohnmächtig ausgeliefert waren. Sowohl in Maribor als auch in Kragujevac machte sich spätestens in der Mitte der 1980er Jahre die Weigerung von FunktionärInnen der Massenorganisation und der Selbstverwaltung bemerkbar, weiter zu proklamieren, das gegenwärtige System sei ein Garant für die gesellschaftliche Partizipation von IndustriearbeiterInnen sowie für soziale Gerechtigkeit.
4.1.3.Kollektive Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte In den Kapiteln 4.1.1. und 4.1.2. stand im Mittelpunkt, wie einzelne Betriebsteile gegenüber dem Gesamtunternehmen Interessen vertraten und wie sich Belegschaften, Arbeiterselbstverwaltung und das Management über Lohnhöhen auseinandersetzten. Auf einer niedrigeren Ebene verfolgten Beschäftigte kollektiv ihr Interesse an höheren Einkommen, indem sie Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte einlegten. Diese Selbstverwaltungsgremien legitimierten sowohl die betrieblichen Regelwerke für Lohn- und Wohnungsverteilung als auch die Entscheidungen über konkrete Lohnfestsetzungen und Wohnungsvergaben an die Mitglieder der Belegschaft. Lohnhöhen in Form von Punktbewertungen, die Auszahlung von Prämien und die Verteilung von Arbeitskräften auf konkrete Arbeitsplätze gründeten auf Vorschlägen des (Finanz-)Verwaltungspersonals. Kommissionen aus Mitgliedern der Arbeiterräte waren z. B. dafür zuständig, Wohnungen zu vergeben und Disziplinarverfahren durchzuführen, so-
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dass die Einsprüche gegen ihre Entscheidungen an die Arbeiterräte gerichtet werden mussten. Wenn auf diese Weise Konflikte ausgetragen wurden, verlief die Konfliktlinie ähnlich wie bei den jeweils zeitlich vorgelagerten Festsetzungen der Löhne zwischen Beschäftigten und Management. Auch hier waren es die Arbeiterräte, die in ihren Entscheidungen sowohl die Interessen der Belegschaft als auch des Managements miteinander vereinen mussten. Den Beschlüssen der Selbstverwaltung konnten Mitglieder der Betriebe auf zweierlei Art widersprechen: innerbetrieblich, indem sie sich direkt an den Arbeiterrat wandten und außerbetrieblich, indem sie sich mit ihrem Widerspruch an ein Gericht wandten. Mit den Reformen der Selbstverwaltung erfuhr das Gerichtswesen in der Mitte der 1970er Jahre eine Erweiterung, im Zuge derer die Gerichte der vereinten Arbeit geschaffen wurden. Wer im Betrieb alle Einspruchsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte, konnte sich an diese auf Gemeindeebene angesiedelten Gerichte wenden. Dies vollzog sich in den allermeisten Fällen als individuelle Handlung, weswegen sich eine umfassendere Darstellung dessen, wie die Gerichte der vereinten Arbeit ideologisch begründet wurden und wie Beschäftigte sie nutzten, in Kapitel 4.2.3. findet. Im Folgenden stehen die weitaus weniger häufigen Fälle im Vordergrund, in denen Beschäftigte mittels kollektiv hervorgebrachter Einsprüche in den Arbeiterräten und in Verfahren vor Gerichten der vereinten Arbeit ihre Interessen verfolgten. Sie lassen sich in den Dokumentationen der Arbeiterräte und Gerichte nur in den späten 1970er und den 1980er Jahren beobachten, sodass nur für diesen Zeitraum Konfliktgegenstände, AkteurInnen und Resultate betrachtet werden sollen. Sich auf diese Art für die eigenen Interessen – in den häufigsten Fällen höhere Einkommen – einzusetzen, war eine Strategie, die an der Schwelle von individueller und kollektiver Aktion angesiedelt war. Kollektives Verhalten versteht sich in soziologischer Sicht als aus gemeinsamen weltanschaulichen Orientierungen, Werten, Normen oder Interessen hervorgehendes Zusammenhandeln einer größeren Zahl von Personen, ohne dass dabei immer auch direkte und geregelte Interaktionen zwischen den Beteiligten entstehen. K. V. [Kollektives Verhalten, U.S.] kann ein gleiches Verhalten aller oder ein funktional spezialisiertes Handeln sein. Das Bewusstsein von einer gemeinsamen (überpersönlichen) Orientierung grenzt k.V. von bloßen Massenvorgängen ab.113
Betrachtet man die Größe der Gruppe und den Grad der gemeinsamen Orientierung in den folgenden Beispielen, so wird deutlich, dass es zumindest fraglich ist, ob sich kollektive Einsprüche im Sinne dieser Definition als kollektives Handeln einstufen lassen. In den Unterlagen sind nur Fälle verzeichnet, in denen jeweils unter 20 Personen gemeinsam agieren, also recht kleine Gruppen. Eine Situation, die 1977 in der Polsterei der Nutzfahrzeugfabrik bei Zastava achtzehn Personen zu Einsprüchen bewegte, war eine neue Systematisierung 113 Kollektives Verhalten, in: HILLMANN (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 433.
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der Arbeitsplätze in diesem Betriebsteil.114 Die Geschäftsleitung definierte also neu, wie viele Lohnpunkte spezifischen Arbeitsplätzen zugeordnet werden sollten, wobei formal Anforderungen und Tätigkeitsprofile zugrunde gelegt wurden. Eine Anzahl von Beschäftigten sahen sich durch die Vorschläge für die Systematisierung mit abgesenkten Punktwerten oder nicht ihren Erwartungen entsprechenden Erhöhungen konfrontiert und hatte niedrigere Startlöhne vor Prämien zu erwarten. Bei den meisten der achtzehn Einsprüche, die zu Anfang Februar 1977 deswegen beim Arbeiterrat eingingen, handelte es sich um individuelle Beschwerden von Beschäftigten, die an unterschiedlichen Arbeitsplätzen tätig waren. In sechs Fällen dagegen erhoben die BeschwerdeführerInnen identische Forderungen: die Erhöhung ihrer Punktzahl von 618 auf 641. Welche Tätigkeiten sie ausübten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Allerdings handelte es sich wohl um FacharbeiterInnen aus der Produktion, wie man aus der Punktzahl, die typisch für diesen Bereich war und der aus Tatsache, dass sie mit Bestimmungen des Arbeitsschutzes argumentierten, schließen kann. Der Arbeiterrat gab diesen Forderungen ohne Ausnahme nach. Die Beschäftigten konnten also in einer Situation, die Umstrukturierungen mit sich brachte, gemeinsam für sich bessere Verdiensthöhen erreichen. Dass die Belegschaftsmitglieder gemeinsam handelten, wird dabei nicht nur an der inhaltlichen Identität der Forderungen deutlich, sondern auch daran, dass die Einsprüche sechs mal in vollkommen gleichem Wortlaut verfasst waren. Ähnlich gingen 1981 in der Abteilung Presserei und Karosseriebau der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik neun Leiter aus der Produktion vor, die ihre Löhne in der Jahresendabrechnung nach oben korrigiert sehen wollten.115 In den einzeln vorgebrachten Einsprüchen gegen Lohnentscheidungen des Arbeiterrats wichen die konkreten Forderungen zwar voneinander ab, jedoch verlangten alle neun Personen auf ähnlicher Grundlage Nachzahlungen zu ihren Löhnen: Für verschieden Zeiträume seien ihnen zu niedrige Löhne ausgezahlt worden, da sie zeitweilig an höher bewerteten Arbeitsplätzen tätig gewesen waren. Diese Arbeitsplatz- oder Tätigkeitswechsel waren sowohl dadurch hervorgerufen worden, dass andere MitarbeiterInnen ausgefallen waren, als auch dadurch, dass produktionsbedingt vorübergehend höher bewertete Aufgaben anfielen. In sieben von neun Fällen erachtete der Arbeiterrat der OOUR Presserei und Karosseriebau die Forderungen als gerechtfertigt und stimmte einer Auszahlung der Lohndifferenzen zu. In anderer Weise nutzte 1985 in der Nutzfahrzeugfabrik in der Grundorganisation Mechanische Fertigung eine nicht näher bezifferte „Gruppe von Maschinen- und Anlagenführern“ einen offenbar tatsächlich als Gruppe vorgebrachten Einspruch.116 In diesem grenzten sie sich konkret von einer anderen Gruppe Beschäftigter, den QualitätskontrolleurInnen, ab, indem sie im Ver114 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik i Materijal sa 6 sednice r.s. OOURa Ta-
pacirnica, prigovori, 23.02.1977/ 25.02.1977. 115 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 78. sednice RS PIK, 8–10. 116 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa II dela 38. sednice,
11.03.1985, S. 10f.
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gleich zu ihnen höhere Löhne beanspruchten. Offenbar befand sich der Betriebsteil inmitten des Prozesses, in dem alle Tätigkeiten neu bewertet wurden. Die MaschinenführerInnen117 argumentierten, ihre Arbeit sei komplexer als die in der Qualitätskontrolle, außerdem würden sie „schon immer“ besser bezahlt als die MitarbeiterInnen dort. Da die Neubewertung noch nicht ganz beendet sei, so die Delegierten im Arbeiterrat, vertagte man die Entscheidung über den Einspruch. Wie 1977 in der Polsterei versuchte sich eine Gruppe von Beschäftigten gleichen Berufsprofils gegen Veränderungen zu wehren, die ihren Erwartungen an ihre Löhne nicht entsprachen. Ob diese Veränderungsvorschläge durch sachlich sinnvoll begründete Überlegungen zustande gekommen waren oder durch Verhandlungsvorteile der jeweiligen Gruppen gegenüber anderen, lässt sich allerdings nicht beurteilen. Im Falle der Auto- und Motorenfabrik Maribor finden sich keine kollektiven Einsprüche an die Arbeiterräte, was dem Fehlen entsprechender Archivbestände geschuldet ist. Ein Blick in die Akten des Gerichtes der vereinten Arbeit der slowenischen Stadt, der wiederum in Kragujevac nicht möglich war, zeigt jedoch, dass Beschäftigte in ähnlicher Weise bei einer Instanz oberhalb der Betriebsebene ihre Ansprüche durchzusetzen versuchten. Den vielen Verfahren, die in individuellen Fällen angestrengt wurden, stehen auch hier wenige Fälle kollektiven Vorgehens gegenüber. Da die nach 1974 gegründeten Gerichte erst angerufen werden sollten, nachdem die Einspruchswege in der betrieblichen Selbstverwaltung ausgeschöpft waren, verlangte dieses Vorgehen eine größere Hartnäckigkeit. Ein Fall von 1978 zeigt, dass sich Beschäftigte nicht immer an diese Vorgaben hielten. Danilo D., Anton Ž., Erih Ž. und Jože K. forderten den „Schutz der Rechtmäßigkeit bei Beschlüssen des Kollektiven Geschäftsführungsorgans der Arbeitsorganisation TAM, des Arbeiterrates der Arbeitsorganisation TAM und des Arbeiterrates der TOZD Qualitätskontrolle“.118 Man kann davon ausgehen, dass es sich um Leitungspersonen handelte, die in den Gremien aktiv waren. Als Indikator dafür kann gelten, dass sie die Protokolle von Sitzungen, in denen die jeweiligen Beschlüsse über Investitionen, Krankengeld und Arbeitszeitbestimmungen gefasst worden waren, beifügten. Im geringsten Fall könnte es aber auch nur bedeuten, dass sie sich gründlich und mit großer Sachkenntnis über die Entscheidungen der Selbstverwaltung informierten. Das Gericht gab den Beschäftigten Recht und stellte fest, dass die betreffenden Beschlüsse nicht rechtmäßig gewesen seien. Eine Rüge sprach es den Beschwerdeführern dennoch aus, weil sie nicht erst die Einspruchsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens genutzt hatten. In den wenigen dokumentierten Fällen von kollektiven Widersprüchen gegen betriebliche Entscheidungen fällt auf, dass mehrheitlich Beschäftigte diesen Weg der Interessenvertretung gingen, die über relativ hohe Qualifikationen verfügten oder leitende Funktionen in der Produktionssphäre der Betriebe erfüllten. 117 Der Sprachgebrauch in der Originalsprache lässt keinen Aufschluss darüber zu, ob
es sich um eine rein männliche Gruppe handelte. 118 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 31: S 432/78.
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Dies verschaffte ihnen offenbar die notwendige Sachkenntnis und Möglichkeiten zur Selbstorganisation, um auf diese Art in Aktion zu treten. Trotzdem bewegte sich diese Aktionsform auf sehr niedrigem Niveau am Übergang zwischen individuellem und kollektivem Handeln, da es immer nur auf die Interessen von klar abgesteckten, kleinen Personengruppen bezogen war. Zudem wählten solche Gruppen von Beschäftigten nur recht selten den Weg kollektiver Widersprüche. Somit deutet alles darauf hin, dass kaum übergreifend wirkende Faktoren am Werk waren, die Beschäftigte dazu brachten, sich als BeschwerdeführerInnen miteinander für gemeinsame Ziele zu solidarisieren.
4.2. Individuelle Formen der Konfliktaustragung In der betrieblichen Arbeiterselbstverwaltung trafen vom formalen Standpunkt her gesehen die Arbeiterräte alle wichtigen Entscheidungen. Sie waren damit auch die erste Adresse, an die individueller Einspruch gegen gefallene Lohnentscheidungen, Versetzungen auf einen bestimmten Arbeitsplatz oder die Vergabe bzw. Nichtvergabe von Wohnungen gerichtet werden konnte. Mit Einsprüchen vertraten ArbeiterInnen somit individuell ihre Interessen (Kapitel 4.2.1.). Eines der Elemente, das zur Überfülle von Selbstverwaltungsinstitutionen in Betrieben beitrug, wurde 1971 geschaffen: die „Arbeiterselbstverwaltungskontrolle“ (ASVK)119. Hier hatten Einzelne die Möglichkeit, Missstände in der Fabrik anzuzeigen, woraufhin die Mitglieder der Arbeiterkontrolle diese untersuchen mussten (Kapitel 4.2.2.). Fand man innerhalb des Betriebes keine Lösung für einen Konflikt, konnten ArbeiterInnen über lokale Gerichte die formale Rechtmäßigkeit getroffener Entscheidung feststellen lassen. Mit der Verfassung von 1974 schuf die kommunistische Führung gar gesonderte Institutionen, die Gerichte der vereinten Arbeit, die ausschließlich betriebliche Streitfälle behandelten (Kapitel 4.1.3.). Über diese Kanäle hinaus, die als spezifisch für das jugoslawische System angesehen werden können, unterhielten Partei und Massenorganisationen ein auch aus anderen sozialistischen Staaten bekanntes Eingabe- und Beschwerdewesen, das allerdings in dieser Arbeit weitgehend unberücksichtigt bleibt. In einer Analyse dieser formal im System vorgesehenen Wege zur Interessenwahrnehmung soll erstens gezeigt werden, welche Art von Konflikten zu welchen Zeitpunkten besondere Aktualität hatten. Zweitens soll herausgestellt werden, welche Argumentationslinien Beschäftigte in der Verfolgung ihrer Anliegen wählten und wenn möglich, welche Verläufe die entsprechenden Verfahren nahmen. Hierbei können einerseits Erwartungen, die ArbeiterInnen an die Betriebe und staatliche Institutionen hatten, nachverfolgt werden. Andererseits ermöglichen Einsprüche, Beschwerden und Vorwürfe in Gerichtsverfahren eine weitere Analyse der Machtverhältnisse, die zwischen den AkteurInnen im betrieblichen Institutionengefüge herrschten. Nicht zuletzt geben die Argumentationsmuster in diesen Formen der individuellen Interessenwahrnehmung Hinwei119 Slow./ Srb.: „Samoupravna delavska/ radnička kontrola“, abgekürzt auch: „delavs-
ka/ radnička kontrola“ (Arbeiterkontrolle).
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se darauf, wie Beschäftigte bewusst den Umstand nutzten, dass sich die kommunistische Herrschaft in der alltagsweltlichen Sphäre der Betriebe Legitimität zu verschaffen suchte.
4.2.1.Individuelle Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte Wie in Kapitel 4.1.3. bereits deutlich geworden ist, konnten Beschäftigte Entscheidungen der Arbeiterselbstverwaltung anfechten. Kommissionen aus Mitgliedern der Arbeiterräte waren z. B. dafür zuständig, Wohnungen zu vergeben und Disziplinarverfahren durchzuführen, sodass die Einsprüche gegen ihre Entscheidungen an die Arbeiterräte gerichtet werden mussten. Die jugoslawische Industriesoziologie behandelte diesen Weg, auf dem Beschäftigte innerhalb des Selbstverwaltungssystems ihren Interessen Ausdruck verliehen, nicht, sodass hier nicht auf die entsprechende zeitgenössische Forschungsliteratur zurückgegriffen werden kann. Die folgende Analyse von Einspruchsverfahren bei den Arbeiterräten konzentriert sich auf mehrere Fragen: In welchen Fällen machten einzelne Beschäftigte Gebrauch von ihrem Einspruchsrecht? Welcher Argumentationsstrategien bedienten sie sich? Wie kann die Rolle von betrieblichen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen in Beschwerdeverfahren charakterisiert werden? Aufgrund der asymmetrischen Quellenlage liegt der Schwerpunkt der Analyse auf der Fabrik in Kragujevac.
Gegenstände von Einsprüchen Wohnungs- und Lohnangelegenheiten sowie Einsprüche gegen Besetzungen von Arbeitsplätzen oder Kündigungen waren die häufigsten Anlässe für „ugovori/ žalbe“ (Srb. für „Einsprüche/ Beschwerden“) und „pritožbe“ (Slow. für „Einsprüche/ Beschwerden“). Eines der drängendsten Probleme des rasanten Industrialisierungs- und Urbanisierungskurses, den die kommunistische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg einschlug, war die Versorgung der wachsenden städtischen Bevölkerung mit Wohnraum. So verzeichnete die Mariborer Fabrik TAM zwischen 1950 und 1985 einen Beschäftigungsanstieg von fast 3.000 auf 7.772 MitarbeiterInnen,120 während die Belegschaft der Nutzfahrzeugfabrik der Zastava-Werke in Kragujevac zwischen 1970 und 1984 ihre Belegschaft von 1.737 auf 3.642 Beschäftigte verdoppelte. Die Belegschaft der Zastava-Werke insgesamt stieg zwischen 1960 und 1985 von 7.653 auf etwa 50.000 Personen an.121 Während die ersten Fünfjahrespläne nach dem Zweiten Weltkrieg die ra120 IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S. 121 Die Nutzfahrzeugfabrik, für die Daten vorliegen, wurde 1969 aus der Auto-
mobilfabrik ausgegliedert: ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 14. sednice Radničkog saveta Fabrike privrednih vozila, 26.02.1971, S. 3; ZCZ-FPV, RS OOUR Tap., 1985: Informacija o kretanju ličnih dohodaka OOUR I RZ – RO FPV za period I–III 1985. godine, S. T1; ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 337f. Die Zahl von 50.000 Beschäftigten bezieht sich jedoch nicht nur auf die Belegschaft in Kragujevac, denn ab den 1960er Jahren gründeten die Zastava-Werke auch an anderen Orten in- und außerhalb Serbiens Fabriken, gliederten Produktionsstätten in die
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sche Entwicklung der Industrie in den Mittelpunkt stellten, betonte besonders der vierte Fünfjahresplan (1966-70) die Steigerung des Lebensstandards, worunter auch der Wohnungsbau zählte.122 Sowohl während der Periode der zentralen Planwirtschaft nach sowjetischem Muster als auch danach herrschten Wohnungsnot. Neuankömmlinge vom Dorf, die den Industriearbeitsplätzen in die Stadt folgten, mussten sich deshalb oft in Eigenregie um eine Unterkunft kümmern.123 Eine Zuzugsbegrenzung in die Städte mittels eines restriktiven Meldesystems wie in anderen staatssozialistischen Ländern gab es zwischen den 1960er und 1980er Jahren in Jugoslawien nicht. Obwohl die Bevölkerung in der Gemeinde Maribor mit einer Zuwachsrate von etwa 18 % zwischen 1961 und 1981 langsamer wuchs als in der Gemeinde Kragujevac (ca. 36 %),124 nahmen Beschäftigte, Betriebe und die Gemeinde den Wohnungsmangel in Maribor als Problem wahr.125 Die Betriebe und Gemeinden sahen es offiziell als ihre Aufgabe an, den Zugezogenen bei der Lösung ihrer Wohnungsprobleme zu helfen. Dabei stellte für die Industrie die Bereitstellung von Wohnraum sowohl für hochqualifiziertes Personal als auch für ProduktionsarbeiterInnen niedrigerer Qualifikationsstufen einen Rekrutierungsfaktor dar (siehe Kapitel 5.3.). Von den Bruttolöhnen der Beschäftigten zweigte man Mittel für den Wohnungsbau ab. Wie diese Mittel eingesetzt wurden und wie geschaffener Wohnraum verteilt wurde, entschieden die Gremien der Selbstverwaltung. Dabei gab es ein ganzes Spektrum an Instrumenten zur Lösung eines Wohnungsproblems: So vergaben TAM und Zastava einerseits komplette Wohnungen, in einer Sonderkategorie wurden aber auch Wohnungen für soziale Härtefälle vergeben. Beschäftigte in beiden Fabriken hatten zudem die Möglichkeit, anstatt von Wohnungen Kredite für den Bau von Häusern oder kostenlose Baugrundstücke von ihren Unternehmen zu bekommen. Außerdem betrieben die Unternehmen Wohnheime und Barackenunterkünfte.126 Für diejenigen, die keine dieser Lösungen in Anspruch
122 123
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Betriebsstruktur ein und betrieben Service- und Verkaufsstellen in allen größeren jugoslawischen Städten. Vgl. BIĆANIĆ, Economic Policy, 60–62. Für Serbien 1945–55 vgl. Ivana DOBRIVOJEVIĆ, Selo i grad. Transformacija agrarnog društva Srbije 1945–1955. Beograd 2013; für Belgrad in den 1960er Jahren: Nicole MÜNNICH, Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesellschaftlichem Eigensinn. Die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urbane Erfahrung. Wiesbaden 2013, 209–255; für das serbische Čačak: Miloš TIMOTIJEVIĆ, Modernizacija balkanskog grada (1944–1989). Komparativna analiza razvoja Čačka i Blagoevgrada u epohi socijalizma. Čačak 2012, 280–316; 1980er Jahre: Archer, Imaš kuću – vrati stan. SGJ 1968, 523, 523; SGJ 1984, 622, 619. SI-PAM, f. 1341, šk. 114: Izpolnevanje srednjeročnega programa o stanovanjski izgradnji za obdobje 1972–1976, Maribor, 11.02.1975. Laut diesem Bericht fehlten 1971 in der Gemeinde Maribor 6.126 Wohnungen. Gelöst wurde das Problem u. a. durch Notunterkünfte und die Unterbringung von mehreren Familien in einem Haushalt. Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 587: Fotografije 1962–1963. Unter anderem nutzte die Fabrik in Maribor die Baracken, in denen die nationalsozialistischen BesatzerInnen
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nehmen konnten, blieb noch die oft teure und unsichere Untermiete bei privaten VermieterInnen oder das Pendeln vom Dorf in die Fabriken. Zudem ist besonders für Serbien, aber auch Slowenien, der auch aus anderen staatssozialistischen Ländern bekannte illegale Bau von Unterkünften aus eigenen Mitteln in wilden Siedlungen belegt.127 Bis in die 1980er Jahre hinein wurde der Mangel an Wohnraum von offizieller Seite als ein wichtiges Problem der Sozialpolitik benannt.128 Somit wundert es nicht, dass vor allem in den 1960er und 1970er Jahren ein Großteil der Einsprüche Wohnungsangelegenheiten zum Inhalt hatte. Besonders nach den jährlichen Verteilungszyklen von Wohnungen, Krediten und Baugrundstücken mussten die Arbeiterräte und Wohnungskommissionen mit den Beschwerden Unzufriedener rechnen. So erhielten bei TAM in Maribor 1975 von 368 AntragstellerInnen nur 49 Personen eine Wohnung, woraufhin zehn Beschäftigte Beschwerde einlegten, die allerdings alle mit Verweis auf die geltenden Vergaberegeln und die Korrektheit der Verfahren abgelehnt wurden.129 Ähnliches trug sich regelmäßig in den Kragujevacer Zastava-Werken zu. Neben der Wohnproblematik legten viele Beschäftigte aufgrund von Einkommensangelegenheiten Einsprüche bei der betrieblichen Selbstverwaltung ein. Dies geschah besonders als Reaktion auf Umstrukturierungen im Betrieb. Nach einer solchen Umorganisation der Arbeitsplätze und der Verteilung der bereits beschäftigten Arbeitskräfte in der Polsterei der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik im Jahr 1977 folgten eine Reihe von Widersprüchen, in denen Beschäfwährend des Zweiten Weltkriegs beim Bau der Fabrik als Wohnraum errichtet hatten: TOVŠAK, Šest desetletij od začetkov Tovarne, 4. Im Jahr 1981 war bei TAM die Rede davon, die Baracken abzureißen, vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 91. 127 Laut Daten einer Untersuchung von 1966 besetzte Kragujevac in Serbien mit 85 % der privaten Wohnungen einen Spitzenplatz in der illegalen Bautätigkeit: Dragoslav Antonijević, Etnološka strukturiranost stihijnih naselja današnje imigracije Titovog Užica, Glasnik Etnografskog instituta Srpske akademije nauka i umetnosti (1962– 1966), H. 10–15, 77–96, 77, für Belgrad und Čačak siehe: Timotijević, Modernizacija balkanskog grada, Münnich, Belgrad; für Ljubljana sind noch zu Beginn der 1980er Jahre Baracken und illegal gebaute Siedlungen als Unterkunftsform von migrantischen ArbeiterInnen aus anderen jugoslawischen Republiken dokumentiert, vgl. Marija Vovk (Hg.), Stanovanjska problematika priseljenih delavcev v Ljubljano. Ljubljana 1981, 101–125. Für die weißrussische Hauptstadt Minsk in der Sowjetunion siehe: Thomas M. Bohn, Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln 2008, 197–201. Für andere sozialistische Länder siehe: Christian Schmidt-Häuer, Zurück zum eigenen Häuschen?, Die Zeit, 1.6.1973, 56. 128 Vgl. Berislav ŠEFER, Osvnove i okviri dugoročne socijalne politike, in: Milivoje DIMIĆ (Hg.), Dokumenti Komisije, Bd. 2. Beograd 1982, 67–116, 110–112. 129 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 53. redne seje odbora za gospodarjenje in medsebojna razmerja v združenom delu skupnosti TOZD cestna vozila Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 06.06.1975, S. 1f.
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tigte beklagten, dass sie falsch eingestuft worden seien.130 Während in früheren Jahren mangels qualifizierten Personals Beschäftigte an Arbeitsplätzen tätig waren, die eine höhere Qualifikation verlangten, als sie besaßen, hatte der Qualifikationsgrad der Belegschaft nun allgemein ein höheres Niveau erreicht.131 Die Versuche der Leitung, Arbeitsplätze nun auch mit Beschäftigten entsprechend der formal geforderten Qualifikation zu besetzen, trafen hier offensichtlich auf Widerstand der Belegschaft, der sich in vielen einzelnen Beschwerden äußerte. Zum Beispiel beschwerte sich 1977 ein Sattler mit der formalen Qualifikation des Facharbeiters: Ich arbeite seit 25 Jahren in den Crvena zastava-Werken, ich bin ein qualifizierter Arbeiter, aber arbeite schon 17 Jahre lang auf dem Arbeitsplatz eines hoch Qualifizierten. Wegen der Veränderung der Technologie und der Verringerung der Arbeitsplätze von Hochqualifizierten, die von der Kommission für zwischenmenschliche Beziehungen in der vereinigten Arbeit festgelegt worden sind, wurde ich auf den Arbeitsplatz eines qualifizierten Schneiders für Stücke komplizierter Struktur eingeteilt. Mit dieser Entscheidung habe ich eine Absenkung meiner Punktegruppe von 833 auf 743 bekommen.132
Der Geschädigte schlug als Lösung vor, dass statt einer Absenkung seiner Punkte – und somit seines Einkommens – sein früherer Arbeitsplatz doppelt ausgewiesen und besetzt werden sollte. Er verlangte also von der Leitung, von ihrer technologisch begründeten Umstrukturierung abzuweichen, die offenbar eine Lohnkosteneinsparung zum Ziel hatte. Die Unterlagen des Arbeiterrats der Polsterei zeigen, dass sich auch angelernte ArbeiterInnen auf diese Weise beschwerten, also dass dies nicht ausschließlich eine Strategie der höher qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen darstellte. Mit Entscheidungen über die Einsprüche verfuhr der Arbeiterrat recht unterschiedlich, indem er einige als berechtigt annahm, andere als unbegründet ablehnte, wieder andere aber einer erneuten Prüfung unterziehen wollte.133 Während die Gründe für die unterschiedliche Handhabung in den vorhandenen Quellen nicht ersichtlich werden, zeigt sich aber, dass Widersprüche zum Erfolg führen konnten und einer Prüfung getroffener Entscheidungen grundsätzlich nichts im Wege stand. Andererseits wird auch deutlich, dass von den Beschäftigten als Gewohnheitsrechte wahrgenommene Regelungen, wie die Tätigkeit auf einem Arbeitsplatz, für die man nicht die nötige formale Qualifikation besaß, vom Management teilweise bestätigt 130 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice Radničkog saveta OOUR-a
Tapacirnica, 24.03.1977, S. 3–6. 131 Während 1965 in der Autofabrik der Zastava-Werke, aus der die Nutzfahrzeugfabrik
später hervorging, 45 % un- und angelernte Arbeitskräfte (NK/ PK radnici) 37 % FacharbeiterInnen (KV/ VKV radnici) gegenüberstanden, betrug 1976 das Verhältnis in der Nutzfahrzeugfabrik 36 % zu 51 %: ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ 1965: Izveštaj o radu FAZ 1965, 5; ZCZ-FPV, RS, 1976: Analiza planskih zadataka 1975, 21. 132 ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Prigovor na odluku Komisije za medjusobne odnose radnika u udruženom radu, 28.01.1977. 133 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice RS Tap., 23.03.1977, 3–6.
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wurden. War die Fabrikleitung in früheren Jahren auf viele Arbeitskräfte auch mit nicht adäquater formaler Qualifikation angewiesen, so sah die Situation in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre anders aus, denn nun waren zunehmend qualifizierte FacharbeiterInnen verfügbar. Zu Anfang der 1980er Jahre zeigt ein bestimmter Typ von Lohnbeschwerden die Abwehr der Belegschaft dagegen an, in Zeiten der Krise und sinkender Realeinkommen auch die kleinsten Einkommenseinbußen hinzunehmen. Ohne ihre generelle Lohneinstufung anzufechten, versuchten zwischen 1981 und 1985 in verschiedenen produzierenden Betriebsteilen der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik höher qualifizierte ProduktionsarbeiterInnen Ansprüche auf höhere Löhne während zeitweiliger Versetzungen geltend zu machen. Fiel an einem Arbeitsplatz jemand aus oder waren in Produktionsspitzen mehrere Personen für eine Tätigkeit nötig, die sonst von einer Person erledigt wurde, konnten Einzelne vorübergehend an anders bewertete Arbeitsplätze versetzt werden. Offenbar in Einklang mit einer Flexibilität, die notwendig war, um die Produktion unter sich verändernden personellen, der Materialversorgung und der Auftragssituation geschuldeten Bedingungen aufrecht zu erhalten, stimmten die Arbeiterräte in den häufigsten Fällen zu, wenn Fachpersonal für zeitweilig ausgeführte Tätigkeiten entsprechend höhere Löhne forderte.134 Weitere regelmäßig im gesamten Untersuchungszeitraum in Maribor und Kragujevac auftauchende Anlässe für Einsprüche bestanden darin, dass sich Beschäftigte gegen eine Kündigung wehrten, die aus einem Disziplinarverfahren oder aus dem Überschuss von Arbeitskräften135 resultierte. Des Öfteren erhoben zudem KandidatInnen, die sich auf einen ausgeschriebenen Arbeitsplatz beworben hatten, Einspruch gegen die Stellenbesetzung, weil nicht sie, sondern andere Personen eingestellt worden waren. Letzteres praktizierten AnwärterInnen auf bestimmte Stellen besonders in Zeiten der Rezession wie kurz nach der Wirtschaftsreform 1965 und in Serbien ab den 1970er Jahren unter dem Druck steigender Arbeitslosenzahlen.136
Argumentationsstrategien in Einsprüchen Nach dem Blick auf einige typische Gegenstände von Einsprüchen an Arbeiterräte sollen nun die rhetorischen Kompositionen und Argumentationstaktiken, von denen sich die Beschäftigten Erfolg versprachen, im Mittelpunkt stehen. In Anlehnung an Felix Mühlbergs Untersuchung zu Eingaben von BürgerInnen in 134 Vgl. z. B.: ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 75. sednice Radničkog sa-
veta OOUR-a „PiK“, 04.12.1981, S. 5; ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa II dela 38, 6f. 135 Bis zu Beginn der 1970er Jahre waren Kündigungen gegen den Willen von Beschäftigten, die mit einem dauerhaften Arbeitskräfteüberschuss begründet wurden, noch möglich. Später konnten Kündigungen seitens der Betriebe nur als Ergebnis von Disziplinarverfahrens ausgesprochen werden. 136 So war in der Gemeinde Kragujevac 1975 mit knapp 10.000 gemeldeten Arbeitslosen ihre Zahl gut zehn mal so hoch wie in der laut Volkszählung von 1971 40.000 mehr Einwohner zählenden Gemeinde Maribor, vgl. SGJ 1976, 563, 565, 632.
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der DDR an die Behörden lässt sich hier fragen: Welche Selbstdarstellung betrachteten die Beschäftigten als vorteilhaft bei der Durchsetzung ihrer Interessen? Auf welche Werte bezogen sie sich?137 Durch das fast vollständige Fehlen von überlieferten Einspruchsschreiben von ArbeiterInnen an Arbeiterräte in der Mariborer Fabrik TAM werden hier wieder hauptsächlich Fälle aus dem serbischen Kragujevac im Mittelpunkt stehen. Das Spektrum der Strategien und Argumente, mit denen Beschäftigte ihre Forderungen untermauerten war breit: Es umfasste Verweise auf die eigene Loyalität zum Betrieb sowie auf die vermeintliche Deckungsgleichheit von individuellem und Betriebsinteresse, auf schlechte Gesundheit oder die schwere soziale Situation. Beschäftigte beklagten das Auseinanderklaffen von sozialistischer Ideologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit und denunzierten in diesem Zusammenhang KollegInnen und Vorgesetzte, stellten teilweise die Legitimität von Selbstverwaltung und der sozialistischen Gesellschaftsordnung überhaupt infrage. Ihre Kenntnis der ausufernden Selbstverwaltungsbestimmungen kamen in Hinweisen auf Statuten des Betriebes zum Tragen. Jedoch auch eben dieser Logik zuwider laufende Argumente wie informelle Zusagen von Leitungspersonal oder die Berufung auf „Gewohnheitsrechte“ tauchten auf. Daneben waren häufig Vergleiche mit KollegInnen und Drohungen in verschiedene Richtungen in den Einspruchsschreiben anzutreffen. An vielen Stellen schilderten die VerfasserInnen Machtverhältnisse, die sie als illegitim beklagten. Dies gibt wichtige Hinweise auf informelle Praktiken, die mit den offiziellen Selbstverwaltungsabläufen koexistierten. Dabei fällt auf, dass Beschäftigte oft in einem Fall sowohl formale als auch informelle Strategien gleichzeitig einsetzten, um ihr jeweiliges Interesse zu verfolgen. Ob die Konstellationen, die dabei geschildert wurden, im Einzelfall den Tatsachen entsprachen, sei dahingestellt. Jedoch allein die Tatsache, dass Beschäftigte den Hinweis auf Machtmissbräuche und Kompetenzüberschreitungen nutzten – und sei es nur aus taktischem Kalkül – weist auf ihre grundsätzliche Plausibilität hin, da sie sonst nicht als wirkungsvoll eingeschätzt worden wären. Des Weiteren lässt die Präsenz ideologisch motivierter Argumente Rückschlüsse darauf zu, welche Bedeutung Beschäftigte der Legitimierung kommunistischer Herrschaft in den betrieblichen Sozialbeziehungen zumaßen, wenn schon nicht empirisch gesichert feststellbar ist, ob und wie stark sich die ArbeiterInnen mit der herrschenden Staatsideologie identifizierten.138 Die folgenden Beispiele veranschaulichen diese vielfältigen rhetorischen Strategien, die Beschäftigte in ihren Einsprüchen anwandten. Die Lagerarbeiterin Anka O. legte 1964 vor dem zentralen Arbeiterrat der Zastava-Werke Einspruch gegen die Absenkung ihrer Lohneinstufung ein.139 Über ihr Alter, ihre Qualifikation und den konkreten Betriebsteil, in dem sie tätig war, gibt das Einspruchsschreiben keine Auskunft. Anka O. stellte sich aber 137 Vgl. Felix MÜHLBERG, Eingaben als Instrument informeller Konfliktbewältigung, in:
Evemarie BADSTÜBNER (Hg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR. Berlin 2000, 233–270, 247. 138 Vgl. BRUNNBAUER, Staat und Gesellschaft, 40. 139 Vgl. ZCZ-CA, RS ZCZ, 1965: Žalba na rešenje od 15.
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als fleißige und loyale Beschäftigte dar, deren Lebensumstände durch ihren Status als Alleinerziehende (oder Witwe?), Krankheit, die Belastung durch Kosten für die Ausbildung ihres Sohnes und schwere Arbeitsbedingungen gekennzeichnet waren. Mehrmals schon hätte sie Einsprüche gegen Herabstufungen ihrer Lohnpunkte eingereicht, teilweise auch mit Erfolg. Eindringlich appellierte sie: Wie lange, Genossen wird so noch mit mir umgesprungen werden?? Habt ihr im Blick, dass ich mich vollkommen alleine durchschlage, dass ich hungere, weil ich von diesem Lohn die Ausbildung meines Sohnes in Zemun140 ermögliche. Mit mir wird auf diese Weise umgesprungen, und ich habe so viel auf diesem Arbeitsplatz erleiden müssen, dass das endlich mal ein Ende haben muss […]. Ich habe nicht mehr die Gesundheit, um zu kämpfen und das müsste jetzt endlich einmal aufhören. Warum ziehen sie mir ständig Punkte ab, während sie sie den anderen erhöhen??!! […] Ich arbeite alles und überall setzten sie mich ein und wenn ich krank bin, könnte ich mich oft krank melden, aber ich nutze das nicht aus, sondern bemühe mich nach Kräften, aber ich finde, dass jedes Bemühen einmal belohnt werden muss.141
Anka O. schilderte ihre Benachteiligung und Entbehrungen also in vielen Facetten. Als einfache Lagerarbeiterin war sie zu persönlichen Opfern zugunsten der Zukunft der nächsten Generation bereit: Sie wollte ihrem Sohn durch eine Ausbildung soziale Aufstiegschancen ermöglichen. Die Schreiberin baute moralischen Druck auf, indem sie auf ihr „Leiden“ am Arbeitsplatz, den zum Leben knappen Lohn, der sie unter den gegebenen Umständen zu großen Entbehrungen zwang sowie auf ihre Loyalität gegenüber der Fabrik trotz Krankheit verwies. Sie griff hier das während der gesamten Zeit zwischen den 1960er und 1980er Jahren viel diskutierte Phänomen des „Missbrauchs“ von Krankschreibungen auf, das darin bestand, dass sich Beschäftigte auf Arbeit krankschreiben ließen, um in der so „gewonnenen“ Zeit anderen Tätigkeiten, z. B. zum Nebenerwerb, nachzugehen (siehe Kapitel 5.1.). Sie, so ihre Beteuerung, stellte trotz berechtigter Gründe das Interesse des Betriebs an ihrer regelmäßig einsetzbaren Arbeitskraft über ihre eigenen Bedürfnisse. Betriebsoffizielle Diskurse über das Themenfeld Krankheit, unter anderem dokumentiert in der Betriebszeitung, bewegten sich ständig auf einem Grat zwischen dem Preisen von Errungenschaften in der gesundheitlicher Fürsorge für die ArbeiterInnenschaft142, der Würdigung von solidarischem Verhalten von BlutspenderInnen143 und der Klage über 140 Die Stadt Zemun, bei Belgrad gelegen, ist ca. 150 km von Kragujevac entfernt, so-
dass sicherlich Schulgeld, Unterkunftskosten und regelmäßige Fahrten zwischen Belgrad und Kragujevac anfielen. 141 Ebenda. 142 Siehe Bsp. aus der Betriebszeitung im Jahr 1965: Vakcinacija protiv gripa, Crvena zastava, Januar 1965, 9; Primer humanosti. … ili o jednoj istinitoj brizi za ljude, Crvena zastava, Dezember 1965, 9. 143 In der Zeitung der Mariborer Fabrik war ein an das Blutspenden gekoppelter Diskurs über Solidarität sehr ausgeprägt, siehe z. B. Ausgaben von Skozi TAM aus dem Jahr 1972, in der beinahe in jeder Nummer von Blutspendeaktivitäten berichtet wird. In der Kragujevacer Fabrikzeitung war das Thema weniger präsent, wenn
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Missbräuche durch „falsche Krankschreibungen“144. Anka O. positionierte sich hier als moralisch integer im Gegensatz zu den „falschen Kranken“, was ihr zufolge so weit ging, dass sie zugunsten des Betriebes selbst bei andauernden Gesundheitsproblemen auf Krankschreibungen verzichtete. Ein häufiges Argument in Wohnungsbeschwerden bestand im Hinweis auf die besondere Bedürftigkeit und kam in Widersprüchen bis in die 1970er Jahre regelmäßig vor. Dabei betonten die Einspruch einlegenden ArbeiterInnen, dass ihre Wohnbedingungen unzumutbar wären. Sie nahmen insbesondere an der großen Enge, Kälte oder Feuchtigkeit Anstoß und betonten diese Missstände gerade mit Blick auf die Kinder in ihren Familien. In folgendem Einspruch versuchte der Beschäftigte Stojan I., über den man nichts weiter als den Wortlaut seines Redebeitrags erfährt, 1974 die Ergebnisse einer Wohnungszuteilung in der Nutzfahrzeugfabrik bei Zastava anzufechten.145 Neben dem Verweis auf seine soziale Situation stellte er die Solidaritätsabgaben, zu denen er verpflichtet war, infrage und verwies auf aktuelle ideologische Postulate. Darüber hinaus beklagte er die seiner Auffassung nach ungerechtfertigte Vergaben von Wohnungen an besser gestellte Mitglieder der Belegschaft, was er mit Vorwürfen des Missbrauchs an Mitglieder des Arbeiterrats sowie mit mehreren Drohungen verband: Ich werde fordern, dass mir das Geld für die vier Sonnabende, die ich und meine Frau gearbeitet haben, zurückgegeben wird, und ich finde, dass das Selbstverwaltungsabkommen große Fehler hat, und dass nach Titos Brief viel getrickst wird. Einem, der ein Haus und ein Baugrundstück beim Krankenhaus hat, dem habt ihr eine Wohnung gegeben. Ich will, dass ihr mir alle Dokumente, meine und die meiner Frau, zurückgebt und dass mir die Wohnungskommission bestätigt, dass sie mir keine Wohnung geben kann. Ich kann euch nur sagen, wenn irgendwo einmal irgendeine Zastava-Wohnung leer steht, dann geh ich hin und ziehe ein. Und wenn jemand kommt und mich ausquartiert, dann wird es mir gehen wie denen unten an der Brücke, denn ich wohne mit zwei Kindern in einem Keller, der früher ein Bunker war. Und wenn ihr erlaubt, dass ich nach zwölf Jahren wieder zum Präsidenten der Republik gehe und ich kann euch sagen, dass ich Zastava verklagen werde [sic!]. Wenn es um irgendeinen von Boškos Freunden ginge, wäre alles in Ordnung.146
Betriebswohnungen wurden aus Abgaben aller Beschäftigten auf ihre Löhne und von Solidararbeitstagen – den im Schreiben erwähnten Sonnabenden – finanziert. Infrage zu stellen, ob die auf die gesamte Belegschaft verteilten finanziellen Anstrengungen auch der gesamten einzahlenden Belegschaft zugute kämen, war recht gebräuchlich. Auch andernorts war der daraus resultierende auch nicht abwesend, vgl. A.R., Vesti iz Saveza omladine, Crvena zastava, Februar 1965, 2; B.D., Iz fabrike posebne proizvodnje. Izlet na Jastrepcu za davaoce krvi, Crvena zastava, 9.6.1971, 6. 144 Vgl. Iz sindikalnog odbora 01.03.1965, 2. 145 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog saveta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 11.06.1974, S. 3. 146 Ebenda.
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Gedanke anzutreffen, nach dem Prinzip der Solidarität geleistete Zahlungen zurück zu verlangen. Im Schreiben Stojan I.s anklingende Kritik an einer Verteilungspraxis, derzufolge die Unterprivilegierten den Privilegierteren ihren höheren Lebensstandard finanzierten, war ebenfalls verbreitet, wie eine Zuschrift an die Mariborer Fabrikzeitung Skozi TAM aus dem Jahr 1972 zeigt. Die Schreiber kritisierten dort öffentlich, dass Beschäftigte mit niedrigem Einkommen, die sich oft unter Einsatz von eigenen Finanzmitteln und Freizeit um die Lösung ihres Wohnraumproblems kümmern müssten, ungleich niedrigere Chancen hätten, eine „gesellschaftliche Wohnung“ zu bekommen.147 Gleichzeitig, so die Kritiker, stünden denjenigen, die eine Betriebswohnung erhalten hatten, mehr Mittel für Konsum zur Verfügung, sie könnten sich Möbel, ein Auto, einen Fernseher oder ein ganzes Wochenendhaus kaufen. Die Betriebsangehörigen, die eigene Häuser bauten, hätten wenig Motivation, an freien Sonnabenden für den „gemeinsamen Zweck“, nämlich die Schaffung von zusätzlichen Finanzmitteln für den Kauf von Betriebswohnungen zu arbeiten. Dem Funktionär, der den Vorschlag, „solidarische Sonnabende“ zu arbeiten, in die Selbstverwaltungsgremien bei TAM eingebracht hatte, stellten die Leserbriefschreiber in der Betriebszeitung die folgende Frage: Sehr geehrter Genosse Šalumun, ist es mit ihrem Anstand vereinbar, von den Leuten Solidarität einzufordern, die für diejenigen arbeiten, denen die Gesellschaft, also wir alle, Wohnungen schenkt?148
Den IndustriearbeiterInnen in Kragujevac wie in Maribor stieß demnach die Kluft zwischen Gleichheits- und Solidaritätsidealen, welche von offizieller Ideologie propagiert wurden, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit bitter auf. Im Unterschied zur Thematisierung dieser Diskrepanz im relativ geschlossenen Rahmen im Arbeiterrat in Kragujevac fand der Disput in Maribor vor den Augen der Betriebsöffentlichkeit in der Betriebszeitung statt.149 Der angesprochene Mariborer Funktionär Šalumun räumte allerdings auch Unzulänglichkeiten der Regelwerke zur Wohnungsverteilung ein, die sich nicht an den Bedürfnissen der Belegschaft orientieren würden und deren Inhalt nicht genügend in die Betriebsöffentlichkeit kommuniziert würde.150 Er machte demzufolge nicht eine Praxis, die auf Übertretung von Normen basierte, für die Schieflagen verantwortlich, sondern Lücken in den Selbstverwaltungsbestimmungen. Die Hinweise auf klientelistische Praktiken, auf die der Arbeiter Stojan I. aus der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac 1974 in Zusammenhang mit der Vergabepraxis von Wohnungen einging, soll an späterer Stelle noch eingehender analysiert werden (siehe u. a. Kapitel 5.4.). Bezüge zu Elementen der Staatsideologie kamen in Einsprüchen an Arbeiterräte in verschiedenen Formen vor. Der Transportarbeiter Dragomir N. bei 147 Vgl. H. VIZJAK / J. POSLEK, Pisma bralcev. Odmev na sestavek „Z delom ob prostih
sobotah do več stanovanj“, Skozi TAM, 22.2.1975, 7. 148 Ebenda. 149 Vgl. DIES., Še o solidarnostnem delu za stanovanja, Skozi TAM, 14.3.1975, 5. 150 Vgl. Š. Š., Še o solidarnostnem delu za stanovanja, Skozi TAM, 7.3.1975, 6.
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Zastava hatte im Jahr 1966 eine Wohnung zugeteilt bekommen. Diese Entscheidung wurde dann jedoch durch ein Selbstverwaltungsorgan nicht bestätigt, sodass der Arbeiter in einem selbstbewussten und angriffslustigen Duktus versuchte, in seiner Beschwerde mit seiner Klassenzugehörigkeit zu argumentieren, um die Wohnung doch noch zu erhalten. Es hätte jemandem nicht gepasst, schrieb er, dass ich die Wohnung bekomme, weil ich Arbeiter bin. Ich arbeite ununterbrochen 16 Stunden lang, bzw. ich bin ständig unterwegs, um unsere Produkte auszufahren. […] Ich bitte den Arbeiterrat, dieses Gesuch vollständig zu verstehen und mir die Wohnung zuzuteilen, die mir die Personalkommission zugeteilt hat, auch wenn ich ein Arbeiter bin, denn ich denke, dass auch wir Arbeiter in diesem Land das Recht haben, gleichberechtigt zu leben, gemeinsam mit der restlichen Intelligenzija, die sogar heute noch einige Prioritäten [sic!] genießt, auch wenn ich als Arbeiter größere Verdienste vorzuweisen habe als derjenige, der die Wohnung bekommen hat, welche die Kommission vorher rechtmäßig mir zugeteilt hatte […]. Ich weise darauf hin, dass ich ab 1941 Teilnehmer des Volksbefreiungskampfes war, und als Arbeiter habe ich für die Gemeinschaft mehr gekämpft als die anderen, die Prioritäten [sic!] in Bezug auf die Wohnungsverteilung genießen, und ich finde, dass ich die größere Wohnung und Erholung notwendig habe, denn ich bin physisch erschöpfter. Ich hoffe, dass Sie mein Gesuch verstehen werden, damit ich mich nicht bei höheren Instanzen beschweren muss, denn ich habe ein Recht darauf und ich habe alles, was ich habe und konnte für diese Gemeinschaft gegeben, deshalb finde ich, dass Sie eine entsprechende Entscheidung treffen sollten, denn die Kommission, die mir die Wohnung zugeteilt hat, ist vom Arbeiterrat abgeordnet, im gegenteiligen Fall würde die Arbeiterselbstverwaltung verspielt [sic!].151
Als Transportarbeiter, der wie viele seiner KollegInnen sehr wahrscheinlich über eine nur niedrige Qualifikation und ein niedriges Einkommen verfügte, versuchte Dragomir N. seinen Anspruch auf eine Wohnung mit dem Verweis auf gleich drei Kernpunkte jugoslawischer kommunistischer Ideologie zu erwirken: auf seine Klassenzugehörigkeit als Arbeiter, auf seinen Status als ehemaliger Partisan und auf die Arbeiterselbstverwaltung, deren Glaubwürdigkeit er in Bezug auf seinen Fall infrage stellte. Bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein untermauerten BeschwerdeführerInnen ihre Forderungen mit der Beteiligung am „Volksbefreiungskampf“. Der Transportarbeiter Dragomir N. gehörte sogar zu der besonders herausgehobenen Gruppe derjenigen, die schon ab 1941 mit den kommunistischen PartisanInnen kämpften, eine Abstufung, die das Privilegierungssystem formal vorsah (siehe Kapitel 6.1.). Als weiteres Beispiel dafür, Forderungen mit der Teilnahme am Kampf der kommunistischen PartisanInnen zu untermauern, findet sich in einem Gesuch, das den Arbeiterrat der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac 1975 „von einem unserer Kämpfer“ erreichte.152 Er und seine Frau seien krank und ihre Betriebs151 ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–1967: Žalba na odluku Upravnog odbora Direkcije o do-
deli stana, 22.08.1966, S. 1. 152 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 26-te sednice Radničkog saveta
OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme kamiona, 08.05.1975, S. 4.
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wohnung im vierten Stock eines Hauses sei inadäquat. Deswegen bat der Veteran um eine Wohnung im ersten oder zweiten Obergeschoss. In der Diskussion des Gesuchs im Arbeiterrat wurde zudem erwähnt, dass der SUBNOR153 interveniert habe, woraufhin der Antragsteller eine andere Wohnung bekam, die seinen Bedürfnissen besser entsprach. Im Falle von Einsprüchen gegen Entscheidungen der Arbeiterräte waren Argumente weit verbreitet, dass eine Fehleinschätzung vorläge oder ein ausschlaggebender Umstand nicht beachtet worden sei. In vielen Fällen bezogen sich Beschäftigte dabei präzise auf bestimmte Gesetze oder fabrikinterne Regelwerke zu den betreffenden Bereichen. In der besonders drängenden Frage der Wohnungsverteilung zweifelten Beschäftigte oft an, ob ihre Wohnsituation in genügendem Maße berücksichtigt und in den Kriterienkatalogen angemessen eingestuft worden sei. Vor allem mit Formfehlern in der Entscheidungsfindung, wie die Zusammensetzung einer Kommission, die nicht den Vorschriften entspräche, argumentierten viele BeschwerdeführerInnen: Die Menge an Regelwerken und ihre häufige Änderung bot jedoch auch Angriffsfläche, wie der Fall des Arbeiters Milijan S. in der Abteilung Presswerk und Karosseriebau der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik zeigt.154 Der Mann musste sich 1981 in einem Disziplinarfall wegen unentschuldigten Fehlens verantworten. Neben dem Hinweis auf seine soziale Situation, er habe gefehlt, weil er mit dem Bau seines Hauses beschäftigt gewesen sei, argumentierte Milijan S. mit einem Formfehler in der Disziplinarentscheidung, die zu seiner Kündigung führen sollte: Er sei fälschlicherweise nach Bestimmungen der neuen Disziplinarregeln bestraft worden, während in seinem Fall eigentlich ein älteres Regelwerk hätte gelten sollen. Dass sich für Beschäftigte bei ihren dringenden Wohnraumproblemen auch auf mehrere Argumente beriefen, deren Logik sich scheinbar im Widerstreit befand, zeigt die Beschwerde eines Arbeiters aus der Nutzfahrzeugfabrik der Zastava-Werke von 1974, deren Ausgang nicht überliefert ist: Ich bin in der Rangliste auf Platz 9 und ihr hattet mir versprochen, dass ich eine Wohnung bekommen würde und ich habe das auch schriftlich vom Direktor Raković155 und von beiden Direktoren. Ich kann euch auch sagen, dass die Kommission nicht komplett war, es waren in ihr drei Mitglieder tätig, es hätten aber fünf sein sollen.156
153 Abkürzung Srb. für „Savez udruženja boraca narodnooslobodilačkog rata“, Slow.
„Zveza združenj borcev za vrednote NOB - ZZB NOB “, (Bund der Vereinigungen der Kämpfer für die Werte des Volksbefreiungskrieges), im Folgenden SUBNOR. 154 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 77. sednice Radničkog saveta OOUR-a „Preseraj i Karoserija“, 23.12.1981, S. 3. 155 Bis Ende 1974 war Prvoslav Raković Generaldirektor der zum Ende seines Mandats ca. 30.000 MitarbeiterInnen zählenden Zastava-Werke: ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 337. 156 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 39. sednice Radničkog saveta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 16.11.1974, S. 2.
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Formal betrachtet war die Selbstverwaltung in Gestalt des Arbeiterrats und seiner Kommissionen sowie Verwaltungsräte für Entscheidungen in Wohnraumfragen zuständig. Auf offiziellem Wege konnte kein Direktor eigenmächtig eine Wohnungszuteilung vornehmen. Jedoch scheint das Vertrauen in das unvoreingenommene Funktionieren der Selbstverwaltung oft nicht sehr groß gewesen zu sein und – wie die Analysen der jugoslawischen Industriesoziologie gezeigt haben157 – der Einfluss von höherem Leitungspersonal in vielen Fragen von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Warum sonst würde ein Mitarbeiter, anstatt nur seinen Wohnungsantrag mit den entsprechen Unterlagen bei der Wohnungskommission einzureichen, sich zusätzlich dazu an Direktoren auf unterschiedlichen Ebenen der Betriebshierarchie wenden, um seinem Gesuch Nachdruck zu verleihen? Diese Handlungslogik, die auf formaler und informeller Ebene gleichzeitig ansetzte, kann einerseits als Zeichen gängiger Praktiken gedeutet werden. Offenbar wurde das Ersuchen um die Unterstützung einer hohen Leitungsperson als legitimer und effektiver Weg angesehen, um Interessen durchzusetzen (siehe Kapitel 5.4.). Andererseits weist die scheinbar paradoxe Argumentation mit dem Appell für die genaue Einhaltung von Vorschriften der Selbstverwaltung und dem gleichzeitigen Anrufen hoher FunktionsträgerInnen im Unternehmen darauf hin, dass den MitarbeiterInnen in akuten Alltagsfragen jede in Reichweite befindliche Begründung ihres Anspruchs recht war. Unter den Umständen, unter denen Beschäftigte um ein so knappes Gut wie Wohnraum konkurrieren mussten, waren solche Ambivalenzen offenbar akzeptabel, wenn die Bemühungen nur zum Erfolg führten. Nicht nur die Anwendung von Praktiken, die außerhalb der formalen Prinzipien der Selbstverwaltung angesiedelt waren, sondern auch die Denunziation von KollegInnen, die informelle Methoden anwandten, kam in Einsprüchen als Argument in Betracht, um eine Wohnung zu bekommen. So unterstellte der Autopolsterer Milivoje M., der 1973 bereits gut acht Jahre lang in den ZastavaWerken tätig war, seiner Mitbewerberin Dara M. gleich mehrere Verstöße:158 Beide hatten sich auf die Zuteilung einer Wohnung beworben, die auf der Basis der kritischen sozialen Situation der AntragstellerInnen vergeben wurden. Milivoje M. brachte in seinem Einspruch mehrere Punkte gegen seine Kollegin Dara M. vor: Erstens hätte sie ihre Einkünfte als weitaus niedriger angegeben, als es den Tatsachen entspräche, damit sie die Kriterien für eine Sozialwohnung erfüllte. Milivoje M. zählte die Summen auf, aus der sich das wahre Einkommen der Arbeiterin Dara M. angeblich tatsächlich zusammensetze. Sie hatte eine Solidarwohnung bekommen, während er leer ausgegangen war. Ihre jetzige Wohnung, so hatte die Kommission neben ihrem vermeintlichen Einkommen festgestellt, war nur ein zugiger Schuppen von 3 m x 2,5 m Größe. Dem widersprach Milivoje M. in seinen Vorwürfen und fügte weitere hinzu, von denen ei-
157 Vgl. ARZENŠEK, Struktura i pokret. 158 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 12. sednice Radničkog saveta
Fabrike privrednih vozila, 07.02.1973, S. 8f.
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ner auch eine politische Konnotation aufwies, was Milivoje M. nicht unerwähnt ließ: Ich möchte ins Feld führen, dass sie [Dara M., U.S.] bei der Arbeitsniederlegung am 15. Februar 1972 eine der ersten war, die dabei war, was auch im Protokoll der Arbeiterversammlung der RJ 4401159 und des Verwaltungsausschusses und des Sekretariats des politischen Aktivs der Nutzfahrzeugfabrik nachzulesen ist und was auch anhand des Protokolls der Kommission zur Untersuchung der Arbeitsniederlegung ersichtlich ist. […] Von dieser [Wohnungs-]Kommission kannte ich niemanden. Diese Genossin kannte fast alle Mitglieder. Sie hat einen Bruder, der an dem Tag, als der Verwaltungsausschuss die Liste angenommen hat, in Acas Büro gewesen ist. […] Sie ist erst vor drei Monaten in diese Wohnung gezogen, weil sie von der Verteilung gewusst hat. Man muss mal alle Umstände vergleichen und dann werden wir sehen, ob ich im Vergleich zu Dara bessergestellt bin. Ich war beim Vorsitzenden der Kommission, kommt doch ihr Bruder herein. Er fragte sofort, welche Wohnung Dara bekommen habe. Sie hat die beste Wohnung bekommen. […] Ich verlange, dass die Arbeit der Kommission überprüft wird.160
Dass Streiks im sozialistischen Jugoslawien zwar üblich waren, aber dennoch von Partei und Gewerkschaft als politisches Problem eingestuft und nicht legalisiert wurden (siehe Kapitel 5.5.), nahm Milivoje M. zum Anlass, seine Kollegin Dara M. zu diskreditieren. Ihre Teilnahme am Streik, falsche Angaben über ihre soziale Situation sowie die informelle Einflussnahme auf die Entscheidung der Wohnungskommission, so Milivoje M.s Kalkül, müssten genügen, um seine Mitbewerberin von ihrem Listenplatz für die Wohnungsvergabe zu verdrängen. In der Arbeiterratssitzungen wurde noch verschiedene Zeugen geladen, um die Behauptungen der beiden Seiten zu bestätigen. Jedoch vertagte das Gremium eine Entscheidung auf eine spätere Sitzung.161 An Milivoje M.s Vorwürfen fällt auf, dass er offenbar sorgfältig recherchiert hatte, damit er in der harten Konkurrenz um die begehrten Wohnungen doch noch eine Chance bekäme. Die Tatsache, dass hier gegen Entscheidungen, die Einzelne betrafen, Einspruch erhoben werden konnte, schien das Misstrauen, welches Beschäftigte einander entgegenbrachten und die Konflikte zwischen ihnen zu befördern. Formen von Solidarisierungen unter ArbeiterInnen, wie der erwähnte Streik, an dem Dara M. teilgenommen haben soll, wurden zu Argumenten, die in individualisierten Konflikten einer Seite zur Durchsetzung ihres Interesses verhelfen sollten. Die Praxis des Einspruchs gegen Entscheidungen der Selbstverwaltung wirkte in diesem Falle also im Sinne einer Entsolidarisierung unter ArbeiterInnen und der Individualisierung ihrer Interessen. Die Frage nach sozialer Ungleichheit im größeren Maßstab wurde in dieser nach Sozial159 Srb.: „radna jedinica – RJ“, (Arbeitseinheit). Eine der niedrigsten Stufen im organi-
satorischen Aufbau der Fabrik unterhalb des Gesamtunternehmens, den einzelnen Fabriken mit ihren GOVA und Werkstätten. Materialien, welche Einblick in die Funktionsweise der dieser Organisationsebene geben könnten, sind jedoch im Werksarchiv nicht überliefert. 160 Ebenda, 9. 161 Vgl. ebenda, 9f.
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und Beschäftigungsstatus differenzierten offiziellen Praxis der betrieblichen Wohnungsvergabe überhaupt nicht erst aufgeworfen. Denn als direkte Konkurrentin um eine Wohnung war für Milivoje M. kein Mitglied einer sozial bessergestellten betrieblichen Gruppe präsent, sondern seine Kollegin, die sich wie er als Sozialfall um eine Wohnung bewarb.
Einflussfaktoren auf den Ausgang von Einsprüchen Wie in den besprochenen Fällen von Einsprüchen anklang, lässt sich oft nicht beurteilen, weshalb BeschwerdeführerInnen die entsprechenden Argumentationsstrategien wählten, wie ein Beschwerdefall ausging und welche Faktoren zu dem entsprechenden Ergebnis führten. Quantitative Aussagen zum Aufkommen von Beschwerdefällen zu verschiedenen Zeiten, zu ihrem Ausgang und zu den Sozialdaten der BeschwerdeführerInnen können hier wegen des beschränkten Vorhandenseins und der variierenden Aussagekraft der Quellen nicht gemacht werden. Auch die jugoslawische Industriesoziologie lieferte hier keine Hinweise. Die Rolle, welche Gewerkschaften in Einspruchsfällen einnahmen, lässt sich jedoch ansatzweise beleuchten. So wird in den Fallbeispielen aus den Mariborer und Kragujevacer Fabriken deutlich, dass, wie das Modell Thirkells u. a. zu Gewerkschaften in sozialistischen Betrieben andeutet, widersprüchliche Anforderungen an Gewerkschaften gestellt wurden: Einerseits wurde die Vertretung von Managementinteressen im Sinne hoher Motivation von MitarbeiterInnen für produktivere Arbeit verlangt, andererseits die Vertretung von ArbeiterInneninteressen in Konfliktfällen.162 Die jugoslawische Führung war sich dieser Ambivalenzen bewusst, wie offizielle Publikationen bezeugen, die unter anderem mit Titeln wie „Warum Arbeiterrat und Gewerkschaft“ in deutscher Übersetzung erschienen.163 Dementsprechend war sowohl in Kragujevac als auch in Maribor grundsätzlich eine Konsultation der Gewerkschaftsorganisation in Einspruchsverfahren möglich oder gar vorgeschrieben. Im Rahmen dieser Untersuchung waren für die Jahre 1968 und 1971 Dokumentationen der Rechtshilfe der Gewerkschaft Maribor verfügbar, auf die Beschäftigte der örtlichen Betrieben zurückgreifen konnten.164 Da Konflikte bei TAM darin beinahe gar nicht vorkommen, soll hier überwiegend auf Beispiele aus anderen Industriebetrieben der Stadt Maribor zurückgegriffen werden. Der Fall eines Transportarbeiters der Fabrik Zlatorog165 zeigt die Hoffnungen, die ArbeiterInnen auf die Gewerkschaften setzten, selbst wenn wie hier ein laut Disziplinarregeln als schwer eingestufter Verstoß und die Kündigung zur Debatte stand:
162 Vgl. THIRKELL / PETKOV / VICKERSTAFF, The Transformation, 75–78. 163 Zentralrat des Gewerkschaftsbundes Jugoslawiens, Warum Arbeiterrat und Gewerk-
schaft. Beograd 1964. 164 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 22: Pritožbe članov sindikata 1968; SI-PAM, f. 1341, šk.
77: Pritožbe članov sindikata 1971. 165 Zlatorog produzierte seit 1887 Kosmetik und Reinigungsmittel.
117 Im betreffenden Verfahren wurde festgestellt, dass Feliks K. und Jože T. am 25.06.1971 ungefähr um 20:30 Uhr ohne Erlaubnis am nördlichen Ausgang der Fabrik diese verlassen haben, und zwar so, dass sie über das verschlossene Tor geklettert sind und in die Imbissstube „Hvar“ auf der Meljer Straße gegangen sind. Dort hat sie der Schichtführer des werksinternen Transports Genosse K. erwischt. Sie haben selbst zugegeben, dass sie dort jeder ein Bier getrunken haben, woraufhin sie Gen. K. erwischt hat und sie wieder in die Fabrik gegangen sind.166
Es fällt auf, dass harsche Disziplinarstrafen wie Kündigungen nur nach mehrmaligen Verletzungen der Arbeitsdisziplin ausgesprochen wurden. Im Falle Feliks K.s war schon 1969 und 1970 die „letzte öffentliche Ermahnung“ als Disziplinarstrafe erlassen worden.167 Aus einer Notiz der Person168, die Feliks K. offenbar im Namen der Gewerkschaft bei einer Sitzung vor der Disziplinarkommission des Unternehmens vertrat, geht hervor, dass dem Transportarbeiter die drastischste Strafe – die Kündigung – erspart blieb. Trotz des wohl als Erfolg zu wertenden Ausgangs brachte die Vertretungsperson der Gewerkschaft ihren Unmut darüber zum Ausdruck, dass sich die Organisation mit Fällen „undisziplinierter Arbeiter“ befassen müsse und dass sie Feliks K. mitgeteilt habe, beim nächsten ähnlichen Vorfall drohe die sichere Entlassung.169 Welche Faktoren hier den Ausschlag dafür gaben, dass der aussichtslos erscheinende Fall zugunsten des Transportarbeiters entschieden wurde, bleibt in den Unterlagen offen. Dagegen wird jedoch deutlich, dass ArbeiterInnen in der Gewerkschaft nicht umsonst eine Vertretungsinstanz ihrer Interessen sahen. Dies galt offenbar auch, wenn die Massenorganisation wie in diesem Fall eher zähneknirschend die Verteidigung übernahm. Die Fälle von zwei Arbeitern der Mariborer Fabriken EM Hidromontaža und Kristal170 aus dem Jahr 1968 bringen einen weiteren Aspekt dessen zum Ausdruck, wie IndustriearbeiterInnen mit Unterstützungsangeboten der Gewerkschaft umgingen. In vielem sind die beiden Fälle sehr unterschiedlich: Jože P., der in der Glasfabrik Kristal vierzehn Kilometer außerhalb von Maribor arbeitete, drohte – ähnlich wie im oben geschilderten Fall – wegen unentschuldigter Fehltage, Alkoholgenusses und „falscher Krankschreibungen“ die Kündigung.171 Franc M., der als Elektroschweißer auf den Baustellen von EM Hidromontaža wahrscheinlich in Kroatien und Slowenien gearbeitet hatte, wurde we166 SI-PAM, f. 1341, šk. 77: Sklep o odstranitvi delavcev iz podjetja (Prepis), Maribor,
29.06.1971, S. 1. 167 Vgl. ebenda, 2. 168 Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob es sich über einen Mann oder eine Frau
handelte. 169 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 77: o.T. [Notiz GewerkschaftsmitarbeiterIn im Dossier
Feliks K.], 12.07.1971/24.07.1971. 170 EM Hidromontaža wurde per Bundesbeschluss 1948 in der Nachfolge der Betrei-
bergesellschaft des Dravastaudamms Fala gegründet. Das Wasserkraftwerk wurde 17 Kilometer westlich von Maribor ab 1913 erbaut. Das glasverarbeitende Unternehmen Kristal im Ort Selnica ob Dravi wurde in den 1920er Jahren gegründet. 171 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 22: Zapisnik o izjavi P. Jože, 09.10.1968.
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gen rückläufigen Arbeitskräftebedarfs gekündigt. Einige Monate später erfuhr er, dass nun wieder Schweißer eingestellt würden. Er kannte das Arbeitsgesetz, das vorher gekündigten ArbeiterInnen eine vorrangige Einstellung in solchen Fällen zusicherte und wollte mit Gewerkschaftsunterstützung seinem Recht Nachdruck verleihen.172 Die beiden Fälle waren recht unterschiedlich gelagert und ihr Ausgang ist nicht überliefert. An ihnen interessiert jedoch, dass hier unter Umständen nachbarschaftliche Kommunikationsbeziehungen am Wirken waren. Aus den Gewerkschaftsunterlagen geht hervor, dass die Beschwerdeführer Feliks K. und Franc M. im selben Haus wohnten, sodass es wahrscheinlich ist, dass nicht nur aufgrund betrieblicher, sondern auch nachbarschaftlicher Sozialbeziehungen die bestehende Option gewerkschaftlicher Hilfe kommuniziert wurde. Dass solche Kommunikationswege entscheidend für die Inanspruchnahme von Rechtshilfe der Gewerkschaft sein konnte, zeigt die Aussage des angelernten Schlossers Milan V. bei TAM. Er wandte sich ebenfalls 1968 an die Gewerkschaft, da das Unternehmen ihm gegenüber ungerechtfertigt Schadenersatzforderungen stellte. In seiner Aussage im Beratungsgespräch mit der Gewerkschaft deutete er Vorwürfe an, wonach das Unternehmen die Unwissenheit ihrer MitarbeiterInnen über geltende Bestimmungen ausgenutzt hätte: Damals [als der Schaden entstand] wusste ich nicht, dass die Gewerkschaft Rechtshilfe anbietet, und weil ich mich nicht zu verteidigen wusste, bin ich der Suggestion des ehemaligen Fabrikjuristen Gen[ossen] F. erlegen und habe die Aussage unterschrieben, wonach ich der Erstattung des Schadens freiwillig zustimme.173
Später hatte er erfahren, dass das Unternehmen auch von einer Versicherung einen Teil der von ihm geforderten Summe erstattet bekommen hatte. Ebenso hatte er herausgefunden, dass gewerkschaftliche Rechtshilfe existierte und wollte nun die Schadenersatzansprüche, die seitens des Unternehmens an ihn bestanden, um den Versicherungsanteil abgesenkt wissen. Ein Gespräch unter Nachbarn, Bekannten oder Kollegen über Möglichkeiten individueller gewerkschaftlicher Interessenvertretung konnte sich so unter Umständen deutlich auf die materielle Situation weniger privilegierter ArbeiterInnen wie die des angelernten Schweißers Milan V. auswirken. In Kragujevac hingegen, wo keine lokalen oder Aktenbestände der betrieblichen Gewerkschaft zugänglich waren, ist aus den Protokollen der Arbeiterräte für die Zeit ab Mitte der 1970er Jahre ersichtlich, dass von ihr Einschätzungen über die Berechtigung der Einsprüche eingeholt wurden. Offenbar waren sie sogar obligatorisch, damit im Selbstverwaltungsgremium über einen Einspruch entschieden werden durfte. Ein Fall aus der Mitte der 1980er Jahre in den Zastava-Werken zeigt dies, da dort der Arbeiterrat eine Entscheidung über den Einspruch eines Beschäftigten wegen fehlender Stellungnahme seitens der Gewerkschaft vertagen musste.174 Oft beschränken sich bei Zastava diese Hinweise aber 172 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 22: Zapisnik o izjavi M. Franc, Maribor 29.07.1968. 173 SI-PAM, f. 1341, šk. 22: Zapisnik o izjavi tov. V. Milan, 24.09.1968. 174 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa II dela 38, 4.
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nur auf Notizen wie „Der Exekutivausschuss der Gewerkschaft befindet, dass ihm der Einkommensunterschied ausgezahlt werden muss“175 oder ein Einspruch sei „unbegründet“176. In den Fällen, in denen der Ausgang von Einspruchsverfahren dokumentiert ist, lässt sich in Bezug auf die Positionierung der Gewerkschaft im Sinne der ArbeiterInnen oder des Managements kein klares Muster ablesen. Teilweise trafen die Arbeiterräte Entscheidungen, die der Einschätzung der Gewerkschaft widersprachen, teilweise befanden sie sich in Einklang mit der Haltung der Massenorganisation. Da auch innerhalb der Arbeiterräte einzelne Fälle kontrovers diskutiert wurden und in unterschiedlich knappen Abstimmungsergebnissen Einsprüche angenommen oder abgelehnt wurden, kann die Haltung der Gewerkschaft nur als ein Faktor in der Entscheidungsfindung angesehen werden. Als charakteristischer für die Beurteilung der Gewerkschaftsrolle in betrieblichen Einspruchsverfahren muss man werten, dass nicht von einer scharfen personellen Trennung der Instanzen „betriebliche Selbstverwaltung“ und „Gewerkschaft“ ausgegangen werden kann. So konnten Delegierte im Arbeiterrat gleichzeitig FunktionärInnen der Gewerkschaftsorganisation im betreffenden Betriebsteil sein, wie dies aus Arbeiterratsprotokollen der Abteilung Presswerk und Karosseriebau der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac von 1981 abzulesen ist.177 In seiner sozialwissenschaftlichen Studie aus den 1970er Jahren wies zudem Wolfgang Soergel für die drei von ihm untersuchten Unternehmen in Mazedonien, Kroatien und Slowenien auf diesen Umstand hin.178 Angesichts der Klagen des BdKJ bei TAM in Maribor ab Mitte/ Ende der 1970er Jahre, wie schwer es sei, aktive Mitglieder für die Fabrikorganisationen zu finden,179 ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch in Maribor Personen sowohl Ämter in der Selbstverwaltung als auch zeitgleich in Jugendorganisation, Partei oder Gewerkschaft innehatten. Trotz solcher Überlagerungen verschiedener, nicht klar voneinander abgegrenzter Rollen gab es Fälle, in denen die Haltungen von Gewerkschaften und Betriebsleitungen, deren Entscheidungen die Arbeiterräte legitimierten, auseinandergingen. So beriefen sich mehrere Beschäftigte in Einsprüchen gegen Lohnabsenkungen in der Polsterei der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1977 auf die Empfehlung von Gewerkschaft und BdKJ, dass Beschäftigten die Punktezahlen, welche ihre Lohngruppen festlegten, nicht herabgestuft werden sollten.180 Zusätzlich zu diesen Widersprüchen und den sich überlappenden Rollen waren unterschiedliche Haltungen dazu, wie rigoros die Interessen der BelegZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 77. sednice Radničkog, 5. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik i materijal sa 6 sednice r.s. Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 78. sednice RS PIK, 5. Vgl. SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 60f. Vgl. z. B. Materialien der Parteibasisorganisation in der Schmiede von TAM: SIPAM, f. 1346, šk. 38: Poročilo o delovanju OOZK v TOZD Kovačnica, 19.11.1979, S. 1; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik programske volilne konference TOZD Kovačnica, 26.12.1983, S. 2. 180 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice RS Tap., 23.03.1977, 3–6. 175 176 177 178 179
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schaft unterstützt werden sollten, auch innerhalb von Partei und Gewerkschaften anzutreffen. Unterschiedliche Ebenen der Massenorganisationen waren sich uneins darüber, ob ein bestimmtes Verhalten von ArbeiterInnen und ihre Interessen vertretbar seien oder nicht. So kritisierte der Vorsitzende der Gewerkschaft in den Zastava-Werken auf ihrer Jahresversammlung 1965, dass die Basisorganisationen der Betriebsgewerkschaft ihre Schutzfunktion von Beschäftigten oft missverstünden: Wir finden, dass es dazu wegen der unzureichenden Sichtung dieser Phänomene kommt und dass einzelne Mitglieder der gewerkschaftlichen Unterausschüsse die rechte Orientierung in der Arbeit verlieren, und anstatt Kriterien für die Abschaffung begangener Fehler aufzustellen, entscheiden sie sich eher für die vermeintlichen Rechte solcher Arbeiter, bemühen sich, sie ohne Einbezug ihrer begangenen Versäumnisse zu schützen. Das zeigt sich vor allem, wenn es zu Konflikten zwischen Leitern und ihren Arbeitern kommt, aber auch in Fällen, wo der Gehorsam verweigert wird oder bei der Schädigung der Arbeitsdisziplin.181
Hier wird deutlich, dass es zwischen den verschiedenen Ebenen der Organisation sogar innerhalb des Betriebs zu Konflikten über die Rolle der Gewerkschaft kam. Im oben besprochenen Fall des Arbeiters Feliks K., der 1971 in Maribor in einem Einspruchsverfahren gegen seine disziplinarisch begründete Kündigung Erfolg hatte, drückte ein Mitglied der Gewerkschaft selbst aus, dass die Unterstützung von „undisziplinierten“ ArbeiterInnen ihre Grenzen hätte.182 Obwohl in vielen Fällen schwer zu bestimmen ist, welche Faktoren sich auf den Verlauf eines Beschwerdeverfahrens auswirkten, sind dennoch einige Umstände auszumachen, die mit bestimmten Verlaufsmustern korrespondierten. Hierbei handelt es sich etwa darum, wer den Einspruch einlegte, ob es viele ähnliche Beschwerden gleichzeitig gab und wie gravierend z. B. eine Notlage den Arbeiterräten erschien. Wenn hierarchisch höher stehende MitarbeiterInnen den Einspruch einlegten, so deutet es sich in einigen Fällen an, setzten sich die Arbeiterräte ausführlicher mit dem Fall auseinander als in Fällen, in denen eine beliebige Person aus der Produktion sich über eine Entscheidung des Arbeiterrats beschwerte.183 In bestimmten Fällen diskutierten die Delegierten wenig kontrovers, wie z. B. im oben besprochenen Fall des Partisanenveterans, der aufgrund seiner privilegierten gesellschaftlichen Stellung, die politisch intendiert war, inmitten großer Wohnungsknappheit in Kragujevac 1975 ohne Probleme seine Wohnung tauschen konnte.184 In anders gelagerten Fällen provozierten als besonders gravierend geschilderte und von den Mitgliedern der Arbeiterräte auch als kaum zumutbar anerkannte Wohnsituationen, dass die Gremien in
181 Iz sindikalnog odbora 01.03.1965. 182 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 77: o.T. 12.07.1971/24.07.1971. 183 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 44-te sednice Radničkog save-
ta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 24.01.1975, S. 3– 5;ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 78. sednice RS PIK, 8. 184 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 26-te sednice.
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Maribor und Kragujevac von sich aus Kompromisslösungen vorschlugen.185 So wies der Arbeiterrat TAMs im Jahr 1975 einer sehr großen Familie, von der mehrere Mitglieder im Unternehmen arbeiteten, anstatt der verlangten größeren Wohnung zusätzlich zur bisherigen Wohnung ein Zimmer im Wohnheim des Unternehmens zu. Eine Tochter der Familie konnte mit ihrem Mann dort ein Zimmer beziehen, was die Wohnsituation der Familie entlastete.186 So wie die Beteiligung am „Volksbefreiungskampf“ ein Vorteil in einem Einspruchsverfahren war, so begünstigte man Familien, in denen mehrere Mitglieder bei TAM arbeiteten, da die Wohnungspolitik ein wichtiges sozialpolitisches Instrument gegen Fluktuation darstellte. Während sich Beschwerdeverfahren oft monatelang, manchmal sogar jahrelang hinzogen, konnte ebenfalls das genaue Gegenteil vorkommen und Entscheidungen konnten sehr prompt fallen. Diese Praxis ist sowohl für Maribor als auch für Kragujevac belegt. Darüber hinaus drohten Beschäftigte den Unternehmen mit gerichtlichem Vorgehen gegen sie.187 Dass und wie Beschäftigte tatsächlich juristisch gegen ihre Fabriken vorgingen, wird die Analyse von Gerichtsverfahren als Instrument individueller formaler Interessenverfolgung zeigen (siehe Kapitel 4.2.3.). Jedoch musste auch das Eingreifen eines Gerichts noch keine abschließende Entscheidung über einen Einspruch bringen, wie der Leserbrief in der Betriebszeitung des Beschäftigten Žarko Nešić aus den Zastava-Werken von 1964 belegt:188 Er hatte bei Gericht Einspruch gegen eine Disziplinarstrafe eingelegt, woraufhin das Gericht die Disziplinarkommission der Fabrik zur Behandlung des Einspruchs aufforderte. Fünf Monate, so beschwerte sich Nešić öffentlich, würde er seitdem schon darauf warten, dass sich die Disziplinarkommission daraufhin erneut seines Falles annehme. Dass ein solcher Leserbrief in der Fabrikzeitung veröffentlicht wurde, gibt einen Hinweis darauf, dass langandauernde Bearbeitungszeiten von Einsprüchen keine Seltenheit waren. Ebenso verweist die Veröffentlichung darauf, dass annehmbare Fristen zur Behandlung von Einsprüchen durch die Selbstverwaltungsorgane im offiziellen Interesse des Betriebs sein mussten. Schließlich erfüllte doch die Fabrikzeitung unter anderem die Funktion einer Mahnerin angesichts von Missständen im Betrieb, wenn es sich nicht gerade um politisch oder anderweitig tabuisierte Themen handelte.
Fazit Soweit die Quellenlage dies zulässt, kann nicht von gravierenden Unterschieden in der individuellen Einspruchspraxis zwischen der slowenischen Fabrik TAM 185 Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice RS Tap., 23.03.1977, 4f. 186 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 14. redne seje odbora za gospodarjenje in
medsebojna razmerja v združenom delu Skupnosti TOZD cestnih vozil Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 17.08.1976, S. 2. 187 Vgl. Žarko NEŠIĆ, Pisma radnika. Kada će se rešiti moj slučaj?, Crvena zastava, Nr. 89, März 1964, 5; SI-PAM, f. 1341, šk. 77: Zapisnik o izjavi P. Bogomir, 29.06.1971; ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa II dela 38. 188 Vgl. NEŠIĆ, Pisma radnika.
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und der serbischen Fabrik Zavodi Crvena zastava ausgegangen werden. Hauptsächlich Löhne, der Status von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Sozialleistungen waren in beiden Fällen die dominanten Anlässe für Konflikte, die auf diese Art ausgetragen wurden. Die Argumentationsweisen, auf die ArbeiterInnen in Kragujevac zurückgriffen, umfassten ein breites Repertoire. Dieses reichte von der Hervorhebung ihrer Kompetenz und Loyalität über Hinweise auf ihre schwierige soziale Situation, die Anwendung von Drohungen und Denunziationen, die Infragestellung der gesellschaftlichen Praxis im Lichte offiziell propagierter Normen und Werte bis hin zur Berufung auf geltende Gesetze und Selbstverwaltungsrichtlinien. Auffällig ist, dass BeschwerdeführerInnen gleichgestellten KollegInnen oft Betrug und hierarchisch höher stehenden MitarbeiterInnen häufig Machtmissbrauch vorwarfen. Dies traf insbesondere auf Wohnungsangelegenheiten in den 1960er und 1970er Jahren zu. Die Macht, welche Delegierte in den Selbstverwaltungsgremien innehatten, spiegelte sich in Entscheidungen wider, die oft, vielleicht auch aufgrund zu wenig detailliert dokumentierter Arbeiterratssitzungen, einen ad hoc-Charakter zu haben schienen. Welche Rolle betriebliche Partei- und Gewerkschaftsstrukturen in den Einspruchsverfahren spielten, kann nur ansatzweise beantwortet werden. Deutlich wird jedoch, dass sich die Gewerkschaft sowohl in der slowenischen als auch der serbischen Fabrik mit widerstreitenden Rollen konfrontiert sah. So sollte sie zum einen das Management in der Umsetzung der Produktionspläne unterstützen, ordnungsgemäße Abläufe der betrieblichen Selbstverwaltung sichern und zugleich in diesem Komplex sich überschneidender, unscharf voneinander abgegrenzter Kompetenzen für die Rechte von ArbeiterInnen einstehen. Diese Ambivalenzen gewerkschaftlicher Rollenzuschreibungen wurden noch durch die Überlagerung von Funktionen in Partei, Massenorganisationen und betrieblicher Selbstverwaltung, manchmal in ein und derselben Person, verkompliziert. Die präzisen Positionen, die Gewerkschaften in Einspruchsverfahren einnahmen und der konkrete Einfluss, den sie auf Entscheidungen über Beschwerden geltend machen konnten, sind jedoch aufgrund der Quellenlage schwer nachzuverfolgen. Tendenzen der verstärkten Wahrnehmung der einen oder der anderen genannten Rolle lassen sich nachweisen, ohne dass sich hier ein eindeutiges Bild ergäbe oder Konjunkturen einer bestimmten Rollenwahrnehmung im Laufe der Jahrzehnte nachzuvollziehen wären.
4.2.2.Zunehmende Komplexität in den 1970er Jahren I: Die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle In der Folge der Reformen der 1970er Jahre mussten die Betriebe mit der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle (ASVK) ein weiteres Organ der Selbstverwaltung auf allen betrieblichen Ebenen einrichten. Sahen bereits die Verfassungszusätze von 1971 ihre Einrichtung vor, so bekräftigten die darauffolgenden Gesetze wie die Verfassung von 1974 den Kurs, die Selbstverwaltung mit der Arbeiterkontrolle noch komplexer zu machen. Ihre Aufgaben, welche auf sehr unter-
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schiedlichen Ebenen der Betriebe ansetzten, definierte Artikel 107 der Bundesverfassung von 1974 folgendermaßen: Das Organ der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle überwacht die Durchführung des Statuts und der übrigen Selbstverwaltungsakte der Organisation sowie der Selbstverwaltungsabkommen und gesellschaftlichen Vereinbarungen, die Ausführung der Beschlüsse der Arbeiter, der Verwaltungs-, Exekutiv-, und Geschäftsführungsorgane der Organisation sowie die Übereinstimmung dieser Akte und Beschlüsse mit den Selbstverwaltungsrechten, den Pflichten und Interessen der Arbeiter; die Erfüllung der Arbeits- und Selbstverwaltungspflichten der Arbeiter sowie der Organe und Dienste der Organisation; die verantwortungsbewußte und wirtschaftlich wie gesellschaftlich zweckmäßige Nutzung der gesellschaftlichen Mittel und der Verfügung über sie; die Anwendung des Grundsatzes der Verteilung der Mittel für die persönlichen Einkommen; die Durchsetzung und den Schutz der Rechte der Arbeiter in den wechselseitigen Beziehungen bei der Arbeit; die Unterrichtung der Arbeiter über Fragen, die für die Entscheidungsbildung und die Kontrolle in der Organisation sowie in Hinblick auf die Ausübung anderer Selbstverwaltungsrechte, Pflichten und Interessen der Arbeiter von Bedeutung sind.189
Die ASVK sollte also sowohl über die Einhaltung allgemeiner, unterschiedlich deutlich konkretisierter Prinzipien wachen als auch über konkret definierte Prozesse und Geschäftsvorgänge. Skeptische Stimmen außerhalb Jugoslawiens merkten an, allein mit der Errichtung dieses Gremiums gestehe man ein, dass die Praxis der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien unerwünschte Abweichungen überhaupt ermöglichte, was eine Kontrollinstanz erst nötig machte.190 So gestand man aber auch in Jugoslawien, z. B. in der Fabrikzeitung Zastavas 1974, ein, dass innerhalb des Selbstverwaltungssystems unerwünschte Praktiken existierten: Ebenso ist bekannt, dass die Selbstverwaltung an sich keine Mittel und Instrumente besitzt, die automatisch das delikate Verhalten bestimmter Subjekte unmöglich machen und beseitigen würden. Deshalb ist es eben völlig verständlich, dass die gesellschaftliche Kontrolle einen integralen Teil unseres Selbstverwaltungssystems ausmachen muss.191
An der Staatsspitze demonstrierte man, dass man sich über Fehlentwicklungen in den Betrieben bewusst und gewillt war, dagegen vorzugehen, indem man nach 1971 die Institutionen der Selbstverwaltung ausbaute. Auf welche Weise welche Belegschaftsmitglieder in die Arbeiterkontrolle berufen werden konnten, wie genau diese funktionieren sollte und welche Sanktionsinstrumente ihr zur Verfügung stehen sollten, überließ die Verfassung den Republiksgesetzgebungen sowie den Statuten der Betriebe. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die Arbeiterkontrolle in der Praxis haben konnte und
189 Die Verfassung der SFRJ 1974, 169. 190 Vgl. LEMÂN, Das jugoslawische Modell, 55. 191 FILIPOVIĆ, Samoupravne radničke kontrole 10.04.1974.
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insbesondere, inwiefern sie als Instrument zur individuellen Verfolgung von Interessen seitens der Belegschaftsmitglieder dienen konnte. Nachfragen, die man in der Phase der Einrichtung der Arbeiterkontrolle als kritische Stimmen verstehen konnte, waren sowohl in Slowenien als auch in Serbien bereits 1973 zu vernehmen. So wies ein Beschlusspapier des slowenischen Gewerkschaftsbundes im Juli 1973 Vorbehalte nicht genauer benannter KritikerInnen „aus der Praxis“ zurück, welche die ASVK für überflüssig hielten, denn es handele sich dabei um „Organe über den Verwaltungsorganen“.192 Zweifellos war die ASVK dazu gedacht, von außerhalb der Abläufe des Tagesgeschäfts einen analytischen, kontrollierenden Blick auf Vorgänge in der betrieblichen Selbstverwaltung zu werfen. Die im Gewerkschaftsbericht zitierte Kritik traute „den Arbeitern“ nicht zu, diese Kontrollfunktion wahrzunehmen, da ihnen dazu die Kompetenzen fehlen würden. Vom offiziellen Standpunkt der slowenischen Gewerkschaft aus gesehen, seien „diejenigen, die bisher im Namen der Arbeiter verwaltet haben“, diejenigen, die mit derartigen Vorbehalten ihrer Angst um die eigenen Machtpositionen Ausdruck verliehen.193 Auch auf einer Sitzung der Kommission für Sozialpolitik beim Bund der Kommunisten Serbiens sprach ein Delegierter 1973 derartige Warnungen aus.194 Während einer Diskussion über die Faktoren sozialer Ungleichheit in den Betrieben bemängelte er, dass die Partei bis dahin die „ideologisch-politische“ Funktion der ASVK noch nicht deutlich genug ausformuliert hätte. Wie das Standpunktepapier der slowenischen Gewerkschaft aus demselben Jahr äußerte auch der serbische Parteifunktionär, dass die Einrichtung der Arbeiterkontrolle „sich ins Gegenteil verkehren kann, die Ziele, die wir erreichen wollen und die gesamte Selbstverwaltung negiert.“195 Er betonte, die ASVK müssten mit „Arbeitern, aber Arbeitern, die sich ideologisch-politisch unserem Selbstverwaltungssystem verschrieben haben“, besetzt werden.196 Zweierlei stand offenbar hinter diesen Befürchtungen der slowenischen und serbischen FunktionärInnen in den Massenorganisationen: Einerseits ist denkbar, dass bestehende Machtstrukturen, in denen Leitungs- und Fachpersonal die Selbstverwaltung dominierten, nicht mit einem neuen Gremium fortgeschrieben werden sollten. Zum anderen, und darauf verweist die Forderung nach „ideologisch-politisch“ geeigneten – also linientreuen – Mitgliedern für die ASVK, befürchtete man die Bildung von Machtzentren in den Betrieben, die sich der politischen Kontrolle des BdKJ entziehen könnten. Welche Rolle spielte die Arbeiterkontrolle in der Praxis der Betriebe? Ein Artikel in der Fabrikzeitung Crvena zastava bemühte sich 1974 darzustellen, dass die Arbeiterkontrolle in den Zastava-Werken schon 1973 erfolgreich ihre 192 Vgl. SI-PAM, f. 1372, šk. 2: Sklepe 2. seje republiške konference ZMS 3. mandata,
Ljubljana, 28.07.1973, S. 4. 193 Vgl. ebenda. 194 Vgl. AS, Đ-2, k. 127: Magnetofonske beleške sa sednice Komisije Centralnog ko-
miteta komunista Srbije za socijalnu politiku, 12.04.1973, S. 21f. 195 Ebenda, 22. 196 Ebenda.
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Arbeit aufgenommen hatte.197 Die Funktionen des bereits seit 1958 existierenden Dienstes „Unutrašnja kontrola“, der „inneren Kontrolle“, würde sie bestens ergänzen. Die „innere Kontrolle“ agierte dabei nicht als Selbstverwaltungsorgan, sondern als Fachdienst der Geschäftsleitung. Als solcher kontrollierte sie die Geschäftsprozesse, ging aber auch Hinweisen auf Wirtschaftskriminalität nach. Vorsichtig deutete der Artikel an, dass es auch in den Zastava-Werken Skepsis gegenüber einem neuen Selbstverwaltungsgremium mit ähnlicher Funktion gäbe. In typisch normativer Rhetorik, welche für die Zukunft vorgesehene Zustände als die bereits verwirklichten darstellte, behauptete der Autor, die ASVK hätte sich bereits bewährt, ohne dafür konkrete Beispiele aus der Fabrik anzuführen, was ebenso typisch für derartige Darstellungen war. Als Nachweis der Tätigkeit der ASVK, so der Autor, bestehen offizielle Berichte, Standpunkte, Protokolle und weitere Dokumente. Das heben wir hervor, weil es immer noch Unverständnis für die Einrichtung der inneren Kontrolle vonseiten Einzelner in einigen Arbeitsorganisationen außerhalb der Zastava-Werke gibt.198
Den Ausdruck „innere Kontrolle“ verwendete der Autor hier offenbar als Oberbegriff für die unterschiedlichen Kontrollmechanismen, die auf verschiedenen Ebenen des Betriebs angesiedelt waren. Merkwürdig unbeholfen wirkt es, dass der Autor die Produktion von Texten aller Genres aus dem Repertoire sozialistischer Massenorganisationen als Nachweis für die Tätigkeit der ASVK anführte. Leicht hätte das in den Vorwurf des Formalismus münden können, schien doch die Botschaft des Artikels in der Betriebszeitung zu sein, es sei entscheidend, dass die ASVK aktiv war, nicht was genau sie mit welchem Erfolg unternahm. Für TAM in Maribor ist aus dem Betriebsarchiv wenig über die Art und Weise herauszulesen, wie die ASVK funktionierte. Jedoch wird in Parteiberichten aus den Betriebsteilen deutlich, dass der BdKJ ständig auf die Aktivität der Arbeiterkontrolle drängte. So berichteten die Parteikomitees z. B. der Schmiedeabteilung bei TAM zu verschiedenen Zeitpunkten in den 1970er Jahren, dass die ASVK nicht ihre vorgesehene Rolle erfülle.199 Verantwortlich dafür seien unter anderem die Massenorganisationen und die Selbstverwaltungsgremien, was nicht darauf hindeutet, dass die ArbeiterInnen in der Produktion selbst die neue Einrichtung zum Leben erweckten.
Die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle bei Zastava In Kragujevac fällt besonders zu Beginn der 1980er Jahre auf, dass die ASVK in der Situation sich zuspitzender wirtschaftlicher Schwierigkeiten und sozialer 197 Vgl. FILIPOVIĆ, Samoupravne radničke kontrole 10.04.1974. 198 Ebenda. 199 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik 15. sestanka OO ZK TOZD Kovačnica,
05.06.1975, S. 2; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Letno poročilo sekretarja OO ZK TOZD Kovačnica, 08.12.1975, S. 1; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik volilna konferenca OO ZK TOZD Kovačnica, 23.11.1979, S. 2.
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Konflikte sehr verschiedene Funktionen erfüllen konnte. Die einer weiteren Instanz, welche in den Betrieben in das Berichts- und Beschlusswesen integriert wurde, steht hier nicht im Vordergrund. Stattdessen sollen drei Einzelfälle verdeutlichen, auf welch unterschiedliche Weise Konflikte, die zwar kollektive Züge trugen, mittels der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle auf individuellem Wege ausgetragen wurden. Der erste Fall kam nicht als eigener Tagesordnungspunkt, sondern spontan zur Sprache, als 1980 in der zentralen ASVK der Zastava-Werke ein Bericht darüber verabschiedet werden sollte, wie ein betriebliches Selbstverwaltungsabkommen im Unternehmen angewendet wurde.200 Gemäß dem Prinzip der Dezentralisierung bestanden neben einer ASVK auf zentraler Betriebsebene, bei deren Sitzung im März 1980 51 Mitglieder anwesend waren, auch Arbeiterkontrollen in den Betriebsteilen in und außerhalb von Kragujevac. Die Zentrale war dabei gegenüber den dezentralisierten Einheiten gemäß den Prinzipien der Selbstverwaltung formal nicht weisungsbefugt. Man diskutierte über die Anwendung des Selbstverwaltungsabkommens zur Wohnungsverteilung, das ein Regulierungsinstrument darstellte, um bestimmte Standards in den gesamten Zastava-Werken zu sichern. Als Nebenaspekt kam dabei im Laufe der Sitzung zur Sprache, dass die Praxis der Wohnungsvergabe vielfach nicht den in den Regelwerken niedergelegten Normen entsprach, was die DiskutantInnen als problematische Tatsache explizit anerkannten. Ein Beschäftigter der Servicewerkstätten Zastavas in Belgrad, der im Protokoll nur mit einer Kurzform seines Vornamens als Djura benannt wird, nimmt diesen Gesprächsfaden jedoch auf und fordert Unterstützung der zentralen ASVK. Seit 31 Jahren würde er auf eine Wohnung warten, er hätte schon alle möglichen Beschwerdewege innerhalb und außerhalb des Unternehmens erfolglos genutzt. Der Direktor der Werkstätten in Belgrad hingegen hätte vom Betrieb sowohl eine Wohnung als auch einen Kredit für den Umbau seiner Wohnung bekommen. Diesen hätte der Direktor dann illegal, aber offenbar in nicht unüblicher Weise, dafür verwendet, sich ein Wochenendhaus zu bauen. Djura beschwerte sich darüber vor der zentralen ASVK der Zastava-Werke in einer Weise, die sich häufig in Beschwerdeverfahren fand: Mich interessiert eine Sache: Wie lange muss ich im Sozialismus arbeiten, um eine Wohnung zu bekommen. [sic!] Das ist hier alles schön aufgeschrieben und der Genosse hat das auch schön erklärt, nur dass ich nicht weiß, ob das auch alles so angewandt wird. […] So frage ich mich jetzt, ob ich vielleicht versuchen muss, an noch einer Stelle zu sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, dass mir das Geld zurückgezahlt wird, das sie mir 30 Jahre lang für den Wohnungsfonds genommen haben. Und ich könnte mich damit auf eigene Faust um etwas kümmern.201
Aus seiner Klage spricht die Frustration über ein Gesellschaftssystem, das Solidarität forderte, aber nicht sicherstellen konnte, dass diese dann in den Unter200 Vgl. ZCZ-CA, RK ZCZ, 1980: Zapisnik sa IV sednice Zajedničke samoupravne
radničke kontrole SOUR-a Zavodi „Crvena zastava“, 27.03.1980. 201 Ebenda, 8f.
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nehmen entsprechend der offiziell geltenden Normen auch gelebt wurde. Der Aufgabe zufolge, welche die Verfassung der ASVK zuschrieb, war der Mitarbeiter mit seiner Klage an der richtigen Stelle angelangt. Jedoch nahm man Djura unter dem Hinweis auf die Selbstverwaltungsrechte seines Betriebsteils die Hoffnung, die zentrale Arbeiterkontrolle der Zastava-Werke könnte hier wirksam intervenieren. Die Delegierte Vera K., welche in der zentralen Abteilung Selbstverwaltungsentwicklung und -organisation, also einer Stelle in den Zastava-Werken arbeitete, die ausschließlich für die Begleitung der Selbstverwaltung unterhalten wurde, übernahm die Rolle, Djura von seinen Hoffnungen zu befreien. In ihrer Abteilung wisse man um die Probleme mit seinem Betriebsteil. Das Problem läge darin, dass es kein aktuelles und gültiges Regelwerk für die Wohnungsverteilung in seiner GOVA in Belgrad gäbe. Man hätte seitens ihrer Fachabteilung den Servicewerkstätten zwar Musterrichtlinien zur Wohnungsverteilung zur Verfügung gestellt, die man in der dortigen Selbstverwaltung nur hätte anpassen und verabschieden müssen. Doch dies sei nicht geschehen und es hätte auch nichts genützt, dass Beauftragte ihrer Fachstelle zu Gesprächen nach Belgrad gefahren seien. Vera K. versicherte Djura ihres Mitgefühls, ihr einziger Ratschlag war jedoch folgender: Was Sie persönlich betrifft, so müssen Sie vor allem die Lösung des Problems gemäß dem Regelwerk fordern. Wenn etwas aus diesem Abkommen [das regulierende zentrale Selbstverwaltungsabkommen, U.S.] durchgeht und sie dort nichts hinzufügen, wenn Sie schon 31 Jahre arbeiten und privat wohnen, dann garantiere ich Ihnen, dass Sie ohne Rücksicht auf alle anderen Umstände der erste auf der Rangliste sein werden, denn so ist das Konzept der Kriterien und Maßgaben.202
Vera K. teilte dem Mitarbeiter Djura also mit, die ASVK und die Abteilung Selbstverwaltungsentwicklung und -organisation könnten nichts für ihn tun. Dies läge daran, dass die Selbstverwaltungsrechte der dezentralisierten Betriebsteile sie daran hinderten, da nur Angehörige der jeweiligen Betriebseinheit auf die Vorgänge dort wirksamen Einfluss ausüben könnten. Obwohl mehrere Stellen in Form von Selbstverwaltungsorganen und Fachdiensten existierten, die die Abläufe der Selbstverwaltung begleiteten und kontrollierten, eigneten sie sich also nicht dazu, gegen Machenschaften mächtiger Vertreter in den Verwaltungsstrukturen vorzugehen. Den Auftrag, den die Verfassung der ASVK gab, nämlich „die Durchsetzung und den Schutz der Rechte der Arbeiter in den wechselseitigen Beziehungen bei der Arbeit“203 zu sichern, war sie hier nicht in der Lage zu erfüllen. Auch das „delikate Verhalten bestimmter Subjekte“204 verhinderte sie nicht, wenn wie hier mächtige Personen in der Selbstverwaltung der Servicewerkstätten Zastavas in Belgrad die betrieblichen Strukturen zum persönlichen Vorteil nutzten. Als Mittel, individuelle von der Selbstverwaltung legitimierte Rechte durchzusetzen, so musste der Mitarbeiter Djura erfahren, eignete sich die Arbeiterkontrolle in seinem recht typischen Fall nicht. 202 Ebenda, 11f. 203 Die Verfassung der SFRJ 1974, 169. 204 FILIPOVIĆ, Samoupravne radničke kontrole 10.04.1974.
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In einem zweiten individuell vorgebrachten Anliegen, hatte die angelernte Produktionsarbeiterin Mirjana K. mehr Erfolg als ihr Belgrader Zastava-Kollege Djura, als sie sich im April 1983 an die zentrale Arbeiterkontrolle der Zastava-Werke wandte.205 Die Frau war im Presswerk Zastavas für die Arbeit an großen Pressen eingestellt worden. Im August 1981 teilte man ihr mit, sie solle auf Beschluss einer Kommission des Arbeiterrates an kleine und mittlere Pressen versetzt werden, wo sie weniger verdient hätte. Gegen diesen Entscheid hatte sie zweifach erfolglos beim Arbeiterrat ihres Betriebsteils Einspruch eingelegt, obwohl zwei weiteren identischen Anliegen ihrer Kolleginnen stattgegeben worden war. Die Argumente, welche der Arbeiterrat und die Kommission für ihre Versetzung angeführt hatten, widerlegte sie gegenüber der ASVK mittels entsprechender Dokumente. Die Fürsprache ihrer direkten Vorgesetzten, ärztliche Atteste, der Umstand, dass sie explizit für die Arbeit an den großen Pressen eingestellt und qualifiziert worden war, sprachen offenbar in den Augen der ASVK plausibel für ihr Anliegen. Ihr Schreiben an die ASVK schließt die Arbeiterin folgendermaßen: Warum müssen ich und die anderen Frauen, die mit mir zusammenarbeiten, hier solche Gängelungen erleben. [sic!] Warum versetzen sie uns gegen unseren Willen. [sic!] Ich habe Angst, an die mittleren Pressen zu gehen. Warum werden hier die Rechte des Werktätigen verletzt. [sic!] In der Hoffnung, dass Sie mir entgegen kommen und mein Problem in meinem Sinne lösen werden, bedanke ich mich bei Ihnen im Voraus. Dieser Fall bringt mich dazu, über eine Kündigung nachzudenken.206
Im Gegensatz zu Djura aus dem Belgrader Betriebsteil stellte Mirjana K. aus dem Presswerk Zastavas nicht ihre Loyalität zum sozialistischen Gesellschaftssystem, sondern lediglich die als Arbeiterin zu den Zastava-Werken in Frage. Ebenfalls anders als im vorher betrachteten Fall entschloss sich die ASVK zum Handeln, wofür gemäß der Logik der Selbstverwaltung auch die Grundlagen vorhanden waren. Das Gremium verfasste eine Aufforderung an den Arbeiterrat des Presswerks, in der es Mirjana K.s Argumente bekräftigte und eine Entscheidung im Sinne der Arbeiterin forderte. Aber auch hier stellte das Eingreifen der ASVK nicht mehr als eine Empfehlung an den Arbeiterrat einer dezentralen Einheit des Betriebes dar. Mit ihrer Hartnäckigkeit hatte Mirjana K. dennoch wenigstens erreicht, dass sich ihres Falles angenommen wurde. Wie er entschieden wurde, ist den vorhandenen Quellen nicht zu entnehmen. Auf einer gänzlich anderen Ebene setzte ein Verfahren an, das die Arbeiterkontrolle der Mechanischen Fertigung der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1984 in Gang brachte. Indem sie vorschlug, den Leiter des Lagers der Mechanischen Fertigung wegen nachlässiger Arbeit zu entlassen, agierte sie als Kontrolleurin von Abläufen im Betrieb.207 In Zeiten wirtschaftlicher Anspannung, stärkerer Budgetkontrolle und des Drucks des italienischen Unternehmens FIAT, für das 205 Vgl. ZCZ-CA, SRK ZCZ, 1983: Zapisnik sa 17. sednice Samoupravne radničke
kontrole Zavoda, 11.04.1983, S. 15–17. 206 Vgl. ebenda, 17.
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Zastava Fahrzeugteile lieferte, kam es in dieser Zeit regelmäßig vor, dass die Arbeiterkontrolle die Tätigkeit leitender MitarbeiterInnen überprüfte und beanstandete.208 Der Fall des Lagerleiters Rajko T. ist hier von Interesse, da er auch die Lesart ins Spiel brachte, die ASVK könne von einflussreichen MitarbeiterInnen missbraucht werden, um persönliche Konflikte und Machtkämpfe auszutragen. Das Gremium schlug vor, Rajko T. zu entlassen, da er gewohnheitsmäßig nachlässig arbeiten und damit dem Betriebsteil großen finanziellen Schaden zufügen würde. In einem Beschluss begründet es diesen Vorschlag damit, dass viele Fahrzeugteile durch unsachgemäße Lagerung, die in Rajko T.s Verantwortung lag, unbrauchbar geworden seien: Alle diese Teile sind vom Regen beschädigt. Diese verantwortliche Person hatte die Pflicht, das gesellschaftliche Eigentum auf jede mögliche Art zu schützen. [...] Mit seinem unverantwortlichen Verhalten gegenüber dem gesellschaftlichen Eigentum, das er hätte bewahren und vor dem Verfall retten müssen, hat dieser Leiter an seinem Arbeitsplatz nicht ausreichend verantwortungsvoll gehandelt.209
In der Arbeiterratssitzung der Mechanischen Fertigung drei Monate später, die über den Vorschlag der ASVK entscheiden sollte, war der Leiter des Lagers anwesend und es entspann sich eine Diskussion darüber, inwiefern Rajko T. tatsächlich als verantwortlich für die Schäden anzusehen sei.210 Undichte Dächer oder generell fehlender Lagerraum hätten in die Beschädigung der Teile hineingespielt, Faktoren, die zu komplex seien, um allein seiner Verantwortung zuzufallen. Neben diesen in der Sache begründeten Argumenten brachte Rajko T. die Interpretation ein, der Vorsitzende der ASVK, Božidar J. persönlich intendiere, ihn von seinem Posten zu entfernen. Detailliert führte Rajko T. an, welche Verfahrensfehler während der Kontrolle gemacht worden seien und drohte, sich mit rechtlichen Mitteln zu wehren: Ich verberge nicht, dass ich das gesamte verfügbare Material dem Gericht übergeben werde, denn das ist die einzige Art, auf die ich diese ganzen Ungerechtigkeiten ausgleichen kann, die die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle meinem Ruf in den Zastava-Werken und der Stadt zufügt. [..] Ich muss hier auch meinen Ruf als Kommunist verteidigen. Ich bin ein gesellschaftspolitischer Arbeiter [Funktionär, U.S.] in Kragujevac. Wenn mich jetzt jemand anruft und fragt, was denn da bei Zastava mit mir passiert. Ich sage es noch einmal, zwischen mir und dem Genossen [Božidar J., U.S.] gibt es nichts Persönliches.211
207 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zaključak 4 sa 8. sednice Samoupravne
Radničke kontrole OOUR-a „Mehanička obrada“ FPV, 13.12.1984. 208 Vgl. ZCZ-CA, SRK ZCZ, 1983: Zapisnik sa 17. sednice, 11.04.1983; ZCZ-FPV, RS
OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa 9. sednice Samoupravne Radničke kontrole OOUR-a „Mehanička obrada“, 02.02.1985. 209 ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zaključak 4 sa 8. sednice, 13.12.1984. 210 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa nastavka drugog dela 38. sednice Radničkog saveta OOUR-a „Mehanička obrada FPV“, 14.03.1985, S. 1–7. 211 Ebenda, 4, 6.
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Abgesehen vom Widerspruch bezüglich des Verhältnisses zu Božidar J. wird deutlich, dass für Rajko T. nicht nur seine Arbeitsplatz, sondern auch seine gesellschaftliche Stellung als Funktionär verhandelt wurde. Die Erwähnung seiner Mitgliedschaft im BdKJ und seiner Funktionen in der Gemeinde Kragujevac lässt sich zudem als Drohung an diejenigen verstehen, welche ihn im Betrieb für regelmäßig begangene Versäumnisse zur Rechenschaft ziehen wollten. In einer Replik verteidigte Božidar J. dagegen die undankbare Rolle, die seinem Gremium oft zufiele: „Wo auch immer die Arbeiterkontrolle hinkommt, was auch immer sie findet, immer ist sie am Ende diejenige, die vermeintlich schlecht sei. Sie wissen, dass das so ist.“212 Ein Delegierter des Arbeiterrats jedoch hielt dagegen, dass die ASVK über zu große Machtfülle verfüge. Dies, so zeigt das zuvor diskutierte Beispiel des Mitarbeiters der Service-Werkstätten, hing jedoch stark davon ab, ob sich das Gremium überhaupt zu entschiedenem Handeln durchrang. In Fällen, in denen sich ein Beschäftigter, der über keine Machtmittel im Betrieb verfügte, individuell über strukturell ausgeprägte Missstände beschwerte, drohten den Verantwortlichen, wie der Fall Djuras zeigt, keine Konsequenzen. Letztendlich wogen hingegen die Einwände des Lagerleiters Rajko T. im Arbeiterrat so schwer, dass sich das Gremium gegen den vorgesehenen Weg der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens entschied. Eine Disziplinarkommission wäre befugt gewesen, eine Kündigung vorzuschlagen, welche dann wiederum mittels Beschwerde im Arbeiterrat und den übergeordneten Instanzen hätte angefochten werden können. Stattdessen einigten sich die Delegierten im Arbeiterrat darauf, eine Untersuchungskommission zu bilden, die binnen fünfzehn Tagen die Vorwürfe der ASVK prüfen sollte. Auf die Tätigkeit einer Kontrollinstanz, welche in dieser Form erst in den 1970er Jahren geschaffen worden war, antwortete man hier also damit, dass man aus dem Arbeiterrat heraus zusätzlich noch eine zeitweilige Kommission gründete, die sich mit den Erkenntnissen der Kontrollinstanz ASVK beschäftigen sollte. Misstrauen in die Arbeit der ASVK sowie die starke Stellung desjenigen, der wie Rajko T. von ihren Entscheidungen einen Nachteil davon getragen hätte, mündeten in weiteren Verzweigungen des ohnehin schon in viele Instanzen zergliederte Selbstverwaltungssystem. Das Verfahren gegen den Leiter des Lagers der Mechanischen Fertigung Rajko T. belegt, dass die ASVK in der angespannten Lage, die in der Mitte der 1980er Jahre herrschte, durchaus ihre Aufgaben wahrzunehmen gewillt war. Ein solches Handeln lässt sich als Konsequenz von auch öffentlichen Appellen der frühen 1980er Jahre lesen, nicht nur Beschäftigte am unteren Ende der Qualifikations- und Einflussskala und damit diejenigen mit dem wenigsten Einfluss disziplinarisch zu belangen.213 Insofern konnte die gesellschaftliche Krisensituation bewirken, dass die Bereitschaft wuchs, Fehlverhalten mächtiger Belegschaftsmitglieder nicht (mehr) systematisch zu ignorieren. Unabhängig davon, 212 Ebenda, 6. 213 Vgl. Z. OSREČKI / Ž. GLIŠOVIĆ , Okrugli sto: Odgovornije o (ne)odgovornosti, Crvena
zastava, 9.2.1983, 4.
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ob dies hier tatsächlich der Fall war, wird andererseits deutlich, dass die Arbeiterkontrolle als Machtinstrument missbraucht werden konnte. Je nach Verteilung des Einflusses von Leitungspersonen, verfügte die Arbeiterkontrolle über das Potential, persönliche GegnerInnen um ihren Ruf und ihren Arbeitsplatz zu bringen.
Fazit Die drei hier geschilderten Verfahren aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre bei Zastava stellten, wie bereits betont, nur einen Ausschnitt der Aktivitäten der Arbeiterkontrolle dar. Daraufhin befragt, inwiefern sie als Instrument diente, mit denen Beschäftigte ihre Interessen individuell verfolgten, ergibt sich ein mehrschichtiges Bild. Einerseits repräsentierte sie einen weiteren Baustein eines Institutionengefüges, das Funktionen mehrfach verschiedenen Stellen zuordnete und somit Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verwischte. Die ASVK konnte aber auch als Korrektiv wirken, indem sie von außerhalb des Tagesgeschäfts Konfliktfälle und Unregelmäßigkeiten bewertete und in die Arbeiterräte entsprechende Gutachten und Vorschläge einbrachte. Dabei wurde sie Ausdruck bestehender betrieblicher Machtverhältnisse. Das konnte einerseits bedeuten, dass wenig einflussreichen Mitgliedern der Belegschaften die Existenz der Arbeiterkontrolle nichts nützte, da ihre Delegierten nicht Willens waren, sich entschieden ihrer Probleme anzunehmen. Andererseits konnte es bedeuten, dass exponierte Mitglieder der Belegschaften sie in Konflikten innerhalb einflussreicher Kreise im Betrieb (oder darüber hinaus) gezielt einsetzten. Die Grenzen, die das Arbeiterselbstverwaltungssystem der Handlungsmacht der Arbeiterkontrolle setzte, beschränkten von vornherein ihre Fähigkeit, durchsetzungsfähige Entschlüsse zu fassen. Dezentralisierung und die formal übergeordnete Stellung anderer Selbstverwaltungsgremien wie des Arbeiterrats schränkten ihre Wirksamkeit von Beginn an ein. Auf den Legitimationsdruck, dem sich die politische Führung an der Wende der 1960er zu den 1970er Jahren ausgesetzt sah, antwortete sie unter anderem mit Reformen der Selbstverwaltung, die den ArbeiterInnen die Macht geben sollte, welche sie laut geltender Staatsdoktrin bereits innehatten. In diesem Sinne kann die ASVK als Element im Selbstverwaltungssystem interpretiert werden, das den Eindruck erwecken sollte, den ProduktionsarbeiterInnen würden nun tatsächlich mehr Partizipations- bzw. Kontrollmöglichkeiten gegeben. Die Praxis zeigt, dass sie einerseits die Funktion eines ideologischen Ablenkungsmanövers erfüllte. Andererseits konnte sie in einem normativen System, das die Diffusion von Verantwortung begünstigte, in den beginnenden 1980er Jahren in einem Klima, das stärker nach Kontrolle und Verantwortungsbewusstsein verlangte, Akzente setzen und Missständen auf den Grund gehen. Dies wiederum konnte jedoch anstatt die Klärung von Zuständigkeiten zu bewirken, die Diffusion noch verstärken, wie der Fall Rajko T.s demonstriert.
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4.2.3.Zunehmende Komplexität in den 1970er Jahren II: Die Gerichte der vereinten Arbeit Wenn Beschäftigte Konflikte am Arbeitsplatz nicht über Einspruchsverfahren beim Arbeiterrat oder über die ASVK lösen konnten, standen ihnen außerbetriebliche Gerichte zur Verfügung. Die Grundlagen ihrer Arbeit und die Funktionen, welche sie damit erfüllten, sollen im Folgenden diskutiert werden ein Licht darauf, wie betriebliche Einspruchsverfahren und Streitsachen vor Gericht ineinander griffen. Bis zur Verabschiedung der Verfassung von 1974 konnten sich Beschäftigte an die Gemeindegerichte wenden. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden die sogenannten Selbstverwaltungsgerichte ausgebaut, die als Elemente des „absterbenden Staates“ verstanden werden sollten. In einem auf Deutsch publiziertem Lexikon zum jugoslawischen Gesellschaftssystem von 1980 hieß es, Selbstverwaltungsgerichte seien „unmittelbarer Ausdruck der Herrschaft der Arbeiterklasse und aller Werktätigen auf dem Gebiet der Ausübung der Gerichtsfunktion“.214 In ihrem ideologischen Anspruch, Gerichtsfunktionen durch die unteren Ebenen der Gesellschaft ausüben zu lassen, sind sie den 1968 in der DDR eingeführten „gesellschaftlichen Gerichten“ nicht unähnlich.215 Als die konkreteste Form der Selbstverwaltungsgerichte wurden 1974 die Gerichte der vereinten Arbeit (Srb.: „sud udruženog rada“, Slow.: „sodišče združenega dela“) ins Leben gerufen. In zwei Instanzen, auf Gemeinde- und auf Republiksebene sollten sie fortan Konflikte lösen, die innerhalb von und zwischen Betrieben auftraten. In einem Selbstverwaltungssystem, das in der ersten Hälfte der 1970er Jahre stark ausgebaut wurde, kamen den neuen Gerichten Kontroll-, Steuerungs-, Präventionsund Legitimierungsfunktionen zu. Zeitgleich mit einer gewollten Ausfächerung des Systems wurde hier eine weitere Institution geschaffen, die eben diese Komplexität ordnen sollte. Unter anderem gehörte es so zu den Aufgaben des Gerichts, zu prüfen, ob die Statuten und Regelwerke der Betriebe und ihrer Untereinheiten in Einklang mit geltenden übergeordneten Regelungen standen.216 Solche Regelungen konnten die Verfassung(en), Gesetze, aber auch die gesellschaftlichen Vereinbarungen und Selbstverwaltungsabkommen sein. Die letzteren beiden wurden mit den Verfassungszusätzen 1971 als Steuerungsinstrumente eingeführt, welche auf die Harmonisierung von dezentral erlassenen Selbstverwaltungsakten abzielten und gleichzeitig auch den Charakter von wirtschaftspolitischen Instrumenten hatten. Mit der Steuerungsfunktion der Gerichte der vereinten Arbeit ging die Präventionsfunktion einher. So berieten die Gerichte an Konflikten beteiligte Be214 Z. ISAKOVIĆ, Gerichte, in: Bogdan TRIFUNOVIĆ (Hg.), Die sozialistische Selbstverwal-
tung in Jugoslawien. Grundbegriffe. Belgrad 1980, 150–152, 151. 215 Vgl. Marion HAGE, Betriebliche Konflikthandhabung in der DDR und der Bundes-
republik. Hamburg 2001, 63f. 216 Vgl. Art. 4 im Gesetz über die Gerichte der vereinten Arbeit der Republik Sloweni-
en: Zakon o Sodiščih združenega dela (republiški), in: Sodišča združenega dela. Ljubljana 1975, 41–55.
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triebe zu Fragen, wie sie ihre Regelwerke widerspruchsfrei gestalten konnten. Berichte sowohl aus den 1970er als auch aus der Mitte der 1980er Jahre maßen dieser Tätigkeit der Gerichte, welche vor allem der Vorbeugung von Konflikten dienen sollte, große Bedeutung bei.217 Als Kontrollinstrument konnten sie fungieren, indem ihre jährlichen Berichte an die Partei und die Massenorganisationen Auskunft über jeweils aktuelle Konfliktlagen gaben.218 Obwohl auch die Partei- und Massenorganisationen der Betriebe Statusberichte an höhere Ebenen abzugeben hatten, konnten in dem stark dezentralisierten System die Informationen der Gerichte zusätzlich einen Seismograf für Entwicklungen an der gesellschaftlichen Basis darstellen. Als Instrument zur Legitimierung des Selbstverwaltungssystems waren die Gerichte deshalb geeignet, weil es eine ihrer verfassungsmäßig verbrieften Aufgaben war, über die Einhaltung der „Selbstverwaltungsrechte“ von Beschäftigten und Betrieben zu wachen.219 Mit der Einrichtung der Gerichte der vereinten Arbeit konnte die Staatsführung demonstrieren, dass sie dem Missbrauch von Macht in Betrieben nicht gleichgültig gegenüber stand und dass ihr daran lag, über die „Gesetzlichkeit“ und „Verfassungsmäßigkeit“ in der selbstverwalterischen Praxis zu wachen. Als Bezugsrahmen galten jedoch die oft widersprüchlichen Prinzipien der Selbstverwaltung, sodass eine grundsätzliche Verhandlung ihrer Schwächen mittels dieser Institution ausgeschlossen war. Dennoch konnten die Gerichte als Ventil dienen, über das Beschäftigte auftretendem Unmut Ausdruck verleihen konnten und einzelne Konflikte auf einem vom Staat reguliertem Wege bearbeitet werden konnten. Die Tätigkeit der Gerichte der vereinten Arbeit war in einer Zwischenstellung oberhalb der betrieblichern Selbstverwaltung und unterhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit angesiedelt, wobei Verfahren sowohl von Beschäftigten als auch von Betrieben in Gang gesetzt werden konnten. In der offiziellen Terminologie erhob niemand Anklage, sondern Fälle wurden „vorgeschlagen“. KlägerInnen und Beklagte wurden als „Teilnehmer“ der Verfahren bezeichnet.220 Die Senate der Gerichte, in denen professionelle JuristInnen und Laien zusammenarbeiteten, entschieden die Verfahren. Gute Kenntnis des Selbstverwaltungssystems und „Erfahrung in der politischen Arbeit“ galten dabei als Voraussetzungen für die Tätigkeit bei Gericht. In ihren Verfahren waren die Gerichte zur Beweisaufnahme befugt, sie durften Beteiligte als Zeugen befragen und Unterlagen aus den Betrieben anfordern. Entscheidungen der Gerichte der vereinten Arbeit wurden jedoch nicht als rechtskräftige Urteile verkündet, sondern hatten lediglich den Charakter von „Vorschlägen“ an die Beteiligten.221 In manchem ähnelte die217 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 123: Poročilo o delu sodišča združenega dela za leto
218 219 220 221
1976, 25.04.1977, S. 6; 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda udruženog rada u Požarevcu. Požarevac 1985, 48f. Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 123: Poročilo o delu sodišča, 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda, 53. Vgl. Art. 226 in der Bundesverfassung von 1974: Die Verfassung der SFRJ 1974. Vgl. Anton SAVINŠEK, Uvod, in: Sodišča združenega dela, 5–15, 15. Vgl. ebenda, 12–15.
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se Verfahrensweise der Gerichte somit derjenigen der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle. Wie lässt sich die Rolle der Gerichte der vereinten Arbeit in der Praxis der Konfliktaustragung charakterisieren? Sowohl Maribor als auch Kragujevac waren die Zentren von Großgemeinden (Srb.: „opština“, Slow.: „občina“), die aus mehreren Orten bestanden. Somit verfügten sie über den Sitz sowohl eines allgemeinen als auch eines Gerichtes der vereinten Arbeit. Zu Beginn der 1980er Jahre machten gemessen an den absoluten Zahlen die BürgerInnen in Kragujevac viel reger Gebrauch vom Gericht der vereinten Arbeit als in Maribor, obwohl die Bevölkerungszahl und die Zahl der IndustriearbeiterInnen in der Gemeinde niedriger waren als in der slowenischen Stadt. Tabelle 1: Fallzahlen der Gerichte der vereinten Arbeit und Gemeindegrößen zu Beginn der 1980er Jahre222
Fälle vor Bevölkedem Gericht rungszahl der vereinten der Arbeit 1983 Gemeinde 1981
Beschäftigte Beschäftigte im in Industrie gesellschaft- und Bergbau lichen 30.09.1983 Sektor 30.09.1983
Maribor
1.264
185.699
92.625
39.748
Kragujevac
3.838
164.823
55.807
27.054
Die höheren Fallzahlen in Kragujevac können einerseits ein Indikator dafür sein, dass in Maribor innerbetriebliche Konfliktlösungswege besser funktionierten. Andererseits ist es aber auch möglich, dass Mariborer ArbeiterInnen und Angestellte beim Gang vor Gericht eher negative Konsequenzen am Arbeitsplatz befürchteten und deswegen seltener diesen Schritt gingen als Beschäftigte in Kragujevac. Aber auch schärfere Verteilungskonflikte angesichts hoher Arbeitslosigkeit und drängenderer Wohnungsprobleme können eine Erklärung für die hohe Zahl der Kragujevacer Gerichtsverfahren liefern.
222 Anzahl der Fälle vor dem Gericht der vereinten Arbeit: Vgl. SI-PAM, f. 1911;
1975–1985. Deset godina Osnovnog suda, 40. Bevölkerungszahl der Gemeinden 1981: SGJ 1984, 619, 621, 622. Für 1983 gibt es diese Daten nicht, da sie nur bei allgemeinen Volkszählungen erhoben wurden. Die letzte vor 1983 fand 1981 statt. Zahl der Beschäftigten im gesellschaftlichen Sektor/ in Industrie und Bergbau den Gemeinden 1983: SGJ 1984, 629, 631–632.
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Nach seiner Gründung im Jahr 1975 wurde das Gericht der vereinten Arbeit in Maribor bis 1983 jedes Jahr häufiger als im jeweiligen Vorjahr angerufen. In den ersten Jahren mag dies damit zusammengehangen haben, dass Fälle von ordentlichen Gerichten jetzt von Gerichten der vereinten Arbeit übernommen wurden. Indes hatte das Gericht anfangs offenbar mit einem geringeren Arbeitsumfang gerechnet, spricht doch ein Bericht aus Maribor 1976 davon, dass die geplante Kapazität von dreihundert Fällen pro Jahr um sechsundfünfzig Streitfälle überschritten worden sei.223 Der Bedarf an außerbetrieblicher Lösung von Konflikten war somit größer als die örtliche Verwaltung angenommen hatte. Ein deutlicher Sprung im Arbeitsaufkommen der Gerichte der vereinten Arbeit in Maribor ist zwischen 1980 und 1981 zu erkennen, was mit der sich verschärfenden wirtschaftlichen Lage zu tun haben kann und mit den Konflikten, die sich in den Betrieben daraus ergaben. Das Jahr 1983, das als außerordentliches Krisenjahr gilt, verzeichnete den vorläufigen Höhepunkt.224
Fälle vor dem Gericht der vereinten Arbeit Maribor 1976–1989 1400 1200
Fallzahlen
1000 800 600 400 200 0 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 Abbildung 6: Anzahl der Fälle vor dem Gericht der vereinten Arbeit Maribor 1976– 1989, Quelle: SI-PAM, f. 1911.
In Kragujevac hingegen markierte das Jahr 1983 nicht den Höhepunkt in der Inanspruchnahme der Gerichte der vereinten Arbeit. Stattdessen stiegen Fallzahlen zwischen 1983 und 1984 von 3.838 auf 4.015 weiter an.225 Andere Städte des engeren Serbien außerhalb der autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo wie Belgrad, Niš, Čačak und Titovo Užice verzeichneten in diesem Zeitraum 223 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 123: Poročilo o delu sodišča, 3. 224 SI-PAM, f. 1911. 225 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda, 40.
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ebenfalls einen Anstieg der Fallzahlen,226 sodass dies als allgemeiner Trend für die Republik gelten kann. Die Fallzahlen vor den Gerichten können als Indikator für die Intensität von sozialen Konflikten in selbstverwalteten Betrieben dienen, wobei sich in Maribor im Gegensatz zu Kragujevac 1984 eine Entspannung der Situation andeutete.
Betriebe als Initiatoren von Verfahren Da sowohl Beschäftigte als auch Unternehmen Fälle „vorschlagen“ konnten, lohnt sich ein Blick darauf, wie die Initiative für Verfahren verteilt war. Da für Kragujevac keine Quellen aus dem Gerichtsbestand zugänglich gewesen sind, muss im Weiteren für Serbien auf Daten aus Požarevac ausgewichen werden. Die Gemeinde Požarevac unterscheidet sich von Kragujevac durch ihre größere Nähe zu Belgrad (80 Kilometer gegenüber 150 Kilometer), geringere Einwohnerzahl von knapp 80.000 im Jahr 1981 (damit etwa halb so groß wie Kragujevac) und durch eine Dominanz von Nahrungsmittel-, Textil- und Stromindustrie. Die IndustriearbeiterInnen insgesamt stellten zudem einen viel geringeren Anteil der Beschäftigten im gesellschaftlichen Sektor als in Kragujevac. Eine Jubiläumspublikation des Gerichts der vereinten Arbeit in Požarevac von 1985 bezifferte den Anteil der Fälle, in denen Beschäftigte sich an das Gericht wandten für das erste Jahrzehnt mit 90 bis 98 %.227 Somit brachten die Betriebe nur zwischen 2 und 10 % der Fälle in Gang. Mary McAuley, die eine ähnliche Verteilung bei Arbeitsstreitigkeiten vor sowjetischen Gerichten an der Wende der 1950er zu den 1960er Jahren anführte, argumentiert in einer Studie von 1969, dass Betriebe nur klagen würden, wenn für sie größere Summen im Spiel seien oder sie ein Exempel statuieren wollten.228 Eine analoge Situation ist auch für Jugoslawien plausibel, wie Fälle zu Wohnungsstreitigkeiten aus Maribor nahelegen. Wohnungen zu bauen und den MitarbeiterInnen zur Verfügung zu stellen, war ein kostspieliges Unterfangen, das viele Konflikte in den Betrieben hervorrief. Die Wohnungsvergabe Wohnungsvergabe fungierte unter anderem als sozialpolitisches Instrument, um MitarbeiterInnen an Betriebe zu binden. Verließen sie ein Unternehmen, mussten ehemalige Beschäftigte die Betriebswohnungen räumen oder Kredite für den individuellen Wohnungsbau zurückzahlen. Das Mariborer Unternehmen EM Hidromontaža verfügte sogar über ein gesondertes Formular, mit dem es Rückzahlungsforderungen von Baukrediten an ehemalige MitarbeiterInnen dem Gericht übergab.229 Anscheinend war dies ein häufig auftretender Fall, auf den die Rechtsabteilung des mehrere Tausend Beschäftigte zählenden Unternehmens systematisch und regelmäßig mit Verfahren vor Gericht reagierte. 226 Ebenda. 227 Ebenda, 42. 228 Vgl. Mary MCAULEY, Labour Disputes in Soviet Russia 1957–1965. Oxford 1969,
208. 229 Vgl. SI-PAM f. 1991, šk. 137.
137
Fragmentarische Daten aus Maribor legen nahe, dass Unternehmen sowohl in den 1970er als auch in den 1980er Jahren mittels Verfahren vor den Gerichten der vereinten Arbeit in den häufigsten Fällen versuchten, Gebühren für Weiterbildungen von ehemaligen Beschäftigten zurück zu verlangen.230 Wie McAuley für das Beispiel der nachstalinistischen Sowjetunion feststellte, wurden Fälle gegen ehemalige MitarbeiterInnen typischerweise vor Gerichten und nicht in den Betrieben verhandelt. Der Grund dafür lag im Status der Beschäftigten, denn ein Konflikt mit jemandem, der dem Betrieb nicht mehr angehörte, konnte nicht in einer betrieblichen Konfliktkommission verhandelt werden,231 was ohne weiteres auch für Jugoslawien gelten kann. Wenn Unternehmen ihren Beschäftigten Aus- und Weiterbildung förderten, koppelten sie die Finanzierung vertraglich an eine bestimmte Verweildauer in den Betrieben. Häufig kam es vor, dass Beschäftigte nach beendeter Ausbildung nicht für die vereinbarte Dauer im Betrieb blieben, sondern in andere Unternehmen wechselten. Da qualifiziertes Personal unter Bedingungen, in denen in- und ausländische Unternehmen um Arbeitskräfte konkurrierten, einen sensiblen Faktor für die Produktion in Maribor darstellte, konnte Personalmangel ein großes Produktionshindernis sein (siehe Kapitel 5.3.). Zwischen 1975 und 1984 häuften sich in Maribor Fälle, in denen größere Unternehmen wie TAM, die über ausgebaute Rechtsabteilungen verfügten, auf diese Weise versuchten, Ansprüche gegenüber früheren MitarbeiterInnen geltend zu machen.232 Laut Tätigkeitsbericht des Mariborer Gerichts der vereinten Arbeit des Jahres 1976 hatten 12 % aller vor Gericht verhandelter 356 Fälle solche Forderungen zum Gegenstand.233 Obwohl das Gericht mit 60 % einen hohen Anteil der finanziellen Forderungen von Unternehmen unterstützte, kritisierte es in Berichten an die Massenorganisationen einige übertriebene Forderungen als nicht konform mit der sozialistischen Moral und der Verfassung: Beispiele sind nicht selten, in denen Organisationen der vereinten Arbeit die Rückzahlung für 14-tägige Kurse forderten, wenn ein Mitarbeiter für diesen Vorteil der Qualifizierung nach Beendigung des Kurses zwei Jahre in der Grundorganisation bleiben musste, was augenscheinlich nicht in Einklang mit den Verfassungsgrundsätzen und der Moral der selbstverwalteten sozialistischen Gesellschaft steht.234
Das Gericht nahm hier die Wahrung von „Selbstverwaltungsrechten“ formal sehr ernst und brachte gegen vier Mariborer Unternehmen Verfassungsklagen in Gang. Die Waggonfabrik TVT „Boris Kidrič“235, die sich zu der Zeit in einer 230 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 3, 31, 137. 231 Vgl. ebenda, 237. 232 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 31, 137; SI-PAM, f. 1341, šk. 123: Poročilo o delu so-
dišča, 11. 233 Vgl. ebenda. 234 Ebenda. 235 Die Tovarna vozil in toplotne tehnike „Boris Kidrič“ (Fahrzeug und Wärmetech-
nikfabrik `Boris Kidrič) Maribor entstand aus der Keimzelle der Mariborer Industrie, den 1863 gegründeten Mariborer Südbahnwerken.
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umstrittenen Union mit TAM befand, sowie drei weitere Unternehmen erwarteten nun Verfahren. Der Vorwurf lautete, dass ihre betrieblichen Regelwerke zu Lohnfragen, Kündigung im Disziplinarfall, Weiterbildung und Selbstverwaltungsabläufen nicht im Einklang mit der zwei Jahre zuvor verabschiedeten Verfassung stünden. Im Mariborer Bericht von 1976 wurde demnach die Nichtübereinstimmung betrieblicher Regelwerke mit der Verfassung noch als ein vorübergehender, behebbarer Makel eingestuft.
Beschäftigte als InitiatorInnen von Verfahren Die meisten Verfahren vor den Gerichten stießen jedoch nicht die Betriebe selbst, sondern die Mitglieder der Belegschaften an, wobei keine der vorhandenen Statistiken differenziert, ob es sich um ArbeiterInnen oder Angestellte handelte. Der Charakter vieler Streitsachen ähnelte denen, die auch in betrieblichen Einspruchsverfahren behandelt wurden: Lohnkonflikte, Disziplinarstrafen sowie Ansprüche auf Entschädigungszahlungen wegen gesundheitlicher Folgen der Arbeit dominieren das Bild.236 Wenn jemand eine Streitsache vor Gericht brachte, drückte sich darin allein bereits eine höhere Intensität in einem Lohnkonflikt aus als in einem Einspruchsverfahren innerhalb des Betriebes. Das Požarevacer Gericht der vereinten Arbeit machte für die Periode 1975-1985 die betrieblichen Regelwerke als dauerhafte Ursache für Konflikte um Geldforderungen aus, wobei es wie das Mariborer Gericht 1976 Bezüge zum Verfassungsprinzip „Verteilung entsprechend geleisteter Arbeit und Ergebnisse der Arbeit“ herstellte. Indem das Gericht darauf hinwies, dass die Betriebsordnungen die verfassungsmäßig geforderte Lohnverteilung schlecht operationalisierten, konnte es sich selbst in seiner Rolle als Wahrer von Rechten der ArbeiterInnen inszenieren, zugleich aber auch Forderungen von ArbeiterInnen als illegitim kritisieren: Das Fehlen entsprechender Kriterien und Maßstäbe bei der Vergütung entsprechend der Arbeitsergebnisse hatte die Erhebung von Forderungen derjenigen Arbeiter zur Folge, die objektiv nicht entsprechend der erreichten Resultate vergütet worden sind, aber es gab auch Forderungen, das Recht auf höheres Einkommen an den Arbeitsergebnissen vorbei zu realisieren.237
Streitfälle vor Gericht machen sichtbar, dass das in der Verfassung festgelegte Prinzip zur Lohnverteilung in der Praxis wenig zufriedenstellend umgesetzt wurde, indem Betriebe die Lohnhöhen häufig – so der Bericht aus Požarevac – willkürlich, subjektiv und ohne Dokumentation festgelegten. Die fälschliche Orientierung an formaler Bildung statt an den konkreten Arbeitsaufgaben, Unregelmäßigkeiten in Selbstverwaltungsprozessen, aber auch zu komplizierte Lohnordnungen seien die Ursachen für die Konflikte.238 Hier wird deutlich, dass die Gerichte gezwungen waren, innerhalb des Rahmens der Selbstverwaltungsideologie zu argumentieren, auch wenn dies in Widersprüchen mündete. Wenn 236 Vgl. 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda, 58–60; SI-PAM, f. 1911, šk. 3, šk.
31, šk. 137. 237 Ebenda, 58. 238 Vgl. ebenda, 58f.
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sie einerseits zu komplizierte, mit Fachsprache und Formeln überfrachtete Lohnordnungen kritisierten und andererseits inkorrekte, weil informell abgewickelte, Verfahren zur Lohnfestsetzung, dann liegt nahe, dass die Gerichte die konkreten Probleme nicht benennen konnten. Das Verfassungsprinzip „Vergütung entsprechend der geleisteten Arbeit und der Arbeitsergebnisse“ setzte die objektive betriebswirtschaftliche Messbarkeit des individuellen Arbeitserfolges voraus, was sich in den meisten Fällen als kompliziert oder unmöglich erwies. Lohnordnungen, die mit großem Detailreichtum und Komplexität auf die Forderung nach solcher Messbarkeit reagierten – oder dies zumindest vorgaben – wurden als unverständlich kritisiert. Wenn informelle Praktiken offenbar wurden, die teilweise als Folge schwer umsetzbarer Vergabeprinzipien interpretiert werden können, so zog dies ebenfalls Kritik nach sich. Die Gerichte der vereinten Arbeit konnten dann zwar auf die Vereinfachung und Konkretisierung von Lohnrichtlinien drängen, sie konnten auch Fälle von Missbrauch aufdecken, aber Ansätze für grundsätzliche Lösungen konnten sie nicht liefern. Im Unterschied zu den Einspruchsverfahren innerhalb der Betriebe lassen die Gerichtsverfahren detailliertere Einblicke in Ebenen von Konflikten zu, die bei der Analyse der innerbetrieblichen Einspruchspraxis oft verborgen bleiben. Der Fall von Ladislav Š. aus dem Jahr 1979 illustriert, welche Dynamik sich aus persönlichen Differenzen zwischen hierarchisch hoch stehenden Beschäftigten im Mariborer Betrieb TVT „Boris Kidrič“ ergeben konnte, die sich konkret in einem Lohnkonflikt manifestierte.239 Konkurrenz oder persönliche Auseinandersetzungen wurden hier mit Mitteln, welche die Selbstverwaltung zur Verfügung stellte, ausgetragen, informelle und formale Handlungsoptionen griffen ineinander: Ladislav Š., offenbar ein Mitarbeiter in Leitungsposition, war die lohnrelevante Einschätzung seines „Arbeitserfolgs“ von 22 % auf 15 % abgesenkt worden. Er hatte dagegen vor dem Arbeiterrat erfolglos Einspruch eingelegt und trug daraufhin seinen Fall vor Gericht, was darin mündete, dass der Beschluss des Arbeiterrats aufgehoben wurde und sein „Arbeitserfolg“ wieder mit den ursprünglichen 22 % beziffert wurde. Das Gericht fand in seiner Untersuchung heraus, dass der Direktor des Betriebs TVT „Boris Kidrič“ wegen persönlicher Konflikte Ladislav Š.s „Arbeitserfolg“ von 22 % auf 0 % senken wollte. Die Kommission zur Festsetzung des Arbeitserfolges hatte vermittelnd eingegriffen und eine Absenkung auf nur 15 % beschlossen. In einem weiteren Schritt hatte Ladislav Š. gegen diese Entscheidung vor dem Arbeiterrat Einspruch eingelegt, der aber abgelehnt worden war, woraufhin sich der Geschädigte an eine höhere Instanz – das Gericht – wandte. Dieses stellte fest, dass die ausschlaggebenden Gründe für die Kommissionsentscheidung nicht dokumentiert worden waren und somit die Entscheidung nicht nachvollziehbar war. Aus diesem Grund erklärte das Gericht der vereinigten Arbeit die Kommissionsentscheidung für „ungesetzlich“ (Slow.: „nezakonito“) und hob sie auf. Es stellte also fest, dass eine Entscheidung getroffen worden war, die nicht den Prinzipien der Selbstverwaltung entsprach – in diesem Falle der Orientierung an per Lohnordnung nieder239 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 31: Odločba, 24.01.1979.
140
gelegten, nachvollziehbaren Kriterien. In der Anhörung des Vorsitzenden der Kommission zur Festsetzung des Arbeitserfolges gab dieser zu Protokoll, dass die Kommission die Einschätzung von 15 % nur aufgrund der schlechten gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Vorschlagenden [Ladislav Š., U.S.] und den anderen leitenden Arbeitern angenommen hat und dass sie weder die Menge noch die Qualität oder die Wirtschaftlichkeit der Arbeit festgestellt hat, welche der vorschlagende Teilnehmer ausgeführt hat.240
Die Kommission stand laut Erkenntnissen des Gerichts also deutlich unter dem Einfluss der anderen leitenden MitarbeiterInnen und verletzte mit der intransparenten Entscheidung mehrere Bestimmungen der Lohnordnung. Da die Absenkung des Einkommens für Ladislav Š. nur in den „gegenseitigen Beziehungen“ und nicht in messbar niedrigerem Arbeitserfolg begründet lag, konnte das Gericht die Entscheidungen der Kommission aufheben. Bis zu einer neuerlichen Einschätzung sollten wieder die 22 % als Bezifferung des „Arbeitserfolgs“ Ladislav Š.s gelten. Wie dieser Fall veranschaulicht, konnten einerseits Mittel der Selbstverwaltung von mächtigen Betriebsangehörigen angewandt werden, um einen unliebsamen Kollegen zu schädigen. Andererseits konnten sich Einzelne mit Hilfe einer übergeordneten Instanz gegen irreguläre Praktiken mächtiger Strukturen zur Wehr setzen, wenn nachweisbar war, dass deren Entscheidungen nicht den formalen Anforderungen der betrieblichen Selbstverwaltung genügten. Es ist anzunehmen, dass mit der Gerichtsentscheidung der Konflikt zwischen den Angehörigen der betrieblichen Elite nicht grundsätzlich gelöst war. In ähnlichen Fällen, wie im Verfahren des hoch qualifizierten Produktionsarbeiters Ante B. des Mariborer Betriebs Elkom241 aus dem Jahr 1984 wird deutlich, dass der Weg zum Gericht ein typisches Mittel war, das in Konflikten unter betrieblichen Eliten eingesetzt wurde, wenn innerbetriebliche Handlungsoptionen ausgeschöpft schienen.242 Ante B. konnte nach jahrelangen Auseinandersetzungen seine aus disziplinarischen Gründen erfolgte Kündigung nicht abwenden, sodass sich das Unternehmen mit ihm nicht weiter auseinander setzen musste. Hier wie auch im Fall Ladislav Š.s zeigt sich, dass die Gerichte nicht die eigentlichen Konflikte lösten, sondern dass sie urteilten, ob die Entscheidungen den formalen Vorgaben der Selbstverwaltung entsprachen. Um als Gewinnerinnen aus einem Konflikt hervorzugehen, mussten sich Konfliktparteien also geschickt der Instrumente der Selbstverwaltung bedienen, sodass ihre Handlungen vom Gericht nicht angefochten werden konnten. Die Gerichte der vereinten Arbeit wurden jedoch nicht nur von hierarchisch höher stehenden Beschäftigten angerufen. Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre finden sich beim Mariborer Gericht eine Reihe von Verfahren, in denen Beschäftigte verschiedener Qualifikationen Entschädigungen nach Ar240 Ebenda, 2. 241 Elkom war Teil des Elektronik-Kombinats Elektrokovina, dessen Anfänge bis ins
Jahr 1946 zurückreichen. 242 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 137: S 788/84.
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beitsunfällen oder infolge gesundheitsschädlicher Arbeit von den Unternehmen forderten.243 In vielen Fällen entschied das Gericht im Sinne der Forderungen und verpflichtete die Unternehmen zu Entschädigungszahlungen. Im Bericht des serbischen Gerichts der vereinten Arbeit aus Požarevac wird dieser in Maribor sehr präsente Anlass für Verfahren hingegen gar nicht erwähnt.244 Entweder waren Beschäftigte hier weniger über ihr Recht auf Entschädigung aufgeklärt als die KollegInnen in Maribor, weniger Gesundheitsrisiken bei der Arbeit ausgesetzt oder die Unternehmen in der Gemeinde Maribor versuchten häufiger, Kompensationszahlungen an ihre MitarbeiterInnen zu umgehen. Die Gewerkschaft konnte in solchen Fällen als potentielle Beraterin von erkrankten oder verunglückten Beschäftigten auftreten. Ob und wie konkret sie ArbeiterInnen in Verfahren vor den Gerichten der vereinten Arbeit unterstützte, muss hier offen bleiben. Auffällig ist jedoch, dass die Gewerkschaft als diejenige, die Verfahren „vorschlagen“ konnte, kaum in Erscheinung trat, obwohl dies in der Konzeption der Gerichte vorgesehen war. In Berichten in Slowenien (1976) und Serbien (1985), wird gesondert darauf hingewiesen, dass die Gewerkschaft sich kaum daran beteilige, Verfahren anzustoßen245 und dass sie in innerbetrieblichen Entscheidungen zu große Nähe zu Entscheidungen der betrieblichen Selbstverwaltung an den Tag legen würde.246 Jedoch ist es nicht verwunderlich, dass die Gewerkschaft, deren Rolle schon innerhalb der Betriebe hochgradig widersprüchlich war, außerhalb der Betriebe nicht offensiver für die Rechte von Beschäftigten eintrat. Neben den fehlenden Forderungen nach Entschädigungszahlungen von MitarbeiterInnen fällt ein weiterer Unterschied in den Anlässen für Gerichtsverfahren zwischen dem serbischen Požarevac und dem slowenischen Maribor ins Auge. Während schon 1976 in Maribor Wohnungsangelegenheiten keine Erwähnung mehr fanden, nannte das Gericht in Požarevac Streitfälle um Wohnraum als den häufigsten Grund für Verfahren.247 Denkt man an die Vehemenz, mit der bei Zastava in Kragujevac in innerbetrieblichen Einspruchsverfahren Wohnungskonflikte ausgetragen wurden, so ist zu vermuten, dass auch dort die Gerichte der vereinten Arbeit häufig mit ihnen befasst waren. Die Wohnungsfrage war offenbar in Serbien drängender und die Ansprüche auf betrieblich geförderten Wohnraum wurden konfliktreicher eingefordert. Lösungen, nicht einmal Lösungsansätze, für das systemische Infrastrukturproblem des Wohnungsmangels konnte das Gericht aber keinesfalls anbieten. Welche Wirkungen entfalteten Entscheidungen der Gerichte der vereinten Arbeit in Konflikten zwischen MitarbeiterInnen und ihren Betrieben? In ihrer Steuerungs- und Präventionsfunktion konnten sie helfen, mehr Konsistenz in 243 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 31, 137. 244 Vgl. 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda. 245 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 123: Poročilo o delu sodišča, 5, 1975–1985. Deset godina
Osnovnog suda, 45. 246 Vgl. ebenda, 46. In diesem Fall bezog sich die Bemerkung in dem Jubiläumsbericht
auf die Arbeit der Disziplinarkommissionen. 247 Vgl. ebenda, 56–58.
142
die vielen Selbstverwaltungsakte und -ebenen der Betriebe zu bringen. Ergaben sich Auseinandersetzungen aus widersprüchlichen normativen Bestimmungen, so trugen die Gerichte dazu bei, Betriebsordnungen an sich ändernde Gesetze und/oder neu geschlossene Selbstverwaltungsabkommen anzugleichen. Sanktionsmittel außer der Übergabe von Fällen an ordentliche Gerichte standen den Gerichten der vereinten Arbeit nicht zur Verfügung, um Entscheidungen durchzusetzen. Aus Požarevac wird berichtet, dass in 90 % der Fälle Gerichtsempfehlungen befolgt worden seien.248 Es war dann an den Arbeiterräten, diejenigen Fälle neu zu beraten, in denen die Gerichte Entscheidungen außer Kraft gesetzt hatten. Ähnlich wie bei Einspruchsverfahren und Vorschlägen der Arbeiterkontrolle konnten die betrieblichen Selbstverwaltungsstrukturen Wiederaufnahmen verschleppen, wenn es innerbetriebliche Widerstände gab. Die Gerichte konnten mit einer Ermahnung des Betriebs ihren Entscheidungen Nachdruck verleihen, was in Požarevac zwischen 1981 und 1983 nur in sieben Fällen praktiziert wurde, handfeste Druckmittel hatte das Gericht nicht.249 Bei TAM in Maribor versuchte man, eine offenbar bestehende Tendenz, Gerichtsentscheidungen im Betrieb nicht umzusetzen, wiederum als schweres Disziplinarvergehen zu ahnden, wie aus einem betrieblichen Regelwerk von 1983 hervorgeht.250 Auf diese Art konnten Konflikte, die einmal zur Lösung in eine höhere Instanz nach außen getragen worden waren, ihre Fortsetzung in neuerlichen Auseinandersetzungen in der Selbstverwaltung des Unternehmens finden. Aber auch das Gegenteil einer zeitlichen Ausdehnung von Konfrontationen konnte die Folge sein. Den Unternehmen waren in Fällen, die aussichtslos schienen oder in denen sich Konflikte nur unnötig zu verschärfen drohten, offenbar manchmal außergerichtliche Kompromisse lieber. So einigte sich das Mariborer Bauunternehmen SGP Konstruktor251 mit seinem Beschäftigten Karel P. 1984 auf einen vorzeitigen Renteneintritt, nachdem der hoch qualifizierte Dreher vor dem Gericht Einspruch gegen eine disziplinarische Kündigung eingelegt hatte.252 Häufiges Fehlen und Streit wegen Trunkenheit am Arbeitsplatz hatten zu ständigen Auseinandersetzungen Karel P.s mit seinen Vorgesetzten geführt. Die Gesundheitsabteilung für Kriegsveteranen253 diagnostizierte bei Karel P. Alkoholabhängigkeit, weswegen er nur noch verkürzt arbeiten sollte. Während ihm auf der einen Seite für die eingeschränkte Arbeitszeit keine geeigVgl. ebenda, 63. Vgl. ebenda. Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih, 1983, S. 65. Das Bauunternehmen Splošno gradbeno podjetje Konstruktor Maribor (Allgemeines Bauunternehmen Konstruktor Maribor) wurde unter Verstaatlichung einiger bestehender Ingenieur- und Bauunternehmen 1947 gegründet und wurde zum größten Betrieb seiner Art in Maribor. 252 Vgl. SI-PAM, f. 1911, šk. 137: S 732/84. 253 Slow.: „Dispanzer za borce“, Abteilung in der Städtischen Poliklinik, in der ehemalige PartisanenInnen und SpanienkämpferInnen bevorzugte Gesundheitsvorsorge und Behandlung genossen. Zur Wirkung der Zugehörigkeit zu dieser sozialen Kategorie in betrieblichen Konflikten siehe Kap. 6.1. 248 249 250 251
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neten Aufgaben übertragen wurden, strengten seine Vorgesetzten andererseits ein Disziplinarverfahren gegen ihn an, das in einer Kündigung münden sollte. Das Unternehmen und Karel P. einigten sich wenige Monate nach Eröffnung des Verfahrens vor Gericht auf einen vorzeitigen Renteneintritt. Offenbar kam es dem Bauunternehmen gelegener, einen Kompromiss einzugehen, als nach einem Gerichtsentscheid gegen betriebliche Beschlüsse weiter mit einem schwierigen Mitarbeiter umgehen zu müssen. Das Gericht konnte hier demnach als Katalysator für Konfliktlösungen dienen, indem Betrieb und Beschwerdeführer unter dem Druck eines Verfahrens außerhalb des Gerichts eine Lösung fanden.
Fazit Die Gerichte der vereinten Arbeit erfüllten, wie gezeigt werden konnte, mehrere Funktionen. Sie waren ein Element in der sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahren ausdifferenzierenden Selbstverwaltung und sollten zugleich ein Regulierungsinstrument sein, das die entstandene Komplexität ordnete. Diese Funktion ging mit dem legitimatorischen Auftrag der Gerichte einher, sollten sie doch die Garanten für die „Einhaltung der Selbstverwaltungsrechte“ der Beschäftigten sein. Indem Machtmissbräuche in Betrieben von einer externen Instanz behandelt werden konnten, erfüllten die Gerichte diese Funktion sicherlich in einigen Fällen auf plausible Weise. Es ist anzunehmen, dass das Vertrauen derjenigen ArbeiterInnen, welche ihrer Rechte mittels des Gerichts der vereinten Arbeit durchsetzen konnten, gegenüber dem Selbstverwaltungssystem gestärkt werden konnte. Dieses Vertrauen zu fördern war ein erklärtes und ideologisch motiviertes Ziel der Institution, wie die Selbstdarstellung des Požarevacer Gerichts der vereinten Arbeit 1985 zeigt: „Der Arbeiter muss Vertrauen in die Prinzipientreue und Effizienz des Gerichts der vereinten Arbeit haben und er muss darauf vertrauen, dass es seine verfassungsmäßigen und in Gesetzen niedergelegten Rechte verteidigt.“254 Wenn Beschäftigte sich sicher sein konnten, dass eine Instanz sie gegen diejenigen verteidigte, welche die Selbstverwaltung zugunsten persönlicher Macht „usurpierten“255, so konnte das die Legitimität des Systems stärken. Selbst die Artikulationsmöglichkeit von Unmut, auch wenn die Gerichte nicht im Sinne der betreffenden Belegschaftsmitglieder entschieden, mochte als Ventil nützlich gewesen sein. Wie die zu Beginn der 1980er Jahre ansteigenden Fallzahlen vor den Gerichten erkennen lassen, konnten die Gerichte der Staatsführung als ein Gradmesser der Stimmung in der Bevölkerung dienen. Hier bildeten sich die Intensität sozialer Konflikte in Betrieben und die Gewichtung der unterschiedlichen Ursachen für diese Auseinandersetzungen ab. Die Rechenschaft, welche die Gerichte über ihre Arbeit an den Staat abliefern mussten, demonstrierte, dass auf eine systematische Auswertung von Konfliktfällen, die einem Stimmungsbarometer glich, Wert gelegt wurde. Grundlegende infrastrukturelle Probleme, Symptome sozialer Ungleichheit und Widersprüche, die 254 1975–1985. Deset godina Osnovnog suda, 63. 255 Vgl. ebenda. Die Formulierung, jemand würde die Selbstverwaltung „usurpieren“
war im Serbischen eine im normativen Sprachgebrauch feste Wendung, die in Klagen über widerrechtlich ausgeübte Macht in Betrieben häufig verwendet wurde.
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die geltende Ordnung hervorgebracht hatte, wurden vor den Gerichten sichtbar. Sie konnten jedoch von ihnen bestenfalls entschärft, nicht aber gelöst werden. Im Falle des Verfassungsprinzips der Lohnberechung „entsprechend der geleisteten Arbeit und der Arbeitsergebnisse“ ging das Požarevacer Gericht 1985 sogar so weit, öffentlich die Einschätzung abzugeben, es gäbe keine objektiven Kriterien dafür.256 Diese Distanzierung von einem Verfassungsprinzip, das in den Jahrzehnten davor großes ideologisches Gewicht besaß, kann als typisch dafür angesehen werden, dass ab der Mitte der 1980er Jahre auch öffentlich grundsätzliche Kritik an der Praxis der Selbstverwaltung möglich wurde. Unabhängig davon, ob Beschäftigte sich mit der Selbstverwaltungsideologie identifizierten oder nicht, konnten sie versuchen, im Rahmen des institutionell Möglichen ihre meist materiellen Forderungen per Gericht der vereinten Arbeit durchzusetzen. Indem die Gerichte die Beschäftigten zwangen, in den Begrifflichkeiten der Selbstverwaltung zu denken und zu argumentieren, erfüllten sie eine weitere wichtige Funktion: die Selbstverwaltungsideologie in der Alltagswelt von ArbeiterInnen zu verankern. Neben der spezifischen Rolle, welche die Gerichte der vereinten Arbeit dabei spielten, das Selbstverwaltungsgefüge zu legitimieren, zu regulieren und zu kontrollieren, sollte jedoch nicht unbeachtet bleiben, dass sie ihre Tätigkeit als Arbeitsgerichtsbarkeit erfüllten. Eine solche existierte in verschiedenen Formen in sozialistischen Ländern. Gar nicht unähnlich dem jugoslawischen Fall schlichteten z. B. in der Sowjetunion der Chruschtschow-Zeit und der DDR ab 1953 innerbetriebliche Konfliktkommissionen und in nächster Instanz außerbetriebliche lokale Gerichte aufkommende Konflikte.257 McAuley und Hage weisen für beiden staatssozialistischen Systeme darauf hin, dass bei der Konfliktlösung auf betrieblicher und lokaler Ebene keine starke Politisierung, sondern Entscheidungen nach jeweils gültigem Arbeitsrecht dominierten. Dass Arbeitsgesetze im Einklang mit der Staatsideologie standen, ist wie im hier geschilderten Fall Jugoslawiens fraglos. Doch bedeutet das keinesfalls, dass im Bereich des Arbeitsrechts die Willkür autoritär geführter Staaten am Werk war, gegenüber denen Jugoslawien eine deutlich erkennbare Ausnahme bilden würde.
4.3. Zwischenfazit In der Analyse der Art und Weise, wie Belegschaften mit formalen Mitteln der Selbstverwaltung ihre Interessen verfolgten, lassen sich drei übergeordnete Tendenzen ausmachen: die Partikularisierung von Interessen im Gegensatz zu Solidarisierungen; die Wirkung von Grenzen, welche die Systemlogik der Selbstverwaltung Belegschaftsmitgliedern setzte, wenn sie ihre Interessen durchzusetzen 256 Vgl. ebenda, 58. 257 In der Sowjetunion wurden 1957 die gesetzlichen Grundlagen für diese Verfahrens-
weise geschaffen, zur Praxis von Konfliktkommissionen und lokalen Gerichten vgl. MCAULEY, Labour Disputes. Arbeitskonflikte in der DDR konnten ebenfalls in betrieblichen Konfliktkommissionen und vor den Kreisgerichten behandelt werden, vgl. HAGE, Betriebliche Konflikthandhabung.
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versuchten und die deutlich erkennbaren Auswirkungen, die die wirtschaftliche Krise ab den frühen 1980er Jahren auf das Handeln der Belegschaften sowie der FunktionärInnen in der Selbstverwaltung hatte. Der niedrige Solidarisierungsgrad innerhalb von Belegschaften insgesamt lässt sich auf verschiedenen Ebenen feststellen: Einerseits ermöglichten die Marktbedingungen sowie die zunehmende Dezentralisierung, dass sehr produktive Betriebsteile – wie der Werkzeugbau bei TAM – im Betrieb ihre Interessen gegenüber anderen Betriebsteilen erfolgreich durchsetzten. Hier lässt sich auf Betriebsebene eine Entsolidarisierung der Belegschaftsteile voneinander beobachten. Das rege genutzte Einspruchsrecht gegen Beschlüsse der Arbeiterselbstverwaltung innerhalb und außerhalb der Betriebe bewirkte unter den Beschäftigten Ähnliches. Entscheidungen der Selbstverwaltung infrage zu stellen fand hier vielfach als individueller Vorgang statt, in dem Einzelne versuchten – auch auf Kosten ihrer KollegInnen – für sich persönlich bessere Verdienstmöglichkeiten oder die Gewährung betrieblichen Wohnraums zu erreichen. In diesem Modus der Interessenvertretung wurde Wissen über betriebliche Vorgänge, rechtliche Rahmenbedingungen und Lösungsmöglichkeiten nicht systematisch in breiteren Foren zugänglich gemacht. Der Wissensvorsprung von Beteiligten, die in der betrieblichen Machthierarchie weit oben standen, wurde auf diese Weise weniger angetastet als eine kollektive Interessenvertretung dies hätte tun können. Obwohl BeschwerdeführerInnen in vielen Fällen sehr detailliert über laufende Verfahren ihrer KollegInnen informiert waren, hatten das Monopol über betriebliches Wissen Fachkräfte und Delegierte inne. Sie konnten damit sowohl ad hoc-Entscheidungen zugunsten der Person, die Einspruch eingelegte, treffen, als auch Entscheidungen zu ihren Ungunsten. Dagegen, dass solidarische Handlungsorientierungen in Konflikten durch individuelle Einsprüche gefördert wurden, spricht, dass Beschäftigte Vorwürfe gegen ihre KollegInnen einsetzten, um ihre eigenen Anliegen argumentativ zu untermauern. Gerade in der Konkurrenz um die Zuteilung von Betriebswohnungen versuchten sie sich durch Denunziationen in ein gutes Licht zu rücken, was das Vertrauen im Betrieb nicht gefördert haben dürfte. Die zweite übergeordnete Tendenz lässt sich besonders im Fall der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle und der Gerichte der vereinten Arbeit beobachten. Hier gab die politische Führung vor, Beschäftigten Lösungsinstrumente für ihre betrieblichen Konflikte bereitzustellen. Diese, so wurde postuliert, ermöglichten Beschäftigten die Kontrolle über die Prozesse der Arbeiterselbstverwaltung, welche sie bis zu Beginn der 1970er Jahre nicht ausüben konnten. In manchen Fällen erfüllten diese neuen Mechanismen ihr Ziel und ungerechtfertigte Entscheidungen mussten revidiert werden. In vielen Fällen jedoch waren die Konsequenzen ernüchternd. Zwar hatten Beschäftigte ein Ventil, über das sie Unzufriedenheit in regulierter Form artikulieren konnten. Allerdings bedeuteten besonders die ASVK und die Gerichte der vereinten Arbeit eine gesteigerte Komplexität und viel mehr Bürokratie im Selbstverwaltungssystem. Vorherrschende Machtverhältnisse, die schon bisher die betriebliche Selbstverwaltung kennzeichneten, wurden mit diesen neuen Institutionen nicht aufgehoben. Stattdes-
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sen konnten sich strukturell ausgebildete Fehlfunktionen, die im Gefüge der Selbstverwaltung offensichtlich geworden waren, trotz der neuen Gremien halten. Ein Beispiel dafür sind die Richtlinien zur Wohnungsverteilung, die Belegschaftsmitglieder, die nicht Angehörige starker betrieblicher Gruppen waren, in den Genuss einer Betriebswohnung hätten bringen können. Trotz sorgfältig konzipierter Richtlinien praktizierten dominante betriebliche Gruppen oft ungehindert eine Verteilung an den Richtlinien vorbei. Ein solcher systematisch ausgeprägter Zustand änderte sich durch die Reformen der 1970er Jahre nicht, wie in Gremien der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle der Zastava-Werke zu Beginn der 1980er Jahre explizit eingeräumt wurde. Als dritte übergeordnete Entwicklung muss die zeitliche Zäsur am Übergang zwischen den 1970er und den 1980er Jahren festgehalten werden. Budgetrestriktionen und wirtschaftliche Schwierigkeiten wurden spürbarer und mit ihnen verschärften sich soziale Konflikte. Dies zeigte sich einerseits daran, dass Lohnfonds aufgrund der Einführung einer außerbetrieblicher Kontrolle nicht mehr einfach überzogen werden konnten. Ähnlich wuchs auch die Bereitschaft, Leitungspersonen in Betrieben mit Instrumenten wie der Arbeiterkontrolle zur Verantwortung zu ziehen, wenn ihnen Misswirtschaft und nachlässige Diensterfüllung nachzuweisen waren. Gleichzeitig sank bei FunktionärInnen die Bereitschaft in Selbstverwaltung und Massenorganisationen, sowohl ihre Loyalität zur Selbstverwaltungsdoktrin als auch zu Wohlfahrts- und Solidaritätsprinzipien der sozialistischen Ordnung aufrecht zu erhalten. Unter dem erhöhten wirtschaftlichen und sozialen Druck, der sich etwa zeitgleich mit dem Tod Josip Broz Titos und damit dem Verlust eines wichtigen Kohäsions- und Machtfaktors der staatlichen Ordnung einstellte, waren die VertreterInnen dieser Ordnung zunehmend weniger bereit, über ihre Widersprüche hinweg zu sehen. Im Vergleich mit anderen staatssozialistischen Systemen fällt darüber hinaus auf, dass in Anlässen und Argumentationsweisen eine grundsätzliche Ähnlichkeit zum dortigen Beschwerdewesen existierte. Grundsätzlich waren Einsprüche gegen Entscheidungen der Arbeiterräte und Fälle bei den Gerichten der Vereinten Arbeit oder der Arbeiterselbstverwaltungskontrolle im Unterschied zu anderen Ländern zwar Elemente eines auf Partizipation ausgelegten Modells. Hier konnten Entscheidungen hinterfragt und korrigiert werden. Jedoch existierte zusätzlich dazu auch in Jugoslawien ein Beschwerdewesen, das dem in anderen kommunistisch geführten Staaten sehr ähnlich war und dessen Texte rhetorisch und inhaltlich den Einsprüchen innerhalb der Selbstverwaltung sehr ähnlich waren: Unzufriedene BürgerInnen konnten sich an entsprechende Gremien in der Partei, den Gewerkschaften oder an den Staatspräsidenten persönlich wenden. Sowohl die Beschwerdegründe und die rhetorischen Strategien als auch die Funktionen dieser Kommunikationskanäle ähnelten sich in Jugoslawien und anderen sozialistischen Staaten.258 In allen Ländern bot das Beschwerde258 Vgl. für die DDR:Mary FULBROOK, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesell-
schaft in der DDR. Wiesbaden 2008, 298–301; für Bulgarien: Martin K. DIMITROV, What the Party Wanted to Know. Citizen Complaints as a ''Barometer of Public Opinion'' in Communist Bulgaria, East European Politics and Societies 28 (2014),
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wesen eine Art Ersatzöffentlichkeit, in der individuelle Kritik, solange sie nicht an Tabus rührte oder das System an sich infrage stellte, auf legitimem Weg geäußert werden konnte. Die jeweiligen Staatsführungen werteten Beschwerdefälle systematisch aus, was es ihnen ermöglichte, kritische Themen zu identifizieren und das Vertrauen der Bevölkerung ins System zu messen. Mittels der Informationen, die BürgerInnen den Institutionen auf diesem Wege zukommen ließen, konnte Kontrolle höherer über niedrigere Instanzen ausgeübt werden. Nicht zuletzt drückte sich sowohl im Falle der DDR als auch in Jugoslawien in der Möglichkeit, den mächtigsten Mann im Staate direkt zu adressieren, ein paternalistisches Staatsverständnis aus.
5. Informelle Praktiken Kapitel 4 hat gezeigt, auf welche Weise sich Beschäftigte der Mechanismen bedienten, die ihnen die Institutionen der Arbeiterselbstverwaltung zur Verfügung stellten. An vielen Stellen schien dort auf, dass sie zusätzlich solche Mittel anwandten, die außerhalb des normativen Rahmens der Arbeiterselbstverwaltung angesiedelt waren. In der hier verwendeten weiten Definition von Informalität fallen so unterschiedliche Phänomene wie Nebenerwerb außerhalb der Fabrikarbeit, Streik und Fluktuation in den Betrachtungsrahmen. Den Maßstab, der sie als informell klassifiziert, geben dabei das politische System, die betriebliche Selbstverwaltung und die Verfasstheit des Wirtschaftssystems vor. Bestimmte Formen von Nebenerwerb und Fluktuation in einem republiks- und staatenübergreifenden Arbeitsmarkt sowie Streik waren in diesem Rahmen ursprünglich nicht vorgesehen. Dies deutet auf die Kluft hin, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte. Informelle Strukturen und Handlungsweisen waren dabei in den formalen Rahmen eingelagert und entwickelten sich in Abhängigkeit zu ihm. Auf Schwierigkeiten, die aus der ständigen Veränderung des Selbstverwaltungssystems resultierten, gehen sowohl zeitgenössische jugoslawische Analysen als auch die historische Forschung ein.1 Die sich steigernde Komplexität
1
H. 2, 271–295. MADŽAR, The Economy of Yugoslavia, 89; Zagorka GOLUBOVIĆ, Contemporary Yugoslav Society. A Brief Outline of its Genesis and Characteristics, in: ALLCOCK / HORTON / MILIVOJEVIĆ (Hgg.), Yugoslavia in Transition, 97–124, 107; bezogen auf die frühen 1980er in der Zastava-Autofabrik: JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 118; HÖPKEN, „Durchherrschte Freiheit“, 54f.
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dieses institutionellen Rahmens, die mit den häufigen Reformen einherging, begünstigte informelle Strukturen und Verhaltensweisen.2 Das Ineinandergreifen von formellen und informellen Mechanismen stellt keinesfalls ein systemisches Charakteristikum von sozialistischen oder gar selbstverwalteten Betrieben im Gegensatz zu ihren kapitalistischen Gegenparts dar. Mit Verweis auf Ansätze der anglo-amerikanischen Industriesoziologie stellt Thomas Welskopp die Bedeutung solcher informeller Beziehungen für die Beschaffenheit der Beziehungen im Betrieb heraus: Die `Doppelwirklichkeit´ (Friedrich Weltz) des Betriebs ist gekennzeichnet durch das Ineinander von formalen und informellen Strukturen. Sein sozialer Kosmos entspricht keineswegs dem simplifizierenden Bild, welches das Management von der `offiziellen Betriebsrealität´ zeichnet und an dem es sein Handeln ausrichtet. Vielmehr ist er durchzogen von Autonomiespielräumen, Machtzentren, Aushandlungszonen und `Gemeinschaftsbildungen´, die betriebliche Effizienz zu einem immer relativen Resultat von Mischkalkulationen zwischen Konsens und Konflikt, Macht und Aushandlung, Allianzen und Gegnerschaften machen.3
Die Auffassung, dass Beschäftigten in hierarchischen betrieblichen Beziehungen Spielräume für Aushandlungen gegeben sind, und die Grundannahme, dass neben konfrontativen auch kooperative Haltungen existieren, korrespondiert mit dem von Max Weber inspirierten Konzept von Herrschaft als sozialer Praxis. In Ablehnung von Totalitarismus-Thesen wenden es ForscherInnen auch auf staatsozialistische Gesellschaften an.4 Im Unterschied zu Industriebetrieben in kapitalistischen Wirtschaftssystemen besaß im jugoslawischen Fall die „offizielle Betriebsrealität“ zudem den Charakter eines ideologischen Dogmas. Hier fungierte das Postulat, die ArbeiterInnen würden die Fabriken selbst verwalten als ein zentrales Element kommunistischer Herrschaftslegitimierung. Nichtsdestotrotz lagerten sich an die formal gegebenen Formen der Interessensvertretung informelle Praktiken an. Der folgende Teil der Arbeit charakterisiert, wie Beschäftigte informelle Praktiken einsetzten, um ihre Interessen wahrzunehmen. Dies bedeutet zuerst einmal, zu beschreiben, welche Formen individueller Interessenwahrnehmung existierten und wie sie in den jeweiligen institutionellen und sozialen Zusammenhängen funktionierten. Als konkrete Phänomene rücken alternativer Einkommenserwerb (5.1.), ein hohes Maß an Toleranz bei Disziplinverletzungen seitens der Leitung (5.2.), klientelistische Praktiken (5.3.), hohe Fluktuationsraten (5.4.) sowie geduldete Streiks (5.5.) in den Blick. Auf welche Weise 2
3 4
In Bezug auf die DDR spricht Detlef Pollack von einem solchen Effekt, der durch zentrale Steuerungsansprüche und die Durchorganisation der Gesellschaft ausgehend von der oberen staatlichen Ebene verursacht sei. Auch wenn die Reformen in Jugoslawien unter der Zielsetzung der Dezentralisierung durchgeführt wurden, ist der Effekt jedoch vergleichbar. POLLACK, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR, 121. WELSKOPP, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld, 131. Vgl. LÜDTKE, Einleitung, 9–18; BRUNNBAUER, Staat und Gesellschaft.
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wurde in den komplexen Strukturen aus Betriebsleitung, Selbstverwaltungsgremien, Partei- und Massenorganisationen sowie staatlicher Politik mit diesen Handlungsstrategien umgegangen? Wurden sie thematisiert und wenn ja, geschah dies in öffentlichen oder nicht-öffentlichen Kommunikationszusammenhängen? Wie wurden sie in Bezug auf die herrschende Ideologie gedeutet? Welche Reaktionen lassen sich vonseiten der Betriebsleitungen aber auch regulierender staatlicher Politik ausmachen? In welchem Verhältnis standen informelle Wege der Interessenvertretung zu formal gegebenen Mechanismen und in welchem Maße zeichneten sie sich durch Bereitschaft zum Konsens und Konflikt aus?
5.1. „Undisziplinierte ArbeiterInnen“ oder die Kombination mehrerer Einkommensquellen Disziplinarverstöße zeigen die Grenzen sozialer Kontrolle an, welche Vorgesetzte in Industrieunternehmen ausüben können. Disziplin soll hier vor allem ausgehend von den Erfordernissen der industriellen Produktion definiert werden und wird so auch von ManagerInnen thematisiert. Edward Thompson fasst industrielle Arbeitsdisziplin als „ständige Hingabe, einen ständigen Antrieb zu Nüchternheit und Vorausdenken sowie die pünktliche Befolgung von Abmachungen; kurz: die kontrollierte Investition von Energien in qualifizierte oder halbqualifizierte Beschäftigungen.“5 In einem solchen tayloristischen Organisationsmodell werden über die Disziplinarverordnungen einzelne Handlungen als schädlich für den reibungslosen Ablauf von Produktionsprozessen definiert und sanktionierbar gemacht. Wenn in jugoslawischen Betrieben Verletzungen der Arbeitsdisziplin dokumentiert wurden, so lässt dies im besten Fall Einblicke zu, an welchen Punkten und warum eine solche Hingabe nicht vorhanden war, wer Abmachungen warum nicht pünktlich erfüllte, an welchen Stellen die Planbarkeit des Produktionsprozesses aus den Fugen geriet. So plädiert Alf Lüdtke dafür, den Konfliktherd Zeitdisziplin in den Blick zu nehmen und in diesen Brüchen der Fabrikorganisation nach „Chancen für die Durchsetzung von Interessen und Bedürfnissen der Arbeitenden“ zu suchen.6 Folglich sind Disziplinarverstöße als Störungen der tayloristischen Arbeitsorganisation hier von Interesse, da sie Lebenslagen von Beschäftigten erhellen und ihre Strategien, mit diesen umzugehen, offenlegen.
Exkurs: Disziplinarverfahren in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik Um einen Eindruck zu geben, wie die Vorgesetzten Disziplinarverstöße von Beschäftigten mit formalen Mitteln sanktionierten, folgt hier ein Überblick über Disziplinarverfahren, wie sie die zuständigen Kommissionen 1972 und 1984 in 5 6
Edward P. THOMPSON, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt/ Main 1987, 462. Alf LÜDTKE, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zu Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: DERS. (Hg.), Eigen-Sinn, 85–119, 86.
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der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik dokumentierten. Die in Kapitel 4.2.1. besprochenen Einsprüche, die Beschäftigte unter anderem gegen Disziplinarentscheidungen einlegten, können ein derart systematisches Bild nicht bieten, da sie den Protokollen der Arbeiterratssitzungen entnommen sind. Dort besprach man nur Fälle, in denen Beschäftigte Widerspruch einlegten, während die Dokumentation der Disziplinarkommissionen alle behandelten Fälle eines Zeitraums enthält. Im Jahr 1972 mussten sich innerhalb von zehn Monaten dreiundvierzig Beschäftigte vor der Kommission des Arbeiterrats der Nutzfahrzeugfabrik verantworten, zu einer Zeit, als dort etwa zweitausend Menschen beschäftigt waren. 7 Von ihnen waren nur zwei nicht in der Produktion tätig, während es sich bei dreiundzwanzig Belangten um FacharbeiterInnen handelte. Als zweithäufigste Gruppe mussten sich ungelernte ArbeiterInnen verantworten. In über der Hälfte der Fälle warf man den Beschäftigten vor, dass sie ganze Tage von der Arbeit unerlaubt gefehlt, sich verspätet oder die Arbeit früher verlassen hätten. Die Betroffenen begründeten das jeweils unterschiedlich. Einige gaben an, (unaufschiebbare) Dinge innerhalb und außerhalb der Fabrik erledigt zu haben, andere, dass es keine Arbeit gegeben hätte und sie deshalb ihre Arbeitsplätze verlassen hätten. Beleidigungen und Streitigkeiten, mit denen auch körperliche Auseinandersetzungen einhergingen, führten in elf Fällen zu Disziplinarverfahren. Der dritthäufigste Vorwurf bestand darin, Beschäftigte hätten Arbeitsaufgaben abgelehnt oder sie nachlässig erledigt. Dies führte dazu, dass produzierte Teile fehlerhaft waren oder die Beschäftigten Schäden und Stillstände in der Produktion verursachten. Nur in drei Fällen beinhalteten die Vorwürfe unerlaubten Alkoholgenuss. In einem Drittel der dreiundvierzig dokumentierten Verfahren war nicht vermerkt, ob und wie die betreffenden Personen bestraft wurden. Die häufigste Sanktion bestand in öffentlich oder nicht öffentlich ausgesprochenen Ermahnungen. In Fällen, in denen man Beschäftigten Fehlzeiten vorwarf, zog man die entsprechende Zeit vom Lohn ab. Nur in einem Fall forderte die Kommission, dass man einem ungelernten Transportarbeiter, der häufig fehlte, kündigen solle.8 Im Jahr 1984, als die gesamte Zastava-Nutzfahrzeugfabrik etwa 3.100 Beschäftigte hatte, wurden innerhalb von drei Monaten in ihrer größten Abteilung, der OOUR Mechanische Fertigung fünfundvierzig Disziplinarverfahren durchgeführt.9 Wie 1972 betrafen FacharbeiterInnen diese Verfahren zu etwa der Hälfte, während sich nur drei Beschäftigte mit Fachschul- oder Hochschulbildung verantworten mussten. Die Abwesenheit vom Arbeitsplatz, ob nun tageoder stundenweise war in beinahe allen Fällen Teil der Vorwürfe. Auffällig gegenüber 1972 ist, dass sich mehr Fälle, nämlich sechzehn, auf fehlerhaftes Arbeiten und damit die Produktion von Ausschuss bezogen. In vielen Fällen vermerkten die Vorwürfe, dass MitarbeiterInnen des italienischen Autobauers FIAT 7 8 9
Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Povrede radnih dužnosti od 1 do 43. Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Br. 18/1972. Vgl. ZCZ-FPV, OOUR MO, 1984: Disciplinska komisija OOUR-a MO od 42, 1984.
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die entsprechenden Teile bemängelt hätten. Diese überwachten in der Fabrik die Produktion derjenigen Komponenten, welche die Kragujevacer ArbeiterInnen im Auftrag der Turiner Firma für deren Fahrzeuge produzierten. Häufig fand sich in den Anhörungen der beschuldigten MitarbeiterInnen das Argument zu ihrer Verteidigung, dass die technischen Voraussetzungen in der Fabrik die Einhaltung der Qualitätskriterien unmöglich gemacht hätten. Alkoholgenuss, körperliche Angriffe und Streit bildeten nur in sieben Fällen die Anlässe der Disziplinarverfahren. Wiederum geht aus einem Großteil der Disziplinarakten nicht hervor, welche Sanktionen die Kommission vorschlug. Unter den Ausgängen, die dokumentiert sind, endeten die Verfahren mit dreizehn Mal in der überwiegenden Zahl der Fälle mit Ermahnungen oder öffentlichen Ermahnungen. Acht Mal ließ die Kommission die Vorwürfe fallen, zweimal zog sie den Belangten bis zu 5 % des Monatslohns ab. Nur ein qualifizierter Automechaniker, dem sieben unentschuldigte Fehltage zur Last gelegt wurden, verlor als Konsequenz aus seinem Verfahren seine Arbeitsstelle bei Zastava.10
Kombinierte Einkommensquellen In einem guten Teil der Fälle aus den Fabriken in Maribor und Kragujevac wird in Debatten und Verfahren um Disziplinarverstöße deutlich, dass Beschäftigte nicht nur aus ihrer Beschäftigung in den Fabriken Einkommen bezogen. Hier scheinen soziale Problemlagen durch, aber auch Strategien, mit diesen umzugehen. Darüber hinaus wird an dieser Stelle aber ebenso das Bemühen von Fabrikleitungen deutlich, den sozialen Frieden zu wahren. Im Folgenden sollen die Formen informellen Zuverdiensts der FabrikarbeiterInnen im Mittelpunkt stehen und der Umgang mit ihnen im zeitlichen Verlauf nachgezeichnet werden. In ihrem Klassifikationsanspruch aller möglichen Formen von Arbeitsbeziehungen unabhängig von Ort und Zeit, geht die global labour history davon aus, dass zusammengesetzte Einkommen aus mehreren Quellen keine ungewöhnliche Erscheinung sind.11 Vielmehr sieht sie solche Kombinationen als einen Hinweis auf übergreifende Wandlungsprozesse, die sich in den in einer Gesellschaft vorherrschenden Arbeitsbeziehungen abspielen.12 Geleitet von dem Interesse, solche Veränderungen, ihre Merkmale und die Gründe für den stattfindenden 10 Vgl. ZCZ-FPV, OOUR MO, 1984: Br. 54/1984. 11 Vgl.: Karin HOFMEESTER / Jan LUCASSEN, Labour relations worldwide. The taxonomy
of the Global Collaboratory on the History of Labour Relations 2013, 4, unter , 15.1.2014; Jan LUCASSEN, Outlines of a History of Labour. IISH-Research paper 51 2013, unter , 9.1.2015. Das Forschungsprojekt Global Collaboratory on the History of Labour Relations 1500–2000 am niederländischen International Institute of Social History versucht Grundlagen für die Vergleichbarkeit von Arbeit und Formen, in denen sie auftritt, zu schaffen. 12 Der vom Global Collaboratory benutzte Terminus labor relations wird hier mit Arbeitsbeziehungen, Erwerbsverhältnis oder Erwerbsmodus übersetzt.
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Wandel zu analysieren, hat die global labour history ein Spektrum von möglichen Arbeitsbeziehungen entworfen. Es reicht von nicht-Arbeit, über reziproke, unfreie bis hin zu kommodifizierten Formen der Arbeit. Insbesondere in Übergangssituationen, in denen eine vorherrschende Arbeitsbeziehung von einer anderen abgelöst wird, seien mehrere parallele Erwerbsmodi gleichzeitig eine typische Erscheinung.13 Anhand von Disziplinarverstößen lässt sich für die Fahrzeugindustrie in Maribor und Kragujevac sehr gut deutlich machen, wie Beschäftigte mittels paralleler Tätigkeiten auf informellem Wege ihrem Bedürfnis nach einem höheren Einkommen nachgingen. Charakteristisch für die bis dahin überwiegend agrarischen Länder Südosteuropas lassen sich für Jugoslawien nach 1945 zuerst die rasche Industrialisierung und bald darauf in den 1970er Jahren eine industrielle Strukturkrise ausmachen, die allerdings blockübergreifend wirkte.14 Diese Übergänge gingen jeweils damit einher, dass verschiedene Gruppen von Beschäftigten in Industriebetrieben neben ihrer Lohnarbeit als Form der kommodifizierten Arbeit in weiteren Arbeitsbeziehungen tätig waren. Das Phänomen der „undisziplinierten ArbeiterInnen“ weist zudem auf eine soziale Problematik hin. Eine Anstellung in der Fabrik im jugoslawischen Sozialismus zwischen Plan und Markt konnte nicht in jedem Fall für das notwendige Auskommen von Familien garantieren, deren Mitglieder einer Arbeit in der Produktionssphäre der Industrie nachgingen. Zugleich befeuerte die wachsende Konsumorientierung der Gesellschaft die Spannung, die sich daraus ergab, dass einerseits Grundbedürfnissen gedeckt sein wollten und man andererseits nach einem bestimmten Lebensstandard sowie nach Konsumgütern strebte. Konkrete Modi von Nebenerwerb in der Terminologie der global labour history bestanden bei FabrikarbeiterInnen hauptsächlich in zwei Varianten: 1) in familiärer landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft (household kin production) als Spielart von reziproker Arbeit und 2) in selbständiger Arbeit (self-employed) beim Verkauf von eigenen Agrarprodukten oder Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft als Spielarten der kommodifizierten Arbeit.15 Wie Vorgesetzte mit damit einhergehenden Disziplinarverstößen umgingen, war selbstverständlich den Abläufen und Ansprüchen der Selbstverwaltung unterworfen. Formal sahen diese vor, dass Verletzungen der Arbeitsdisziplin vor Disziplinarkommissionen verhandelt werden mussten, welche Mitglieder der Arbeiterräte bildeten. Die Kommissionen operierten nach Regelwerken, die die Selbstverwaltungsgremien erließen. In Verfahren, welche die Anhörung von ZeugInnen und die Möglichkeit der Unterstützung durch die Gewerkschaften vorsahen, entschieden die Gremien über entsprechende Strafen. Die Sanktionen reichten von öffentlichen Verwarnungen über Abzüge vom Lohn bis hin zu Kündigungen. Wie auch in anderen Bereichen war die Rolle der Gewerkschaften hier diffus und ähnlich wie in anderen staatssozialistischen Ländern war sel13 Vgl. HOFMEESTER / LUCASSEN, Labour relations worldwide, 4. 14 Vgl. CALIC, The Beginning of the End. 15 Vgl. HOFMEESTER / LUCASSEN, Labour relations worldwide.
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ten klar, welche Unterstützung Beschäftigte von GewerkschaftsfunktionärInnen erwarten konnten. Hatte eine Disziplinarkommission eine Entscheidung getroffen, konnten Beschäftigte Einspruch dagegen erheben. Seitens der Vorgesetzten war beim Umgang mit Disziplinarverstößen ein erhebliches Maß an Toleranz im Spiel, wovon Appelle in Betriebszeitungen und Arbeiterratsprotokollen sowie von den Massenorganisationen initiierte Produktionswettbewerbe zeugen. Viele Fälle kamen gar nicht erst vor eine Kommission, denn die Beteiligten legten einen Teil der Konflikte unterhalb der Eskalationsstufe des Disziplinarverfahrens bei.
Fabrikarbeit und Arbeit in der Landwirtschaft Eine dominante Form von Nebenerwerb, die mit Disziplinarverstößen einherging und häufig öffentlich thematisiert wurde, war die Landwirtschaft, die Beschäftigte als Subsistenzwirtschaft oder gewerblich neben der Fabrikarbeit betrieben. Solche Mischexistenzen, deren ProtagonistInnen auf Serbisch abwertend mit „polutan“ (Zwitter, Mischling) und Slowenisch mit „pol kmete in pol delavci“ (halb Bauern und halb Arbeiter) bezeichnet wurden, waren dem sich rasant industrialisierenden Staat nicht willkommen. Der Grund dafür lag darin, dass IndustriearbeiterInnen sowohl symbolisch als auch ökonomisch einen zentralen Platz im sozialistischen Gesellschaftsentwurf einnahmen. Zum einen sollten sie die Produktion, die für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die sozialistischen Modernisierungsbestrebungen notwendig war, sicherstellen. Zum anderen erfolgte kommunistische Herrschaft im Namen der Arbeiterklasse, die die sozialistische Revolution tragen sollte. Dass agrarische Bevölkerung und industrielle ArbeiterInnen gemeinsamen nach dem Aufbau des Sozialismus streben sollten, wie das unter der Eigenbezeichnung „Arbeiter- und Bauern-Staat“ für die Ideologie der DDR zentral war,16 lässt sich für Jugoslawien nicht belegen. Dort dominierten Dogmen wie Brüderlichkeit und Einheit sowie ab 1950 die Selbstverwaltung das Selbstverständnis des sozialistischen Staates. Unter dem Slogan „Die Fabriken in Jugoslawien werden von den Arbeitern verwaltet“ stand im Mittelpunkt, die ArbeiterInnen an der Führung von Industriebetrieben teilhaben zu lassen.17 Nur zwei Jahre zuvor, im Jahr 1948, arbeitete jedoch der überwiegende Anteil der Bevölkerung (67 %) in der Landwirtschaft.18 Zudem standen das Dorf und die bäuerliche Bevölkerung, so die Historikerin Ivana Dobrivojević in ihrer Studie „Selo i grad“ (Stadt und Land) aus, für rückwärtsgewandte Haltungen, obwohl ein Großteil der kommunistischen FunktionärInnen nach dem Zweiten Weltkrieg ländlicher Herkunft war. Als Verkörperung all dessen, was nicht mit den Idealen des Kommunismus vereinbar sei, avancierten bäuerliche Einstellungen und die damit verbundenen Lebensweisen zum Inbegriff der überkommenen ge16 Vgl. Birgit WOLF, Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin, New York 2000,
10. 17 Vgl. TITO, Die Fabriken in Jugoslawien. 18 SUNDHAUSSEN, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, 524.
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sellschaftlichen Ordnung. Diese rigorose Haltung gegenüber der agrarischen Bevölkerung gab die kommunistische Führung ab 1953 gleichzeitig mit Versuchen zur zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft weitgehend auf.19 Weiterhin ließen sich jedoch die vielen ArbeiterInnen, die gleichzeitig stark auf dem Land verwurzelt waren, schlechter in die ideologischen wie auch beruflichen Bildungsbestrebungen einbinden als die in den Städten verwurzelten Arbeitskräfte, womit sie in den Augen der Partei als unzuverlässig galten.20 Nahmen BewohnerInnen aus agrarischen Lebensverhältnissen eine Arbeit in der Stadt auf, hieß dies nicht automatisch, dass sie sich wirtschaftlich aus den traditionellen (Groß)Familienverbänden ausgliederten. So blieben oft auch Familienmitglieder, die eine Lohnarbeit in der Stadt aufgenommen hatten, Teil der Familienwirtschaft und hielten enge Verbindungen zu ihren Herkunftsorten und -regionen. Teilweise verließen die „Arbeiter-Bauern“ überdies ihre Arbeitsplätze, um landwirtschaftliche Arbeiten zu erledigen.21 Im Hinblick auf die Entwicklung von Städten in Südosteuropa entspricht der Begriff der „Rurbanisierung“ diesem Phänomen. Diese Form von Urbanisierung, in der das Leben der schnell wachsenden Städte mit etlichen ländlichen Elementen angereichert war, kann in dieser Ausprägung als spezifisch für Südosteuropa gelten, da ein Großteil der Region nach dem Zweiten Weltkrieg eine rapide Industrialisierung erlebte. Innerhalb Jugoslawiens betraf der starke Zuzug vom Land in die Stadt alle Regionen, jedoch in unterschiedlichem Maße. So wuchs das zentralserbische Kragujevac in kürzerer Zeit schneller als Maribor im Norden Sloweniens, was dementsprechend Übergangsphänomene dieser Art weniger intensiv ausfallen ließ (siehe auch Kap. 6.5.). Im Jahr 1951 lebte etwa 14 % der Belegschaft der Zastava-Werke in den umliegenden Dörfern in einer Entfernung von fünf bis dreißig Kilometern.22 Dieser Anteil wuchs dramatisch, als die Fahrzeugproduktion in den frühen 1950er Jahren Fahrt aufnahm und die Zahl der MitarbeiterInnen rapide anstieg. Auch in Slowenien wuchs in den 1950er Jahren die Zahl der Land-StadtMigrantInnen stark an: Während sie sich 1953 auf 47.000 belief, hatte sie vier Jahre später 71.000 erreicht.23 Sowohl in Serbien als auch in Slowenien machten in den 1960er und den 1970er Jahren ZuzüglerInnen vom Land weiterhin einen 19 Vgl. DOBRIVOJEVIĆ, Selo i grad, 238–239, 363–364 20 Für Ungarn verweisen József Ö. Kovács und auch Eszter Bartha auf ähnliche Vor-
behalte gegenüber Land-Stadt-MigrantInnen, vgl. József Ö. KOVÁCS, Arbeiterexistenz in Ungarn nach 1956. Einige Schnittpunkte der Mikro- und Makrogeschichte, in: HÜBNER / Christoph KLESSMANN / TENEFELDE (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus, 319–345, 327f.; BARTHA, Alienating Labour, 50; für Bulgarien: Ulf BRUNNBAUER, „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989). Köln, Weimar, Wien 2007, 149. 21 Vgl. Marie-Janine CALIC, Die 1960er Jahre in sozialhistorischer Perspektive, in: GRANDITS / SUNDHAUSSEN (Hgg.), Jugoslawien in den 1960er Jahren, 69–81, 71f. 22 Vgl. POPOVIĆ, Kragujevac i njegovo, 354 23 Jasna FISCHER / Žarko LAZAREVIČ / Jože PRINČIČ , The Economic History of Slovenia. 1750–1991. Vrhnika 1999, 169.
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großen Teil der Stadtbevölkerung aus. So blieb ihr Anteil in serbischen Städten zwischen 1961 und 1971 etwa konstant, nämlich bei 66,9 % und 65,7 %. In Slowenien war das Bild von einem etwas geringeren Zuzug ländlicher Bevölkerung geprägt: 1961 betrug der Anteil der Land-Stadt-MigrantInnen 60,6 % der urbanen Bevölkerung, während ihr Anteil bis 1971 auf 55,7 % sank.24 Dass dies auch die Fahrzeugfabrik in Maribor betraf, zeigt eine Statistik von 1970, laut der 40 % der Belegschaftsmitglieder weiter als sechs Kilometer von der Fabrik entfernt wohnten.25 Laut einer sozialgeografischen Studie aus dem Jahr 1980 erhöhte sich der Anteil der TagespendlerInnen unter der Industriebelegschaft Maribors zwischen 1951 und 1979 von etwa 23 % auf etwa 42 %. Unter ihnen reiste 1979 etwa die Hälfte aus agrarischen Gegenden zur Arbeit in Maribor an, während die andere Hälfte in Orten wohnte, die ebenfalls über Industrie verfügten.26 Daher kann man davon ausgehen, dass auch bei TAM viele Belegschaftsmitglieder neben der Fabrikarbeit eigene Familienlandwirtschaft betrieben. Vom Standpunkt der Ideologie und der Betriebsleitungen verurteilte man den Absentismus unter ZuzüglerInnen in die Stadt im ersten Nachkriegsjahrzehnt stark und stellte ihr Verhalten als ein Hindernis für das rationale Funktionieren der Industrie dar. Die historische Forschung berief sich auf auseinandergehende Zeitkonzepte, um die Probleme sowohl von kapitalistischen als auch staatseigenen Fabriken mit ihren „unzuverlässigen“ ersten Generationen von ArbeiterInnen zu erklären. Zyklische Zeitauffassungen, die in der subsistenzorientierten Landwirtschaft vorherrschten, und lineare Prinzipien von Zeit, welche der Industrieproduktion innewohnten, provozierten Anpassungs- und Aushandlungsprozesse zwischen Fabrikleitungen und Belegschaften.27 Die jugoslawische Soziologie griff ab den 1960er Jahren ebenfalls auf den Erklärungsansatz der präindustriellen Zeitauffassungen zurück, wenn sie die sozialistische Urbanisierung und ihre Konsequenzen für die Dörfer analysierte.28 Darüber hinaus weist Calic für die Zwischenkriegszeit in Serbien auf die Vielfalt der sozialen, 24 Vgl. Miroljub RANČIĆ, Some Characteristics of the Population of Urban and other
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Localities, Yugoslav Survey 17 (1976), H. 2, 19–34, 25. Kinder von Zugezogenen, die in der Stadt geboren wurden, zählen als nicht-migrierte StadtbewohnerInnen. Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 32. Borut DROBNJAK / Boris VRBNJAK, Dnevna migracija industrijske delovne sile z vidika strukture po spolu in po industrijskih panogah v občini Maribor leta 1979. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Filozofska fakulteta, PZE za geografijo. Ljubljana 1980, 32, 34. Edward Thompson als ein klassischer Vertreter der marxistisch orientierten Arbeitergeschichte für die englische Industrialisierung des 18. Jahrhunderts: Edward P. THOMPSON, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Rudolf BRAUN u. a. (Hgg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973, 81–112. Für die Industrialisierung der bulgarischen Landwirtschaft nach 1945 siehe: Doroteja DOBREVA, Zeitrhythmen und Umgang mit Zeit im Arbeitsalltag des sozialistischen Dorfes. Das Beispiel eines Gebirgsdorfes in Bulgarien, Etnologia Balkanica (2000), H. 4, 67–89. Exemplarisch dafür: Ruža FIRST, Adaptacija poljoprivredne radne snage na industriju, Sociologija sela 5 (1967), H. 4, 61–66.
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wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren, die die Arbeitsethik der neuen FabrikarbeiterInnen bestimmten: Neben den von der Natur vorgegebenen Zeitzyklen, welche die schwankende Intensität landwirtschaftlicher Arbeit bestimmten, beeinflussten zudem ländliche Unterbeschäftigung, das Bildungsniveau, die traditionelle Familienverfassung der Zadruga sowie der Grad der Abhängigkeit vom Fabriklohn die Arbeitsdisziplin.29 Eben diese Faktoren wirkten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fort, wenn auch sicherlich mit geringerer Intensität. Wie Dobrivojević feststellt, blickte die kommunistische Führung in Serbien nach 1945 mit Argwohn auf die Land-Stadt-MigrantInnen, eine Situation, die sich erst 1953 abschwächte. Vor allem der doppelte Einkommensstatus der Migrierten erregte auch in späteren wirtschaftlichen Krisenzeiten Anstoß. Ihr Status als FabrikarbeiterInnen in der Stadt machte ihnen daran gebundene soziale Leistungen zugänglich. Dass sie aber gleichzeitig von der Lebensmittelversorgung aus Subsitenzwirtschaft oder von Zuverdienst aus dem Verkauf von Überschüssen profitierten konnten, wurde als „Spekulation“ diffamiert.30 Wie bereits erwähnt, lag die Motivationen der ZuzüglerInnen, ihre Arbeitskraft zwischen der Fabrik und der Landwirtschaft aufzuteilen, in verschiedenen Umständen begründet. Einerseits waren Haushalte mit gemischten Einkommen in arbeitsintensiven Zeiten der Landwirtschaft auf alle verfügbaren Arbeitskräfte angewiesen. Andererseits waren die Verdienstmöglichkeiten ungelernter ländlicher Arbeitskräfte in der Industrie gering, sodass viele von ihnen auf zusätzliche Einkommensquellen nicht verzichten konnten. Dragoş Petrescu stellt für Rumänien heraus wie sich diese andauernde Tätigkeit in der eigenen Landwirtschaft in der Krise der Industriemoderne positiv auf die gemischten Haushalte auswirkte: In den späten 1970er und den 1980er Jahren mit ihren drastisch sinkenden oder ausbleibenden Industrielöhnen hatten solche erweiterten Haushaltsstrukturen entscheidend bessere Überlebensbedingungen, bevor nicht Abgabequoten für ihre landwirtschaftlichen Produkte eingeführt wurden. Für ArbeiterInnen, die allein auf ihre Einkommen in der Industrie angewiesen waren, wirkte sich die Krise verheerend aus.31 Auch in Jugoslawien nahm die Relevanz eigener landwirtschaftlicher Produktion und damit auch die damit verbundenen Konflikte innerhalb der Belegschaften zum Ende der 1970er Jahre zu. Eine Reihe von Verletzungen der Arbeitsdisziplin in den Fabriken wurden speziell mit den vom Dorf stammenden ArbeiterInnen assoziiert. So tauchten in den Zeitungen der Mariborer und Kragujevacer Unternehmen regelmäßig Kritik an ihnen auf: Karikaturen stellten Belegschaftsmitglieder dar, die tagsüber auf den Feldern arbeiteten und später in der Nachtschicht schliefen. In Artikeln prangerten die AutorInnen an, dass Krankschreibungen systematisch ausgenutzt würden, um anfallende Arbeiten in der Landwirtschaft zu erledigen. Auch das 29 Vgl. Marie-Janine CALIC, Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941. Der aufhaltsame
Fortschritt während der Industrialisierung. München 1994, 207–314. 30 Vgl. DOBRIVOJEVIĆ, Selo i grad, 228f.; ähnlich in Ungarn der 1950er Jahre: KOVÁCS,
Arbeiterexistenz, 319–345, 327f. 31 Vgl. PETRESCU, Workers and Peasant-Workers, 117.
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Fehlen von der Arbeit, ohne Vorgesetzten im Betrieb Bescheid zu geben, zog in beiden Fahrzeugfabriken im Laufe der 1960er und 1970er regelmäßig Kritik auf sich. LeserInnen der Zastava-Fabrikzeitung konnten in den 1960er Jahren regelmäßig Berichte ihrer Disziplinarkommissionen lesen. So zum Beispiel 1965, als mehrere Beschäftigte der Abteilung Mechanische Verarbeitung – bekannt für ihr niedriges Lohnniveau – bestraft wurden, weil sie ohne Abmeldung von der Arbeit gefehlt hatten.32 In einem Interview mit einem Dreher in der Position eines Vorarbeiters aus demselben Jahr bemängelte dieser, dass Beschäftigte die Angewohnheit hätten, sich krankschreiben zu lassen, obwohl sie gesund seien.33 Eine Karikatur derselben Fabrikzeitung aus dem Jahr 1974 zeigte einen Arbeiter, der auf dem Markt Gemüse verkauft. Im Hintergrund rauchen die Fabrikschlote, während im Vordergrund der Verkäufer einem Inspektor der Fabrik seinen Krankenschein präsentiert.34 Für derartige Kontrollen gab es bei den Personalabteilungen der Fabrik in Kragujevac gesonderte Kommissionen, die prüften, inwieweit Krankschreibungen ihre Berechtigung hatten. Eine regelrechte Artikelserie in der Fabrikzeitung 1977 wies wieder und wieder auf ungewöhnlich hohe Krankenstände hin. Dabei stellten die AutorInnen häufig Verbindungen zwischen der Abwesenheit von ArbeiterInnen wegen Krankheit und dem Missbrauch von Rechten her, die man ihnen zugestand. Auch der Hinweis, sie würden während ihrer Krankschreibungen Arbeit in ihren Landwirtschaften erledigen, fehlte selten.35 Jegliche Form von harscher ideologischer Kritik an dieser Art Disziplinverletzung unterblieb jedoch in der Werkszeitung und in Protokollen der Arbeiterräte, was sowohl für die 1960er als auch 1970er Jahre gilt. JournalistInnen und Leitungspersonal führten weniger ideologische als ökonomische Argumente für ihre Kritik an, zumal Programme zur Stabilisierung der Wirtschaft seit Beginn der 1970er Jahre diszipliniertere Arbeit und somit höhere Produktivität forderten. Ähnliche Entwicklungen zum Kragujevacer Fall können in Maribor beobachtet werden: Eine Karikatur von 1963 zeigt in der Fabrikzeitung Skozi TAM einen Arbeiter, der tagsüber Feldarbeit erledigt und während der Nachtschicht in der Fabrik schläft.36 In den Unterlagen der Mariborer Gewerkschaft ist 1968 der Fall des Arbeiters Jože P. aus einer Glasfabrik dokumentiert, der sich vor der Disziplinarkommission wegen mehrerer unentschuldigter Fehltage verantworten musste.37 Jože P. rechtfertigte seine Abwesenheit vom Arbeitsplatz, indem er 32 Vgl. B. NIKOLIĆ , Reč ima disciplinska komisija, Crvena zastava, Nr. 111, April
1965, 7. 33 Vgl. J. Ž., Predlozi sa radnog mesta. Da ostane skraćena radna nedjelja, Crvena zas-
tava, Nr. 108, März 1965, 11. 34 Vgl. A. MUDRIĆ, Bolovanje uz papriku i kantar, Crvena zastava, 16.10.1974, 2. 35 Vgl. R.S., Prošle godine bolovanja neznatno rasla, Crvena zastava, 2.2.1977; DERS.,
I dalje veliko odsustvo zbog bolovanja, 25.5.1977, 4; Zamašna stavka u potrošnji zdravstva, 15.7.1977, 6; M. JOVIČIĆ, Veliki gubici zbog bolovanja, Crvena zastava, 14.11.1977, 5. 36 Vgl. Pepe Volan vas opazuje, Skozi TAM, Mai 1963, 16. 37 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 22: SI-PAM, f. 1341, šk. 22.
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darauf verwies, dass er Obst für die Wintervorräte ernten müsse, denn sein Einkommen reiche nicht aus, die dreiköpfige Familie zu versorgen. Diese Argumentation mit seiner kritischen sozialen Situation schien auf der Ebene der lokalen Gewerkschaft kein Tabu zu sein, erachtete Jože P. sie doch als angemessen, um seine Abwesenheit aus der Fabrik zu rechtfertigen. Ähnlich wie bei Zastava in Kragujevac mehrten sich in der Fabrikzeitung bei TAM in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Berichte über steigende Krankenstände und es existierten Kommissionen, die krank Gemeldete zur Kontrolle zu Hause besuchten.38 Auch hier ist neben der Annahme, dass Disziplinverletzungen zunahmen, ein Zusammenhang mit staatlich geforderten Stabilisierungsprogrammen plausibel. All diese Entwicklungen lassen den Schluss zu, dass zwischen den 1940er und den späten 1970er Jahren parallele Tätigkeiten als LohnarbeiterIn in der Fabrik und gleichzeitig in der (familiär betriebenen) Landwirtschaft sowohl in Maribor als auch in Kragujevac ein verbreitetes Existenzmodell waren. Das Phänomen verweist deutlich auf den generellen Trend des Übergangs von landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft oder landwirtschaftlicher Produktion für den Weiterverkauf hin zu Lohnarbeit in der Fabrik. Die geringe Dichte der Quellen lässt jedoch keine Aussagen über die zeitliche Entwicklung dieser Haushaltsstrukturen und das Verhalten von ArbeiterInnen in Bezug darauf in Industriebetrieben in der Zeit zwischen der Mitte der 1960er und dem Ende der 1970er Jahre zu. Mit dem Einsetzen der Krise am Ende der 1970er Jahre wurden Versorgungsmöglichkeiten durch eigene Landwirtschaft und damit parallele Erwerbsmodi jedoch wieder relevanter als sie es unmittelbar zuvor gewesen waren. Die Funktion, welche die starke Thematisierung von „undisziplinierten“ migrantischen ArbeiterInnen als produktionshemmenden Faktor für die sozialen Beziehungen innerhalb der Belegschaft hatte, behandelt Kapitel 6.5. näher.
Informeller Nebenerwerb außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigte in den Industriebetrieben gingen über die Landwirtschaft hinaus auch anderen Tätigkeiten nach, die als selbständige Arbeit klassifiziert werden können. Diese legen mehr noch als die Arbeit in der Landwirtschaft die Deutung nahe, dass diese Beschäftigten damit ihre Einkommen steigern mussten. Ein guter Teil der ArbeiterInnen mit niedrigem Verdienst arbeitete zusätzlich, um der eigenen Familie grundlegende Lebensbedingungen zu sichern. Aber auch die Teilhabe an den steigenden Konsummöglichkeiten stellte eine Motivation für parallele Erwerbsarbeit dar. Die verschiedenen Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin, welche die Fabrikarchive und -zeitungen dokumentieren, geben Aufschluss über die Quellen zusätzlichen Einkommens. Diebstahl, die Verwendung von Fabrikressourcen für eigene Zwecke und die Nutzung von Ermäßigungen beim Kauf von Produkten des Werks sind sowohl für TAM als auch für Zastava dokumentiert. Beschäftigte setzten Produkte, 38 Vgl. Danilo VINCETIČ , Kako smanjšati število boleznin, Skozi TAM, 26.11.1976, 11;
LABOVIĆ, Umrli gigant.
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Werkzeuge oder Dienste ein, um Arbeiten zum eigenen Bedarf, informelle selbständige Tätigkeiten oder Verkäufe auszuführen. In Kragujevac diskutierte das Management 1965, wie man MitarbeiterInnen davon abhalten könne, Autos weiterzuverkaufen, die sie vorher mit Rabatten von der Fabrik gekauft hatten, da diese Praxis das Ansehen der Zastava-Werke schädigen würde.39 Auch in Maribor schlugen 1975 Mitglieder des Arbeiterrats vor, den Verkauf von Heißwasserkesseln an die MitarbeiterInnen zu günstigen Preisen einzustellen, da die Beschäftigten diese Möglichkeit sehr intensiv nutzten. Hier thematisierte die Betriebsleitung jedoch klar die hohen Kosten, die eine solche indirekte Sozialpolitik der Fabrik verursachte.40 Desgleichen bereitete der Weiterverkauf von Vergünstigungen, die Werksangehörige genossen, der Verwaltung der betrieblichen Ferienheime bei Zastava im Sommer 1971 Kopfschmerzen: einige Beschäftigte, die einen subventionierten oder kostenlosen Urlaubsplatz erhalten hatten, verkauften ihn lieber und profitierten von dem so erzielten zusätzlichen Einkommen, anstatt die Vorzüge eines Urlaubs am Meer zu genießen.41 Auch für Industriebetriebe in anderen staatssozialistischen Ländern wie der Volksrepublik Polen, der DDR, Ungarn und Bulgarien sind solche Praktiken als weit verbreitet belegt. Die HistorikerInnen verweisen in diesem Zusammenhang vor allem darauf, dass Diebstähle und ähnliches Profitieren von staatlichem Eigentum ein strukturelles Merkmal der Mangelwirtschaft darstellte, das auf allen Hierarchieebenen präsent war. IndustriearbeiterInnen hätten Diebstahl und die anderweitige Nutzung von Fabrikressourcen gerade deshalb als moralisch vertretbar angesehen, weil sie beobachteten, wie Personen in hohen Positionen Staatseigentum in ihren Besitz brachten. Daraus folgte, dass unter ArbeiterInnen soziale Abweichung eher darin bestand, kleine Diebstähle anzuzeigen, als darin, sie zu begehen.42 In der Verfügbarkeit „gesellschaftlichen Eigentums“ auch für persönliche Zwecke eine allgemein akzeptierte Kompensation für niedrige Löhne und die schlechte Versorgung mit Waren und Dienstleistungen zu sehen, ist ein weiterer Erklärungsansatz für diese strukturell verbreitete Praxis.43 39 Vgl. Ukinute povlastnice za kupovinu automobila, Crvena zastava, Nr. 112, Mai
1965, 4. 40 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 8. redne seje izvršilnega odbora Tovarne av-
tomobilov in motorjev Maribor, 27.03.1975, S. 2; SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 49. redne seje odbora za gospodarjenje in medsebojna razmerja v združenom delu skupnosti TOZD cestnih vozil Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 07.05.1975, S. 3. 41 Vgl. Đ. OSTOJIĆ, Iz naših odmarališta sa Ohrida i Brača. Pojedinci se nekorektno ponašaju, Crvena zastava, 8.9.1971, 7. 42 Vgl. bes. MAZUREK, Das Alltagsleben im sozialistischen Betrieb, 315; Jeannette Z. MADARÁSZ, Working in East Germany. Normality in a Socialist Dictatorship, 1961– 79. Basingstoke, NY 2006, 148f. 43 Vgl. bes. FRIEDREICH, Autos bauen im Sozialismus, 393–404; Vortrag auf der Jahreskonferenz des IOS Regensburg 2014: Tamás BEZSENYI, ”Mine, Yours, Ours”. Informal Relations Among the Workers of the Csepel Car Factory in the 1960s and 1970s. Regensburg 2014 (Second IOS Annual Conference, Labour in East and Southeast Europe, Institutions and Practices Between Formality and Informality, 26.–
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In beiden Fabriken nutzten MitarbeiterInnen zu allen Zeiten Fabrikeigentum, um zusätzliches Einkommen zu generiern.44 Wenn MitarbeiterInnen gestohlene Gegenstände verkauften oder für Erwerbsarbeit verwendeten, kam dies kleingewerblichen Einkommensmodi nahe. Zudem mussten Beschäftigte nicht notwendigerweise stehlen, um mit Fabrikressourcen auf selbständiger Basis das eigene Einkommen aufzubessern. Denn auch nicht fabrikgebundene Aufträge oder private Arbeiten im Unternehmen zu erledigen, war an manchen Arbeitsplätzen möglich. Dabei handelte es sich wohl um ein häufiges Phänomen, das in einem Katalog der Disziplinarverstöße in einem Betriebsteil von TAM im Jahr 1983 sehr widersprüchlich behandelt wurde: Einerseits definierte das Regelwerk es als schweren Disziplinarverstoß, am Arbeitsplatz in der Fabrik Arbeiten „für sich oder für andere“ zu erledigen. Auf der anderen Seite aber wertete es das Mitbringen eigener Gegenstände ins Werk zur Reparatur, ohne dies dem Werksschutz anzuzeigen, nur als leichten Verstoß.45 Schon die normativen Vorgaben eröffneten somit eine Grauzone, was zeigt, dass bei der Werksleitung Unsicherheiten bestanden, wie rigoros sie auf diese offenbar übliche Praxis reagieren sollte. JournalistInnen der Fabrikzeitungen und VertreterInnen der Selbstverwaltung verurteilten parallele Tätigkeit in der Landwirtschaft, Diebstahl und die Nutzung von betrieblichen Ressourcen nie als Verhalten, dass dem Idealbild sozialistischer ArbeiterInnen widerspräche. Selbst die Partei- und Massenorganisationen im Betrieb appellierten hauptsächlich an das Verantwortungsgefühl der Belegschaft gegenüber der Fabrik. Ihre Arbeit dort sollten die Beschäftigten doch im Sinne des Prinzips der vereinten Arbeit als gemeinsame Verantwortung ansehen und der Fabrik nicht durch Diebstahl oder die Erledigung fabrikfremder Aufgaben schaden.46 Während für Maribor aufgrund der Quellenlage nur Hinweise darauf vorhanden sind, dass Beschäftigte bei TAM neben ihrer Anstellung mit selbständigen Tätigkeiten Geld verdienten, ohne dass diese genauer benannt wurden, legen die Quellen aus Kragujevac eine Vielfalt an Nebenerwerbsquellen offen. In 28.06.2014); BRUNNBAUER, „Die sozialistische Lebensweise“, 696. 44 Franc KOCMAN, Dolgoprstneži ne miruju, Skozi TAM, 7.5.1969, 8; Večje število kaz-
nivih dejanj, manjša škoda, Skozi TAM, 21.9.1984, 6; B.R., Otkrivena grupa kradljivaca svećica, Crvena zastava, Juli 1965, 4; Ž. GLIŠOVIĆ, Beleška. Savest, Crvena zastava, 21.7.1971, 3; ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Zapisnik sa 7. sednice Radničkog saveta OOUR-a „Privredna vozila“, 25.05.1984, S. 16. 45 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih, 1983, 62. 46 Vgl. Fabrički komitet Saveza komunista Srbije, Izveštaj o radu Saveza komunista u 1963. godini. Kragujevac 1964, 7; SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XI. rednega zasedanja delavskega sveta podjetja Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 21.01.1966; ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa sednice Radničkog saveta, o.D., 4; ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa zajedničke sednice Zajednice za proizvodnju privrednih vozila, Radničkog saveta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila i Radničkog saveta OOUR Zajedničkih službi, 11.07.1973, S. 1–4; SI-PAM, f. 1341, šk. 114: Zapisnik 19. skupne razširjene seje, 11.
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einem Disziplinarverfahren wird ein Beschäftigter beschuldigt in seinen Fehlzeiten „von Skopje bis Sarajevo“ Lebensmittelhandel betrieben zu haben,47 ein anderer, in Kneipen zu musizieren.48 Auch der Verkauf von Waren, die Beschäftigte in die Fabrik hineinbrachten, konnte zusätzliches Einkommen bescheren,49 wie auch das illegale Taxis, das den registrierten Taxifahrern Konkurrenz bereitete.50 Angesichts des ab den 1960er Jahren abklingenden Nachkriegsbooms, der sich durch wachsende Arbeitslosigkeit bemerkbar machte, wurden Zusatzeinkommen nicht nur für Beschäftigte in den unteren Einkommensgruppen immer notwendiger. Zwischen 1971 und 1980 stieg die Arbeitslosenrate in Jugoslawien von 3,3 % auf 8,4 %.51 Aufgrund der heterogenen sozioökonomischen Entwicklung im Land waren verschiedene Regionen davon unterschiedlich betroffen, wie statistische Daten aus Maribor und Kragujevac zeigen. Tabelle 2: Arbeitslosigkeit in Maribor und Kragujevac 1971 und 198152 Gesamtbevölkerung Gemeinde Kragujevac
Registrierte GesamtbevölRegistrierte Arbeitslosigkeit kerung Arbeitslosigkeit Stadt Gemeinde Stadt Maribor Kragujevac Maribor
1971
130.551
6.420
171.745
1.679
1981
164.823
14.398
185.699
1.423
Bei geringerer Bevölkerungszahl war die Zahl der registrierten Arbeitssuchenden in Kragujevac höher als in Maribor, ein Trend, der sich 1981 gegenüber 1971 noch verschärfte. Neben der regionalen Ungleichverteilung von Arbeitslosigkeit war sie hauptsächlich ein Problem junger Menschen, die nach ihrer AusVgl. L. Č., Oprošteni otkaz, Crvena zastava, August 1965, 2. Vgl. ZCZ-FPV / Disc., 1972: Rbr. 32/72, 20.10.1972. Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1978: Rbr. 173/78. Vgl. AS, Đ-2, k. 453: Pregled Predstavki i žalbi upućenih centralnom komitetu SK Srbije, njegovom organima i funkcionerima u junu 1982. god., Beograd, August 1982, S. 11. 51 PROUT, Market Socialism in, 225, die Prozentzahlen beziehen sich auf den Bevölkerungsteil in erwerbsfähigem Alter. Prout nutzt OECD-Daten, die von offizieller jugoslawischer Seite bereitgestellt worden sind. 52 Gesamtbevölkerung Gemeinden Maribor und Kragujevac 1971: SGJ 1976, 563, 645; registrierte Arbeitslosigkeit Städte Maribor und Kragujevac 1971: SGJ 1972, 608; Gesamtbevölkerung Gemeinden Kragujevac und Maribor 1981: SGJ 1984, 622; Registrierte Arbeitslosigkeit Städte Maribor und Kragujevac 1981: SGJ 1982, 695. Arbeitslosenzahlen für die Gemeinden sind im Statistischen Jahrbuch nicht verzeichnet, weshalb hier die Zahlen für die Stadtgebiete herangezogen werden. Volkszählungen fanden 1971 und 1981 statt, weshalb z. B. im statistischen Jahrbuch 1976 die Bevölkerungszahlen der Gemeinden von 1971 genannt werden. 47 48 49 50
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bildung Arbeit suchten. Seit den frühen 1970er Jahren konnten Beschäftigte im vergesellschafteten Sektor nur noch aus disziplinarischen Gründen entlassen werden, statt wie noch in den 1960er Jahren bei dauerhaftem Auftragsrückgang oder aufgrund von technischen Rationalisierungsmaßnahmen. Es waren die Verfassungszusätze von 1971, die sogenannten „Arbeiterzusätze“, welche Arbeitsplatzsicherheit unabhängig von technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen garantierten,53 ein Umstand, der in Analysen des Phänomens der Arbeitslosigkeit in Jugoslawien selten berücksichtigt wird.54 Bis 1971 jedoch konnten ArbeiterInnen demnach ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn ihre Unternehmen mit schlechter Auftragslage konfrontiert waren. Die ab Beginn der 1970er Jahre dennoch weiter steigende Arbeitslosigkeit hatte zur Folge, dass nun diejenigen, die eine Anstellung hatten, zunehmend mehr arbeitslose Haushaltsmitglieder versorgen mussten. Um das Beschäftigungsproblem zu entschärfen, ließ die jugoslawische Regierung ab 1962 Arbeitsmigration ins westeuropäische Ausland zu. Allerdings wirkte die Krise der westeuropäischen Industrie ab den 1970er Jahren wiederum auf Jugoslawien zurück, denn ArbeitsmigrantInnen kehrten aus Westeuropa arbeitslos in ihr Heimatland zurück.
Die Legalisierung von Nebenerwerb in den 1970er Jahren Die Ölkrisen 1973 und 1979, von denen besonders die zweite einen Markstein für den Umbruch von der industriellen zur postindustriellen Wirtschaft in den 1970er Jahren darstellt, wirkten sich beiderseits des Eisernen Vorhangs und somit auch auf Jugoslawien aus. Einerseits war die jugoslawische Industrieproduktion auch bei TAM und Zastava von Importen abhängig, die nun schwerer zu tätigen waren. Andererseits mussten nun viele nach Westeuropa migrierte jugoslawische ArbeiterInnen zurückkehren, weil ihre dortigen Unternehmen von der Rezession betroffen waren. Die jugoslawische Regierung sah sich gezwungen, Lösungen für die mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten zu Hause finden und versuchte, ihre Bürger zur Erwerbstätigkeit mittels Kleingewerbe zu stimulieren.55 Parallel zu dieser Entwicklung gingen zudem die Reallöhne der in Jugoslawien Beschäftigten ab 1979 deutlich zurück.56 Offenbar in Reaktion darauf schuf die jugoslawische Gesetzgebung schon in der Mitte der 1970er Jahre legale Möglichkeiten, parallel zu einer Beschäftigung im gesellschaftlichen Sektor gewerblichen Tätigkeiten nachzugehen. Diese Entwicklung kann als deutlicher Gegensatz zu offiziellen Haltungen in der Periode intensiver Industrialisierung gewertet werden, als die parallele Tätigkeit in verschiedenen Erwerbsmodi als ideologisch verdächtig und somit zu verurteilen galt. 53 Vgl. Verfassungzusatz XXI, 8.2: Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien,
Bundesversammlung, Verfassungsänderungen XX bis XLII 1971, 11. 54 Thomas Eger und Peter Weise bilden hier eine Ausnahme. Sie verorten den Beginn
des erheblich ausgeweiteten Kündigungsschutzes jedoch im Jahr 1973. Vgl. EGER / WEISE, Eger et al., Arbeitskräfteallokation, 67–109, 83f 55 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 281. 56 Vgl. PROUT, Market Socialism, 225, 232.
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Nun konnte sogar der gemischte Einkommenserwerb aus landwirtschaftlicher und Industriearbeit in einem positiven Licht erscheinen. In einer Ausgabe von 1979 porträtierte die Kragujevacer Zeitung Svetlost eine solche Doppelexistenz in affirmativer Weise als ein „Leben auf zwei Gleisen“.57 Milorad Gavrilović, ein Arbeiter der lokalen Holzindustrie, lebte in einem Dorf sechs Kilometer von Kragujevac entfernt und bewirtschaftete mit Hilfe seiner Familienangehörigen zehn Hektar Land. Wie viele in seinem Dorf arbeitete er in einem Betrieb in Kragujevac, verkaufte aber auf dem Markt Lebensmittel, die er mit seiner Familie selbst produzierte. Milorad Gavrilović betonte, dass er seine Aufgaben in dem Holzunternehmen ordnungsgemäß erfüllte und wehrte sich gegen die abwertende Bezeichnung „polutan“ (Mischling, Zwitter), eines Bauern, der nicht richtig im urbanen Leben angekommen sei. Es ist bemerkenswert, wie das Thema der parallelen Einkommen aus Industriearbeit und eigener Landwirtschaft nun als etwas Akzeptables, ja sogar explizit positiv dargestellt wird. Diese Wende ist zweifellos dem Umstand zuzuschreiben, dass man im Zuge der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung bei der Versorgung mit Lebensmitteln stark auf lokale ProduzentInnen angewiesen war. Überdies billigte man auf diese Weise öffentlich diesen Erwerbsmodus, der nicht zu erfüllende Lohnforderungen und somit Konfliktpotential in den Betrieben abmilderte. Bereits in der Mitte der 1970er Jahre hatten Beschäftigte in staatlichen Betrieben die Möglichkeit, ihre Einkommen mit gewerblicher Tätigkeit aufzubessern. Anfragen auf die Erlaubnis dazu in der Nutzfahrzeugfabrik bei Zastava bezeugen dies. So bekam 1976 ein Arbeiter der Transportabteilung, welche für relativ niedrige Einkommen bekannt war, eine Erlaubnis des Arbeiterrats, nebenberuflich als Parkettleger zu arbeiten.58 Der Arbeiter holte die Genehmigung ein, um das Einkommen aus dieser zusätzlichen Tätigkeit versteuern zu können, was davon zeugt, dass die Behörden versuchten, irregulären Nebenerwerb zu legalisieren. Das typische und für die VertreterInnen des Selbstverwaltungsgremiums augenscheinlich legitime Argument für den Antrag bestand darin, dass der Arbeiter angab, sein Einkommen aus der Arbeit in der Fabrik reiche nicht aus, um allein davon eine vierköpfige Familie zu ernähren. Die Wahrung des sozialen Friedens im Betrieb fungierte somit als Motivation der Leitung, nebenberufliche Tätigkeiten zu erlauben. Aber auch Beschäftigte mit komfortablerem Einkommensniveau in der Hierarchie eines Industrieunternehmens baten um die Erlaubnis, einem Nebenerwerb auf selbständiger Basis nachzugehen.59 So beantragte 1976 beantragte eine Gruppe von Meistern die Erlaubnis für derartige Tätigkeiten außerhalb der Nutzfahrzeugfabrik. Die Betriebsleitungen nahmen die Ausübung paralleler Erwerbstätigkeiten, welche der Staat in legale Kanäle geleitet hatte, jedoch auch als Disziplinproblem wahr. 1984 beantragte Rajko N., ein Arbeiter in der Lackiererei der Zas57 Vgl. M. PEĆO, Život na dva koloseka, Svetlost, 13.9.1979. 58 Vgl. ZCZ-FPV, RS, 1976: Zahtev za odobrenje za vršenje dopunske delatnosti,
07.04.1976. 59 Vgl. ZCZ-FPV, RS, 1976: Zapisnik sa nastavka 25. sednice Radničkog saveta,
24.03.1976, S. 3.
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tava-Nutzfahrzeugfabrik die Erlaubnis, seinen Beruf auch als Selbständiger ausüben zu dürfen. Auch er verwies auf seine angespannte materielle Situation. Allerdings lehnte der Arbeiterrat sein Gesuch ab und begründete dies damit, dass eine solche zusätzliche Tätigkeit sich „negativ auf seine Produktivität“ in der Fabrik auswirken würde.60 Obwohl also die Erlaubnis für eine gewerbliche Tätigkeit neben der Fabrikarbeit sozialen Sprengstoff entschärfte, blickte die Betriebsleitung mit Sorge auf deren Folgen, die sich als geringeres Engagement der Betreffenden in der Fabrikproduktion äußern konnte. Nicht zufällig war die Arbeitsdisziplin in den Betrieben ein Thema, das die Medien in den frühen 1980er Jahren zunehmend thematisierten. In Serbien nutzte man der Begriff „nerad“ (Dt. wörtlich: Nicht-Arbeit), um unzuverlässige Belegschaftsmitglieder zu schmähen.61 Bei TAM thematisierten Artikel in der Werkszeitung 1981 am häufigsten das Disziplinarproblem des frühzeitigen Verlassens des Arbeitsplatzes.62 Erstaunlicherweise lassen sich einige Jahre später keine Beiträge mehr finden, die dieses Problem aufgreifen, selbst wenn auch 1984 Disziplinarverstöße an der Tagesordnung gewesen sein dürften. Ein solcher Umgang deutet auf einen sich-Arrangieren seitens des Leitungspersonals hin. Ein Ausspruch, der ebenfalls in den 1980ern in Jugoslawien kursierte, illustriert die Haltung, die Beschäftigte angesichts der Einschnitte im Lebensstandard angenommen haben mochten: „Niemand kann meinen Lohn so stark kürzen wie ich in der Lage bin, meine Arbeit zurückzuhalten“.63 So autonom wie möglich über ihre offizielle Arbeitszeit zu verfügen, muss vielen ArbeiterInnen immer stärker gerechtfertigt erschienen sein, verschlechterten sich doch ihre Lebensverhältnisse im Vergleich zu früheren Jahren in den 1980er Jahren deutlich.
Fazit In mehr als einem Arbeitsverhältnis zugleich aktiv zu sein, war, wie Studien belegen, zwischen den 1960er und 1980er Jahren zumindest für ein Segment der Beschäftigten nicht nur bei TAM und Zastava, sondern in ganz Jugoslawien, Normalität.64 Die rapide Industrialisierung der Nachkriegszeit resultierte darin, 60 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Zapisnik sa 7. sednice, 16. 61 Vgl. M. JOVIČIĆ, Energičnije protiv nerada i nediscipline, Crvena zastava,
16.10.1985, 3; Koliko (ne)radimo. Zavirite u kancelarije!, Crvena zastava, 3.9.1980, 2; Ankica VESIĆ, Bez tolerancije za nerad, Svetlost, 10.11.1983, 8. 62 Vgl. G. F. E., Kritično o vsakodnevnih problemih, Skozi ZIV TAM, 9.10.1981, 7; Nediscipliniranim preprečiti razvade, Skozi ZIV TAM, 23.10.1981, 13. 63 Srb.: „Niko ne može toliko malo da me plati, koliko malo mogu da radim.“ Zitiert z. B. in: S. JERKOVIĆ, Akcije u Fabrici dostavnih vozila Zavoda „Crvena zastava“ u Somboru („Borba“ – Beograd), Crvena zastava, 17.7.1985, 6. 64 Vgl. BIĆANIĆ, Economic Policy, 101f.; Katarina PRPIĆ, Neregistrirana radna aktivnost stanovništva SFRJ/SRH, Naše teme 23 (1979), H. 10, 1745–1762; Tihana RUBIĆ, Afternoon Moonlighting – It Was a Must. The Dynamics and Paradoxes of the Croatian Socialist and Post-Socialist Labor Market, Narodna umjetnost 50 (2013), H. 1, 121–145.
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dass in einem großen Anteil von Haushalten einzelne Familienangehörige gleichzeitig in der Fabrik und der eigenen Landwirtschaft beschäftigt waren. In verschiedenen Intensitätsgraden wurde darin das Bedürfnis nach zusätzlichen Einkommen aufgrund ungenügender Löhne, aber auch der Wunsch nach Teilhabe an den Versprechen der Konsumgesellschaft deutlich. Die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie stagnierten bereits ab den 1960er Jahren, was aber verstärkt erst in den 1970er Jahren und besonders zu Beginn der 1980er Jahre deutlich spürbar wurde. Aus diesem Grund wurde der Zuverdienst zu bestehenden Arbeitsverhältnissen in Industriebetrieben, so auch bei TAM und Zastava, für eine wachsende Zahl von Beschäftigten immer notwendiger. 1986, in einer Zeit, in der kritische Analysen sozialer Unterschiede, die sich vor einer grundsätzlichen Hinterfragung des sich sozialistisch nennenden Systems nicht scheuten, wies die Soziologin Eva Berković deutlich auf diesen Zusammenhang hin.65 Nur im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilten die Staatsführung und die Fabrikleitungen die damit verbundenen Verletzungen der industriellen Arbeitsdisziplin dezidiert als Angriff auf die sozialistische Ordnung. Die 1970er Jahre brachten rechtliche Möglichkeiten und öffentliche Anerkennung für gewerblichen und landwirtschaftlichen Nebenverdienst. Gleichzeitig stellten aber die damit verbundenen Disziplinverletzungen weiterhin ein Hindernis für industrielle Produktionsprozesse dar. Die Toleranz niedriger Arbeitsdisziplin besaß dabei einen kritischen Doppelstatus: Einerseits stellte sie einen stabilisierenden Faktor in Aushandlungsprozessen zwischen Belegschaft und LeiterInnen dar, andererseits wirkte sie verschärfend auf die ohnehin schwierigen Produktionsbedingungen.
5.2. Disziplinarische Regulierung und ihre eingeschränkte Reichweite: Kooperative Praktiken Kooperativen Praktiken als einem Merkmal von Aushandlungsprozessen kommen neben dem Modus des Konflikts eine wichtige Bedeutung zu. Alf Lüdtke begreift die beiden Prinzipien als komplementär, anstatt sie als Gegensatz aufzufassen: „Distanz und Kooperation, Feindseligkeit und Solidarität lagen eng beieinander, schlossen sich keineswegs aus, auch nicht gegenüber denselben Personen.“66 Wie im Fall der alternativen Einkommen sind es wieder überwiegend Disziplinverletzungen, anhand derer kooperative Übereinkünfte zwischen LeiterInnen und Belegschaft sichtbar werden. Am den Beispielen des Umgangs mit unregelmäßigen Produktionsrhythmen und verbotenem Alkoholgenuss steht im Folgenden konsensorientiertes Handeln als Strategien in sozialen Konflikten im Mittelpunkt.
65 Vgl. BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti, 63. 66 Vgl. Alf LÜDTKE, Arbeit, Arbeitserfahrungen und Arbeiterpolitik. Zum Perspektiven-
wandel in der historischen Forschung, in: DERS. (Hg.), Eigen-Sinn, 351–440, 386.
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Unregelmäßige Produktionsrhythmen Die Werksleitungen in Maribor und Kragujevac standen häufig vor dem Problem, dass in den komplexen Produktionsprozessen von Motorfahrzeugen eine Synchronisierung von Arbeitsschritten schwer möglich war. Dies blieb nicht ohne Wirkung für das Bestreben, Arbeitsdisziplin durchzusetzen. Es handelte sich dabei keineswegs um eine Herausforderung, vor der nur die sozialistische Industrieproduktion stand. Indem er auf Ergebnisse westdeutscher Arbeitssoziologie der 1970er und 1980er Jahre verweist, stellt Heiner Minssen 1990 für kapitalistische Betriebe heraus, dass unregelmäßige Produktionsrhythmen für Beschäftigte informelle Handlungsspielräume eröffnen können: Eine tayloristische Form von Kontrolle basiert auf der Trennung von Planung und Ausführung, der Zerlegung der auszuführenden Arbeiten in kleinste Teilschritte und die exakte zeit- und mengenmäßige Überwachung dieser Teilschritte; es geht um die Einzelsteuerung und Einzelzeiterfassung. Dies setzt standardisierte, formalisierte und stetige Arbeitsabläufe voraus – Bedingungen, die sicherlich nicht den Regelfall von Arbeit darstellen. […] Je weniger Arbeitshandeln aber auf der Grundlage exakter Vorausplanung und -bestimmung zu kontrollieren ist, umso mehr muß auf die konsensuelle und zweckdienliche Gestaltung der dadurch entstehenden Handlungsspielräume durch die Arbeitenden vertraut werden, um so unterschiedlicher sind demzufolge auch die Formen von Kontrolle.67
Störungen stetiger Arbeitsabläufe kamen zwischen den 1960er und 1980er Jahren in der jugoslawischen Fahrzeugindustrie regelmäßig vor. Die Abhängigkeit von einer Vielzahl (teilweise importierter) Rohstoffe, Zulieferprodukte und technischer Ausrüstung verursachte eine Reihe von Unregelmäßigkeiten. Bei ausbleibenden Investitionen wuchs zudem die Störanfälligkeit zunehmend veraltender Produktionstechnik. Diese Unzulänglichkeiten konnten von den nach Selbstverwaltungsprinzipien organisierten Betriebsleitungen mit diffus verteilter Verantwortung in der dezentralisierten Organisationsform oft nur schwer ausgeglichen werden. Aber auch die Auftragslage, die schwanken konnte, brachte Arbeitsprozesse ins Stocken. Nachdem mit den Wirtschaftsreformen 1965 der jugoslawische Markt teilweise liberalisiert und zum Weltmarkt hin geöffnet worden war, folgte z. B. eine Rezession, die unter anderem mit Kündigungen einherging. Auch bei TAM war 1966 die Lage angespannt, denn der Arbeitsumfang war gesunken, was Arbeitsplätze und Löhne gefährdete. So debattierten die Delegierten auf einer Sitzung des Arbeiterrates bei TAM im Februar 1966 über die Gründe für die gesunkene Arbeitsdisziplin in der Produktion.68 Das Leitungspersonal verschiedener produzierender Abteilungen hatte Unzufriedenheit bei den Beschäftigten bemerkt. Diese würden, wenn die Zulieferprodukte stockend bei ihnen eintrafen, aber auch wenn ausreichend Materialien vorhanden waren, 67 Heiner MINSSEN, Kontrolle und Konsens. Anmerkungen zu einem vernachlässigten
Thema der Industriesoziologie, Soziale Welt 41 (1990), H. 3, 365–382, 368. 68 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XIII. rednega zasedanja delavskega sveta
podjetja Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 14.02.1966, S. 8–10.
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langsamer arbeiten. Man erklärte sich das Verhalten mit der Angst der Beschäftigten, sie würden die verfügbare Arbeit zu schnell abschließen, woraus, wenn es öfter vorkäme, ein Arbeitskräfteüberschuss entstehen könne. Zu dieser Zeit waren in Jugoslawien und somit auch bei TAM und bei Zastava Entlassungen noch möglich, wenn „sich der Arbeitsumfang oder die Geschäfte dauerhaft verringer[te]n“.69 Angesichts der formal als Disziplinverstoß zu charakterisierenden Zurückhaltung von Arbeit scheinen in den Äußerungen der Leitungspersonen auf der Arbeiterratssitzung bei TAM im Februar 1966 kooperative Züge im Verhältnis zwischen den Verantwortlichen in den Produktionsabteilungen und ihren Belegschaften auf: Man habe Verständnis, denn sie [die AbeiterInnen] leben in der ständigen Angst, morgen ohne Arbeit dazustehen und gezwungen zu sein, in den Zwangsurlaub zu gehen oder mit nur 80 % des Lohnes nach Hause zu gehen. Wir sind nicht in der Position, von den Leuten höhere Arbeitsproduktivität zu verlangen […].70
Bei diesem Sich-Arrangieren seitens der Vorgesetzten mit „undiszipliniertem Verhalten“ von ProduktionsarbeiterInnen handelte es sich jedoch um eine sorgfältig abgewogene Haltung. Die Verantwortung, auch nach dem Auftragstief oder überwundenen Materialengpässen die Produktion am Laufen zu halten, lag bei den LeiterInnen in den Abteilungen. Das Verständnis für langsameres Arbeiten und der Wille, die Beschäftigten in der Produktion zu halten, entsprang demnach auch aus der für einige Monate später antizipierten Knappheit von Arbeitskräften. Für die von Kompromissen charakterisierten Arrangements zwischen ProduktionsarbeiterInnen und dem mittleren Leitungspersonal spielte noch eine weitere Ebene von betrieblichen Konflikten eine Rolle: die gegenseitigen Vorbehalte zwischen produzierenden und nicht-produzierenden Abteilungen (siehe auch Kapitel 6.1.). Wie die weitere Diskussion der Arbeiterratssitzung im Februar 1966 bei TAM zeigt, diskutierte man dort die Frage nach der Verantwortung für die unregelmäßigen Produktionsrhythmen kontrovers.71 Verständnis für die kritische soziale Situation der eigenen ArbeiterInnen und in der Konsequenz auch für das Zurückhalten von Arbeit zu zeigen, fungierte dabei als Argument von Verantwortlichen aus den Produktionsabteilungen in der Auseinandersetzung über schlecht funktionierende organisatorische Abläufe. Die Schuld dafür wiesen die LeiterInnen unter anderem den Angestellten in den produktionsvorbereitenden Diensten zu und rechtfertigten damit das Verhalten ihrer ArbeiterInnen. Die fortschreitende Dezentralisierung der Betriebe in selbstverwaltete Untereinheiten verschärfte das Problem unzureichender Koordination in den folgenden Jahren noch. Denn je weiter die Dezentralisierung mit 69 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih, 30.03.1966, S. 66; in
einer Verordnung von Zastava ist von Entlassungen wegen Arbeitskräfteüberschuss noch 1970 die Rede: Zavodi „Crvena zastava“, Nacrt pravilnika o radnim odnosima. Kragujevac 1970, 35. 70 SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XIII. rednega zasedanja DS, 14.02.1966, 9. 71 Vgl. ebenda, 10–14.
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der Formierung der Grundorganisationen der vereinten Arbeit – GOVA in den 1970er Jahren fortschritt, desto höher wurde der Bedarf an innerbetrieblicher Koordination, was gerade große Betriebe vor Herausforderungen stellte.72 Zum Umgang mit der schwankenden allgemeinen Wirtschaftslage kam in den 1970er Jahren, allerspätestens mit dem Gesetz über die vereinte Arbeit 1976, die verpflichtende Reorganisation der Unternehmen in GOVA hinzu. Sie resultierte in einer weitreichenden Autonomie der Grundorganisationen innerhalb der Betriebe und lieferte Anlässe sowie Projektionsflächen für innerbetriebliche Konflikte (dazu näher Kap. 4.1.1.). Die lange Zeit, welche die Reorganisation z. B. bei Zastava in Anspruch nahm, lässt vermuten, dass die Forderungen nach Dezentralisierung und Stärkung der Betriebsteile beim Management der Fabriken nur verhalten aufgenommen wurde.73 Entscheidungen der Staatsführung wirkten auf diese Weise auf die Beziehungen in den Betrieben ein und konnten spezifische Kooperationspraktiken zwischen ProduktionsarbeiterInnen und der Leitung in ihren Betriebsteilen bedingen. Sowohl zeitgenössischen als auch späteren Einschätzungen zufolge trug die ideologisch motivierte Aufteilung von Unternehmen in GOVA zur Instabilität der Betriebe, zu schwierigeren Managementprozessen und infolgedessen zu deren Informalisierung bei.74 Die Asynchronität der Produktion begünstigte darüber hinaus auf eine weitere Art die Bereitschaft der Leitungen, Disziplinarverstößen zu tolerieren. Daran wird deutlich, auf welche Weise informelle Arrangements zum Funktionieren der Industrieproduktion beitrugen, wenn unerwünschte Unterbrechungen der Lieferkette Stillstände der Produktion hervorriefen. „Undiszipliniertes Verhalten“ wurde zum Teil mit diesen Wartezeiten erklärt, während derer man Beschäftigte nicht zum Verweilen am Arbeitsplatz zwingen konnte.75 Im Protokoll eines Disziplinarverfahrens gegen den qualifizierten Karosserieklempner Đorđe L. in der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac aus dem Jahr 1972 wird ein ambivalenter Umgang mit Disziplinverletzungen zwischen Toleranz und Sanktionierung deutlich: `Ich gebe zu bedenken, dass ich nicht in der Werkstatt sitzen bleiben und Blei schlucken werde, wenn ich keine Arbeit habe. Ich bin jetzt 25 Jahre alt und was soll werden, wenn ich jetzt krank werde, was erst, wenn ich älter bin. Sobald ich kurz die Produktionslinie verlasse, schreibt mir der Schichtführer sofort eine Anzeige, er verfasst einen Beschluss über den Abzug von Arbeitszeit, das ist so eine 72 Vgl. ROGGEMANN, Das Modell der Arbeiterselbstverwaltung in, 40; Složeni zadaci na
daljem usavršavanju samoupravnih odnosa u kolektivu, 10.4.1974, 1; OSREČKI / GLIŠOVIĆ, Okrugli sto: Odgovornije. 73 Vgl. ZCZ-FPV, RS RO PV, 1978–79: Zaključci sa Plenuma društveno-političkih organizacija RO FPV, 15.08.1978. godine, S. 3. 74 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 35. redne seje odbora za gospodarjenje in medsebojna razmerja v združenom delu skupnosti TOZD cestna vozila Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 07.01.1975, S. 1–4; MADŽAR, The Economy of Yugoslavia, 89; GOLUBOVIĆ, Contemporary Yugoslav Society, 107; bezogen auf die frühen 1980er in der Zastava-Autofabrik: JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 118. 75 Vgl. T. J., Minut do dvanaest. Šta je pravi razlog, Svetlost, Nr. 2, 18.1.1968, 4.
169 Art Nahrung für seine Seele.´ Auf die Frage des Kommissionsmitglieds Miloš R. an den Beschuldigten `Sollte man dir die Zeit, die du draußen verbringst, wo es angenehmer ist, als Arbeitszeit bezahlen´. [sic!] Auf diese Frage antwortete der Beschuldigte `Ich weiß nicht´.76
Weder der Schichtführer noch die Disziplinarkommission wussten wohl auf die Frage, wie man mit dem generellen Problem von Wartezeiten während Stillständen umgehen sollte, eine allgemeingültige und schlüssige Antwort. Đorđe L. bestand während seiner Befragung indessen darauf, dass seine KollegInnen während Stillständen der Produktion ebenfalls die Werkstatt verließen und protestierte dagegen, dass gerade sein Fall geeignet sein sollte, ein Exempel zu statuieren. Der unentschiedene Umgang mit ähnlichem Verhalten unter den ProduktionsarbeiterInnen schien anzuhalten. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde bei Zastava häufiger beklagt, Beschäftigte würden auf dem Werksgelände Fußball spielen. Eindringlich appellierte ein Mitglied des Arbeiterrats der Nutzfahrzeugfabrik 1973 in einer Sitzung: Außerdem [würde ich vorschlagen], dass auf unserem Gelände nicht mehr Fußball gespielt wird, weder zur Arbeitszeit, noch in den Pausen und auch keine Glücksspiele. Dass zur Arbeitszeit nicht in den Werkstätten oder draußen herumspaziert wird, sondern dass wir hier arbeiten, so wie sich das gehört. Wir müssen jetzt mal Selbstdisziplin zeigen und wenn das nicht hilft, dann strenge Strafen verhängen. Ich denke, man müsste das auch über die politischen Organisationen umsetzen; außerdem müssen wir jetzt Maßnahmen treffen, denn einzig Ordnung und Disziplin können Erfolg garantieren und nicht Unordnung. Auch die Leiter müssen verantwortlich handeln, und auch gegen sie müssen entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.77
Eben die Verantwortlichen, die die Produktion direkt überwachten, mögen in vielen Fällen davon abgesehen haben, Beschäftigte vor die Disziplinarkommissionen zu stellen. Einerseits sicherlich, weil es an Plausibilität fehlte, alternativen Zeitvertreib zu verbieten, während die Bänder stillstanden. Ein anderer wichtiger Grund war, dass auf Leerlauf oft sehr intensive Arbeitsphasen folgten. Dann mussten die laufende Produktion und gleichzeitig die zwangsweise aufgestauten Aufgaben parallel erledigt werden, wobei das Leitungspersonal den Beschäftigten große zeitliche Flexibilität abforderte. Dieses Alternieren von Wartezeiten und sehr hohen Arbeitsbelastungen erforderte die Kooperationsbereitschaft der Belegschaft, welche die LeiterInnen, die sich am nächsten an der Produktion befanden, sicherstellen mussten. Die Betriebsführung, die dem alltäglichen Umgang mit den ArbeiterInnen nicht direkt ausgesetzt war, konnte aus ihrer Perspektive leichter die Durchsetzung von Disziplin fordern als die Führungskräfte, die direkt in der Produktion arbeiteten. Die Art, wie Beschäftigte Stillstände nutzten, entspricht darüber hinaus Alf Lüdtkes Konzept von EigenSinn in seinem ursprünglichen Sinne.78 Anstatt um gerichteten, rationalen Pro76 ZCZ-FPV, Disc., 1972: Br. 43, Zapisnik o usmenom javnom pretresu, 30.10.1972. 77 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa zajedničke sednice Zajednice, 2. 78 Vgl. LÜDTKE, Einleitung, 9f.
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test handelte es sich hier eher um „Widerborstigkeit“, um Versuche, sich die individuelle Verfügung über die sonst stark reglementierte Arbeitszeit wieder anzueignen und Distanz zu den Zumutungen industrieller Arbeit herzustellen. Branislav Čukić, ein Mitarbeiter in Zastavas Personalabteilung, der schon in den 1960er Jahren in der Fabrik tätig war und wohl mit einer Förderung des Betriebes seinen Doktorgrad erlangte, veröffentlichte seine Dissertation 1985 unter dem Titel „Absentismus bei der Arbeit und in der Selbstverwaltung“ (Srb.: „Apsentizam u radu i samoupravljanju“).79 Mit Daten, die im Laufe der 1970er Jahre bei Zastava erhoben worden waren, analysiert er das Phänomen derjenigen Fehlzeiten von Beschäftigten, welche nicht auf Krankheit zurückzuführen waren. Čukić zufolge setzte sich ein steigender alljugoslawischer Trend zum Absentismus, der zwischen der Mitte der 1960er und der 1970er Jahre zu beobachten war, nach 1975 bei Zastava fort. In den frühen 1980er Jahren identifizierte die Betriebsleitung mangelnde Arbeitsdisziplin weiterhin als Problem, wie Berichte der Werkszeitung nahe legen.80 In seiner Studie schlug Čukić einen Weg vor, wie diese Schwierigkeiten abgemildert werden könnten: Informelle Mechanismen, welche VorarbeiterInnen und unteres Management anwandten, um die Produktion unter den Bedingungen unregelmäßiger Materialversorgung zu sichern, sollten in formale Organisationsabläufe aufgenommen werden. Ein Beispiel hierfür waren angehäufte Überstunden. In der bestehenden betrieblichen Praxis konnten Beschäftigte diese gelegentlich ausgleichen, wenn Produktionsstillstände auftraten, denn Wartezeiten und hohe Arbeitsintensität wechselten sich regelmäßig ab.81 Diese Vorschläge lassen an postfordistische Arbeitszeitmodelle denken, die größere Flexibilität beim Einsatz der Belegschaften in einem schwankenden Produktionsprozess ermöglichen. Auch die beginnenden 1980er Jahre brachten keine Veränderung, sondern die Probleme vermehrten und verschärften sich. So nannte ein Artikel über das Problem der Arbeitsdisziplin bei Zastava 1980 den Automechaniker Dragan Đ. in der Montageabteilung der Nutzfahrzeugfabrik, den man manchmal zwei oder drei Tage hintereinander wegen fehlender Arbeit nach Hause schickte. An anderen Tagen wiederum musste der Arbeiter eine Nachtschicht und sofort darauf eine Frühschicht lang arbeiten, um verloren gegangene Produktionszeit aufzuholen.82 Der von Čukić beschriebene informelle Umgang mit diesen stark schwankenden Arbeitsintensitäten bestätigt sich in Protokollen der Arbeiterräte. Da die Vergütung von Überstunden schon in den 1970er Jahren ein Problem darstellte, diskutierten die Delegierten in der Mitte der 1980er Jahre, als die verfügbaren Finanzrahmen noch enger gesteckt waren, Möglichkeiten zur Senkung der Kosten bei unregelmäßiger Produktion sehr intensiv. Dabei rangen sie eben mit der von Čukić vorgeschlagenen Formalisierung von bisher informell angewendeten Praktiken. Nicht nur einmal berieten die Mitglieder des Arbeiterrats 79 80 81 82
Vgl. ČUKIĆ, Apsentizam u radu. Vgl. JOVIČIĆ, Energičnije protiv nerada i nediscipline. Vgl. ČUKIĆ, Apsentizam u radu, 108. Vgl. S. NIKOLIĆ, Koliko (ne)radimo. Ukoštac sa neradom, Crvena zastava, 17.9.1980, 2.
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der OOUR Mechanische Fertigung in der Nutzfahrzeugfabrik darüber, ob nicht in einem Monat zu viel gearbeitete Stunden in einem anderen Monat als freie Tage genutzt werden könnten.83 Da man sich offenbar zu solchen Schritten nicht entschließen konnte, brachte – ganz gemäß Minssens Auffassung – unter unvorhersehbaren Produktionsbedingungen die intensivere Kontrolle der Beschäftigten keine Lösung. Stattdessen war man weiterhin auf ein hohes Maß an informeller Kooperation zwischen Belegschaft und mittlerem Leitungspersonal angewiesen. Dies bewirkte aber auch, dass sich unkalkulierbares Verhalten von ArbeiterInnen in diesen Unbestimmbarkeits- und Kontrolllücken entfalten konnte. Hier wurde es dann, wie auch Donald Filtzer für die Sowjetunion deutlich macht, unmöglich, erzwungene Pausen von bewussten Disziplinverletzungen zu unterscheiden.84 Strategien des Managements, Disziplinarverstöße stärker zu sanktionieren, sind im Falle Zastavas schwierig zu beurteilen. Die anhaltenden Forderungen danach in der Fabrikzeitung, das Beharren der Führungskräfte in den Arbeiterräten und Čukićs Einschätzungen legen nahe, dass die Bereitschaft, über Disziplinarkommissionen eine Ahndung von Verstößen vorzunehmen, relativ gering war. Wenngleich eine Statistik darüber nicht zugänglich ist, zeigen fragmentarische Daten der Disziplinarkommissionen, dass Entlassungen als strengste Sanktion sowohl in den 1970er als auch den 1980er Jahren praktiziert wurden.85 Bei TAM in Maribor wurden in dieser Periode ebenfalls Rufe nach strengeren Ahndungen von Disziplinverletzungen laut, die man als Versuche der Betriebsführung werten kann, informelle Aushandlungspraktiken zu unterbinden. Wenn man einen Blick auf die Statistiken wirft, in denen die Austrittsgründe von MitarbeiterInnen aus der Firma festgehalten wurden, ist bei TAM allerdings eine klare Tendenz zur tatsächlichen Verschärfung der Sanktionen erkennbar. Während sich zwischen 1971 und 1975 Entlassungen aufgrund von Disziplinarverfahren bei unter einem Prozent der Gründe für das Ausscheiden aus dem Betrieb ausmachten, stieg ihr Anteil bis 1981 auf über 12 % an.86 Differenzierte Kataloge von Disziplinverstößen zeigen, dass das Management bereits früher Instrumente schuf, um informelle Arrangements zwischen VorarbeiterInnen und Beschäftigten zu bekämpfen: Verstöße wie die falsche Dokumentation von geleisteter Arbeit oder die Verschleierung von unerwünschtem Verhalten waren schon 83 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa 37. sednice Radničkog sa-
veta OOUR-a „Mehanička obrada FPV“, 04.03.1985, S. 6; ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa nastavka, 14.03.1985, 1. 84 Vgl. Donald FILTZER, Labor Discipline, the Use of Work Time, and the Decline of the Soviet System, International Labor and Working-Class History (1996), H. 50, 9–28, 15. 85 Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Povrede radnih dužnosti, 1972; ZCZ-FPV, Disc. Tap., 1979–80: Odluke disciplinske komisije Tapacirnica; ZCZ-FPV, OOUR MO, 1984: Disciplinska komisija OOUR-a MO 1984. 86 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 32; SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Poslovno poročilo DO TAM za leto 1982, S. 14.
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1966 in den Werksordnungen definiert.87 Nimmt man also die Beschwerden über mangelnde Arbeitsdisziplin und Anzeichen für eingeschränkte Bereitschaft der ProduktionsleiterInnen, Verstöße anzuzeigen, als Indikator für informelle Aushandlungsprozesse, dann müssen diese sowohl bei TAM als auch bei Zastava eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Haltung von Partei und Massenorganisationen gegenüber kooperativen Praktiken in den Werkshallen scheint ähnlich unentschieden wie die der Betriebsleitungen. Dies überrascht nicht, denn eine analytische Trennung der Bereiche Leitung, Selbstverwaltung und Partei/ Massenorganisation lässt sich oft kaum vornehmen. Einerseits benannten die untersten Ebenen der Parteiorganisationen bei TAM in den 1970er und frühen 1980er Jahren mangelnde Disziplin wiederholt als Problem. Andererseits forderten Parteigremien in internen Sitzungen einen pragmatischen, unbürokratischen Umgang mit „kleineren Disziplinarfällen“, nämlich die Regelung der Konflikte zwischen VorarbeiterInnen und den ihnen Unterstellten.88 Gleichzeitig wies z. B. 1975 die Parteiorganisation der Galvanik bei TAM auf Probleme im Verhalten der ArbeiterInnen hin und beklagte aber, dass es schwierig sei, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.89 Diese Gemengelage deutet darauf hin, dass FacharbeiterInnen über ein hohes Maß an informeller Verhandlungsmacht verfügten (dazu auch Kap. 6.2.). Überdies instrumentalisierten Parteimitglieder in Konflikten untereinander auch den Vorwurf, die KontrahentInnen hätten undiszipliniertes Verhalten toleriert oder unterstützt.90 Zu Beginn der 1980er artikulierten die VerfasserInnen von Sitzungsprotokollen der Parteiorganisationen bei TAM eine immer größere Desillusionierung darüber, welche Relevanz der BdKJ bei der Gestaltung betrieblicher Beziehungen besäße.91 Man drang dementsprechend weniger auf die Stärkung der Arbeitsdisziplin, zumal man sich auf Parteisitzungen fragte, was man von der Belegschaft angesichts fallenden Lebensstandards fordern könne.92 In der Gewerkschaftsorganisation der TOZD Mechanischen Fertigung bei TAM dagegen beharrten im Jahr 1985 Vertreter ganz im Stil der vorangegangenen Jahrzehnte darauf, dass mit der Hebung der Arbeitsmoral ein wesentlicher Einfluss auf die
87 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih 1966, 38; ZCZ-CA,
UO ZCZ, 1966: Pravilnik o radnim odnosima, 04.03.1966, S. 26. 88 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Zapisnik konference osnovne organizacije ZK-
TOZD-Karosernice, 10.12.1975, S. 3. 89 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Glavanika: Družbeno politične organizacije TOZD
33, 34: Izvršenje akcijskega programa za I – VI 1975, 07.08.1975, S. 1. 90 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Sklep o izključitvi iz ZKJ K. Adelbert, 07.05.1981,
S. 1. 91 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Poročilo o delovanju OO ZK Sekretarijata in komisij
v preteklem 2-letnem obdoblju, o.D. [1982], S. 1f. 92 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Poročilo o delu OOZS Skupnih služb TOZD Karoser-
nica, 22.11.1983, S. 1; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik 4 sestanka OOZK Kovačnica, 1–3.
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Produktivität und somit auf die Löhne möglich sei.93 Zur gleichen Zeit gestanden ihre FunktionärskollegInnen in der TOZD Karosseriebau auf ihren Sitzungen jedoch ein, dass sie die wirtschaftliche Lage allenfalls beobachten, jedoch keinen Einfluss auf sie ausüben könnten.94 Für die Fabrik in Kragujevac lässt sich nur aufgrund von in der Fabrikzeitung publizierten Stellungnahmen schließen, welche Haltung Massenorganisationen und Partei einnahmen. Auch hier galt als Standardposition, dass man FunktionärInnen und Führungskräfte rügte, die „undisziplinierte“ ArbeiterInnen unterstützten.95 Ebenso verhielt es sich mit Proklamationen, wonach mit gestärkter Selbstverwaltung das Problem der niedrigen Disziplin automatisch abgemildert würde.96 In der ersten Hälfte der 1980er Jahre jedoch machte sich ähnlich wie in Maribor ein Aufbrechen der anklagenden und fordernden Haltungen bemerkbar. So räumten die GenossInnen der OOUR Mechanische Fertigung der Nutzfahrzeugfabrik ein, dass in der drückenden wirtschaftlichen Situation, in der Teile der Belegschaft unter schwierigen Bedingungen arbeiteten, ganz besondere Anstrengungen verlangt werden müssten.97 Die Parteiorganisation warb dafür, asynchrone Produktionsrhythmen als die aktuellen Bedingungen zu akzeptieren, unter denen man eben wirtschaften müsse. Noch augenfälliger nahm man bei Zastava 1983 das jährliche „Treffen der Selbstverwalter Jugoslawiens – Rote Fahne“ (Srb.: „Skup samoupravljača Jugoslavije – Crveni barjak“), das sonst als Plattform diente, die Dogmen der Selbstverwaltung zu propagieren, zum Anlass, mit bis dahin unbekannter Deutlichkeit die herrschenden Verhältnisse in der Fabrik zu reflektieren. 98 Die Delegierten hinterfragten in der Betriebszeitung öffentlich die Machtbeziehungen zwischen LeiterInnen und ProduktionsarbeiterInnen. Dies geschah, indem sie auf die nicht zu übersehende Disproportionalität zwischen Disziplinarverfahren gegen ProduktionsarbeiterInnen gegenüber solchen gegen Angestellte und Leitungspersonal verwiesen. Darüber hinaus beklagten sie, wie dies auch Branislav Čukić99 in seiner wissenschaftlichen Analyse getan hatte, dass die Schuld an Disziplinverletzungen in inakzeptabel verengter Perspektive den ArbeiterInnen gegeben werde. Stattdessen forderten die Delegierten, sowohl Verantwortungsdiffusion in der Selbstverwaltung, makroökonomische Schwierigkeiten als auch traditionelle industrielle Machthierarchien zwischen Leitung und ArbeiterInnen 93 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 35. redne seje odbora, 4; SI-PAM, f. 1464, šk.
23: Zapisnik letne konference SK OOZS, 4–6. 94 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Poročilo o delu sindikalne konference. 95 Vgl. Iz sindikalnog odbora 01.03.1965, 2; Komunisti Zavoda u akciji. 96 Vgl. Kako smanjiti odsustvovanja sa posla? Kadrovska i službena istraživanja,
Crvena zastava, 18.12.1974, 4; Svaki četvrti radnik krši disciplinu, U OOUR održavanje za PPA, Crvena zastava, 9.2.1977, 4. 97 Vgl. S. PAVLOVIĆ, Za izvoz – od početka godine. Komunisti „Mehaničke obrade“ Fabrike privrednih vozila, Crvena zastava, 9.2.1983, 2. 98 Vgl. OSREČKI / GLIŠOVIĆ, Okrugli sto: Odgovornije. 99 Branislav Čukić war einer der Delegierten für das Treffen der Selbstverwalter. Vgl. ebenda.
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als Ursachen für diese strukturell ausgeprägte Verteilung der Disziplinarverfahren einzugestehen. Als Forderung benannte Čukić, der einer der Delegierten der Fabrik war, man müsse an das Gewissen aller appellieren, aber auch harte Maßnahmen anwenden. Diese Kritik und das Dringen auf „komplexe Lösungen für komplexe Probleme“ wurde rhetorisch geschickt in der aktuell gültigen Parteisprache hervorgebracht, zu deren Schlagwörtern dieser Zeit die schon im Titel des Beitrags genannte „Verantwortlichkeit“ (Srb.: „odgovornost“) gehörte.100 So schloss der Artikel mit der verschwommenen Formel: „Lasst uns aber trotzdem daran erinnern, dass Verantwortlichkeit als einer der Grundpfeiler der letztendlichen Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung gelten muss.“101 Hier wurde einmal mehr die rhetorische Doppelstrategie angewandt, sachliche und durchaus heikle Analysen mit gängigen Phrasen aus den offiziellen Verlautbarungen des Bundes der Kommunisten zu kombinieren.
Alkoholkonsum am Arbeitsplatz Alkoholkonsum am Arbeitsplatz ist ein weiteres Phänomen, anhand dessen deutlich wird, dass kooperative Praktiken zwischen Beschäftigten und Leitungspersonen verbreitet waren. Dabei konnte es sich um ein breites Spektrum von Verhalten handeln, das vom gemeinsamen Anstoßen bei informellen Feiern, über gelegentlichen bis zu regelmäßigem und als Suchtproblem auffallenden Alkoholgenuss reichen konnte. Im Folgenden soll die Art des Umgangs mit Alkohol in den Fabriken charakterisiert werden. Dazu wird ein Blick auf die disziplinarische Ahndung des Trinkens am Arbeitsplatz und die Thematisierung der Frage in der Betriebsöffentlichkeit geworfen. Sowohl der daraus deutlich werdende Umgang mit Alkohol als auch die Haltung der Massenorganisationen verweisen auf eine öffentliche Wahrnehmung als vornehmlich psychosoziales Problem, das weder eine Ideologisierung erfuhr, noch sehr konkret in Bezug auf Verhältnisse in den Betrieben behandelt wurde. Die Fabrikordnungen der Kragujevacer und Mariborer Unternehmen definierten Alkohol unmissverständlich als Disziplinarproblem. „Das Erscheinen zur Arbeit in alkoholisiertem Zustand, der Genuss alkoholischer Getränke während der Arbeit oder unmittelbar vor Beginn der Arbeit als auch Trunkenheit während der Arbeit“102 sowie wiederholte Verstöße dieser Art wertete man in der Fabrikordnung von TAM aus dem Jahr 1966 formal als schweren Disziplinarverstoß. Bei Zastava zählte Alkoholgenuss ebenso zu dieser Klasse von schweren Verletzungen der Arbeitspflicht,103 die im schlimmsten Falle mit Entlassung geahndet werden konnte. Wie für andere Disziplinarverstöße galt in der Praxis, dass Vorgesetzte beim Auftauchen von ausschließlich einer Art von uner100 Vgl. Lj. RISTIĆ, Veća odgovornost i efikasnost. Zahtevi iz osnovnih organizacija SK
u Opštini Kragujevac, Svetlost, 21.7.1983, 1. „Odgovornost“ ist zudem der Oberbegriff, unter dem man in der Terminologie der Arbeitsgesetzgebung Disziplinarfragen behandelte. 101 OSREČKI / GLIŠOVIĆ, Okrugli sto: Odgovornije. 102 SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih 1966, 37. 103 Vgl. ZCZ-CA, UO ZCZ, 1966: Pravilnik o radnim odnosima 1966, 26.
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wünschtem Verhalten wohl selten Verfahren anstießen. Kam jemand jedoch häufiger betrunken zur Arbeit, fehlte unentschuldigt oder geriet alkoholisiert in körperliche Auseinandersetzungen, konnte eine Meldung durch verantwortliche LeiterInnen folgen. So erhielt z. B. ein Facharbeiter in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1972 eine Rüge, weil er in betrunkenem Zustand während eines Streits mit seinen Vorgesetzten handgreiflich geworden war.104 In der Dokumentation von 43 Fällen, die in der Fabrik zwischen Februar und Oktober 1972 vor der Disziplinarkommission verhandelt wurden, fand Alkohol nur dreimal Erwähnung.105 Ähnlich verhielt es sich etwa ein Jahrzehnt später. In 45 Disziplinarverfahren, welche die zuständige Kommission in der OOUR Mechanische Fertigung innerhalb von drei Monaten 1984 behandelte, verwiesen gerade einmal zwei Fälle auf Alkohol.106 Der Fall eines unqualifizierten Transportarbeiters deutet auf eine Dynamik hin, die über die Frage hinausweist, wie Alkoholkonsum am Arbeitsplatz sanktioniert wurde. Dass überhaupt ein Disziplinarverfahren in Gang gesetzt wurde, stellt bereits eine höhere Eskalationsstufe in einem solchen Konflikt dar:107 Man warf dem unqualifizierten Arbeiter vor, er bliebe häufig von der Arbeit fern, da er sich oft betrinke. Dieser wehrte sich gegen die Vorwürfe, indem er mit Unterstützung der Gewerkschaft beim Arbeiterrat Einspruch erhob. Jedoch erfolglos, er wurde mit dem Abzug von 10 % seines Monatslohns bestraft. Dass nun gerade er für sein Fehlverhalten sanktioniert wurde, erklärte sich der Mann damit, dass er ein schlechtes Verhältnis zu seinem Brigadier hatte. Angesichts der Seltenheit, mit der Alkohol in Disziplinarverfahren thematisiert wurde, ist es plausibel, dass man das Anzeigen sonst oft tolerierten Verhaltens als ein Mittel der Konfliktaustragung einsetzte. Vieles spricht dafür, Alkoholkonsum am Arbeitsplatz als eine Praxis zu charakterisieren, die Vorgesetzte tolerierten, sofern nicht größere Konflikte damit verbunden waren. Ein nennenswertes Problembewusstsein herrschte dem Anschein nach nur unter ExpertInnen. 1966 gab die Belgrader Klinik zur Bekämpfung von Alkoholsucht eine Broschüre unter dem Titel „Alkoholismus in der Industrie“ heraus.108 Ihre Autoren thematisierten Alkoholabhängigkeit einerseits als individuelle Erkrankung, andererseits aber auch als Problem, das Produktivität, Arbeitssicherheit und die kollegialen Beziehungen im Industriebetrieb belastet. Im Fall der Zastava-Fabrik dagegen nahm man zwischen den 1960er und 1980er Jahren weder öffentlich noch in den Gremien der betrieblichen Selbstverwaltung unter keinem von diesen Aspekten auf den Genuss und Missbrauch von Alkohol Bezug. Notizen zur disziplinarischen Ahndung von Alkoholkonsum standen unscheinbar neben anderen Verstößen gegen die Fabrikordnung. Von der Deutlichkeit, mit der die Arbeitsmedizin das Problem be104 105 106 107 108
Vgl. ZCZ-FPV, ZCZ-FPV, Disc., 1972: Br. 9/1972. Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Povrede radnih dužnosti, 1972. Vgl. ZCZ-FPV, OOUR MO, 1984: Disciplinska komisija OOUR-a MO 1984. Vgl. ZCZ-FPV, Disc. Tap., 1979–80: Br. 51/1979. Vgl. Dimitrije MILOVANOVIĆ / Milan POPOVIĆ, Alkoholizam u industriji. Beograd 1966.
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nannte, war man in dokumentierten öffentlichen und nicht-öffentlichen Diskussionen bei Zastava weit entfernt. Stattdessen herrschte ein Schweigen vor, das auf ein Klima der Toleranz gegenüber Alkoholgenuss im Betrieb hindeutet. Ein Konflikt bei Zastava, der über den Weg einer Beschwerde beim Bund der Kommunisten Serbiens im Jahr 1975 ausgetragen wurde, weist auf kooperativen Praktiken zwischen Vorgesetzten und ihnen unterstellten MitarbeiterInnen hin:109 Žarko Đ. aus der OOUR Qualitätskontrolle wandte sich mit seiner Klage an die Beschwerdekommission der Partei in Belgrad, dass er während seiner krankheitsbedingten Abwesenheit auf einen schlechter bezahlten Arbeitsplatz versetzt worden war. Die Rolle, welche Alkoholgenuss am Arbeitsplatz spielte, war hier eine untergeordnete, denn sie fungierte nur als eines unter mehreren Argumenten gegen seine Versetzung. Der Vorgesetzte hätte mit der Versetzungsentscheidung auf Beschuldigungen Žarko Đ.s reagiert, denen zufolge dieser als Leiter „Trinker und Trinkgelage während der Arbeitszeit“ 110 zugelassen und gedeckt hätte. Das Problem war somit existent, alle Anzeichen sprechen jedoch für eine sehr geringe Aufmerksamkeit, die ihm zielgerichtet gewidmet wurde. Im männlich dominierten Milieu des metallverarbeitenden Industriebetriebs mag Alkoholgenuss einerseits eine breite Akzeptanz genossen haben. Andererseits kann man die systematische Ignoranz gegenüber der Problematik auch als Zugeständnis gegenüber Beschäftigten werten, als Symptom dafür, dass Konflikten mit der Belegschaft aus dem Weg gegangen wurde, um den Betriebsfrieden zu wahren. Vieles spricht dafür, dass in Maribor Alkoholgenuss am Arbeitsplatz ebenfalls weithin toleriert wurde. In Fällen, in denen er disziplinarisch verfolgt wurde, tauchten solche Vorwürfe ebenfalls nur als ein Argument unter mehreren auf.111 Hierbei ähnelte die Behandlung des Problems derjenigen in Kragujevac. Unterschiede ergeben sich allerdings in der Art, wie das Thema Alkoholmissbrauch öffentlich behandelt wurde. Spätestens seit den frühen 1960er Jahren thematisierten es öffentliche Foren als gesundheitspolitisches und psychosoziales Problem, wobei auffällig starker Alkoholkonsum oft männlichen Arbeitern zugeschrieben wurde. In den 1960er Jahren existierte bereits die Kampagne „Monat des Kampfes gegen den Alkoholismus“, worauf eine Karikatur in der Betriebszeitung von TAM 1963 hinweist. Dort ist ein Fahrer zu sehen, der mit seinem Lastwagen einen Unfall verursacht hat, indem er ein Gebäude mit einer Kneipe darin gerammt und diese damit vorübergehend zerstört hat. Gegenüber dem Milizionär gibt der betrunkene Mann zu Protokoll: „Mein Ehrenwort, Ge-
109 Vgl. AS, Đ-2, k. 264: Informacija o sprovodjenju zaključaka po predstavkama i
žalbama koje je komisija Predsedništva CKSK Srbije za predstavke i žalbe ocenila kao opravdane u 1975. godini, Beograd, Dezember 1975, S. 3. 110 Ebenda. 111 Vgl. SI-AS, f. 540, šk. 536: Prepis: Odgovor na pritožbo tov. G. Janeza, 21.04.1966; SI-PAM, f. 1341, šk. 77: SI-PAM, f. 1341, šk. 77; SI-PAM, f. 1911, šk. 137: SIPAM, f. 1911, šk. 137.
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nosse Milizionär, hik, das war nur mein Beitrag im Monat des Kampfes gegen den Alkoholismus“.112 Hier wird einerseits das Alkoholproblem mit Arbeitern assoziiert, andererseits klingt wenig Zutrauen in die Wirksamkeit der Kampagne durch. Mit regelmäßig in der Fabrikzeitung veröffentlichten Karikaturen wurde das Problem der trinkenden Arbeiter bis in die 1980er Jahre immer wieder aus einer mahnenden Haltung heraus öffentlich benannt. Oft wurden dabei männliche Produktionsarbeiter mit den TAM-Logos auf ihren Latzhosen dargestellt, die trotz der Verbote Alkohol in den Betrieb brachten und sich sowohl listig als auch dreist entsprechenden Verboten widersetzten. Die VerfasserInnen der Karikaturen kritisierten die allgemeine Akzeptanz und die ausbleibende Sanktionierung dieser Praktiken, indem sie den weit verbreiteten Alkoholkonsum als offen praktizierten Verstoß darstellten.113 Abbildung 7: Karikatur: „Weißt du nicht, dass es verboten ist, Alkohol mit ins Unternehmen zu bringen? – Mitbringen ja, trinken nicht.“, Quelle: Nositi alkohol v podjetje, Skozi TAM, 28.11.1968, 4.
Ungewöhnlich deutlich schrieb ein Journalist der Fabrikzeitung 1972, dass diejenigen, welche die Produktion überwachten, Teil des Problems seien, denn sie würden den Konsum von Alkohol auf Arbeit allzu oft tolerieren oder sich daran beteiligen.114 112 Vgl. Moj del, Skozi TAM, Juni 1963, 14. 113 Vgl. Nositi alkohol v podjetje, Skozi TAM, 28.11.1968, 4; Posilvestrovsko posprav-
ljanje, 12.1.1979, 8. 114 Vgl. Liberat BUŽDON, Klub prepovedi alkohol prisoten, Skozi TAM, 17.11.1972, 4.
178 Abbildung 8: Karikatur: „Aufräumen nach Silvester“, Quelle: Posilvestrovsko pospravljanje, Skozi TAM, 12.1.1979, 8.
Den Karikaturen, die Alkohol vornehmlich als Disziplinproblem thematisierten, standen ab den 1980er Jahren aufklärerische Artikel in der Fabrikzeitung gegenüber, die Alkohol wiederkehrend als Suchtproblem benannten und seine Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen im Betrieb und die Produktion aufzeigten.115 Auf diesem Wege scheint der Transfer von einem Spezialdiskurs unter ExpertInnen hinein in die Fabrik im Gegensatz zu Zastava versucht worden zu sein. Sowohl die Massenorganisationen als auch die Sozial- und Gesundheitsbehörden in Maribor trugen dazu bei, das Thema in den Betrieben auf die Tagesordnung zu setzen. Schon in der Mitte der 1960er Jahre wurde in Slowenien in einem Top-down-Prozess innerhalb der Massenorganisationen damit begonnen, mit Aufklärung aktiv gegen Alkoholabhängigkeit vorzugehen, wie Unterlagen des „Republikskoordinationsausschuss[es] zum Kampf gegen den Alkoholismus“ zeigen.116 In Maribor gründete sich zu Beginn der 1980er Jahre ein entsprechender „Aktionsausschuss“, der aus Mitgliedern der Massenorganisationen bestand.117 Das Auftauchen von Karikaturen, die den im Republiksprogramm vorgeschlagenen „Monat des Kampfes gegen den Alkoholismus“ schon 1963 115 Vgl. Janez MERVIČ, Ob mesecu boja proti alkoholizmu, Skozi ZIV TAM, 6.11.1981,
7; Milan HORVAT, 1984: Alkohol in mi, Skozi TAM, 9.11.1984, 6. 116 Vgl. SI-AS, f. 538, šk. 63: Sklepi republiškega koordinacijskega odbora,
13.03.1964.
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aufgriffen, spricht allerdings dafür, dass schon deutlich früher auf Gemeindeebene versucht wurde, über Alkoholabhängigkeit aufzuklären.118 Dass es in der Mitte der 1970er Jahre zu den Aufgaben des betrieblichen Sozialdienstes gehörte, AlkoholikerInnen in ihrem Genesungsprozess zu begleiten,119 zeugt darüber hinaus davon, dass Erkenntnisse von ExpertInnen zumindest ansatzweise ihren Weg in die Praxis der Betriebe fanden. Kooperationen zwischen ExpertInnen, Unternehmen und Massenorganisationen finden sich ab den 1970er Jahren häufig als Strategie, um Probleme zu analysieren, die sich aus der gesellschaftlichen Praxis und besonders in den Betrieben ergaben.120 Auf diese Weise gab der Mariborer „Koordinationsausschuss zum Kampf gegen den Alkoholismus“ bei der Fachhochschule für Sozialarbeit in Ljubljana eine Studie über Alkohol in der Mariborer Industrie in Auftrag, die dann 1985 als Diplomarbeit fertig gestellt wurde.121 In der Studie, die Vlado Belšak und Darinka Zagoranski als Befragung leitender MitarbeiterInnen in 46 Mariborer Betrieben durchführten, beschrieben sie Alkohol als ein vielschichtiges betriebliches Problem. Unter anderem verwiesen die AutorInnen auf die Folgen für die Produktivität, aber auch auf gesundheitliche, soziale und moralisch-ethische Dimensionen. Der Befund, dass in allen untersuchten Betrieben Alkohol präsent war und von einer überwiegenden Mehrheit der Beschäftigten toleriert wurde,122 spricht deutlich dafür, dass hier ungeachtet der normativen Definition der Disziplinarordnungen kooperative Praktiken vorherrschten. Gleichzeitig deutet sich aber auch eine Konkurrenz der sozialfürsorgerischen Tendenzen von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen einerseits und andererseits der Klassifizierung als Disziplinverstoß seitens der Betriebsleitungen in der Behandlung des Themas Alkohol an.123 Um das Maß an Akzeptanz, über den Alkoholgenuss im Betrieb verfügte, einzuschätzen, lohnt auch ein Blick in das Fotoarchiv von TAM. Hier finden 117 Vgl. SI-PAM, f. 1362, šk. 85: 2. seja koordinacijskega odbora za boj proti alkoho-
lizmu in narkomaniji, 27.05.82. 118 Vgl. Moj del. 119 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 34. 120 So unterhielt der Slowenische Gewerkschaftsbund das Forschungszentrum für
Selbstverwaltung (Slow.: „Raziskovalni center za samoupravljanje RS ZSS“), das z. B. Studien über jugoslawische BinnenmigrantInnen und Streiks in Slowenien durchführte: Saša MICKI, Delavci iz drugih republik v slovenski industriji. Ljubljana 1974 und: ŠETINC, Družbena protislovja; die Gemeinde Ljubljana 1980 eine Studie über die Wohnsituation von ArbeiterInnen aus anderen Republiken in der Stadt in Auftrag: VOVK (Hg.), Stanovanjska problematika priseljenih delavcev. 121 Vgl. SI-PAM, f. 1372, šk. 56: Alkoholizem v združenom delu v Mariboru; Vlado BELŠAK / Darinka ZAGORANSKI, Alkoholizem v združenom delu v Mariboru. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Višja šola za socilane delavce, Univerza Edvard Kardelj Ljubljana. Ljubljana 1985. 122 Vgl. ebenda, 30. 123 In den Dokumenten der „Kraigher-Kommission“ von 1982 wird Alkoholismus als wachsendes soziales Problem bezeichnet: ŠEFER, Šefer, Osvnove i okviri dugoročne socijalne,67–116, 109.
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sich durch die Jahrzehnte hindurch Bilder von Feiern im Betrieb, bei denen Alkohol getrunken wurde. Dabei waren offenbar Anlässe wie Geburtstage, Jubiläen oder Neujahrsfeiern vertreten. Beschäftigte begingen diese Feste im Kreise ihrer KollegInnen direkt am Arbeitsplatz und erhoben dabei eben auch das Glas.124 Dass solche Bilder überhaupt entstanden und archiviert wurden, weist darauf hin, dass es sich beim Genuss von Alkohol aus feierlichem Anlass nicht um ein Tabu handelte, das vor einer Kamera versteckt werden musste. Abbildung 9: Feier mit Alkoholausschank bei TAM (Kontaktabzug), Quelle: SIPAM, f. 0990, šk. 601, Fotografije 1981– 1982.
Allerdings publizierte die Redaktion der Fabrikzeitung nie Bilder, auf denen man sah, wie Beschäftigte bei solchen informellen Feiern Alkohol tranken, obwohl Geburtstage und Arbeitsjubiläen in der Werkszeitung gelegentlich mit Reportagen über die entsprechenden Personen gewürdigt wurden. Dieser Umgang mit der Abbildung von Alkoholkonsum verdeutlicht, welchen Status das Phänomen hatte. Bei informellen Feiern während der Arbeitszeit genoss der Konsum von Alkohol, wie auch Belšak und Zagoranski nahelegten,125 breite Akzeptanz, sodass Beschäftigte auch nichts Problematisches darin sahen, so fotografiert zu werden. Jedoch wurde die Schwelle nie überschritten, diese Art der Geselligkeit in der Betriebszeitung abzubilden. Das Werksblatt zeigte demnach – nicht überraschend – nur den formal akzeptablen Teil solcher Feiern, sodass auf den publizierten Bildern von Feiern Beschäftigte nicht dabei zu sehen waren, wie sie mit Alkohol anstießen.
124 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 587: Fotografije 1962–1963; SI-PAM, f. 0990, šk. 597:
Fotografije 1975–79; SI-PAM, f. 0990, šk. 601: Fotografije 1980–81. 125 Vgl. BELŠAK / ZAGORANSKI, Alkoholizem v združenom delu, 31.
181 Abbildung 10: Ein Gläschen auf den Geburtstag bei TAM (Kontaktabzug), Quelle: SIPAM, f. 0990, šk. 590, Fotografije 1967–1968.
Fazit Die LeiterInnen in den Fabriken konnten Disziplinarordnungen zu keiner Zeit wirksam oder vollständig umsetzen. Die unregelmäßigen Rhythmen der Produktion zwangen die Verantwortlichen in beiden Fabriken zur Toleranz von Fehlzeiten und Regelübertritten seitens der Belegschaften. Sie mussten also in bestimmtem Maße neben Kontrolle und Konflikt auch auf Konsens mit den Beschäftigten setzen. Wenn Stillstände in der Produktion Wartezeiten zwischen einer Stunde und mehreren Tagen hervorriefen, mussten die direkten Vorgesetzten entscheiden, welche Freiräume sie den Belegschaften in diesen Zeiträumen ließen. Lief die Produktion wieder an, so mussten sie von den ArbeiterInnen erhöhten Einsatz und hohe Flexibilität fordern, um verloren gegangen Zeit wieder aufzuholen. Wartezeiten, in denen Beschäftigte freier über ihre offiziell als Arbeitszeit geltende Zeit verfügen konnten, und absichtliches Übertreten geltender Disziplinarvorschriften ließen sich auf diese Weise oft schwer voneinander trennen. Lösungsansätze, die in den 1980er Jahren bei Zastava diskutiert wurden, setzten unter anderem auf flexiblere Arbeitszeiten, womit sie Elementen postfordistischer Industrieproduktion ähneln. Auf Angehörige verschiedener hierarchischer Ebenen wirkte sich die schwierige Balance zwischen Toleranz von Regelübertretungen und Kontrolle unterschiedlich aus. Während ProduktionsarbeiterInnen gegenüber LeiterInnen und Angestellten überdurchschnittlich häufig mit Sanktionen für Übertretungen der Regeln zu rechnen hatten, nahmen LeiterInnen in unteren und mittleren Führungspositionen von mehreren Seiten Druck wahr. Das obere Management forderte von ihnen, Disziplin in den Werkshallen durchzusetzen. Gleichzeitig
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mussten sie aber von den ProduktionsarbeiterInnen große Flexibilität fordern, wofür unteres und mittleres Leitungspersonal im Gegenzug über bestimmte Disziplinverletzungen hinwegsah. Schließlich eignete sich in persönlichen Konflikten unter Leitungspersonen verschiedener Ebenen der Vorwurf, jemand würde Disziplinarverstöße der Belegschaft tolerieren und decken, als Instrument gegen die jeweiligen KontrahentInnen. Zu Beginn der 1970er Jahre änderte sich, dass von da an Beschäftigte nicht mehr wegen Arbeitskräfteüberschuss oder Auftragsrückgängen entlassen werden konnten. Bestimmte Praktiken, wie Arbeit zurückzuhalten sowie die dazugehörige Toleranz der Leitungspersonen, verloren seitdem ihre Relevanz, da Beschäftigte ihren Arbeitsplatz gegen ihren Willen nur noch als Folge von Disziplinarverfahren verlieren konnten. Zu Beginn der 1980er Jahre setzte eine weitere Entwicklung ein. VertreterInnen der betrieblichen Eliten begannen, die geltende Ordnung zu hinterfragen, ähnlich wie dies z. B. Arbeiterratsmitglieder taten, die sich nicht mehr als Personen selbst unmittelbar den Widersprüchen der geltenden Betriebsverfassung aussetzen wollten (siehe Kap. 4.1.2.). Die FunktionärInnen in Selbstverwaltung und Massenorganisationen reflektierten nun auch öffentlich die Ursachen für Disziplinübertretungen. In der Konsequenz zogen sie unter anderem in Betracht, informelle Praktiken wie die Toleranz von Abwesenheit bei Produktiosstillständen in formale Organisationsprozesse zu überführen. Bei TAM fällt auf, dass man unerlaubten Alkoholgenuss sowohl als Disziplinproblem mit diskriminierenden Zügen gegenüber ProduktionsarbeiterInnen diskutierte als auch als sozial- und gesundheitspolitische Herausforderung betrachtete. Dabei waren in der ersteren Dimension kooperative Haltungen präsent, die eine Wahrnehmung und Sanktionierung von Alkoholgenuss abmilderten. Im Vergleich dazu lässt sich für Zastava in Kragujevac lediglich feststellen, dass Alkoholgenuss und -missbrauch höchstwahrscheinlich präsent waren, man aber von einer Thematisierung in der Betriebsöffentlichkeit weit entfernt war. Somit ist das einvernehmliche Handeln von Vorgesetzten und ihnen unterstellten ArbeiterInnen dort in diesem Punkt noch wahrscheinlicher, da es selten von gesundheitspolitischen Diskussionen und der öffentlichen Ächtung als Disziplinproblem in der Selbstverwaltung und der Betriebszeitung infrage gestellt wurde.
5.3. Klientelismus und Korruption: Gewollte, notwendige und illegitime Begünstigungen Eine weitere Art informell Interessen und Bedürfnisse zu verfolgen, bestand darin, persönlichen Beziehungen zu nutzen. Arbeit, Wohnraum und andere betriebliche Sozialleistungen waren knapp, sodass diejenigen, die Einfluss auf ihre Vergabe hatten, diesen als soziales Kapital im Sinne Bourdieus einsetzen konnten oder auch ökonomisches Kapital aus ihrer Position ziehen konnten, indem sie bestechlich waren. Personen, die über familiäre oder auch auf anderen Beziehungen beruhende Kontakte verfügten, konnten von ihren Netzwerken profi-
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tieren. Klientelistische Beziehungen sollen hier mit Christian Giordano als asymmetrische reziproke Abhängigkeitsverhältnisse zwischen nicht miteinander Verwandten verstanden werden. In diesen tauschen PatronInnen Hilfe und Protektion gegen Dienste, Loyalität und Respektsbekundungen von KlientInnen. Die Linie, die Klientelismus von Korruption trennt, ist dabei oft sehr diffus, jedoch benennt Giordano den kriminellen Charakter von Korruption und die Beteiligung einer monetären Komponente als Unterscheidungsmerkmal. Sowohl Klientelismus als auch Korruption beruhen jedoch auf stark personalisierten Beziehungen und Netzwerken, die informell wirken.126 Im Folgenden sollen Missbrauchspraktiken in Betrieben sowie der öffentlichen und nichtöffentlichen Umgang mit ihnen charakterisiert werden. Beim Umgang mit Klientelismus und Korruption spielen die Rahmenbedingungen der kommunistischen Herrschaft und der Institutionen der betrieblichen Selbstverwaltung eine große Rolle. Sie bilden einerseits den ideologischen und gleichzeitig den institutionellen Hintergrund für informelle Praktiken dieser Art. Andererseits können sie auch als ihre Ursachen betrachtet werden. Zudem fungierten die Dogmen des Sozialismus und der Selbstverwaltung als Normen, auf Grundlage derer Verhalten als regelkonform oder von ihnen abweichend bewertet wurde. In den verfügbaren Quellenmaterialien werden häufig die Beziehungen zwischen PatronInnen und KlientInnen mit einem Fokus auf die Vorteilsnahme der Ersteren thematisiert, wobei die Perspektive der KlientInnen nur implizit aufscheint.
Ideologisch produzierte Ambivalenz: Macht und Angreifbarkeit betrieblicher Eliten Asymmetrische Beziehungen, in denen persönliche Vorteilsnahme stattfand, entfalteten sich im Jugoslawien der 1960er bis 1980er Jahre in einem Gesellschaftssystem, in dem sich die Normen der sozialistischen Moral in den Selbstverwaltungsbeziehungen ausdrücken sollten. Der Imperativ der sozialistischen Moral und der Selbstverwaltungsordnung funktionierte sowohl als Katalysator als auch als hemmendes Moment, wenn Einzelne ihre Positionen für persönliche Vorteilsnahme nutzten. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens erhob den Anspruch, gesellschaftliche Kontrolle auszuüben und die Einhaltung von aufgestellten Regeln zu überwachen. Gleichzeitig war er jedoch ein Beziehungsnetzwerk, in dem sich klientelistische Beziehungen entfalteten und festigten. Funktionen Einzelner in Partei und Massenorganisationen, Selbstverwaltung und Wirtschaft konnten sich zudem bei einzelnen Personen akkumulieren.127 Die Stellung des Rechts, mit der man von den Gesetzen abweichendes Verhalten hätte sanktionieren können, war unter den Bedingungen der Ein126 Vgl. Christian GIORDANO, Beziehungspflege und Schmiermittel. Die Grauzone zwi-
schen Freundschaft, Klientelismus und Korruption in Gesellschaften des öffentlichen Misstrauens, in: Robert HETTLAGE (Hg.), Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft. Konstanz 2003, 97–120, 103–113. 127 Vgl. SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 60.
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parteienherrschaft durch die Vorgaben der Ideologie stark eingeschränkt. Wie Klaus Buchenau festhält, konnte sich so im Tito-Jugoslawien kein freier Korruptionsdiskurs entfalten.128 Stattdessen bezog man sich mithilfe eines diffusen Begriffsarsenals auf die vielfältigen Erscheinungen von Machtmissbrauch. Die Grenze zwischen moralischen und juristischen Vorwürfen, so betont Buchenau, ließ sich dabei nicht deutlich ziehen. In der Sphäre des Industriebetriebs konnten Parteimitgliedschaft, Aktivität in der Selbstverwaltung oder auch Posten im Management Quellen von Einfluss darstellen, die Missbrauch möglich machten. Oft häuften sich Funktionen aus den sich überschneidenden Sphären bei einer Person an, was ein großes Potential für persönliche Vorteilsnahme barg. Die Disziplinarverordnungen der Fabriken TAM und Zastava stuften verschiedene Praktiken als schwere Verstöße ein, hinter denen klientelistische oder korrupte Praktiken standen. Ausgewählte Vergehen aus der Fabrikordnung von TAM aus dem Jahr 1966 in Maribor geben Hinweise auf das Spektrum der Möglichkeiten, die sich für Einzelne in den entsprechenden Positionen ergaben: „Missbrauch der Stellung oder Überschreitung der erteilten Befugnisse”, „persönliche Vorteilsnahme sowie Annahme von Geschenken oder Bestechungsgeldern und andere Annehmlichkeiten in Verbindung mit der Arbeit im Unternehmen und zu seinem Schaden“, „Verrat von Geschäftsgeheimnissen“, „Missbrauch einer Funktion in den Verwaltungsorganen, in die man gewählt wurde, mit der Absicht, sich selbst oder anderen unrechtmäßig Vorteile zu verschaffen“, „alle Arten von Wirtschaftskriminalität, die dem Unternehmen schaden“ und „Verletzung der Selbstverwaltungsrechte und der Gleichberechtigung oder jedwede Eigenmächtigkeit bei der Herstellung oder Regelung von Arbeitsverhältnissen“.129 Einerseits bezogen sich die angeführten Praktiken auf juristisch definierte strafbare Handlungen, die sich hauptsächlich unter Eliten abspielten. Andererseits – und dieser Bereich ist hier von Interesse – konnten auch klientelistische Beziehungen und Korruption zwischen betrieblichen Leitungspersonen und ihnen unterstellten Beschäftigten von diesen Definitionen erfasst werden. Auch das Potential des Verstoßes gegen Dogmen des Staates fand sich in der Disziplinarordnung, wenn auf die Wählbarkeit in Selbstverwaltungsfunktionen und die Verletzung von „Selbstverwaltungsrechten“ Bezug genommen wurde: Wenn z. B. die Entscheidung über die Vergabe eines Arbeitsplatzes getroffen wurde, ohne dass dabei die dafür zuständige Kommission die Entscheidung transparent dokumentierte, so lag formal die Verletzung von „Selbstverwaltungsrechten“ vor. In den Unterlagen der Beschwerdekommissionen beim Bund der Kommunisten auf den verschiedenen föderalen Ebenen, an die sich BürgerInnen wenden konnten, wenn sie die Parteimoral verletzt sahen, tauchten Vorwürfe des Machtmissbrauchs in Unternehmen und Institutionen häufig auf. Häufiger 128 Vgl. Klaus BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht. Korruption in Tito-Jugoslawien,
Südosteuropäische Hefte 4 (2015), H. 1, 23–45, 26f. 129 SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih 1966, sehr ähnlich dazu
die Bestimmungen bei Zastava in Kragujevac: ZCZ-CA, UO ZCZ, 1966: Pravilnik o radnim odnosima 1966, 25–28.
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als in Einsprüchen gegen Entscheidungen der Selbstverwaltungsorgane, die Beschäftigte innerhalb der Betriebe einlegen konnten, stößt man hier auf Konflikte zwischen Angehörigen der Eliten. Fälle aus Mariborer Industrieunternehmen machen solche Konflikte plastisch. Ein Schreiben aus dem Bauunternehmen Tehnogradnje130 von 1966 an die lokale Parteiorganisation zeigt, in welchem Umfang sich leitende Angestellte Machtmittel aneignen konnten, die sie in klientelistischen Beziehungen zu Beschäftigten auf den unteren Ebenen der Betriebshierarchie zu PatronInnen machen konnten:131 Ivan S., der nach einem Disziplinarverfahren von einer verantwortlichen Position entlassen wurde und arbeitslos war, holte in seiner Eingabe an die Parteizentrale des Bundes der Kommunisten in Belgrad zu umfassenden Beschuldigungen gegen den Direktor P. des Unternehmens Tehnogradnje aus Maribor aus. Dieser hätte seine Position genutzt, um in großem Stil Geld zu unterschlagen, wobei er seine Handlungen im Nachhinein durch die Gremien der Selbstverwaltung absegnen ließ. Das sei geschehen, nachdem Ivan S., dem bei einer Inventur große Mengen fehlenden Materials aufgefallen waren, beim Verwaltungsausschuss des Arbeiterrats auf das Missverhältnis aufmerksam gemacht hatte. Daraufhin hätte P. mit fiktiven Dokumenten, die schon fertig gestellten Baustellen zugeordnet wurden, den Fehlbetrag abschreiben lassen. Ivan S., selbst ein Amtsträger in Partei und Selbstverwaltung, meldete dem Mariborer Parteikomitee die Verstöße, was jedoch dem korrupten Direktor P. keinen Einhalt geboten hätte. Weiterhin hätte P. alle Gremien der Selbstverwaltung im Betrieb dominiert und so vielerlei Missbräuche begangen. Ivan S.´ Versetzung und schließlich auch seine Entlassung konnte der offenbar weniger gut vernetzte leitende Angestellte nicht verhindern. Er suggerierte darüber hinaus, dass auch das lokale Gericht Teil des Netzwerks des Direktors sei, denn das juristische Vorgehen gegen P. würde nur stark verzögert in Gang kommen. Zudem fände er in Maribor in keinem Unternehmen mehr eine neue Berufsperspektive, was er auch auf das Wirken politischer und wirtschaftlicher Verbindungen seines Widersachers zurückführte. Die Belgrader Parteizentrale forderte gemäß dem vorgesehenen Prozedere vom Mariborer Stadtkomitee eine Klärung des Falles. Das Antwortschreiben der GenossInnen nach Belgrad bezichtigte wiederum Ivan S. der Intrige und merkte an, dass dieser es gewesen sei, der sich vor seiner Tätigkeit bei Tehnogradnje in anderen Betrieben wegen identischer Vorwürfe hätte verantworten müssen.132 Dafür hätte er auch Parteistrafen bekommen. Das Ortskomitee vermutete gegenüber der Parteizentrale in Belgrad gekränkte Eitelkeit, da Ivan S. selbst auf den höchsten Leitungsposten im Unternehmen spekuliert hätte, was mit der neu eingeführten reelekcija (Wiederwahl) der Funktion in Reichweite gerückt war. Litte Ivan S. nicht an so niedriger Arbeitsmoral, würde er wohl jetzt noch bei Tehnogradnje arbeiten, so die Darstellung des 130 Zum Bau des Wasserkraftwerks Vuzenica 50km westlich von Maribor an der Drau
gelegen, wurde 1947 das Unternehmen Tehnogradnja gegründet. 131 Vgl. SI-PAM, f. 1374, šk. 17: Prepis Ivan S., pritožba, 09.03.1966. 132 Vgl. SI-PAM, f. 1374, šk. 17: Ivan S., pritožba – Tehnogradnje, 17.05.1966.
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Ortskomitees. Wie seitens der Partei weiter mit dem Fall Ivan S. umgegangen wurde, bleibt allerdings in den Akten offen. Dieser Fall verdeutlicht, was Klaus Buchenau auch für andere Fälle von Amtsmissbrauch im sozialistischen Jugoslawien als typisch herausstellt: Beschuldigte verteidigten sich, indem sie behaupteten, jemand würde gegen sie intrigieren, um die eigene Stellung zu verbessern. Zudem fand die Kommunikation über systematische Vorteilsnahme nichtöffentlich statt und es ist zu vermuten, dass Korruption und Amtsmissbrauch weite Kreise zogen.133 Unabhängig davon, wessen Aussagen hier den Tatsachen entsprachen, wird deutlich, dass sich leitende Angestellte eine große Machtfülle aneignen konnten, die sie gegen innerbetriebliche Konkurrenz wie auch nach Gutdünken gegenüber weniger exponierten Mitgliedern der Belegschaft einsetzen konnten. Ein Direktor, der im großen Stil Baumaterial unterschlagen konnte, hatte sicher auch die Möglichkeit, über den Kopf der Kommissionen der Selbstverwaltung hinweg Arbeitsplätze und Wohnungen zu vergeben. Eine „Gruppe von Kommunisten aus der Mariborer Textilfabrik“134, die sich 1966 anonym an das Gemeindekomitee des Bundes der Kommunisten in Maribor wandte, behauptete eben das:135 Der Direktor der Fabrik hätte sowohl in Lohnfragen als auch in der Personalkommission immer das letzte Wort. Absprachen träfe er nur mit denjenigen, die zu seinem engen Kreis gehörten, die Selbstverwaltung im Betrieb bestünde aus ihm allein. Kritik oder Initiativen zur Veränderung der Zustände würden unterbunden. Die VerfasserInnen verurteilten klientelistische Praktiken hier und bezogen sich dabei auf das Normensystem der Selbstverwaltung. Diesem zufolge legten die betrieblichen Gremien Löhne anhand eines vermeintlich objektiven Systems fest, dessen komplexe Bemessungsinstrumente aus Entscheidungsprozessen der Selbstverwaltung hervorgingen. Ebenso sollten auch Entscheidungen über die Einstellung neuer Beschäftigter in einer Personalkommission stattfinden, wo sie versachlicht anhand von in der Selbstverwaltung ausgehandelter Bedingungen vonstatten gehen sollten. Die hier geschilderten extremen Ausprägungen von Alleinherrschaft eines Direktors in einem Betrieb weisen sowohl auf die sich wandelnde Rolle der Betriebsleitung als auch auf grundsätzliche Widersprüche im Konzept der Selbstverwaltung hin. Jože Prinčič zeichnet den Wandel der Leitungsrolle in den verschiedenen Phasen des jugoslawischen Sozialismus nach und benennt das Jahr 1963 als eine Zäsur. Während DirektorInnen bis dahin eine Kommandoposition im Unternehmen innehatten, wurde nun die Macht der Leitung eingeschränkt und den Beschlüssen des Arbeiterrats unterstellt.136 Die Leitungsverantwortung wurde 133 Vgl. ebenda. 134 Die Mariborska tekstilna tovarna – MTT (Mariborer Textilfabrik), wurde zu 1922
gegründet und gehört damit zu den älteren Unternehmen in Maribor. 1963 waren in ihr 6.400, 1975 ca. 4.400 vornehmlich weibliche Beschäftigte tätig, siehe: Saša Micki / Jana Fakin, Proizvajalka govori. Ljubljana 1976, 79. 135 Vgl. SI-PAM, f. 1374, šk. 17: Grupa komunistov iz MTT, 06.04.1966. 136 Vgl. PRINČIČ, Direktorska funkcija, 64–66.
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also zugunsten der Gremien der betrieblichen Selbstverwaltung umverteilt, von der das Leitungspersonal jedoch ein Teil war. Damit, so stellte die jugoslawische Industriesoziologie in Forschungen in den 1960er und 1970er Jahren heraus, war aber eine Situation hergestellt, in der die Verantwortung zwischen Selbstverwaltungsgremien, dem Management und DirektorInnen stark diffundiert war.137 Die hohe Leitungsebene blieb die dominante Entscheidungsinstanz, ohne offiziell die Verantwortung zu tragen und ohne einer formalisierten Kontrolle unterworfen zu sein. Die durch die Konzeption der Selbstverwaltung hervorgerufene Rollendiffusion, so die industriesoziologische Forschung, provozierte informelle Mechanismen der Machtausübung. Konkret bedeutete dies, dass das höhere Management eine dominante Rolle in den Gremien der Selbstverwaltung spielte. Vorwürfe autokratischer Herrschaft des Direktors wie im obigen Beispiel der Mariborer Textilfabrik, konnten sich also aus der uneindeutigen Rollenkonzeption der Betriebsleitung ergeben und funktionierten nur, wenn man den normativen Anspruch der Arbeiterselbstverwaltung als Maßstab angelegte. Da diesen Prinzipien der Status eines ideologischen Dogmas zukam, bekam das Verhalten des Direktors auch eine parteipolitisch relevante Note. Dies versuchte die „Gruppe von Kommunisten aus der Mariborer Textilfabrik“ zu nutzen. Aus der Beschwerdeakte ist nicht ersichtlich, wie der Fall ausging. Ob die Stellung des Direktors der MTT in einem Netzwerk von FunktionärInnen oder die Vorwürfe, er verletze Selbstverwaltungsprinzipien, die Beurteilung des Falls maßgeblich entschieden, bleibt offen. Durch die zunehmende Dezentralisierung der Fabriken, mit der immer größere Verantwortung in die Betriebsteile abgegeben wurde und in deren Zuge sich die Anzahl der Institutionen der Selbstverwaltung weiter vergrößerte, wurden diffuse Rollendefinitionen in immer mehr Einheiten der Betriebe transportiert. Unter diesen Rahmenbedingungen entstanden eben die Selbstverwaltungsakte, anhand derer dann Sozialleistungen wie betriebseigene Wohnungen vergeben wurden. Wie Buchenau in Bezug auf Korruption bemerkt, wurden somit einerseits die „Spielregeln selbst“ immer unübersichtlicher, andererseits vergrößerte sich der Kreis potentieller ProfiteurInnen durch die steigende Zahl derer, die in die Selbstverwaltung eingebunden waren.138 Bei TAM sprach sich aus diesem Grund 1966 der Vorsitzende des zentralen Arbeiterrats dafür aus, die Lohnfestsetzung für einzelne Arbeitsplätze, die in der Kompetenz der Untereinheiten der Betriebe lagen, nicht allein dezentral vornehmen zu lassen. Um Vorteilsnahme Einzelner einzuhegen, schlug er stattdessen vor, sie mindestens von einer höheren Selbstverwaltungsinstanz im Unternehmen absegnen zu lassen.139
137 Vgl. RUS, Influence Structure in Yugoslav Enterprises, 160; Josip ŽUPANOV, Two Pat-
terns of Conflict Management in Industry, Industrial Relations 12 (1973), H. 1, 213–223, 215–218; RUS, Conflict Regulation, 377. 138 Vgl. BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht, 32. 139 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XI. rednega zasedanja DS, 21.01.1966, 6.
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Die Vergabe von Wohnraum Ein Beispiel aus dem Jahr 1971 zeigt, wie große Wohnungsnot im schnell wachsenden Kragujevac und Spielräume bei der Auslegung von Wohnungsvergabekriterien auf die beteiligten AkteurInnen wirken konnte.140 Die Konkurrenz um betrieblichen Wohnraum in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik war groß, standen doch zum Zeitpunkt einer Arbeiterratssitzung am 2. April 1971 zweihundertdreißig Personen auf der Antragsliste. Die Fabrik konnte jährlich jedoch nur zwanzig Wohnungen vergeben. Der Referent für Wohnungsfragen Rade Ć. berichtete auf der Sitzung davon, dass Beschäftigte versuchten, sich nicht vorhandene Krankheiten attestieren zu lassen, um eine höhere Punktzahl im Punktesystem der Wohnungsvergabe zu erreichen. Wer also eine Ärztin oder einen Arzt überzeugen konnte, falsche Bescheinigungen auszustellen, rechnete mit besseren Chancen auf eine Wohnung. Im Verlauf der Sitzung kamen schilderten mehrere Beschäftigte die Dringlichkeit ihres Wohnungsgesuchs und erhoben Vorwürfe gegen FunktionärInnen und KollegInnen. Svetislav G., ein Facharbeiter, gab an, seit dreizehn Jahren auf eine Wohnung zu warten und legte seine soziale Situation dar, die ihn seiner Ansicht nach für einen aussichtsreichen Platz auf der Rangliste qualifizierte. Er berichtete von vielen Anträgen, die er schon verfasst hätte und davon, dass er auch Unterredungen mit dem Generaldirektor Zastavas und weiteren Führungspersonen gehabt hätte, jedoch ohne das von ihm erhoffte Resultat. Der zu dieser Zeit stellvertretende Leiter der Nutzfahrzeugfabrik, Kamenko Sretenović, von dem der Arbeiter Svetislav G. nur mit dessen Vornamen spricht, hätte ihm außerdem eine Wohnung versprochen. Dass sich Svetislav G. trotz des Bestehens formalisierter Wege zu einer Betriebswohnung, nämlich über einen Antrag bei der Wohnungskommission, an die Direktoren auf verschiedenen Ebenen des Betriebes wandte, lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass Svetislav G. ihnen Einfluss in der Frage zuschrieb. Ein weiterer Mitarbeiter, Radojica J., schilderte auf derselben Sitzung des Arbeiterrats im April 1971 seine Lage als verzweifelt. Er führte an, dass er schon alles versucht hätte, unter anderem sei auch er beim „Genossen Kamenko“ und bei Rade Ć., dem Wohnungsreferenten, gewesen, um eine Wohnung zu erbitten. Leitungspersonen oder diejenigen, die an der Wohnungsvergabe beteiligt waren, so wird deutlich, mussten dem Druck der teilweise verzweifelten AntragstellerInnen standhalten. Sie konnten die Situation zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen, wenn sie über entsprechende informelle Macht in den Selbstverwaltungsgremien verfügten. In einem bereits in Kapitel 4.2.1. erwähnten Fall suggerierte ein unzufriedener Arbeiter, der in der Vergaberunde für Sozialwohnungen 1973 in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik leer ausgegangen war, dass bei der Vergabe einer Wohnung Missbrauch von Positionen im Spiel gewesen sei. Der Autopolsterer Milivoje M. warf seiner Kollegin Dara M. vor, sie hätte unlauteren Einfluss auf die Wohnungskommission genommen: 140 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 15. sednice Radničkog saveta
Fabrike privrednih vozila, 02.04.1971.
189 Von dieser [Wohnungs]kommission kannte ich niemanden. Diese Genossin kannte fast alle Mitglieder. Sie hat einen Bruder, der an dem Tag, als der Verwaltungsausschuss die Liste angenommen hat, in Acas Büro gewesen ist.141
Milivoje M. deutet an, dass die Kollegin Dara M. bei der Zuteilung einer Sozialwohnung gezielt ihre persönlichen Netzwerke genutzt hätte, denn sie hätte den Vorteil gehabt, die Mitglieder der Wohnungskommission persönlich zu kennen. Milivoje M. focht die vorgeblich auf objektiven Kriterien gründende Entscheidung mit Vorwürfen an, bei denen unklar ist, ob er Klientelismus oder Korruption unterstellt. Er äußerte den Korruptionsvorwurf nicht explizit, legte ihn aber nahe, denn Dara M.s Bruder hätte am Tag der Entscheidung eines der Mitglieder des Verwaltungsausschusses namens „Aca“142 besucht. Im Fall von Klientelismus wäre Dara M.s Bruder der Klient und der Funktionsträger „Aca“ Patron. Der Klient könnte dem Patron in Zukunft seine Loyalität erweisen, indem er auch künftige Entscheidungen der betrieblichen Selbstverwaltung, die nicht regelkonform verlaufen würden, nicht kritisch hinterfragen würde. Ebenfalls in Kapitel 4.2.1. wurde bereits der Einspruch Stojan I.s in der Kragujevacer Nutzfahrzeugfabrik diskutiert, in dem sich dieser 1974 über die Entscheidung der Wohnungskommission beschwerte. Hier soll jedoch noch einmal genauer auf die Vorwürfe des Machtmissbrauchs eingegangen werden, denn es lassen sich daran mehrere Dimensionen des Phänomens erkennen: Ich werde fordern, dass mir das Geld für die vier Sonnabende, die ich und meine Frau gearbeitet haben, zurückgegeben wird und ich finde, dass das Selbstverwaltungsabkommen große Fehler hat und dass nach Titos Brief viel getrickst wird. Einem, der ein Haus und ein Baugrundstück beim Krankenhaus hat, dem habt ihr eine Wohnung gegeben. Ich will, dass ihr mir alle Dokumente, meine und die meiner Frau, zurückgebt und dass mir die Wohnungskommission bestätigt, dass sie mir keine Wohnung geben kann. Ich kann euch nur sagen, wenn irgendwo einmal irgendeine Zastava-Wohnung leer steht, dann geh ich hin und ziehe ein. Und wenn jemand kommt und mich ausquartiert, dann wird es mir gehen wie denen unten an der Brücke, denn ich wohne mit zwei Kindern in einem Keller, der früher ein Bunker war. Und wenn ihr erlaubt, dass ich nach zwölf Jahren wieder zum Präsidenten der Republik gehe und ich kann euch sagen, dass ich Zastava verklagen werde [sic!]. Wenn es um irgendeinen von Boškos Freunden ginge, wäre alles in Ordnung.143
In Stojan I.s Beispiel werden mehrere Dimensionen der Praxis von Klientelismus und der öffentlichen und nichtöffentlichen Kommunikation über Machtmissbrauch deutlich. Einerseits sprach Stojan I. die Spielräume an, die sich den Beteiligten an der Selbstverwaltung in der Erstellung der „Spielregeln“ und ihrer Auslegung eröffneten. Er berührte dabei die systematische Schaffung von sozialen Vorteilen für bestimmte Gruppen. Es handelte sich dabei sowohl um solche Vorteile, die von der Ideologie legitimiert waren, als auch um solche, die 141 ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 12. sednice Radničkog, 9. 142 Aca ist die Kurzform des Vornamens Aleksandar. 143 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog, 3.
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sich aus wirtschaftlichen Erwägungen der Betriebe und ihren inneren Machtkonstellationen ergaben und teilweise als illegitim thematisiert wurden. Diese Dynamiken trugen in der Folge zu einer offiziell nicht erwünschten, aber real stattfindenden Schichtung der jugoslawischen Gesellschaft bei. In der öffentlichen Thematisierung schwangen häufig mehr oder weniger explizit Vorwürfe von Korruption und Klientelismus mit, wenn über diese vom Selbstverwaltungssozialismus produzierten Mechanismen kommuniziert wurde. Im angeführten Zitat empörte sich der Arbeiter Stojan I. zudem darüber, dass Personen, die weit oben in der Betriebshierarchie standen, bei Zastava ihre Positionen missbrauchen würden. Er tat das, indem er sagte „wenn es um einen von Boškos Freunden ginge, wäre alles in Ordnung.“144 Hier genannter Boško war Mitte der 1970er Jahre als Arbeiterratsmitglied der Nutzfahrzeugfabrik über mehrere Jahre in der Selbstverwaltung aktiv und hatte als leitender Angestellter das Potential, als Patron zu wirken indem er auf Entscheidungen im Betrieb einwirkte. Vorwürfe wie der des Machtmissbraucha durch FunktionärInnen waren bereits in der akademischen Kritik am Ende der 1960er Jahre in Jugoslawien zugegen. Die verschwimmenden Linien zwischen ideologisch begründeter Privilegierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, missbräuchlich genutzten Handlungsspielräumen der Selbstverwaltung und dem Funktionieren der Partei und der Massenorganisationem als klientelistische Netzwerke konnte die Soziologie in den 1960er und 1970er Jahren nicht benennen. Auch die Wohnungspolitik als Rekrutierungsinstrument für notwendige Fachleute und qualifizierte ArbeiterInnen wurde nicht konsequent diskutiert.145 Dies lag darin begründet, dass sich in der Problematik ideologische und angesichts des starken Zuzugs in die Städte brennende sozial- und industriepolitische Fragen verquickten. Allerdings thematisierte der Soziologe Miroslav Živković in der in Belgrad erscheinenden Fachzeitschrift Sociologija 1968 das Ineinandergreifen mehrerer Faktoren bei der sozial deutlich unausgewogenen Verteilung von Wohnraum in Jugoslawien.146 Bei der Wohnraumvergabe in Sarajevo, so Živković, würden systematisch ArbeiterInnen und andere gesellschaftliche Gruppen diskriminiert, Stadtentwicklung liege nicht in den Händen einer funktionierenden Selbstverwaltung. Stattdessen entschieden die Bürokratie und mächtige Gruppen in den wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen über die Art der Wohnungen, die gebaut wurden. Auch die Verteilung von Wohnraum läge in den Händen dieser Gruppen, was in Städten wie Sarajevo in einer räumlichen Segregation sozialer Gruppen resultiere. Seine Rede von Mächtigen und Ohnmächtigen, deren Status von der Wohnsituation markiert werde, suggerierte Verstöße gegen den egalitären Gesellschaftsentwurf des Sozialismus. Missbrauch und Ausbeutung von gesellschaftlichen Ressourcen durch Personen auf Funktionärsposten stellte der
144 Ebenda. 145 Zur Wohnungspolitik als Rekrutierungsinstrument siehe Kap. 5.4. 146 Vlg. ŽIVKOVIĆ, Jedan primer segregacije.
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Soziologe als systemisch ausgeprägten Missstand dar, was vor dem Hintergrund der Arbeiterselbstverwaltung als moralischer Verstoß erscheinen musste. Ähnlich vertrat auch Josip Županov zu Beginn der 1970er Jahre die These, dass die Selbstverwaltung Missbräuchen Vorschub leiste.147 Dagegen kritisierte die Soziologin Eva Berković vor dem Hintergrund sich zuspitzender sozialer Gegensätze in den krisenhaften 1980er Jahren die in Jugoslawien vorherrschenden soziale Ungleichheiten auf eine viel umfassendere Weise.148 Dabei bezog sie den wie vom Arbeiter Stojan I. 1974 beklagten Missbrauch von Positionen mit ein, eine Praxis, deren Übergänge zu im System legitimen Privilegien von Parteimitgliedern oder ehemaligen kommunistischen PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg mitunter fließend sein konnten.149 Die bevorzugte Vergabe von Wohnungen an höher Qualifizierte und Gruppen wie VeteranInnen konnten mit Verweis auf geltende Richtlinien legitimiert werden. So machten im Regelwerk zur Wohnungsvergabe der Zastava-Werke von 1966150 die zwei Kriterien „Notwendigkeit für das Unternehmen“ und „Teilnahme am Volksbefreiungskampf“ (NOB)151 zusammen 44 % des Gewichts aus, wen die Dringlichkeit des Wohnungsgesuchs eingestuft wurde. Demgegenüber brachten vier Kriterien, welche die soziale Situation der Person einstuften, gemeinsam weniger Gewicht in die Einstufung des betreffenden Wohnungsantrags ein als die zwei vorgenannten Kriterien, nämlich zusammen 40 %.152 Eine Statistik, die 1970 die Mariborer Gewerkschaft erstellte, macht deutlich, dass bei TAM ähnliche Mechanismen wirkten: Angelernte und unqualifizierte ArbeiterInnen waren gemessen an ihrem Anteil von 42,6 % an der Gesamtbelegschaft deutlich unterdurchschnittlich bei der Wohnungsvergabe berücksichtigt worden: Nur 11,3 % der 1970 bei TAM vergebenen Wohnungen gingen an diese Gruppe der Beschäftigten.153 Die Wohnungsknappheit und der Bedarf an Fachleuten verschärfte Verteilungskämpfe vor allem in den expansiven Phasen der Unternehmen noch zusätzlich. Vgl. ŽUPANOV, Upravljanje industrijskom konfliktom, 437. Vgl. BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti, 129–137. Siehe zu ideologisch gewollten Privilegierungen auch Kap. 6.1. Vgl. Ivan LAĐARSKI, Sistem analitične procene za raspodelu stanova, 1.6.1966, 3. „Volksbefreiungskampf“ war die offizielle Bezeichnung des kommunistischen Partisanenkampfs gegen die ausländischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg und gegen die einheimischen Gruppen der faschistischen Ustaša und königstreuen Četnici, Srb.: „Narodnooslobodilačka borba“ – NOB, Slow.: „Narodnoosvobodilni boj“ – NOB. 152 Vgl. ebenda. 153 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 84: Vprašalnik o stanovanjski problematiki. Delovna organizacija Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 1970, S. 1, die Zahl von 11,27 % bezieht sich auf Beschäftigte der hier als „Sonstige“ eingestuft sind. Sie waren laut der Kategorisierung weder leitendes Personal, noch hatten sie Hochschulbildung oder waren qualifizierte oder hoch qualifiziert FacharbeiterInnen und Büropersonal, sodass die unqualifizierten und angelernten ArbeiterInnen übrig bleiben; Prozentzahlen errechnet auf Grundlage von: SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 31. 147 148 149 150 151
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Weiterhin beklagte Stojan I. aus Kragujevac in seinem Einspruch 1974 scheinheilige Strenge, wenn Kommissionsmitglieder Kriterien zur Wohnungszuteilung auslegten, denn diese gälten offensichtlich nicht für alle: „Einem, der ein Haus und ein Baugrundstück beim Krankenhaus hat“, so der Arbeiter, „dem habt ihr eine Wohnung gegeben.“154 Fälle, in denen Beschäftigte solcherlei Einspruch einlegten, enthielten oft Vorwürfe, KollegInnen würden von privatem Wohneigentum und gesellschaftlichen Wohnungen doppelt profitieren. Darunter waren sicherlich sowohl Fälle, in denen die Betreffenden den Besitz eines Hauses gegenüber den Kommissionen erfolgreich verheimlichen konnten, als auch Fälle, in denen großzügig über bestehendes Wohneigentum hinweggesehen wurde. So konnten diejenigen, die sowohl über ein Haus als auch über Wohnrecht in Betriebswohnungen verfügten, aus Vermietung überschüssigen Wohnraums auf Kosten von weniger Privilegierten Einkommen erzielen. Sowohl für Kragujevac als auch für Maribor sind solche Praktiken dokumentiert.155 Stojan I.s Einspruch in seiner Wohnungsangelegenheit bei Zastava 1974 wurde mit dreizehn zu fünf Stimmen abgelehnt, womit der Arbeiterrat unter Umständen auch seine Kritik sanktionierte.156 Falls Stojan I. eine so dringende Frage wie eine angemessene Unterkunft als alltagsweltlichen Gradmesser für den Fortschritt der sozialistischen Ordnung nahm, so wird dieser Ausgang seines Einspruchsverfahrens in seinen Augen die Legitimität des kommunistischen Systems wohl nicht gefördert haben. Am Phänomen der vikendice (Srb. für: „Wochenendhaus“, Slow: „vikend hiša“) wurden soziale Ungleichheiten, die zum Teil auf Missbrauch von Stellungen in gesellschaftlichen Betrieben beruhten, ab den 1960er Jahren diskutiert. Während bestimmte Gruppen von niedrig qualifizierten IndustriearbeiterInnen bis in die 1980er Jahre hinein Probleme hatte, ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Wohnraum zu befriedigen, leisteten sich Angehörige der seit den 1960er Jahren wachsenden Mittelschicht Wochenendhäuser. Wie Karin Taylor feststellt, thematisierten die Ende der 1960er Jahre einsetzenden öffentliche Diskurse über die vikendice unter anderem Missbrauch von betrieblichen Baufonds durch FunktionärInnen und leitende Angestellte. Diese Baufonds erst hätten den Bau von Wochenendhäusern ermöglicht, deren Besitz zudem lange Zeit eine rechtliche Grauzone darstellte.157 Taylor verweist auch auf die Unschärfen bei der Einordnung solcher Objekte als Wohnraum oder Urlaubsdomizil, eine Frage, die sich auch in den Diskussionen der Arbeiterräte in Kragujevac niederschlug. Eben diesen Auslegungsspielraum konnten leitende Angestellte durch Beziehungsnetzwerke für sich nutzen, während in der Ablehnung von Wohnungsge154 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog, 3. 155 Vgl. Nadežda PAVLOVIĆ, Pisma čitalaca. Da li će se naći rešenje za moj stambeni
problem?, Crvena zastava, 30.6.1971, 6; SI-PAM, f. 1373, šk. 188: Zapisnik 2. redne seje komisije za prošnje in pritožbe pri CK ZKS Maribor, 19.04.1979, S. 2. 156 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog, 3. 157 Vgl. Karin TAYLOR, My own Vikendica. Holiday Cottages as Idyll and Investment, in: Hannes GRANDITS / Karin TAYLOR (Hgg.), Yugoslavia's Sunny Side. A History of Tourism in Socialism (1950s–1980s). Budapest u. a. 2010, 171–209.
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suchen von Personen ohne gute Beziehungen die Richtlinien strenger angewandt wurden. In einer Zeit der Zuspitzung sozialer Gegensätze zu Beginn der 1980er Jahre reagierten die Massenorganisationen in Serbien mit der Kampagne „Imaš kuću – vrati stan“ (Srb. für: „Du hast ein Haus – gib die Wohnung zurück“), die jedoch recht erfolglos verlief.158 In Kragujevac nutzten die Massenorganisationen die Wochenzeitung Svetlost als Plattform, um die Kampagne zu propagieren. BesitzerInnen von Häusern forderte man darin auf, ihre aus betrieblichen Fonds geschaffenen Wohnungen wieder zur Verfügung zu stellen, falls sie zusätzlich dazu ein Eigenheim besaßen. Allerdings machte ein Artikel in Svetlost aus dem Jahr 1983 darauf aufmerksam, dass sich die Gewissensbisse der Privilegierten ob der Verletzung der sozialistischen Moral in Grenzen hielten. Überdies meldete die Autorin des Beitrags Zweifel an, ob eine Kampagne, die dezentralisiert von Gemeinde zu Gemeinde implementiert wurde (oder auch nicht), das geeignete Mittel zu sozialer Umverteilung sei und ob nicht eher ein Gesetz notwendig sei.159 Die Kampagne war also nicht mit wirkungsvollen Instrumenten zur tatsächlichen Intervention ausgestattet. Deswegen bedeutete sie eher eine symbolische Parteiergreifung der sozialistischen Massenorganisationen zugunsten der sozial Benachteiligten als ein wirksames Mittel, mit dem ungerechtfertigte soziale Unterschiede beseitigt werden konnten.
Strategische Nutzung von Missbrauchsvorwürfen durch die politische Führung Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über soziale Ungleichheiten, welche die gesellschaftliche Praxis hervorgebracht hatte, die jedoch im Widerspruch zur herrschenden Ideologie standen, kam durchaus an der Staatsspitze an. Berichte von den unteren Ebenen der Massenorganisationen und das Eingabewesen, das in allen Organisationen anzutreffen war, dienten als Gradmesser für Stimmungen unter den BürgerInnen. Überdies zeigten Briefe an Tito, die ein Genre für sich in der Kommunikation der Bevölkerung mit der Macht bildeten,160 dass gesellschaftliche Widersprüche der Staatsführung keinesfalls verborgen blieben. Dass diese Stimmungen in der politischen Kommunikation gezielt eingesetzt wurden, illustriert auch „Titos Brief“, auf den sich der Zastava-Arbeiter Stojan I. in seinem Einspruch vor dem Arbeiterrat 1974 bezog. In seinem Einspruch hieß es: „[I]ch finde, dass das Selbstverwaltungsabkommen große Fehler hat und dass nach Titos Brief viel getrickst wird.“161 Als „Titos Brief“ wurde das „Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums des BdKJ und Präsident Titos, das am 29. September den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens 158 Vgl. ebenda, 198; ARCHER, Imaš kuću – vrati stan. 159 Vgl. Verica BRAKUS, Dobra volja nije dovoljna. Akcija „Imaš kuću – vrati stan“ u
Kragujevcu, Crvena zastava, 27.1.1983, 5. 160 Der kroatische Historiker Zvonimir Despot widmete solchen Briefen eine gesonder-
te Quellenedition: Zvonimir DESPOT (Hg.), Pisma Titu. Što je narod pisao jugoslavenskom vođi. Zagreb 2010. 161 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog.
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zugestellt und am 18. Oktober 1972 veröffentlicht worden ist“162 in den Jahren nach 1972 populär bezeichnet. Dieser Text war eine an die gesamte Parteimitgliedschaft gerichtete Botschaft, die einen Rundumschlag gegen unerwünschte politische Strömungen und Missstände in Partei und Gesellschaft vornahm. Er thematisierte neben politischem Abweichlertum ausdrücklich vorherrschende soziale Unterschiede, Korruption und Amtsmissbrauch in den Selbstverwaltungsstrukturen. Als Mittel dagegen stellte die Parteiführung heraus, man müsse die Prinzipien der Selbstverwaltung konsequent durchsetzen: Trotz der erreichten Anfangserfolge können wir nicht zufrieden sein mit den Resultaten des Kampfes zur Überwindung des [sic!] sozialen Unterschiede, die nicht auf geleisteter Arbeit beruhen […]. Der Bund der Kommunisten und alle organisierten Kräfte müssen energisch jede Entwicklung im alltäglichen Leben unterdrücken und unterbinden, die zu einer Schichtung der Gesellschaft in Arme und Reiche führt. […] Für unser sozialistisches Selbstverwaltungssystem unzulässig sind passive und opportunistische Stellungnahmen gegenüber Erscheinungen wie Korruption, Diebstahl und ähnlichen Formen der Aneignung von Gütern und Einnahmen. […] Es ist daher notwendig, dringende Massnahmen [sic!] zu treffen, um die staatliche Kontrolle, die Arbeiter- und Selbstverwaltungskontrolle dazu zu befähigen, dass sie solche Erscheinungen erfolgreich bekämpfen können.163
Was sich hier so eindeutig als Parteinahme für die Unterprivilegierten gerierte, flankierte Säuberungskampagnen in Partei und Institutionen, die die Parteispitze unter den Kampfparolen des Vorgehens gegen „Technokratismus“, „Bürokratismus“ und „Liberalismus“ zu Beginn der 1970er Jahre in Jugoslawien durchführte. So hieß es, die kommunistischen Kräfte müssten zum „konkreten politischen Kampf gegen Ideologien bourgeoiser Ausrichtung, gegen Nationalismus, technokratischen und etatistischen Bürokratismus, falsche Linksorientierungen und alle Formen sozialer und politischer Demagogie beitragen“.164 „Titos Brief“ machte den parteiinternen KritikerInnen deutlich, dass die Führung am demokratischen Zentralismus festhalten und Abweichungen von der Parteilinie unterbinden würde. In dem Dokument wird politischer Widerspruch rhetorisch mit Korruption, Bereicherung und mit nicht idealtypisch funktionierender Selbstverwaltung in eine Linie gestellt. Damit behauptete die Parteispitze implizit einen logischen Zusammenhang zwischen politischer Abweichung und sozialer Ungleichheit und konnte die Motivation für das harte Durchgreifen gegen politische Gegner mit ihrem Streben nach der Beseitigung sozialen Unrechts begründen. Dies, so offenbar die Intention, sollte wiederum die Verbundenheit der Partei mit den ArbeiterInnen demonstrieren. Die Unschärfe, welche in dieser Art der öffentlichen Thematisierung von Korruption dominierte, muss als charakteristisch für die „Korruptionskommunikation“ des BdKJ angesehen werden.165 162 163 164 165
DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums. Ebenda, 116. Ebenda, 113. Vgl. BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht, 26f.
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Etwas später, zu Beginn des Jahres 1974, erlebten auch in den ZastavaWerken Partei und Massenorganisationen Säuberungen, wobei man öffentlich unter anderem Inhalte „des Briefs“ von 1972 als Rechtfertigung heranzog.166 Der Sekretär des betrieblichen Parteikomitees, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Fabrik sowie der Chefredakteur der Fabrikzeitung mussten unter den Vorwürfen des Liberalismus, der auch die Parteispitze auf Gemeindeebene traf, zurücktreten. Wie der schon mehrfach zitierte Einspruch Stojan I.s in seiner Wohnungsangelegenheit vom April 1974 zeigt, griffen Beschäftigte diesen Versuch der Parteispitze, unter ArbeiterInnen Legitimität für ihre Herrschaft zu schaffen, durchaus auf. Es werde „nach Titos Brief viel getrickst“,167 warf der Arbeiter in Kragujevac seinem Arbeiterrat vor. Hier wandte er eine Strategie an, die sowohl in Jugoslawien als auch z. B. in der DDR und in Bulgarien von der Bevölkerung praktiziert wurde:168 Stojan I. bezog sich auf Postulate der offiziellen staatlichen Doktrin, um Druck auf die zuständigen FunktionärInnen der untersten gesellschaftlichen Ebene auszuüben und drohte gleichzeitig damit, er würde sich mit seinem Fall an den „Präsidenten der Republik“, also Josip Broz Tito, wenden.169 Er nutzte damit das von der politischen Führung unter den FunktionärInnen geschaffene Klima der Unsicherheit, um seine Interessen zu verfolgen. In der Fabrikzeitung hatte der Arbeiter lesen können, dass „der Brief“ mit der Absetzung von FunktionärInnen in der Fabrik, also seiner unmittelbaren Arbeitsumgebung, sehr konkrete Konsequenzen hatte.
„Beziehungen“ als Weg zu einem Arbeitsplatz In Serbien wurde ab den 1970er Jahren die strukturelle Arbeitslosigkeit, die besonders BerufsanfängerInnen betraf, in weitaus stärkerem Maße als in Slowenien zum Problem. TV Beograd griff in einer seiner Serien 1980 das Thema beschleunigter Arbeitssuche mittels persönlicher Verbindungen auf humoristische Weise auf. In der fünften Episode der populären Serie Vruć vetar unterstützte der Protagonist Onkel Figra seinen Neffen Šurda bei der Arbeitssuche, indem er zu einem Gespräch mit dem Direktor einer Wohnungsbaufirma aufbrach.170 Diesen bat er darum, Šurda eine Stelle in seinem Wohnungsbauunternehmen zu verschaffen und begründete sein Anliegen damit, dass sie doch aus der gleichen Region stammten. Nachdem der Direktor diesen Gefallen erst verweigern wollte, erinnerte ihn Onkel Figra daran, dass er es war, der dem Direktor per Empfehlung fünfzehn Jahre zuvor eine Arbeit vermittelt hatte, weil er sein Landsmann war. Figra, der einst dem Direktor als Patron zu einer Arbeit verholfen hatte, wurde nun zum Klienten, dem der Direktor, nun als Mann von 166 Vgl. Obračun za liberalizmom, Crvena zastava, 9.1.1974, 1; Mora se pojačati ak-
167 168 169 170
tivnost na doslednom sprovođenju zadataka iz pisma druga Tita. Izborna konferencija Saveza komunista Zavoda, Crvena zastava, 16.1.1974, 1. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog, 3. Für die DDR vgl. MÜHLBERG, Eingaben als Instrument informeller Konfliktbewältigung, 240, für Bulgarien: BRUNNBAUER, „Die sozialistische Lebensweise“, 202, 696. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 30-te sednice Radničkog, 3. Vgl. Siniša PAVIĆ, Vruć vetar, Episode 5: Bračni vir 1980.
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Einfluss, diesen Gefallen als Patron zurückzahlen musste. Aus der Perspektive der beginnenden 1980er Jahre stellte der Autor der Serie hier Klientelismus als bewährten und erprobten Mechanismus dar. Die Neigung, sich auf diesen zu stützen, schrieb er zum Teil der Herkunft der Männer aus der serbischen Provinz zu. Als verwerflich erschien der Weg Šurdas zu seinem Arbeitsplatz in der Episode keineswegs. Vielmehr betonte der Autor in der Zeichnung der Figur Figra die Schläue, mit der er die Angelegenheiten seines Neffen erledigte. Eine solche affirmative Perspektive fehlt in den Quellen der betrieblichen Selbstverwaltung und Massenorganisationen vollständig. In den Werkszeitungen der Unternehmen TAM und Zastava wurden klientelistische und korrupte Praktiken im Gegensatz dazu überhaupt nicht behandelt. Zwar fanden sich zu allen Zeiten Beiträge, die auf soziale Unterschiede und ungleiche Machtverteilung hinwiesen, aber sie verblieben stets in der diffus kritischen und allgemeinen Haltung gegenüber den Führungseliten der Industriebetriebe, welche auch der Bund der Kommunisten und die Massenorganisationen vertraten. Über das Thema der illegitimen Vorteilsnahme, gar mit konkreten Bezügen zum eigenen Betrieb, wurde wurde also nur nichtöffentlich kommuniziert. Klientelismus und Korruption zur Erlangung von Arbeitsplätzen waren dagegen häufig Gegenstand von Beschwerden an das Zentralkomitee des Bundes der Kommunisten Serbiens. Da die Stichproben der Kommissionsunterlagen aus den Jahren 1975 und 1983 keine Beispiele aus Kragujevac enthielten, sollen hier zwei Beispiele aus Zentralserbien und einem Belgrader Unternehmen herangezogen werden. So wandte sich 1975 Stojan B. aus Paraćin an die Eingabekommission, weil seine Kinder keinen Arbeitsplatz fanden. Er führte dies auf seine fehlenden Verbindungen unter den Bedingungen der sehr angespannten Arbeitsmarktlage zurück und ließ nicht aus zu erwähnen, dass er Invalide sei. Im Resümee des Falles nahm die Kommission keine konkrete Stellung zum Problem des Klientelismus, gestand dem Verfasser der Eingabe lediglich zu, dass „die Probleme in Bezug auf Beschäftigung auf dem Territorium der Gemeinde Paraćin sehr schwer und ernst sind und dass in diesen Teilen die Eingabe Stojan B.s berechtigt und begründet ist“.171 Etwas konkreter wird Vitomir S., ein „körperlich Arbeitender“ im Belgrader Unternehmen Mostogradnja in seiner Eingabe an das serbische Zentralkomitee aus dem Jahr 1982. In der Bestandsaufnahme der eingegangen Fälle hieß es: Er führt an, dass er schon mehrere Jahre lang seinen Sohn nicht in Beschäftigung bringen kann, der Korrektor ist, während Einzelne mittels Bestechung und Korruption sehr schnell angestellt werden. Er betont, dass aus bestimmten Familien, die Verbindungen haben, alle Familienmitglieder sehr schnell eine Arbeit finden. Er bittet um Hilfe, damit er seinen Sohn in Arbeit bringen und damit seine materielle Stellung verbessern kann.172
171 Vgl. AS, Đ-2, k. 264: Informacija o proverenim predstavkama i žalbama preko
MOKSKS, OKSK i drugih institucija u nas, oktobra 1975, S. o.S.
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Da der Wortlaut der Originalbeschwerde nicht vorliegt, sondern lediglich die Reformulierungen, welche die Kommissionsmitglieder vornahmen, lässt sich nicht genau sagen, ob die beiden genannten Eingabeschreiber sich explizit gegen Verstöße der formalen Verfahrensrichtlinien und der sozialistischen Moral wandten. Allerdings vermitteln beide Fälle den Eindruck, als ob es sich bei der Besetzung von Arbeitsplätzen unter Ausnutzung von persönlichen Beziehungen und von Schmiergeldzahlungen um verbreitete Praktiken handeln würde. Dennoch klingt durch, dass die Verfasser dies nicht allein als Missstand anklagen wollten, sondern auch versuchten, ihrerseits vom Bund der Kommunisten Unterstützung zu bekommen, um fehlende persönliche Beziehungen und finanzielle Möglichkeiten zur Bestechung auszugleichen. Sie wollten, mit anderen Worten, die Partei einerseits als Patronin gewinnen, womit sie sicher ungewollt auf den Bund der Kommunisten als klientelistisches Netzwerk anspielten. Andererseits versuchten sie, aus ihrer Zugehörigkeit zu unterprivilegierten Gruppen einen durch die Ideologie legitimierten Vorteil geltend zu machen. Sie präsentierten sich dazu als Mitglieder der Gesellschaft, die durch Invalidität benachteiligt waren (Stojan B.) oder als Arbeiter besondere Aufmerksamkeit der Partei verdienten (Vitomir S.). Damit appellierten sie implizit an die Rolle des Bundes der Kommunisten als Fürsprecher derjenigen, die über keine Privilegien in Form von einflussreichen Positionen oder materiellen Gütern verfügten. Zum Verwischen der Grenzen zwischen illegalem und legalem Kauf von Arbeitsplätzen trug eine Regelung aus dem Jahr 1972 bei. Sie sollte aus dem Ausland zurückkehrende ArbeitsmigrantInnen dazu anregen, Devisen in die Modernisierung von Betrieben zu investieren. Im Gegenzug zu ihren Einlagen konnten sie einen Arbeitsplatz in dem betreffenden Unternehmen bekommen, eine Möglichkeit, die unter anderem im Gesetz über die vereinte Arbeit 1976 ihren Niederschlag fand. Dort hieß es in Artikel 91: Wenn die Mittel aus Abs. 1 dieses Artikels zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verwendet werden, kann die Grundorganisation […] die Verpflichtung übernehmen, ein Arbeitsverhältnis mit dem Bürger zu begründen, der der Grundorganisation die Mittel zur Verfügung stellt, wenn dadurch die Möglichkeiten für seine Beschäftigung geschaffen oder die Beschäftigungsmöglichkeiten überhaupt erweitert werden.173
Die serbischen Historiker Vladimir Jovanović und Predrag Marković stellen fest, dass diese Maßnahme in der Öffentlichkeit negativ wahrgenommen wurde, da sie Gelegenheit zum Missbrauch durch Leitungspersonal bot, das private Investitionsmittel auch in die eigenen Taschen zu lenken gewusst hätte.174 In je172 AS, Đ-2, k. 453: Pregled Predstavki i žalbi upućenih, 25. Das Brückenbauunterneh-
men Mostogradnja wurde 1947 in Belgrad gegründet. Laut Angaben des Unternehmens erreichte es während seines Bestehens eine Belegschaftsstärke von etwa 3.300 Personen. 173 Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 105. 174 Vgl. Vladimir IVANOVIĆ / Predrag J. MARKOVIĆ, Der späte Sieg der Gartenzwerge. Ökonomie- und Kulturtransfer durch die „Gastarbeiter“? Jugo-Serbische Fallbei-
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dem Fall erweiterte die Möglichkeit, legal einen Arbeitsplatz zu kaufen, das Spektrum formaler Zugänge zu einer Beschäftigung im gesellschaftlichen Sektor, was jedoch auch mit einer Erweiterung der Missbrauchsmöglichkeiten einherging. Sowohl der formale als auch der als Korruption klassifizierbare informelle Weg schlossen eine monetäre Komponente ein. Das mag ein Umstand sein, der diesen rechtlich anerkannten Weg zu einem Arbeitsplatz in die Nähe korrupter Praktiken rückte.
Fazit In Industriebetrieben ergaben sich für FunktionärInnen der Selbstverwaltung und der Massenorganisationen bei der Vergabe von Wohnraum, Löhnen und Arbeitsplätzen Möglichkeiten, Einzelne an den formalen Vorgaben der Selbstverwaltung vorbei zu begünstigen. In der Verteilung der knappen Güter eröffnete sich in einer institutionellen Umgebung, die zahlreiche Widersprüche barg, viel Raum für Klientelismus und Korruption. Dezentralisierte Betriebe, diffuse und ideologisch aufgeladene Kompetenzverteilung im Management und die teilliberalisierte ökonomische Umgebung leisteten verschiedensten informellen Praktiken Vorschub. Hinzu kamen die unscharfen Übergänge zwischen ideologisch gewollter Privilegierung, industriepolitisch als notwendig angesehener Begünstigung bestimmter Gruppen und illegitimer Vorteilsnahme. Die politische Führung, welche die gesellschaftlichen Widersprüche nicht auflösen konnte, die sich in der eingeschränkt nach Marktgesetzen funktionierenden Selbstverwaltung unter Alleinherrschaft der kommunistischen Partei ergaben, versuchte die allseits laut werdenden Missbrauchsvorwürfe für sich zu nutzen. So griff sie Vorwürfe auf, die über Beschwerden, aber auch durch die öffentlichen Proteste der Studierenden 1968 an den Bund der Kommunisten und die Selbstverwaltungsbürokratie herangetragen wurden. Dabei präsentierte sich die Partei selbst, wie etwa in „Titos Brief“ von 1972, als Kämpferin gegen diese Missstände. Sie tat dies, indem sie politischen GegnerInnen zuschrieb, an klientelistischen und korrupten Praktiken beteiligt zu sein und konstruierte so einen direkten Zusammenhang zwischen derartigem Fehlverhalten und politischer Dissidenz. Beides versprach sie vehement zu bekämpfen. Auf der anderen Seite beklagten und benutzten Belegschaftsmitglieder oder solche, die es werden wollten, klientelistische Einflussnahme und Bestechlichkeit gleichermaßen. Im Gegensatz zu denjenigen, die im Selbstverwaltungssystem Macht besaßen und sie – gemessen an den Normen der sozialistischen Moral – missbrauchten, wurden diejenigen, die als KlientInnen profitierten oder in der Lage waren, Bestechungsgelder zu zahlen, nicht öffentlich kritisiert. Partei und Massenorganisationen schienen sich eine korrumpierte Wirtschaftselite als Feindbild erhalten zu wollen. Unter den ArbeiterInnen ließ sich damit, so offenbar das Kalkül des BdKJ, Legitimität für seine Herrschaft erzeugen. spiele, in: Ulf BRUNNBAUER / Karolina NOVINŠĆAK / Christian VOSS (Hgg.), Gesellschaften in Bewegung. Emigration aus und Immigration nach Südosteuropa in Vergangenheit und Gegenwart. München 2011, 125–148, 136.
199
5.4. Fluktuation: Arbeit als Ware? Sowohl in kapitalistischen als auch in staatssozialistischen Wirtschaftssystemen stellte und stellt Fluktuation ein Problem für Industriebetriebe dar. Ihre Entstehung, Konsequenzen und die Maßnahmen gegen sie in den jugoslawischen Fahrzeugfabriken sollen hier in den Blick genommen werden. Dabei wird Fluktuation als ein Ausdruck von informeller Handlungsmacht von Beschäftigten in sozialen Konflikten aufgefasst. Sie reagierten damit in einer vom Management unerwünschten Weise auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Jugoslawische Betriebsleitungen mussten Fluktuation im Rahmen der Selbstverwaltungsorganisation der Betriebe und unter Berücksichtigung der ideologischen Rahmenbedingungen entgegenwirken. Im Folgenden soll der inner- und zwischenbetriebliche Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten betrachtet werden. Als Extremform von Fluktuation finden dabei auch die innerjugoslawische und die Auslandsmigration Beachtung. Für gegenwärtige kapitalistische Betriebe definiert der Betriebswirtschaftler Peter Nieder drei Ebenen, die die Fluktuation beeinflussen. Diese sind auf den sozialistischen jugoslawischen Betrieb übertragbar: das Individuum, die Organisation und die Rahmenbedingungen, welche jeweils als ineinander eingebettet zu verstehen sind.175 Unter den Rahmenbedingungen, die unter anderem das Arbeitsrecht, die (branchenspezifische) Wirtschaftslage und das Wirtschaftssystem ausmachten, soll hier besonders der Faktor des Arbeitsmarkts unter Einbezug der Auslandsmigration diskutiert werden. Eine Rahmenbedingung, die fraglos im von Nieder angeführten Modell zu ergänzen ist, besteht in der ideologischen Rahmung durch die kommunistische Herrschaft. Auch die sozialistische Arbeitssoziologie definierte eben das Individuum, die Organisation und die Rahmenbedingungen als die drei Ebenen, die auf auf Fluktuation von Arbeitskräften einwirkten. Wie die gegenwartsbezogene Betriebswirtschaftslehre erwähnte auch sie die Einbettung in die vorherrschende Ideologie nicht, wenn auch aus anderen Gründen.176 Gerade die Rahmenbedingung der sozialistischen Staatlichkeit aber steckte die Möglichkeiten ab, mit denen Wirtschaftspolitik und Betriebsleitungen auf Fluktuation reagieren konnten. Sie begünstigte bestimmte Maßnahmen, machte andere unmöglich, erschwerte sie oder drängte sie ins Informelle ab. Einige dieser Instrumente, die Nieder der Einflussebene des Betriebs zuordnet, sollen hier diskutiert werden: Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen, wobei individuelle personen- und berufsbezogene Faktoren in der Analyse ebenfalls ihren Platz finden.
175 Vgl. Peter NIEDER, Fluktuation, in: Wirtschaftslexikon. Das Wissen der Betriebswirt-
schaftslehre, Bd. 4. Stuttgart 2008, 1833–1840, 1835. 176 Vgl. Kurt BRAUNREUTHER, Einleitung, in: Kurt BRAUNREUTHER / Fred OELSSNER / Wer-
ner OTTO (Hgg.), Soziologische Aspekte der Arbeitskräftebewegung. Berlin [Ost] 1967, 7–12, 8.
200
Fluktuation als Spiegel makroökonomischer Entwicklungen Instabile Belegschaften, ihre Ursachen und Konsequenzen ebenso wie die Instrumente, mit denen man versuchte, der Fluktuation entgegen zu wirken, wurden sowohl in Geschäftsberichten, Arbeiterratssitzungen und Fabrikzeitungen von TAM und Zastava als auch in Partei und Gewerkschaft thematisiert. Dabei waren ProduktionsarbeiterInnen verschiedener Qualifikation, die in weitaus stärkerem Ausmaß als Angestellte fluktuierten, auf dem Arbeitsmarkt teilweise schwer verfügbar. Der Weggang von Arbeitskräften im großen Stil zog erhöhte Kosten für die Betriebe nach sich, da man erst neue Beschäftigte finden musste und sie auf den entsprechenden Arbeitsplätzen einarbeiten musste. Für TAM in Maribor stellt sich die Fluktuation im Gesamtbetrieb statistisch folgendermaßen dar, wobei die Fluktuationsrate den Anteil derjenigen beziffert, die im Laufe des Jahres den Betrieb verließen. Der Berechnung liegt die Gesamtbelegschaft zum Jahresende zugrunde und den betrieblichen werden die branchenspezifischen Fluktuationszahlen in Slowenien gegenübergestellt: Im zeitlichen Verlauf fällt auf, dass die sinkenden Fluktuationsraten bei TAM mit den Zeiträumen korrelieren, in denen die Arbeitsmarktlage aufgrund makroökonomischer Faktoren für Beschäftigte ungünstig war.177 Dies war nach 1965 und nach 1979 der Fall, sodass in diesen Zeiträumen der Einfluss von außerbetrieblichen Rahmenbedingungen auf die Fluktuation als groß angesehen werden kann. Hohe Fluktuationsraten in anderen Zeiträumen wiederum lassen sich in diesem Lichte als Ausdruck gesamtwirtschaftlicher Situationen lesen, in denen Beschäftigte auf alternative Arbeitsangebote zu ihrer derzeitigen Stelle zurückgriffen. Im Vergleich der betrieblichen mit den Republiksdaten Sloweniens ist erkennbar, dass TAM bis zur Mitte der 1970er Jahre ähnlichen Trends wie die gesamtslowenische Metallindustrie unterworfen war, wenn auch in etwas abgeschwächter Form. Ab 1977 verzeichnet das Statistische Jahrbuch Jugoslawiens keine Daten mehr für die Metallindustrie, sondern lediglich noch die gröber gefasste Kategorie Industrie und Bergbau. Hier ähneln sich die Trends bei TAM und in den übergeordneten Kategorien ebenfalls, obwohl TAM in diesem Zeitraum höhere Fluktuationsraten aufwies als die allgemeinere Vergleichsgröße.
177 Vgl. Kapitel 2.
201
Tabelle 3: Fluktuation bei TAM Maribor, in der slowenischen Metallindustrie/ in der Branche Industrie und Bergbau in Slowenien, 1964-1984.178 Fluktuation slow. Fluktuation InFluktuation TAM Metallindustrie dustrie und Bergin % in % bau Slow. in % 1964
16,00
21,60
1965
21,00
19,20
1966
14,34
18,00
1967
7,90
14,28
1968
8,46
14,76
1969
9,83
17,64
1970
13,18
18,36
1971
11,41
18,12
1972
13,35
21,86
1973
13,85
20,52
1974
15,40
18,24
1975
15,96
17,04
1976
14,19
14,28
1977
14,56
13,44
1978
17,15
16,44
1979
18,72
16,80
1980
17,30
14,28
1981
15,20
12,96
1982
12,80
13,72 13,72
1983 1984
11,50
13,72
178 Für TAM 1964/65: SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 15; für
TAM 1966–68: SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 32; für TAM 1969–1980: SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 14; für TAM 1981/82: SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Poslovno poročilo DO TAM za, 14; für TAM 1984: Danilo VINCETIČ, Najniža fluktuacija v zadnjih deset letih, Skozi ZIV TAM, 17.2.1984, 7; für Slowenien insgesamt: SGJ 1965–85. Wiedergegeben werden für Slowenien 1965–76 die Fluktuationsraten für die Metallbranche, für 1977–84 die für die gröbere Kategorie Industrie und Bergbau, da ab 1977 die Daten für die Republiken nicht feiner aufgeschlüsselt wurden.
202
Statistische Daten zur Fluktuation in den Zastava-Werken sind weitaus fragmentarischer. So betrug die Fluktuationsrate in unterschiedlichen Betriebseinheiten zu verschiedenen Zeiten folgende Werte: Tabelle 4: Fluktuation Zastava, in der serbischen Metallindustrie/ in der Branche Industrie und Bergbau im engeren Serbien zwischen 1965 und 1982.179 Betriebseinheit
1965
ZastavaAutofabrik
Fluktuation Fluktuation Fluktuation Zastavaengeres Serbien engeres Betriebseinheit in der Serbien in in % Metallindustrie Industrie und in % Bergbau in % 16,64
19,20 9,84
1967 1970
ZastavaNutzfahrzeugfabrik
1975
OOUR Nutzfahrzeuge
1981
Gesamtbetrieb Zavodi Crvena zastava
8,72
10,80
1982
Gesamtbetrieb Zavodi Crvena zastava
7,50
9,60
9,00
11,88
8,03
9,84
Obwohl sich die Zahlen für Zastava auf jeweils unterschiedliche Betriebseinheiten beziehen, lässt sich festhalten, dass sie in allen Jahren signifikant unter denen von TAM in Maribor liegen, was makroökonomisch mit dem angespannteren Arbeitsmarkt in Serbien erklärt werden kann. Während TAM im slowenischen Vergleich ab der Mitte der 1970er Jahre eine höhere Fluktuation aufwies, 179 Für die Zastava-Autofabrik 1965: ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ 1965: Izveštaj o radu
FAZ 1965, 63; für die Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1970: ZCZ-FPV, RS FPV, 1971– 73: Zapisnik sa 14. sednice Radničkog, 4; für die OOUR Nutzfahrzeuge 1975: ZCZFPV, RS, 1976: Analiza izvršenja planskih zadataka u 1975 godini, Februar 1976, S. 17; für den Gesamtbetrieb Zastava ZCZ-CA, SRK ZCZ, 1983: Izveštaj o rezultatima poslovanja SOUR-a Zavoda „Crvena zastava“ u 1982.g., S. 23f.; für Serbien ohne Kosovo und Vojvodina: SGJ 1966–83. Wiedergegeben werden für Serbien 1965–76 die Fluktuationsraten für die serbische Metallbranche, für 1977–84 die für die gröbere Kategorie Industrie und Bergbau, da ab 1977 die Daten für die Republiken nicht feiner aufgeschlüsselt wurden.
203
verfügte man bei Zastava zu allen Zeitpunkten der fragmentarischen Datensammlung über günstigere Werte als im gesamtserbischen Bild. Neben der quantitativen Einordnung bedeutete Fluktuation bei TAM und Zastava sowohl die Bewegung von Arbeitskräften von einer betrieblichen Einheit in die andere, in andere Betriebe oder in andere jugoslawische Republiken als auch ins Ausland. Je nach Größe des betreffenden Betriebsteils und nach Ausmaß der Fluktuation, stellte sich in Maribor und Kragujevac für die Betriebsleitungen die Frage, wie sie ihr entgegenwirken sollten. Der Arbeitsmarkt spielte dabei als außerbetrieblicher Faktor ebenso eine Rolle wie betriebliche Sozialpolitik und die Arbeitsbedingungen verschiedener Beschäftigungsgruppen. Als potentieller Arbeitsmarkt standen ab 1962 mit der vom Staat gewährten Reisefreiheit sowohl das regionale Einzugsgebiet, ganz Jugoslawien als auch das westeuropäische Ausland zur Verfügung. Für die Fahrzeugfabriken waren zwischen den 1960er und 1980er Jahren sowohl qualifizierte als auch unqualifizierte ProduktionsarbeiterInnen für bestimmte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt schwer zu finden. Dies konnte auch unabhängig von der übergreifenden Arbeitsmarktsituation der Fall sein. So waren es in der stark expansiven Phase der Unternehmen bis zu den 1960er Jahren alle Arten von FacharbeiterInnen, die fehlten, wobei ein Überschuss an Unqualifizierten herrschte. Qualifizierte ArbeiterInnen konnten somit den Wechsel der Arbeitsstelle nutzen, um ihre materielle Situation, aber auch ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Im Gegensatz dazu wechselten zu Beginn der 1980er Jahre besonders unqualifizierte ProduktionsarbeiterInnen häufig ihren Arbeitsplatz und galten als Gruppe, deren Fluktuation ein großes Hindernis in der Effizienz der Produktion darstellte.
Arbeitsmigration als Ventil für „die Falschen“ Besonders ambivalent wirkte sich für die Betriebe die ab 1962 Jahren erlaubte Auslandsmigration aus. Gedacht als Ventil, um Arbeitslosigkeit in Jugoslawien einzudämmen, verstärkte sie besonders in Slowenien die Fluktuation. Denn nicht nur niedrig Qualifizierte und Arbeitslose nutzten die Chance, im Ausland zu arbeiten, sondern auch qualifizierte Beschäftigte, die in den jugoslawischen Betrieben der 1960er Jahre dringend gebraucht wurden.180 Instrumente gesamtstaatlicher Politik gegen Arbeitslosigkeit riefen hier unintendiertes Verhalten von Beschäftigten hervor und erschwerten einheimischen Fabriken in Slowenien aber auch im Rest von Jugoslawien die Arbeit.181 Diese unerwünschte Entwicklung antizipierte die Regierung schon zu Beginn der legalen Ausreise von
180 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 276. Es lag hingegen im Interesse der
Anwerbeländer, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen, vgl. NOVINŠĆAK, Novinšćak, The Recruiting and Sending of,121–144, 138. 181 Vgl. AS, Đ-2, k. 140: Magnetofonske beleške sa sastanka Opunomoćstva CK Saveza komunista Srbije za radnu snagu privremeno zaposlenu u inostranstvu, 09.02.1972, S. 1/12.
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Arbeitskräften zu Beginn der 1960er, konnte sie im weiteren Verlauf jedoch nicht aufhalten.182 Bei TAM in Maribor stellte sich die Situation 1966 dramatisch dar. Auf einer Arbeiterratssitzung beklagten die Delegierten, dass mehr Beschäftigte auf Arbeitsstellen ins Ausland wechseln würden als in andere Betriebe vor Ort.183 Eine häufige Praxis fluktuierender ArbeiterInnen war hier wie in Kragujevac, dass Beschäftigte keine Kündigung einreichten, sondern nicht mehr zur Arbeit erschienen, ohne Nachricht zu geben. In solchen Fällen kündigte TAM ihnen dann wegen „eigenmächtiger Einstellung der Arbeit“ mittels Disziplinarverfahren.184 Bei der Verhandlung solcher Fälle vor dem Arbeiterrat waren teilweise die Ehefrauen betreffender Männer, die schon im Ausland arbeiteten, anwesend, um rückwirkend eine einvernehmliche Kündigung zu erwirken. Die Abreise der Männer schien in diesen Fällen sehr kurz entschlossen geschehen zu sein, denn wie ihr Arbeitsverhältnis bei TAM beendet werden würde, hatten sie nicht in ihre Planungen einbezogen. Die Möglichkeit zur Rückkehr, auch in dieselbe Firma, hatten die Arbeiter aber offenbar als zukünftige Option im Blick, denn die Frauen versuchten ja in Abwesenheit ihrer Ehemänner, die disziplinarischen Kündigungen abzuwenden. Sie ahnten wohl, dass eine Kündigung die erneute Anstellung zu Hause erschweren würde, eine Sorge, die nicht unbegründet war. Im Sommer des Jahres 1966 trug die Betriebsleitung von TAM, um der Fluktuation ins Ausland Herr zu werden, die Diskussion darüber in die Fabrikzeitung. Unter dem Titel „Auch gute Arbeiter kehren aus Deutschland zurück“ wurde hier Negativwerbung für die Arbeit im Ausland gemacht.185 Mehrere Facharbeiter des Unternehmens, die (vorerst) aus Deutschland remigriert waren, wurden nach ihren Erfahrungen befragt und berichteten von Einsamkeit und schweren Lebensbedingungen in Deutschland. Der Artikel hob hervor, dass bei einer Rückkehr die Gesuche nach Neuanstellung sehr kritisch geprüft würden. Gerade 1966, als die Folgen der Wirtschaftsreformen die örtlichen Unternehmen plagten, drohten ArbeiterInnen eher Entlassungen als dass gute Beschäftigungschancen gewunken hätten. Mit dem Hinweis „auch dort [im Ausland, U.S.] müsse man arbeiten“ und mittels Appellen an die Solidarität mit dem heimischen Kollektiv schloss der Beitrag. Er ist ein Anzeichen dafür, dass das Problem der emigrierenden FacharbeiterInnen für das Unternehmen akut war, da es sonst nicht so weit an die Oberfläche der Betriebsöffentlichkeit gedrungen wäre, sondern intern in den Selbstverwaltungsgremien verhandelt worden wäre. In einer Mischung aus Drohungen, der Darstellung des menschlichen Preises, den Arbeiter für höhere Löhne im Ausland zahlen mussten und Appellen an ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Unternehmen versuchte man, Beschäftigte von der Arbeitsmigration ins Ausland abzuhalten. 182 Vgl. IVANOVIĆ / MARKOVIĆ, Der späte Sieg der Gartenzwerge, 127f. 183 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XI. rednega zasedanja DS, 21.01.1966,
12f. 184 Vgl. ebenda. 185 Tudi dobri delavci se vračajo iz Nemčije, Skozi TAM, Juli 1966, 4.
205
Auch Zastava war ab den 1960er Jahren davon betroffen, dass „die Falschen“ ins Ausland migrierten. Noch mit einem gewissen Erstaunen stellten die VerfasserInnen des Geschäftsberichts der Zastava- Autofabrik 1965 fest, dass Beschäftigte nicht nur in andere Unternehmen abwanderten: Die Vergütung von Fachkadern ist nicht zufriedenstellend und deswegen haben wir eine höhere Fluktuation. Schubweise gehen junge Fachleute mit niedriger Arbeitserfahrung weg, die auf der Suche nach höheren Einkommen die Unternehmen wechseln und sogar in andere Länder gehen.186
Fluktuation, ob nun vor Ort oder ins Ausland, wird hier deutlich als eine informelle Strategie benannt, mit der qualifizierte Beschäftigte versuchten, ihre Einkommen aufzubessern. Es ist nicht auszuschließen, dass schon die Drohung von produktionswichtigen MitarbeiterInnen, die Fabrik zu verlassen, eine Wirkung auf die Vorgesetzten und die EntscheiderInnen in Management und Selbstverwaltung gehabt haben mochte. Wenn diese mit sozial- und lohnpolitischen Maßnahmen reagierten, dann ähnelte das durchaus dem Instrumentarium von Personalpolitik in privatkapitalistischen Unternehmen. Jedoch waren die SelbstverwalterInnen ideologischen Beschränkungen unterworfen. Betriebsöffentliche Diskussionen bei Zastava 1971 darüber, die Rückkehr aus dem Ausland formal als Minuspunkt bei Neuanstellungen zu definieren, zeugen deutlich davon, dass die Auslandsmigration zu dieser Zeit die Produktion in Kragujevac beeinträchtigte.187 Zudem zeigen sie, dass Betriebsleitung Fluktuation auch rückwirkend sanktionierten: Aus dem Ausland zurückkehrende ArbeiterInnen erschwerten sie eine Neubeschäftigung und zwar zu einer Zeit, als in Serbien die Arbeitslosenzahlen merklich anstiegen. Wie auch beim Weggang von Beschäftigten im Inland, so bereitete den Betrieben die Frage nach dem Status der betrieblichen Wohnungen von AuslandsmigrantInnen große Sorgen. Im Arbeiterrat bei TAM forderten Delegierte 1966 schnellere Kündigungsverfahren, da im Laufe der drei Monate währenden Prozedur „viele Wohnungen verloren gehen“.188 Damit war sowohl gemeint, dass (ehemalige) Beschäftigte ihre Wohnungen belegt hielten, als auch, dass sie ihr Wohnrecht an andere verkauften, was im erwähnten Jahr für hitzige Auseinandersetzungen in der Betriebszeitung sorgte.189 Neben der Strategie der Leitung, Kündigungsverfahren zu verkürzen, was für eine übersichtlichere Situation sorgen sollte, klagten Betriebe Wohnungen von ehemaligen Beschäftigten auch vor den Mitte der 1970er Jahre gegründeten Gerichten der vereinten Arbeit ein. 190 186 ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ 1965: Izveštaj o radu FAZ 1965, 42. 187 Vgl. J. ŽIVANOVIĆ, Zavodi će zapošljavati više žena u drugoj fazi razvoja, Crvena za-
stava, 19.5.1971, 3. 188 SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XI. rednega zasedanja DS, 21.01.1966, 13. 189 Vgl. Obsojanja vredna černa borza, Vesti iz TAM, 22.1.1966, 2; D.-M., Ali res
požrešnost?, Skozi TAM, März 1966, 5. Mehr zu den Argumenten in der Kontroverse im Kapitel 6.1./ 6.2. 190 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 34. redne seje izvršilnega odbora delavskega sveta delovne organizacije Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 27.02.1979,
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Wenn nicht schon früher, so kam zu Beginn der 1980er Jahre die Abwanderungsbewegung der Bevölkerung aus Maribor ins Ausland zum Stillstand.191 Spätestens mit der Rezession 1973 und den offiziellen Anwerbestopps westeuropäischer Staaten nahmen die Möglichkeiten für einen Wechsel der Arbeitsstelle über die Grenzen Jugoslawiens hinweg ab. Seit den frühen 1970er Jahren stand in der Folge die Rückkehr von migrantischen ArbeiterInnen aus dem Ausland auf der Agenda der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.192
Bindung von qualifizierten MitarbeiterInnen: Betriebliche Sozialleistungen Betriebe mussten angesichts von Auslandsmigration und zwischenbetrieblicher Fluktuation Anstrengungen unternehmen um MitarbeiterInnen an sich zu binden. Dem gegenüber stand das Interesse Beschäftigter, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, leichteren Zugang zu betrieblichen Sozialleistungen und unter Umständen zu Qualifizierung zu erlangen. Daraus konnte eine Fluktuationsentscheidung folgen, welche die Betriebe zu verhindern suchten. Im Unterschied zu kapitalistischen Betrieben erlegten Prinzipien wie Solidarität innerhalb und zugunsten der Arbeiterklasse im Sozialismus den Betriebsleitungen Einschränkungen auf. In Bezug auf DDR-Betriebe war auf einem SoziologieSymposium in Ost-Berlin 1965 folgendes zu hören: […] und es bleibt eine praktikable Devise für unsere Wirtschaftsfunktionäre, den Teil der Fluktuation, bei dem sich gesellschaftlich negative Ursachen oder Ereignisse abzeichnen, entschieden einzuschränken. Damit sind keine ungerechtfertigten Vergünstigungen oder die Anwendung administrativer Methoden befürwortet, sondern die Beseitigung der zum Kündigungsentschluß führenden Störfaktoren gemeint, [...].193
Der Autor Herbert Wolf stellte heraus, dass einige Mittel der Bindung von MitarbeiterInnen als illegitim im sozialistischen System zu gelten hätten, was auch S. 2; SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 1. izredne, razširene seje izvršilnega odbora delavskega sveta delovne organizacije TAM Maribor, in kolegijskega poslovodnega organa DO TAM, 15.05.1979, S. 10. 191 Vgl. Branko POŽAR, Razvoj prebivalstva občine Maribor v obdobju od 1961. do 1981. leta, Časopis za zgodovino in narodopisje 54 (1983), H. 1–2, 261–267, 266. 192 Vgl. IVANOVIĆ / MARKOVIĆ, Der späte Sieg der Gartenzwerge, 131–137; Sara BERNARD, Developing the Yugoslav Gastarbeiter Reintegration Policy. Political and Economic Aspects (1969–1974), Working papers series (Centre for South East European Studies, University of Graz) 2012, unter , 15.9.2015; für Serbien: AS, Đ-2, k. 140: Informacija sa Prve sednice Opunomoćstva CKSKS za delatnost SK u vezi sa privremenim zapošljavanjem u inostranstvu radnika iz SR Srbije, 10.12.1971; AS, Đ-2, k. 140: Magnetofonske beleške sa sastanka Opunomoćstva. 193 Herbert F. WOLF, Methodische Fragen der Erfassung der latenten Fluktuation und des sozialistsichen Betriebsklimas, in: BRAUNREUTHER / OELSSNER / OTTO (Hgg.), Soziologische Aspekte der Arbeitskräftebewegung, 235–249, 238.
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auf Jugoslawien übertragbar ist. Bestimmte Gruppen, wie zum Beispiel FacharbeiterInnen offen zu begünstigen, weil sie auf dem Arbeitsmarkt knapp waren, konnte auch in Jugoslawien als „ungerechtfertigte Vergünstigung“ gewertet werden. Dennoch waren höhere Löhne und der leichtere Zugang zu betrieblichen Sozialleistungen nicht erst im Staatssozialismus Mittel, Beschäftigte mit benötigten, aber auf dem Arbeitsmarkt knappen, Tätigkeitsprofilen an Betriebe zu binden. Vergünstigungen solcher Art zu gewähren, die der Fluktuation entgegenwirken sollten, wurden durch die jugoslawische Variante der sozialistischen Ideologie und die Abläufe der dezentralisierten Selbstverwaltung einerseits möglich gemacht, andererseits aber auch rhetorisch verschleiert. Möglich gemacht wurden sie insofern, als die dezentralen Einheiten der Betriebe die Kriterien zur Lohnfestsetzung und Verteilung von Wohnungen sowie anderen betrieblichen Sozialleistungen festlegten. Die Regelwerke, welche die Verteilungskriterien gewichteten, waren das Produkt von Aushandlungsprozessen innerhalb der betrieblichen Selbstverwaltung, welche stark vom Management dominiert wurde. Somit war es möglich, dass – ohne dass dies als Strategie zur Bindung von qualifizierten Beschäftigten öffentlich stark betont wurde – die berufliche Qualifikation z. B. bei der Wohnungsvergabe sehr schwer wog. So lautete eine von acht Kategorien für die Zuteilung von Wohnraum bei Zastava 1966 „Notwendigkeit für das Unternehmen“.194 Sie war so allgemein formuliert, dass der Interpretationsspielraum der Wohnungskommission in den jeweiligen Situationen groß war. Gleichzeitig sticht die Kategorie in ihrer Bedeutung stark heraus, da sie als eine von acht allein schon 30 % der Gewichtung ausmachte. Die von der Selbstverwaltung legitimierte Wohnungsvergabe konnte also durchaus bestimmten Gruppen Vergünstigungen zusprechen, welche als systematisches Instrument gegen Fluktuation wirkten. Eine schon an anderer Stelle zitierte Statistik der Mariborer Fabrik TAM von 1970 bestätigt die systematische Begünstigung von Fachkräften in der Produktion, welche von offiziellen ideologischen Postulaten so nicht betont wurde.195 Ungelernte und angelernte ArbeiterInnen waren gemessen an ihrem Anteil von 42,6 % an der Belegschaft bei der Wohnungszuteilung deutlich unterrepräsentiert. Ihnen teilte die betriebliche Selbstverwaltung im Jahr 1970 lediglich 11,3 % der neuen Betriebswohnungen zu. Für die FacharbeiterInnen und hoch Qualifizierten (MeisterInnen, VorarbeiterInnen, untere Leitungspersonen in der Produktion) stellte sich die Situation viel günstiger dar. Sie stellten 1970 einen Anteil von 40,5 % der Belegschaft und hatten im gleichen Jahr 47,9 % der neuen Wohnungen erhalten. Die so dringend benötigten Fachkräfte in der Produktion wurden damit, ob von den betrieblichen Regelwerken legitimiert oder nicht, mit der Zuteilung von Wohnungen an den Betrieb gebunden. Eine offene kollektive Verhandlungssituation, in der Fachkräfte soziale Vergünstigungen von der Betriebsleitung verlangten, gab es weder bei TAM noch bei Zastava. Stattdessen 194 Vgl. LAĐARSKI, Sistem analitične procene za raspodelu. 195 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 31; SI-PAM, f. 1341,
šk. 84: Vprašalnik o stanovanjski problematiki. Delovna, 1.
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wirkte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die Qualifizierten mit Fluktuation ein informelles Mittel zur Stärkung ihrer Position an die Hand gab, auf die Prozesse der Selbstverwaltung aus. Im Ergebnis entstanden Vergabekriterien für betriebliche Sozialleistungen, welche Arbeitskräfte mit Qualifikationen, die am Arbeitsmarkt knapp waren, in den Fabriken halten sollte. Ein weiteres sozialpolitisches Instrument gegen Fluktuation ist ebenfalls in der Praxis betrieblicher Wohnungspolitik angesiedelt. Nicht selten kam es vor, dass in einer Familie mehrere Personen in einer Fabrik arbeiteten. Dieser Umstand konnte sich, wie ein Beispiel von TAM aus dem Jahr 1976 zeigt, auf die Wohnungsvergabe auswirken.196 Waren mehrere Familienmitglieder bei TAM beschäftigt, so konnte sich diese Tatsache als ausschlaggebendes Kriterium bei der Zuweisung einer Betriebswohnung erweisen. Diese Regelung galt auch noch in den frühen 1980er Jahren, als sich sowohl die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses der AntragstellerInnen als auch die von EhepartnerInnen in der Bewertung von Wohnungsgesuchen positiv niederschlugen.197 1971 machte eine Arbeitsgruppe bei Zastava einen Vorschlag, der schon bei der Rekrutierung von Arbeitskräften ansetzte, um Fluktuation zu verhindern.198 Eine Analyse von Kündigungen in den ersten drei Monaten des Jahres hatte ergeben, dass 99 % derjenigen, die in diesem Zeitraum das Unternehmen verlassen hatten, Männer waren. Die ExpertInnen forderten daraufhin, mehr Frauen in der Produktion anzustellen, da sie stabilere Arbeitsbiografien aufwiesen. Als ehrgeiziges Ziel nannten sie, einen Anteil von 40 % Frauen an der Gesamtbelegschaft zu erreichen. Verwirklicht wurde das bis zum Ende der 1970er Jahre nicht, wie die Ziffer von 22 % zeigt, auf die sich der weibliche Teil der Belegschaft 1979 belief.199 Welchen Anteil am Scheitern solcher Vorhaben fehlende sozialpolitische Maßnahmen zur Begünstigung weiblicher Berufstätigkeit hatten, wird in Kapitel 6.4. eingehender behandelt.
Der Marktwert der „Ware Arbeit“ als ideologisches Problem Die Kriterien zur Festsetzung von Löhnen im sozialistischen Selbstverwaltungsmodell verneinten nicht explizit, dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt eine Rolle für die Einkommenshöhe spielen sollte. Die Prinzipien der Dezentralisierung waren auch in Bezug auf die Löhne ausdrücklich verfassungsmäßig verankert, was Spielraum eröffnete. Zudem gingen ideologische Richtlinien davon aus, dass die objektive und gerechte Berechnung von Lohnhöhen möglich sei. Dies sei auch unter den Bedingungen möglich, dass man das Wirtschaften unter Marktbedingungen berücksichtigte und ebenso eine solidarische Verteilung anstrebte. Bereits in der Verfassung von 1963 hieß es in Artikel 12:
196 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: SI-PAM, f. 0990, šk. 710, 2. 197 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 656: Pravilnik o osnovah in merilih za urejanje stanovan-
jskih zadev delavcev, TOZD Raziskave in razvoj, S. 11. 198 Vgl. ŽIVANOVIĆ, Zavodi će zapošljavati više žena. 199 Vgl. Zastava danas 1979, 25.
209 Jedem Werktätigen in der Arbeitsorganisation gebührt – im Einklang mit dem Prinzip der Verteilung entsprechend der geleisteten Arbeit – ein persönliches Einkommen entsprechend den Resultaten seiner Arbeit, der Arbeit der betreffenden Arbeitseinheit sowie der Arbeit der gesamten Arbeitsorganisation.200
Genauere Maßgaben, wie „geleistete Arbeit“ und die „Resultate seiner Arbeit“ zu bestimmen seien, gab die Verfassung nicht, auch nicht in ihrer veränderten Form von 1974. Wohl angesichts sich fortschreibender sozialer Ungleichheit fehlte folgendes Prinzip in späteren Verfassungen Jugoslawiens, das die Verfassung von 1963 mit dem folgendem Wortlaut enthielt: „Nur durch die Arbeit und die Resultate der Arbeit werden die materielle und gesellschaftliche Stellung des Menschen bestimmt.“201 Welchen Einfluss die Fluktuation von Fachleuten auf Lohnhöhen haben sollte und konnte, blieb in normativen Texten ausgeklammert. Die Frage bewegte sich in einem Bereich, der durch die ideologische Sprache im Diffusen gehalten wurde. Nicht überraschend sorgte das Thema dagegen auf Beratungen von Massenorganisationen und Partei für Kontroversen. So diskutierte die Gewerkschaft für Industrie und Bergbau in Ljubljana 1965 am Beispiel des Elektrotechnikproduzenten Iskra, ob man Lohnhöhen als Instrument zur Verhütung von Fluktuation einsetzen dürfe.202 Bei Iskra, so die GewerkschaftsfunktionärInnen, würden Beschäftigte niedrigeren Löhnen zustimmen, da sich das Unternehmen in einer wirtschaftlich kritischen Phase befände. Solches Verhalten zeugt von Solidarität innerhalb des Kollegiums. Lieber niedrigere Löhne zu akzeptieren, anstatt Entlassungen zu riskieren, ging mit dem Verteilungsprinzip der „Resultate entsprechend der Arbeit der Arbeitsorganisation“ konform. Als problematisch an solidarischen Lohnsenkungen benannten die GewerkschaftlerInnen allerdings, dass Fachleute in andere Betriebe mit besseren Verdienstmöglichkeiten wechseln könnten, was wiederum ein Produktivitätshemmnis darstellen würde. Hier deckte sich die behauptete Solidarität der Belegschaftsmitglieder nicht mit der Art, wie einzelne Gruppen unter Marktbedingungen ihre Interessen verfolgten. Obwohl für die Produktion und den Absatz von Industriegütern ab 1965 zum Teil Marktkriterien angelegt wurden, hatte man Vorbehalte, nach demselben Prinzip den Wert bestimmter Qualifikationen zu bemessen. Eine dezidierte Einstufung von bestimmter Arbeitskraft als knappes Gut wäre ein zu offener Widerspruch zu Grundüberzeugungen des Marxismus gewesen. Diesen war man in Jugoslawien bereit in Bezug auf die Produkte der Arbeit zu akzeptieren. Wenn jedoch Arbeitskraft mit dem Segen von Gewerkschaft und Partei als Ware gehandelt worden wäre, deren Wert der Markt be200 Die Verfassung der SFRJ 1963, 18. 201 Ebenda, 15. 202 Vgl. SI-AS, f. 578, šk. 17: Zapisnik posvetovanja RO sindikata delavcev industrije
in rudarstva s predsedniki občinskih odborov sindikata industrije in rudarstva bivšega okraja Ljubljana, 10.06.1965, S. 6, 14–15. Die Fabrik, die Elektrotechnik herstellte, wurde 1946 mit achthundertfünfzig MitarbeiterInnen im nördlich von Ljubljana gelegenen Kranj gegründet. In der Mitte der 1980er Jahre beschäftigte der bis dahin stark angewachsene Unternehmenskomplex etwa 35.000 Menschen.
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stimmen sollte, dann hätte das zentrale Grundsätze des Systems in Frage gestellt. Trotzdem ging man implizit von der faktischen Wirkung arbeitsmarktbedingten ungleichen Wertes bestimmter Tätigkeiten aus. In wirtschaftspolitischen Diskussionen in Jugoslawien war diese Beurteilung durchaus als explizite Position präsent, worauf auch der Politikwissenschaftler Othmar Haberl 1978 im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration ins Ausland hinwies.203 Man konnte auf sie mit den unscharfen und an die Umstände anzupassenden Lohnprinzipien reagieren, welche die Selbstverwaltungsgremien jeweils in konkrete Regelungen übersetzte. In den nichtöffentlichen Diskussionen meldeten sich in Serbien zu Beginn der 1970er Stimmen, die ähnlich wie 1965 im slowenischen Ljubljana die Frage stellten, ob Lohnanreize ein akzeptables Mittel darstellten, um der Knappheit einiger Berufsprofile auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen. In dem für Arbeitsmigration zuständigen Gremium des Zentralkomitees des serbischen Bundes der Kommunisten wurden 1972 deutliche Lohnanreize zur Bindung von hochqualifizierten Fachleuten vorgeschlagen: Wir als Gesellschaft sind mit der Unumgänglichkeit konfrontiert, dass wir, wenn wir die Abwanderung derjenigen Arbeiter, die für unseren Aufbau, unsere Wirtschaftsprogramme und -pläne unerlässlich sind, anhalten wollen; wenn wir sie hier halten wollen, können wir das nicht mehr mit administrativen Maßnahmen tun. [sic!] Wir müssen das also mit anderen Maßnahmen, mit ökonomischen, angemessenen Einkommen für diese Arbeiter tun. Wir können nicht nur Parolen rufen und meetinghaft [im srb. Original: „mitingaški“] gegen die Abwanderungen bestimmter Kategorien kämpfen, sondern wir müssen eine wirtschaftliche Politik gegenüber diesen Kategorien anwenden; wir müssen, wenn uns Elektroingenieure so wichtig für die Entwicklung dieses Landes sind, die Elektroingenieure auf entsprechende Art vergüten. Anderenfalls werden sie in die Schweiz gehen und dort die schweizerische Elektroindustrie voranbringen, wie sie es auch jetzt schon tun.204
Wirtschaftsliberal argumentierte man hier, der Marktwert einer Arbeitskraft sollte angesichts von Fluktuation ausschlaggebend für die Vergütung sein, wohingegen ideologische Vorbehalte als Parolen abgetan wurden. Solche Strömungen innerhalb des Bundes der Kommunisten lassen darauf schließen, dass auch die konkrete Praxis in den Unternehmen, die Fluktuation mit finanziellen Anreizen verhindern wollten, toleriert wurde. Obwohl es in den Unternehmensarchiven von TAM und Zastava an systematischen und kontinuierlichen Lohnlisten mangelt, an denen sich die Reaktion auf Fluktuationsbewegungen von Fachleuten in den Betrieben ablesen ließe, kann man davon ausgehen, dass versucht wurde, mit finanziellen Anreizen Beschäftigte zu binden. Das zentrale Argument gegen eine finanzielle Begünstigung von dringend benötigten Fachkräften lautete, dass damit soziale Ungleichheit innerhalb von Belegschaften gefördert würde. Solange die Gesellschaft existenzielle Lebens203 Vgl. Othmar N. HABERL, Die Abwanderung von Arbeitskräften aus Jugoslawien. Zur
Problematik ihrer Auslandsbeschäftigung und Rückführung. München 1978, 70. 204 AS, Đ-2, k. 140: Magnetofonske beleške sa sastanka Opunomoćstva, 1/12.
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bedingungen wie z. B. angemessene Wohnverhältnisse nicht ermöglichen konnte, musste die kommunistische Ideologie, welche die Herrschaft und das Wohl der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt rückte, auf diese Argumente reagieren. Nicht umsonst sah sich die Führung des BdKJ an der Wende zu den 1970er Jahren neben nationalistischen und wirtschaftsliberalen Tendenzen durch die Kritik von links in Gestalt der Praxis- Gruppe bedroht. So merkte einer ihrer Vertreter, der Belgrader Philosoph Mihailo Marković, an, dass die institutionelle Einrichtung der Selbstverwaltung nicht genüge, sondern materielle Not überwunden werden müsse, um die ideellen Ziele der Selbstverwaltung in Angriff zu nehmen.205 Ein solches ideelles Ziel war eine Lohnverteilung, die sowohl Solidaritäts- als auch Gerechtigkeitsvorstellungen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs genügte. Sobald in den Betrieben oder Gremien vonseiten der Massen- und Parteiorganisationen die Kritik aufkam, dass die Lohnverteilung nicht solidarisch genug mit den ProduktionsarbeiterInnen oder mit der Masse von niedrig Qualifizierten verliefe, leistete die ständige Wiederholung des Prinzips „Einkommen entsprechend der geleisteten Arbeit und der Resultate der Arbeit“ als Replik gute Dienste. Es fungierte bereits 1965 als Leerformel, die als Antwort auf Probleme beschworen wurde, ohne dass dabei jemand konkrete Operationalisierungen des Prinzips vorlegte. Wie die Fluktuation von Fachleuten unter Berücksichtigung von solidarischen Prinzipien verhindert werden sollte, konnte mit der ambivalenten Formel nicht beantwortet werden. Im Referat des Vorsitzenden des Fabrikkomitees Miladin Lazarević auf der Parteikonferenz der Zastava-Werke 1965 wird deutlich, wie er eben diese verschleiernde Rhetorik anwendete. Einerseits beklagte er sehr unkonkret Missstände und pries darauf sofort die „Verteilung entsprechend der Arbeitsergebnisse“ im Geist der Selbstverwaltung als Mittel zur Lohnsteigerung: Die Annahme solcher Prinzipien und ihre Realisierung in der Praxis verlangt bestimmte politische Arbeit der Kommunisten und damit setzen wir grundlegende Ziele und unmittelbare Aufgaben in Richtung der weiteren Entwicklung der unmittelbaren Verwaltung, der Eliminierung von Schwächen, die sich in den gesellschaftlichen Beziehungen manifestieren und wir vervollkommnen das System der Verteilung entsprechend der Arbeit ständig, um auf dieser Basis die Arbeitsproduktivität als ausschlaggebenden Faktor der Steigerung der persönlichen Einkommen zu erhöhen. [...] Der Prozess der unmittelbaren Selbstverwaltung und die Verteilung gemäß der geleisteten Arbeit wird sich auf dieser Ebene am natürlichsten in den demokratischen Beziehungen innerhalb der Arbeitseinheiten, Fabriken und den Zavodi als ganzes entwickeln.206
Welche Antworten das Lohnverteilungsprinzip mit seinem sich ständig wandelnden Punktesystem konkret geben konnte, blieb unbeantwortet. Sogar das 205 Vgl. Mihailo MARKOVIĆ , Sozialismus und Selbstverwaltung, in: SUPEK / BOŠNJAK
(Hgg.), Jugoslawien denkt anders, 213–236, 233–235. 206 Održana vanredna konferencija Saveza komunista, Crvena zastava, Nr. 111, April
1965, 1–5, S. 2.
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Problem der Entlohnung von Fachkräften spricht der Parteisekretär in seinem Referat 1965 an, doch wieder bleibt die Frage offen, an welchen Prinzipien sich eine der Ideologie entsprechende Einkommensverteilung konkret orientieren sollte: Die andere Frage im Zusammenhang mit den Fachkadern bezieht sich hauptsächlich auf die Vergütung, besonders derjenigen Kader, die in den Arbeitseinheiten der Organisation von Produktion arbeiten. Wir finden, dass Anmerkungen im Prinzip erlaubt sind, aber deshalb dürfen wir noch nicht diesen Genossen die Schuld geben, sondern die Ursachen für diese Schwächen müssen wir im unausgereiften System der Verteilung für diese Arbeitseinheiten suchen. Deswegen wird in der folgenden Periode als Imperativ gesetzt, dass wir unsere Aktivität vor allem auf diese Probleme richten.207
Mehr als das Beharren auf ideologischen Formeln gab der Funktionär als Hilfestellung, wie „diese Probleme“ zu lösen seien, nicht. Acht Jahre später, 1973, sah die Situation nicht anders aus. Auf einer Sitzung der Kommission für Sozialpolitik beim Bund der Kommunisten Serbiens diskutierten TeilnehmerInnen aus verschiedenen Regionen Serbiens kontrovers unterschiedlichste soziale Missstände.208 Sie behandelten mit der Wohnungsfrage, dem Problem von zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen, Fragen des Mutterschutzes und dessen Kosten unterschiedlichste Themen und benannten die herrschenden Zustände als sozial ungerecht. Letztendlich mussten als Antworten auf die Fragen, wie man die gesellschaftlichen Widersprüche lösen könnte, wieder die ideologischen Standardforderungen nach Stärkung der Selbstverwaltung und der „Vergütung gemessen an der Arbeitsleistung“ herhalten.209 Hartnäckig hielt sich die ideologische Formel, die wenig konkrete Anhaltspunkte gab. Selbst noch 1980, als sowohl die Belegschaften als auch FunktionärInnen begannen, deutliche Zeichen von Desillusionierung gegenüber der jugoslawischen Selbstverwaltungsordnung zu zeigen, sollte sie bei Zastava als vermeintlicher Wegweiser aus den strukturellen Problemen des Unternehmens heraus dienen.210 Hier wie im Fall der ideologisch heiklen, aber aus Perspektive der Unternehmen drängenden Frage, ob es akzeptabel sei, Fachpersonal entsprechend seines jeweiligen „Marktwertes“ zu bezahlen, um es an der Fluktuation zu hindern, war die Formel von der „Verteilung entsprechend der geleisteten Arbeit“ eine Antwort ohne eine Antwort. Sie taugte dazu, seitens der Partei das Bewusstsein für konkrete Probleme zu signalisieren, wurde benutzt, um nicht ideologiekonforme Lösungswege zu diskreditieren, trug aber nicht dazu bei, auf formalem Wege Instrumente gegen Probleme in der Praxis bereitzustellen. Das von kommunistischen Führungskadern in den späten 1960er Jahren und der ersten Hälfte der 1970er Jahre oft zitierte Feindbild der liberalen und „technobürokratischen“ Strukturen diente ebenfalls dazu, sich zur Rekrutie207 208 209 210
Ebenda, 4. Vgl. AS, Đ-2, k. 127: Magnetofonske beleške sa sednice Komisije. Vgl. ebenda, 55. Vgl. NIKOLIĆ, Koliko (ne)radimo.
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rungspolitik zu positionieren. Als TechnokratInnen zeichneten sich laut Chefideologen Edvard Kardelj hauptsächlich Leitungspersonen in Unternehmen und Banken aus, die nur Interesse an Unternehmenserfolgen in einer als freier Marktwirtschaft organisierten Ökonomie hätten. Sie würden dementsprechend die Rechte der Selbstverwaltung bei der Organisation von Arbeit und der Verteilung des Gewinns verletzen.211 Unzufriedenheit über die schwierigen Lebensumstände großer Gruppen von niedrig bezahlten ArbeiterInnen und Kritik an den unerwünschten Dynamiken, welche die Arbeiterselbstverwaltung im marktorientierten Wirtschaftssystem hervorgebracht hatte, konnte auf diese Weise von der Partei instrumentalisiert werden. Das Eingeständnis, dass auch im BdKJ selbst solche Tendenzen Fuß gefasst hätten und sich ein Beziehungsnetz zwischen Eliten in Wirtschaft, Verwaltung und Massenorganisationen gebildet hatte, erfolgte zu Beginn der 1970er Jahre, wie schon in Kapitel 5.3. besprochen, zeitgleich mit umfangreichen politischen Säuberungen. Für die Betriebe hatte der politische Sieg der konservativen über liberale Kräfte im BdKJ zur Folge, dass mit der Verfassung von 1974 und dem Gesetz über die vereinte Arbeit aus dem Jahr 1976 die Dezentralisierung und die Rolle der Selbstverwaltung gegenüber den DirektorInnen gestärkt wurden. Nichtsdestotrotz blieb die Herausforderung bestehen, unter den makroökonomisch instabilen Bedingungen rentable Industrieproduktion zu gewährleisten, die die Mittel für einen steigenden Lebensstandard generieren sollte. Das politische Rezept für einen erfolgreichen Weg dorthin blieb diffus, wie aus folgendem Zitat aus dem als ideologische Leitlinie der Zeit geltenden „Brief Titos“ vom Oktober 1972 hervorgeht: Alle Maßnahmen – die prinzipiellen, ökonomischen und administrativen, die zum Zweck der Stabilisierung der Wirtschaft angewandt werden, müssen zur Reaffirmation der Prinzipien der Wirtschafts- und Gesellschaftsreform und der Marktwirtschaft und zum Ausbau eines Systems der bewussten, planmäßigen Ausrichtung aller Wirtschafts- und Gesellschaftsbewegungen beitragen.212
Wie viel Markt und wie viel Plan erwünscht waren, wurde durch dieses Dokument also nicht deutlicher. Auf welche Weise die Selbstverwaltung in Zukunft der Fluktuation von FacharbeiterInnen und hoch Qualifizierten entgegenwirken sollte, blieb im Ungefähren. Jedoch wurde in der Folge von „Titos Brief“ Fragen sozialer Ungleichheit und von prekären Lebensumständen niedrig Verdienender stärker diskutiert. Wie in der Analyse von klientelistischen Praktiken erwähnt, stellte die stärkere Präsenz des Themas ideologische Druckmittel für ärmere IndustriearbeiterInnen bereit (siehe dazu Kapitel 5.3. sowie 6.2.). Inwiefern aber Lohnpolitik, welche Fluktuation vermindern sollte, davon tatsächlich beeinflusst wurde, muss hier offen bleiben.
211 Vgl. PRINČIČ, Direktorska funkcija, 85f. Diese Definition bezieht Prinčič auf Äuße-
rungen Karedeljs von 1972. 212 DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums, 115.
214
Die Fluktuation niedrig Qualifizierter Besonders für TAM aber auch für Zastava war ein weiteres Fluktuationsproblem über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg eklatant: der häufige und massenhafte Arbeitsplatzwechsel von niedrig Qualifizierten.213 Vor allem die Abteilungen Lackiererei, Mechanische Fertigung und die Lager- sowie Transportabteilungen hatten in beiden Betrieben mit hoher Fluktuation und Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Die schweren, teilweise gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen bei niedrigen Löhnen waren ein wichtiger Grund dafür. Zastavas Fabrikparteiorganisation nannte 1965 angesichts der hohen Fluktuation in der OOUR Mechanische Fertigung eben diese zwei Gründe.214 Ähnlich verhielt es sich in der Lackiererei bei TAM, deren hohe Fluktuation ihr Leiter in einem Interview mit der Fabrikzeitung 1966 mit dem Schmutz und schädlichen Gasen, denen die ArbeiterInnen beim Lackieren der Karosserien ausgesetzt waren, erklärte.215 An den Gründen für die Fluktuation der Ungelernten änderte sich über die Jahrzehnte kaum etwas, außer dass körperliche Arbeit in der Fabrik mit der Zeit immer unattraktiver wurde. So wiesen Artikel in den Fabrikzeitungen sowohl bei TAM als auch bei Zastava 1981 darauf hin, dass sich für unqualifizierte Tätigkeiten im Transport und in der Schmiedeabteilung kaum Arbeitskräfte finden ließen und die Fluktuation an Arbeitsplätzen mit starker körperlicher Belastung hoch sei.216 Oft wurden darüber hinaus der niedrige Bildungsstand, das junge Alter und die Herkunft der Beschäftigten mit dieser Art der Fluktuation in Verbindung gebracht. So schwang in den Äußerungen von Betriebseliten oft ein Ton mit, der in paternalistischer Manier das Problem auf Mangel an Bildung, Reife und kulturellem Entwicklungsstand zurückführte. Sowohl bei TAM als auch bei Zastava thematisierten LeiterInnen und FunktionärInnen die zur Fluktuation neigenden niedrig Qualifizierten vor allem als Produktionshindernis. Eine explizit ideologisch gefärbte Deutung ihrer Verhaltensweisen irgendeiner Art fand jedoch weder in den Gremien der Selbstverwaltung noch in den Massenorganisationen oder Betriebszeitungen statt. Schließlich spielte auch die Attraktivität von Büroarbeit im Gegensatz zur Produktion ganz allgemein in der zeitgenössischen Ursachenforschung eine Rolle. All diese Aspekte werden in Kapitel 6 mit Fokus auf die sozialen Differenzierungen innerhalb der Belegschaften eingehender behandelt. Der DDR-Soziologe Herbert Wolf führte die Fluktuation niedrig Qualifizierter auf Faktoren auf der Betriebsebene zurück, die auch im Sozialismus nicht zu beseitigen waren: 213 Nicht nur für TAM, sondern für Slowenien insgesamt galt dieser Trend:EGER / WEISE,
Eger et al., Arbeitskräfteallokation, 67–109, 91. 214 Vgl A.R., Treća smena dovedena u pitanje, Crvena zastava, Mai 1965, 1. 215 Vgl. PERLIČ, Predstavljamo vam lakirnico 01.09.1966, 6. 216 Vgl. B. M., TOZD Kovačnica. Preudarno pri zaposlovanju, Skozi ZIV TAM,
23.1.1981, 12f.; Iskustvo pre svega, Informator „Zastava transport“, Nr. 8, Februar 1981, 7.
215 Der Betrieb wird auch bei voller Nutzung aller Vorzüge der sozialistischen Produktionsweise an den einzelnen manche Anforderungen stellen, die mit dessen Erwartungen nicht voll übereinstimmen wie zum Beispiel Schichtarbeit, relativ monotone oder körperlich schwere Arbeit.217
Von diesem Teil von Belegschaften forderte Wolf eine Anpassungsleistung an die „Erfordernisse des Betriebs“ wobei spezifisch sozialistische Mittel angewendet werden sollten, um mit Lohn oder Arbeitsbedingungen unzufriedene ArbeiterInnen von der Fluktuation abzuhalten: Durch zielstrebige Einflußnahme der Leiter, durch rasches Reagieren auf variable Störfaktoren unter den Arbeitsbedingungen, durch sozialistische Bewußtseinsbildung und Entwicklung des ökonomischen Denkens, durch Verwirklichung der führenden Rolle der Partei und die Entfaltung des Einflusses der gesellschaftlichen Organisationen wird die Einheit von individuellen und gesellschaftlichen Interessen im Betrieb vermittelt und ein gesundes sozialistisches Betriebsklima geschaffen.218
Bei Zastava und TAM bestanden Maßnahmen gegen die Fluktuation der niedrig Qualifizierten einerseits in der Gewährung von Lohnzulagen und zusätzlichen Sozialleistungen für besonders gesundheitsschädliche Tätigkeiten, z. B. in Form von kostenlosen Kuraufenthalten in Heilbädern. Andererseits sollten die Porträts in den Fabrikzeitungen über Belegschaftsmitglieder mit besonders schweren Arbeitsbedingungen oder an Arbeitsplätzen mit niedrigem Prestige identitätsstiftend im Sinne eines vom DDR-Soziologen Wolf geforderten „sozialistischen Betriebsklimas“ wirken. Solche symbolische Anerkennung diente dazu, die Unzufriedenheit der Männer und Frauen zu kompensieren, die unter harten Bedingungen zu geringen Löhnen arbeiten mussten. So fand sich in der Fabrikzeitung Skozi TAM 1976 eine Dankesnotiz für die ArbeiterInnen der Reinigungsabteilung, die sich nach starkem Schneefall so ausdauernd engagiert hätten, die Transportwege auf dem Fabrikgelände freizuhalten.219 Ähnlich zollten Porträts eines Lackierers bei TAM 1981 und einer Transportarbeiterin bei Zastava 1983 ihren Anstrengungen Anerkennung.220 Symbolische und eingeschränkte materielle Anreize konnten das Problem hoher Fluktuation jedoch allenfalls eindämmen, wie die andauernden Klagen der Leitungen in beiden Fabriken bezeugen. Wirksame Anreize, um niedrig Qualifizierte an die Betriebe zu binden, wie sie im Fall der FacharbeiterInnen existierten, schuf man für die Ungelernten weitaus weniger. In Slowenien und bei TAM ergab sich aus dem Mangel an niedrig qualifizierten Arbeitskräften aber auch FacharbeiterInnen eine weitere Besonderheit gegenüber Serbien: Slowenien wurde zum Ziel innerjugoslawischer Arbeitskräftemigration. Die Analyse in Kapitel 6 behandelt ausführlich, wie soziale Merk-
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WOLF, Methodische Fragen, 240. Ebenda, 243. Vgl. Pohvala čistilcem snega, Skozi TAM, 20.3.1976, 6. Vgl. B. M., „Moje delo je težko“, Skozi ZIV TAM, 20.2.1981, 10; M. MATIĆ, Čovek i traka. Žena za volanom, Crvena zastava, 16.3.1983, 6.
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male wie z. B. Qualifikation und Herkunft in betrieblichen Konflikten zusammenwirkten.
Fazit Fluktuation war hauptsächlich auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeitsbedingungen, Lohnhöhen und die Verfügbarkeit betrieblicher Sozialleistungen zurückzuführen. Besonders in Slowenien, aber auch in Serbien kam der Option von Migration ins westeuropäische Ausland der Status eines Fluktuationsgrundes zu, der vor allem zwischen den frühen 1960er Jahren und der Mitte der 1970er Jahre wirkte. Aus der zwischenbetrieblichen Fluktuation und der Auslandsmigration von Fachkräften resultierten ideologisch problematische Fragen. Wie sollte man der Verhandlungsmacht qualifizierter ArbeiterInnen in den Betrieben begegnen, die sich aus ihrer Knappheit und damit dem Wert auf dem Arbeitsmarkt ergab? Vieles spricht dafür, dass man den Beschäftigten, deren Qualifikationsprofile gefragt waren, höhere Löhne und die bevorzugte Zuteilungen von betrieblichen Sozialleistungen gewährte. Dies legitimierte man teilweise über formale Mechanismen der Selbstverwaltung, wobei man sich jedoch darum bemühte, diese strukturellen Begünstigungen nicht als offizielle Politik darzustellen. Die kommunistische Führung reagierte auf das Problem, indem sie gebetsmühlenartig ideologischen Formeln wiederholen ließ, die aber so unkonkret waren, dass sie keine praktischen Lösungswege für das Problem aufzeigten. Auch auf die Frage, wie man Fluktuation von Arbeitskräften in unqualifizierten Tätigkeiten verhindern sollte, fand man offenbar keine Antwort. Unter dieser Gruppe von IndustriearbeiterInnen war die Fluktuation über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg hoch. Auch der Ersatz fehlender slowenischer Beschäftigter im Falle von TAM durch Zugewanderte aus anderen jugoslawischen Republiken vermochte die Fluktuation in diesem Beschäftigungssegment nicht einzudämmen.
5.5. Streiks: Provokante Gratwanderungen zwischen dem im System Akzeptablen und Inakzeptablen Streiks stellten in Hinblick auf die Eskalationsstufe eine Extremform kollektiver informeller Interessenwahrnehmung dar. Zeitgenössische soziologische Untersuchungen des Phänomens aus Jugoslawien benennen viele Merkmale von Streiks, die hier an einigen charakteristischen Beispielen aus den Betrieben konkretisiert werden sollen. Die relative Duldung von Streiks durch die kommunistische Staatsführung, ihre häufige Kleinteiligkeit und ihr Erfolg galten als Ausdruck jugoslawischer Liberalität. Somit unterschieden sie sich deutlich von den sozialen Protesten in der DDR 1953 und in Polen der 1970er und 1980er Jahre. In der neueren historischen Forschung zu Jugoslawien erlangten vor allem die Streiks und sozialen Massenproteste der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit ihrer Bedeutung für den sich verschärfenden Nationalismus und den gewaltsamen
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Zerfall Jugoslawiens Interesse.221 Aber auch als Teil der neueren Geschichte der ArbeiterInnen rücken Streiks ins Blickfeld.222
Streiks in Jugoslawien: Allgemeine Merkmale und ihre Thematisierung in der Öffentlichkeit Seit 1958 die Bergarbeiter im slowenischen Trbovlje die Arbeit niederlegten, gab es regelmäßig bis zum Ende des sozialistischen Jugoslawien Proteste dieser Form. Streik wird in Bezug auf die Gegenwart kapitalistischer Staaten als Mittel verstanden, bei dessen Anwendung eine „gemeinsame und planmäßige Arbeitsniederlegung durch eine größere Anzahl von Arbeitnehmern mit dem Ziel [stattfindet], einen bestimmten Kampfzweck zu erreichen und nach Erreichung des Kampfzweckes die Arbeit wieder aufzunehmen“.223 Arbeitskampf bezeichnet in diesem Verständnis eine „aufgrund eines Kampfbeschlusses vorgenommene Störung des Arbeitsablaufs zu dem Zweck, durch gemeinsame (kollektive) Maßnahmen die andere Seite absichtlich unter wirtschaftlichen Druck zu setzen, um ein bestimmtes Verhandlungsziel zu erreichen“.224 Gesetzliche Bestimmungen legen zudem fest, unter welchen Bedingungen ein Streik legal ist. Im formalen Gefüge der jugoslawischen Selbstverwaltung waren Streiks wegen der Aufhebung der Rollen von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen nicht vorgesehen. In der Analyse sollen die Begriffe Streik und Arbeitsniederlegung jedoch für Protestmaßnahmen genutzt werden, bei denen die Kriterien von Kollektivität, Zielgerichtetheit und der Absicht, mit einer Arbeitsniederlegung Druck auszuüben, erfüllt waren. Im offiziellen Sprachgebrauch des sozialistischen Jugoslawien vermied man den Begriff Streik, obwohl er nicht grundsätzlich tabuisiert war. Stattdessen sprach man in publizistischen und wissenschaftlichen Foren sowie in den Massenorganisationen meistens von „Unterbrechung der Arbeit“ (Srb.: „obustava rada“; Slow.: „prekinitev/ ustavitev dela“).225 In wissenschaftlichen und ideologisch-normativen Zusammen221 Vgl. Florian BIEBER, Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zum Ende der
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Ära Milošević. Wien 2005, 188–204; Ein Forschungsprojekt an der Universität Graz beschäftigt sich mit der Rolle der Arbeiterschaft in den politischen und sozioökonomischen Umwälzungen der 1980er Jahre in Jugoslawien (Leitung von Florian Bieber, durchgeführt von Rory Archer und Goran Musić): „Between class and nation. Working class communities in 1980s Serbia and Montenegro“. Vgl. MARKOVIĆ, Radnički štrajkovi; Sabine RUTAR, Containing Conflict and Enforcing Consent in Titoist Yugoslavia. The 1970 Dockworker´s Strike in Koper (Slovenia), European History Quarterly 45 (2015), H. 2, 275–294. Streik, in: Gabler Wirtschaftslexikon. Wiesbaden 152000, 2963f. Arbeitskampf, in: Gabler Wirtschaftslexikon, 168. Vgl. Uvoza tovornjakov ne bo, Večer, 24.12.1968, 1; Staša MARINKOVIĆ, Može li: Sindikat kao organizator obustave rada? Obustava rada – protiv štrajka!, Nedeljne novosti, 29.12.1968, 7; ŠETINC, Družbena protislovja; GLOBAČNIK, Družbena protislovja; Lidija MOHAR, Prekinitve dela v organizacijah združenega dela. Ljubljana 1984; Miloš JOVANOVIĆ, Varnice. Šta je obustava rada?, Crvena zastava, 25.7.1985, 3.
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hängen war auch von (kollektiven industriellen) Konflikten oder Streiten die Rede226 und in der publizistischen und wissenschaftlichen Kommunikation eben auch von Streiks.227 Eine gesetzliche Grundlage, auf die sich streikende ArbeiterInnen berufen konnten, gab es nicht, weswegen Streiks informelle Handlungsstrategien bleiben mussten. Jedoch signalisierten die Verfassung von 1974 und das Gesetz über die assoziierte Arbeit von 1976, dass sich die kommunistische Führung mit Streiks als gesellschaftliche Realität arrangiert hatte.228 Beide Gesetzeswerke schlugen Schlichtungsverfahren vor, wenn ein „Streit entsteht, der auf regulärem Wege nicht zu lösen ist“.229 Solchen „Streiten“, mit denen Arbeitsniederlegungen gemeint waren, verlieh die politische Führung auf diese Weise ein Mindestmaß an Legalität. Das Hauptinteresse dürfte darin gelegen haben, Leitlinien vorzugeben, wie unter Beteiligung von Gewerkschaft, Betriebsleitung und den Gemeinden Einigung in Konflikten erzielt werden sollte. Öffentliche Forderungen nach der vollständigen Legalisierung des Kampfmittels Streik ebneten sich jedoch erst zum Ende der 1980er Jahre den Weg, wie das die Diskussionen bei TAM zur Zeit des Massenstreiks im Juni 1988 zeigen.230 Sowohl die jugoslawischen ExpertInnen der Industriesoziologie als auch die Massenorganisationen beschäftigten sich mit der systematischen Dokumentation und Analyse von Streiks. Wissenschaftliche Studien, die als Beiträge z. B. in der Belgrader Fachzeitschrift Sociologija oder als Monografien ab den späten 1960er Jahren erschienen, stellten allgemeine Merkmale von Streiks in Jugoslawien heraus: Neca Jovanov, serbischer Theoretiker der Selbstverwaltung und soziologischer Forscher zu ihren Ausformungen in der Praxis, hielt in seiner Studie zu Streiks in Jugoslawien zwischen 1958 und 1969 einige Charakteristika des Phänomens fest:231 Etwa 2000 Streiks, die sich von den wirtschaftlich 226 Vgl. SI-AS, f. 578, šk. 85: Ocena raziskovalne naloge Inštituta za javno upravo in
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delovna razmerja pri Univerzi v Ljubljani „Kolektivni delovni spori v industriji in rudarstvu na območju SRS (1964–1966)“, Ljubljana, 27.01.1969; ŽUPANOV, Upravljanje industrijskom konfliktom; Stane MOŽINA, Izvori konflikata u radnim organizacijama, Sociologija 13 (1971), H. 3, 449–460; Die Verfassung der SFRJ 1974, 114f.; RUS, Conflict Regulation; Edvard KARDELJ, Udruženi rad i samoupravno planiranje, Bd. 3. Sarajevo 1982, 469–471. Vgl. Nebojša POPOV, Štrajkovi u savremenom jugoslovenskom društvu, Sociologija 11 (1969), H. 4, 605–632; MOŽINA, Izvori konflikata u radnim organizacijama; JOVANOV, Radnički štrajkovi; Lidija MOHAR-GRGUREVIĆ, Uzroci i obeležja štrajka u slovenačkoj privredi, Sociologija 26 (1984), H. 3–4, 293–304. Vgl. Artikel 47 in: Die Verfassung der SFRJ 1974, 144f.; Art. 636–640 in: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 448–450. Die Verfassung der SFRJ 1974, 144, ein ganz ähnlicher Wortlaut in: Das Gesetz über assoziierte Arbeit, 448. Vgl. Zdenko KODRIČ, Bodo danes v Tamu nadaljevali stavko? Denarja za plače ni mogoče dobiti ni v tovarni niti v banki in občini, Večer, 22.6.1988, 2. Vgl. JOVANOV, Radnički štrajkovi, 185–188; die Mitgliedschaft im BdKJ hinderte ArbeiterInnen laut empirischen Daten Vladimir Arzenšeks aus den 1970er Jahren nicht an der Teilnahme an Streiks: ARZENŠEK, Struktura i pokret, 76.
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entwickelteren Gegenden im Nordwesten in Richtung der weniger entwickelten Regionen im Südosten Jugoslawiens ausbreiteten, fanden in immer kleineren Abständen zueinander statt. Es handelte sich dabei um überwiegend kurze Streiks mit wenigen TeilnehmerInnen, hauptsächlich in Industriebetrieben. An ihnen nahmen überwiegend ArbeiterInnen teil, die über den geringsten Einfluss in den Selbstverwaltungsgremien verfügten. Vor allem die mangelnde materielle und symbolische Anerkennung spielten als Auslöser in den vornehmlich auf einzelne Betriebsteile beschränkten Streiks eine Rolle, was oft mit der angespannten wirtschaftlichen Situation auf der Makroebene einherging. Die Proteste, die in den meisten Fällen über keine offiziellen Streikkomitees verfügten, fanden zu fast 90 % auf Betriebsgelände statt. Unentschieden waren die Haltungen der Selbstverwaltungsgremien und Gewerkschaften zu den Streiks, teilweise nahmen auch VertreterInnen der Arbeiterräte teil. Jovanovs Darstellung bewegte sich insofern im Rahmen der herrschenden Ideologie, als sie die grundsätzliche Spannung zwischen Marktprinzipien und der Utopie partizipativer und solidarischer Arbeitsorganisation ausblendete. Überdies ließ er die Rolle, welche die Einparteienherrschaft für den Stellenwert von Streiks spielte, unerwähnt. An der Wende der 1960er zu den 1970er Jahren benannte dagegen der kroatische Industriesoziologe Josip Županov den idealisierten Anspruch der Selbstverwaltung als Streikgrund. Dieses Ideal sah keine gravierenden sozialen Konflikte vor. Ihm stand jedoch eine stark hierarchisch geprägte Unternehmensrealität gegenüber. Fehlende, den konflikthaften Zuständen in den Betrieben angemessene Mechanismen zur Konfliktaustragung, sah Županov als Katalysator für Streiks.232 Ähnlich wie sein slowenischer Fachkollege Veljko Rus identifizierte Županov in der politischen Angreifbarkeit der ManagerInnen, die gemessen am normativen Rahmen der Selbstverwaltung in den Betrieben illegitim Macht ausübten, einen Grund für die hohe Erfolgsquote von Streiks in Jugoslawien.233 Basierend auf empirischen Untersuchungen aus den 1970er Jahren benannte der slowenische Soziologe Vladimir Arzenšek 1984 als Ursache für Streiks die „Entfremdung“ hauptsächlich von Ungelernten und von FacharbeiterInnen vom gesellschaftlichen System. Sie fühlten sich in den Selbstverwaltungsstrukturen schlecht repräsentiert und verlangten bei Streiks Verhandlungen mit den Betriebsleitungen oder VerantwortungsträgerInnen in Partei und Gemeinde.234 Sowohl in den 1960er als auch in den 1970er Jahren zeichneten sich ArbeiterInnen in der Metallindustrie im Branchenvergleich durch hohe Streikaktivität aus.235 Wie Wolfgang Höpkens 1984 veröffentlichte Übersicht zu Berichterstattung über Streiks in der überregionalen jugoslawischen Presse zeigte, traten grö232 233 234 235
Vgl. ŽUPANOV, Upravljanje industrijskom konfliktom; DERS., Two Patterns. Vgl. RUS, Odgovornost in moč, 194–197; ŽUPANOV, Two Patterns, 218–222. Vgl. ARZENŠEK, Struktura i pokret. Vgl. gesamtjugoslawische Daten für 1958–1969: JOVANOV, Radnički štrajkovi, 148; Gewerkschaftserhebungen zu Slowenien für 1974–76: GLOBAČNIK, Družbena protislovja, 32–34.
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ßere Streiks an der Wende der 1960er zu den 1970er Jahren regelmäßig auf und wurden auch massenwirksam thematisiert.236 Predrag Marković stellt eine überwiegend affirmative Haltung der Gewerkschaftszeitung Rad in den 1960er Jahren fest, während die Tageszeitungen in den 1960er Jahren überwiegend ablehnend über Streiks berichteten.237 Ein Beispiel für einen angedrohten Streik in Maribor 1968, der in diesem Kapitel näher betrachtet werden soll, zeigt, dass an so exponierter Stelle wie der überregionalen Presse Streiks tendenziell als im Selbstverwaltungssozialismus illegitimes Mittel der Interessenvertretung thematisiert wurden.238 In der offiziellen Sichtweise galten Streiks allenfalls als Anzeichen einer sich im Gang befindlichen Entwicklungsdynamik der Selbstverwaltung, ohne jedoch einen Platz als reguläres Mittel zur Interessenvertretung zugewiesen zu bekommen. Die Diskussionsbeiträge zu Streiks in den 1960er Jahren, welche in Neca Jovanovs Studie dokumentiert sind, zeigen, dass die divergierenden Einschätzungen in der Presse das Meinungsbild innerhalb der Massenorganisationen und unter ExpertInnen reflektierten.239 Ähnlich verhielt es sich mit politischen Führung. Aus einem Artikel Edvard Kardeljs, der zuerst anlässlich des Erlasses der Verfassung von 1974 erschien, wird deutlich, dass sie keine klare Stellung zu Streiks, wie sie in der jugoslawischen Wirklichkeit vorkamen, einnehmen wollte: Bei uns ist der Streik als Institution nicht anerkannt, einfach deshalb, weil in diesem Fall allein schon die Institution im Widerspruch zu dem Recht der Arbeiter stünde, selbst zu entscheiden. […] Das heißt, es handelt sich nicht um eine wirtschaftliche Art von Klassenkonflikt, der sich im Streik ausdrückt – außer in gewissem Maße dort, wo die grundlegenden Selbstverwaltungsbeziehungen zerrüttet sind – sondern um Äußerungen der Unzufriedenheit von Arbeitern mit der Tatsache, dass das Kollektiv entweder nicht kann oder nicht in der Lage ist, einige ihrer Probleme und Forderungen zu lösen. Darin mögen die Arbeiter im Recht sein oder nicht, aber die Gesellschaft kann solche Aktionen nicht für illegal erklären, auch wenn sie sie ebensowenig nicht als normale Art der Lösung von Streitfällen zwischen dem Arbeiterrat und dem Kollektiv oder einzelner Gruppen von Arbeitern akzeptieren kann. Die Logik unseres Systems besteht darin, dass zuerst die Gewerkschaften anstreben, einen Streitfall zu lösen oder dass ein Streitfall vor das Selbstverwaltungsgericht gebracht wird, also vor das Gericht der vereinten Arbeit. Aber wenn die Arbeiter einfach bestimmte Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Haltung und die Beschlüsse des Gerichts nicht akzeptieren wollen, dann ist es klar, dass nur eine politische Aktion das Problem lösen kann.240
236 Höpken bietet einen tabellarischen Überblick über 137 Streiks zwischen 23 und
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2.300 TeilnehmerInnen, über die zwischen 1966 und 1972 in überregionalen Zeitungen berichtet wurde, vgl. HÖPKEN, Sozialismus und Pluralismus in Jugoslawien, 274–281. Vgl. MARKOVIĆ, Radnički štrajkovi, 57f. Vgl. MARINKOVIĆ, Može li: Sindikat kao organizator. Vgl. JOVANOV, Radnički štrajkovi, 33–69. KARDELJ, Udruženi rad i samoupravno planiranje, 270f.
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Hier ist eine Unentschiedenheit in der ideologisch-normativen Haltung zu erkennen, die einerseits keine Verurteilung von ArbeiterInnen vornehmen will, welche angesichts von Abweichungen der Praxis von den Idealen der Selbstverwaltung ihre Rechte vertreten wollen. Einen Freibrief zum Streiken gab Kardelj andererseits nicht. Jedoch verurteilte er streikende ArbeiterInnen auch nicht per se, wenn Missstände außerhalb ihres Einflussbereichs der Grund für Arbeitsniederlegungen waren. Kardelj erteilte der Integration von Streiks in den normativen Rahmen der Selbstverwaltung eine Absage und machte deutlich, dass Sanktionen durch den Bund der Kommunisten gegen „illegitim“ Streikende vorgesehen waren. Der Chefideologe kommunizierte hier, dass von der Selbstverwaltung in ihren existierenden institutionellen Formen nicht abgerückt würde. Demzufolge seien Streiks illegitim, wenn zuvor nicht alle Mittel der Selbstverwaltung ausgeschöpft würden.
Streiks in Kragujevac Der ideologisch aufgeladene Charakter, den Streiks im Betriebsalltag hatten, tritt angesichts der Seltenheit, mit der auf der Mikroebene der Fabrik Arbeitsniederlegungen die Öffentlichkeit der Betriebszeitungen erreichten, deutlich zutage. Auch die erhaltenen Bestände der Betriebsarchive geben wenig Auskunft über das Vorkommen und die Merkmale der Streiks und ihrer TeilnehmerInnen. Dennoch sind für Zastava in Kragujevac, wo keine Einsicht in Partei- und Gewerkschaftsarchive auf lokaler Ebene möglich war, Streiks für die 1960er und 1970er und 1980er Jahre verbürgt. Der Gewerkschaftsbericht des Kreises Kragujevac an die Republikszentrale meldete für das Jahr 1966 eine besondere Zunahme von Streiks.241 Unter anderem in den Zastava-Werken hätte ein kurzer Streik aus Anlass strittiger Lohnverteilung stattgefunden. Im gleichen Atemzug wiesen die VerfasserInnen darauf hin, dass durch die inkonsequente Anwendung von Regelwerken zur Lohnverteilung und ihrer häufigen Änderung „Instabilität in den Beziehungen, aber auch Unglauben der Arbeiter“ ausgelöst worden wären.242 So lösten die Reformen der Selbstverwaltung, die zu Beginn der 1960er Jahre sowohl geringere formale Machtfülle der DirektorInnen als auch wachsende Autonomie der Betriebsteile bedeuteten, offenbar unter den sich verschärfenden wirtschaftlichen Bedingungen eine Destabilisierung der betrieblichen Verhältnisse aus, die sich unter anderem in Streiks äußerte. Für die gesamten 1970er Jahre finden sich in den Protokollen des Arbeiterrats der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik vereinzelte Hinweise auf Streiks. Offen bleibt, ob sie in Umfang und Intensität zunahmen. Es scheint sich aber weitgehend um die typischen, in den wegen der Dezentralisierung der Betriebe kleinen, zeitlich begrenzten Streiks gehandelt zu haben. In je einem Fall aus den Jahren 1973 und 1977 tauchen Streiks am Rande anderer Auseinandersetzungen auf, in denen die soziale Situation von Beschäftigten den Hintergrund bildeten. 241 Vgl. AS, Đ-82, k. 66: ASĐ-82, k. 66. 242 Ebenda, 8f.
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In einem Einspruchsverfahren um eine Wohnungszuteilung von 1972 machte der Beschäftigte Milivoje M., der keine Wohnung bekommen hatte, seiner Kollegin, der eine Sozialwohnung zugewiesen worden war einen dahingehenden Vorwurf. Sie sei „eine der Ersten“ gewesen, die an einem Streik teilgenommen hätten.243 Milivoje M. betonte, dass sich sein Vorwurf anhand der Protokolle der Parteiorganisation und der zur Untersuchung des Streiks eingesetzten Kommission nachvollziehen ließen. Dass Streiks in den Gremien des Bundes der Kommunisten dokumentiert und ausgewertet wurden und Personen, die daran teilnahmen, unter Beobachtung der Partei gerieten, war den Beschäftigten also allgemein bekannt. Ob und welche Auswirkungen der Hinweis, die Kollegin hätte sich an einem Streik beteiligt, auf das weitere Beschwerdeverfahren hatte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In einem ähnlich gelagerten Fall lehnte 1977 in der Nutzfahrzeugfabrik ein Vorgesetzter das Gesuch des Transportarbeiters Dragan T. ab, ihn nur in die Frühschicht einzuteilen, welches dieser damit begründete, dass er mit seinem Hausbau beschäftigt sei.244 Da Dragan T. mit seiner Bitte keinen Erfolg hatte, ersuchte er beim Arbeiterrat Unterstützung. Auf dessen Sitzung folgte ein Disput zwischen Dragan T. und seinem ebenfalls anwesenden Brigadier. Die gegenseitigen Beschuldigungen bezogen sich auf die Bevorzugung von bestimmten MitarbeiterInnen, das Vertuschen von Disziplinarverstößen und das Trinken am Arbeitsplatz. Der Brigadier führte als Argument für die Ablehnung des Wunsches nach Einteilung in die erste Schicht, wie Milivoje M. in der vorher geschilderten Wohnungsangelegenheit, gegen Dragan T. ins Feld: „Als es den Streik gegeben hat, war er der Erste“.245 Den Arbeiterrat schien diese Erklärung des Brigadiers nicht zu beeindrucken, denn es folgte ein kompromissbereiter Vorschlag eines Delegierten im Sinne Dragan T.s. Die vermeintliche Teilnahme Dragan T.s am Streik stand hier als einer von mehreren Vorwürfen von Disziplinverletzungen im Raum, jedoch sind im Protokoll keine besonderen Reaktionen auf den Vorwurf vermerkt. Hier zeigt sich einerseits eine relative Unaufgeregtheit in Bezug auf Streiks. Andererseits wird aber auch deutlich, dass die Teilnahme an einer Arbeitsniederlegung ArbeiterInnen in Konflikten zum Nachteil geraten konnte, wenn jemand dies als Argument gegen sie einsetzte. Dies galt insbesondere für Parteimitglieder, wie vier jüngere Facharbeiter der OOUR Karosseriebau in der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac zu spüren bekamen, die sich im Januar 1975 offenbar mit Lohnforderungen an einem Streik beteiligt hatten.246 Die KFZ-Klempner legten im April 1975 beim Arbeiterrat Beschwerde dagegen ein, dass sie in der Folge ihres Streiks doppelt bestraft worden seien, indem sie in eine andere Abteilung versetzt wurden und ihnen zusätzlich zehn Prozent des Monatslohnes abgezogen wurden. Die Versetzung auf andere Arbeitsplätze war von der Parteiorganisation des Betriebs als 243 244 245 246
Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 12. sednice Radničkog, 8f. Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice RS Tap., 23.03.1977, 4f. Ebenda, 5. Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: 51-ve sednice Radničkog saveta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila,03.04.1975, S. 2f.
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Strafe für die Teilnahme am Streik angeordnet worden, sodass die Männer die von Kardelj angedrohten „politischen Aktionen“247 trafen. So entschied der Direktor des Betriebsteils, sie in eine andere Abteilung zu versetzen, was aber im Sinne der Selbstverwaltungsprozeduren vom Verwaltungsausschuss des Arbeiterrates noch offiziell beschlossen werden musste. Letztlich lehnte der Arbeiterrat die Beschwerden der vier KFZ-Klempner gegen ihre Versetzung ab. Der Bund der Kommunisten war also entschlossen, Streiks zu verhindern und in den Fabriken die Streikteilnahme seiner Mitglieder zu sanktionieren. Jedoch begegnete den Arbeitern in diesem Fall keine allmächtige Partei, sondern die politische Machtdemonstration verzögerte sich durch die Mechanismen der Selbstverwaltung, während sich die jungen Arbeiter in ihren Einspruchsverfahren kämpferisch gaben. Einer der höchst seltenen Artikel in der Fabrikzeitung Crvena Zastava, der öffentlich auf Streiks verwies, erschien im Juli 1985.248 Anlass war ein Streik von zwölf der vierhundert MitarbeiterInnen in der OOUR Montage und eine weitere Arbeitsniederlegung in einem anderen Betriebsteil am gleichen Tag. Der Autor stellte die Proteste, die in typischer Weise strittige Lohnabrechnungen zum Anlass hatten, als Kontinuität zu den vorangegangenen Jahren dar, in denen sich trotz der wirtschaftlichen Krise die Häufigkeit und TeilnehmerInnenzahlen von Streiks nicht wesentlich erhöht hätten. Am problematischsten am Phänomen der Streiks, was auch die Eindämmung ihres Auftretens behindere, sei der uneindeutige offizielle Status der Proteste und das mangelnde systematische Wissen über sie in den Unternehmen. Nur die „entsprechenden Organe“, womit die Gewerkschafts- und Parteiorganisationen gemeint waren, verfügten über strukturierte Daten zum Auftreten von Streiks, kritisierte der Autor. Schon allein die terminologische Verwirrung zwischen obustava rada (Arbeitsniederlegung) und štrajk (Streik), behindere die systematische Beschäftigung mit dieser Protestform, was durch das Fehlen von Klassifizierungsmerkmalen und zugänglichen empirischen Daten noch verstärkt worden sei. Ganz in diesem Sinne hatte schon 1971 der Soziologe Županov angemerkt, dass ohne formal gegebene Konfliktregulierungsmechanismen, welche auch Streiks hätten einbeziehen können, kein effektives Sanktionieren von Regelübertretungen möglich wäre. 249 Da 1985 bei Zastava das öffentliche Forum der Fabrikzeitung als Äußerungsform gewählt wurde, liegt es nahe, dass man im Gefüge von Betriebsleitung, der Selbstverwaltungsgremien und Massenorganisationen nicht mehr gewillt war, die alleinige Deutungshoheit und praktische Zuständigkeit der Partei bei Streiks zu akzeptieren.
Streiks in Maribor Im Gegensatz zum serbischen Beispiel, in dem die systematische Erforschung der Proteste im Zusammenspiel von ExpertInnen der Universitäten und den 247 KARDELJ, Udruženi rad i samoupravno planiranje, 271. 248 Vgl. JOVANOVIĆ, Varnice. 249 Vgl. ŽUPANOV, Upravljanje industrijskom konfliktom, 437f.
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Gewerkschaften hier nicht belegt werden konnte, organisierte die Gewerkschaft in Slowenien die Forschung über Streiks. Sie begann im Laufe der 1960er Jahre mit ihrer systematischen Analyse250 und publizierte ab 1966 die Reihe „Javno mnenje“ (Öffentliche Meinung) im neu gegründeten „Forschungszentrum für Selbstverwaltung“.251 Hier erschienen zwischen 1974 und 1985 mehrere von der Gewerkschaft durchgeführte Studien über Streiks. Die Republikszentrale leitete diese als veröffentlichte Broschüren in Auflagen von mehreren hundert Exemplaren an die lokalen Gewerkschaftsorganisationen in der jugoslawischen Teilrepublik zurück.252 Für die Mariborer TAM-Fabrik sind wie für Zastava für den gesamten Untersuchungszeitraum Streiks belegt. Im Jahr nach der Wirtschaftsreform 1966, als Betriebsleitung und Selbstverwaltungsgremien mit der unsicheren Versorgungslage für die Produktion, einer problematischen Auftragslage und betriebsinternen Organisationsproblemen beschäftigt waren, musste das Management auch die Unruhe unter den Beschäftigten in sein Handeln einbeziehen. Im Arbeiterrat war man sich über die ganze Bandbreite informeller Interessenvertretung der ArbeiterInnen bewusst. Diese reichte von der Zurückhaltung von Arbeit aus Angst vor Kündigung wegen Auftragsmangel über unerwünschte Fluktuation bis hin zum Streik.253 Für einen Streik in der TOZD Werkzeugbau, der sich einige Jahre zuvor ereignet hatte – so ein Delegierter des Arbeiterrats 1966 – musste sich später das Fabrikparteikomitee gegenüber höheren Parteistrukturen verantworten.254 Welche Ausmaße die Arbeitsniederlegung im Falle des erwähnten Streiks in der TOZD Werkzeugbau hatte, wie die Situation befriedet wurde und welche Konsequenzen die betreffenden ArbeiterInnen zu tragen hatten, ist nicht aus dem Protokoll von 1966 ersichtlich. Als Vermittlungsinstanz zwischen Parteiführung und den konkreten Arbeitsumgebungen war es jedoch die Rolle der Fabrikkomitees und auch der Gewerkschaften, für die Implementierung der Selbstverwaltung zu sorgen und die ArbeiterInnen in ihren Prinzipien zu schulen. Zu Beginn des Jahres 1966 befürchteten Delegierte des Arbeiterrats bei TAM, ArbeiterInnen könnten wieder streiken, wenn es weiterhin wegen der gesunkenen Produktion zu Zwangsbeurlaubungen kommen würde.255 Die Mitglieder des Arbeiterrats, von denen etliche auch Funktionen in Partei und Gewerkschaft innehatten und gleichzeitig hohe Leitungsposten im Unternehmen besetzten, mussten hier vielfältige Ansprüche erfüllen. Sie hatten die Verantwortung, die Produktion am Laufen zu halten, den Ansprüchen der Selbstverwaltung zu genügen und in der unsicheren wirtschaftlichen Lage die Beschäftigten mit Einkommen zu versorgen sowie zur Kooperation anzuhalten. Falls ihnen 250 Vgl. SI-AS, f. 578, šk. 85: Ocena raziskovalne naloge. 251 Slow.: Raziskovalni center za samoupravljanje RS ZSS. 252 Vgl. ŠETINC, Družbena protislovja; GLOBAČNIK, Družbena protislovja; MOHAR, Raz-
prava o prekinitvah dela. 253 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XIII. rednega zasedanja DS, 14.02.1966,
9–15. Siehe auch Kapitel 5.2. und 5.4. 254 Vgl. ebenda. 255 Vgl. ebenda.
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das nicht gelang und ArbeiterInnen streikten, hatten Leitungspersonen, die Mitglieder des BdKJ waren, mit Parteistrafen zu rechnen. Während sich typische Streiks innerhalb der Betriebsteile mit wenigen TeilnehmerInnen abspielten und so kaum in andere Abteilungen oder gar vor die Werkstore in die lokale oder überregionale Öffentlichkeit vordrangen,256 bildete ein angedrohter Streik bei TAM 1968 eine Ausnahme. Nach Bekanntwerden eines Importabkommens des jugoslawischen Bundessekretariats für Außenhandel mit der DDR über 800 IFA-Lastwagen drohten die Betriebsleitung bei TAM und die lokale Gewerkschaft öffentlich mit einem Streik. Die Mariborer AkteurInnen nutzten einen Artikel eines Journalisten von Skozi TAM in der Mariborer Tageszeitung Večer sowie ein offenes Protestschreiben der örtlichen Gewerkschaftsorganisation, um ihre Streikdrohung publik zu machen.257 Im Namen der örtlichen Industrie prangerte man darin an, dass mit dem Einfuhrgeschäft fahrlässig die Interessen der einheimischen Industrie geschädigt würden, stellte doch TAM Lieferwagen dieser Kategorie her. Bereits vor diesen Ereignissen hatten GewerkschaftsvertreterInnen in Maribor Widersprüche zwischen freiem Markt und solidarischer Lohnverteilung in lokalen Unternehmen diskutiert, die durch ausländische Konkurrenz in Bedrängnis gerieten.258 Als bei TAM im Dezember 1968 über die Presse die Einfuhrgenehmigung von 800 Lastwagen aus der DDR bekannt wurde, sah das Unternehmen in Übereinstimmung mit der Mariborer Gewerkschaft schließlich Handlungsbedarf. Die Gewerkschaft agierte hier als Fürsprecherin für die lokale Industrie und richtete gemeinsam mit TAM-VertreterInnen einen offenen Protestbrief an eine Reihe von Institutionen: an die lokale Parteiorganisation, den Gemeinderat Maribors, die Wirtschaftskammern des Bundes und der Republik, das Bundesaußenhandelssekretariat sowie an lokale und überregionale Medien.259 Die Vorwürfe aus Maribor richteten sich gegen die vom Außenhandelssekretariat in Belgrad erteilte Importgenehmigung, vor deren Erteilung die Interessenvertretung der jugoslawischen Industrie, der Industrierat an der Bundeswirtschaftskammer, nicht konsultiert worden sei. Mit Bundesbankkrediten zu guten Konditionen für die Einfuhr sei zudem die Außenhandelsfirma, welche das Geschäft abwickelte, zum Nachteil TAMs vom Bundessekretariat begünstigt worden. Die Gewerkschaft drohte mit „Aktionen von solidarischer Bedeutung“ – interpretierbar als Streiks – bei TAM und seinen Zulieferfirmen,260 welche sich durch dieses Einfuhrgeschäft geschädigt sahen. Die Argumentation in diesem Konfliktfall zwischen einer lokalen Industrie einerseits und mächtigen Bundesinstitutionen andererseits wies ein typisches Muster auf, das sich auch als Rechtfertigung von Streikenden auf niedrigerer Ebene findet: Dem Außenhandelssekretariat warfen die AutorInnen „administra256 Vgl. JOVANOV, Radnički štrajkovi, 187. 257 Vgl. Tomislav PERLIČ, Ogorčenje v TAM, Večer, 9.12.1968, 8; SI-PAM, f. 1341, šk.
18: Protestno pismo Občinskega odbora sindikata delavcev industrije in rudarstva Maribor, 11.12.1968. 258 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 18: Zapisnik 2. redne – razširjene – seje, 14–19. 259 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 18: Protestno pismo Občinskega odbora sindikata. 260 Vgl. ebenda, 3.
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tive Willkür“ und „etatistisches Handeln“ vor,261 Anschuldigungen, mit denen die jugoslawische Führung gegen vermeintliche GegnerInnen der Selbstverwaltungsordnung vorging. Argumente, die mit der Selbstverwaltungsordnung konform gingen, sollten offenbar auf diese Weise den Aufruf zum Streik, der ihren Prinzipien zuwiderlief, aufwiegen. Die Androhung eines fünfzehnminütigen von der Gewerkschaft unterstützten Streiks in Maribor verfehlte ihre Wirkung nicht. TAM und der Ortsgewerkschaft gelang es, den Import von Lastwagen aus der DDR zu blockieren und gegebenenfalls nur zu gleichen Kreditkonditionen wie bei einem Einkauf bei TAM zu erlauben.262 Mit dieser Reaktion ging die Mariborer Gewerkschaft einen ungewöhnlichen Schritt, wie in einem darauf folgenden Interview mit ihrem Vorsitzenden Ivan Kuzma in der in Belgrad erscheinenden überregionalen Zeitung Nedeljne novosti deutlich wird.263 Kuzma musste sich darin gegen die offizielle Haltung verteidigen, dass die Gewerkschaft unmöglich Streiks organisieren könne, da diese doch ein Mittel darstellten, das ganz und gar jenseits der Prinzipien der Selbstverwaltung verortet sei. Zu seiner Verteidigung brachte er vor, dass die Gewerkschaft sich in dieser außerordentlichen Frage von nationaler Bedeutung an die Spitze der ArbeiterInnen gestellt hätte, anstatt einem unausweichlichen Protest der Belegschaft nur zuzusehen. Der Mariborer Gewerkschafter verteidigte die Aktion und ging rhetorisch gleichzeitig zum Angriff über. Die Arbeitsunterbrechung sei nicht als Streik, sondern als Forum zur Information der Belegschaft gedacht gewesen, womit man ein zugelassenes Mittel der Selbstverwaltung angewendet hätte. Herausfordernd erwähnte Kuzma, dass die Gewerkschaft in Maribor durchaus in der Lage sei, alle 36.000 IndustriearbeiterInnen der Stadt auf die Straße zu bringen. Hier wird deutlich, dass TAM gemeinsam mit der lokalen Gewerkschaft im Jahr 1968 den ambivalenten Status und die Provokation, welche eine Streikdrohung bedeute, bewusst einsetzte. Zudem war die Konstellation von Arbeiterrat und Leitung im Bunde mit der Gewerkschaft sehr ungewöhnlich im sonstigen Bild der Streiks in Jugoslawien. Ebendies gilt für der Grad der Öffentlichkeit, welchen die Mariborer FunktionärInnen herstellten. Neben dieser außergewöhnlichen Streikform ereigneten sich auch wieder „normale“ Arbeitsniederlegungen, z. B. in der Abteilung Mechanische Fertigung im Jahr 1971, die ArbeiterInnen angesichts steigender Lebenshaltungskosten Lohnsteigerungen forderten.264 Im Gegensatz zum hochqualifizierten Personal im Werkzeugbau, von deren Streik 1966 die Rede war, handelte es sich bei Beschäftigten dieses Betriebsteils häufig um niedrig Qualifizierte. Die (hoch) qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen der Abteilung Werkzeugbau setzten mit ihrem Streik wohl eher ihre kollektive Interessenvertretung, die sie auf dem re261 262 263 264
Vgl. ebenda. Vgl. Uvoza tovornjakov ne bo. Vgl. MARINKOVIĆ, Može li: Sindikat kao organizator. Vgl. SI-PAM, f. 1374, šk. 20: Zapisnik (izvleček) 1. zbora komunistov I. oddelka, 03.11.1971, S. 1f.
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gulären Weg der Selbstverwaltung praktiziert hatten, auf informellem Weg fort.265 In den 1970er Jahren ereigneten sich bei TAM weiter Streiks wegen „Unregelmäßigkeiten in der Auszahlung von persönlichen Einkommen“.266 Sie fanden in einer Notiz der Gewerkschaftszentrale der Republik Erwähnung, die die Verleihung „des Ordens der Arbeit mit der roten Fahne“ an das Unternehmen begründete. Als Gegenargument für die Auszeichnung der Fabrik wurde angeführt, dass jeweils 1.000 Menschen zwei Mal gestreikt hätten, die Beschäftigten nicht gut über die Vorgänge in der Selbstverwaltung informiert würden und dass es Mängel in der Organisation der Gewerkschaft gäbe. Diese Streiks waren in Hinblick auf ihre TeilnehmerInnenzahl im Vergleich zu den typischen kleinen, auf Betriebsteile beschränkte Arbeitsniederlegungen bemerkenswert. Man entschied sich in der Gewerkschaftszentrale in Ljubljana angesichts der guten Geschäftsergebnisse bei TAM dennoch dazu, den Orden als „Zeichen des Vertrauens in die Arbeiter und als Anreiz für bessere Selbstverwaltungsbeziehungen im Kollektiv“ zu verleihen.267 Die Gewerkschaftszentrale wertete also die Vorgänge in den einzelnen Betrieben mit Sorgfalt aus. Obwohl die Streiks in Ljubljana bei den FunktionärInnen negativ in Erinnerung geblieben waren, stand das einer symbolischen Anerkennung der Leistungen des Betriebes offenbar nicht im Wege. Angesichts der Beharrlichkeit, mit der Streiks auftraten, wurde mit der Verfassung von 1974 erstmals in einem normativen Dokument dieses Ranges auf ihre Regulierung eingegangen. In Artikel 47 hieß es: Wenn in einer Organisation der assoziierten Arbeit zwischen den Arbeitern einzelner Teile der Organisation oder zwischen den Arbeitern und den Organen der Organisation oder zwischen den Arbeitern der Organisation und den Organen der gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft ein Streit entsteht, der auf regulärem Wege nicht zu lösen ist, haben die Arbeiter das Recht und die Pflicht, ihre Forderungen in Verbindung mit dem Streitfall der Gewerkschaftsorganisation vorzutragen. Die Gewerkschaftsorganisation hat das Recht und die Pflicht, auf Verlangen der Arbeiter oder aus eigener Initiative, ein Verfahren zur Lösung des entstandenen Streitfalles einzuleiten und in diesem Verfahren gemeinsam mit den betroffenen Verwaltungsorganen der Organisation der assoziierten Arbeit oder mit den Organen der gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft die Grundlagen und Maßnahmen zur Lösung der Fragen, derentwegen der Streit entstanden ist, festzusetzen.268
Die Gewerkschaft und die Lokalpolitik („gesellschaftlich-politische Gemeinschaft“) waren demnach angehalten, in Konflikten, die sie als Streiks klassifizierten, zu vermitteln. Dass die Konflikte und auch die konkrete Rolle, welche die Gewerkschaft einnehmen sollte, im Verfassungstext mehr als undeutlich definiert waren, merkten schon 1975 VertreterInnen der slowenischen Gewerk265 Vgl. dazu Kap. 4.1.1. 266 Vgl. SI-AS, f. 1435, šk. 21: Mnenje k predlogu za odlikovanje TAM Maribor,
Ljubljana, 28.04.1977. 267 Ebenda. 268 Die Verfassung der SFRJ 1974, 144f.
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schaft in einer publizierten Analyse zu Streiks in Slowenien an. In Bezug auf den zitierten Verfassungsartikel bemängelten sie: Freilich ist die obenstehende Bestimmung der Rolle der Gewerkschaft nicht klar. Erstens wissen wir nicht, um welche Streitfälle es geht, weder in Bezug auf ihre Form noch auf ihren Inhalt, ob es kollektive oder individuelle Streitfälle sind. In der Verfassung werden die beteiligten Parteien definiert, aber nicht der Inhalt, dieser müsste Gegenstand von Gewerkschaftsdokumenten sein. Zweitens wissen wir auch nichts darüber, auf welcher Stufe der Verschärfung von Konflikten sich die Gewerkschaftsorganisation in die Lösung des Falles einschalten sollte? [sic!] Und was am wichtigsten ist und auch nicht näher bestimmt wird, ist die Frage der Verantwortung in einem Fall, wenn die Gewerkschaft überhaupt kein Verfahren zur Lösung des Streitfalles anfängt.269
Die kritische Nachfrage nach der Klassifizierung von Streiks und Mechanismen zum Umgang mit ihnen, welche zehn Jahre später, 1985, auch in Zastavas Betriebszeitung öffentlich gestellt wurde,270 warf hier schon die Republiksgewerkschaft Sloweniens auf. Die Ortsverbände, die direkt mit der Befriedung von Streiks betraut waren, konnten also das Problem des Definitionsvakuums, welches sie vor konkrete Schwierigkeiten stellte, erfolgreich an die zuständige Zentrale der Republik kommunizieren. Dass die Gewerkschaft die Forderung in offizielle Stellungnahmen aufnahm, wonach Streiks und Verfahren zu ihrer Beilegung im Rahmen des bestehenden Systems genauer definiert werden müssten, zeugt von der Dringlichkeit des Problems. Zwischen 1983 und 1986 berichtete die Gewerkschaft im Mariborer Stadtteil Tezno, wo sich auch TAM befand, der Zentrale in Ljubljana über acht Streiks. Aus den Berichten ist ersichtlich, dass die Massenorganisation bis in die Mitte der 1980er Jahre eine bestimmte Routine darin entwickelt hatte, mit Streiks umzugehen.271 Arbeitsniederlegungen folgten oft einem charakteristischen Schema: Ein Teil der Beschäftigten verweigerte die Arbeit, um in Zusammenhang mit strittigen Lohnfragen ein Treffen mit der Betriebsleitung und der VertreterInnen der Selbstverwaltung zu erzwingen. Wenn es sich um grundlegende wirtschaftliche Probleme der Betriebe handelte, wurden zu solchen „erzwungenen Treffen“ (Slow.: „izsiljeni sestanki“) außerhalb der Mechanismen der Selbstverwaltung dann Gewerkschafts- und ParteivertreterInnen der Gemeinde sowie LokalpolitikerInnen hinzugezogen. Dies geschah in Maribor im Falle von Streiks in der Süßwarenfabrik Sana Hoče 1985/86 und beim Wertstoff- und Abfallverwerter Surovina 1985.272 Bei zwei Streiks in unterschiedli269 270 271 272
ŠETINC, Družbena protislovja, 27. Vgl. JOVANOVIĆ, Varnice. SI-PAM, f. 1464, šk. 12. Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 12: Skupščina mesta Maribor, Izvršni svet: Problematika izplačila osebnih dohodkov v TOZD SANA Hoče, 19.12.1985; SI-PAM, f. 1464, šk. 12: Občinski svet ZSS Maribor-Tezno an ZZS Republiški svet: Poročilo o delni prekinitvi dela v TOZD Regeneracija DO Surovina, 30.07.1985. Der Betrieb Sana Hoče 1922 wurde zur Schokoladenproduktion im 9 km von Maribor entfernten Hoče gegründet. 1967 gliederte sich die Fabrik in den kroatischen Lebenmittel-
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chen Betriebsteilen von TAM 1983 und 1985, bei denen Konflikte in der Lohnverteilung innerhalb der jeweiligen Einheiten die Auslöser waren, war es hingegen möglich, die Streiks ohne die Beteiligung von FunktionärInnen der Gemeindeebene zu beenden. Zum ersten dieser dokumentierten Streiks in den 1980er Jahren kam es, als ArbeiterInnen in der Abteilung für Motorenproduktion bei TAM im November 1983 ein Treffen mit dem Leiter ihrer Produktionslinie vereinbarten.273 Die Beschäftigten hatten darum gebeten, da unter ihnen angesichts des gesunkenen Lebensstandards Unzufriedenheit herrschte und sie Lohnungerechtigkeiten innerhalb des Unternehmens TAM bemängelten. Im Bericht der Stadtteilgewerkschaft Maribor Tezno an die Zentrale in Ljubljana ist vermerkt, dass 400 Beschäftigte der Abteilung fünfzehn Minuten vor dem vereinbarten Treffen die Arbeit niedergelegt und damit gegen getroffene Abmachungen verstoßen hätten. Als Grund gaben sie die Befürchtung an, es würden anderenfalls schon vor der Versammlung ohne sie Absprachen über die strittigen Fragen getroffen, so der Bericht. Anlass des Treffens und der Arbeitsniederlegung waren Beschwerden der Beschäftigten darüber, dass innerhalb TAMs verschiedene Betriebsteile für gleiche Tätigkeiten unterschiedliche Löhne zahlten. Nach dem Entlohnungsprinzip, das neben den Arbeitsanforderungen und persönlichen Faktoren auch die Ergebnisse der TOZD, also der Abteilung, berücksichtigte, war dies formal kein Widerspruch zu den Prinzipien der Selbstverwaltung. Jedoch nahmen Beschäftigte solche Einkommensunterschiede zwischen den TOZD eines Unternehmens als soziale Ungerechtigkeit wahr. Zur Klärung der Situation nach Beginn des Streiks bei einem „erzwungenen Treffen“ zog man VertreterInnen der Massenorganisationen und der Leitung des Betriebsteils hinzu. Sie verwiesen vor den Beschäftigten auf die verschärften wirtschaftlichen Bedingungen, von denen der Umsatz und somit auch die Löhne in der TOZD Motorenproduktion abhingen. Daneben versuchten die FunktionärInnen, den Unmut der ArbeiterInnen so zu kanalisieren, dass er nicht sie traf. Sie setzten dazu die Kritik an der Preispolitik der Bundesregierung Jugoslawiens ein. Trotz des in Teilen liberalisierten jugoslawischen Marktes legten Bundesstellen in Belgrad maximale Preissteigerungsraten für bestimmte Produktgruppen fest, was die Inflation hemmen sollte. Darüber klagte das Management sowohl bei Zastava als auch bei TAM bereits die gesamten 1970er Jahre hindurch, denn die genehmigten Preisanstiege für ihre Produkte hätten den sich steigernden Kosten für Zulieferteile und Rohstoffe nicht entsprochen. Im Schlichtungsgespräch mit den Beschäftigten in der TOZD Motorenbau 1983 führten Leitungspersonen und VertreterInnen der Massenorganisationen dieses gegen die Preispolitik des Bundes gerichtete Argument an. Im komplexen Faktorengefüge für das Wirtschaften der TOZD Motorenbau und TAM insgesamt hersteller Podravka aus dem etwa 115 Kilometer entfernten Koprivnica ein. Surovina (Rohstoff) wurde 1951 von der Kommune Maribor zur Verwertung von Abfall- und Wertstoffen gegründet. In den 1980er Jahren waren hier etwa 700 Menschen beschäftigt. 273 Vgl. ebenda.
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versuchten die Verantwortlichen somit, die Antiinflationspolitik der Zentralregierung als Ursache für die Lage der Beschäftigten zu etablieren. Dieser Schulterschluss, den Leitung und Massenorganisationen hier mit den Beschäftigten herzustellen versuchten, erinnert an die Situation 1968, als TAM den Bundesbehörden einen Streik in Maribor androhte. Die Konsequenzen des kurzen, von der Gewerkschaft als Streik eingestuften Protests 1983 erläutert der Gewerkschaftsbericht nicht, sodass auch der Erfolg der Strategie der Beschäftigten, die auf den Überraschungseffekt vor dem offiziell anberaumten Treffen abzielte, nicht beurteilt werden kann. Wie im vorherigen Fall, so wird auch im zweiten Beispiel, einem Streik von etwa 30 Beschäftigten der Galvanik in der TOZD Oberflächenbearbeitung bei TAM im Dezember 1985, deutlich, dass die ArbeiterInnen in Streiks erfahren waren und taktisch vorgingen.274 Die Proteste erstreckten sich diesmal über mehrere Tage. Ebenso waren die Leiter auf verschiedenen Ebenen, Mitglieder des Arbeiterrats des Gesamtunternehmens sowie Gewerkschaftsmitglieder in die Klärung des Konfliktes involviert, offenbar ohne dass Instanzen von außerhalb des Unternehmens eingriffen. Anlass für den Streik war die bevorstehende Verabschiedung eines Selbstverwaltungsaktes über Löhne, den die Streikenden kritisierten. Ihrer Ansicht nach klaffte in der Lohnbemessung entsprechend des Dokuments eine zu große Lücke zwischen den niedrigsten und höchsten Einkommen in der Betriebseinheit. Konkret forderten sie, alle Qualifikationsgruppen der Galvanikabteilung sollten in die höchste Stufe der Anforderungen an die jeweiligen Tätigkeiten eingeordnet werden. Diese Gruppe von Streikenden wies einen höheren Organisationsgrad als andere auf, denn sie erstreckte ihren Streik auf Früh-, Spät- und Nachtschichten zwischen dem 4. und 6. Dezember 1985 und schlug mehrere Gesprächsangebote der Leitung kategorisch aus. Auf funktionierende Absprachen unter den Streikenden deutet zudem hin, dass sie während des Streiks auf ihren Arbeitsplätzen verharrten, anstatt sich von diesen zu entfernen und an einem anderen Ort zu versammeln. Es liegt nahe, dass sie damit dem üblichen disziplinarischen Sanktionsmechanismus wegen unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes vorbeugen wollten, der bei Streiks sonst offenbar angewendet wurde. Der Gewerkschaftsbericht über den Vorfall deutete an, die Beschäftigten hätten sogar zum Mittel der Sabotage gegriffen. Die Strategie der Leitung, den Konflikt in die Bahnen der Selbstverwaltung zurück zu lenken und die strittigen Regelwerke zur Lohnverteilung dort zu besprechen, erkannten und boykottierten die Streikenden. Eine ohnehin angesetzte Versammlung aller Beschäftigten zu dem Streitpunkt kam nicht zustande, denn nur die Leitung fand sich zum vereinbarten Termin ein. Nach mehreren abgelehnten Schlichtungstreffen, an denen auch die Gewerkschaft beteiligt war, stimmten die Streikenden der Bildung einer dreiköpfigen Abordnung aus ihren Reihen zu. Die Tatsache, dass sie für eine klärende Sitzung auf die Anwesenheit eines Betriebs274 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 12: TOZD 33 – Površinska obdelava an Konferenca OO
ZSS DO TAM: Poročilo o delni prekinitvi dela v TOZD 33 – DE Galvanika, 09.12.1985.
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gewerkschaftsmitglieds bestanden, zeugt davon, dass sie ein Mindestmaß an Vertrauen in die Gewerkschaft als Vertretungsinstanz ihrer Interessen besaßen. Über die Verhandlungsergebnisse schwieg der Bericht, berichtete aber der Zentrale in Ljubljana, dass man das Handeln der Streikenden auf einer Sitzung der Massenorganisationen einstimmig verurteilt hätte. Mit dem Boykott von Mechanismen der Selbstverwaltung wie z. B. der Versammlung aller ArbeiterInnen und der mehrmaligen Ablehnung von Schlichtungstreffen verletzten die Protestierenden in der Galvanik 1985 offenbar die Regeln, die in den allenfalls geduldeten Streiks galten. Als zumindest symbolische Sanktion versandte die Gewerkschaft einen Bericht über diese allem Anschein nach gut organisierten Arbeitsniederlegung und die Haltung der Massenorganisationen dazu an alle Selbstverwaltungsgremien im Betrieb.
Fazit Zum „sehr widersprüchlichen, ja sogar delikaten“275 Phänomen der Streiks zu Zeiten der sozialistischen Selbstverwaltung lässt sich abschließend festhalten, dass das am stärksten hervortretende Charakteristikum seine Ambivalenz ist. Streiks existierten als Grenzphänomene, denn sie markierten einen Übergang zwischen Protestformen, welche angesichts der Widersprüche des Selbstverwaltungssystems akzeptabel bzw. inakzeptabel waren.276 Obwohl sich die jugoslawische Führung mit der Verfassung von 1974 entschloss, Streik als Protestform offiziell zu dulden, beließ sie ihre Vorgaben, was als Streik anzusehen sei und wie mit ihm umgegangen werden sollte, betont im Ungefähren. Da sich Streiks in den meisten Fällen auf der untersten Ebene der dezentralisierten Betriebe und vor der Öffentlichkeit verborgen abspielten, eröffnete diese Unschärfe Handlungsspielräume in der Ahndung von Streiks, gleichzeitig setzte sie aber auch die AkteurInnen in den Gewerkschaften und Betriebsleitungen unter Druck. Denn obwohl diese sich der sozialen Problemlagen der Belegschaften bewusst waren, wurde die Verantwortung dafür, ob Beschäftigte die Normen der Selbstverwaltung kannten, tolerierten und nach ihnen handelten, der Partei und den Gewerkschaften zugeschrieben. Ungeachtet dieser vom System produzierten Unsicherheit darüber, welches das den offiziellen Normen angemessene Handeln sei, stellte sich im Laufe der 1970er und beginnenden 1980er eine Routinisierung von Abläufen in der kurzfristigen Befriedung von Streiks ein, wie Fälle von Arbeitsniederlegungen in Maribor verdeutlichen. Streiks konnten auf diese Weise Ventilfunktionen für die Artikulation von Unzufriedenheit annehmen. So übten die Beteiligten bestimmte Vermittlungsmechanismen ein, selbst wenn die grundlegenden systembedingten, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen von Streiks nicht planvoll behandelt wurden. Ein weiteres Anzeichen für den ambivalenten Status von Streiks war sowohl im slowenischen als auch im serbischen Beispiel die fast fehlende Thema275 JOVANOV, Radnički štrajkovi, 7. 276 So auch Sabine Rutar in ihrer Analyse des Streiks im Hafen von der slowenischen
Stadt Koper zu Beginn der 1970er Jahre: RUTAR, Containing Conflict.
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tisierung in den Betriebszeitungen. Betriebsleitungen und die in den Fabriken agierenden Massenorganisationen scheuten sich offenbar davor, öffentlich Stellung zu beziehen, da sie das Thema als ideologisch brisant ansahen. Das änderte sich erst zur Mitte der 1980er Jahre hin, als man offener über Proteste berichtete und Widersprüche in Gesellschaft und Wirtschaft generell freier diskutierte. Die politische Führung und die Massenorganisationen hüteten sich während der gesamten Zeit vor einer pauschalen Verurteilung streikender ArbeiterInnen, versuchten aber gleichzeitig, mit Parteistrafen und betrieblichen Disziplinarmaßnahmen die Teilnahme an Streiks zu sanktionieren. Die relative Toleranz gegenüber Streiks seitens der Staatsspitze kombiniert mit einem Vermittlungsmechanismus, der die Atomisierung von Protest in den Untereinheiten der Betriebe sicherte, entschärfte jedoch soziale Unruhen. Streiks entwickelten sich in der Folge eben nicht zu systemgefährdenden Massenprotesten, wie dies im Falle Polens geschah. Im Falle Serbiens liegt jedoch nahe, dass die Einübung protesthafter Interessenvertretung seit den 1960er Jahren den Boden für öffentliche Massendemonstrationen bereitete, die sich am Ende der 1980er Jahre von sozialem Protest zu politischen, national aufgeladenen „Meetings“ entwickelten.277 Unter den informellen Mitteln der Interessenvertretung markierten Streiks die Extremposition der konfrontativen und kollektiven Strategien. An den Beispielen Zastava und TAM lässt sich die Vielfalt von Streikformen, der Zahl ihrer TeilnehmerInnen und ihrer Dauer aufzeigen, wenngleich sich die Anlässe typischerweise in der Lohnfestsetzung fanden. Ebenso lässt sich zeigen, wie formale und informelle Mechanismen ineinandergriffen. Oft boten sich anbahnende Entscheidungen der Selbstverwaltung den Anlass zu Streiks. Sobald sich Widerstand gegen diese als Streik manifestierte, bewegten sich Beschäftigte im Bereich des Informellen. Die Massenorganisationen und die VertreterInnen der betrieblichen Selbstverwaltung waren im Moment des Streiks damit beauftragt, die Proteste wieder zurück in die formalen Bahnen der Selbstverwaltung zu überführen. Gelang ihnen das, so gingen sie aus Sicht der politischen Führung angemessen mit den entstandenen Konfliktsituationen um.
5.6. Zwischenfazit Die Vielfalt von informellen Handlungsoptionen, welche Beschäftigte in Industriebetrieben nutzten, verwies oft in problematischer Weise auf die Kluft zwischen dem normativen Anspruch der sozialistischen Selbstverwaltung und ihrer Praxis. Dennoch waren Praktiken zur Konfliktaustragung außerhalb des formalen Rahmens der Selbstverwaltung weit verbreitet, stabilisierten das System und kompensierten einige seiner unintendierten Entwicklungen. 277 Florian Bieber stellt die Frage nach den Mechanismen, welche den Übergang von
sozialen zu nationalistischen Protesten im Serbien der späten 1980er auslösten, siehe: BIEBER, Nationalismus in Serbien, 188f. Zwischen 1982 und 1988 stieg die Zahl der TeilnehmerInnen an Streiks in Jugoslawien von etwa 11.000 auf beinahe 400.000 jährlich: Darko Marinković, Štrajkovi i društvena kriza. Beograd 1995 zit. nach: MARKOVIĆ, Radnički štrajkovi, 59.
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Die Industrie im sozialistischen Jugoslawien bescherte vielen niedrig verdienenden ArbeiterInnen kein stabiles und zur Deckung der Grundbedürfnisse ausreichendes Einkommen. An ArbeiterInnen, die auf Nebeneinkommen angewiesen waren und dieses auf informellem Wege erzielen mussten, konnte die Befreiung der Arbeiterklasse und ihre nominale Herrschaft schwerlich demonstriert werden. Dieser Teil der Belegschaften von Industriebetrieben war besonders von den negativen Folgen der rapiden Urbanisierung und Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem kurz darauf einsetzenden Ende der Industriemoderne betroffen. Die Begünstigung von FacharbeiterInnen und hoch Qualifizierten bei der Lohnverteilung, um damit Fluktuation zu verhindern und die Produktion zu stabilisieren, war unter den informellen Praktiken ideologisch besonders brisant. Die Annäherung von Arbeit an einen Warencharakter, mittels dessen Beschäftigte bestimmter Qualifikationen Vorteile erlangen konnten, stand in deutlichem Widerspruch zum Anspruch gerechter und solidarischer Löhne. Streiks, durch die sich ArbeiterInnen mit materiellen Forderungen Gehör verschafften, widersprachen ebenfalls eklatant dem Ideal von sozialistischer Selbstverwaltung, innerhalb derer die ArbeiterInnen ihre Interessen in solidarischem Miteinander partizipativer Managementprozesse aushandeln sollten. Verfolgten Beschäftigte ihre Interessen mit dem Mittel des Streiks, so nutzten sie damit bewusst ein provokantes Mittel, das auf Konfrontation setzte. Die Streikenden wussten, dass sie damit sowohl ihre Betriebsleitungen, als auch die betrieblichen und lokalen Partei- und Massenorganisationen politisch unter Druck setzen konnten. In deren Interesse musste es nämlich sein, die Diskrepanzen zwischen Theorie der Selbstverwaltung und den oftmals hierarchischen Praktiken in den Unternehmen so wenig wie möglich öffentlich zu thematisieren. Sich aus betrieblichem Machtgefälle ergebende Konfrontationen, die sich in Streiks entluden, griffen die Legitimität von Managementhandeln an. Zudem stellten Streiks in ihren Parallelen zu Klassenkonflikten in kapitalistischen Betrieben eine Bedrohung für die sozialistische Ordnung dar. In den informellen Formen der Interessenvertretung lassen sich gegenüber konfrontativen auch kooperative Praktiken erkennen: Insbesondere der Grad an Toleranz von formalen Disziplinarverstößen, die zur Realisierung von Nebenerwerb stattfanden, war seitens des Leitungspersonals, gerade auf der unteren Managementebene, sehr hoch. Viele Verletzungen der Arbeitsdisziplin ließen sich zudem schwer von erzwungenen Unterbrechungen der Produktion unterscheiden. Unter den schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen das Management den Betrieb in regelmäßigem Takt aufrecht zu erhalten hatte, musste es weitreichende Zugeständnisse an die Beschäftigten machen. Während man ArbeiterInnen in Zeiten stillstehender Bänder schwerlich dazu zwingen konnte, am Arbeitsplatz zu verweilen, mussten sie motiviert werden, in intensiven Produktionsphasen flexibel einsetzbar zu sein. Auch in Klientelbeziehungen drückten sich eher einvernehmliche als konflikthafte Haltungen der sozialen Gruppen zueinander aus. Zwar verursachten die Hierarchieunterschiede, die als Voraussetzung für das gegenseitige Profitieren von PatronInnen und KlientInnen vonnöten waren, in anderen Situationen
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Konflikte. Für ein funktionierendes klientelistisches Verhältnis war jedoch zumindest ein Grundkonsens über die jeweils eingenommenen Rollen notwendig. Allen hier aufgezeigten Praktiken ist gemeinsam, dass die ArbeiterInnen von der Staatsspitze niemals scharf und kategorisch dafür abgeurteilt wurden. Verbale Angriffe gegen ArbeiterInnen fanden allenfalls in abgemilderter Form statt. Bis in die 1970er Jahre hinein geschah das oft mit dem Verweis darauf, dass selbstverwalterische Beziehungen in den Betrieben noch im Werden begriffen seien und dass das Bildungsniveau in der sich industrialisierenden Gesellschaft noch niedrig sei. Demgegenüber hatten vielmehr die Beteiligten in den Betriebsleitungen, der Partei und den Massenorganisationen mit der offiziellen Ausgrenzung ihres sogenannten „bürokratischen“, „technokratischen“ und „liberalen“ Handelns in sozialen Konflikten zu rechnen. Im komplexen Gefüge der Selbstverwaltung unter den restriktiven Bedingungen der Einparteiherrschaft waren die Verantwortlichkeiten für herrschende Zustände schwer präzise feststellbar, geschweige denn öffentlich benennbar. Deshalb eignete es sich für die Parteiführung allzeit, „Bürokratismus“, „Technokratismus“ und „Liberalismus“ zu verurteilen, um ihren Schulterschluss mit der Arbeiterklasse zu demonstrieren. In den politisch krisenhaften Jahren am Übergang zwischen den 1960er und den 1970er Jahren stand ein Parteidokument für die Strategie der
politischen Führung in der Folgezeit: das „Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums des BdKJ und Präsident Titos“ („Titos Brief“) vom Oktober 1972. Einerseits bekräftigte die Parteispitze darin ihren Willen, am „demokratischen Zentralismus“ festzuhalten und somit politische Abweichung in den eigenen Reihen nicht zu dulden. Gleichzeitig nahm sie die Kritik an herrschender sozialer Ungleichheit auf, die verschiedene Protestbewegungen und -formen der Zeit aus der Gesellschaft heraus formuliert hatten. Daran wird deutlich, dass die Staatsführung in einer Kommunikationsbeziehung mit KritikerInnen auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Gefüges stand. Die Führung des BdKJ übernahm in dem Schreiben von 1972 ausdrücklich einige soziale Forderungen und assoziierte die politischen WidersacherInnen mit den Ursachen sozialer Schieflagen. Dabei unterschlug die Parteispitze, dass es sich bei den kritisierten Zuständen um strukturell ausgeprägte Widersprüche handelte, die aus dem Institutionengefüge der Selbstverwaltung unter kommunistischer Herrschaft erwachsen waren. Stattdessen machte „Titos Brief“ das Fehlverhalten Einzelner für die Lage im Land verantwortlich. Dennoch galt das Dokument als Anstoß dafür, mit staatlicher Sozialpolitik eine Umverteilung in Richtung sozial Minderprivilegierter in Gang zu bringen.278 Einen weiteren Beleg für die Kommunikation, die zwischen den verschiedenen Ebenen in Staat und Gesellschaft ablief, bilden Fälle, in denen Beschäftigte das Schreiben zitierten, wenn sie in betrieblichen Konflikten ihre Interessen durchsetzen wollten. Darüber hinaus stand „Titos Brief“ neben anderen Verlautbarungen und legislativen Initiativen der Staatsspitze, mit denen sie das Selbstverwaltungssystem erweiterte, für 278 Siehe dazu auch Kap. 6.2.
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die Tendenz, dass ab Beginn der 1970er Jahre wieder verstärkt die Parteispitze die gesellschaftliche Agenda aufstellte. Dass in „Titos Brief“ die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik überaus vieldeutig und unklar formuliert war, stand sinnbildlich dafür, dass man an den bisher vertretenen, oft widersprüchlichen Prinzipien festhalten würde. Am Beispiel des Nebenerwerbs und der Streiks wird sichtbar, dass die Staatsführung bereit war, informelle Praktiken in das bestehende System zu inkorporieren, also in formale Bahnen zu überführen. Wenn der Staat solche Praktiken nicht unterbinden konnte oder das nicht wollte, weil sie auch stabilisierend wirkten oder als Ventil für die Artikulation von Unzufriedenheit fungierten, wandte er die Strategie an, sie einzuhegen. Er verlieh ihnen einen normativen Rahmen, sodass sie sich nicht im Verborgenen und Informellen abspielen mussten. So wurde in den 1970er Jahren versucht, informellen Einkommenserwerb neben einer Anstellung in der Fabrik in formale Bahnen zu lenken. Streiks hingegen wurden nicht legalisiert, aber die Verfassung von 1974 erkannte ihre Existenz an und schlug ein Schlichtungsverfahren vor, sollte es zu Arbeitsniederlegungen kommen. Neben solchen staatlichen Einhegungen informeller Praktiken öffnen sich in den beginnenden 1980er Jahren nach dem Tod Josip Broz Titos und in den sich zuspitzenden wirtschaftlichen Verhältnissen Räume für offenere Diskussion über die unintendierten Fehlentwicklungen des Systems und die Vielfalt ihrer Ursachen. Betrachtet man die Aufmerksamkeit, welche Alkoholgenuss am Arbeitsplatz und Streiks in ExpertInnenforen erhielten, so fällt auf, dass man in Slowenien offensiver mit diesen problematischen Erscheinungen in den Fabriken umging. ForscherInnen an den Universitäten und ExpertInnen in den Massenorganisationen konnten in Form von Publikationen ihre Analysen dieser Fragen öffentlich zugänglich machen. Obwohl es sich dabei um eine kleine Fachöffentlichkeit handelte, unternahmen doch Behörden und Massenorganisationen Anstrengungen, die Ergebnisse der Studien den PraktikerInnen zur Verfügung zu stellen. Artikel über Alkoholmissbrauch in der Fabrikzeitung von TAM in Maribor ab den frühen 1980er Jahren und von der Gewerkschaft publizierte Broschüren zu Streiks, die an die lokalen Organisationen weitergereicht wurden, zeugen von den Bemühungen, ExpertInnenwissen in die konkrete Praxis der Betriebe zu integrieren. Inwiefern sich jedoch die systematischere und vielschichtigere Behandlung des Alkoholproblems in Maribor darauf auswirkte, dass am Arbeitsplatz weniger getrunken wurde und weniger Beschäftigte an Alkoholsucht litten als in Kragujevac, darüber lässt sich anhand der verfügbaren Materialien keine Aussage treffen. In Bezug auf Streiks vermochte in Slowenien dieser offensivere und die Kenntnisse von ExpertInnen einschließende Umgang mit dem Problem keine Abmilderung zu bewirken.
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6. Soziale Differenzierung der Belegschaften Bis jetzt lag hier der Fokus darauf, wie sich IndustriearbeiterInnen das Selbstverwaltungssystem in den Betrieben zur Verfolgung ihrer Interessen konkret aneigneten. Sie nutzten dazu formal gegebene Mechanismen der Selbstverwaltung und an sie angelagerte informelle Mechanismen. Zudem traten häufig Kombinationen aus formalen und informellen Handlungsstrategien auf. Teilweise überlagerten sie sich, teilweise versuchten die FunktionärInnen der Selbstverwaltung, Partei und Massenorganisationen informell auftretende Praktiken in formale Bahnen zu lenken. An einigen Stellen ist deutlich geworden, dass die Aneignungen nicht voraussetzungslos verliefen. Stattdessen beeinflusste die soziale Position der ArbeiterInnen, welche Handlungsoptionen für wen überhaupt greifbar waren und welchen Erfolg sich Angehörige bestimmter sozialer Kategorien bei der Verfolgung ihrer Interessen erhoffen konnten. Seit den 1960er Jahren befassten sich jugoslawische SozialwissenschaftlerInnen mit sozialen Ungleichheiten in ihrer Gesellschaft. Wie im Falle der Phänomene Alkoholismus und Streiks beteiligten sich neben kritischen ForscherInnen an den Universitäten auch Forschungsinstitute von Gewerkschaft, Partei und anderer Strukturen daran, die ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen zu beschreiben und zu erklären.1 Seitdem Staatszerfall und Krieg die gegenwärtig Forschung nicht mehr dominiert, wird die zu jugoslawischer Zeit recht intensiv geführte Debatte über soziale Unterschiede wieder wahrgenommen.2 Das folgende Kapitel wirft einen komplexeren Blick auf die sozialen Differenzierungen der Belegschaften bei TAM und Zastava. Damit sollen zum einen im Sinne Jens Giesekes die „materiellen Grundtatbestände“ im Staatssozialismus weiter erhellt werden und andererseits nach den diskursiven Konstruktionen sozialer Hierarchien gefragt werden.3 Typische Modi der Thematisierung 1
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Von 1976 stammt eine Regionalstudie aus Split und Umland, die vielschichtig soziale Ungleichheit analysiert. Der Autor war an einem Forschungszentrum des BdKJ tätig: (Marksistički centar Konferencije SKH ZO, Split) tätig: VUŠKOVIĆ, Social Inequality. Siehe für einen Überblick über die zeitgenössische Forschung z. B.: ARCHER, Archer, Social Inequalities and the Study,135–154 sowie die Beiträge in: Rory ARCHER / Igor DUDA / Paul STUBBS (Hgg.), Social Inequalities and Discontent in Yugoslav Socialism. London, New York (im Erscheinen, voraussichtl. 2016). Vgl. GIESEKE, Soziale Ungleichheit, 172.
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oder eben fehlenden Thematisierung sozialer Differenz angesichts der ideologischen Konstruktion einer einheitlichen Arbeiterklasse sollen dabei in den Blick rücken. Darüber hinaus wird gefragt, auf welche Weise die sozialen Ungleichheiten in den Aneignungsprozessen des Selbstverwaltungssystems in den Betrieben verhandelt wurden. Das Konzept der Intersektionalität, das seit einigen Jahren Eingang in die deutschsprachige Historiografie findet,4 schärft hier den Blick dafür, wie die verschiedenen Kategorien strukturell zusammenwirken. Zur Systematisierung sozialer Unterschiede in der DDR greift Gieseke auf das Konzept der Intersektionalität aus der amerikanischen Forschung zu Geschlechter- und Rassendiskriminierung zurück. Gieseke zufolge lassen sich die Verhältnisse in der DDR als „staatssozialistische Intersektionalität“ beschreiben,5 also als ein komplexes Zusammentreffen sozialer Vorteile und Nachteile, welche aus den sozialistischen Herrschaftsverhältnissen erwuchsen. Vermittelt über die Geschlechtergeschichte hat die intersektionale Analyse, die spezifische Verknüpfungen von Kategorien wie „Klasse“, Geschlecht und Ethnizität untersucht, Eingang in die historische Forschung gefunden. Wie Christian Koller am Beispiel tschechischer Textilarbeiterinnen im Wien der Jahrhundertwende zeigt, kann der Blickwinkel der Intersektionalität dazu beitragen, sozial- und kulturhistorische Herangehensweisen zu integrieren und soziale Verhältnisse präzise zu analysieren.6 Daher ist es auch hier wichtig zu fragen, wie sich die soziale 4
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Die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Creshaw prägte den Begriff intersectionality in den 1990er Jahren. Das Konzept Intersektionalität fasst die spezifische Marginalisierung schwarzer Frauen in den USA, die von feministischen und antirassistischen Bewegungen nicht angemessen thematisiert wurde: Kimberlé CRESHAW, Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, Stanford Law Review 43 (1991), H. 6, 241–299. Historische Studien, welche die Überlagerung der beiden Kategorien thematisieren gehen bis in die 1970er Jahre zurück, z. B.: Gerda LERNER, Black Women in White America. A Documentary History. New York 1972. Zur Anwendung des Konzepts in der deutschsprachigen Historiografie: z. B. Olaf STIEGLITZ, Rezension zu: Winker, Gabriele; Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009 2009, unter , 14.4.2015; Andrea GRIESEBNER / Susanne HEHENBERGER, Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften?, in: Vera KALLENBERG (Hg.), Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden 2013, 105–124. Vgl. GIESEKE, Soziale Ungleichheit, 173, 174–176. Koller führt aus, wie am Beispiel der österreichischen Arbeiterbewegung Kategorien wie „Klasse“ und Ethnizität in der Forschung miteinander in Beziehung gesetzt wurden, dass aber die Berücksichtigung ihrer Wechselwirkung mit weiteren Kategorien der Charakter der Bewegung genauer spezifischer charakterisiert werden kann: Christian KOLLER, Weiblich, proletarisch, tschechisch. Perspektiven und Probleme intersektionaler Analyse in der Geschichtswissenschaft am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnestreiks 1893, in: Sabine HESS / Nikola LANGREITER / Elisabeth TIMM (Hgg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld 2011, 175–198, 191–197.
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Differenz mehrdimensional konstituierte, wie sie repräsentiert wurde und wie mit den Widersprüchen zum egalitaristischen Grundtenor des Sozialismus von Selbstverwaltungsstrukturen, Massenorganisationen und der politischen Führung umgegangen wurde. Für die Betrachtung wurde eine Auswahl von Kategorien getroffen, welche sich aus der Überlieferung der Industriebetriebe und den auf Industriearbeit bezogenen sonstigen Quellen ergaben. Es werden klassische Dimensionen sozialer Ungleichheit behandelt, welche im zugrunde gelegten Quellenmaterial die Schwelle zur Thematisierung überschritten: zentrale ideologische Kategorien wie „Klasse“ und Teilnahme am Kampf der kommunistischen PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg, Beruf/Qualifikation, Lebensalter, Geschlecht und Herkunft. Die Reihenfolge ist so gewählt, dass sich einerseits die Hierarchisierung bei der Legitimierung kommunistischer Herrschaft darin wiederfindet. Damit korrespondiert andererseits der Intensitätsgrad, mit dem das betreffende Merkmal im Quellenmaterial repräsentiert wird. Nur im Falle der Kategorie Beruf/ Qualifikation wurde diese Reihenfolge durchbrochen, da sie sich inhaltlich unmittelbar an die Kategorie „Klasse“ anschließt. Da der Schwerpunkt der Arbeit auf Aneignungen des Selbstverwaltungssystems durch ArbeiterInnen in der Produktion liegt, soll im Kapitel 6.1. dargestellt werden, auf welche Weise die Kategorie „Klasse“ im Betrieb zwischen ArbeiterInnen und Angestellten verhandelt wurde. Die Kategorien der Abschnitte 6.2. bis 6.5. beziehen sich im Gegensatz zu 6.1., soweit dies die Quellen zulassen, vor allem auf die Ungleichheitsverhältnisse innerhalb der ArbeiterInnenschaft. Im Folgenden wird für jede Kategorie herausgearbeitet, wie viele Beschäftigte ihr in den Betrieben zugeordnet waren und was eine solche Zugehörigkeit für ihren sozialen Status bedeutete. Letzteres wird anhand von Verdienstchancen, den Möglichkeiten, an sozialpolitischen Leistungen der Betriebe teilzuhaben und am Integrationsgrad in Selbstverwaltung und Massenorganisationen konkretisiert. Besonderes Augenmerk liegt darüber hinaus darauf, in welchem Maße und in welcher Form die unterschiedlichen Konfliktlinien öffentlich und nichtöffentlich verhandelt wurden. Dies schließt ein, von welchen Beteiligten auf welche Weise Bezüge zu den Idealen der Selbstverwaltung und allgemeinen Solidaritäts- und Gleichheitsgrundsätzen der sozialistischen Ideologie hergestellt wurden. Im Sinne der intersektionalen Analyse rücken abschließend die typischen Verknüpfungen der sozialen Kategorien und die Wirkung dieser Überlagerungen in den Blickpunkt.
6.1. Ideologisch prominente Kategorien: „Klasse“ und Teilnahme am Kampf der kommunistischen PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg Aus Unzufriedenheit über die Revision einer Wohnungszuteilung beschwerte sich der 46-jährige Transportarbeiter Dragomir N. im Jahr 1966 über seine Benachteiligung als Arbeiter beim zuständigen Arbeiterrat der Zastava-Werke:
240 Der Verwaltungsausschuss der Direktion, bzw. jemand, dem es nicht gepasst hat, dass ich die Wohnung bekomme, weil ich Arbeiter bin, hat die Entscheidung der Personalkommission abgeändert, und ich arbeite ununterbrochen 16 Stunden, bzw. ich bin ununterbrochen unterwegs und fahre unsere Produkte aus. […] Ich bitte den Arbeiterrat darum, mein Anliegen voll und ganz zu verstehen und mir die Wohnung zuzuteilen, die mir die Personalkommission zugeteilt hat, auch wenn ich Arbeiter bin, denn ich finde, dass auch wir Arbeiter in diesem Land das Recht haben, gleichberechtigt mit der übrigen Intelligenz zu leben, die auch heute noch einige Prioritäten genießt [sic!], auch wenn ich als Arbeiter größere Verdienste vorweisen kann als der Vorgenannte, der die Wohnung bekommen hat […]. Ich möchte erwähnen, dass ich seit 1941 Teilnehmer des Volksbefreiungskampfes war und ich bin Arbeiter und habe viel mehr für die Gemeinschaft gekämpft als die anderen, die bei der Wohnungszuteilung Priorität haben, und ich finde, dass mir die größere Wohnung und größere Erholung zusteht, denn ich bin körperlich stärker erschöpft.7
Weitaus zugespitzter schilderte ein Belgrader Arbeiter im Jahr 1968 nach Titos Rede an die protestierenden StudentInnen in Belgrad vom 9. Juni 1968 in einen Brief an den Präsidenten der SFRJ die Beziehung zwischen höchster Leitungsebene und ProduktionsarbeiterInnen in seinem Betrieb: Es ist in den Unternehmen zu Morden zwischen ehrlichen Arbeitern und unehrlichen Leitern gekommen, die sich mit ihren roten Büchlein aufgeputzt haben und sich mit der Partei verteidigt haben und das Volkseigentum zugrunde gerichtet haben und sich bereichert haben. Wir Arbeiter arbeiten zehn oder sechzehn Stunden täglich und essen trockenes Brot und unsere Unternehmer wissen vor Luxus nicht wohin mit sich. Sie haben alle zwei-drei Autos und zwei-drei Häuser und wir Arbeiter schlafen in Schuppen und zahlen teuer dafür.8
In beiden Schreiben tritt die Spannung zwischen verschiedenen Dimensionen der sozialistischen Ideologie und der sozialen Wirklichkeit klar hervor. Legitime und illegitime Privilegien stehen sich darin teils gegenüber, teils sind die Übergänge kaum auszumachen. Sowohl Dragomir N. aus Kragujevac als auch der Belgrader Arbeiter forderten eine angemessene soziale Sicherung ein, die ihrem herausgehobenen Status als Arbeiter in der Staatsdoktrin entspräche. Der Kragujevacer verwies zudem darauf, als kommunistischen Partisan gekämpft zu haben. Als solchem standen ihm im jugoslawischen Staat legitime Privilegierungen sowohl auf symbolischer als auch auf materieller Ebene zu. Demgegenüber markierten beide Beschwerdeschreiber die Privilegierung von Angestellten, höherem Leitungspersonal und Parteimitgliedern als unmoralisch, ja als skandalösen Zustand. Das kapitalistische Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und die damit verbundenen Macht- und Lebensverhältnisse zu überwinden, machte den Kern des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs aus. Jugoslawien ging nach der Verstaatlichung der Industrie in den späten 1940er Jahren darüber hinaus, die Be7 8
ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–1967: Žalba, 22.08.1966. Zitat aus einem Brief eines Belgrader Arbeiters an Tito vom 11.06.1968 in Reaktion auf die Rede Titos während der Unruhen Belgrader StudentInnen am 09.06.1968, abgedruckt in: DESPOT (Hg.), Pisma Titu, 110.
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sitzverhältnisse der Produktionsmittel umzuwälzen. Die kommunistische Führung erhob die Partizipation von ArbeiterInnen an der Leitung der Betriebe in den Stand eines grundlegenden Unterscheidungsmerkmals zu den Staaten der sowjetischen Einflusssphäre. Mit der Einführung der Arbeiterselbstverwaltung sollte eine Humanisierung der industriellen Arbeitswelt in höherem Maße als dort umgesetzt werden, indem die gesellschaftliche Arbeitsteilung in geistige und körperliche Arbeit außer Kraft gesetzt werden sollte. Aufgrund der Widersprüche, die sich dabei in der Praxis ergaben, rücken die Aushandlungsprozesse in den Blick, welche im Spannungsfeld zwischen ideologischen Vorgaben und sozialen Realitäten sowie um unscharf voneinander getrennte legitime und illegitime Privilegierungen stattfanden. Solche Privilegierungen konnten davon abhängen, ob eine Person in der Produktions- oder Angestelltensphäre tätig war, ob sie als FunktionsträgerIn an der Selbstverwaltung teilnahm, in Partei oder den Massenorganisationen aktiv war oder ob sie am Kampf der kommunistischen PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte. Im Kapitel 5.5. klang im Zusammenhang mit der Rollenverteilung in klientelistischen Praktiken die mächtige Stellung leitender Angestellter bereits an. Diese musste in Bezug auf die Normen der Selbstverwaltung als illegitim gelten. Während in Kapitel 5.5. der Schwerpunkt auf dem Phänomenen des Missbrauchs, seiner Mechanismen und der Kommunikation darüber lag, sollen hier die Verhandlung der Kategorie „Klasse“ sowie damit verbundene soziale Realitäten im Mittelpunkt stehen.
Ideologischer Sprachgebrauch: Alle sind „Arbeiter“ Die KommunistInnen versuchten mit ihrer Rhetorik den Begriff „Arbeiter“ (Srb.: „radnik“9), der im engeren Sinne für manuell Tätige in der industriellen Produktion gilt, auf so viele Beschäftigte wie möglich auszudehnen. Dieser Sprachgebrauch hatte legitimierende Funktion, herrschten die KommunistInnen doch im Namen der Arbeiterklasse. Dazu bedienten sie sich des Terminus „radni ljudi“, der dem in der DDR verwendeten Ausdruck „Werktätige“ entsprach. In beiden Staaten war man bestrebt, den stets steigenden Anteil derjenigen Beschäftigten, die in Verwaltungs- und Dienstleistungsberufen tätig waren, zur Arbeiterklasse zu zählen.10 Als weitere Variante, die Arbeiterklasse zahlenmäßig zu vergrößern, nahm der offizielle Sprachgebrauch Ausdehnungen der Bezeichnung „Arbeiter“ vor. So wurden, wenn allgemein von den Beschäftigten einer betrieblichen Einheit die Rede war, diese nur als „Arbeiter“ bezeichnet, auch wenn es sich dabei sowohl um Angestellte als auch ArbeiterInnen handelte. Die Verfassung von 1974 bezeichnete sogar dezidiert nicht in Industriebetrieben Tätige als „Arbeiter“. Anstatt sie mit „Werktätige“ (Srb.: „radni ljudi“) zu bezeichnen, sprach Artikel 16 des Gesetzestextes von „Arbeiter[n] in Organisationen Um das Anführen von jeweils vier sprachlichen Formen (Serbisch, Slowenisch, männlich, weiblich) an dieser Stelle zu vermeiden, wird in der Originalsprache nur die Serbische und männliche Bezeichnung genannt. Die genannten Phänomene funktionieren sprachlich im Serbischen und Slowenischen analog zueinander. 10 Vgl. Die Verfassung der SFRJ 1974, 107; WOLF, Sprache in der DDR, 10f. 9
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der assoziierten Arbeit, die Tätigkeiten im Bereich der Erziehung und Bildung, der Wissenschaft, der Kultur, des Gesundheitswesens, des Sozialschutzes oder anderer gesellschaftlicher Tätigkeiten ausüben“.11 Mit dieser sprachlichen Konvention erweiterte die Partei die Arbeiterklasse, in deren Namen sie herrschte, noch um diese Professionen. Auch FunktionärInnen der Partei oder der Massenorganisationen wurden, um ihren Schulterschluss mit den tatsächlichen manuell Arbeitenden zu betonen, als „gesellschafts-politische Arbeiter“ (Srb.: „društveno-politički radnik“) bezeichnet.12 In der Fabrikzeitung bei Zastava war 1980, kurz vor Josip Broz Titos Tod, dementsprechend von „zehntausenden Arbeitern“ die Rede, welche ihm Genesungswünsche verfasst hätten. Darunter waren auch etliche Angestellte mit gefasst, die beinahe die Hälfte der Belegschaft ausmachten.13 Indem man sie alle als „Arbeiter“ bezeichnete, konnte man einerseits die Verbundenheit aller Beschäftigten im Sinne einer gemeinsamen Fabrikidentität betonen. Andererseits ist aber auch davon auszugehen, dass in der Anteilnahme am schlechten Gesundheitszustand des Staatschefs der Klassenaspekt betont werden sollte und in einem propagandistischen Duktus aus der heterogenen Belegschaft „zehntausende Arbeiter“ wurden. Für statistische Zwecke, wie bei der sozio-professionellen Aufschlüsselung der Mitgliedschaft des BdKJ wurden jedoch die Gruppen präziser benannt. So differenzieren die publizierten Statistiken zwischen BäuerInnen, ArbeiterInnen, Angestellten und anderen Gruppen.14 Ähnlich verhielt es sich mit der Differenzierung der funktionalen Gruppen in Industriebetrieben. Diese erfassten in den Statistiken der Unternehmen ArbeiterInnen und Angestellte (Srb.: „službenik“), oder noch die dritte Kategorie „režijski radnik“, für Arbeiten in den Hilfsprozessen der Produktion.15 Die „režijski radnici“ waren als QualitätskontrolleurInnen, LageristInnen, TransportarbeiterInnen, MonteurInnen und Reinigungspersonal tätig, also der Produktionssphäre eng verbunden. In der politischen Rhetorik war die Ausdehnung des Begriffs „Arbeiter“ also von legitimierender Bedeu-
11 Die Verfassung der SFRJ 1974, 129. 12 Vgl. Artikel 331: ebenda; ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985: Zapisnik sa
nastavka, 14.03.1985, 6. 13 Vgl. Druže Tito, pobedi i sada. Radničke poruke, Crvena zastava, 1.2.1980, 2. 14 Vgl. RFE News & Information Service – Evaluation and Research Section, Consi-
derations behind the Reported Increase of the Yugoslav Communist Party Membership, 20.11.1957, 3, unter , 1.5.2015; Radio Free Europe/Radio Liberty, Yugoslav Party Membership – The Largest in History, 21.06.1976, 1, unter , 14.11.2014. 15 Vgl. A. R., Tema o kojoj se govori. Mladi i njihovi dohoci, Crvena zastava, Nr. 108, März 1965, 5; ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 8. sednice RS, 18.12.1972, 3; ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Izveštaj o poslovanju OOUR-a „Privredna vozila“ za period I–III 1984. god., Kragujevac, Mai 1984, S. 7.
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tung, während in dezidiert statistischen Zusammenhängen die Tätigkeitsgruppen auch sprachlich differenziert wurden. Auf gesamtjugoslawischer Ebene spielte sich innerhalb der KPJ/ des BdKJ nach dem Zweiten Weltkrieg der Wandel einer Partei von ArbeiterInnen und BäuerInnen zu einer, wie Calic es ausdrückt, „Mittelstandspartei“ ab. 16 Setzte sich bei Kriegsende die KPJ aus etwa 50 % Bauern und Bäuerinnen, etwa einem Drittel ArbeiterInnen und etwa 10 % Angestellten zusammen,17 so wandelte sich dieses Bild in der Folge. Schon bis 1956 trat eine deutliche Verschiebung ein: Nun waren nur noch 18 % der Mitglieder bäuerlicher Herkunft, rund 31 % ArbeiterInnen und 32 % Angestellte.18 Während der Anteil der ArbeiterInnen mit 28 % etwa gleich blieb, sank bis 1976 der Anteil von selbständig in der Landwirtschaft Tätigen auf 5 % und der Anteil von Angestellten stieg auf fast 42 %.19 Bis zu Beginn der 1980er Jahre veränderte sich dieses Bild nicht.20 Ab der Mitte der 1950er Jahre begann also die Kategorie der Angestellten im BdKJ zu dominieren, ein Wandel, der im Folgenden auch mit einem schwierigen generationellen Übergang zugunsten derjenigen einherging, die nach der Generation der PartisanInnen in Funktionen der Partei aufrückten.21 In seinen offiziellen Verlautbarungen kommentierte der BdKJ den bei nur etwa einem Drittel liegenden Anteil von ArbeiterInnen an der Mitgliedschaft über die Jahrzehnte hinweg mit stetiger Beunruhigung. Daran, dass 1956 nur etwa 13 % aller ArbeiterInnen Jugoslawiens Parteimitglieder waren und 1981 nur 16 % der ArbeiterInnen in den industriellen Zentren, wo sie die Mehrheit der Beschäftigten stellten, änderte dies jedoch nichts.22
Produktion vs. Verwaltung: Der Industriebetrieb als Arena des Klassenkampfs Angaben zur Parteimitgliedschaft und Aktivität von ArbeiterInnen in der Selbstverwaltung der untersuchten Fabriken müssen hier fragmentarisch bleiben. 1977 vermeldete die Parteiorganisation der Zastava-Werke, dass ein Anteil von etwa 15 % der Belegschaft einen Mitgliedsausweis des BdKJ besaß. Stolz verwies der Autor eines Artikels in der Betriebszeitung darauf, dass es mit 58 % der Mitglieder eine Mehrheit der ArbeiterInnen in der Fabrikorganisation des BdKJ gegeben habe, womit sich in der Mitgliedschaft in etwa die soziale Struk16 Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 221f. 17 Bogdan D. DENITCH, The Legitimation of a Revolution. The Yugoslav Case. New
Haven 1976, 94, zit. n. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 221f. 18 RFE News & Information Service – Evaluation and Research Section, Considerati-
ons behind the Reported Increase, 3. 19 Radio Free Europe/Radio Liberty, Yugoslav Party Membership, 1. 20 RFE/RL, Radio Free Europe Research, A Survey of Yugoslav Party Membership,
16.02.1982, 1, unter , 1.5.2015. 21 Vgl. BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht, 28. 22 Radio Free Europe/Radio Liberty, Yugoslav Party Membership, 1; RFE/RL, Radio Free Europe Research, A Survey of Yugoslav Party Membership, 1.
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tur der Beschäftigten widerspiegelte.23 1979 verzeichnete die Partei einen schwer zu erklärenden starken Anstieg an Mitgliederzahlen. Von der Gesamtbelegschaft Zastavas an allen seinen Standorten inner- und außerhalb von Kragujevac seien zu dem Zeitpunkt demnach 26 % Parteimitglieder gewesen.24 In der publizierten Broschüre, die das Unternehmen vorstellte und diese Daten enthielt, fehlte eine Differenzierung nach Standorten, Abteilungen und den Kategorien Angestellte und ProduktionsarbeiterInnen. Demgegenüber stellte sich für die slowenische Fabrik die Lage folgendermaßen dar: In den Produktionsabteilungen TAMs in Maribor verzeichneten die Parteiorganisationen zu Beginn der 1980er Jahre zwischen fünf und sieben Prozent Mitglieder, wobei auch hier die Statistik die Tätigkeitsprofile der betreffenden Personen nicht benannte.25 Nicht umsonst war die schwierige Gewinnung neuer Mitglieder in den ausgehenden 1970er Jahren und zu Beginn der 1980er Jahre ein ständiges Thema in den Sitzungen der Parteiorganisationen bei TAM. Beinahe absurd mutet es an, dass es unter anderem die hohen Mitgliedsbeiträge waren, welche auf betrieblichen Parteisitzungen als Hinderungsgrund für den Eintritt in die Partei genannt wurden. Besonders für ArbeiterInnen mit niedrigen Einkommen sei unter sich zuspitzenden wirtschaftlichen Bedingungen die Mitgliedschaft im BdKJ eine finanzielle Hürde.26 Eine Dominanz von Leitungspersonal in herausgehobeneren Positionen scheint daher für den Mariborer Betrieb sehr wahrscheinlich. Unter diesen Umständen können die niedrigen Mitgliederzahlen im BdKJ bei TAM gut mit Befragungsergebnissen in Verbindung gebracht werden, zu denen Vladimir Arzenšek zwischen 1974 und 1977 in slowenischen Industriebetrieben kam. Auf die Frage, ob sich ArbeiterInnen vom BdKJ gut repräsentiert fühlten, gaben 80 % der Befragten an, sich nur teilweise oder überhaupt nicht vom BdKJ vertreten zu fühlen, bzw. antworteten auf die Frage mit „ich weiß nicht“. Höheres Leitungspersonal fand sich demgegenüber am besten von der Partei repräsentiert.27 Die Statistiken, die Auskunft über die Ausgestaltung der Selbstverwaltung bei TAM und Zastava geben, lassen wenig Aufschluss über die Beteiligung von ArbeiterInnen und Angestellten in den Gremien zu. Selten wurde, wie im Fall des Geschäftsberichts der Kragujevacer Zastava-Fabrik aus dem Jahr 1965 dar23 Vgl. Ž. GLIŠOVIĆ, Klasna struktura – trajan zadatak. Organizacija SK Zavoda, Crve-
na zastava, 16.3.1977, 3. 24 Vgl. Zastava danas 1979, 26. 25 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik (izvleček) TOZD 21 MO, 24.09.1981, S. 1;
SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Gospodarski načrt za leto 1983, 32; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik (izvleček) 8 sestanka OOZK-TOZD-OR, 27.01.1983, S. 1; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik 4 sestanka OOZK Kovačnica, 1. 26 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Sklep o črtanju iz ZKJ Franc P., 07.05.1981, S. 1; SIPAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik programske volilne konference TOZD, 2; SI-PAM, f. 1346, šk. 38: Zapisnik 2. sestanka OOZK Kovačnica, 27.03.1984, S. 2; SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Zapisnik (izvleček) 6. sestanka, 18.12.1984, S. 2. 27 Vgl. ARZENŠEK, Struktura i pokret, 35–38.
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gelegt, wie die Arbeiterräte zusammengesetzt waren. Von achtzig Mitgliedern des zentralen Arbeiterrates waren fünfundfünfzig Arbeiter28 und fünfundzwanzig Angestellte, während die Arbeiter zur Hälfte Hochqualifizierte in Leitungspositionen waren und zur anderen Hälfte über die formale Qualifikation des Facharbeiters verfügten, was noch nichts über ihre Funktion aussagte.29 Mit der Offenlegung der Sozialstruktur in den Selbstverwaltungsgremien, hielt man sich in der Öffentlichkeit sowohl in der Mariborer als auch in Kragujevacer Fabrik gänzlich zurück. Eine Broschüre mit Unternehmensdaten Zastavas nennt nur statistische Angaben wie etwa 1979 die Existenz von 84 Arbeiterräten und 1986 die Beteiligung von 2.293 Delegierten (entspricht 4,4 % der Gesamtbelegschaft Zastavas) an den Arbeiterräten.30 Solche Daten gaben allerdings über die nominale Partizipation von ProduktionsarbeiterInnen keinerlei Aufschluss. Industriesoziologische Studien, die die WissenschaftlerInnen in Jugoslawien ab den 1960er Jahren als Befragungen und teilnehmende Beobachtungen durchführten, zeichneten ein Bild, das vor allem leitende Angestellte als die aktiven und bestimmenden AkteurInnen in den Gremien der Selbstverwaltung herausstellte.31 Josip Obradović publizierte 1977 nach dreijähriger teilnehmender Beobachtung von Arbeiterräten eine Studie zu Entscheidungsstrukturen in kroatischen Unternehmen. Er kam zu dem Schluss, dass unabhängig von der Betriebsgröße der Einfluss auf Entscheidungen des Arbeiterrates mit der Bedeutung der Funktion und hierarchischen Stellung wuchs, die ein Mitglied im Unternehmen innehatte. Für große Unternehmen mit über 2.000 MitarbeiterInnen, wie es TAM und Zastava waren, nahm laut Obradovićs Studie neben dem Management auch die Fachelite des Unternehmens eine entscheidende Rolle bei Entscheidungsfindungen ein.32 Das große Einflusspotential von leitenden Angestellten und Fachleuten, welche die Industriesoziologie beschrieb, lässt sich in Protokollen der Arbeiterräte TAMs und Zastavas wiedererkennen. Öffentlich thematisiert und in Bezug auf die Betriebe konkretisiert wurde dies – etwa in den Fabrikzeitungen – jedoch nicht. Allenfalls begegnete der große Einfluss der Betriebselite den ArbeiterInnen in der Öffentlichkeit in Form von abstrakten und in der ideologischen Sprache allgegenwärtigen Appellen, die Selbstverwaltung noch konsequenter umzusetzen und mit Leben zu erfüllen. Im Unterschied zur Wirkung von Parteimitgliedschaft und der Aktivität in der Selbstverwaltung auf die Machtverhältnisse in den Unternehmen wurde die Spannung zwischen den Kategorien der Angestellten und ArbeiterInnen auf verschiedenen Ebenen prominent und häufig thematisiert. So bestand eine zentrale Funktion der Fabrikzeitungen darin, den MitarbeiterInnen in der Produktion symbolische Anerkennung zu zollen. Diese Funktion ging mit der Affirmation 1965 war nur eine Frau unter den achzig Mitgliedern des Arbeiterrates. Vgl. ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Izveštaj o radu RS i UO, 1965, 2. Vgl. Zastava danas 1979, 13; Zastava danas 1986, 12. Beispielhaft seien hier folgende Studien genannt: RUS, Influence Structure in Yugoslav Enterprises; VEJNOVIĆ, Struktura utjecaja; ARZENŠEK, struktura i pokret. 32 Vgl. OBRADOVIĆ, Utjecaj veličine organizacije. 28 29 30 31
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des sozialistischen Selbstverwaltungssystems, der Bildung, Information und Disziplinierung der Belegschaften einher. Eines der dominantesten Fotomotive in den Fabrikzeitungen im Sinne der symbolischen Anerkennung von Produktionsarbeit waren manuelle ArbeiterInnen, umgeben von Maschinen und Fahrzeugen in verschiedenen Fertigungsstadien. Reportageartige Porträts von Mitgliedern der Belegschaft, bevorzugt aus der Produktion, waren zudem ein typisches Textgenre. Diese würdigten ihre Anstrengungen bei der Arbeit und gegebenenfalls das Engagement in Massenorganisationen und Selbstverwaltung sowie besonders schwierige Lebens- und Arbeitsumstände.33 In Erinnerungen von ArbeiterInnen, die die Anthropologin Tanja Petrović 2004 gesammelt und ausgewertet hat, bezogen sich Beschäftigte der Kabelfabrik im serbischen Jagodina häufig auf das idealisierte Bild der ArbeiterInnen, welches unter kommunistischer Herrschaft allgegenwärtig war. Angesichts der Lebensverhältnisse, die sich nach 1991 drastisch zum negativen veränderten und dem Verlust der symbolischen Bedeutung der ArbeiterInnen im neuen Gesellschaftsgefüge, erinnerten sie sich mit Wehmut an die herausgehobene symbolische Bedeutung von ProduktionsarbeiterInnen.34 Selbst wenn man mit erinnerungstheoretischen Überlegungen der Oral History davon ausgeht, dass rückblickende persönliche Narrative vielschichtig und mehrfach überformt sind, sollten sie als Indikatoren für die einst bestehende Zustimmung der ArbeiterInnen zu Elementen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs und deren Verwurzelung im Alltag gelten.35 Insofern kann man annehmen, dass die Anerkennung von Produktionsarbeit, welche die textlichen und fotografischen Porträts in den Fabrikzeitungen den manuellen ArbeiterInnen zollten, Anklang bei den Beschäftigten fand. Ein Vorwurf, der dennoch häufig öffentlich und nicht-öffentlich formuliert wurde, bestand darin, dass die Last zur Erwirtschaftung des betrieblichen Einkommens zu Ungunsten der ProduktionsarbeiterInnen verteilt gewesen sei. Karikaturen in der Fabrikzeitung transportieren diesen Vorwurf, wenn sie wie 1963 bei TAM die Frage aufwarfen, warum Beschäftigte in Büroberufen langsam oder ohne großes Engagement arbeiten würden.36 Zwei Jahrzehnte später im Jahr 1984 zeigte eine Karikatur der gleichen Zeitung einen Produktionsarbeiter, der eine riesengroße Tasche trägt, auf der „Verwaltung“ geschrieben steht. Er sagt dazu: „Oh, wie unnötig ich mir das Leben schwer mache!“.37 Die Karikatur suggeriert, dass Produktionsarbeit die Einkünfte der Betriebe erwirtschaftete und dass ein aufgeblähter, unnützer Verwaltungsapparat von dieser Arbeit mit er33 Vgl. für Zastava z. B.: M. ĐORĐEVIĆ, Godišnje pređe hiljadu kilometra da bi došao
34 35 36 37
na posao, Crvena zastava, 24.1.1968, 6; J. RAKIĆ, Volim da radim, Crvena zastava, 10.2.1971, 7; Intervju. Doći će lepši dani, Informator „Zastava transport“, Nr. 9, März 1981, 6. Für TAM z. B.: Kdo je svoje sreče kovač?, Skozi TAM, Juni 1968, 9; Naša 50-letnika. Jožica Magdalenič, Skozi TAM, 14.2.1976, 7. Vgl. Petrović, „When we were Europe“, 145f. Vgl. Brunnbauer, Staat und Gesellschaft, 40, 48. Vgl. Pepe Volan vas opazuje. Vgl. Administracija, Skozi TAM, 1.1.1984, 15.
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nährt werden musste. Eine solch demonstrative Parteinahme erfüllte in erster Linie die Funktion, den Einsatz der Betriebsleitung und der Massenorganisationen, die gemeinsam für die Zeitungen verantwortlich waren, für die Interessen der ArbeiterInnen medial zu vermitteln. Ob dies jenseits von kommunikativen Praktiken auch faktischen Niederschlag z. B. in der Personalpolitik fand, ist angesichts kontinuierlicher Überbeschäftigung im Angestelltenbereich der Fabriken zu bezweifeln. Überbeschäftigung in den nicht produzierenden Bereichen der Betriebe wurde besonders im Zuge der Wirtschaftsreform 1965 thematisiert, die von den Betrieben höhere Effizienz und Verschlankung des Verwaltungsapparats forderte. Bei Zastava in Kragujevac war in diesem Zusammenhang von der Entlassung von 1.300 Angestellten oder ihrer Versetzung in die Produktionssphäre die Rede.38 Damit reagierte die Betriebsleitung auf das Fehlen von ProduktionsarbeiterInnen und die herrschende Überbeschäftigung in der Verwaltung, die unter anderem durch die willkürliche Schaffung von Arbeitsstellen außerhalb der Produktion verursacht worden war. Schon 1968 waren die Effekte der Versetzungsinitiativen jedoch wieder verloren gegangen. Der Eigen-Sinn des Verwaltungssektors in der Fabrik konnte demnach Ende 1965 nur kurz auf 47 % der Belegschaft abgesenkt werden, während schon 1968 das Niveau wieder bei 51 % lag. 39 Auch in Maribor bekam die Kritik am vermeintlich niedrigen Arbeitseinsatz der Verwaltung in dieser Zeit Aufwind, obwohl sie hier auf andere Weise mit den Wirtschaftsreformen von 1965 in Verbindung zu bringen ist, nämlich mit der Rezession, die ihr 1966 folgte. Preise für Rohstoffe und Teilfabrikate stiegen und die Einschnitte in der Auftragslage resultierten unter anderem in Entlassungen. Bis zum Beginn der 1970er Jahre konnten Betriebe ihre Beschäftigten noch aus betriebsbedingten Gründen kündigen. ArbeiterInnen in der Produktion waren von Entlassungen wegen irregulärer Produktionsrhythmen und fehlenden Aufträgen am schwersten betroffen. Mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert, diskutierten die Mitglieder des zentralen Arbeiterrats bei TAM zu Beginn des Jahres 1966, wie sie auf die Situation reagieren sollten, ohne dass ProduktionsarbeiterInnen zu stark von sozialer Unsicherheit betroffen wären.40 Obwohl sie zugestanden, dass hier systemische Probleme zur Debatte standen, forderten diejenigen Mitglieder des Arbeiterrates, die hohe Positionen in den Produktionsabteilungen besetzten, den engagierteren Arbeitseinsatz der Beschäftigten in den Hilfsprozessen und der Verwaltung: Wir hier [im Arbeiterrat] werden diese Dinge nicht lösen können, aber wir haben doch viele Leute im Unternehmen, die dafür bezahlt werden, für die reguläre Pro-
38 Vgl. B. R., Privredna reforma i smanjenje režijske snage, Crvena zastava, Nr. 119,
September 1965, 4; ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 344. 39 Vgl. ebenda. 40 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 704: Zapisnik XIII. rednega zasedanja DS, 14.02.1966.
248 duktion zu sorgen und genau diese Leute müssen jetzt aufs äußerste engagiert handeln, damit der entstandene Zustand aufgelöst wird.41
Während in anderen Auseinandersetzungen Konflikte zwischen ProduktionsarbeiterInnen und ihren LeiterInnen hervortraten, drückten die Verantwortlichen aus den produzierenden Abteilungen hier ihre Solidarität mit den ihnen betrauten ArbeiterInnen aus. Weiter äußerten die Delegierten im Arbeiterrat verschiedene Einschätzungen darüber, warum die Beschaffungs- und Planungsabteilungen keine geregelte Produktion sichern konnten. Auf der einen Seite standen die Beschuldigungen, dass die MitarbeiterInnen in der Produktionsvorbereitung gegenüber den ProduktionsarbeiterInnen und dem Betrieb als Ganzes völlig nachlässig und unverantwortlich handeln würden. Andere Stimmen hingegen führten in Verteidigung dieser „niedrigen Arbeitsmoral“ inadäquate Vergütung des Personals in Planung, Einkauf und Leitung an.42 Überträgt man das letztere Argument auf das Verhältnis zwischen Angestellten und ProduktionsarbeiterInnen, so würde das bedeuten, dass die Risiken für ArbeiterInnen, arbeitslos zu werden, unter anderem von erfolgreichen Lohnforderungen der Angestellten bedingt wurden. Diese forderten eine angemessene Vergütung, welche laut Verfassung in Einklang mit den Leistungen der MitarbeiterInnen stehen sollte. Die Schwierigkeit, Arbeitsergebnisse von VerwaltungsmitarbeiterInnen zu bemessen, beschäftigte das Management und die Parteiorganisationen jedoch fortwährend. Mitunter räumten Fachabteilungen, wie 1965 in der Fabrikzeitung Zastavas ein, dass die Methoden, mit denen sie die Einkommen Verwaltungspersonal festlegten, „noch nicht“ elaboriert genug seien.43 Die fragmentierte Verfassung der Betriebe ließ jedoch zu, dass in den Abteilungen viele unterschiedliche Regelungen nebeneinander bestanden, sodass grundsätzliche Lösungsansätze häufig mit dem Anspruch auf dezentralisierte Selbstverwaltung in Konflikt standen. Auf einer Parteikonferenz bei Zastava 1965 brachten die GenossInnen solche Schwierigkeiten mit bestehenden Mängeln in der Umsetzung der Selbstverwaltungsprinzipien in Verbindung.44 In einem Atemzug mit dem Eingeständnis, das Einkommen „nach dem Prinzip der geleisteten Arbeit“ in der Produktionsorganisation, also einer nicht produzierenden Abteilung, sei nicht einfach umzusetzen, kritisierten die Delegierten die lange Dauer, die das Verfassen eines entsprechenden Regelwerkes zur Lohnverteilung dort beanspruchte. Zu einer Einigung, so die Rhetorik des Berichts von der Parteikonferenz, sei es dank der Bemühungen der „bewussten gesellschaftlich-politischen Kräfte im Kollektiv“, also der KommunistInnen, gekommen.45 Vorhandene Meinungsverschiedenheiten wurden offenbar von Seiten der Partei beendet, nicht ohne dabei rhetorisch gegen „Feinde der Selbstverwaltung“ auszuholen:
41 42 43 44 45
Ebenda, 12. Ebenda, 10–13. Vgl. ČUKIĆ, Aktuelno. Vgl. Održana vanredna konferencija Saveza komunista. Vgl. ebenda, 3.
249 Eine so hergestellte gesellschaftliche Verantwortung hebt deutlich bestimmte bestehende bürokratische Tendenzen Einzelner und der Verwaltungsdienste hervor.46
Der BdKJ inszenierte sich hier als Wahrer der Selbstverwaltungsbeziehungen, um damit seinen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Den Kampfbegriff „Bürokratismus“, der in den 1950er Jahren zur Abgrenzung Jugoslawiens gegen das administrative sowjetische Wirtschaftsmodell diente, verwendete die Betriebsparteiorganisation hier dazu, die Verwaltungsdienste im Betrieb zu diffamieren.47 Zu Beginn der 1970er Jahre war die Überbeschäftigung außerhalb der unmittelbaren Produktionsumgebung in den Diskussionen des Arbeiterrats der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik immer noch sehr präsent. Ein hochrangiges Mitglied der Fabrikleitung betrachtete selbst das Verhältnis von 54 % ProduktionsarbeiterInnen gegenüber 46 % Angestellten als Schieflage und unterstellte, dass viele dieser 46 % ihre Arbeit nicht angemessen erledigen würden. Gleichzeitig warnte er: Ich bin dagegen, zwischen Arbeitern und Angestellten eine Kluft zu schaffen. Wir müssen irgendwie bei allen Beschäftigten den Wunsch stärken, diesem Kollektiv anzugehören.48
Für Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Kategorien von Beschäftigten gab es offenbar angesichts der beklagten Überbeschäftigung in Verwaltung und Organisation handfeste Gründe, die der Leiter hier benannte aber gleichzeitig auch abwiegelte. Obwohl ProduktionsarbeiterInnen im Jahr 1972 keine handfesten Konsequenzen wie die Entlassung zu befürchten hatten, konnte ein solches Beschwören der gemeinsamen Fabrikidentität dem Unmut von MitarbeiterInnen in der Produktion sicher nur bedingt Abhilfe schaffen. Sowohl gegenseitiges Misstrauen zwischen Angestellten und ProduktionsarbeiterInnen als auch der unterschiedliche Grad, zu dem sie Kontrolle und Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt waren, hielten sich hartnäckig über die Jahrzehnte.49 Dies illustriert eine Artikelserie in der Fabrikzeitung Zastavas zu Absentismus in der Fabrik im Jahr 1980. In einer Umfrage über ihre Arbeits46 Vgl. ebenda. 47 „Bürokratismus“ diente als flexibles rhetorisches Vehikel gegen unerwünschte
politische und gesellschaftliche Personen, Phänomene und Entwicklungen zu verschiedenen Zeiten des jugoslawischen Sozialismus: gegen das sowjetisch-stalinistische Modell, gegen die unerwünschten Konsequenzen einer marktorientierten Wirtschaft, gegen Unitarismus und Nationalismus sowie im Serbien der späten 1980er Jahre auch zur nationalistischen Mobilisierung: Todor KULJIĆ, Der flexible Feind. Zur Rolle des Antibürokratismus bei der Legitimierung von Titos Selbstverwaltungssystem, Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 10 (2011), H. III, 58–70; BIEBER, Nationalismus in Serbien, 198. 48 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa sednice Radničkog saveta, o.D., 3. 49 Veljko Rus stellte in einer Untersuchung zu 13 jugoslawischen Wirtschaftsbetrieben 1968/9 fest, dass sich 90 % der disziplinarischen Sanktionsmaßnahmen gegen ProduktionsarbeiterInnen richteten: RUS, Odgovornost in moč, 162.
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gewohnheiten, die Gründe für zu frühes Verlassen des Arbeitsplatzes oder ihr Nichterscheinen an den Produktionslinien, verwiesen ProduktionsarbeiterInnen auf die irregulären Produktionsprozesse.50 Gleichzeitig forderten sie, dass der Fokus in der Debatte um niedrige Arbeitsmoral seinen dominanten Bezug auf die Sphäre der Produktionsarbeit ablegen müsse: „Schauen Sie in die Büros“51 lautete die Forderung, die darauf verwies, dass Absentismus auch unter Angestellten herrschte. Die Fabrikzeitung erfüllte hier einerseits ihre disziplinierende Funktion, indem sie im Sinne der Geschäftsleitung „niedrige Arbeitsmoral“ als Problem thematisierte. Andererseits bot sie Raum für die Artikulation verschiedener Perspektiven auf das Problem, indem sie dominante Sichtweisen, die ProduktionsarbeiterInnen seien „undisziplinierter“ als Angestellte, relativierte. Dem Prestige, das die Tätigkeiten von ProduktionsarbeiterInnen einerseits und Angestellten andererseits genossen, wohnte in Bezug auf die Chancen, Arbeit zu finden, ein Paradox inne: Auf der einen Seite war Produktionsarbeit im kommunistischen Gesellschaftsentwurf hoch angesehen. Dies entsprach aber keineswegs der Anziehungskraft, welche sie tatsächlich auf Arbeitssuchende und Beschäftigte ausübte. In bestimmten Abteilungen wie z. B. der Schmiede bei TAM herrschte während der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein ein Mangel an qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen.52 Wer über dieses Berufsprofil verfügte, hatte gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, gerade auch im Vergleich zu Personen ohne oder mit niedriger Fachschulausbildung für Angestelltenberufe. Dies galt insbesondere in Serbien ab den 1970er Jahren auch für bestimmte Berufsprofile der vierjährigen Fachmittelschulbildung (Srb.: „srednja stručna sprema“, Slow.: „srednja strokovna izobrazba“). Blickt man aber auf die Verdienstchancen produzierender und nicht-produzierender Berufe, so erklärt sich die höhere Anziehungskraft von Angestelltentätigkeiten auch daraus: Für Abschlüsse als FacharbeiterIn (Srb.: „kvalifikovan radnik“, Slow.: „kvalificirani delavec“) sowie für eine Fachschulausbildung, die für Angestelltenberufe qualifizierte, mussten Jugendliche auf dem regulären Ausbildungsweg nach der achtjährigen Grundschule drei bis vier Jahre investieren. Für diese etwa gleichwertigen Abschlüsse erzielten Angestellte jedoch höhere Einkünfte, sowohl im jugoslawischen, slowenischen als auch im serbischen Durchschnitt.53 Allerdings galt das für das Verhältnis der Verdienstchancen dieser Bildungsprofile in den Fahrzeugfabriken in Kragujevac in den 1970er und frühen 1980er Jahre nicht. 1971 lag in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik das durchschnittliche Einkommen von FacharbeiterInnen bei 1.070 Dinar, während Beschäftigte mit Fachschulabschluss mit 1.056 Dinar monatlich geringfügig weniger verdienen.54 1984 lagen die durchschnittlichen Einkommen von FacharbeiterInnen in der Zastava-Automobilfabrik mit 14.121 Dinar ebenfalls höher 50 51 52 53 54
Vgl. NIKOLIĆ, Koliko (ne)radimo. Vgl. Koliko (ne)radimo. Vgl. B. M., TOZD Kovačnica. Vgl. SGJ 1968, 479; SGJ 1976, 513. Vgl. Milivoje ILIĆ, U fabrici privrednih vozila. Traže se rešenja za trajnije snabdevanje, Crvena zastava, 23.6.1971, 4.
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als die der Angestellten mit einem ähnlich hohen Bildungsabschluss, die 13.672 Dinar verdienen.55 Trotz dieser zumindest in der Kragujevacer Fabrik geringfügig besseren Verdienstchancen qualifizierter ProduktionsarbeiterInnen war schon in den 1960er Jahren spürbar, dass die Beschäftigungswünsche außerhalb von anstrengender und oft schmutziger Produktionsarbeit lagen und dass Belegschaftsmitglieder häufig von der Produktion in verwaltende oder organisierende Tätigkeiten wechselten.56 So kritisierte bereits 1965 der Vorsitzende des betrieblichen Zweiges der Jugendorganisation bei Zastava, dass körperliche Arbeit im Unternehmen nicht genügend gewürdigt würde. Stattdessen spiele „der Wunsch, eine Krawatte zu tragen“ eine bedeutende Rolle in den Überlegungen junger Männer, ihren Arbeitsplatz in der Produktion mit einem in der Verwaltung zu tauschen.57 Ähnliche Trends in der Beliebtheit verschiedener Tätigkeiten lassen sich in Maribor beobachten, wobei allerdings keine differenzierten Daten zu den Einkommen der verschiedenen Gruppen vorliegen.58 Offenbar konnten weder der ideologische Stellenwert, noch die teilweise besseren Verdienstchancen oder die grundsätzlichen Chancen auf einen Arbeitsplatz genügend Interesse an körperlich anspruchsvoller und unter Umständen gesundheitsschädlicher Produktionsarbeit erzeugen. Diese Entwicklungen, die sich abspielten, obwohl Arbeitslosigkeit zumindest in Serbien ab den 1960er Jahren zu einem ernstzunehmenden gesellschaftlichen Problem wurde, sprachen für die Entwicklung hin zu einer „Mittelklassegesellschaft“, wie sie sich auch in der Struktur der Parteimitglieder niederschlug. Die von der jugoslawischen Industriesoziologie analysierten Machtverhältnisse in den Selbstverwaltungsstrukturen erklären ebenfalls das Defizit an Prestige von Produktionsarbeit. Die Realitäten in jugoslawischen Industriebetrieben waren folglich weit von den ideologischen Vorstellungen entfernt, die ArbeiterInnen als maßgebliche und angesehene GestalterInnen des betrieblichen und gesellschaftlichen Lebens darstellten.
Ehemalige PartisanInnen: „Mutige Kämpfer für die Gegenwart“ – und für eine Betriebswohnung Die Privilegierung von Angestellten, Parteimitgliedern und Beteiligten an der Selbstverwaltung müssen in Bezug auf die offizielle Ideologie des sozialistischen Jugoslawien als ambivalent und mitunter als illegitim eingestuft werden. Demgegenüber war es im jugoslawischen Recht und im Selbstverständnis des Staates fest verankert, VeteranInnen des „Volksbefreiungskampfes“ im Zweiten Weltkrieg sozialpolitisch zu privilegieren und ihnen symbolische Anerkennung zuteil werden zu lassen.59 In den Nachkriegsjahrzehnten stellten die ehemaligen 55 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Informacija o kretanju ličnih dohodaka
OOUR i RZ RO FPV period I–IV 1984. godine, Mai 1984, S. 15–15a. 56 Vgl. J. ŽIVANOVIĆ, Predlozi sa radnog mesta. Inženjeri treba da pružaju stručnu po-
moć radnicima, Crvena zastava, Nr. 107, Februar 1965, 8, S. 16. 57 Vgl. A. R., Tema o kojoj se govori. 58 Vgl. Pepe Volan vas opazuje. 59 Vgl. BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht, 34.
252
PartisanInnen einen Großteil der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten. Ihr Verband SUBNOR/ ZZB NOB, in dem die VeteranInnen organisiert waren, machte gesonderte sozialpolitische Leistungen auch für Familienmitglieder der PartisanInnen zugänglich, die nicht in herausgehobenen gesellschaftlichen Stellungen tätig waren. Über den Verband hatten sie beispielsweise Zugang zu gesondertem Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Ferienheimen, Ausbildungsstipendien und Arbeitsplätzen, welche für sonstige BürgerInnen nicht zugänglich waren.60 So verfügte der Verband in Maribor ab den 1960er Jahren über ein Erholungsheim im nahegelegenen Mittelgebirge Pohorje, über Wohnungen, eine eigene Abteilung im lokalen Gesundheitszentrum sowie über Vertretungen in den lokalen Unternehmen.61 Auf betrieblicher Ebene war zusätzlich zu diesen Vergünstigungen z. B. in den Regularien zur Wohnungsverteilung eine Bevorzugung von ehemaligen PartisanInnen angelegt. AntragstellerInnen wurden nach einem Punktesystem eingestuft, wobei unterschiedliche Kriterien berücksichtigt wurden. Unter anderem brachte die Teilnahme am Kampf der PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg zusätzliche Punkte. Im Jahr 1966 betrug der Status als PartisanIn bei Zastava in der Gewichtung der verschiedenen Faktoren offiziell 14 % und rangierte damit vor sozialen Faktoren wie dem Familieneinkommen (6 %), deren Gesundheitszustand (10 %) und der Gesamtzahl der Familienmitglieder (10 %).62 Die Bedeutung, die bei der Wohnungsvergabe der Vergangenheit als PartisanIn zugeschrieben wurde, nahm in den folgenden Jahrzehnten ab. So betrug die Gewichtung dieses Faktors bei der Wohnungszuteilung im Betriebsteil Mechanische Fertigung der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1980 nur noch maximal 2 %.63 Am anderen Ende des Landes, in der Entwicklungsabteilung bei TAM in Maribor, konnte die Teilnahme am Kampf der PartisanInnen 1982 noch maximal 5 % der verfügbaren Punkte bei der Wohnungsvergabe ausmachen.64 Eine vermeintliche oder tatsächliche PartisanInnenbiografie musste allerdings nicht automatisch zu einer Privilegierung führen. Vieles spricht dafür, dass sich die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie stärker auswirkte, wenn sie mit anderen Kategorien der Privilegierung zusammenwirkte. Wie im eingangs zitierten Brief des Transportarbeiters Dragomir M. an den Arbeiterrat Zastavas, haftete den Beteuerungen der niedrig Qualifizierten bei ihren Versuchen, auf die 60 Vgl. WOODWARD, Socialist Unemployment, 302; S.F., Dizpanzer za borce tudi pri
61
62 63 64
nas, Dogovori, 23.10.1973, 14; Franci STRLE, Za lepše letovanje v Banjaloh, Dogovori, 23.10.1973, 14; SI-PAM, f. 1378: Občinski odbor Zveze združenj borcev narodnoosvobodilne vojne Maribor, 1955–1997. Vgl. ebenda; SI-PAM, f. 1376: Občinski odbor Zveze združenj borcev narodnoosvobodilne vojne Maribor Tezno, 1965–1990; Razvojna pot zdravstvenega doma dr. Adolfa Drolca Maribor, unter , 7.5.2015. Vgl. LAĐARSKI, Sistem analitične procene za raspodelu. Vgl. ZCZ-FPV, Norm. akta OOUR MO FPV, 1980: Pravilnik o rešavanju stambenih pitanja radnika OOUR-a „Mehanička obrada FPV“, 27.06.1980, S. 32–39. Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 656: SI-PAM, f. 0990, šk. 656, 8–13.
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betriebliche Wohnungsverteilung Einfluss zu nehmen, etwas Verzweifeltes an.65 Die zentrale Bedeutung, die dem Kult um den „Volksbefreiungskampf“ in der Legitimierung kommunistischer Herrschaft in Jugoslawien zukam, veranlasste ArbeiterInnen, in ihren Bittschreiben an AmtsträgerInnen und Selbstverwaltungsgremien ihren Anliegen auf diese Weise Nachdruck zu verleihen. So erwähnten 1967 etliche AntragstellerInnen auf Arbeitslosenhilfe in Maribor den eigenen VeteranInnenstatus oder den ihrer Familienmitglieder.66 Diese Stellung half ihnen offenbar nicht dabei, gar nicht erst von Entlassungen betroffen zu sein, denn sonst hätten sie die oft als sehr gravierend geschilderten sozialen Umstände nicht gezwungen, überhaupt Arbeitslosenbeihilfe zu beantragen. Um ihrem Anliegen nach einer Wohnung vor dem Verwaltungsausschuss der Zastava-Werke Nachdruck zu verleihen, goss Ljubica J., Erzieherin im Werkskindergarten, die Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg in beinahe literarische Form. Unter szenischer Ausgestaltung des heldenhaften Widerstands ihres Vaters und der Brüder verband sie in stark emotionalisierter Weise die Verdienste der Familie mit ihren sozialen Forderungen des Jahres 1964: Schon zwanzig Jahre lang leben wir in unserem friedlichen Sozialismus und für den heutigen Frieden haben mein Vater und Bruder mutig ihr Leben gegeben […]. Ich bitte um eine Einraumwohnung für uns acht Familienmitglieder – acht mutige Kämpfer für die Gegenwart.67
Ljubica J.s Beharren und ihr Appell an geltende ideologische und moralisch stark aufgeladene Werte der Zeit waren von Erfolg gekrönt. Vom 124. Platz der Rangliste in der Wohnungsvergabe verschob sie der Arbeiterrat auf den 18. Platz, den vorher ein Mitarbeiter eingenommen hatte, der aus dem Unternehmen ausschied. Ihr Familienhintergrund und die eigene Aktivität in der Bewegung der PartisanInnen nannte das Gremium neben ihrem Gesundheitszustand und ihrer schwierigen materiellen Situation ausdrücklich als Grund für diese Entscheidung. Bis zu diesem Moment hatte die Erzieherin jedoch vierzehn Jahre lang Anträge gestellt und mit ihrer Familie unter beengten Verhältnissen in einem Raum im werkseigenen Kindergarten leben müssen. Dies zeugt davon, dass allein ihre Herkunft aus einer Familie, die aktiv am „Volksbefreiungskampf“ beteiligt gewesen war, kein Garant für die Lösung alltäglicher Probleme war. Ein weiterer Arbeiter, Svetislav Gajić, der 1971 schon zehn Jahre lang bei Zastava arbeitete, versuchte bereits sieben Jahre lang, seinem bis dahin aussichtslosen Wohnungsantrag mit einem Leserbrief an die Fabrikzeitung Nachdruck zu verleihen. Vor allem auf seine Herkunft und die Krankheit seines Kindes setzte er bei diesem öffentlichen Appell Hoffnungen: Meine Eltern haben ich früh verloren: Mein Vater ist als Kämpfer im Volksbefreiungskampf 1943 ums Leben gekommen und meine Mutter ist vier Jahre später ge65 Vgl. ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–1967: Žalba, 22.08.1966. 66 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 18: Prošnje članov sindikata. 67 ZCZ-CA, RS DPJ, 1965–67: Molba, Upravnom odboru zavodi „Crvena zastava“,
04.08.1964.
254 storben. Nach ihrem Tod wurde ich in einem Heim für Kinder gefallener Kämpfer aufgenommen, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe und in dem 1958 ich meine handwerkliche Ausbildung beendet habe. […] Sollte man nicht dem Kind eines gefallenen Kämpfers mit verlorener Kindheit und einem Steppke von drei Jahren, einem Invaliden ohne Auge etwas normalere Lebensumstände, als sie es jetzt sind, ermöglichen; und gibt es denn keine humanen Menschen, die mir das bieten können, was man ein Dach über dem Kopf nennt?68
Was aus dem Hilferuf wurde, muss offen bleiben. Deutlich wird jedoch, dass Gajić wohl in Ermangelung anderer Argumente oder gar Druckmittel den Verweis auf den Tod des Vaters im „Volksbefreiungskampf“ stark hervorhob, um Solidarität zu erfahren. Die Erfolgsaussichten dieser Strategie dürfte mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Zweiten Weltkrieg nachgelassen haben. Eine Durchsicht der Anträge auf Wohnungen sowie der Einsprüche derer, die in der Polsterei der Zastavas-Nutzfahrzeugfabrik 1977 keinen betrieblichen Wohnraum zugesprochen bekommen hatten, bestätigt diese Annahme.69
Fazit Es ist deutlich geworden, dass ideologische, soziale und wirtschaftliche Faktoren beeinflussten, welche im Sozialgefüge der Fabriken Relevanz die Zugehörigkeit zur Gruppe der manuellen ArbeiterInnen oder Angestellten hatte. Zum einen legitimierte die Partei ihren Herrschaftsanspruch damit, die Arbeiterklasse von kapitalistischer und jeder anderen Art von Ausbeutung zu befreien, was in Jugoslawien zusätzlich durch die partizipative Betriebsverfassung untermauert wurde. Diese Bedeutung fand sich anssatzweise in der symbolischen und auch materiellen Wertschätzung von Produktionsarbeit wieder, die sich unter anderem in der staatlichen, auf die ArbeiterInnen ausgelegten Sozialpolitik manifestierte. In Partei und Selbstverwaltung jedoch verfestigten sich mit den Jahren hierarchische Einflussverteilungen entlang der Trennlinie zwischen körperlicher und geistiger Arbeit immer mehr. Gleichzeitig hielt das Prinzip der „Verteilung gemäß der Arbeit“ in der Praxis Fragen nach der Bemessung von Tätigkeiten in Produktion und Verwaltung dauerhaft offen, anstatt sie zu lösen. Damit einhergehend büßte Fabrikarbeit schon ab den 1960er Jahren einiges an Attraktivität ein, auch wenn dort in einigen Segmenten der Produktion Chancen auf Arbeitsplätze und vergleichsweise gute Bezahlung zu erwarten waren. Neben schwerer Arbeit in der Produktion sprachen wohl auch die Machtverhältnisse in Partei und Selbstverwaltung eher für eine Orientierung der nachfolgenden Generationen in Richtung Angestellten- und Dienstleistungsberufe. Im Gegensatz zu Parteimitgliedschaft und der Mitwirkung in der Selbstverwaltung wurde der soziale Status von Beschäftigten in der Produktion oder der Verwaltung und die damit einhergehenden materiellen Verhältnisse, symbolische Anerkennung sowie die wechselseitigen Zuschreibungen häufig themati68 Svetislav GAJIĆ, Pisma čitalaca. Ko će da mi pomogne?, Crvena zastava, 28.7.1971,
8. 69 Vgl. ZCZ-FPV, Stamb. probl. Tap., 1977: Stambena problematika OOUR Tapacirni-
ca.
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siert. Öffentlich demonstrierte Kritik an Angestellten und die Wertschätzung körperlicher Arbeit erfüllten dabei häufig eher die Funktion, die kommunistische Herrschaft zu legitimieren. Ihre Überführung in eine soziale Praxis, die sich strukturell auf die Angleichung der Lebensbedingungen der Beschäftigten hätte auswirken können, verblieb in vielen Fällen auf niedriger Ebene. Die in Jugoslawien legitime Privilegierung ehemaliger PartisanInnen wirkte sich für Viele, insbesondere in den ersten Jahren nach Kriegsende merklich positiv aus. Allerdings bedeutete die Zugehörigkeit zu einer PartisanInnenfamilie nicht zwangsläufig für alle Zugang zu sozialen Leistungen wie etwa zu äußerst knappem Wohnraum. Vielmehr war das Zusammentreffen mehrerer privilegierend wirkender Kategorien ausschlaggebend. Fälle aus den untersuchten Fabriken, in denen neben der Vergangenheit als PartisanIn keine solche Faktoren auf Beschäftigte zutrafen, zeigen dies. Wendet man den Blick auf die sozialen Differenzierungen innerhalb des Produktionsbereichs, so ergeben sich weitere Formen von Privilegierung und Benachteiligung. Die Untersuchung der Heterogenität dieser Gruppe steht in den folgenden Kapiteln 6.2. bis 6.5. im Zentrum.
6.2. Qualifikation/ Beruf: Un- und Angelernte, qualifizierte MetallarbeiterInnen Im offenen Brief an die gesamte Parteimitgliedschaft vom Oktober 1972 („Titos Brief“) erkannten Josip Broz Tito und Stane Dolanc im Namen der Spitze des Bundes der Kommunisten an, dass das Phänomen der Armut im sozialistischen Jugoslawien existierte: Der Bund der Kommunisten und alle organisierten sozialistischen Kräfte müssen energisch jede Entwicklung im alltäglichen Leben unterdrücken und unterbinden, die zur Schichtung der Gesellschaft in Arme und Reiche führt. Es bedarf einer organisierten und breiten Aktion zur Beseitigung der Bereicherungsquellen, der Möglichkeiten zur Erwerbung von Einkommen ohne Arbeit, beziehungsweise ohne entsprechenden Arbeitsaufwand, in der die Kommunisten mit gutem Beispiel voran gehen müssen.70
Broz und Dolanc identifizierten individuelles Fehlverhalten als Ursache für Armut in Jugoslawien. Dagegen verschwiegen sie strukturell ausgeprägte Zustände, die das teilliberalisierte und selbstverwaltete Wirtschaftssystem hervorgebracht hatte. Dennoch war die Aufmerksamkeit für die soziale Problematik, von der neben Arbeitslosen und der ländlichen Bevölkerung vor allem niedrig Qualifizierte betroffen waren, an so herausgehobener Stelle bemerkenswert. Die soziale Differenzierung innerhalb der ArbeiterInnenschaft in Industriebetrieben hing unter anderem vom Qualifikationsniveau aber auch vom Status unterschiedlicher Produktionsberufe ab. Diese wirkte sich sowohl auf die Vergütung, den Zugang zu unterschiedlichen Sozialleistungen, die Teilhabe an der Selbstverwaltung als auch auf ihre symbolische Anerkennung aus. Grundsätz70 DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums, 116.
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lich galten die Einkommensspannen zwischen höchsten und niedrigsten Einkommen in Jugoslawien als gering. Allerdings täuschte dies über die sehr ungleiche Zugänglichkeit von Zahlungen wie Spesen, Prämien und die Gewährung betrieblicher Sozialleistungen hinweg.71 Sowohl die sozialen Auswirkungen niedriger Qualifikation als auch die Art, wie sie in den Betrieben und auf höherer politischer Ebene thematisiert wurden, sollen in diesem Abschnitt im Vordergrund stehen. Das Berufsprofil qualifizierter ProduktionsarbeiterInnen als sozialer Differenzierungsfaktor stellt dabei einen Nebenaspekt dar, dessen Einfluss auf die kollektive Nutzung von Instrumenten der Selbstverwaltung das Kapitel 4.1.1. bereits behandelt. Der Fokus liegt hier darauf, auf welche Weise die Tatsache prekärer Lebensumstände vieler Niedrig- und Unqualifizierter verhandelt wurde. Dass der Einfluss Un- und Angelernter in Partei, Massenorganisationen und der Selbstverwaltung gering war, kann man gerade im Hinblick auf die Partizipationsmöglichkeiten von ProduktionsarbeiterInnen insgesamt annehmen (siehe Kapitel 6.1.).72 Die AkteurInnen in den besagten Strukturen thematisieren dies kaum, was angesichts der Unterrepräsentation von ArbeiterInnen in ihnen insgesamt nicht verwundert. Neben der niedrigen Repräsentation in den Selbstverwaltungsgremien wirkte bei den niedrig Qualifizierten noch ein weiterer Faktor, der ProduktionsarbeiterInnen insgesamt betraf. Disziplinierungsbestrebungen in der Fabrik bezogen sich häufig auf die niedrig Qualifizierten. In seiner Studie „Verantwortlichkeit und Macht in Arbeitsorganisationen“ von 1972 attestierte der slowenische Organisationssoziologe Veljko Rus den „mojstrov in delovodij“ (Meistern und Werkmeistern) in der Produktion große Macht über die ihnen unterstellten ArbeiterInnen.73 Seine Erhebung in dreizehn jugoslawischen Industrieunternehmen unterschiedlicher Branchen in den Jahren 1968-69 zeigte, dass 90 % der betrieblichen Disziplinarverfahren gegen ProduktionsarbeiterInnen in Gang gesetzt worden waren, davon allein 57 % gegen Un- und Angelernte. In 70 % der Fälle hatten Personen der unteren Leitungsebene die Disziplinarverfahren initiiert, wobei besonders in Unternehmen mit großer Machtfülle der „Meister und Werkmeister“ viel sanktioniert wurde. Selbstverwaltung in den Unternehmen hatte hier also keine grundlegende Veränderung in Machtverhältnissen in der Produktionssphäre gebracht. In dem Sinne, wie es Rus kritisierte, sprachen Artikel in der Fabrikzeitung in Kragujevac 1977 von den niedrig Qualifizierten als problematische Gruppe: Vor allem sie würden die Arbeitsdisziplin besonders häufig verletzen, wobei dem Attribut „ungelernt“ noch das Attribut „jung“ hinzugefügt wurde.74 In den 71 Vgl. VUŠKOVIĆ, Social Inequality, 33–34, 37; EGER / WEISE, EGER et al., Arbeitskräfte-
allokation, 92. 72 In den drei von Wolfgang Soergel in den 1970er Jahren untersuchten Fabriken in
Kranj/ Slowenien, Split/ Kroatien und Skopje/ Mazedonien waren un- und angelernte ArbeiterInnen in den Selbstverwaltungsorganen nicht vertreten: SOERGEL, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus, 115, 209, 292. 73 RUS, Odgovornost in moč, 162–164. 74 Vgl. Z. Ž., Veća pažnja radnoj diciplini, Crvena zastava, 5.10.1977, 7.
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Unterlagen der Disziplinarkommissionen der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik (siehe Kapitel 5.1.) ist ebenfalls deutlich erkennbar, dass sie überdurchschnittlich häufig gegen ProduktionsarbeiterInnen vorgingen. In einem Bericht von 1983 bemängelte die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle sogar, dass 95 % derjenigen, die in den Zastava-Werken disziplinarisch belangt wurden, Un- und Angelernte waren.75 Das Gremium forderte, auch MitarbeiterInnen mit höheren Qualifikationen und auf verantwortlichen Posten sollten stärker disziplinarisch belangt werden. Diese Forderung erklärt sich aus der angespannten wirtschaftlichen Situation der frühen 1980er Jahre, in der die Betriebe Wege suchten, gegen interne Unzulänglichkeiten im Produktionsprozess vorzugehen. In dieser Situation war man offenbar bereit, in der Fabrik herrschende Machtverhältnisse zu reflektieren. Im Zentrum der Diskussionen über niedrig Qualifizierte standen jedoch nicht so sehr ihre untergeordnete hierarchische Stellung im Betrieb oder ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse. Es waren ihre Einkommenshöhen und ihre daran geknüpfte kritische soziale Lage. Die Einkommen der niedrig Qualifizierten befanden sich, verschärft durch die Folgen der raschen Urbanisierung, Arbeitslosigkeit und andere Faktoren auf teilweise so niedrigem Niveau, dass diese ArbeiterInnen ihre Grundbedürfnisse nach Wohnraum, Essen, Kleidung, Bildung und Erholung nur schwer befriedigen konnten. In vielen Überlegungen der Zeit zu diesem Problem schwang folgende Frage mit: Mit welchen Mitteln sei das materielle Auskommen der gering Qualifizierten mit niedrigem zu sichern? Mithilfe der Selbstverwaltungsmechanismen, die ausreichend hohe Löhne festsetzten und soziale Umverteilung innerhalb der Unternehmen sichern sollten oder durch sozialstaatliche Instrumente, in Form von Sozialleistungen und Mindestlöhnen. Sollte also allein die Selbstverwaltung oder das ordnende Eingreifen des Staates sozialen Ausgleich und Lebensbedingungen auch für niedrig qualifizierte IndustriearbeiterInnen schaffen, die man für einem sozialistischen Staat angemessen hielt?76 Diskussionen darüber auf Betriebsebene und auf höherer staatlicher Ebene stehen hier im Mittelpunkt.
Un- und Angelernte bei Zastava und TAM – Statistisches Will man den Anteil der niedrig qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen bei TAM und Zastava in Zahlen ausdrücken und seine Entwicklung darstellen, so trifft man auf verschiedene Kategorien, die diese Gruppe repräsentieren. Einige Betriebsstatistiken erfassten die Bildungsabschlüsse ihrer Beschäftigten, andere die Qualifizierungsstufen, die sich gerade in den unteren Kategorien nur teilweise entsprechen und nur bedingt präzise sind.
75 Vgl. ZCZ-CA, SRK ZCZ, 1983: Zapisnik sa 17. sednice, 11.04.1983, 7. 76 ŠEFER, Osvnove i okviri.
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Tabelle 5: Bildungsabschlüsse und Qualifikationsgrade von ProduktionsarbeiterInnen. formaler Bildungsabschluss (Srb./ Slow.)
Qualifikationssgrad (Srb./ Slow.)
Dauer begonnene oder abgeschlossene Grundschule (osnovna škola/ šola)
Berufsschule (obrtnička, stručna škola, škola za učenike u privredi/ poklicna, obrtna šola) berufsbegleitende Meisterausbildung (majstorska škola/ delovodska šola)
bis 8 Jahre
ungelernt (nekvalifikovanA/ nekvalificirnanA = NK) angelernt (polukvalifikovanA/ polkvalificiranA = PK)
2-3 Jahre
2 Jahre
qualifiziert/ FacharbeiterIn (kvalifikovanA/ kvalificiranA = KV oder KR) hoch qualifiziert (visokokvalifikovanA/ visokokvalificiranA = VKV)
Darüber hinaus sagte der Bildungsabschluss oder Qualifikationsgrad noch nichts darüber aus, auf welcher Art Arbeitsplatz jemand arbeitete. So kam es z. B. in Kragujevac in den frühen 1960er Jahren nach einem Ausbau der Produktionskapazitäten dazu, dass nicht genügend Qualifizierte für die entstandenen Arbeitsplätze zur Verfügung standen, sodass ArbeiterInnen mit niedrigeren formalen Abschlüssen Arbeiten verrichteten, für die höhere Fachqualifikationen vorgesehen waren. Umgekehrt waren Personen, die über Qualifikationen verfügten unter Umständen mit einem Arbeitskräfteüberschuss in ihrem Berufssegment konfrontiert. Insbesondere wenn gleichzeitig ein Arbeitskräftemangel für Un- und Angelernte in anderen Tätigkeitsprofilen herrschte, mussten Qualifizierte Kompromisse eingehen und in Positionen arbeiten, die nur niedrige Qualifikationen erforderten – und auf denen sie auch dementsprechend niedrig vergütet wurden. Im Laufe der Jahrzehnte veränderte sich die Qualifikationsstruktur der Belegschaft sowohl bei TAM als auch bei Zastava in Richtung höherer Bildungsabschlüsse bei allen Beschäftigten, was europäischen Trends der Zeit entspricht.77 Für TAM bedeutete dies, dass der Anteil von Beschäftigten, die nur die Grund77 Siehe für beide Teile des geteilten Deutschland 1945–1990: Rainer GEISSLER, Die
Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur sozialstrukturellen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland. Opladen 1992, 141–153.
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schule absolviert hatten, zwischen 1950 und 1985 von 79,2 % der Belegschaft (2.316 Personen) auf 38,2 % (2.970 Personen) sank. Ob die so erfassten MitarbeiterInnen die Grundschule auch beendet hatten oder unabhängig davon noch einen mehrwöchigen/ mehrmonatigen betrieblichen Fachkurs zur Erlangung des Status „angelernt“ (Srb.: „polukvalifikovan/a“; Slow.: „polkvalificiran/a = PK“) besucht hatten, geht aus dieser Erhebung nicht hervor. Der Anteil von Qualifizierten, die eine dreijährige berufliche Ausbildung genossen hatten, erhöhte sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in einem beachtlichen Schritt von 17,5 % auf 34,9 %. Bis 1985 veränderte sich diese Quote dann nur minimal.78 Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM 1950–1985 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 0,00%
20,00%
40,00%
60,00%
80,00%
100,00%
Anteil TAM-Belegschaft
Grundschule (>8 J.) Mittelschule (4 J.) Magister
Berufsschule (3 J.) Höhere Bildung (2 oder 4 J.) Promotion
Abbildung 11: Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM1950–1985, Quelle: IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S.
Die Situation von TAM mit der Zastavas zu vergleichen ist schwierig, da für die Kragujevacer Fabrik nur fragmentarische Daten vorliegen, die sich teilweise nur auf einzelne Unternehmensteile beziehen. Dies ist insofern problematisch, als einzelne Unternehmensteile wie die Autofabrik und nach 1969 die aus ihr heraus gegründete Nutzfahrzeugfabrik bestimmte administrative Tätigkeiten auf nächst höherer Ebene des Betriebs erledigen ließen. Obwohl streng genommen nicht einmal die Autofabrik 1965 der Nutzfahrzeugfabrik 1976 gegenübergestellt werden kann, lassen sich auch hier Trends in Richtung einer sich verbessernden 78 Vgl. IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S.
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Qualifizierungsstruktur erkennen. So waren 1965 in der Zastava-Autofabrik 46,3 % Un- und Angelernte beschäftigt, während 37,0 % qualifiziert oder hoch qualifiziert waren. In der Nutzfahrzeugfabrik hatte sich der Anteil der niedrigsten Qualifikationsstufen 1976 auf 36,1 % verringert, während der Anteil der Qualifizierten und hoch Qualifizierten auf 51,4 % gestiegen war.79 Tabelle 6: Qualifikationsniveaus ProduktionsarbeiterInnen bei Zastava 1965, 1976, 1985.80 Betriebsteil Zastava
Un- und Angelernte
Qualifizierte FacharbeiterInnen
Autofabrik 1965
46,3 % = 2.180 Personen
37,0 % = 1.741 Personen
Nutzfahrzeugfabrik 1976
36,0 % = 722 Personen
51,4 % = 1.017 Personen
Gesamtbetrieb Zavodi 27,3 % = 14.374 Personen Crvena zastava 1985 Zahlen, die sich auf das gesamte Unternehmen Zastava in und außerhalb von Kragujevac beziehen, sprachen für 1985 von 27,3 % der Un- und Angelernten. Ihnen standen im Gesamtbetrieb 40,4 % oder 21.238 Qualifizierte oder hoch Qualifizierte gegenüber.81 Die Auto- und die Nutzfahrzeugfabrik Zastavas existierten ab 1969 separat voneinander und machten zwar einen großen, aber dennoch nur einen Teil der Zastava-Werke aus. Hält man sich dies vor Augen, so wird deutlich, dass es sich bei den Un- und Angelernten in den ZastavaFahrzeugfabriken um mengenmäßig keinesfalls marginale mehrere tausend Personen handelte.
Hierarchien der produzierenden Berufe Je nachdem in welchem Beruf und in welchem Bereich der Produktion ArbeiterInnen tätig waren, verfügten sie über unterschiedliches Prestige und oft damit einhergehend über verschiedene Verdienstchancen. Im Falle TAMs lassen sich diese Hierarchien gut beobachten, die nicht nur für die sozialistische metallverarbeitende Industrie als charakteristisch gelten können. Am oberen Ende des Spektrums standen Abteilungen wie die Werkzeugmacherei, in der Maschinenteile hergestellt wurden, deren Vorhandensein die grundlegenden Voraussetzungen für die Produktion in anderen Betriebsteilen schufen. Die hier Beschäftigten stellten mit ihren Tätigkeiten, die an der Schnittstelle zwischen Produktion und Entwicklung standen, die Elite unter den ProduktionsarbeiterInnen dar. 79 ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Izveštaj o radu Sektora za kadrove za 1965. godi-
nu, S. 5; ZCZ-FPV, RS, 1976: Analiza planskih zadataka 1975, 21. 80 Berechnet nach ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Izveštaj o radu Sektora za, 5; ZCZ-
FPV, RS, 1976: Analiza planskih zadataka 1975, 21; Zastava danas 1986, 22. 81 Ebenda.
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Ihre Arbeit in der Werkzeugmacherei, in der 1976 4,5 % der Gesamtbelegschaft beschäftigt war, kennzeichnete eine relative Autonomie in den Arbeitsabläufen, was sie stark von Abteilungen wie der Mechanischen Fertigung unterschied. Dort, in der größten Abteilung bei TAM, die 1976 1.046 Menschen oder 16 % der Gesamtbelegschaft beschäftigte, arbeiteten überwiegend niedrig Qualifizierte.82 Ihre Arbeit bestand im Gegensatz zur Werkzeugmacherei in den einförmigen und repetitiven Tätigkeiten des Bohrens, Fräsens und Drehens. Darauf, wie sich diese Hierarchie auf die Verhandlungsposition um Einkommen in den Selbstverwaltungsstrukturen auswirkte, geht Kapitel 4.1.1. näher ein. Doch nicht nur zwischen den hoch qualifizierten Beschäftigten in der Werkzeugmacherei und anderen Metallberufen bestand eine soziale Hierarchie. Der Elektriker Ivan Jesenović, der bei TAM allerdings als Lackierer arbeitete, wurde mit anderen Beschäftigten seiner Abteilung 1966 für die Betriebszeitung interviewt. Er beklagte sich: „Die Metallarbeiter [Slow.: „kovinari“] beanspruchen tatsächlich höhere Löhne als andere hier bei uns, die nicht in Metallberufen arbeiten.“83 Er selbst sei mit attraktiven Verdienstangeboten in die unbeliebte Lackiererei mit ihren gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen und dem niedrigen Verdienst gelockt worden. Enttäuscht stellte er fest, dass sich seine Wünsche nach höherem Verdienst nicht erfüllt hatten. Solche im Betriebsalltag bestehenden Statusunterschiede zwischen den Berufsgruppen förderte die staatliche Symbolpolitik darüber hinaus noch. Ähnlich wie in anderen kommunistisch geführten Ländern fügte man auch in Jugoslawien für einzelne Berufsgruppen Ehrentage im staatlichen Festtagskalender ein.84 So wurde 1977 der 10. Oktober zum „Dan metalaca“ (Srb.) bzw. „Dan kovinarjev“ (Slow.) erklärt, um Beschäftigte in Metallberufen zu würdigen. Die Gewerkschaft wählte das Datum, an dem Josip Broz Tito 1910 der seinerzeit illegal in der k. u. k. Monarchie gegründeten Gewerkschaft für Metallberufe Kroatiens und Slawoniens beigetreten sein soll.85 Die Politik der Gewerkschaft muss hier einerseits als Element des Personenkultes um Tito und die Metallberufe, die für die Arbeiterbewegung bedeutsam waren, angesehen werden. Andererseits fungierte die Maßnahme dazu, unbeliebt gewordene aber in der Industrie nachgefragte Berufe symbolisch aufzuwerten. Auch Arbeitswettbewerbe huldigten dem Berufsethos dieser stark männlich geprägten Domäne. Sportwettkämpfen ähnliche Wettbewerbe wie die zu Ende der 1960er Jahre eingeführten „Schmiedespiele Sloweniens“ (Slow.: „Kovaške igre Slovenije“) verweisen ähnlich wie der „Tag der Schmiede“ auf die widersprüchliche Stellung, die dieser stark handwerklich geprägte Metallberuf einnahm.86 Einerseits genoss er in der Hierarchie der Produktionsberufe als einer, SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 13. PERLIČ, Predstavljamo vam lakirnico 01.09.1966, 8. Zu Bulgarien vgl. PETROV, Sozialistische Arbeitsfeiern im Betrieb. Vgl. SI-AS, f. 1435, šk. 21: Predlog o proglasitvi Dneva kovinarjev Jugoslavije, Ljubljana, 01.07.1977, S. 1. 86 Vgl. 17. kovaške igre Slovenije; 17. Kovaške igre Slovenije, Skozi TAM, 28.9.1984, 4f. 82 83 84 85
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der viel Erfahrung und Geschicklichkeit erforderte, einen hohen Status, der zu solchen Gelegenheiten hervorgehoben wurde. Zum anderen waren körperlich anstrengende und schmutzige Tätigkeiten wie in der Schmiede spätestens in den frühen 1980er Jahren aus der Liste der Berufswünsche junger Männer beinahe verschwunden. Ernsthafte Nachwuchsprobleme, die öffentlichen Klagen darüber sowie vergeblich eingerichtete Anreizsysteme zeugen davon, dass bei TAM trotz der so ausführlich in der Fabrikzeitung besprochenen „Schmiedespiele“ die Arbeitsplätze in der Schmiede aufgrund von Nachwuchsproblemen kaum mehr besetzt werden konnten.87 Ungeachtet der Misserfolge dieser Bemühungen rief diese ideologisch motivierte Anerkennung und ökonomisch notwendige Förderung einzelner Berufsgruppen Frustrationen bei Beschäftigten hierarchisch niedriger gewerteter Produktionsberufe hervor.
Niedrig Qualifizierte als Sozialfälle Konjunkturen der Wahrnehmung und der Sozialpolitik Neben den Statusdifferenzen zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen waren es vor allem die Einkommensdifferenzen und Lebensbedingungen, die Beachtung in Betrieben, Massenorganisationen und staatlicher Regulierungspolitik fanden. Niedrig Qualifizierte, deren Existenz prekär war, wurden im offiziellen Sprachgebrauch als „ArbeiterInnen mit den niedrigsten Einkommen“88 oder als „sozial gefährdet“89 bezeichnet. Der Umgang mit dieser Gruppe sollte einerseits durch die Selbstverwaltung der Betriebe unter Wahrung innerbetrieblicher Solidarität geregelt werden. Andererseits war staatliche sozialpolitische Regulierung z. B. in der Verfassung von 1963 angelegt. Die Art und Weise, auf die die niedrigen Einkommen thematisiert wurden, veränderte sich im Laufe der Zeit mehrmals, insbesondere am Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren und in den beginnenden 1980er Jahren. In der jugoslawischen Bundesverfassung von 1963 war einerseits das Prinzip der „Verteilung entsprechend der geleisteten Arbeit“ angelegt. Andererseits galt das Verteilungskriterium der „Resultate der Arbeit“, also der Produktivität Einzelner und des Unternehmens sowie darüber hinaus der Grundsatz betrieblicher Solidarität.90 In diesen Prinzipien drückte sich sowohl die Abhängigkeit der Einkommen vom Erfolg des Unternehmens aus als auch die Forderung nach sozialer Umverteilung innerhalb eines Betriebes aus. Beide fielen in den Verantwortungsbereich der betrieblichen Selbstverwaltung. Soziale Umverteilung wurde bereits in den 1960er Jahren praktiziert, indem bestimmte betriebliche Sozialleistungen, ausschließlich Beschäftigten unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen zugänglich waren. So bezuschussten die Unternehmen Kindergar87 Vgl. B. M., TOZD Kovačnica. 88 Srb.: „radnici sa najnižim primanjima“, Slow.: „delavce s najnižimi osebnimi do-
hodki“. 89 Slow./ Srb.: „socialno/socijalno ogrožen“. 90 Vgl. Grundprinzipien in Kap. II der Verfassung und Artikel 12: Die Verfassung der
SFRJ 1963, 5–6, 18.
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tenplätze, Urlaubsfahrten und Kantinenessen nach sozialen Kriterien. Soziale Kategorien überlagerten sich dabei auch mit dem Anspruch, Menschen, die an schweren und gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen tätig waren, zusätzliche betriebliche Sozialleistungen zugänglich zu machen.91 Die Gewerkschaftsorganisationen in den Fabriken waren in ihre Verteilung einbezogen. In Kragujevac bekundete z. B. die Gewerkschaft 1965 öffentlich ihre Schutzfunktion gegenüber ArbeiterInnen mit besonders gesundheitsschädlicher Arbeit. Dabei klang sehr leise an, dass Löhne aus Industriearbeit in den Betrieben in gesellschaftlichem Eigentum nicht in allen Fällen ein Auskommen ermöglichten.92 Andere Elemente sozialer Fürsorge, vor allem die Vergabe betrieblichen Wohnraums, wirkten dagegen eher als Instrumente, die Personal mit stark nachgefragten und auf dem Arbeitsmarkt knappen Berufsprofilen für die Unternehmen interessieren und diese an sie binden sollte (siehe Kapitel 5.3.). Sowohl in der Fürsorge für niedrig verdienende Beschäftigte als auch in Sachen Wohnungsvergabe war es weitgehend den Selbstverwaltungsgremien in den Betrieben überlassen, nach welchen Maßgaben und in welchem Umfang sie Leistungen vergaben. In Artikel 37 der Verfassung von 1963 drückte sich gegenüber diesen Autonomiespielräumen der Betriebe ein staatlicher Regulierungsanspruch aus. Er schrieb neben der neu eingeführten 42-Stunden-Woche, einem Mindestmaß an Arbeitsschutz besonders für Jugendliche, Frauen und InvalidInnen auch den Anspruch auf einen gesetzlichen Minimallohn fest.93 Lohnhöhen und Lebensbedingungen von niedrig qualifizierten ArbeiterInnen, die in den 1960er Jahren noch zahlreicher in den Betrieben beschäftigt waren als in späteren Jahrzehnten, überließ die Bundespolitik demnach nicht vollständig der Selbstverwaltung. Einen Minimallohn per Gesetz festzulegen spricht dafür, dass sich die Staatsführung der Existenz von Löhnen, die Grundbedürfnisse nur schwer befriedigen konnten, bewusst war. Dies war der Fall noch bevor die Reformen von 1965 die Bedingungen für das Wirtschaften der Unternehmen stärker liberalisierten, was für ProduktionsarbeiterInnen mit erheblich unsicherer werdenden Einkommen oder auch dem Verlust des Arbeitsplatzes einherging. Bis 1968 fand die soziale Problematik der niedrigsten Einkommenskategorien und auch die Frage nach Minimallöhnen in den Betriebsöffentlichkeiten jedoch kaum Beachtung.
91 Vgl. U obdaništu i samačkoj zgradi. Nove cene, Crvena zastava, Nr. 108, März
1965, 11; J. NEŠKOVIĆ, Koliko koga regresirati, Crvena zastava, Nr. 110, April 1965, 11; Miniaturna anketa. (Kako deliti sredstva K15?), Skozi TAM, März 1966, 5; M. JOVIČIĆ, Na godišnji odmor ipak, sa regresom?, Crvena zastava, 6.3.1968, 2; J. ŽIVANOVIĆ, Fabrike predložile radnike za besplatan topli obrok, 11.12.1968, 9. 92 Iz sindikalnog odbora 01.03.1965, 3. 93 Vgl. Die Verfassung der SFRJ 1963, 28.
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1968/71 als Wendepunkt: „Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verbessern“ als offizielles Politikziel Die ausgehenden 1960er und frühen 1970er Jahre brachten einen Wandel hin zur stärkeren Wahrnehmung und öffentlichen Thematisierung sozialer Benachteiligung, von der insbesondere niedrig Qualifizierte betroffen waren. Die Revolte der Studierenden 1968, theoretisch unterfüttert von der Gesellschaftskritik der Praxis-Gruppe, sowie die Abweichungsbestrebungen in den Parteispitzen einzelner Republiken am Beginn der 1970er Jahre destabilisierten Jugoslawien innenpolitisch in erheblichem Maße. Sowohl die Reflexionen der Praxis-Gruppe als auch die Proteste der StudentInnen bemängelten die Kluft zwischen dem emanzipativen Anspruch der Selbstverwaltung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit.94 Zudem beklagten die StudentInnen soziale Ungleichheiten in der jugoslawischen Gesellschaft und forderten die ArbeiterInnenschaft auf, sich ihrer Auflehnung anzuschließen.95 Holm Sundhaussen wies dem Juni 1968 mit der Erhebung der Studierenden den potentiellen Status als schwerste politische Krise seit dem Kominform-Konflikt zu. Dass die ArbeiterInnen in die Proteste nicht einstimmten sowie die Ereignisse in der Tschechoslowakei im August 1968 hätten die systemgefährdende Zuspitzung der studentischen Demonstrationen jedoch verhindert.96 In seiner Rede am 5. Juni 1968 erklärte Tito die Beweggründe für gerechtfertigt, die hinter den öffentlichen Massenprotesten an den Universitäten standen. Der Staatsführer kündigte unter anderem an, es würde in Zukunft stärker auf die Verbesserung der „Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse“ hingewirkt werden.97 Auf diese Weise fand die soziale Problematik von IndustriearbeiterInnen über den Umweg der Studierendenproteste 1968 Eingang in die Rhetorik der Parteiführung. Im August 1968 war ein solches öffentlich bekundetes Bewusstsein für die Lage der ArbeiterInnen auch in den Zastava-Werken angekommen. Auf einer in der Betriebszeitung dokumentierten Parteiversammlung tauchten die Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und nach Bekämpfung von „Unregelmäßigkeiten“ nun als ureigenster Anspruch der Partei auf: Am meisten war die Rede von der führenden Rolle des Bundes der Kommunisten, der Beziehungen unter den Menschen, dem Missbrauch von Positionen, persönlicher Bereicherung, Vergütung usw.98 94 Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 233–235. 95 Siehe z. B. Politisches Aktionsprogramm (5. Juni 1968), in: Boris KANZLEITER / Kru-
noslav STOJAKOVIĆ (Hgg.), „1968“ in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Gespräche und Dokumente. Bonn 2008, 234– 237, 235; Parolen des Juni 1968: „Nieder mit der roten Bourgeoisie“, in: KANZLEITER / STOJAKOVIĆ (Hgg.), „1968“ in Jugoslawien, 231f. 96 Vgl. SUNDHAUSSEN, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, 156. 97 Tito-Rede zu den Studentenprotesten in TV und Radio (9. Juni 1968), in: KANZLEITER / STOJAKOVIĆ (Hgg.), „1968“ in Jugoslawien, 251–256, 252.
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An der Spitze der Kritik an den herrschenden Zuständen, so sollte suggeriert werden, stand der Bund der Kommunisten: Große Einkommensspannen, fehlende Demokratie in der betrieblichen Selbstverwaltung, das starke Ungleichgewicht in der disziplinarischen Sanktionierung unterschiedlicher Gruppen von Beschäftigten und Honorartätigkeiten von Hochqualifizierten nannte man als Phänomene, die es „zu bekämpfen“ galt.99 Die 1971 folgenden Verfassungsänderungen griffen diese Vorhaben, insbesondere Fragen der Lohnverteilung, auf: Jedem Arbeiter in vereinter Arbeit mit gesellschaftlichen Mitteln wird der Erwerb des persönlichen Einkommens und die Geltendmachung anderer Rechte mindestens in der Höhe oder vielmehr in dem Umfang gewährleistet, die seine soziale Sicherheit und Stabilität sicherstellen.100
Die Verfassungsänderungen von 1971 bekräftigten die Festlegung in der Verfassung von 1963, es müsse einen Mindestlohn geben. In den 1960er Jahren spielte das Thema Mindestlohn in Diskussionen auf der Betriebsebene kaum eine Rolle, und wenn, dann nur in einer sehr allgemeinen Form. Auf „1968“ folgten weitere politische Krisen, die 1971 und 1972 in der Entmachtung der Republiksparteispitzen Kroatiens sowie „nationalistischer“ und „liberalistischer“ Kräfte im BdK weiterer Teilrepubliken resultierten. Das Vorgehen gegen „Nationalismus“ und „Liberalismus“ verband die Führung des Bundes der Kommunisten wie im April 1971 während des Höhepunkts des „kroatischen Frühlings“ rhetorisch mit dem Einstehen für mehr soziale Gerechtigkeit.101 Damit bezog sie wie schon 1968 die Forderungen der StudentInnen in ihr Vorgehen gegen die abweichlerischen Parteiorganisationen der Republiken ein. Im „Brief Titos“, einem offenen Schreiben an die gesamte Mitgliedschaft vom Oktober 1972, kommunizierte die Parteispitze, dass von nun an Abweichungen strenger geahndet würden.102 Die „im Brief“ angewendete Rhetorik stellte in erprobter Weise einen kausalen Zusammenhang zwischen politischen GegnerInnen, korrupten Einzelpersonen, Amtsmissbrauch und sozialen Ungleichheiten her (siehe Kapitel 5.3.). Strukturelle Ursachen für die Minderprivilegierung von IndustriearbeiterInnen, unter denen niedrig Qualifizierte besonders benachteiligt waren, unterschlug diese Darstellung systematisch. Allerdings trug sie weiter dazu bei, strukturell ausgeprägte soziale Notlagen stärker in die öffentliche Diskussion zu rücken. Was die Foren der Massenorganisationen und der Partei schon länger intern diskutierten, thematisierte man nun stärker öffentlich und übersetzte die Debatten in sozialpolitische Maßnahmen. Ein Bericht der sozialpolitischen Kommission des Zentralkomitees des Bundes der 98 M. POPOVIĆ, Neopravdano su velike razlike u ličnim dohocima, Crvena zastava,
21.8.1968, 2. 99 Ebenda. 100 Verfassungszusatz 21, Absatz 5: Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien,
Bundesversammlung, Verfassungsänderungen XX bis XLII 1971, 9. 101 Vgl. Der BdKJ im Lichte der Selbstkritik, 108. 102 Vgl. DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums.
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Kommunisten Serbiens nannte in diesem Sinne dezidiert das Jahr 1971 und „den Brief“ vom Oktober 1972 als die initialen Momente im „Kampf gegen ungerechtfertigte soziale Unterschiede“.103 Die 1970er Jahre waren angebrochen. Ihren Beginn, markiert vom Ende des Nachkriegsbooms, verlegen Calic, Neutatz und Obertreis schon in die Mitte der 1960er Jahre („lange 1970er Jahre“).104 Hat man im Blick, wann soziale Fragen auf der öffentlichen Agenda der föderalen Politik ankamen, so trifft diese Rückverlegung auch in diesem Bereich zu. Die Bedingungen für eine umfassendere Sozialpolitik waren jedoch nicht ermutigend, lautete das wirtschaftspolitische Ziel der Zeit doch „Stabilisierung“,105 eine Ziel, aus dem deutlich gedämpfte Zukunftserwartungen sprachen. Auch bei TAM verlieh im November 1971 ein Parteigremium der neuen Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheit Ausdruck. In einem Sitzungsprotokoll der TOZD Mechanische Fertigung, die viele niedrig Qualifizierte beschäftigte, bekundete der Sekretär der Parteiorganisation, es müsse öffentlich mehr über soziale Gegensätze gesprochen werden. Weiter hieß es, die niedrigsten Einkommen müssten auf ein Niveau ansteigen, „um das nackte Leben zu ermöglichen“.106 Dass die Thematisierung sozialer Ungleichheit vor allem in der Auflistung von Einkommensspannen bestand, demonstriert ein Bericht in der Fabrikzeitung Skozi TAM im Frühjahr 1972.107 Hier wurden die Starteinkommen der verschiedenen Qualifikationsgruppen aufgelistet, welche Zulagen für Nachtarbeit, Überstunden und Dienstreisen usw. nicht berücksichtigten. Als Ausgangswert setzte man den Grundverdienst von Ungelernten und stellte ihm die Einkommen der restlichen Qualifikationsgruppen als Indexwerte gegenüber. Das Einkommen von Unqualifizierten gleich 100 gesetzt, verdienten Angelernte ebenso viel, qualifizierte ProduktionsarbeiterInnen mit 130 Indexpunkten etwa ein Drittel mehr und Hochqualifizierte mit 177 Indexpunkten fast vier Fünftel mehr als ungelernte ArbeiterInnen. Beschäftigte mit vierjähriger Hochschulbildung, die zu der Zeit die am höchsten Qualifizierten bei TAM ausmachten, konnten vor Zulagen 287 Indexpunkte erreichen und verdienten damit etwa dreimal so viel wie Ungelernte. Insgesamt verblieb die Positionierung „der Kommunisten bei TAM“ zu den sozialen Unterscheiden stark im Ungefähren. So ließ man sich auf eine Festsetzung von Lebensbedingungen, die für alle Beschäftigte erreicht werden sollten, nicht ein. Man hangelte sich entlang der Nennung von Republiks- und Gemeindedurchschnitten in den Verdiensthöhen und verglich die Einkommen bei TAM damit. In der Folge beließ es das Parteigremium allerdings bei allgemeinen Bekenntnissen, wie etwa die hohen Einkommensdifferenzen innerhalb der Qualifikationsgruppen im Betrieb verringern zu 103 AS, Đ-2, k. 127: Aktivnost na ostvarivanju zadataka u oblasti socijalne politike, 104 105 106 107
April 1973, S. 1. Vgl. CALIC / NEUTATZ / OBERTREIS, Einleitung, 23. Vgl. DOLANC / TITO, Schreiben des Vollzugsbüros des Präsidiums, 114. SI-PAM, f. 1374, šk. 20: Zapisnik (izvleček) 1. zbora komunistov, 2. Vgl. Jože PLANOVŠEK, Komunisti TAM o socialnih razlikah, Skozi TAM, 10.3.1972, 7.
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wollen. Wie dieses Ziel umgesetzt werden sollte, erläuterte das Betriebskomitee des BdKJ jedoch nicht. In der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac wurden die Einkommensspannen zu dieser Zeit ebenfalls aus der Perspektive der Unqualifizierten dokumentiert. Allerdings war dort der Verdienstunterschied zwischen Ungelernten und qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen deutlich größer als bei TAM. Mit einem Indexwert von 170 verdienten die FacharbeiterInnen hier über zwei Drittel mehr als ihre KollegInnen ohne Qualifikation.108 Der Vorsitzende der Parteibasisorganisation der Zastava-Autofabrik bezog die instabilen wirtschaftlichen Bedingungen und ihre Relevanz in den Verteilungsfragen 1972 in eine öffentliche Äußerung über soziale Mindeststandards ein. Diese wirkten sich auf Beschäftigte verschiedener sozialer Kategorien unterschiedlich schwer aus, so der Funktionär: Wenn es wegen der steigenden Lebenshaltungskosten zum `Engerschnallen des Gürtels´ kommt, entsagen die einen dem Luxus, aber andere grundlegenden Lebensbedürfnissen. Man müsste festlegen, wie hoch das Mindesteinkommen sein muss, damit man anständig leben kann.109
Nach einem sinnvollen Wirken von gesetzlich geregelten Mindesteinkommen und Klarheit, wie genau die „grundlegenden Lebensbedürfnisse“ zu definieren seien, klingt diese Einschätzung nicht. Wohl schenkte sie aber den Nöten niedrig Verdienender in Zeiten der Teuerung öffentliche Beachtung. Auch in Maribor dokumentierte die betriebliche Parteiorganisation ihre Sorge über niedrige Einkommen, jedoch ebenfalls ohne Lösungsansätze für das Problem zu benennen. Insbesondere hob sie die kritische Situation von Beschäftigten hervor, wenn sie Krankengeld bezogen, das 80 % vom sonstigen Verdienst betrug.110 Im Juli 1973 formulierte auch die Bundesgewerkschaft für Industrie und Bergbau die Notwendigkeit, dem Anspruch sozialer Sicherung im Verfassungszusatz 21 von 1971 Leben einzuhauchen.111 Sie benannte in einem Analysepapier die allgemeinwirtschaftliche Lage als Hindernis dafür, denn durch ihre Verschlechterung sank der Umfang von Mitteln für Sozialpolitik in den Unternehmen. Ohne dass ein konkretes Vorgehen benannt wurde, forderte das Papier Maßnahmen, um Preissteigerungen anzuhalten.112 Mit den Selbstverwaltungsabkommen und den gesellschaftlichen Verträgen wurden durch die Verfassungszusätze von 1971 Regulierungsinstrumente geschaffen, die zwischen dezentralisierten, selbstverwalteten Organisationen koordinieren sollten. Mit solchen Abkommen, die unterhalb der Gesetzesebene angesiedelt waren, wollte man unin108 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 6. sednice Radničkog, 3. 109 Ž. GLIŠOVIĆ, Otvorena kritička rasprava o slabostima u radu, Crvena zastava,
15.2.1972, 9. 110 Vgl. SI-PAM, f. 1374, šk. 20: Zapisnik (izvleček) 1. zbora komunistov, 2. 111 Vgl. SI-AS, f. 578, šk. 175: Aktuelna problematika sticanja i raspodele dohotka i
ličnih dohodaka i zadaci sindikata, Juli 1973. III Dohodak kao faktor socialne sigurnosti i stabilnosti radnika. 112 Vgl. ebenda, 12.
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tendierte (soziale) Folgen der Dezentralisierung abmildern. In der Analyse der Bundesgewerkschaft Industrie und Bergbau von 1975 fungierte ein solches Selbstverwaltungsabkommen als Mittel, mit dem ein Minimallohn und ein minimal garantierter Lebensstandard von NiedrigverdienerInnen festgelegt werden sollten.113 Die Gewerkschaften wirkten in der Folge an der Ausarbeitung solcher Selbstverwaltungsabkommen mit. Im Jahr 1974 setzte ein Abkommen dieser Art in Slowenien ein relatives Mindesteinkommen fest. Es betrug 55 % eines monatlichen Nettoeinkommens im Republiksdurchschnitt.114 1977 wurde diese Relation weiter oben angesetzt, nämlich bei 60 % eines slowenischen Nettoeinkommens,115 um 1984 noch weiter oben, nämlich bei 70 % festgelegt zu werden.116 Die sich verschlechternde allgemeine wirtschaftliche Lage spiegelte sich also in einer Annäherung von Mindest- und Durchschnittseinkommen wider. Als Finanzierungsinstrumente der betrieblichen Sozialpolitik führte man in Maribor wie in Kragujevac „solidarische Arbeitstage“ an Samstagen ein. Ihr Erlös sollte für den Kauf von zusätzlichen Wohnungen eingesetzt werden, die mittels der Selbstverwaltungsgremien dann verteilt wurden.117 Die Beschäftigten waren aber nicht ohne weiteres bereit, eine solche Solidarität in der Praxis zu üben. So wurden in Kragujevac 1974 Anreize für „solidarische Arbeitstage“ geschaffen. Den TeilnehmerInnen bei der „freiwilligen“ zusätzlichen Arbeit winkte die Chance, einen kostenlosen Urlaub zugeteilt zu bekommen. In Maribor zeigten sich schon 1975 Anzeichen dafür, dass die Solidarität an ihre Grenzen gekommen war. Beschäftigte äußerten ihren Unmut darüber, dass die aus „Solidarmitteln“ geschaffenen Wohnungen dann doch wieder nur wenigen zugute kämen. Zwei Verfasser von Leserbriefen an die Fabrikzeitung bezweifelten konkret, dass diese Wohnungen an die Ärmsten unter den Belegschaftsmitgliedern verteilt würden. Sie wiesen darauf hin, dass die Masse der niedrig Verdienenden trotz Solidaritätszahlungen, die sie wie alle Belegschaftsmitglieder leisteten, Wohnraum aus eigenen Mitteln errichten müssten.118 Beschäftigte waren demnach nicht (mehr) bereit, zu akzeptieren, dass Solidarität zwar formal als Bezugspunkt betrieblicher Debatten diente, sie jedoch in vielen Bereichen nur rhetorisch und nicht praktisch gezeigt wurde. 113 Vgl. ebenda. 114 Vgl. SI-AS, f. 578, šk. 175: Izhodišča za dajanje pripomb in ugotavljanje skladnosti
115 116 117
118
samoupravnih sporazumov o razporejanju dohodka in delitvi sredstev za osebne dohodke, Ljubljana, 14.01.1974, S. 1. Vgl. R. SVETEK, Novost v Sindikalni listi 77, Naša skupnost. Glasilo SZDL Ljubljana Moste-Polje, 25.1.1977, 3. Vgl. VINCETIČ, Sindikat zahteva hitrejšo rast osebnih. Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 15. sednice Radničkog, 10; ZCZFPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 43-te sednice Radničkog saveta OOURa za proizvodnju kamiona i unutrašnje oopreme vozila, 26.12.1974, S. 4; VIZJAK / POSLEK, Pisma bralcev. Siehe die schon in Kapitel 4.2.1. erwähnte Kontroverse: ebenda; Š. Š., Še o solidarnostnem delu; VIZJAK / POSLEK, Še o solidarnostnem delu.
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Darüber hinaus war TAM und Zastava in den 1970er Jahren gemeinsam, dass sie niedrig verdienenden Beschäftigten als betriebliche Sozialleistung Kantinenessen bezuschussten. Während 1968 bei Zastava erstmals davon die Rede war, die Kosten für warme Mahlzeiten für ArbeiterInnen an Arbeitsplätzen mit besonderer Belastung zu übernehmen, war die Bezuschussung fünf Jahre später beinahe zum Regelfall geworden. 1973 erhielten bei Zastava 70 % der Beschäftigten betriebliche Förderung für Mahlzeiten in den Werkskantinen.119 Unter anderem, um die Gewährung von Vergünstigungen bei Kantinenessen und die Zuteilung von Urlaubsplätzen bei Zastava zu erleichtern, führte das Unternehmen 1976 eine „Sozialkarte“ ein. Diese sollte grundlegende Daten zur sozialen Situation der Betreffenden schnell zugänglich machen sollte.120 Wie in Kragujevac, so waren auch in Maribor sowohl betriebliche Stellen als auch die in den Unternehmen aktiven Gewerkschaften beteiligt, wenn die Höhen und Auszahlungsmodi von Zuschüssen verhandelt wurden.121
Die frühen 1980er Jahre als Wendepunkt: Existenzsorgen nicht nur der NiedrigverdienerInnen Der Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren markierte mit der zweiten Ölkrise 1979 und dem Tod Titos 1980 einen für ganz Jugoslawien spürbaren gesellschaftlichen Wendepunkt. Mit dem Jahr 1979 setzte ein anhaltender Abwärtstrend in der Wirtschaft ein, bald war allerorten von einer übergreifenden Krise die Rede.122 1983 hört sich das aus Perspektive der Betriebszeitung Crvena zastava folgendermaßen an: Der Standard der Werktätigen und Bürger schafft es in keinster Weise, die Preise zu erreichen, die schon `gallopieren´. Diese Feststellung ist nicht neu, das Absinken des Lebensstandards ist schon seit zwei bis drei Jahren zu spüren, die Gründe dafür liegen in den wohlbekannten Schwierigkeiten.123
Auf diese und ähnliche Weise war in den Fabriken nun immer häufiger von Existenzsorgen der Beschäftigten die Rede. Dabei war im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren nicht mehr nur von den ungelernten ArbeiterInnen mit dem niedrigsten Verdienst die Rede. Schon 1980 sprach man in Kragujevac zusätzlich zum hohen Preisniveau von einer generell in der Stadt spürbaren 119 Vgl. ŽIVANOVIĆ, Fabrike predložile radnike; M. GVOZDENOVIĆ, Šta je urađeno da se
poboljša materijalni položaj zaposlenih u kolektivu, Crvena zastava, 9.1.1974, 2. 120 Vgl. ZCZ-CA, Kom. LD, 1975–76: Prednacrt Samoupravnog sporazuma o sticanju
i raspoređivanju dohotka i raspodeli sredstava za lične dohotke osnovnih organizacija udruženog rada i radnih zajednica Zavoda „Crvena zastava“, Dezember 1975, S. 52f.; V. M., Kakvu socijalnu kartu želimo?, Crvena zastava, 24.8.1983, 5. 121 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 54. redne seje odbora za gospodarjenje in medsebojna razmerja v združenem delu skupnosti TOZD cestna vozila Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 17.06.1975, S. 11. 122 Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 280. 123 Vgl. Ž. GLIŠOVIĆ / V. MARAŠ, Standard kaska za cenama, Crvena zastava, 31.8.1983, 4.
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schwierigen Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial.124 In Maribor fragte ein Reporter der Fabrikzeitung 1981, wie die ArbeiterInnen bis zur nächsten Lohnzahlung überleben sollten.125 Partei und Gewerkschaft sowie die Arbeiterräte waren mit ständigen und immer drängenderen Forderungen nach Erhöhung der Einkommen konfrontiert, betriebliche Versorgungshilfen in Form von vergünstigten Nahrungsmitteln wurden zum Alltag. In Kragujevac nutzte man zur Ausgabe der für Zastava-MitarbeiterInnen subventionierten Grundnahrungsmittel außerhalb der Badesaison die Räumlichkeiten des städtischen Freibads.126 Stand das Schwimmbad nach seiner Eröffnung 1971 für steigenden Lebensstandard, urbane Lebensqualität und zeitgemäße Freizeitgewohnheiten, stellte es nun Infrastruktur bereit, um die Grundversorgung von Industriebelegschaften mit Lebensmitteln zu unterstützen. Während man in früheren Jahren immerzu wiederholt hatte, dass mit Tatkraft bei der Arbeit, Sparmaßnahmen und strenger eingehaltener Disziplin auch höhere Verdienstniveaus zu erreichen seien, machte sich nun auch bei TAM Resignation breit. So hieß es zum Jahresende 1983 in einem internen Bericht der Gewerkschaftsorganisation der TOZD Karosseriebau bei TAM: Diesbezüglich stellen wir fest, dass die Gewerkschaft oft keinen Einfluss auf die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ereignisse hat, dass die Gewerkschaftsaktivisten mit jedem Tag dem Druck der Arbeiter stärker ausgesetzt sind, die möchten, dass die Gewerkschaft endlich ihre Schutzrolle einnimmt, nicht mit Vorschlägen zu höheren Preisen der eigenen Produkte, sondern über das Einkommenssystem, das auch Arbeitern für die gut ausgeführte einfachste Arbeit ein persönliches Einkommen und damit soziale Sicherheit gewährleistet.127
Für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen, die auf Krankengeld angewiesen waren oder viele Kinder hatten, stellte sich die Situation dramatisch dar. Um eine Unterstützung zu leisten, zahlten die Gewerkschaftsorganisation bei TAM einmalige Hilfsbeträge aus. Solche Hilfsmaßnahmen begleiteten sie immer mit Forderungen an die Selbstverwaltung und Betriebsleitung, sie mögen mittels Lohnsteigerungen dafür sorgen, dass eine geregelte Existenz ohne derartige Unterstützung möglich werde.128 Um das Familieneinkommen von NiedrigverdienerInnen in der ZastavaAutomobilfabrik zu erhöhen, schlug dort die Gewerkschaft 1984 vor, Familien124 Vgl. Z.K., Kako do uglja, Crvena zastava, 27.8.1980, 7. 125 Vgl. VINCETIČ, „Razpravljamo o sebi!“. 126 Vgl. B. GERLIČ, Bogat program ukrepov na področju socialne varnosti, Skozi TAM,
7.9.1984, 1, 3; R.R., Stiglo i ulje, Crvena zastava, 13.2.1985, 7; R.R., Stigao meso, stiže cement, Crvena zastava, 28.3.1985, 9. 127 SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Poročilo o delovanju sindikalne konference ZS TOZD Karosernica v obdobju 1982–1983 leta, 15.12.1983, S. 2. 128 Vgl. SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Zapisnik 5. redne seje IO OOZS TOZD 33, 09.10.1984, S. 4; SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Letno poročilo OOZS TOZD Livarne o aktivnosti v letu 1984, 21.12.1984; SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Zapisnik seje predsedstva SK OOZS TOZD 21 MO, 22.02.1985, S. 2; SI-PAM, f. 1464, šk. 23: Zapisnik letne konference SK OOZS, 3.
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angehörige von Betroffenen anzustellen.129 Im Sommer 1985 wurden auf diese Weise etwa 400 Personen neu beschäftigt, während 1.500 weitere dementsprechende Anträge gestellt hatten. Längst mussten sich die Betriebe in Selbstverwaltungsabkommen, die sie mit den Gemeinden schlossen, verpflichten, jährlich eine bestimmte Zahl von Personen neu zu beschäftigen. Wie der Autor des Zeitungsberichts über die Anstellung von Familienmitgliedern betonte, erhöhten sich die Zahlen der Neuanstellungen, die die Fabrik jährlich als Ziel festlegte mit dieser Aktion nicht. Trotzdem, so hob er hervor, leistete das Unternehmen auf diese Weise einen Beitrag zur Senkung der Arbeitslosenzahlen in der Gemeinde und entschärfte die soziale Situation von ArbeiterInnen, die schon lange bei Zastava arbeiteten, indem sie deren Familieneinkommen erhöhten. Die in Kapitel 5.1. besprochene Ambivalenz, welche „falschen Krankschreibungen“ und damit verbundenem Nebenerwerb innewohnte, bekam in Zeiten von Solidaritätsforderungen mit den unqualifizierten NiedrigverdienerInnnen neue Bedeutung. Als die Existenzsorgen bei den qualifizierten und hoch qualifizierten ProduktionsarbeiterInnen sowie bei durchschnittlich verdienenden Angestellten angekommen waren, mischten sich in Kragujevac 1983 Vorwürfe in die Aufforderungen, ihre KollegInnen zu unterstützen: Diejenigen NiedrigverdienerInnen, die sich häufig krank meldeten, um außerhalb zu arbeiten, würden teilweise höhere Einkommen als in der Fabrik erzielen. Obwohl sie ihnen einerseits zugestanden, durch ihre häufig stark benachteiligte Wohnsituation in privat gemieteten Wohnungen finanziell ungleich hoch belastet zu sein, hieß es in Bezug auf den Nebenverdienst: „Gegen solche müssen wir energisch kämpfen und die Fabriktore nur für diejenigen öffnen, die wirklich arbeiten wollen.“130 Am Einkommen, so der Artikel in der Fabrikzeitung Zastavas weiter, ließe sich der soziale Status nicht ablesen. Denn diejenigen, die ausschließlich von Industrielöhnen lebten, befänden sich, auch wenn sie qualifizierte ProduktionsarbeiterInnen oder Angestellte seien, gegenüber denjenigen, die in ihrer Lebensmittelversorgung Hilfe vom Dorf bekämen, im Nachteil.
129 Vgl. R. KOSTIĆ, Zapošljavanje drugog člana porodice. Prednjači Fabrika automobila,
Crvena zastava, 28.8.1985, 7. 130 GLIŠOVIĆ / MARAŠ, Standard kaska za cenama.
272 Abbildung 12: Karikatur: „Nachbar Jaka, du hast dich wohl noch ganz nach altem Brauch für die Frühjahrsarbeiten krank schreiben lassen? – Du weißt doch, ich stelle mich dumm, um die größten Kartoffeln zu haben.“, Quelle: Sosed Jaka, Skozi TAM, 1.1.1984, 15.
Auch in Maribor lebten Anfeindungen gegen ArbeiterInnen, die Familieneinkommen sowohl aus Industriearbeit als auch aus Landwirtschaft bezogen, wieder auf.131 Was Dragoş Petrescu für Rumänien konstatiert, galt somit auch für Jugoslawien: Denjenigen ArbeiterInnen, die als (ehemalige) PendlerInnen zwischen Land und Stadt einen so hohen Preis für die Tätigkeit in der Industrie gezahlt hatten, halfen ihre Verbindungen zum Dorf nun. Wer durch familiäre Netzwerke auf dem Land Zugang zu landwirtschaftlichen Erzeugnissen hatte, war gegenüber den wirtschaftlichen Einschnitten der 1980er Jahre besser gerüstet.132 Die ausgeprägte Binnenmigration (siehe Kapitel 6.5.), die ein sehr prägendes Merkmal der in beiden südosteuropäischen Ländern rasant verlaufenen Industrialisierung darstellte, sorgte so für sich wandelnde und widerspruchsvolle Formen sozialer Privilegierung und Benachteiligung.
Fazit Abhängig von ihrem Beruf und ihrer Qualifikation ergaben sich Differenzierungen unter den ProduktionsarbeiterInnen. So herrschte zwischen verschiedenen Berufsgruppen in der Produktionssphäre ein Hierarchieverhältnis zugunsten von handwerklich anspruchsvollen Berufen. Den traditionellen Prestigevorsprung der Metallberufe unterstützten Regierung und Gewerkschaft mit Arbeitswettkämpfen und Ehrentagen im sozialistischen Festtagskalender noch zusätzlich. In Diskussionen um soziale Ungleichheiten dominierten niedrige Qualifikation und damit einhergehende niedrige Einkommen gegenüber dem Faktor des Berufsprestiges. Benachteiligungen bei der Repräsentation in den betrieblichen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, die ProduktionsarbeiterInnen 131 Vgl. Sosed Jaka, Skozi TAM, 1.1.1984, 15. 132 Vgl. PETRESCU, Workers and Peasant-Workers, 117.
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gegenüber Angestellten generell betrafen, lagen hier in gesteigerter Form vor. Es wurde eher über Beschäftigte dieser Kategorie gesprochen, als dass niedrig Verdienende selbst (öffentlich) ihre Interessen vertraten. Die Gewerkschaft als in den Betrieben vertretene Massenorganisation erfüllte dabei die wichtige Funktion, ihre sozialen Nöte und Forderungen zu artikulieren. Dies ermöglichte einerseits die Kommunikation mit den Betriebsleitungen bzw. der dort für Sozialpolitik zuständigen Abteilungen. Andererseits kommunizierten die Gewerkschaften die Bedürfnisse der niedrig verdienenden IndustriearbeiterInnen an die Republiks- und Bundesspitzen der Massenorganisation. Bis zum Ende der 1960er Jahre beachtete man niedrig Qualifizierte mit geringen Einkommen in öffentlichen Diskussionen kaum, obwohl Instrumente der betrieblichen Sozialpolitik existierten, die ihnen zugute kamen. Ein verfassungsmäßig vorgesehener Minimallohn wurde selten thematisiert. An der Wende zu den 1970er Jahren änderte sich die Situation und soziale Ungleichheit und Sozialpolitik wurden sowohl an der Staatsspitze als auch in den Betrieben intensiver beachtet. Politischer Legitimitätsverlust der BdKJ-Führung, der auf Kritik durch Intellektuelle, Proteste von Studierenden und eigene politischen Forderungen der Republiksparteispitzen zurückging, verschaffte der Frage sozialer Ungleichheit breitere Aufmerksamkeit. Einerseits wurden dezentrale Mittel der Selbstverwaltung wie betriebliche Umverteilungsmaßnahmen in Form von Solidarwohnungen und Vergünstigungen für NiedrigverdienerInnen überhaupt erst eingeführt oder auch ausgebaut. Andererseits setzte man staatliche Regulierungsinstrumente ein, wie z. B. das in Slowenien jährlich neu festgelegte Minimaleinkommen. Mit den sich stark verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen der 1980er Jahre erlebten viele derjenigen, deren Lebensstandard in den Jahrzehnten davor beträchtlich gestiegen war, intensive Einschnitte. Dies führte dazu, dass sich die Diskussion um die soziale Sicherung verschob, nämlich in Richtung der sich verschlechternden materiellen Lage breiter Bevölkerungsschichten, so auch der bis dahin durch ihre Einkommen gut versorgten Beschäftigten. In den Dokumenten der „Kraigher-Kommission“ wurden außerhalb der Unternehmen beschlossene Maßnahmen der sozialen Sicherung, die „schützenden“ Charakter besaßen, als Fehlentwicklung weg von Mechanismen der Selbstverwaltung hin zu unerwünschter staatlicher Intervention angesehen: „Die Schwächung der Aspekte Motivation, Entwicklung und Prävention in der Sozialpolitik hat den Schutzaspekt beim Befriedigen der Bedürfnisse und damit die Rolle des staatlichen Entscheidens gestärkt.“133 Man war also der Ansicht, dass durch eine sinnvolle Wirtschaftspolitik und ein effizientes Wirtschaften von Unternehmen die Notwendigkeit einer übergeordneten Wohlfahrtspolitik gar nicht erst entstanden wäre. Im Zuge der neuen Diskussion um fallenden Lebensstandard rückten aber auch die niedrig Qualifizierten ins Blickfeld, wobei sich der verschärfte soziale Verteilungskampf mitunter in Entsolidarisierungstendenzen mit ihnen ausdrück133 ŠEFER, Osvnove i okviri, 76.
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te. Die betriebliche Basis der Massenorganisationen war direkt mit den Nöten und Forderungen der unteren Einkommensgruppen konfrontiert. Insbesondere die Gewerkschaft, die über die Jahrzehnte hinweg als Vermittlungs- aber auch als Kontrollinstanz zwischen ArbeiterInnen, den Betriebsleitungen und dem Staat agiert hatte, bekam die Existenzsorgen niedrig Verdienender sehr direkt zu spüren. Aus internen Papieren der Mariborer Gewerkschaft bei TAM geht hervor, dass sich dort explizit eingestandene Hilflosigkeit gegenüber unkontrollierbaren wirtschaftlichen Entwicklungen breit machte. FunktionärInnen äußerten nun Vorbehalte dagegen, die Mobilisierung für höhere Produktionsanstrengungen, an die Forderungen höheren Verdienstes bis dahin ausnahmslos geknüpft waren, als Weg zu besseren Lebensbedingungen zu propagieren.
6.3. Alter: Junge Beschäftigte „Mi smo proleteri/ Djeca rada svi/ Ko se boji rada/ S nama ne može“ 134 – „Wir sind Proletarier/ Allesamt Kinder der Arbeit/ Wer sich vor Arbeit fürchtet/ Kann bei uns nicht dabei sein“. In dieser Hymne einer jugoslawischen Jugendarbeitsbrigade der ersten Stunde aus dem Jahr 1946 entsprachen junge Menschen dem Entwurf des „Neuen Menschen“, so wie die eben an die Macht gekommenen KommunistInnen es vorsahen. Mit Opferbereitschaft und Optimismus sollten sie bereit stehen, auch in Friedenszeiten die sozialistische Revolution voranzubringen und nicht zuletzt die Arbeitskräfte für die nach dem Zweiten Weltkrieg staatlich forcierte Industrialisierung zu stellen. In der traditionsreichen Jugendorganisation, die zeitgleich mit der KPJ im Jahr 1919 gegründet worden war, sollten sich auch nach 1945 die Aktivitäten der revolutionären Jugend, also junger Menschen zwischen dem 15. und 27. Lebensjahr, abspielen. Die politische Mobilisierung dieser Altersgruppe im Sinne der KPJ war so dezidiert im neuen Gesellschaftsentwurf angelegt. Die Altersspanne, mit der so die Lebensphase „Jugend“ umrissen wurde, soll hier in der Analyse übernommen werden, da sich die zugrunde gelegten Quellen in diesem Rahmen auf junge Menschen beziehen. Die Kategorie Alter wird hier auf dieses Lebensalter verengt, obgleich altersspezifische soziale Konflikte auch andere Altersgruppen betrafen. Wegen ihrer ideologischen Relevanz und der damit einhergehenden dominanten Thematisierung von Belangen junger Menschen in den Quellen, steht „Jugend“ jedoch hier im Mittelpunkt. Der Mobilisierungsanspruch der kommunistischen Führung an die „Jugend“, die den Sozialismus aufbauen sollte, und die Bemühungen um ideologische Erziehung und allgemeine Bildung dieser Altersgruppe fanden ihren mar-
134 Ausschnitt aus einer Hymne einer slowenischen Jugendbrigade, die 1946 am Bau
der Zuglinie Brčko-Banovići in Bosnien-Herzegowina beteiligt war, so wie sie in der Bosnisch/ Kroatisch/ Serbischen Übersetzung angeführt wird in: ŠTRUMBL, Žarko; ŠMID, Gašper, Slovenske omladinske radne brigade na gradnji omladinske željezničke pruge Brčko – Banovići, Glasnik arhiva i Arhivističkog udruženja Bosne i Hercegovine 43 (2013), 273–288.
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kantesten Ausdruck in den Jugendbrigaden.135 Im Rahmen des ersten Fünfjahrplans 1947-52 setzte die jugoslawische Führung die Arbeitsbrigaden besonders intensiv zum Auf- und Ausbau der Infrastruktur des Landes ein. 136 Auch darüber hinaus bestanden die Brigaden in den folgenden Jahrzehnten weiter. Zwischen den 1950er und den 1980er Jahren engagierte die Staatsführung Brigaden z. B. für den Bau der Autobahn Brüderlichkeit und Einheit.137 Diese wichtige Verkehrsader sollte die Verbundenheit der jugoslawischen Völker – einen zentralen Pfeiler in der Legitimierung der kommunistischen Herrschaft – symbolisieren. Dass die Ansprüche der Staatsführung und die Interessen der jungen Menschen in Teilen auseinandergingen, zeigte sich schon in den 1950er Jahren. Die Parteiführung beklagte, es fehle der nachwachsenden Generation verglichen mit jener der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit an politischem Bewusstsein, revolutionärem Geist und Kampfeswillen.138 Hier zeigte sich, dass junge Menschen nicht nur Projektionsfläche und TrägerInnen sozialistischer Umgestaltung waren, sondern auch die ProtagonistInnen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Diese erfassten Jugoslawien insbesondere ab den 1960er Jahren. Neben der massenhaften Land-Stadt-Migration bestanden diese Veränderungen ähnlich wie überall sonst in Europa auch in Jugoslawien in wachsendem Wohlstand, aufkommender Konsumorientierung und der Pluralisierung von Lebensstilen. In ihrem Misstrauen und der Ablehnung gegenüber einer Massenkultur, die an derjenigen der USA geschult war, zeigten sich die kommunistischen Eliten ihren konservativen Gegenparts in den kapitalistischen Ländern Europas nicht unähnlich. Die kommunistischen Wohlfahrtsversprechen und zunehmenden Konsummöglichkeiten der 1960er Jahre blieben für viele junge Menschen eine ambivalente Erfahrung, betraf sie doch die zunehmende Arbeitslosigkeit am stärksten. Zwischen 1967 und 1983 machten in Kragujevac BerufsanfängerInnen zwischen 68 % und 81 % der offiziell erfassten Arbeitssuchenden aus.139 Da das Problem der Arbeitslosigkeit im Land regional höchst ungleich verteilt war, waren Jugendliche in Maribor sowohl in absoluten Zahlen als auch gemessen an ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit in der Stadt weitaus weniger betroffen als ihre AltersgenossInnen in Kragujevac.140 Der Grund für die hohe Jugendarbeitslosigkeit dürfte besonders ab Beginn der 1970er Jahre auch darin zu suchen 135 Srb.: „Omladinske radne akije – ORA“; Slow.: „Mladinske delovne akcije“. 136 In jüngerer Zeit erregten sie das Interesse der historischen Forschung in verschiede-
nen Nachfolgestaaten Jugoslawiens: Ivana DOBRIVOJEVIĆ, Između ideologije i popkulture. Život omladine u FNRJ 1945–1955, Istorija 20. veka (2010), H. 1, 119– 132; ŠTRUMBL / ŠMID, Slovenske omladinske radne brigade; Ivan HOFMAN, Škola socijalizma – obrazovanje i vaspitanje jugoslovenske omladine na radnim akcijama 1946–1951, Tokovi istorije (2013), H. 1, 203–230; Muhamed NAMETAK, Uloga omladinskih radnih akcija u stvaranju socijalističkoga društva u Bosni i Hercegovini 1945.–1952., Časopis za suvremenu povijest (2014), H. 3, 437–452. 137 Srb.: „Autoput bratstvo i jedinstvo“, Slow.: „Cesta bratstva in enotnosti“. 138 Vgl. DOBRIVOJEVIĆ, Između ideologije i popkulture, 128. 139 Vgl. SGJ 1968, 592; SGJ 1984, 697.
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sein, dass Entlassungen aus bestehenden Arbeitsverhältnissen kaum mehr möglich waren. Somit war es die erfolglose erste Arbeitssuche junger Menschen, die die Statistiken in die Höhe trieb. Dass ihr Selbstwertgefühl sowie ihr Glaube an die „Werte der Gesellschaft“ durch lange erfolglose Arbeitssuche erschüttert würde, gestand auch die parteioffizielle Führung in den Dokumenten der „Kraigher-Kommission“ 1982 ein.141 Aus der legitimatorischen, aber auch ganz praktisch ökonomischen Bedeutung junger Menschen für das sozialistische Herrschaftsmodell resultierten spezifische Fokussierungen der Herrschenden auf diese Gruppe und damit einhergehende auf sie zugeschnittene Mobilisierungsformen. Um junge Menschen stärker in performativ-rituelle Formen des Kults um den Staatsführer Josip Broz Tito einzubinden, widmete die Staatsführung den seit 1945 traditionellen Staffellauf, die „Tito-Stafette“, 1957 zum „Tag der Jugend“ um. Dieser wurde mit wachsendem Pomp alljährlich am Geburtstag des jugoslawischen Staatsoberhauptes begangen. So verknüpfte man die in die Zukunft gerichteten Erwartungen der kommunistischen Führung an die Jugend mit dem Mythos um den siegreichen Kampf der PartisanInnen in der Vergangenheit, den Tito verkörperte.142 Daneben fanden Arbeitswettbewerbe Einzug in unterschiedlichste Produktionsbereiche der jugoslawischen Industrie. Solche Wettbewerbe hatte die KPJ nach dem Vorbild der sowjetischen Stachanov-Bewegung bereits während der Jugendbrigaden der ersten Nachkriegsjahre initiiert.143 Da versucht wurde, das Instrument zur Produktionssteigerung und ideologischer Mobilisierung als Initiative „von unten“ zu inszenieren, avancierten die Arbeitswettbewerbe zum festen Bestandteil im Aktivitätenkalender betrieblicher Jugendorganisationen.144 Nach der Periode, in der die Herrschaftspraktiken der kommunistischen Führung stark kritisiert worden waren – gerade durch junge Menschen wie den Studierenden Belgrads und Zagrebs – rief die die Staatsspitze 1973 ein weiteres Instrument ins Leben, das die Jugend in den Kult um den Staatsführer gezielt einbinden sollte: den „Tito-Fonds“.145 Kinder von ArbeiterInnen sowie junge ArbeiterInnen waren die ursprüngliche Zielgruppe des Programms, das Ausbil140 Vgl. SGJ 1968, 592; SGJ 1984, 697; WOODWARD, Socialist Unemployment, 201,
208. 141 Vgl. ŠEFER, Osvnove i okviri, 92. 142 Vgl. Marc HALDER, Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugo-
slawien. München 2013, 201. 143 Vgl. Andrea MATOŠEVIĆ, Politika rada Pokreta za visoku produktivnost, in: Lada
DURAKOVIĆ / Andrea MATOŠEVIĆ (Hgg.), Socijalizam na klupi. Jugoslavensko društvo očima nove postjugoslavenske humanistike. Sveučilište Jurja Dobrile, Srednja Evropa 2013, 105–123. 144 Vgl. RANKOVIĆ, Počelo takmičenje za najboljeg mladog. 145 Srb.: „Titov fond“, Slow.: „Titov sklad“; zur Bedeutung des Fonds für die Republik Bosnien und Herzegowina siehe: Aida LIČINA RAMIĆ, Ideologizacija mladih u Bosni i Hercegovini na primjeru Titovog fonda za stipendiranje mladih radnika i radničke djece Socijalističke Republike Bosne i Hercegovine (1974. – 1986.), Časopis za suvremenu povijest (2014), H. 3, 474–494.
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dungsstipendien vergab und die ideologische Bindung junger Menschen an das System zum Ziel hatte. Dass ältere und neu geschaffene Mobilisierungsinstrumente integrierbar waren, zeigten die ab den 1980er Jahren aufgestellten Jugendbrigaden, die sich aus StipendiatInnen des „Tito-Fonds“ rekrutierten.146 Solche Brigaden wirkten bei Arbeitsaktionen auf Bundesniveau Seite an Seite mit anderen Gruppen, die z. B. Fabriken wie die Zastava-Werke stellten. Ein solcher Einsatz be dem sich verschiedene Jugendgruppen begegneten, fand 1983 auch in Kragujevac statt.147 Alter als soziale Kategorie, anhand derer Einfluss in der betrieblichen Hierarchie und die Verteilung von Sozialleistungen thematisiert wurde, war in den Fabriken kaum von Tabus geprägt. In öffentlichen und nichtöffentlichen Auseinandersetzungen forderten die Massenorganisationen, Selbstverwaltung und das Management von der jungen Generation einerseits stärkeres politisches Engagement und größere Anstrengungen in der Produktion. Junge Menschen wurden dabei einerseits charakteristisch als eine zu mobilisierende und disziplinierende Gruppe behandelt. Jedoch traten sie andererseits auch in fordernder Position auf, aus der heraus sie eine stärkere Berücksichtigung in der Verteilung von Aufstiegschancen, Verantwortung und betrieblichen Sozialleistungen verlangten. Ihre Mobilisierung, Disziplinierung aber auch die Forderungen junger Menschen in den Betrieben sollen hier im Mittelpunkt stehen. Den Anteil junger Menschen an den Belegschaften auszumachen, ist nur anhand fragmentarischer Angaben möglich. TAM beschäftigte 1965 etwa 44 % MitarbeiterInnen im Alter bis zu dreißig Jahren. 8,8 % der Gesamtbelegschaft machten die unter Zwanzigjährigen aus.148 Für Zastava gaben offizielle Daten 1979 an, dass zwölftausend Belegschaftsmitglieder, also etwa 30 % der Gesamtbelegschaft an allen jugoslawischen Standorten, Mitglieder der Jugendorganisation seien, also zwischen fünfzehn und siebenundzwanzig Jahre alt waren.149 Auf die Kategorie Alter wird hier dezidiert nur über ihre Bedeutung für die „gesellschafts-politische“ Organisiertheit in der Jugendorganisation Bezug genommen. Dass sie in die Aktivitäten der sozialistischen Massenorganisationen integriert werden sollten, unterstreicht die große Bedeutung dieser Kategorie im Selbstverständnis des kommunistisch geführten Staates. Einige Jahre später, 1986, zählten nur noch etwa 25 % der Gesamtbelegschaft Zastavas als Mitglieder der Jugendorganisation.150 Geht man von einer fast vollständigen Integration dieser Altersgruppe in die Jugendorganisation aus, so dürfte sich der Anteil von Beschäftigten unter dreißig Jahren in beiden Fabriken zwischen mindestens 25 % und 43 % bewegt haben. 146 Vgl. ebenda, 483. 147 Vgl. M. J., Oformirana Omladinska radna brigada. U OOUR Mehanička obrada,
Crvena zastava, 22.2.1977, 6; Akcijaško „O-ruk!“ – po osmi put. ORA „Kragujevac ´83“, Crvena zastava, 15.6.1983, 3. 148 SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 15. 149 Zastava danas 1979, 26. 150 Zastava danas 1986, 23.
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Mobilisierung Die Mitgliedschaft und Aktivität junger Beschäftigter in Partei, Jugendorganisation und Selbstverwaltung war zeitlebens von Ambivalenz geprägt. Während die kommunistische Staatsführung einerseits danach strebte, große Teile der Bevölkerung in ihre Massenorganisationen einzubeziehen, behinderten soziale Hierarchien, dass sich der Einfluss einzelner Kategorien entfaltete. So waren jugendliche Mitglieder im BdKJ auf der einen Seite unverzichtbar für die Reproduktion kommunistischer Macht, auf der anderen Seite erschwerte das Festhalten der PartisanInnengeneration an ihren Funktionen in Politik und Wirtschaft in den 1960er Jahren einen Generationenwechsel in den jugoslawischen Eliten.151 Das fehlende Interesse der Jugend an politischer Arbeit beklagten Mitglieder des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes – SBWV bereits 1954. 152 Zwischen 1963 und 1964 verzeichnete der BdKJ ein Absinken des Anteils junger Mitglieder von 15,3 % auf 13,6 %, wobei insbesondere Kinder von FabrikarbeiterInnen die Tendenz parteigebundener politischer Abstinenz zeigten.153 Anstatt mit aktivem Einsatz für eine sozialistische Gesellschaft, so stellte die US-amerikanische Stadtsoziologin Sharon Zukin Mitte der 1970er Jahre heraus, verbänden viele junge Menschen den Eintritt in die Massenorganisationen und vor allem in die Partei vornehmlich mit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg. 154 Aus Perspektive des kommunistischen Staates der 1970er Jahre hatte die Jugendorganisation jedoch die Funktion ideologischer und ökonomischer Mobilisierung. Es galten diejenigen Basisorganisationen des Bundes der sozialistischen Jugend Jugoslawiens (SSOJ/ ZSMJ)155 als vorbildlich, die sich als gesellschaftlich-politische Organisation in ihrer TOZD bzw. Arbeitsorganisation etabliert haben, die die Jugend quantitativ wie qualitativ stark in die Selbstverwaltungsorgane eingebracht haben, die für die fachliche und ideologischpolitische Befähigung der jungen Generation sorgen und Programme gegen die Inflation ausgearbeitet haben, die sich in die gegen die Inflation gerichteten Programme in den TOZD und Arbeitsorganisationen eingegliedert haben, die ihren Beitrag zur Lösung verschiedener Probleme leisten, die Aktive junger Fachleute ins Leben gerufen haben, die Arbeitsprogramme aufgestellt haben, welche sie auch konsequent umsetzen und die eng mit den restlichen gesellschaftlich-politischen Organisationen zusammenarbeiten.156 151 Vgl. BUCHENAU, Der dritte Weg ins Zwielicht, 28. 152 Vgl. Dobrivojević, Između ideologije i popkulture, 128. Die Massenorganisation
153
154 155 156
SBWV trat 1953 die Nachfolge der Volksfront an. Srb.: „Socijalistički savez radnog naroda – SSRN“; Slow.: „Socialistična zveza delovnega ljudstva – SZDL“. Vgl. Radio Free Europe Research. Communist Area, Yugoslav Party Membership Survey, 19.07.1965, 3, unter , 1.5.2015. Vgl. Sharon ZUKIN, Beyond Marx and Tito. London u. a. 1975, 127f. Srb.: „Savez socijalističke omladine Jugoslavije/Srbije – SSOJ/S“, Slow.: „Zveze socialistične mladine Jugoslavije/ Slovenije – ZSMJ/S“. SI-PAM, f. 1372, šk. 7: Konferenca mladih delavcev, November 1976, S. 2.
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In diesem Sinne fungierten die betrieblichen Zweige der Jugendorganisation einerseits als Vermittlungsinstanzen, in denen junge Menschen die Prinzipien des Sozialismus und der Selbstverwaltung kennenlernen und einüben sollten. Andererseits wurde erwartet, dass sie sich ebenso wie die Partei und die Gewerkschaft an den Lösungen ökonomischer Probleme in der konkreten Umgebung der Betriebe beteiligten. Nachdem Studierende in Jugoslawien zwischen 1968 und 1971 an verschiedenen Hochschulen im Land mit Protesten auf ihre sozialen und nationalen Forderungen aufmerksam gemacht hatten, musste die kommunistische Führung bereits dieser Gruppe größere Aufmerksamkeit schenken. Aber nicht nur die akademisch gebildete Jugend fand Beachtung. Häufig beklagten VertreterInnen der Massenorganisationen die geringe Teilhabe von jungen Beschäftigten an Aktivitäten der Jugendorganisation. Diese führten die FunktionärInnen in den Massenorganisationen 1973 auf unerwünschte Ausprägungen der selbstverwalterischen Beziehungen in den Unternehmen zurück. Ein Bericht der Bundeszentrale des SSOJ in Belgrad über die Situation „arbeitender junger Menschen“ forderte von ihnen mehr Aktivität in der Lösung von Widersprüchen in der Entwicklung der gesellschaftlichpolitischen Beziehungen usw. Doch wir können mit der derzeitigen Stufe der Beteiligung der jungen Leute an der Selbstverwaltung, den Selbstverwaltungsorganen, dem Einfluss auf die Selbstverwaltung und mit ihrem Engagement in diese Richtung allgemein nicht zufrieden sein.157
Während junge Menschen ein Viertel der Beschäftigten in Jugoslawien ausmachten, seien sie mit nur einem Zehntel der Delegierten in den Arbeiterräten deutlich unterrepräsentiert, so der Bericht weiter.158 In der Folge gingen die VerfasserInnen des Dokuments den Ursachen für diesen Zustand nach und fragten, ob junge Menschen schlicht keine Möglichkeit hätten, an der Selbstverwaltung teilzunehmen oder kein Interesse zeigte. Die Antwort, welche sich auf „Gespräche in den Betrieben“ stützte, lautete: „Sowohl als auch“. Mangelndes Interesse der Jüngeren ging demnach mit der Dominanz älterer Beschäftigter in den Arbeiterräten einher. Aber auch der häufig niedrige Bildungsstand der jüngeren Generation und der Vorrang älterer Beschäftigter in der betrieblichen Weiterbildung wurden als Gründe für die schlechte Repräsentation junger Beschäftigter in den betrieblichen Selbstverwaltungsgremien angeführt. Auf der Mikroebene lassen sich die Teilhabe junger Menschen in den lokalen Zweigen der Jugendorganisation und der Selbstverwaltung folgendermaßen quantifizieren: Acht Jahre vor dem zitierten Bundesbericht, im Jahr 1965, waren im zentralen Arbeiterrat der Zastava-Werke unter den achtzig Delegierten nur zwei junge ArbeiterInnen.159 In Maribor waren 1976 laut einem Bericht der „Konferenz der jungen Arbeiter“, einer Sektion der Jugendorganisation, in der 157 SI-AS, f. 538, šk. 223: Društveno-ekonomski položaj zaposlene omladine, o.D.
[wahrscheinlich 1973], S. 6. 158 Vgl. ebenda, 8. 159 Vgl. ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ, 1965: Izveštaj o radu RS i UO, 1965, 2.
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Stadt etwa 18.000 ArbeiterInnen in einhundertfünfzig betrieblichen Gruppen organisiert, darunter auch bei TAM.160 Mit „Arbeitern“ waren hier Beschäftigte in Industriebetrieben insgesamt gemeint. Sie stellten neben den SchülerInnen, Studdierenden und Berufstätigen in anderen Wirtschaftszweigen nur einen Teil der Mitglieder der städtischen Jugendorganisation. Mit 30 % Vertretungsanteil in den Selbstverwaltungsgremien schätzten FunktionärInnen der Jugendorganisation die Beteiligung junger ArbeiterInnen als zufriedenstellend ein, bemängelten jedoch ihre Unterrepräsentation in wichtigen Positionen.161 Im Vergleich zu der im Bundesbericht von 1973 angeführten Quote von 10 % klingt dies nach einer hohen Beteiligung. Fragt man danach, wer genau diese aktiven jungen Menschen waren, so stellt man fest, dass solche Berichte eine Differenzierung nach Angestellten und ProduktionsarbeiterInnen niemals vornahmen. Stattdessen schien man sich mit den Erfolgen, 30 % der „jungen Arbeiter“ in die Selbstverwaltung integriert zu haben, zufrieden zu stellen. Ähnlich wie im Fall der Repräsentation von ProduktionsarbeiterInnen in Partei und Selbstverwaltung, beklagten die Massenorganisationen jedoch von Zeit zu Zeit die Dominanz der Angestellten in ihren Reihen. Im schon erwähnten Bericht der Bundesjugendorganisation über die „gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung der berufstätigen Jugend“ von 1973 legten die VerfasserInnen ihren eigenen Unterorganisationen zur Last, sie würden die ArbeiterInnen – diesmal verstanden als ProduktionsarbeiterInnen – in ihren Reihen mit zu geringer Aufmerksamkeit bedenken. In Befragungen hätten junge ArbeiterInnen sich über „die Indifferenz der Verwaltungsorgane, der gesellschafts-politischen Organisationen, führender MitarbeiterInnen und der Jugendorganisationen in den Gemeinden“ beklagt.162 Sowohl auf gesamtjugoslawischer Ebene als auch in den Fabriken in Maribor und Kragujevac identifizierten FunktionärInnen die Trennung von geistiger und manueller Arbeit als Ursache für die geringeren Möglichkeiten zur Partizipation junger ProduktionsarbeiterInnen. Der gesamtjugoslawische Bericht von 1973 wies dementsprechend auf die Schichtarbeit hin, die viele Jugendliche von Aktivität in den Jugendorganisationen abhalte.163 Ebenso stellten die Jugendorganisationen 1965 bei Zastava und 1976 bei TAM fest, dass die Arbeit in Spätund Nachtschicht, die fast ausschließlich in produzierenden Tätigkeiten anfallen, junge ArbeiterInnen daran hindere, an Aktivitäten der Jugendorganisation teilzunehmen.164 Zudem, so klagten die VertreterInnen der betrieblichen ZSMSGruppe Mitte der 1970er bei TAM, verhindere die hohe Fluktuation in der Lackiererei und der Montageabteilung, dass junge ArbeiterInnen nachhaltig eingebunden würden.165 Die Massenorganisationen reflektierten hier also die Auswirkungen, welche die Zugehörigkeit zu den Kategorien „jung“ und „ArbeiterIn“ 160 161 162 163 164
Vgl. SI-PAM, f. 1372, šk. 7: SI-PAM, f. 1372, šk. 7, 1. Vgl. ebenda; Milan PERKO, Kritična ocena dela mladih, Skozi TAM, 5.3.1976, 8. Vgl. SI-AS, f. 538, šk. 223: Društveno-ekonomski položaj zaposlene omladine, 23. Vgl. ebenda, 24. Vgl. A.R., Vesti iz Saveza omladine; SI-PAM, f. 1372, šk. 7: SI-PAM, f. 1372, šk. 7, 4.
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auf die Voraussetzungen zur Teilhabe hatten, als problematisch. Dabei berücksichtigten sie sowohl Faktoren, die in der Arbeitsteilung im tayloristisch organisierten Industriebetrieb begründet lagen, als auch ihr eigenes Agieren als Organisation.
Disziplinierung Die Versuche, junge Menschen für die Partizipation in den sozialistischen Massenorganisationen zu mobilisieren, waren begleitet von Bestrebungen zu ihrer Disziplinierung am Arbeitsplatz und Forderungen engagierteren politischen Wirkens in der Jugendorganisation. An welchen Stellen ideologisch angehauchte Kritik an ihrer Passivität in ökonomisch motivierte Klagen über die vermeintlich nachlässige Haltung junger Menschen zur Arbeit überging, lässt sich nicht immer deutlich abgrenzen. Einerseits waren Kritik älterer KollegInnen an der Arbeitsmoral der jungen Beschäftigten von Verweisen auf die sozialistischen Aufbaujahre durchsetzt. Andererseits kommentierten aber auch die Jugendorganisationen sowohl den mangelnden politischen Eifer ihrer Mitglieder als auch ihre zu niedrige Arbeitsdisziplin. Obwohl solche Klagen bereits in den frühen 1950er Jahren bemerkbar waren, sind sie im Quellenmaterial der Fabrikarchive in Maribor und Kragujevac in den 1970er Jahren verstärkt zu finden. In Bezug auf die Arbeit in den Massenorganisationen beklagten leitende FunktionärInnen, dass sich das Interesse vieler Mitglieder zu sehr auf Konsum, Unterhaltung und die Hebung des Lebensstandards richtete. Ein Bericht aus Maribor kritisiert im Jahr 1976 Mitglieder der Jugendorganisation, denen die ideologisch-politische Bildung fehlt, wie auch praktische Erfahrungen der Leitung von Grundorganisationen des ZSMS. Hier geht es nicht um ich weiß nicht was für eine theoretische Beschlagenheit auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie, sondern um die völlig alltägliche Kenntnis unserer Aufgaben beim Aufbau und der Entwicklung selbstverwalteter sozialistischer Gemeinschaften und um die grundlegendsten Elemente der marxistischen Philosophie. Die Grundorganisationen des ZSMS, die von solchen Jugendlichen geführt werden, beschäftigen sich hauptsächlich mit Freizeitangeboten, mit der Organisation von Ausflügen, kulturellen Veranstaltungen und Modenschauen.166
Diese Kritik ging mit Rügen niedriger Arbeitsmoral junger Menschen Hand in Hand. Wie bereits in Kapitel 5.2. diskutiert, wurden in den 1970er Jahren in den Fabrikzeitungen verstärkt Disziplinverletzungen am Arbeitsplatz angeprangert. Dabei wurden insbesondere junge ArbeiterInnen oft mit fehlender Bereitschaft, diszipliniert zu arbeiten, assoziiert, auch von der Jugendorganisation selbst.167 Der Vorwurf der Undiszipliniertheit bezog sich aber nicht nur auf die Arbeit. Auch die unachtsame Art, wie junge Menschen die Räumlichkeiten und Ein165 Vgl. S. M., Predstavljamo aktiv mladih iz TOZD Montaža, Skozi TAM, 31.1.1975,
6; SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Zapisnik 1. seje OO ZK TOZD Površinska obdelava, 15.01.1976, S. 2. 166 SI-PAM, f. 1372, šk. 7: SI-PAM, f. 1372, šk. 7, 1f. 167 Vgl. PERKO, Kritična ocena dela mladih.
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richtung des betrieblichen Wohnheims nutzen würden, kritisierten Mitglieder des Selbstverwaltungsgremiums Exekutivrat bei TAM.168 Die Zuschreibung, dies läge an der (ländlichen) Herkunft von jungen MigrantInnen aus anderen Republiken, welche eine dominante NutzerInnengruppe der Wohnheime ausmachten, schwang implizit mit, wie Kapitel 6.5. eingehender behandelt. Ein Artikel der Zastava-Fabrikzeitung in Kragujevac forderte 1974, Disziplinarverstöße junger ArbeiterInnen schärfer zu sanktionieren. Drei Jahre später machte ein Journalist der gleichen Zeitung vornehmlich junge und unqualifizierte ArbeiterInnen als die VerletzerInnen der Arbeitsdisziplin aus.169 Sanktionierungspraktiken in der Nutzfahrzeugfabrik betrafen bereits 1972 mit 50 % der verhandelten Fälle überdurchschnittlich viele Beschäftigte unter dreißig Jahren, nimmt man ihren Anteil von etwa einem Drittel der Gesamtbelegschaft als Maßstab. Dies ist aus der Dokumentation der Disziplinarkommission des Arbeiterrats ersichtlich, die im Zeitraum Februar bis Oktober 1972 eine Anzahl von 43 Fällen behandelte.170 Die Studie Branislav Čukićs zu Absentismus bei der Arbeit und in der Selbstverwaltung von 1985 bestätigte, dass die dokumentierte und sanktionierte Abwesenheit von der Arbeit bei jüngeren MitarbeiterInnen höher als bei älteren war. Der Soziologe und langjährige Mitarbeiter der Personalabteilung bei Zastava ließ aber in der Deutung dieser Verteilung bewusst mehrere Denkrichtungen zu: Höhere Ansprüche an die Arbeitsbedingungen und das Fortkommen in der Arbeitswelt, die Čukić dem sich vollziehenden gesellschaftlichen Wertewandel ableitete, würden Frustrationen bei jungen Menschen hervorrufen.171 Zwar bezeichnete Čukić diese Ansprüche als überzogen, identifizierte aber auch die Arbeitsbedingungen als „inhuman“172, womit er insgesamt eher eine auf Verstehen ausgerichtete Perspektive einnahm. Eine solche Sichtweise, die er nicht nur in seiner soziologischen Fachpublikation, sondern zu Beginn der 1980er Jahre auch in der betrieblichen Öffentlichkeit vertrat,173 unterscheidet sich deutlich von denen, die allein auf Disziplinierung und soziale Kontrolle setzten. Dass ältere ArbeiterInnen an den Erwartungen und Forderungen jüngerer Anstoß nahmen und ihnen niedrige Arbeitsmoral vorwarfen, äußerte sich zudem in Konflikten wie Streiks. In einem Fall aus der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik aus dem Jahr 1975 begründeten junge ArbeiterInnen ihren Ausstand mit Lohnforderungen. Eine Gruppe junger Männer musste sich disziplinarisch dafür verantworten und wurde in der Folge in andere Abteilungen auf Arbeitsplätze mit niedrigeren Einkommen versetzt. Als sie vor dem Arbeiterrat gegen die Diszi168 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 31. redne seje izvršilnega odbora delavskega
169 170 171 172 173
sveta delovne organizacije Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, 30.01.1979, S. 1. Vgl. Đ. O., Sumnjiva bolovanja ugrožavaju proizvodnju, Crvena zastava, 18.9.1974, 2; Z. Ž., Veća pažnja radnoj diciplini. Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Povrede radnih dužnosti, 1972. Vgl. ČUKIĆ, Apsentizam u radu, 67. Vgl. ebenda. OSREČKI / GLIŠOVIĆ, Okrugli sto: Odgovornije.
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plinarentscheidungen Widerspruch einlegten, warf ihnen einer der Leiter vor: „Jemand muss die Verantwortung tragen, vor allem wenn man berücksichtigt, dass ihr junge Leute seid und nun jammert, dass ihr 140.000 verdient.“174 Offenbar hielt der ältere Leiter den Verdienst von 140.000 Dinar angesichts des Alters der Arbeiter für angemessen, eine Ansicht, die diese nicht teilten. Hier gingen die Erwartungen der unterschiedlichen Altersgruppen klar auseinander. Sich wandelnde Einstellungen zur Arbeit beklagen auch ArbeiterInnen, die in den frühen 1980er Jahren als verdiente Mitglieder der Belegschaft in der Betriebszeitung Crvena zastava porträtiert wurden. So betonte der Transportarbeiter Milinko Marinković, der seit 1944 im werksinternen Eisenbahnverkehr der Fabrik in Kragujevac arbeitete, 1981: Ich lebe völlig durchschnittlich. Wenn ich heute noch einmal wählen müsste, was ich arbeiten wollte, dann würde ich wieder Fahrer werden. […] Den jüngeren Kollegen kreide ich eine gewisse Nachlässigkeit bei der Arbeit an und ich finde, dass sie sich der Arbeit mit mehr Verantwortungsgefühl widmen müssten.175
Eine höhere Arbeitsmoral als Charakteristikum der älteren Generation formulierte auch der 51-jähige Schlosser Jelenko Kučević 1985 in der Betriebszeitung. Nachdem er in den 1950er Jahren sein Arbeitsleben begonnen hatte, bekleidete in Mitte der 1980er Jahr in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik einen mittleren Leitungsposten: Früher hat man anders gearbeitet. Es gab mehr Disziplin, Präzision, Verantwortungsgefühl aber auch bessere zwischenmenschliche Beziehungen. Nun, es scheint mir, als hätte es sich schöner gelebt.176
Rufe nach Disziplinierung der Jüngeren und einer strengeren Hierarchie zwischen den Altersgruppen in den Fabriken waren demzufolge auf einer diskursiven Ebene etabliert. Solche Haltungen betrachteten auf eine Weise, die weder für den Sozialismus noch die 1970er oder 1980er Jahre spezifisch ist, vergangene Zeiten als verloren gegangene „bessere Zeiten“. Die Dokumentations- und Sanktionspraktiken von Disziplinverletzungen sprechen dafür, dass sich diese Hierarchien nicht nur diskursiv, sondern auch in der sozialen Praxis der Betriebe manifestierten. Während sich FunktionärInnen in den Massenorganisationen seit den frühen 1950er Jahren ähnlich wie ältere Belegschaftsmitglieder über die Tendenz eines vornehmlichen Interesses an Unterhaltung statt an politischer Arbeit beschwerten, versuchten sie gleichzeitig, die Zielgruppe der Jugendlichen mit Freizeitangeboten zu erreichen. Marc Halder berichtet in seiner Studie zum Tito-Kult von analogen Strategien, welche die PlanerInnen des „Tages der Jugend“ anwandten, um Jugendliche dafür zu gewinnen, den Geburtstag des 174 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 55. sednice Radničkog saveta
OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 05.05.1975, S. 3. 175 Intervju. Nikad ne treba žuriti, Informator „Zastava transport“, Nr. 7, Januar 1981,
6. 176 Z. RADOVANOVIĆ, Čovek i traka. Mesto za mlađe, Crvena zastava, 6.3.1985, 6.
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Staatsführers mit Begeisterung zu begehen. Bereits ab 1957 ist dokumentiert, dass man für den „Dan mladosti“ am 25. Mai eines jeden Jahres verstärkt auf Kultur-, Sport- und Unterhaltungsprogramme setzte. Damit versuchte man, jungen Menschen die ideologische Botschaft, die in der Wahrung der jugoslawischen Kriegserinnerung im Sinne des mythologisch überhöhten Kampfes der PartisanInnen bestand, nahe zu bringen.177 Wiederum auf die Sphäre der Arbeit und der Industriebetriebe bezogen, bot sich für die mit den 1970er Jahren wieder stärker auflebenden Jugendbrigaden ein ähnlich ambivalentes Bild. Das Mobilisierungsinstrument der Arbeitsbrigaden, dessen sich die Jugendorganisationen auf lokaler und auf Bundesebene bedienten, rekurrierte stark auf den Arbeitsethos der Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1970er Jahren waren so die Arbeitsbrigaden an sich schon ein Teil sozialistischer Tradition geworden. Das Arbeitsethos der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch sei jüngeren Menschen laut älteren Beschäftigten abhanden gekommen und es fielen nun auch die Jugendbrigaden unter den Verdacht, hauptsächlich Bedürfnisse nach Zerstreuung und Geselligkeit zu befriedigen. Die ältere Generation in den Betrieben erachteten 1973 dementsprechend Arbeitsaktionen neben Ausflügen und Unterhaltungsprogrammen als die weniger nützlichen Aktionsformen der Jugendorganisation, welche auf unerwünschte Weise die Teilnahme an der Selbstverwaltung in den Hintergrund treten ließen.178 Es gibt Hinweise darauf, dass sich heute in vielen Gegenden des ehemaligen Jugoslawien die Jugendarbeitsbrigaden der 1960er, 1970er und 1980er Jahre als positive konnotierte Elemente der populären Erinnerungskultur an den sozialistischen Staat etabliert haben.179 Aber auch aus zeitgenössischen Dokumenten ist ablesbar, dass die Entsendung zu einer Jugendbrigade unter jungen Beschäftigten begehrt war, zumal die Betriebe für eine Abwesenheit zu diesem Zweck bezahlten Urlaub gewähren mussten. Aus den Protokollen einer Sitzung des Arbeiterrates der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik von 1984 geht hervor, dass man sich das „Privileg“ der Teilnahme an dieser beliebten, staatlich initiierten Maßnahme zur übernationalen jugoslawischen Identitätsbildung und Huldigung des sozialistischen Aufbauethos verdienen musste.180 Das Mitglied der Jugendorganisation Branislav S. hatte vom Arbeiterrat entgegen seiner Erwartung keine Erlaubnis bekommen, zu einer bevor177 Zum „Tag der Jugend“ als Element des Tito-Kults: HALDER, Der Titokult, 192–226. 178 Vgl. SI-AS, f. 538, šk. 223: Društveno-ekonomski položaj zaposlene omladine. 179 Vgl. Iris ANDRIĆ / Vladimir ARSENIJEVIĆ / Đorđe MATIĆ (Hgg.), Leksikon YU mitolo-
gije. Beograd 2004, sowie zahlreiche auch in Städten abseits der Zentren in Slowenien und Serbien selbstorganisierte Jubiläen und Dokumentationen von Arbeitsbrigaden, z. B.: Jože POJBIČ, »Doživeli smo nekaj, česar naši otroci ne morejo«. Srečanje brigadirjev iz Paraćina in Murske Sobote po več kot treh desetletjih, Delo, 27.5.2013, unter , 20.5.2015; Z. PANIĆ, Tri decenije Omladinske radne akcije u Pirotu, Danas, 5.7.2010, unter , 20.5.2015.
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stehenden Jugendbrigade zu fahren. In seinem Einspruch gegen diese Entscheidung wird deutlich, dass man sich das Recht, entsendet zu werden, mit den Mühen der Ebene in der alltäglichen Arbeit der Jugendorganisation verdienen musste. Im Arbeiterrat argumentierte er, als über den Einspruch entschieden werden sollte: Meines Erachtens besteht keine rechtliche und moralische Grundlage, mir zu verbieten, auf die Arbeitsaktion zu fahren. Ich bin ein größerer Aktivist der Jugendorganisation als viele hier. [Srb. Original: „Ja sam veći omladinac od mnogih ovde.“] Was die Behauptungen angeht, ich sei kein Aktivist, das lässt sich widerlegen. Meines Erachtens ist in dieser ganzen Angelegenheit vor allem die Bezahlung strittig. Hat sich einmal jemand gefragt, wie viel Einsatz ich beim Sammeln von Sekundärrohstoffen gezeigt habe? Auf der Liste der Kandidaten, denen die Abwesenheit erlaubt wurde, sehe ich keinen besseren als mich und deshalb finde ich, dass man mir gestatten muss, auf die Jugendarbeitsaktion zu fahren.181
Hier überlagerten sich mehrere ambivalente Bezüge, welche verschiedene Beteiligte zur Arbeitsmoral junger Menschen und dem gleichzeitigen Freizeitcharakter der Jugendbrigaden herstellten. Für die Fabrik stellte die bezahlte Freistellung junger ArbeiterInnen einen von den Massenorganisationen verordneten Kostenfaktor dar, den Unternehmen sicherlich nur für Belegschaftsmitglieder auf sich nehmen wollten, die nicht durch Disziplinverletzungen aufgefallen waren. Gleichzeitig blickten ältere Belegschaftsmitglieder mit Argwohn auf die Vergnügen, welche die Brigadeeinsätze für die jungen Menschen bedeuteten und assoziierten sie eher mit Freizeit als mit Arbeit. Auch innerhalb der Jugendorganisation schienen sie als Belohnungen für bereits geleistete Arbeit gehandelt zu werden. Auf einer weiteren Ebene, nämlich der propagandistischen Berichterstattung von den Bundesjugendbrigaden, standen wiederum die gelebte Werte wie das staatstragende Motto Brüderlichkeit und Einheit sowie der Enthusiasmus für kollektiv verrichtete Arbeit, die dem Allgemeinwohl diente, im Mittelpunkt.182 Anhand der Jugendbrigaden lässt sich somit exemplifizieren, auf welch ambivalente Weise junge ArbeiterInnen für sozialistische Werte stehen sollten aber gleichzeitig die Verkörperungen eines vielfach beklagten Werteverlusts und damit einhergehend eine stark von Disziplinierungsbestrebungen betroffene Gruppe verkörpern.
Forderungen – Generationenkonflikte als Ressourcenkonflikte Ebenso wie anhand anderer Linien fanden anhand der sozialen Kategorie Alter Auseinandersetzungen um Ressourcen statt, die im sozialistischen Jugoslawien knapp waren oder es im Laufe der Jahrzehnte wurden: Arbeitsplätze und Wohnraum. Während sich auch Beschäftigte nahe des Rentenalters und schon in Alterspension gegangene Angehörige von Industriebetrieben in kritischen sozialen 180 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984: Zapisnik sa sednice Radničkog saveta
OOUR-a „Privredna vozila FPV“, o. D. [wahrscheinlich Juni 1984], S. 13. 181 Ebenda. 182 Vgl. Akcijaško „O-ruk!“ – po osmi put.
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Situationen wiederfanden, dominierte die Lage der jungen Belegschaftsmitglieder die Diskussion um altersspezifische soziale Benachteiligung. Die Jugendorganisation erfüllte dabei neben der Mobilisierung und Disziplinierung unter anderem eine weitere Funktion: die als Artikulationsinstrument von Interessen junger Menschen. Der SSOJ diente dabei als Kommunikationskanal von der gesellschaftlichen Basis in Richtung der Spitzen der Massenorganisation in den Republikshauptstädten und der Regierung in Belgrad. Am Beispiel der kritischen Arbeitsmarktsituation für Jugendliche in den 1960er Jahren mündete eine solche Interessenvertretung in der konkreten Forderung, das Bundesgesetz über das Renteneintrittsalter zu verändern. Im Zuge der Wirtschaftsreformen wurde in der Zastava-Betriebszeitung 1965 gefordert, pensionierten Beschäftigten zu verbieten, als Honorarkräfte im Betrieb zu arbeiten. Ebenso sollten alle, die die Bedingungen für den Renteneintritt erfüllten, auch verpflichtet werden, in Pension zu gehen.183 1966 und 1968 hatten Forderungen nach entsprechenden Gesetzen den Weg in Kommissionssitzungen des Zentralkomitees der serbischen Jugendorganisation gefunden.184 Im weiteren Verlauf der Debatte in den Massenorganisationen dokumentierte 1973 die Kommission für Sozialpolitik des serbischen Zentralkomitees des BdK in einem Bericht zumindest, dass die RentnerInnen mit dem neuen Arbeitsgesetz wählen müssten, entweder ihre Rente oder ein Einkommen aus Arbeit in einem Betrieb zu beziehen.185 Ohne dass ersichtlich wäre, ob ein Jahr später eine solche Gesetzesregelung galt, hatte sich die Praxis 1974 noch nicht geändert. Die Klage eines Delegierten aus dem ostserbischen Pirot auf einer Komissionssitzung der serbischen Jugendorganisation für „gesellschaftlich-wirtschaftliche Beziehungen und Sozialpolitik“ über pensionierte Armeeangehörige und Sicherheitsbeamte, die jungen Menschen die Arbeit wegnähmen, spricht dagegen, dass ein solches Gesetz schon wirksam implementiert war. In Slowenien erlaubten in der TAM-Fabrik die Vorschriften zur Anstellung und Entlassung von MitarbeiterInnen bereits 1966 die Entlassung von MitarbeiterInnen gegen ihren Willen, wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht hatten.186 Da aber Slowenien im Gegensatz zu Serbien im Großen und Ganzen erst ab den frühen 1980er Jahren vom Massenphänomen Arbeitslosigkeit betroffen war, tauchten Forderungen nach Zwangsverrentungen auch erst dann auf der Agenda der Massenorganisationen auf. So verlangte ein Redner auf einer Parteisitzung in der Abteilung Karosseriebau bei TAM 1981, was in Serbien seit den 1960er Jahren mit großer Dringlichkeit diskutiert wurde, nämlich den forcierten Renteneintritt derjenigen, die die Bedingungen erfüllten sowie das Verbot von Honorararbeit pensionierter MitarbeiterInnen.187 183 Vgl. B. R., Privredna reforma. 184 Vgl. AS, Đ-46, k. 5: Stenografske beleške sa sastanka komisije za proizvodnju i sa-
moupravljanje, 13.10.1966, S. 40; AS, Đ-46, k. 5: Stenografske beleške sa sastanka komisije za proizvodnju i samoupravljanje, 31.01.1968, S. 13. 185 Vgl. AS, Đ-2, k. 127: Aktivnost na ostvarivanju zadataka, 11f. 186 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 654: Pravilnik o delovnih razmerjih 1966, 65.
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Ein weiteres Problem für die Produktivität der Wirtschaft, aber auch für die Situation ausgebildeter junger Menschen, bestand darin, dass viele Arbeitsplätze, die in Zeiten des Arbeitskräftemangels mit Unterqualifizierten besetzt worden waren, nicht an nachrückende junge Qualifizierte vergeben werden konnten.188 Bei Zastava entstand eine solche Situation, nachdem eine große Menge Arbeitsplätze im Zuge einer Ausbauphase der Automobilfabrik 1962 besetzt werden musste.189 1968 hatten die Berufsschulen die erforderlichen qualifizierten jungen ArbeiterInnen ausgebildet, doch nun arbeiteten schon Ältere mit formal niedrigeren Qualifikationen auf den entsprechenden Arbeitsplätzen. Nicht wenige junge Menschen waren in der Folge gezwungen, trotz Ausbildung auf Arbeitsplätzen für Unqualifizierte ins Berufsleben einzusteigen, womit sie zwar eine Arbeit hatten, aber mit niedriger qualifizierten KollegInnen und Vorgesetzten konfrontiert waren. Die Schwelle zu enttäuschten Erwartungen und Frustrationen über diese Lage kann für BerufseinsteigerInnen in einer solchen Situation bereits überschritten gewesen sein. Neben der Jugendarbeitslosigkeit bestand im Wohnungsmangel das zweite große Konfliktfeld. Auch über diesen Aspekt entwickelte sich in den Jugendorganisationen, Betrieben aber auch in der soziologischen Fachpresse eine Diskussion über ihre Benachteiligung, waren doch jüngere Beschäftigte strukturell von ihr betroffen.190 Insbesondere in Maribor trat dies in der Betriebszeitung offen zutage. So forderte die Jugendorganisation ZSMS bei TAM 1968 eine Modernisierung der betrieblichen Wohnheime.191 1976 erhob die Vertretung der jungen Beschäftigten den Vorwurf, sie seien bei der Wohnungsvergabe benachteiligt.192 Als Ausweg aus dieser Situation forderte der betriebliche ZSMSZweig im Rahmen der Selbstverwaltungslogik, dass junge Mitglieder der Belegschaft aktiver an den Regelwerken zur Wohnungsverteilung mitwirken sollten. Tatsächlich war die Verweildauer im Betrieb sowohl in Maribor als auch in Kragujevac zeitlebens ein Kriterium zur Wohnungsvergabe, sollten doch MitarbeiterInnen an der Fluktuation gehindert werden. Im erwähnten Artikel in der Betriebszeitung Skozi TAM aus dem Jahr 1976 setzte sich die Jugendorganisation gemeinsam mit VertreterInnen anderer Massenorganisationen und der Betriebsleitung vor allem für junge Familien ein, wenn sie mehr Wohnraum für junge Menschen forderte. Als Zwischenlösung für das als strukturell identifizierte Problem sollte vorerst ein Instrument der städtischen Sozialpolitik dienen: Aus einem städtischen Solidarfonds, in den Betriebe einzahlten, wurden ab den frühen 1970er Jahren den Betrieben Wohnungen für sozial schlechter gestellte 187 Vgl. SI-PAM, f. 1346, šk. 39: Zapisnik 4. rednega sestanka OOZK TOZD Karoser-
nica, 09.06.1981, S. 2. 188 Vgl. AS, Đ-46, k. 5: Stenografske beleške sa sastanka, 13.10.1966, 38. 189 Vgl.AS, Đ-46, k. 5: Stenografske beleške sa sastanka, 31.01.1968, 14f. 190 Vgl. SI-AS, f. 538, šk. 223: Društveno-ekonomski položaj zaposlene omladine, 16;
ŽIVKOVIĆ, Jedan primer segregacije, 38; BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti, 84, 137. 191 Vgl. Nova oprema samskih domovih, Skozi TAM, 30.4.1968, 15. 192 Vgl. PERKO, Kritična ocena dela mladih.
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MitarbeiterInnen zugeteilt, die diese dann mittels interner Prozeduren verteilten.193 Wenn hier von jungen Familien gesprochen wurde, so betonte die Jugendorganisation, dass es sich hier um eine sozialpolitisch zu begünstigende und als verantwortungsvoll konnotierte Untergruppe „der Jugend“ handelte. Während in den beiden Beispielen die Jugendorganisation als Vermittlerin der Interessen ihrer Zielgruppe auftrat, übernahm sie z. B. in Maribor gegen Ende der 1970er Jahre auch die Rolle einer Instanz, die die Erwartungen junger Menschen in Bezug auf eigenen Wohnraum im Zaum halten sollte.194 Wie dies schon seit den frühen 1960er Jahren unter anderem der „Vater“ der Selbstverwaltung Edvard Kardelj anmahnte,195 forderte man nun wieder eine stärkere finanzielle Beteiligung der Beschäftigten an der Lösung ihrer Wohnraumprobleme. In den späten 1970er Jahren hob die die „Konferenz der jungen Arbeiter“ in Maribor hervor, dass junge ArbeiterInnen besser mit den (langwierigen) Prozeduren der Wohnungszuteilung vertraut gemacht werden müssten.196 Auch hier betonten die Delegierten der „Konferenz der jungen Arbeiter“, es seien besonders junge Familien, denen Wohnungen von den Betrieben zur Verfügung gestellt werden sollten.
Fazit Der Status junger IndustriearbeiterInnen in den Betrieben wurde von den beteiligten Instanzen mit verschiedenen Absichten verhandelt. Die kommunistische Führung und die FunktionärInnen der Massenorganisationen forderten öffentlich überwiegend ihre ideologische Erziehung und ihre Integration in die Selbstverwaltung. Abgesehen von den Problemen, die sich aus einem so stark arbeitszentrierten Gesellschaftsentwurf ab den 1960er Jahren angesichts der Massenarbeitslosigkeit gerade junger Menschen ergab, bereitete dieser Anspruch den Verantwortlichen in Bezug auf die jungen IndustriearbeiterInnen einige Mühen. Obwohl das nicht öffentlich reflektiert wurde, registrierten Mitglieder in internen Diskussionen und Berichten der Jugendorganisation in regelmäßigen Abständen, dass junge ArbeiterInnen unzureichend in die Massenorganisationen und die Selbstverwaltung einbezogen waren.
193 Vgl. ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 12. sednice Radničkog, 8; SCHMIDT-
HÄUER, Zurück zum eigenen Häuschen?; neben den Solidaritätsfonds auf Gemeindeebene existierten in beiden Betrieben auch „freiwillige“ Arbeit an eigentlich arbeitsfreien Samstagen, deren Erlös u. a. dem Kauf von Wohnungen für Härtefälle in der Belegschaft zugute kam, siehe Kapitel 6.2. 194 Vgl. SI-PAM, f. 1372, šk. 12: Predlog: Ugotovitve in stališča predsedstva konference mladih delavcev o stanovanjski problematiki in uresničevanju samoupravnih družbenoekonomskih odnosov v stanovanjskem gospodarstvu, o.D. [wahrscheinlich 1978 oder 1979]. 195 Vgl. Radio Free Europe, New Approach to Housing Problem in Yugoslavia, 02.12.1963, unter , 1.5.2015. 196 Vgl. SI-PAM, f. 1372, šk. 12: Predlog: Ugotovitve in stališča predsedstva, 4.
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Ein Unteraspekt der (ideologischen) Mobilisierung junger Menschen bestand in ihrer Disziplinierung. Diese betraf sie sowohl in ihrer Rolle als AktivistInnen der Jugendorganisation als auch als ArbeiterInnen im Produktionsprozess. Betriebsleitungen und die Jugendorganisationen nutzten dabei unter anderem die Fabrikzeitungen zur öffentlichen Rüge sowie formale Disziplinarverfahren bei Verletzungen der Arbeitsdisziplin. In diesen Maßnahmen manifestierten sich soziale Hierarchien zwischen jüngeren und älteren Betriebsangehörigen aber auch sich ändernde Werthaltungen. Die Älteren kritisierten wie auch anderswo in Europa zu dieser Zeit die Lebensstile und Erwartungen junger Menschen. Das Beispiel der Jugendbrigaden zeigt, wie ein durch die politische Führung ins Leben gerufenes Instrument zur Inszenierung der Jugend als sozialistische Avantgarde paradoxerweise gleichzeitig als Ausdruck ihrer mangelnden Arbeitsfreude und Ernsthaftigkeit gedeutet wurde. Zudem wird deutlich, dass ein Mobilisierungsinstrument kommunistischer Herrschaft wie die Jugendbrigaden für die Betriebe mit Kosten verbunden war, da für sie MitarbeiterInnen mit bezahltem Urlaub freigestellt wurden. Dass die Betriebe diesen Pflichtbeitrag mitunter nur zähneknirschend leisteten, zeigen Auseinandersetzungen im Arbeiterrat der Nutzfahrzeugfabrik in Kragujevac. Nicht zuletzt erfüllten die Jugendorganisationen in eingeschränktem Maße die Funktion, Forderungen junger Beschäftigter im Sinne von Bottom-upKommunikationsprozessen im Institutionengefüge staatlicher Sozialpolitik zu artikulieren. Als Mechanismus, der die fünfzehn bis siebenundzwanzig-Jährigen ins politische System integrieren und sie somit auch repräsentieren sollte, konnten die Jugendorganisation die Probleme junger Menschen in staatlich regulierter Weise kommunizieren. Obgleich die Unterkategorie junger ProduktionsarbeiterInnen in der Organisation nur eingeschränkt repräsentiert war, verfügte „die Jugend“ mit ihr über eine institutionalisierte und staatlich geförderte Vertretungsinstanz. Interessen anderer sozialer Gruppen, wie der Frauen oder der BinnenmigrantInnen wurden demgegenüber sowohl in den Betrieben als auch in der Gesellschaft als Ganzes gar nicht, bzw. in weitaus eingeschränkterem Maße von den quasi-staatlichen Strukturen repräsentiert.
6.4. Geschlecht: Die „sozialistische Emanzipation“ von Frauen im Industriebetrieb Mit sieben Jahren Abstand erschienen in der Fabrikzeitung Skozi TAM in Maribor zwei Beiträge zum internationalen Frauentag, die zwei sehr unterschiedliche Haltungen zu gleichberechtigten Beziehungen zwischen den Geschlechtern wiedergaben. 1968 hieß es dort aus männlicher Feder: `Richtig, dass sich wenigstens einmal im Jahr jemand an uns Frauen und Mütter erinnert.´ Und tatsächlich verbirgt sich hinter diesem Worten so viel Lebenserfahrung und echte weibliche Emotionalität! Ja, es ist richtig, dass wir alle `wenigstens an einem Tag im Jahr´ gleichzeitig unseren Müttern, Frauen und Schwestern – unseren Kolleginnen unsere Anerkennung aussprechen. […] An einem Tag im Jahr – am 8. März – soll ein Festtag sein! An diesem Tag müssen wir uns an all unsere
290 Schuld und fehlende Anerkennung erinnern, die Frauen manchmal entgegenschlagen und die auch heute nicht ganz abgeschafft sind.197
Der Frauentag erschien hier als eine Art „Tag des schlechten Gewissens“, an dem mit symbolischen Gesten die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kommunistischer Gleichstellungsforderungen überbrückt werden sollte. Mit der überschwänglich geäußerten Anerkennung sollte den Kolleginnen hier ein Geschenk zukommen, das für alltägliche Versäumnisse im gleichberechtigten Umgang der Geschlechter miteinander Kompensation bieten sollte. Die „Emotionalität“ der Frauen und ihre Rollen in der Familie waren zentrale Charakteristika, die der Autor den Kolleginnen zuschrieb. Im Kontrast dazu stellte eine Autorin in einem der Artikel zum 8. März 1975 deutliche Forderungen: Es ist völlig klar, dass wir mit gemeinsamen Kräften alle Anstrengungen unternehmen müssen, sobald wie möglich die Fragen der allgemeinen Arbeitsbedingungen, gesellschaftlichen Essensversorgung, Kinderbetreuung und der Ganztagsschule angemessen zu lösen. Man muss ideologisch-politische Anstrengungen dahingehend investieren, dass diese Bestrebungen nicht als Hilfsangebot an die Frauen im Leeren verlaufen. Als heutige Frauen tragen wir mit unserer Arbeit gleichberechtigt zur Entwicklung unserer gesamten Gesellschaft bei, sodass auch unsere gesamte Gesellschaft ihren Beitrag zur Ausmerzung konservativer Haltungen zur Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft und Familie leisten muss.198
Kämpferisch verlangte die Autorin auf Seite eins der Fabrikzeitung Skozi TAM, Frauen als aktive gesellschaftliche Subjekte wahrzunehmen. Die Entlastung von Frauen bei der Haus- und Familienarbeit sei als gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zu betrachten, da sie unter anderem in der sozialistischen Ideologie begründet war. An den Beispielen der beiden Industriebetriebe in Maribor und Kragujevac lassen sich übergeordnete Entwicklungen in der sich verändernden Rolle von Frauen in der jugoslawischen Gesellschaft beobachten. Zwischen 1945 und 1964 wuchs die Frauenerwerbstätigkeit in Jugoslawien mit 7,3 % rascher als in anderen europäischen Staaten.199 Unter anderem der Zweite Weltkrieg und die daraufhin einsetzende kommunistische Herrschaft bewirkten eine Veränderung der Geschlechterrollen. Mit der massenhaften Teilnahme von Frauen als Kämpferinnen im kommunistischen „Volksbefreiungskampf“ hatten sie ihren Beitrag zur Befreiung des Landes geleistet.200 Diese Beteiligung fand ihren institutionellen Ausdruck in der Gründung der antifaschistischen Frauenfront 1942. Mit der ersten Verfassung des sozialistischen Jugoslawien 1946 erfuhren Frauen wie auch in anderen kommunistisch geführten Staaten Ost- und Südosteuropas rechtliche Gleichstellung. Sozialistische Emanzipation im Sinne der offiziellen 197 198 199 200
Pogovori ob dnevu žena, Skozi TAM, 2.3.1968, 5. Danica PEROVIČ, Ob 8. marcu, mednarodnem dnevu žensk, Skozi TAM, 7.3.1975, 1. Vgl. CALIC, Die 1960er Jahre in sozialhistorischer, 72. Vgl. Susan L. WOODWARD, The Rights of Women. Ideology, Policy and Social Change in Yugoslavia, in: Sharon L. WOLCHIK / Alfred G. MEYER (Hgg.), Women, State, and Party in Eastern Europe. Durham 1985, 234–256, 235f.
291
Ideologie verstand sich vor allem als Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit und am politischen Leben. Bis 1970 stieg der Anteil der berufstätigen Frauen auf 33 % der erwerbstätigen Bevölkerung, womit sich Jugoslawien zwar im europäischen Durchschnitt, jedoch hinter den Quoten der anderen sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas bewegte.201 Die im frühen Marxismus angelegte Bedingung für die Entfaltung der produktiven Potentiale von Frauen, nämlich die Befreiung von Haus- und Familienarbeit,202 spiegelte sich in den von den meisten realsozialistischen Staaten propagierten Geschlechterbildern nicht wider. Im Gegensatz zur Sphäre des Öffentlichen wurden althergebrachte Geschlechterrollen im Privaten kaum angetastet.203 Dies traf auch auf Jugoslawien und die untersuchten Fabriken zu, obwohl der Eintritt in die männliche Sphäre der industriellen Metallbearbeitung und das politische Engagement von Frauen gefordert und demzufolge als Fortschritt gewertet wurden. Da in den Selbstverwaltungsgremien bis zu Beginn der 1980er Jahre kaum Frauen in Erscheinung traten und kaum über die Belange, welche als geschlechterrelevant galten, debattiert wurde, stehen im Folgenden die Betriebszeitungen als Quellen im Mittelpunkt. Die Wochen vor und nach dem 8. März eines jeden Jahres waren beinahe die einzigen Momente, in denen die AutorInnen der Fabrikzeitungen die Lage von Frauen aufgriffen. Diese Berichterstattung gibt Aufschluss darüber, wie die Stellung von Frauen in der Hierarchie des Betriebes, ihre Qualifikationen und Verdiensthöhen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie ihr Engagement in den Massenorganisationen in der öffentlichen Sphäre der Fabriken verhandelt wurden. Besonderes Augenmerk liegt darauf, welche Positionen diejenigen, die in den Beiträgen zu Wort kamen, zu offiziell vertretenen Vorstellungen sozialistischer Emanzipation einnahmen. Markante Verschiebungen in den Diskussionen im zeitlichen Verlauf sollen dabei ebenso berücksichtigt werden wie der Vergleich zwischen den Fabriken in Maribor und Kragujevac.
201 Ebenda, 245. In Bulgarien lag 1970 der Anteil von Frauen an der Gesamtbeschäfti-
gung bei 43,3 %, siehe: BRUNNBAUER, „Die sozialistische Lebensweise“, 530; in Ungarn waren im selben Jahr 40 % aller Berufstätigen Frauen, siehe: Susan ZIMMERMANN, Geschlechtergeschichte und Geschlechterauseinandersetzung im ungarischen „Staatssozialismus“, in: Joachim BECKER / Rudy WEISSENBACHER, Sozialismen. Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, hg. v. Rudy WEISSENBACHER. Wien 2009, 117–140, 118. 202 Vgl. Karl MARX / Friedrich ENGELS, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: dies., Werke, Bd. 21. Berlin 41973, 25–173, 157f.; Donna HARSH, Communism and Women, in: S. A. SMITH (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Communism. Oxford, New York, NY 2014, 488–504, 489. 203 Vgl. Claudia KRAFT, Paradoxien der Emanzipation. Regime, Opposition und Geschlechterordnungen im Staatssozialismus seit den späten 1960er Jahren, Zeithistorische Forschungen (2006), H. 3, 381–400, 389.
292
Arbeiterinnen bei TAM und Zastava – Statistisches Sowohl bei TAM als auch bei Zastava lag der Frauenanteil an den Gesamtbelegschaften etwa zwischen einem Fünftel und einem Viertel. In den Zastava-Werken in- und außerhalb von Kragujevac stieg er von 18 % im Jahr 1968 auf beinahe 26 % im Jahr 1985.204 In Maribor schwankte er zwischen 20 % und 25 %.205 Im Gegensatz zu Industrien mit überwiegend weiblichen Beschäftigten wie der Textilindustrie waren Frauen hier in männlich dominierten Betrieben tätig, wenngleich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Abteilungen stark variierte. Während die z. B. in Maribor traditionell stärker verwurzeltete Textilindustrie mit ihrem hohen Frauenanteil im Vergleich mit anderen Branchen ihren Belegschaften nur niedrige Einkommen verschaffte, rangierte die Metallindustrie im mittleren Bereich jugoslawischer Industrielöhne.206 Wie im gesamtjugoslawischen Durchschnitt, so verdienten Frauen auch in den untersuchten Industriebetrieben weniger als Männer.207 Innerhalb der Fahrzeugfabriken waren Frauen in allen Bereichen der Produktion vertreten, auch wenn Tätigkeiten, die physisch sehr belastend waren und dabei hohe Qualifikation verlangten, wie z. B. in den Schmiedeabteilungen, nur selten von Frauen ausgeübt wurden.208 Tabelle 7: Frauenanteil und Durchschnittseinkommen nach Betriebsteilen bei TAM 1975, 1977.209 TOZD Mechanische Fertigung
TOZD Werkzeugbau
TOZD Schmiede
Frauenanteil 1975 in %
33,00
9,66
3,66
Monatliches Durchschnittseinkommen 1977 in Dinar
3.033
3.758
3.746
Die quantitativen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in einzelnen Produktionsabteilungen bei TAM in der Mitte der 1970er Jahre zeigen, dass Frauen 204 Für Zastava berechnet aus: Olga STANKOVIĆ, Žene: Koga u organi upravljanje, Crve-
205 206 207 208 209
na zastava, 3.4.1968, 1; ČUKIĆ, XI – Kadrovi i zapošljavanje, 337f.; Zastava danas 1986, 22. Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 15; IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor, o.S. Vgl. SGJ 1966, 477; SGJ 1976, 511; SGJ 1984 , 457. Vgl. CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 219f. Vgl. RADOVIĆ / TOMIĆ, Priznatije u društvu. SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 68; Miran KANCLER, Analiza interesov in stališč delavk in delavcev do področja športne rekreackije v TOZD Karosernica „TAM“ Maribor. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Visoka šola za telesno kulturo. Ljubljana 1977, 11.
293
in Abteilungen wie der Mechanischen Fertigung deutlich höhere Anteile stellten als im Werkzeugbau und der Schmiedeabteilung. Während die Mechanische Fertigung einen hohen Anteil an Un- und Angelernten beschäftigte, waren im Werkzeugbau hohe Qualifikationen gefordert und in der Schmiede anstrengende körperliche Arbeiten zu verrichten. Obwohl im streng statistischen Sinn die Einkommensunterschiede nicht mit den Geschlechterverhältnisse erklärt werden können, sind sie doch ein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Qualifikationsniveau und Geschlecht. Zieht man die Personalunterlagen von TAM hinzu, so zeigt sich, dass Frauen in der Produktion hauptsächlich über keine oder nur Teilqualifikationen verfügten. Äußerungen in der Betriebszeitung bis in die frühen 1980er Jahre bestätigen das.210 In den Zastava-Werken herrschte ein ähnliches Bild vor. Im Jahr 1980 war mit 9.000 Beschäftigten ein Fünftel der Zastava-Gesamtbelegschaft weiblich. 5.000 dieser Frauen arbeiteten in der Produktion, davon 1.000 mit dem Status von qualifizierten oder hoch qualifizierten Arbeiterinnen.211 Somit verfügten 11 % des weiblichen Teils der Belegschaft über diesen Ausbildungsgrad und 44 % der Frauen bei Zastava arbeiteten demnach als Un- und Teilqualifizierte in der Produktion. Demgegenüber waren 1979 unter der Gesamtbelegschaft fast 42 % hoch und sehr hoch Qualifizierte, etwas über 27 % der Beschäftigten besaßen nur den Status von Un- und Angelernten.212 Da die Gesamtbelegschaft der Anteil der Frauen mit ihrem deutlich niedrigeren Qualifikationsniveau schon beinhaltete, war das Qualifikationsniveau männlicher Produktionsarbeiter höher als es diese Zahlen vermitteln. Es sei betont, dass diese Angaben den Status der beginnenden 1980er Jahre wiedergeben, als das Qualifikationsniveau insgesamt – das der Frauen inbegriffen – gegenüber früheren Jahrzehnten deutlich gestiegen war. Um dies herauszustreichen berichtete besonders die Fabrikzeitung in Kragujevac in den 1960er und 1970er Jahren anerkennend über Frauen, die hohe Ausbildungsgrade oder Positionen im Betrieb erreicht hatten.213 Solche Berichte waren geeignet, das Interesse des Betriebes an der Weiterqualifikation von Frauen zu belegen und Frauen zu ermutigen, diesen Beispielen zu folgen. Offenbar waren die Betriebe aber nicht bereit oder in der Lage, konsequent Bedingungen zu schaffen, unter denen Frauen solche Anstrengungen erfolgreich unternehmen konnten. Auf einer Sitzung der Kommission für „gesellschaftlichwirtschaftliche Beziehungen und Sozialpolitik” der serbischen Jugendorgani210 Dieser Einschätzung liegen die Auswertung einer Stichprobe von 350 Personalakten
von TAM sowie Beiträge aus der Fabrikzeitung zugrunde: SI-PAM, f. 0990, šk. 237–šk. 240, šk. 285; Vsi problemi žensk so družbeni problemi, Skozi ZIV TAM, 6.3.1981, 11; Zdenka Puhar, Ob dnevu žena, Skozi ZIV TAM, 2.3.1984, 1f. 211 V. MARAŠ, Ravnopravna u radu i samoupravljanju, Crvena zastava, 5.3.1980, 2. 212 Zastava danas 1979, 22. 213 Vgl. P. PAUNOVIĆ, Još jedna visokokvalifikovana radnica, Crvena zastava, April 1964, 8; Olga STANKOVIĆ, Žena – načelnik radne jedinice 219, Crvena zastava, 15.5.1968, 7; Volja, rad, iskustvo. Likovi naših žena, Crvena zastava, 8.3.1972, 6.
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sation stellte eine Delegierte aus dem Kosovo 1974 betriebliche und andere Gründe für den niedrigeren Ausbildungsstand von Frauen heraus: Wir sind uns doch alle bewusst, dass es eine große Zahl von berufstätigen Frauen gibt, die ohne Qualifikation arbeitet und dass das ihren Standard [Lebensstandard, U.S.] stark beeinflusst, während die Arbeitsorganisationen wenig tun, damit sich diese Frauen qualifizieren, auch wenn das im gemeinsamen Interesse sowohl der Frauen als auch der Arbeitsorganisation wäre. Außerdem sind die Wohnungen ein Problem, denn eine Frau oder ein junges Mädchen kommt in einer Arbeitsorganisation nicht einfach an eine Wohnung, denn in einer Arbeitsorganisation haben normalerweise immer die Männer Vorrang oder Frauen, die schon etliche Jahre arbeiten oder verheiratet sind, während ein Mädchen in einer schlechten Stellung ist, sodass sie sich selten entschließt, das Dorf, in dem sie geboren ist, zu verlassen und irgendwo hinzugehen, um zu arbeiten.214
Die Delegierte benennt, wie sich die Vorbedingungen für die Aufnahme einer Arbeit in der Industrie für Land-Stadt-MigrantInnen geschlechterspezifisch unterschieden. Auf patriarchale Haltungen, wie sie nicht nur in kosovarischen sondern in vielen Dörfern landesweit vorgeherrscht haben, geht die Äußerung nur indirekt ein.215 Sehr viele Menschen, die seit den 1940er Jahren zur Arbeit in die Städte migrierten, mussten sich in den Städten auf sehr schwierige Wohnverhältnisse einstellen (siehe Kapitel 6.5.). Männer muteten sich dies im Gegensatz zu Frauen massenhaft zu, wie die hohe Zahl der MigrantInnen ungeachtet der gravierenden Wohnungsknappheit belegt. Dieses Hemmnis war der berufsbegleitenden Fortbildung von Frauen, welche ihre Einkommenschancen erhöhen konnte, noch vorgelagert. Aus den Unterschieden in den Qualifikationsniveaus resultierten zudem die niedrigeren Einkommen der Produktionsarbeiterinnen im Vergleich zu denen ihrer männlichen Kollegen. Bezieht man ein, dass die „beweglichen Teile des Einkommens” – also Zuschläge – die Starteinkommen erhöhen konnten, so wird deutlich, dass sich die Einkommensungleichheit dadurch noch verstärkte. Zulagen für Nachtarbeit, Überstunden, die bisherige Lebensarbeitszeit und Dauer der Beschäftigung in einem Betrieb216 waren gerade für berufstätige Mütter nur eingeschränkt verfügbar. Die Mehrfachbelastung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Haus- und Familienarbeit erschwerten das Engagement von Frauen über die üblichen Arbeitszeiten am Fabrikarbeitsplatz hinaus. Daneben resultierten sie in geringerer Lebensarbeitszeit und weniger Kontinuität der Beschäftigung. 214 AS, Đ-46, k. 5: Magnetofonske beleške sa sednice Komisije za društveno-ekonoms-
ke odnose i socijalnu politiku Republičke konferencije Saveza omladine Srbije, 17.04.1974, S. 2/8 JT. 215 Sabrina Ramet bezog sich 1999 auf jugoslawische Studien aus den 1970er Jahren, die dies bestätigen: Sabrina P. RAMET, In Tito´s Time, in: DIES. (Hg.), Gender politics in the Western Balkans. Women and society in Yugoslavia and the Yugoslav successor states. University Park/ PA 1999, 89–105, 97f. 216 Weitere Zulagen existierten z. B. in den 1970er Jahren in Slowenien für besonders schwere körperliche Arbeit, Feiertage, Dienstreisen, vgl. SI-AS, f. 578, šk. 175: Izhodišča za dajanje pripomb, 14.01.1974, 11.
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Auch damit verringerten sich die Verdienstchancen von Frauen. Diese Phänomene, die weder allein ein Problem sozialistischer Gesellschaften noch der Vergangenheit darstellen, hinderten in jugoslawischen Fabriken berufstätige Frauen daran, Angebote zur Fortbildung wahrzunehmen. Das Bewusstsein über geschlechterbedingte ungleiche Einkommen fasste Slavica Kovačevič217, eine angelernte Metallpresserin, die 1966 auf ein elfjähriges Arbeitsleben im Karosseriebau bei TAM zurückblicken konnte, so in Worte: „Ich übererfülle die Norm um 35 %. Mein durchschnittliches Einkommen beträgt bis zu 70 Tausend alten Dinar. Ich finde, für eine Frau ist das gar nicht wenig.“218 Tatsächlich betrug ihr Einkommen zwischen 20.000 und 30.000 Dinar weniger als das ihrer ebenfalls für die Betriebszeitung interviewten männlichen Kollegen. Nicht nur auf Einkommens- und (Fort-)Bildungschancen, sondern auch auf die Einbindung von Frauen in die Selbstverwaltung sowie die Aktivitäten in Partei und Massenorganisationen wirkten sich die parallelen Verpflichtungen in Fabrik und Haushalt negativ aus. In Maribor stieg zwischen 1965 und 1975 der Anteil von Frauen im zentralen Arbeiterrat bei TAM von knapp 4 % auf etwas über 5 %. Im Verwaltungsausschuss saßen 1965 nur Männer, eine Situation, die auch noch zehn Jahre später Bestand hatte.219 Bei einem Frauenanteil von etwa 20 % an der Gesamtbelegschaft waren Frauen demnach eindeutig unterrepräsentiert. Obwohl eine ausgewogene Vertretung von Frauen in den Selbstverwaltungsgremien noch nichts über ihren tatsächlichen Einfluss aussagen würde, ist in Kragujevac eine Tendenz hin zu ihrer stärkeren Vertretung ablesbar. Waren 1968 im zentralen Arbeiterrat der Zastava-Werke keine Frauen vertreten, so betrug ihr Anteil in diesem Gremium 1985 12 % und in den Arbeiterräten auf den Ebenen darunter 18,5 %.220 Blickt man auf die Statistik zur Parteimitgliedschaft in den Zastava-Werken, so zeigt sich, dass nicht nur mit höheren Hierarchiestufen der Selbstverwaltung die Beteiligung von Frauen abnahm, sondern dass politische Beteiligung auch von der Position im Produktionsprozess abhing. Unter den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten waren 1985 unternehmensweit fast 21 % Frauen, womit der Industriebetrieb unter dem serbischen Durchschnitt desselben Jahres von 27,5 % Frauenanteil an den Parteimitgliedern lag.221 Der Anteil der Produktionsarbeiterinnen unter den weiblichen Parteimitgliedern bei Zastava lag demgegenüber gerade einmal bei 10,6 %.222 Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Mechanismus auch in der Beteiligung an den Selbstverwaltungsgremien wirkte, sodass Arbeiterinnen deutlich weniger gut vertreten waren als es die Gesamtzahlen nahelegen. 217 Übliche Angleichung von bosnisch/ kroatisch/ serbischen Namen an die sloweni-
sche Rechtschreibung: Kovačević wird zu Kovačevič. 218 Tomislav PERLIČ, Delovni ritem karosernice, Skozi TAM, Oktober 1966, 6f. 219 SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 1; SI-PAM, f. 0990, šk.
636: Poslovno poročilo TAM 1975, 1. 220 STANKOVIĆ, Žene: Koga u organi upravljanje; RADOVIĆ / TOMIĆ, Priznatije u društvu. 221 Ebenda; RAMET, In Tito´s Time, 102. 222 RADOVIĆ / TOMIĆ, Priznatije u društvu.
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Im Untersuchungszeitraum existierte keine eigenständige sozialistische Massenorganisation in Jugoslawien, die für die Belange von Frauen zuständig war. Die während des Zweiten Weltkriegs 1942 gegründete Antifaschistische Frauenfront (Srb.: „Antifašistički front žena – AFŽ“, Slow.: „Protifašistična fronta žensk – AFŽ“) wurde 1953 aufgelöst und in den Bund der Frauenvereine (Srb.: „Savez ženskih društava – SŽD“, Slow.: „Zveza ženskih društev – ZŽD“) überführt, der bis 1962 bestand. In der Auflösung des AFŽ als starke und politisierte Frauenvertretung drückte sich die bis in die späten 1980er geltende offizielle Haltung aus, dass die Emanzipation von Frauen als Teil der Emanzipation der Arbeiterklasse innerhalb von Selbstverwaltungsprozessen behandelt werden sollte.223 Nach 1962 fand institutionalisierter Aktivismus von und für Frauen im Rahmen des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes (SBWV) in Form eines Dachverbandes statt, der im Laufe der Jahrzehnte mehrmals den Namen wechselte.224 Dieser Dachverband, die Konferenz für die gesellschaftliche Aktivität der Frauen (Srb.: „Konferencija za društvenu aktivnost žena“; Slow.: „Konferenca za družbeno aktivnost žensk“) stellte bis zum Ende der sozialistischen Ära die einzige von der politischen Führung als legitim erachtete institutionelle Vertretung von Fraueninteressen dar. In den Betrieben war es möglich, ein Frauenaktiv (Srb.: „Aktiv žena“) zu gründen. Die Existenz eines solchen Frauenaktivs ist nur für Zastava in Kragujevac, nicht jedoch für TAM belegt. Das Frauenaktiv besaß bei Zastava einen vergleichbaren formalen Status wie der betriebliche Folkloreverein oder die Sportvereine. Aus den Erwähnungen in der Fabrikzeitung geht nicht hervor, ob oder in welchem Maße das Frauenaktiv bei Zastava an die Konferenz für die gesellschaftliche Aktivität der Frauen des serbischen SBWV angegliedert war.225 Dieser geringe Integrationsgrad von Frauen in die Selbstverwaltung und Parteiorganisationen der Unternehmen existierte in einem diskursiven Umfeld, das die Wahrnehmung von Geschlechterordnungen stark vorstrukturierte. In den Betriebszeitungen thematisierte man weibliche Industriearbeit beinahe ausschließlich im Zuge des 8. März eines jeden Jahres, wenn der internationalen 223 Vgl. RAMET, In Tito´s Time, 94, 103. 224 Vgl. Chiara BONFIGLIOLI, Revolutionary networks. Women’s political and social acti-
vism in Cold War Italy and Yugoslavia (1945–1957). Unveröffentlichte Dissertation, Universität Utreht. Utrecht 2012; Eva BAHOVEC / Nina VODOPIVEC / Tanja SALECL, Employment and Women’s Studies: The Impact of Women’s Studies Training on Women’s Employment in Europe. Europäische Kommission, Projekt: HPSECT2001-00082, Background data report 2001, 4–6, unter , 10.6.2015. Die Geschichte des institutionalisierten Aktivismus von Frauen im Rahmen sozialistischer Massenorganisationen nach 1962 ist bisher kaum aufgearbeitet, dazu: Jelena TEŠIJA, The End of the AFŽ – The End of Meaningful Women´s Activism? Rethinking the History of Women´s Organizations in Croatia, 1953–1961. Unveröffentlichte Masterarbeit, Central European University. Budapest 2014. 225 Vgl. z. B. R. STOŠIĆ, Sa spretnošću najboljih majstora, Crvena zastava, 2.3.1977, 5; Z. KARAKLAJIĆ, Bolji uslovi rada za žene, Crvena zastava, 9.2.1977, 6.
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Frauentag begangen wurde. An der Berichterstattung wird deutlich, dass diesem Datum ausgeprägte Ambivalenzen innewohnten, die aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität sowie den Grenzen der offiziell vertretenen Gleichstellungsziele resultierten.
„Sozialistische Emanzipation“ und ihre Grenzen im Spiegel der Fabrikzeitung Crvena zastava In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre finden sich in den Artikeln zum Frauentag in der Fabrikzeitung Crvena zastava einerseits die pathetisch formulierte Gleichsetzung von Anspruch und Wirklichkeit der neuen Stellung der Frau in der sozialistischen Gesellschaft. Andererseits bot die Zeitung begrenzten Raum für das kämpferische Eintreten für die tatsächliche Annäherung an das offiziell vertretene Ideal von der Gleichberechtigung der Geschlechter. Ein Beitrag aus dem Jahr 1966 pries die „völlige Anerkennung der Frauen und ihre gleichberechtigte Teilnahme in allen Gebieten der menschlichen Arbeit“.226 Ihre Integration sowohl in die traditionell als männlich konnotierte Metallverarbeitung als auch in die Selbstverwaltung wurde ebenso gefeiert wie das steigende Bildungsniveau der weiblichen Belegschaftsmitglieder. Unter formelhaft hervorgebrachten Verweisen auf die aktive Rolle von Frauen im jugoslawischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs und ihrem Beitrag zu den Aufbauleistungen im stark zerstörten Land zeichnete der Artikel auch die Gegenwart uneingeschränkt positiv. Damit waren alle Elemente des offiziellen Gleichstellungsanspruchs vertreten, die in alternierender Form und Intensität regelmäßig genannt wurden. Zu guter Letzt fehlte nicht der Hinweis, dass am 8. März in der Fabrik Festveranstaltungen und ein Unterhaltungsprogramm zu Ehren der Frauen stattfinden würde. In den Beiträgen zum 8. März 1968, die ausnahmslos von einer Autorin der Fabrikzeitung namens Olga Stanković stammten, schlug diese gegenüber den Darstellungen von 1966 deutliche Töne der Unzufriedenheit und des Willens an, Fraueninteressen in der Fabrik stärker zu vertreten. Mehrmals kam in ihren Beiträgen die Vorsitzende des Frauenaktivs der Fabrik Ivanka Stefanović zu Wort.227 Kündigte Stefanović im Vorfeld des 8. März 1968 die üblichen Aktivitäten wie Feiern, Ausflüge und Besuche bei kranken Kolleginnen an, so hatte dies wenig Kämpferisches an sich. Auch dass das Frauenaktiv Weiterbildung für Frauen förderte war zwar eine Maßnahme mit emanzipativem Hintergrund, reichte jedoch in keiner Weise an die Heftigkeit der Anklagen heran, die die Vorsitzende einen Monat später, Anfang April 1968, auf Seite eins der Fabrikzeitung vorbrachte.228 Anlässlich der anstehenden Wahlen zum zentralen Arbeiterrat der Zastava-Werke, in denen zu der Zeit etwa 14.000 Menschen, darunter 2.500 Frauen beschäftigt waren, betrieb Stefanović „Wahlkampf“ für die kandi226 A. RANKOVIĆ, Svećano proslavljen 8. mart – dan žena, März 1966, 10. 227 Vgl. Olga STANKOVIĆ, Žene Zavoda svečano će proslaviti svoj praznik, Crvena za-
stava, 6.3.1968, 8. 228 Vgl. DIES., Žene: Koga u organi upravljanje.
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dierenden Frauen. Sie beklagte heftig, dass bis dato keine einzige weibliche Delegierte in diesem zentralen Selbstverwaltungsgremium vertreten war. Stefanović verband diese Klage mit dem Aufruf an die Frauen der Zastava-Werke, für die sechs aufgestellten Kandidatinnen zu stimmen, die sie im Artikel namentlich nannte. Diese klare Positionierung stellt nicht den einzigen Kontrast zur Gleichsetzung von Ideal und Wirklichkeit im Artikel aus dem Jahr 1966 dar. Die Vorsitzende des Frauenaktivs Stefanović benannte darüber hinaus klar zwei Faktoren, die weibliche Beschäftigte davon abhielten, Delegierte in Arbeiterräten zu werden: Ein Teilgrund ist, dass die Frauen mit der Familie und dem Haushalt beschäftigt sind, aber ein Grund ist auch, dass Frauen selten für die Verwaltungsorgane vorgeschlagen und gewählt werden. Frauen verlieren, auch wenn sie aufgestellt werden, weil die Genossen sie von den Listen streichen. Das ist ein Versäumnis in der Agitation für die Wahl von Frauen. Frauen haben sich in vielen Aufgaben als gleichberechtigt mit den Männern gezeigt und das haben sie auch zu Kriegszeiten bewiesen. Wieso sollten sie das nicht auch im Frieden können?229
Die Deutlichkeit, mit der Stefanović öffentlich die bestehenden Machtverhältnisse als Resultat der Abwehr männlicher Funktionäre brandmarkte, blieb zumindest in der Fabrikzeitung einmalig. Die Parallele zum Kampf im Zweiten Weltkrieg zu ziehen, war zwar in den Gleichstellungsdebatten üblich, wurde jedoch nie als Ringen mit Kollegen und Genossen um gesellschaftlichen Einfluss konnotiert. Im Verlauf der 1970er Jahre etablierte sich die öffentliche Reflexion über die Mehrfachbelastung von Frauen als strukturelles Hindernis für die offiziell geforderte Tätigkeit in Beruf und Selbstverwaltung. Als weiterer wiederkehrender Topos stand daneben das Lob, Frauen seien tüchtige und fähige Arbeiterinnen. In oft paternalistischem Ton würdigten Beiträge die Arbeit der Frauen, was schon in Artikelüberschriften wie „Fleißige Hände ruhen nicht“ oder „Mit der Geschicklichkeit der besten Meister“ anklang.230 Regelmäßig stellte die Fabrikzeitung überdies Frauen vor, die es bewerkstelligten, in den Massenorganisationen, der Partei oder der Selbstverwaltung mitzuwirken. In diesem Sinne porträtierte ein Beitrag von 1977 die angelernte Schlosserin Dragica Lazarević als idealtypisches Beispiel.231 Die 29-Jährige arbeitete in der Montage und gehörte als verheiratete Frau mit zwei Kindern zu der kritischen Gruppe Frauen, deren häufig abklingende Aktivität nach dem Eintritt in die Ehe an anderer Stelle beklagt wurde.232 Dem Ausdruck von Stolz 229 Ebenda. 230 Ž. GLIŠOVIĆ, Vredne ruke ne miruju. Naša reportaža, Crvena zastava, 6.3.1974, 5;
STOŠIĆ, Sa spretnošću najboljih majstora. 231 Vgl. ebenda. 232 M. GVOZDENOVIĆ / R. KOSTIĆ, Radni dan se nastavlja i posle fabrike, ali i društvena
aktivnost ne izostaje. Mlade radnice o svom radu i položaja danas, Crvena zastava, 6.3.1974, 10. Ähnliches galt für Ungarn, siehe: ZIMMERMANN, Geschlechtergeschichte und Geschlechterauseinandersetzung, 122.
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derjenigen, die Ämter in Jugendorganisation, Partei oder Selbstverwaltung bekleideten, standen einerseits fortwährende Appelle an die (noch) inaktiven Frauen und andererseits an deren schlechtes Gewissen gegenüber.233 Ohne Bezug darauf zu nehmen, dass es in Jugoslawien zu dieser Zeit bereits grundsätzlich denkbar war und auch praktiziert wurde, unbezahlte Haus- und Erziehungstätigkeiten in bezahlte Arbeit z. B. in Kindertagesstätten und Kantinen zu überführen,234 propagierte die junge Schlosserin: „Die Pflichten, welche eine berufstätige Frau hat, sind nicht klein, aber unsere Frau ist einzigartig. Wenn sie nur will, kann sie alles erreichen.“235 Aus dieser Aussage klang eindeutig Stolz. Jedoch suggerierte die Stellungnahme keinesfalls, dass die Lösung struktureller Probleme in einem gesellschaftlichen Umdenken liegen könnte, welches über die Anerkennung der regelmäßigen weiblichen Arbeit in „Doppelschichten“ hinausginge. Stattdessen wird der Heroismus „der jugoslawischen Frau“ propagiert, der darin bestünde, dass sie gesteigerte Anstrengungen aufzubringen hätte. Anstatt gesamtgesellschaftliche Anstrengungen zu fordern, wurde das Problem individualisiert. Das in den 1970er Jahren regelmäßig von Zastava-Mitarbeiterinnen öffentlich angesprochene Problem der fehlenden Kinderbetreuung wurde zwar wiederholt anerkannt, jedoch verfügten die im Aktiv žena organisierten Frauen offenbar nicht über genügend unternehmensinternen Einfluss, um den Ausbau betrieblicher Kinderbetreuung zu bewirken. Die Kapazitäten der seit 1947 existierenden betrieblichen Kindertagesstätten betrug trotz mehrmaligen Ausbaus 1979 gerade einmal vierhundert Plätze.236 Gemessen daran, dass der Unternehmenskomplex Zastava zu dem Zeitpunkt etwa 40.000 Menschen beschäftigte und sich mit seinen Kindergärten und -krippen rühmte, war diese Zahl gering. In der Mitte der 1980er Jahre thematisierte die Fabrikzeitung Zastavas Gleichstellungsfragen um Längen kritischer. In einem Artikel zum Frauentag 1985 rückte die traditionelle geschlechterspezifische Arbeitsteilung in der Sphäre des Privaten erstmals als politisches Thema unter dem Titel „In der Gesellschaft anerkannter als in der Familie“ ins Blickfeld: Aber auf festlichen Versammlungen, die aus diesem Anlass [8. März, U.S.] organisiert werden, wiederholen sich jahrein jahraus gekünstelte Phrasen, die nicht dazu beitragen, dass die Last der Verpflichtungen, welche die berufstätige Frau auf sich genommen hat, leichter würde. Denn es ist eine Tatsache, dass neben allen anderen Verpflichtungen in der Familie, wo sich auch weiterhin traditionelle Einteilungen in `männliche´ und `weibliche´ Arbeiten gehalten haben, ihre Verpflichtungen aber auch ihre verwirklichten Resultate wachsen.237
Hier drückte sich nicht nur eine kritische Haltung zur einmal jährlich wiederkehrenden Welle der Anerkennungsbezeugungen aus, sondern es wurden Ge233 234 235 236 237
Vgl. STOŠIĆ, Sa spretnošću najboljih majstora. Vgl. TEŠIJA, The End of the AFŽ. STOŠIĆ, Sa spretnošću najboljih majstora. Vgl. Zastava danas 1979, 28. RADOVIĆ / TOMIĆ, Priznatije u društvu.
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schlechterbeziehungen, die im Privaten vorherrschten, infrage gestellt. In der beruflichen Sphäre dagegen gebe es Zuweisungen geschlechterspezifischer Arbeiten bei Zastava nicht, betonten die AutorInnen. Sie verschwiegen dabei das Gefälle der Qualifikationsniveaus zwischen Männern und Frauen und stellten um ein weiteres Mal dieses Element des offiziellen Anspruchs auf Gleichberechtigung als verwirklicht dar. Wie bereits in den 1960er und 1970er Jahren fiel das Urteil in Bezug auf die Teilhabe von Frauen an der Selbstverwaltung in Stellungnahmen weiblicher Beschäftigter, die im Artikel zitiert wurden, ernüchternder aus. Dabei hoben die VerfasserInnen im Kontrast zu früheren Jahren hervor, die Mehrfachbelastung von Frauen in Erwerbsarbeit, Politik und häuslichen Arbeiten sei ein gesellschaftliches Problem und nicht das des weiblichen Teils der Bevölkerung allein oder gar ein individuelles. Mögliche Konsequenzen aus diesen Feststellungen formulierten die Interviewten jedoch mit weniger Nachdruck. Die Forderung nach dem Ausbau „verschiedener Dienstleistungen“, welche Frauen von „einigen häuslichen Pflichten“ entlasten sollten, war wenig konkret.238 Mit welchen Mitteln sie an welcher Stelle auf welche Veränderung drängen könnten, kam nicht zur Sprach. Ausführlicher thematisiert der Artikel dagegen, dass der 8. März 1985 aktivistischer begangen werden sollte, als offenbar in den Jahren zuvor. „Geschenke, Ausflüge und Gelage“ würden das Datum entwerten. Verschiedene Solidaritätsaktionen und Besuche bei Veteraninnen aus dem „Volksbefreiungskampf“ dagegen wurden als angemessen dargestellt.239 Neu in den öffentlichen Wortmeldungen zum 8. März war demnach in den 1980er Jahren die Forderung nach gesellschaftlicher Reflexion über Rollenmodelle, die über die Beteiligung von Frauen an Erwerbsleben und Politik hinausgingen. Eine solch deutliche Artikulation von Zweifeln daran, dass die „Frauenfrage“ im Sozialismus gelöst sei und der Ruf danach, bisher als privat behandelte geschlechterspezifische Arbeitsverteilung in den Familien als gesellschaftlich relevantes Thema wahrzunehmen, waren im Umfeld der Fabrik vor den 1980er Jahren unbekannt.
„Sozialistische Emanzipation“ und ihre Grenzen im Spiegel der Fabrikzeitung Skozi TAM Auch in Maribor veränderte sich zwischen den 1960er und 1980er Jahren die Art, die Stellung von Frauen in der Fabrik zum 8. März thematisiert wurde. Folgten die Verschiebungen im Groben einem ähnlichen Muster wie in Kragujevac, so lassen sich aber auch Unterschiede erkennen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und bis in die frühen 1970er Jahre hinein fällt die Abwesenheit von expliziten Bezügen zum in der Ideologie verankerten Anspruch auf Gleichberechtigung der Geschlechter auf. Unter dem Titel „Tränen in den Augen des ältesten weiblichen Mitglieds des Kollektivs“ dokumentierte 1966 ein Artikel die Ehrung der betreffenden Pepca Serne durch 238 Ebenda. 239 Ebenda.
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den Gewerkschaftsvorsitzenden des Unternehmens.240 Die Frau, die in ihren siebzehn Arbeitsjahren als Unqualifizierte bei TAM erst mit Reinigungsarbeiten und später im Garderobendienst des Karosseriebaus tätig war, qualifizierte sich in ihrem Arbeitsleben nicht weiter. Zaghaft äußerte sie, dass Kinderbetreuung und Dienstleistungen, die Frauen entlasten würden, im nahe gelegenen Wohnviertel Tezno nicht in genügendem Maße vorhanden seien. Zwei Jahre später leitete ein Reporter der Fabrikzeitung die traditionellen kurzen Interviews mit Frauen des Betriebs zum Frauentag mit dem Eingeständnis schlechten Gewissens ein, wobei von „Schuld und fehlender Anerkennung“241 die Rede war (siehe Zitat am Beginn dieses Kapitels). Es mutet an, als ob in dieser Vorrede, welche die Interviews rahmt, aus der Sicht der Unternehmensleitung oder einer nicht näher definierten Repräsentationsinstanz gesprochen würde. Diese Bekundung von Versäumnissen gegenüber den weiblichen Beschäftigten blieben jedoch frei von jeglichen Referenzen zum politischen Anspruch der sozialistischen Gesellschaftsordnung auf Gleichstellung. Stattdessen bewegte sich diese Vorrede auf einer emotional überhöhten Ebene. Die interviewten Frauen nutzten die Plattform, die ihnen die Fabrikzeitung bot, um sich über ihre Situation zu beklagen. Unter anderem äußerten sie den Wunsch nach einer Frauenorganisation im Unternehmen. Sie sollte dem Zweck dienen, dass sich die Frauen „besser kennenlernen könnten“.242 Soweit, eine Frauengruppe als Instrument zu fordern, mit dem sich Gleichstellungspolitik vorantreiben ließe, gingen sie nicht oder die Redaktion der Fabrikzeitung unterließ es, solche Ansprüche zu publizieren. Kinderbetreuung, die auch die TAM-Mitarbeiterinnen als Problem benannten, behandelte der Autor als Problem der weiblichen Beschäftigten, wobei er Frauen implizit vorwarf, sie misstrauten öffentlichen Betreuungseinrichtungen. Die Darstellung des 8. März als „Familienfeiertag“, an dem Frauen von ihren Pflichten im Haushalt entbunden würden und kleine Geschenke empfingen sowie als betrieblichen Feiertag, an dem Unterhaltung und Geselligkeit im Vordergrund standen, unterstütze den Eindruck eines entpolitisierten Frauentags bei TAM im Jahr 1968. In den beginnenden 1970er Jahren transportierten die „Gespräche zum achten März“ 1972 in deutlichem Kontrast zu den vorangegangenen eher schüchtern wirkenden Beschwerden deutlichere Klagen, allerdings weiterhin unkonkret in Bezug auf Wege, wie die Benachteiligung von Frauen zu mindern sei.243 In den einleitenden Worten stellten die AutorInnen geltende Geschlechterordnungen zaghaft infrage: Zwar bilden wir alle gemeinsam die Gesellschaft und weibliche Probleme sind unser aller Probleme, in erster Linie aber die der Männer, so sind die Frauen ihnen doch Ehefrauen, Mütter oder Töchter und letzten Endes Kolleginnen in der Produktion. Das Problem darf daher nicht darin bestehen, dass wir ihre Schwierigkei240 241 242 243
Solze v očeh najstarejše članice kolektiva, Skozi TAM, März 1966, 3. Pogovori ob dnevu žena. Ebenda. S. S. / A. Ž., Pogovori ob osmem marcu, Skozi TAM, 10.3.1972, 5f.
302 ten und ihre Situation nicht kennen, die sie in unserer sozialistischen Gesellschaft haben, sondern vielmehr die Frage, wie wir ihre Schwierigkeiten begreifen und wie wir dort, wo wir die Möglichkeit dazu haben, etwas für die Verbesserung der Stellung von Frauen unternehmen.244
Wie in Kragujevac stellten die AutorInnen hier 1972 lobend heraus, dass Frauen zwar in allen Bereichen des Unternehmens tätig, allerdings zu wenig in der Selbstverwaltung vertreten waren, insbesondere in den hierarchisch höher angesiedelten Gremien wie dem zentralen Arbeiterrat. Der kurzen Vorrede folgten auf zwei vollen Seiten Stellungnahmen sehr unterschiedlicher Frauen. Die TAMMitarbeiterinnen äußerten Unzufriedenheit über ungleiche Verdienstchancen von Männern und Frauen, die fehlende institutionalisierte Vertretung von Fraueninteressen, fehlende sanitäre Einrichtungen für Frauen in männlich dominierten Betriebsteilen und das Fehlen von Kinderbetreuung, besonders in der Spätschicht. Einen vom Unternehmen TAM geführten Werkskindergarten gab es nicht, wie es einerseits die Beiträge in der Fabrikzeitung und andererseits Archivmaterialien und Selbstdarstellungen des Unternehmens nahelegen.245 Die Situation in anderen Unternehmen war ähnlich. Für eine 1976 veröffentlichte Studie der slowenischen Gewerkschaft befragten zwei ForscherInnen über 1.000 Frauen, die in großen slowenischen Industriebetrieben mit mehrheitlich weiblichen Belegschaften arbeiteten. Von denen, die Kinder hatten, gaben nur 2,1 % der Produktionsarbeiterinnen an, dass diese in betrieblichen Einrichtungen betreut würden. Hauptsächlich ließen die Frauen ihre Kinder in kommunalen Einrichtungen oder von Familienangehörigen betreuen.246 Wenn also die Historikerin Marie-Janine Calic davon spricht, die Betriebszentriertheit der Gesellschaft im Tito-Jugoslawien hätte sich unter anderem in betrieblich organisierter Kinderbetreuung manifestiert, so traf dies weder auf Zastava und noch weniger auf große slowenische Unternehmen wie TAM, Gorenje und Iskra zu.247
244 Ebenda. 245 In den zugänglichen Geschäftsberichten ist zwar von einer Werksambulanz, einem
Sozialdienst u.ä. die Rede, jedoch nie von einem Kindergarten. Auch publizierte Materialien, die TAM präsentieren, wie z. B. ein farbiger, als Hardcover herausgegebener Bildband aus dem Jahr 1987 würden die Existenz eines Kindergartens sicher erwähnen, wie dies vergleichbare Selbstdarstellungen Zastavas taten, vgl. IRŠIČ, Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor; MILOJKOVIĆ (Hg.), Od topa do automobila, 94. 246 Vgl. MICKI / FAKIN, Proizvajalka govori, 45. 247 Vgl. CALIC, Die 1960er Jahre in sozialhistorischer, 72. Die beiden bekannten slowenischen Unternehmen Gorenje und Iskra, deren Belegschaften 1976 jeweils über 10.000 Beschäftigte zählten, verfügten nicht über betriebseigene Kindertagesstätten. Von den in der Gewerkschaftsstudie untersuchten zehn slowenischen Unternehmen besaß nur die Textilfabrik MTT Maribor gerade einmal 15 Betreuungsplätze, während die Belegschaft etwa 4.200 Personen umfasste: MICKI / FAKIN, Proizvajalka govori, 11.
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Der Anspruch, Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren, welche die Situation von berufstätigen Frauen verbessern könnten, den die AutorInnen der „Gespräche zum Achten März“ in der Fabrikzeitung Skozi TAM im Jahr 1972 einleitend formulierten, blieb bis zum Ende des Artikels uneingelöst. Relativ abgekoppelt steht die Vorrede der AutorInnen den kritischen Äußerungen und Forderungen der interviewten Frauen gegenüber. V. Godec, eine 34-jährige Verwaltungsangestellte in der Werksambulanz schlug vor: „Es müsste überhaupt ein Frauenaktiv geben, dass sich um die Lösung der Probleme der berufstätigen Frauen kümmert.“248 Wie schon 1968 an ähnlicher Stelle geschehen, nur konkreter, äußerte sie 1972 den Bedarf an einer organisierten Frauenvertretung. Während es bei Zastava in Kragujevac zu dieser Zeit schon ein Frauenaktiv gab, wird hier im Falle TAMs nicht deutlich, welche Hinderungsgründe die Angestellte für ein Fehlen solch einer Interessenvertretung in ihrem Betrieb sah. Eine Initiative, die von Frauen selbst ausging, schien für die Beschäftigten kaum denkbar, wie die Äußerung der 54-jährigen Näherin Š. Strah, die wegen fehlender Arbeit in der Polsterei auf einen Arbeitsplatz als Reinigungskraft versetzt wurde, belegt: Ich kann nicht sagen, das irgendeiner im Werk den Problemen der Frauen in irgendeiner Weise Beachtung schenken würde. An uns und unsere Probleme erinnern sie sich normalerweise nur am Frauentag und dann beschränkt sich das nur auf Worte.249
Dieses Muster war sogar in einem solchen Artikel selbst angelegt, der ja eine Plattform bot, auf der die Frauen des Werks ihre Situation artikulieren konnten. In typischer Weise, wenn soziale Probleme in konkretem Bezug auf das Unternehmen thematisiert wurden, endete der Artikel kommentarlos. Üblicherweise boten die Fabrikzeitungen eine Plattform, um über Fragen zu kommunizieren, welche Management, Gewerkschaft oder Partei diskutierten und die sie in der Betriebsöffentlichkeit publik machen wollten. Neben der Abwesenheit dementsprechender Thematisierungen in zugänglichen Archivmaterialien, kann man den wie hier fehlenden Stellungnahmen in den Fabrikzeitungen entnehmen, dass die Stellung der bei TAM beschäftigten Frauen für die betrieblichen Gremien als nicht relevant galt. Im weiteren Verlauf der 1970er Jahre setzten sich die Beschwerden über die Mehrfachbelastungen berufstätiger Frauen in der Fabrikzeitung Skozi TAM fort. Daneben traten im Gegensatz zu vorangegangenen Jahren explizite Bezüge zu Elementen des offiziellen Gleichstellungsdiskurses stärker in den Vordergrund. In drei Aspekten ging man nun über die Erfolgsmeldungen, dass Frauen bereits in allen Bereichen des Betriebs tätig seien, und den Verweis auf ihre jedoch zu geringe Teilhabe an der Selbstverwaltung des Unternehmens hinaus. Erstens reaktivierte man die Erinnerung an die aktive Teilnahme von Frauen am „Volksbefreiungskampf“ gegen die Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Der Rückgriff auf die politisch relevante Rolle, die Frauen als Partisaninnen gespielt 248 S. S. / A. Ž., Pogovori ob osmem marcu. 249 Ebenda.
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hatten, präsentierte sich 1973 als beinahe vergessene Dimension von Gleichstellungsdiskussionen, wobei gerade jüngeren Kolleginnen das Bewusstsein darüber fehlte.250 Bedenkt man, dass die Artikel in den vorangegangen Jahren Frauen nicht als aktive Kommunistinnen porträtierten, sind die Unterschiede, die hier zwischen den Generationen ausgemacht wurden, nicht verwunderlich. Zweitens erfüllten Beiträge zum 8. März nun eine disziplinierende Funktion, wenn wie 1975 der Republiksvorsitz der Konferenz für die gesellschaftliche Aktivität der Frauen dazu aufforderte, den Frauentag nicht allein mit Unterhaltungsveranstaltungen zu begehen.251 Erstmals war von institutionalisiertem Frauenaktivismus die Rede, auch wenn dieser offenbar nicht auf Werksebene verankert war, sondern lediglich im Rahmen des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes (SBWV) stattfand. Das dort angesiedelte Gremium legte einen Schwerpunkt auf Solidaritätsaktionen, mit denen der Feiertag 1975 begangen werden sollte: So hat es der Vorstand der Konferenz für die gesellschaftliche Aktivität der Frauen für die diesjährigen Feiern bestimmt. Niemand hat das Recht, die Feierlichkeiten für kleinbürgerliche Genüsse auszunutzen, was ausdrücklich gegen die revolutionäre Bedeutung dieses Tages verstoßen würde.252
Diese verstärkte Ideologisierung ließe sich damit erklären, dass der Frauentag 1975 im Zeichen des „30. Jahrestages der Befreiung Jugoslawiens“253 stehen sollte. Aber auch der transnational vernetzte Frauenaktivismus konnte die Wiederkehr des Gleichstellungsziels bewirken, nimmt der Aufruf doch explizit Bezug auf das von den Vereinten Nationen für 1975 ausgerufene „Internationale Jahr der Frau“.254 Studien wie die des slowenischen Gewerkschaftsbundes, die bereits zitierte Befragung von Industriearbeiterinnen „Die Produzentin spricht“, nahmen ausdrücklich das UN-Aktionsjahr zum Anlass.255 Die Forderung, Frauenanliegen als Anliegen der Arbeiterklasse im Rahmen der Selbstverwaltung zu behandeln, wurde schließlich als drittes Element offizieller Geschlechterordnungen gegen Ende der 1970er Jahre in der Betriebszeitung Skozi TAM artikuliert.256 Dies entsprach – angepasst an das jugoslawische Selbstverwaltungsprinzip – der in vielen Staatssozialismen verbreiteten offiziellen Auffassung, dass ein Sonderstatus der Frauenfrage nicht notwendig sei, da Vgl. A.Z. / Z.G., Osem pogovorev ob 8. marcu, Skozi TAM, 2.3.1973, 4f. Vgl. Kakšen naj bo dan žena, Skozi TAM, 28.2.1975, 8. Vgl. ebenda. Ebenda. Raluca Maria Popa verweist auf den aktiven Beitrag von Frauenorganisationen aus dem kommunistisch geführten Ungarn und Rumänien zur Ausrufung des Jahres 1975 als „International Women´s Year“: Raluca M. POPA, Translating Equality between Women and Men across Cold War Divides. Women Activists from Hungary and Romania and the Creation of International Woman's Year, in: Shana PENN / Jill MASSINO (Hgg.), Gender Politics and Everyday Life in State Socialist East and Central Europe. New York 2009, 59–74. 255 Vgl. MICKI / FAKIN, Proizvajalka govori, 5. 256 Ob osmem marcu – dnevu žena, Skozi ZIV TAM, 3.3.1979, 1. 250 251 252 253 254
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sie als Teil der Klassenfrage zu sehen sei.257 Ihren konkreten Ausdruck hätte eine solche Lösung in der repräsentativeren Einbindung in die betriebliche Selbstverwaltung finden können. Im Gegensatz zu Zastava, wo dieser Anspruch bereits 1968 in konkreten kämpferischen Aufrufen mündete, Frauen in den zentralen Arbeiterrat zu wählen, verblieb die Forderung bei TAM in Maribor auf allgemeiner Ebene. Eine in ihrer Art einmalige Wortmeldung zum Frauentag stellte jenseits der Aufmerksamkeit auf den politischen Gehalt des Tages ein Artikel aus dem Jahr 1975 dar.258 Er thematisierte auf eine sehr eindringliche Art häusliche Gewalt als extreme Erscheinungsform von geschlechterspezifischen Machtverhältnissen in der Familie. Unter dem Titel „Ein außergewöhnliches Geschenk zum Frauentag“ appellierte eine Frau, die nicht namentlich genannt wurde, an ihren Mann, seine Alkoholsucht behandeln zu lassen. Sie schilderte ihr Leben an der Seite des Alkoholikers als alltägliche Konfrontation mit Angst und Gewalt, unter der zudem das gemeinsame Kind leide. Neben der Tatsache, dass hier Alkoholismus, ein bis dahin in der Betriebsöffentlichkeit weitgehend totgeschwiegenes soziales Problem, aufgegriffen wurde (siehe auch Kap. 5.2.), ist der Artikel aus zwei weiteren Gründen bemerkenswert. Während Elternschaft in öffentlichen Diskussionen üblicherweise nur als Mutterschaft Beachtung fand, indem z. B. Kinderbetreuung nur in Verbindung mit der Stellung von berufstätigen Frauen thematisiert wurde, spricht die Frau ihren Mann in seiner Rolle als Vater an. Daneben thematisierte der Artikel häusliche Gewalt, was in einem solchen Rahmen als insgesamt sehr früh angesehen werden muss. Die Geschlechterforscherin Chiara Bonfiglioli verortet die Anfänge einer öffentlichen Debatte über Gewalt in der Familie in Jugoslawien erst in den späten 1970er Jahren und führt sie auf das Engagement von am Rande oder außerhalb des institutionalisierten Frauenaktivismus wirkenden Feministinnen zurück.259 Diese Art, Geschlechterbeziehungen in der Sphäre des Privaten zu thematisieren, lag sicherlich darin begründet, dass der betriebliche Sozialdienst bei TAM den MitarbeiterInnen des Unternehmens spätestens ab 1975 Unterstützung bei Alkoholproblemen anbot.260 Die 1980er Jahre brachten bei TAM in Maribor wie bei Zastava in Kragujevac die deutliche Ausweitung von Gleichberechtigungsansprüchen in den betrieblichen Debatten. Dabei ging man über die etablierten Dimensionen von 257 Vgl. Adriana ZAHARIJEVIĆ, Fusnota u globalnoj istoriji. Kako se može čitati istorija
jugoslovenskog feminizma, Socijologija 57 (2015), H. 1, 72–89, 76; KRAFT, Paradoxien der Emanzipation, 388f. 258 Izjemno darilo za dan žena, Skozi TAM, 7.3.1975, 7. 259 Chiara BONFIGLIOLI, Belgrade, 1978. Remembering the Conference „Drugarica Žena. Žensko pitanje – Novi pristup?“/ „Comrade Woman. The Women´s Question: A New Approach?“ 30 Years After. Unveröffentlichte Masterarbeit, Universität Utrecht. Utrecht 2008. 260 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 636: Poslovno poročilo TAM 1975, 34. Über die im Geschäftsbericht nur kurz umrissene Tätigkeitsbeschreibung dieses Sozialdienstes hinaus geben jedoch weder das Unternehmensarchiv noch die Fabrikzeitung nähere Einblicke in seine Tätigkeit.
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Teilhabe von Frauen an Erwerbsarbeit und Politik sowie die Rückbezüge auf ihre Rolle im jugoslawischen „Volksbefreiungskampf“ hinaus. 1981 bildete sich in der Fabrikzeitung Skozi TAM eine wahre Pluralität von Haltungen zur „Frauenfrage“ in ganzen sieben Artikeln ab, in so vielen wie nie zuvor in einer einzelnen Ausgabe. Nun, zu Beginn der 1980er Jahre, gab es zunehmend von Frauen verfasste eigenständige Artikel. Ein Interview mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes Sloweniens Tinka Blaho in derselben Ausgabe fungierte als direkte Vermittlung zwischen den auf der UN-Frauenkonferenz in Kopenhagen 1980 geführten Diskussionen und der Sphäre des Betriebs.261 Wenngleich der Leitspruch „alle Frauenprobleme sind gesellschaftliche Probleme“ schon 1972 in der Fabrikzeitung auftauchte,262 ging Blaho einen Schritt weiter, indem sie ausdrücklich forderte, die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie müsse überwunden werden. Sie stellte als Vertreterin einer sozialistischen Massenorganisation auf diese Weise unmissverständlich vorherrschende Geschlechterordnungen in der Sphäre des Privaten als politisches Problem heraus. Als Fortschreibung solcher elaborierter und erweiterter Emanzipationsforderungen kann man eine Stellungnahme aus dem Jahr 1984 unter dem Titel „Der Mann sollte zu Hause bleiben“ lesen.263 Verschärfte wirtschaftliche Bedingungen unter denen Arbeitslosigkeit auch in Slowenien zum breit rezipierten Problem avanciert war, bildeten den Hintergrund für diese bei weitem deutlichste kritische Äußerung in der Fabrikzeitung Skozi TAM. Die Autorin Neva Železnik reagierte damit auf Vorschläge, berufstätige Frauen sollten ihre Arbeitsplätze zugunsten arbeitsloser Männer räumen, welche offenbar öffentlich diskutiert wurden. Nicht zuletzt forderte auch sie die gleichberechtigte Aufteilung häuslicher Arbeiten zwischen den Geschlechtern und beschloss ihren Artikel folgendermaßen: Wie wäre es damit, zur Abwechslung einmal vorzuschlagen, die Männer sollen zu Hause bleiben und arbeitslosen Frauen den Platz räumen? Würden die Männer nicht – und zwar zurecht – protestieren? Deshalb schweigen diesmal die Frauen auch nicht und kämpfen für ihre Arbeit, für ihre Unabhängigkeit.264
Solche seit dem Beginn der 1980er Jahre öffentlich geäußerten Positionen gingen über die offiziellen Gleichberechtigungsziele hinaus. Allerdings wurden sie teilweise von Funktionärinnen aufgenommen, was sowohl in der Kragujevacer als auch der Mariborer Fabriköffentlichkeit geschah. Gerade das Problem der Arbeitslosigkeit, das in Kragujevac schon deutlich länger und gravierender vorhanden war, betraf dort in größerem Ausmaß Frauen. So sank trotz insgesamt steigender Arbeitslosigkeit in Maribor der Anteil von Frauen an den arbeitslos Gemeldeten zwischen 1971 und 1983 von 67 % auf 52 %. Im gleichen Zeitraum 261 262 263 264
Vgl. Vsi problemi žensk. S. S. / A. Ž., Pogovori ob osmem marcu. Neva ŽELEZNIK, Mož naj bo doma, Skozi ZIV TAM, 2.3.1984, 2. Ebenda.
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verzeichnete Kragujevac eine entgegengesetzte Tendenz: Der Anteil von Frauen an der Gesamtarbeitslosigkeit, die deutlich höher war als im slowenischen Maribor, stieg hier von 68 % auf 73 %.265 Im Gegensatz zu TAM spielte das Phänomen der entlang der Geschlechterlinie ungleich auftretenden Arbeitslosigkeit jedoch bei Zastava paradoxerweise keine Rolle in den betrieblichen Gleichstellungsdiskussionen. Die insgesamt höhere Berufstätigkeit von Frauen in Slowenien im Vergleich mit den südöstlichen Landesteilen266 hatte in Maribor größere Erwartungen von Frauen etabliert. Dies kann erklären, weshalb sich dieser Anspruch in dem Moment, in dem sich die gesamtwirtschaftliche Lage verschlechterte, auch in der Aushandlungen von Geschlechterordnungen niederschlug.
Fazit Während in der offiziellen Rhetorik Gleichberechtigung in Arbeit und Politik als erreicht dargestellt wurde, befanden sich Frauen in der wirtschaftlichen Praxis der Betriebe tatsächlich in einer benachteiligten Position. Dies äußerte sich vor allem in niedrigerem Qualifikationsniveau von Produktionsarbeiterinnen, Tätigkeiten in Betriebsteilen mit schwacher Position im Gesamtbetrieb und häufig im auf diesen beiden Faktoren beruhenden geringeren Einkommen von Frauen. Dieser gesamtjugoslawische Trend lässt sich an den Beispielen der Fabriken in Maribor und Kragujevac belegen. Im politischen Leben der Fabriken, also in Partei, Massenorganisationen und Selbstverwaltung waren weibliche Beschäftigte weniger vertreten als ihre Kollegen. Für Produktionsarbeiterinnen traf dies in besonderer Weise zu, da in offizieller Lesart die Frauenfrage innerhalb der Selbstverwaltung gelöst werden sollte. Demzufolge waren Forderungen von Frauen nach gleichberechtigter Beteiligung formal berechtigt und genossen den Status eines durch die staatliche Ideologie legitimierten Ziels. Frauen verfügten jedoch im Gegensatz zu jungen Menschen über keine in der Art der Jugendorganisation institutionalisierten und in den Betrieben zwingend vorhandenen Vertretungsstrukturen. Allerdings führten Frauenaktivistinnen innerhalb der institutionellen Strukturen seit der Abschaffung des AFŽ 1953 eine Debatte über die Notwendigkeit einer übergreifenden, einheitlich organisierten Frauenorganisation, wobei Rufe danach in den frühen 1980er Jahren auch die jugoslawische Öffentlichkeit erreichten.267 Im Gegensatz zu TAM gründete sich bei Zastava in Kragujevac gegen Ende der 1960er Jahre ein Frauenaktiv, sodass dort zumindest formal eine Vertretungsinstanz für Fraueninteressen bestand. Da Geschlechterordnungen im Betrieb in den Strukturen der Selbstverwaltung kaum thematisiert wurden, bot bis auf wenige Ausnahmen vor allem der Frauentag am 8. März Anlass dafür, dass in den Fabrikzeitungen öffentlich der Stand der Gleichberechtigung reflektiert wurde. Dabei fällt auf, dass in beiden Fabriken in zeitlich ähnlichem Verlauf die Kluft verhandelt wurde, die zwischen 265 SGJ 1972, 608; SGJ 1984, 697. 266 Vgl. RAMET, In Tito´s Time, 96. 267 Vgl. TEŠIJA, The End of the AFŽ, 51–61; Sabrina Ramet führt als Beleg für die Öf-
fentliche Diskussion Äußerungen der kroatischen Soziologin und Philosophin Blaženka Despot aus dem Jahr 1982 an: RAMET, In Tito´s Time, 102.
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Anspruch und Wirklichkeit der offiziell propagierten Emanzipation klaffte. Dies gilt vor allem für die 1970er und die erste Hälfte der 1980er Jahre. In den Zastava-Werken forderten Frauen in den 1960er Jahren die offiziellen Gleichstellungsnormen in Artikeln zum Frauentag teilweise heftig ein. Dagegen bewegte sich bei TAM die Thematisierung des 8. März bis zu Beginn der 1970er Jahre in einer beinahe apolitischen Tonlage. Im Verlauf der 1970er Jahre tauchten regelmäßige, individuell von einzelnen weiblichen Beschäftigten vorgebrachte Klagen über ihre Mehrfachbelastungen mit beruflicher, politischer und häuslicher Arbeit in beiden Fabrikzeitungen auf. Auf diese Weise fand das Bewusstsein vom Teufelskreis, in dem sich Frauen angesichts der Forderung nach „gesellschafts-politischer Aktivität“ befanden, Eingang in öffentliche Diskussionen. Die als frauenspezifisch kodierte Probleme sollten über den Weg der Beteiligung von Frauen an der Selbstverwaltung und nicht in eigenen Vertretungsstrukturen gelöst werden. Die öffentliche Debatte dieser Fragen brachte zumindest das Eingeständnis, dass hier ein ungelöstes gesellschaftliches Problem vorlag. Dennoch überwog im Sinne traditioneller Geschlechterbilder die Auffassung, es handele sich dabei um ausschließlich Frauen betreffende Probleme, die diese auch individuell zu lösen hätten. Beispiele, in denen es einzelnen Frauen gelang, Arbeiterinnen, Mütter, Hausfrauen und politische Aktivistinnen zugleich zu sein, hoben die Fabrikzeitungen dementsprechend positiv hervor. Für die Betreffenden bedeutete dies zweifellos eine Anerkennung und ähnelte damit Phänomenen in anderen staatssozialistischen Ländern.268 Dagegen blieben angesichts der im Laufe der Jahrzehnte ansteigenden Arbeitslosigkeit in Jugoslawien, also dem grundsätzlichen Überangebot an Arbeitskräften, Investitionen in vergesellschaftete Haus- und Familienarbeit wie betriebliche Kinderbetreuung offenbar nachrangig. Frauenerwerbsquoten, die in Jugoslawien eher denen der westeuropäischen als den sozialistischen Staaten ähnelten,269 legen nahe, dass die Marktorientierung der jugoslawischen Wirtschaft die Zweitrangigkeit der sozialistischen Emanzipation bewirkte. Vertreterinnen der Massenorganisationen benannten ab den frühen 1980er Jahren den Einfluss, den Geschlechtervorstellungen, die im Privaten herrschten, auf die berufliche und politische Aktivität von Frauen hatten. Damit zeigten sie die Grenzen der „sozialistischen Emanzipation“ auf, welche die Überwindung althergebrachter Rollenverständnisse in der familiären Sphäre nicht vorsah.270 In Jugoslawien waren solche Stellungnahmen vom Druck beeinflusst, welchen die außerhalb der staatlich legitimierten Strukturen aktiven „neuen Feministinnen“271 ab den späten 1970er Jahren auf die Diskussionen ausübten. Die Positionen dieser kleinen, aus gebildeten urbanen Frauen bestehenden Gruppe, die an 268 Vgl. Claudia KRAFT, Geschlecht als Kategorie zur Erforschung der Geschichte des
Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa. Zur Einführung, in: DIES. (Hg.), Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern. München 2008, 1–21, 16. 269 Vgl. WOODWARD, The Rights of Women, 345. 270 Ähnlich verhielt es sich unter anderem in Ungarn und der DDR: ZIMMERMANN, Geschlechtergeschichte und Geschlechterauseinandersetzung, 127.
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den theoretischen Debatten der Praxis-Gruppe geschult war und im Austausch mit Feministinnen aus Ost und West stand, gingen in einigen Punkten nahtlos in die Ansichten der „Staatsfeministinnen“ über.272 Diese wiederum entsandten Vertreterinnen zu internationalen Treffen wie der UN-Frauenkonferenz, was auf einem weiteren Weg die transnatinonale Zirkulation von Ideen und Forderungen förderte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich über die offiziellen sozialistischen Emanzipationsziele hinausreichenden Forderungen in den 1980er Jahren auf dem Wege der institutionalisierten Frauenvertretungen auch in den betriebsöffentlichen Diskussionen über Geschlechterordnungen niederschlugen.
6.5. Herkunft: Land-Stadt- und jugoslawische BinnenmigrantInnen Die kommunistischen Staaten Südosteuropas erlebten ab den 1950er Jahren einen staatlich forcierten Industrialisierungsschub, welcher die Migration in die urbanen, industriellen Zentren nach sich zog. Neben der angestammten städtischen Bevölkerung, welche Arbeit in den Industriebetrieben fand, waren so in den Fabriken eine erhebliche Zahl von Menschen tätig, die als jugoslawische BinnenmigrantInnen in die Städte zogen. Die Vielfalt der Migrationswege von ArbeiterInnen, die nicht aus den Städten stammten, in denen sie arbeiteten, belegen folgende Beispiele. Dušan M., ein unqualifizierter Arbeiter aus einem serbischen Dorf in elf Kilometer Entfernung von Kragujevac, nahm im Jahr 1969 mit 24 Jahren als Fahrer in der Nutzfahrzeugfabrik bei Zastava die Arbeit auf.273 Nach seinen acht Pflichtschuljahren folgte keine weitere Qualifikation. In Kragujevac wohnte er zur Untermiete. Neben ArbeiterInnen aus dem Kragujevacer ruralen und kleinstädtischen Einzugsgebiet zogen Beschäftigte aus ganz Serbien südlich von Belgrad nach Kragujevac.274 Darunter waren auch Automechaniker mit Facharbeiterabschluss wie Milutin M., der 1953 mit 18 Jahren zu Zastava kam.275 Geboren im zentralserbischen Dorf Rujište besuchte er im davon zwanzig Kilometer entfernten Aleksinac die Berufsschule, um dann im 135 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernten Kragujevac zu arbeiten und im ArbeiterInnenwohnheim Zastavas unterzukommen. Auch serbische BewohnerInnen des Kosovo kamen zum Arbeiten nach Kragujevac. Ein 25-jähriger bei Zastava angelernter Schweißer aus dem südkosovarischen Vitina (Alb.: Viti) kam Ende der 1960er Jahre 271 Sowohl die Vertreterinnen des „neuen Feminismus“ in Jugoslawien, als auch die in
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staatlichen Strukturen der Konferenz für die gesellschaftliche Aktivität der Frau organisierten Aktivistinnen selbst bezeichneten sie auf diese Weise, siehe: BONFIGLIOLI, Belgrade, 1978, 44. Vgl. ebenda, 47. Vgl. ZCZ-CA, M, br. 477–484, 1973: br. 482/1973, M. Dušan. Die Personalakten bei Zastava sind nach Austrittsjahren der ArbeitnehmerInnen geordnet. Innerhalb eines Jahres sind sie alphabetisch geordnet. Die eingesehenen Akten umfassten eine Stichprobe der Nachnamen beginnend mit „M“ in verschiedenen Austrittsjahren, woraus sich die Häufung des Buchstabens in den folgenden Beispielen ergibt. Vgl. JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 103. Vgl. ZCZ-CA, M, br. 477–484, 1973: br. 479/1973, M. Milutin.
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zum Arbeiten in das 330 Kilometer nördlich gelegene Kragujevac.276 Aber auch Angestellte wie Milanko M. zog es aus dem Kosovo nach Kragujevac. Der aus Peć (Alb.: Peja) im Westen des Kosovo stammende Milanko M. hatte in Đakovica (Alb.: Gjakova), das 35 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt lag, einen Fachoberschulabschluss zum Betriebswirt erlangt und mit 21 Jahren die Arbeit bei Zastava aufgenommen.277 Die Personallisten bei Zastava weisen vornehmlich Namen auf, die südslawischen Ursprungs sind.278 Bis auf einige wenige Albanisch Sprechende, beherrschten fast alle MitarbeiterInnen bei Zastava in Kragujevac demnach Serbisch als Muttersprache. Die migrierten ArbeiterInnen stammten zum großen Teil vom Land. Viele verfügten aber aufgrund ihrer Ausbildung oder früherer Arbeitsstellen über Erfahrung im kleinstädtischen Lebensumfeld. Maribor zog im Gegensatz zum zentralserbischen Kragujevac BinnenmigrantInnen mit einer größeren Vielfalt an jugoslawischen Herkunftsgegenden an. Diese reichten vom direkten Umland Maribors im äußersten Norden Jugoslawiens bis zum Kosovo am südöstlichen Ende des Landes. So wurde Jožef K. 1946 im Dorf Spodnji Duplek, acht Kilometer südöstlich des Werkssitzes von TAM geboren.279 Er besuchte sechs Jahre lang die Grundschule und trat nach einem anderen Arbeitsverhältnis eine Stelle als Transportarbeiter in der Lackiererei bei TAM an. Seinen Wohnsitz hatte er zwei Kilometer von seinem Geburtsort entfernt im näher an der Fabrik gelegenen Zgornji Duplek. Neben vielen ungelernten KollegInnen aus dem sechzig Kilometer entfernten kroatisch-slowenischen und ländlich geprägten Grenzgebiet, kam 1966 mit achtzehn Jahren auch der Dreher Ivan K. mit Facharbeiterabschluss aus seinem kroatischen Geburtsort Varaždin, siebzig Kilometer südöstlich der Fabrik gelegen, nach Maribor. 280 Er hatte vor seiner Anstellung bei TAM für drei Monate im Waggonwerk „Boris Kidrič“ in Maribor gearbeitet und wohnte nun im ArbeiterInnenwohnheim in nur 700 Metern Entfernung vom Fabrikstandort. Als eine weitere Gruppe von BinnenmigrantInnen kamen ab den 1970er Jahren sowohl ungelernte als auch qualifizierte Arbeitskräfte aus Bosnien zu TAM. So fanden die Brüder Enes K. und Salkan K., die aus dem Dorf Svojat in der Nähe der ostbosnischen Stadt Tuzla stammten, im vierhundertzwanzig Kilometer entfernten Maribor 1978 bei TAM Arbeit als Transportarbeiter.281 Während 276 Vgl. ZCZ-FPV, Disc., 1972: Br. 6, Zapisnik o usmenom javnom pretresu,
10.02.1972. 277 Vgl. ZCZ-CA, RZ KOP M, br. 651–657, 1983: br. 651, M. Milanko. 278 Vgl. die Listen mit Namen der aus dem Betrieb ausgetretenen MitarbeiterInnen:
ZCZ-CA, Pers. 1964–69: Pers. 1964–69; ZCZ-CA, Pers. 1970–75: Pers. 1970–75; ZCZ-CA, Pers. 1976–80: Pers. 1976–80; ZCZ-CA, Pers. 1981–85: Pers. 1981–85. 279 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 239: Jožef K. Die Personalakten der Firma TAM sind alphabetisch nach Nachnamen der ArbeitnehmerInnen geordnet. Die eingesehenen Akten umfassten eine Stichprobe der Nachnamen beginnend mit „K“, woraus sich die Häufung des Buchstabens in den folgenden Beispielen ergibt. 280 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 239: Ivan K. 281 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 240: Enes K.; SI-PAM, f. 0990, šk. 240: Salkan K.
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Enes K. im SchülerInnenwohnheim des Werks wohnte, lebte sein Bruder Salkan K. sechs Kilometer entfernt als Untermieter nahe des Stadtzentrums. Vereinzelt fanden sich auch albanische Beschäftigte aus dem Kosovo in der Belegschaft, wie z. B. der Maschinenschlosser Enver K., der 1979 im Alter von einundzwanzig Jahren eine Beschäftigung bei TAM aufnahm.282 Der aus der Kleinstadt Gllogoci (Srb.: Glogovac) dreißig Kilometer von Prishtina (Srb.: Priština) stammende Enver K. wohnte fünf Kilometer vom Werk entfernt im Stadtzentrum zur Untermiete. Ähnlich wie die Fabrik in Kragujevac zog TAM in Maribor sowohl qualifizierte als auch unqualifizierte Arbeitskräfte aus dem regionalen ländlichen und städtischen Umfeld an. Zu diesem Einzugsgebiet gehörte auch das nördliche und zentrale Kroatien. Im Gegensatz zu Zastava jedoch überschritten viele der MigrantInnen jugoslawische Republiksgrenzen und somit auch Sprachgrenzen, wenn sie aus dem nahen Kroatien oder mehrere hundert Kilometer aus Bosnien und dem Kosovo nach Slowenien kamen. Die soziale Kategorie Herkunft lässt sich vor diesem Hintergrund in die ländliche, regionale und ethnische Herkunft auffächern. Während in der Fabrik in Kragujevac vor allem die erste und zweite eine Rolle spielten und weitgehend ethnische Homogenität herrschte, überlagern sich im Falle Maribors bei vielen MigrantInnen die Kategorien ländlicher, regionaler und die ethnischer Herkunft. In Bezug auf die letztere ist im offiziellen Sprachgebrauch des sozialistischen Slowenien jedoch nicht von Ethnizität die Rede, sondern von Nationalität bzw. von „Arbeitern aus den anderen Republiken“.283 Für die untersuchten Fabriken sind keine Statistiken verfügbar, die über den Zusammenhang von Herkunft von außerhalb der Republik Slowenien, vom Dorf und niedriger Qualifikation Aufschluss geben könnten. Jedoch sprechen Daten aus anderen slowenischen Betrieben und Gegenden für eine Überlagerung dieser Kategorien. So waren 1972 66 % der aus anderen Republiken in slowenische Industriebetriebe Migrierten ländlicher Herkunft. Von diesen verfügten 62 % über keine Qualifikation.284 In Ljubljana sank der Anteil derjenigen MigrantInnen, die Republiksgrenzen überschritten hatten und über keine oder geringe Qualifikation verfügten, zwischen 1977 und 1979 von etwa 81 % auf annähernd 69 %.285 Wie in Kapitel 5.1. diskutiert, machten die ArbeiterInnen ländlicher Herkunft an beiden Fabrikstandorten einen bedeutenden Anteil der Beschäftigten aus. In Serbien und Slowenien lag zwischen 1961 und 1971 der
282 283 284 285
Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 240: Enver K. Slow.: „Delavci iz drugih republik“. Siehe u. a.: MICKI, Delavci iz drugih republik. Ebenda, 12f. Andrej GULIČ, Družbenoekonomski vidik, in: VOVK (Hg.), Stanovanjska problematika priseljenih delavcev, 28–138, 38. Die bei Gulič angeführten Zahlen betreffen nur diejenigen, welche über die Arbeitsämter nach Ljubljana kamen.Sie sind also nicht repräsentativ.
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Anteil von MigrantInnen in den Städten im Bereich zwischen 67 % und 55 %, wobei die Tendenz sinkend war.286 Auf Konflikte, die in den Fabriken mit Verweisen auf die Herkunft von ArbeiterInnen vom Land verhandelt wurden, geht bereits Kapitel 5.1. ein. Die dort diskutierten Praktiken des Nebenerwerbs außerhalb der Fabrikarbeit und die öffentlichen Debatten, die insbesondere MigrantInnen als VerletzerInnen der Arbeitsdisziplin identifizierten, stehen für solche Konflikte. Während Nebenerwerbslandwirtschaft in den 1950er Jahren noch als beinahe antisozialistisch konnotiertes, illegitimes Ausnutzen von Privilegien galt, wurde sie in den folgenden Jahrzehnten kaum mehr ideologisch angegriffen. Jedoch assoziierten die Fabrikleitungen ländliche Herkunft von Beschäftigten mit einem Produktivitätshemmnis. Dass Nebenerwerb häufig ökonomisch notwendig war, wurde in der öffentlichen Debatte ausgespart. Die abwertende Thematisierung von Herkunft in betrieblichen Diskursen ähnelt dem, was Nicole Münnich für das Belgrad der 1960er Jahre festgestellt hat. Sie weist in ihrer Studie zu Belgrad in den 1960er Jahren auf die Funktion hin, die Abgrenzungsbestrebungen der städtischen Bevölkerung gegenüber den MigrantInnen hatte: „Die Zugezogenem wurden als `polutani´ [Hervorhebung Nicole Münnich] (Zwitter) bezeichnet, halb Arbeiter, halb Bauern, von denen man sagte, sie stünden mit einem Bein auf dem Acker und mit dem anderen in der Fabrik“. Der zeitgenössische Diskurs, so Münnich, der die MigrantInnen als unzivilisiert und unwillig, sich an das städtische Leben anzupassen, darstellte, erfüllte unter anderem eine Funktion in der Auseinandersetzung um die knappe Ressource Wohnraum. In der Betrachtung des Phänomens „Rurbanisierung“ würde dieser Umstand sowie die Tatsache, dass Verhaltensweisen wie das Halten von Vieh in der Stadt nicht in erster Linie Unangepasstheit und Verweigerung, sondern Überlebensstrategien darstellten, oft unterschlagen.287 Der soziale Mikrokosmos der Fabrik war eine konkrete städtische Umgebung, in der sich solche diffamierenden Diskurse etablierten und die soziale Minderprivilegierung von MigrantInnen rechtfertigen konnten. Dass diese überwiegend sozial benachteiligt waren, erkannten neben kritischen ForscherInnen in den beginnenden 1980er Jahren auch regierungsoffizielle Analysen wie die Dokumente der „Kraigher-Komission“ an.288 Unter den sich verschärfenden wirtschaftlichen Bedingungen der 1980er Jahre lebten sowohl die Aktivität der NebenerwerbslandwirtInnen als auch Anfeindungen ihnen gegenüber wieder stärker auf.289 Sowohl die Rolle der Stadt-Land-MigrantInnen als wichtige TrägerInnen der sozialistischen Industrialisierung als auch das Auf und Ab im Verhältnis zwischen angestammt städtischen und zugezogenen ArbeiterInnen stellen ein übergreifendes Merkmal der südosteuropäischen Länder dar.290 286 287 288 289 290
RANČIĆ, Some Characteristics of the Population, 25. Vgl. MÜNNICH, Belgrad, 376, 287. Vgl. ŠEFER, Šefer, Osvnove i okviri dugoročne socijalne,67–116, 95f. Vgl. GLIŠOVIĆ / MARAŠ, Standard kaska za cenama; Sosed Jaka. Vgl. für Rumänien: PETRESCU, Workers and Peasant-Workers; für Ungarn z. B.: HORVÁTH, Everyday Life in the First; für Bulgarien z. B.: RAEVA, Migracijata selo –
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ArbeiterInnen aus dem regionalen Einzugsgebiet der Industriestädte Auswärtige ArbeiterInnen waren entweder TagespendlerInnen oder sie mussten sich um eine Wohnung in den Industriestädten bemühen. Die wachsenden Städte waren den Herausforderungen, die der bis in die 1970er Jahre anhaltende Produktionsanstieg der Industrie an die Infrastruktur stellte, kaum gewachsen. Im Vergleich der beiden Fallbeispiele sah sich vor allem Kragujevac mit dem Problem konfrontiert, die Verkehrs-, Versorgungs- und Wohnungsinfrastruktur mit den Anforderungen der Industrie und des verstärkten Zuzugs in Einklang zu bringen. Seit der großen Ausbauphase der Zastava-Werke in den frühen 1960er Jahren stritten die Behörden und das Unternehmen in Kragujevac um die finanzielle Verantwortung für die städtische Infrastrukturentwicklung.291 So beklagte in einer Rückschau aus den 1990er Jahren ein ehemaliger Direktor der ZastavaAutofabrik, dass sich die umliegenden Dörfer geleert hätten, während die Behörden und Unternehmen in der Stadt die erforderlichen Wohnungen nicht bereit stellen konnten. Zudem hätte die Stadt Kragujevac rechtzeitig für die Asphaltierung von Straßen und für die Einrichtung von Busverkehr sorgen sollen.292 Bevor das Busliniennetz in den 1960er Jahren ausgebaut wurde, waren es vor allem der Zug und das Fahrrad, mit dem Beschäftigte zur Arbeit fuhren, wenn sie nicht zu Fuß aus den umliegenden Dörfern kamen. 293 Im Laufe der 1960er und 1970er Jahre gewann der Busverkehr gegenüber dem Zug stark an Bedeutung. Verzeichnete Kragujevac 1965 jährlich noch 672.000 Zugreisende, waren es 1975 nur noch 248.000.294 Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der per Stadtbus Beförderten von 4.787.000 auf mehr als das Doppelte (11.362.000) an.295 Bis in die späten 1980er Jahre erhöhte sich die Zahl derjenigen, die den Bus nutzten weiterhin. Nach 1980 erlebte auch der Zugverkehr wieder einen leichten Anstieg, ohne allerdings das Niveau der 1960er Jahre wieder zu erreichen.296 Zusätzlich zu den städtischen Bussen, dem Regionalverkehr der lokalen Busgesellschaft und den regulären Zugverbindungen entlang der Bahnstrecke, die auch heute noch als einzige durch Kragujevac verläuft, stellten die ZastavaWerke Sonderzüge und -busse für die Belegschaft bereit. Die dezentrale Organisation sowohl der Betriebe als auch der Beförderungsgesellschaften stellte den Werksverkehr jedoch vor Herausforderungen: So kam es etwa vor, dass 1968 die Buslinien zur Autofabrik mehrere Monate lang nicht verkehrten.297 Unstim-
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grad. Vgl. JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 146–148. Vgl. ebenda, 147; ZEČEVIĆ, O posleratnoj obnovi vojne industrije, 215. Vgl. POPOVIĆ, Kragujevac i njegovo, 354. SGJ 1966, 604; SGJ 1976, 634. SGJ 1966, 605; SGJ 1976, 635. SGJ 1988, 713f. Vgl. Ko brine o njima. Posle ukidanja autobuske linije za prevoz radnika do Fabrike automobila, Crvena zastava, 24.1.1968, 2.
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migkeiten zwischen der Verwaltung der größten Teilfabrik der Zastava-Werke und des lokalen Busunternehmens Autosaobraćaj führten dazu, dass vielen Beschäftigten der Weg zur Arbeit erheblich erschwert wurde bzw. dass sie häufig zu spät kamen. Obwohl bis in die 1970er Jahre der Ausbau der Straßen im Umland und der Region die Voraussetzung für den Busverkehr schuf, konnte die Einrichtung von Busverbindungen über längere Entfernungen daran scheitern, dass eine Linie für die Beförderung von Zastava-ArbeiterInnen durch mehrere Gemeinden führte.298 So verweigerte der Kragujevacer Autosaobraćaj 1971 die Einrichtung einer Verbindung ins fünfzig Kilometer entfernte Kraljevo, da das Unternehmen sich nicht mit den Busunternehmen der auf dem Weg liegenden Gemeinden einigen konnte. Zudem konnte der Busverkehr auch aufgrund betrieblichen Selbstverwaltung erschwert werden, wenn wie etwa 1977 nicht alle Betriebsteile der Anschaffung eines Busses zustimmten.299 Noch 1968 aber konnte die Wohnadresse in abgelegenen Orten um Kraguejvac tagtäglich lange Fußwege für die ArbeiterInnen bedeuten.300 Über Miodrag Milojević, einen ungelernten Arbeiter in der Schmiede der Zastava-Werke, berichtete die Betriebszeitung 1975, dass er täglich dreißig Kilometer zu Fuß zurücklegte, um mit seiner Arbeit in der Fabrik seine vierköpfige Familie zu ernähren. Milojević gab im Interview an, dass sein Lohn gerade so zum Leben ausreichte. Das könnte als Erklärung dafür dienen, dass er nicht die Hälfte des Weges, auf dem Verkehrsmittel zugänglich waren, mit Bus oder Zug zurücklegte. Angesichts derartiger Anstrengungen sind „Feiern bis zum Morgengrauen“ anlässlich der Anbindung an das Straßen- und Busnetz nachvollziehbar, die sich z. B. 1975 im 25 Kilometer von Kragujevac entfernten Dorf Dulene ereigneten.301 Maribor verfügte aufgrund seiner geografischen Lage über ein besser ausgebautes Verkehrsnetz als Kragujevac. Die Stadt liegt als ein regionales Zentrum im Dreieck zwischen Ljubljana, Zagreb und Graz und befand sich somit bis 1918 beinahe im Herz der österreich-ungarischen Monarchie. Während Kragujevac 1886 ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, geschah dies in Maribor bereits vierzig Jahre früher im Jahr 1846. Die Gemeinde Maribor wuchs zwischen 1961 und 1971 um fast 18 % von knapp 153.000 BürgerInnen auf etwa 186.000 an. Sie zählte damit 1961 etwa 50.000 Menschen mehr als Kragujevac, das dafür bis 1981 um etwa 36 %, also deutlich stärker als Maribor, an Bevölkerung zulegte.302 Die Stadt in Nordostslowenien am Fluss Drava musste also eine weitaus geringere Anpassung leisten als das zentralserbische Kragujevac, dem zusätzlich die Wasserknappheit bei der Versorgung der wachsenden Bevölkerung und Industrie zu schaffen machte.303 1965 beförderte 298 299 300 301 302 303
Vgl. R.P., Poboljšaće se uslovi za prevoz radnika, Crvena zastava, 3.2.1971. Vgl. Autobus čeka putnike, Crvena zastava, 16.2.1977, 10. Vgl. ĐORĐEVIĆ, Godišnje pređe hiljadu kilometra. Vgl. D. L. PETKOVIĆ, Slavlje do zore. Najzad i u Dulene autobus, 31.7.1975, 6. SGJ 1968, 523, 525; SGJ 1984, 619, 622. Zum Wassermangel in Kragujevac vgl. OSREČKI / GLIŠOVIĆ, Okrugli sto: Odgovornije; JANKOVIĆ, Zapisi o Zastavi, 146.
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der öffentliche Busnahverkehr in Maribor mit beinahe zwanzig Millionen Fahrgästen viermal so viele Personen wie sein Äquivalent in Kragujevac.304 Mit 1.267.000 ZugpassagierInnen belief sich der Zugverkehr auf das Doppelte im Vergleich zu Kragujevac, nahm aber bis zu den 1970er Jahren ebenfalls ab, um wie in Kraguejvac nach 1980 noch einmal stark anzusteigen. Vor allem TagespendlerInnen der Mariborer Industriebetriebe nutzten das Verkehrsnetz, wie eine sozialgeografische Studie aus dem Jahr 1980 aufzeigt. Während im Jahr 1951 knapp 23 % der Mariborer IndustriearbeiterInnen täglich zwischen dem Umland und der Stadt unterwegs waren, hatte sich ihr Anteil bis 1979 auf fast 42 % erhöht.305 In Kragujevac lag der Anteil an Beschäftigten, die in den umliegenden Dörfern wohnten, 1951 bei knapp 14 %.306 Nur die Hälfte der TagespendlerInnen in Maribor fuhren 1979 aus agrarischen Gegenden zur Arbeit in die Stadt. Die andere Hälfte reiste aus Orten an, die ebenfalls über Industrie verfügten.307 Im Gesamtbild ergibt sich demzufolge für Maribor, dass ArbeiterInnen in geringerem Maße als in Kragujevac mit Transportproblemen konfrontiert waren. Ein langsameres Wachstum der Stadt und die günstigere Ausgangssituation im Personenverkehr stellten die Betriebe und die Gemeinde Maribor vor deutlich kleinere infrastrukturelle Probleme. Während die TAM 1965 über 26 eigene Werksbusse verfügte308 – die im übrigen von der Firma selbst hergestellt worden waren – lagerte das Unternehmen Transportdienstleistungen später an das städtische Busunternehmen Certus aus. Wie in Kragujevac hing auch hier die Qualität des Transports von den Verhandlungsergebnissen zwischen TAM und Certus ab.309 Bei einer Erhebung im Jahr 1970 gaben 83 % der Belegschaft an, mehr als zwei Kilometer vom Werk entfernt zu wohnen. Öffentliche oder vom Werk gestellte Verkehrsmittel nutzten laut derselben Umfrage 72 % der Belegschaft, da sie nicht zu Fuß (13 %), mit dem eigenen Auto (9 %) oder per Moped/ Fahrrad (6 %) zur Arbeit kamen.310 Verspätungen zur Arbeit und damit einhergehende Konflikte mit VorarbeiterInnen betrafen insbesondere diejenigen ArbeiterInnen, welche auf den Busund Zugverkehr angewiesen waren.311 Da wie in Kragujevac die Arbeit bei TAM in Schichten verlief, musste der dazugehörige Transport für die Belegschaft mit den Arbeitszeiten in Einklang gebracht werden. Daraus resultierte nicht nur eine logistische Aufgabe für die Verantwortlichen im Unternehmen, sondern auch die Herausforderung für alle ArbeiterInnen, ihr Alltagsleben zwischen dem Werk SGJ 1966, 605. DROBNJAK / VRBNJAK, Dnevna migracija industrijske delovne sile, 32. POPOVIĆ, Kragujevac, 354. DROBNJAK / VRBNJAK, Dnevna migracija industrijske delovne sile, 34. SI-PAM, f. 0990, šk. 626: Poslovno poročilo TAM 1965, 22. Vgl. Prosta sobota zaostrila probleme prevoza delavcev, Skozi TAM, 28.1.1972, 6; Danilo VINCETIČ, Prevoz na delo in z dela veliko stanejo, Skozi ZIV TAM, 6.11.1981, 10. 310 SI-PAM, f. 0990, šk. 631: Poslovno poročilo TAM 1970, 32, 33. 311 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 52. redne seje odbora, 3; VINCETIČ, Prevoz na delo. 304 305 306 307 308 309
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und ihrem Wohnort in Einklang zu bringen. So ergaben sich vor allem für weiter entfernt lebende Beschäftigte Einschränkungen. Die daraus resultierenden Konflikte trugen die betreffenden Abteilungen nur in seltenen Fällen in die Betriebsöffentlichkeit. Davon gab es jedoch Ausnahmen, wie der Fall Štefan Žnidaričs aus dem Jahr 1972 belegt.312 Der Mann lebte im 35 Kilometer entfernten Markovci bei Ptuj und war in der Abteilung Mechanische Fertigung beschäftigt. Er beschwerte sich in einem sehr emotionalen Leserbrief an die Fabrikzeitung über die Schichtarbeit in der Fabrik, die ihn auf „unmenschliche“ Weise zwingen würde, getrennt von seiner gerade gegründeten Familie zu leben. Da es nach der Spätschicht keinen Busverkehr nach Ptuj bzw. weiter ins davon sieben Kilometer entfernte Markovci gäbe und er so im ArbeiterInnenwohnheim in Maribor leben musste, bat er seinen Vorgesetzten darum, ihn in die erste Schicht einzuteilen. Die Antwort seines Leiters Vlado Elvič, die direkt unter dem Leserbrief abgedruckt war, fiel unmissverständlich aus.313 Elvič verwies auf Žnidaričs Arbeitsvertrag, in dem die Bereitschaft, im Drei-Schicht-System zu arbeiten, festgelegt wäre. Die Ansprüche Žnidaričs wies er als Flausen eines jungen Arbeiters zurück, der sich schwer tun würde, in der „Lebenswirklichkeit“ anzukommen. Das Unverständnis eines älteren Leiters, der womöglich die entbehrungsreichen Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte, gegenüber der jüngeren Generation schwang in dieser Einschätzung mit. Mit dem Hinweis darauf, dass Žnidarič froh sein könne, Arbeit zu haben und zudem noch die für den Arbeitsweg benötigte Fahrkarte zu 50 % vom Unternehmen finanziert zu bekommen, lehnte der Leiter der Mechanischen Fertigung die Bitte Žnidaričs ab. Zu einer Zeit, in der selten LeserInnenbriefe oder gar Antworten darauf in der Betriebszeitung veröffentlicht wurden, sticht dieser offensive Umgang mit einem Konflikt ins Auge. Es handelte sich offenbar um ein verbreitetes Problem, bei dem es der Werksleitung darum ging, die Ansprüche der Beschäftigten öffentlich in ihre Grenzen zu weisen. Fährt man von Štefan Žnidaričs Wohnort Markovci bei Ptuj zehn weitere Kilometer nach Osten, so gelangt man zur slowenisch-kroatischen Grenze und begegnet einer spezifischen Übergangsform jugoslawischer Binnenmigration. Aus den nordkroatischen Gegenden um Čakovec, Cestica, Donja Višnjica und Ivanec zog es seit den 1950er Jahren ArbeiterInnen nach Maribor.314 Unter ihnen befanden sich 1979 etwa neunhundert TagespendlerInnen, die zur Industriearbeit ins fünfzig bis siebzig Kilometer entfernte Maribor kamen. Die Sozialgeografie hatte ihre Schwierigkeiten festzustellen, ob diese Menschen täglich, wöchentlich oder monatlich pendelten.315 Ähnlich wie beim Arbeiter Štefan Žnidarič handelte es sich hier offenbar vornehmlich um Männer, die sowohl ih312 Vgl. Štefan ŽNIDARIČ , Pisma bralcev. Življensko spoznanje, Skozi TAM, 15.12.1972,
6. 313 Vgl. Vlado ELVIČ, Odgovor vodje delovne enote, Skozi TAM, 15.12.1972, 6. 314 Vgl. Milan NATEK, Sezonski radnici iz drugih republika Jugoslavije u Sloveniji, in:
Miloš BJELOVIĆ (Hg.), Zbornik IX kongresa geografa Jugoslavije u Bosni in Hercegovini od 24. do 30. IX. 1972. Sarajevo 1974, 351–362, 352. 315 Vgl. DROBNJAK / VRBNJAK, Dnevna migracija industrijske delovne sile, 42, 32.
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ren Wohnsitz in Kroatien als auch einen Platz in einem betrieblichen Wohnheim nutzten.316 Wie viele Beschäftigte über weite Strecken zu TAM pendelten ist jedoch schwierig zu beziffern. Die Trennung von ihren Familien oder die langen Fahrten mit von TAM eigens eingesetzten Bussen317 waren die alltäglichen Umstände, die Beschäftigte in Kauf nahmen, um ihrer Arbeit in der Stadt nachzugehen. Wer jedoch den Wohnsitz außerhalb des Arbeitsortes aufgab, um näher an der Fabrik zu leben, hatte je nach Qualifikation unterschiedliche Chancen, vom Betrieb eine Wohnung gestellt zu bekommen. Häufig mussten auswärtige IndustriearbeiterInnen zu hohen Preisen auf beengtem Raum privat zur Untermiete wohnen, was große Teile ihres Einkommens aufzehrte und sie der Willkür privater VermieterInnen aussetzte.318 In den urbanen Zentren halfen sich die Zugezogenen in vielen Fällen selbst, indem sie teils illegal Häuser an den Stadträndern errichteten.319 Wie in anderen jugoslawischen Städten, die stark wuchsen, legalisierte auch in Kragujevac die Stadtverwaltung illegal gebaute Einfamilienhäuser oft im Nachhinein und schloss sie nachträglich an die kommunale Kanalisation sowie an die Wasser- und Stromversorgung an.320 Die Betriebe sahen sich nicht imstande, alle auswärtigen ArbeiterInnen mit Wohnungen zu versorgen. Gerade Beschäftigte, die über niedrige oder keine Qualifikationen verfügten, in den Betrieben keine Schlüsselfunktionen innehatten und geringe Einkommen erhielten, verfügten über weniger Chancen bei der betrieblichen Wohnungszuteilung.321 Neben Wohnungen vergaben deshalb die Betriebe im gesamten Untersuchungszeitraum sowohl Kredite als auch Baugrundstücke, die in Slowenien wie auch in Serbien für die niedrig Verdienenden vorgesehen waren, die wenig Chancen auf eine Betriebswohnung hatten.322 In Kragujevac hatten Beschäftigte am unteren Ende der Einkommensskala 1973 316 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 240: Personalne mape Kap–Kauč. 317 Vgl. D. VINCETIČ, Ni delavcev za TOZD proizvodnja motorjev, Skozi TAM,
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18.4.1975, 2. Im 2002 erschienenen Dokumentarfilm „Umrli gigant“ erzählen ehemalige ArbeiterInnen von Werksbussen, die bis nach Kroatien fuhren: LABOVIĆ, Umrli gigant. Vgl. Maribor: SI-PAM, f. 1341, šk. 18: Prošnje članov sindikata; SI-PAM, f. 1341, šk. 103: Prošnja S.P., 01.02.1974; Kragujevac: ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 15. sednice Radničkog, 3f.; R. KOSTIĆ, Novi dom se podiže uz odricanja. Gradnja na placevima podeljenim prošle godine, Crvena zastava, 10.4.1974, 8; Anketa. Nezadržive cene, Informator „Zastava transport“, Nr. 13, Juli 1981. Die jugoslawische Soziologie befasste sich früh mit der „wilden“ Bautätigkeit in Serbien, für das westserbsische (Titovo) Užice siehe: ANTONIJEVIĆ, Etnološka strukturiranost stihijnih naselja današnje. Neuere Forschung zu Serbien in: TIMOTIJEVIĆ, Modernizacija balkanskog grada sowie MÜNNICH, Belgrad. Auch in anderen jugoslawischen Republiken war irreguläres Bauen an den Stadträndern gegenwärtig: RUBIĆ, Afternoon Moonlighting. Vgl. Prigradska naselja rastu, Svetlost, 6.2.1964, 5; V. DOBRIČIĆ, Zbog razonode – čak u grad, Svetlost, 17.2.1966, 7. Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 84: Vprašalnik o stanovanjski problematiki. Delovna; BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti, 75.
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die Chance, eines von 300 kostenlosen Baugrundstücken von der Gemeinde zugeteilt zu bekommen. Diese wies die Gemeinde an den Stadträndern aus, woraufhin die Betriebe sie verteilten.323 Die Verantwortlichen begründeten diese Maßnahme mit der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten, welche in der Folge von „Titos Brief“ aus dem Jahr 1972 in den Rang einer offiziellen Aufgabe für Behörden und Massenorganisationen erhoben wurde. Was es bedeutete, ein Baugrundstück ohne Anschluss an das kommunale Versorgungsnetz zu erhalten, erfuhren Novica Mojsilović, ein qualifizierter Schlosser aus einem sechzig Kilometer südöstlich von Kragujevac gelegenen Dorf, und Milorad Gajić, ein angelernter Karosserieklempner der Zastava-Werke, im Winter 1973/74.324 Sie hatten von der Fabrik Baugrund im Kragujevacer Stadtteil Ilina Voda erhalten, woraufhin die Fabrikzeitung ihnen eine Reportage widmete. Während der Bauarbeiten für das Fundament ihres Doppelhauses mussten sie Wasser von einem 700 Meter entfernten Brunnen holen. Selbst als Facharbeiter mit größeren Chancen auf betrieblichen Wohnraum machte sich Novica Mojsilović für das folgende Jahrzehnt keine Hoffnungen auf eine Betriebswohnung. Einen Kredit, mit dem die beiden ihr Haus innerhalb der folgenden zwei Jahre hätten fertig stellen können, erhofften sie sich ebenfalls nicht und stellten sich auf eine lange und anstrengende Bauphase ein. Insbesondere BinnenmigrantInnen und niedrig Qualifizierte kamen in Jugoslawien häufig in die Situation, eigene Mittel einsetzen zu müssen, um sich Wohnraum zu schaffen. Paradoxerweise waren sie so häufiger Hauseigentümer als Hochqualifizierte und Angestellte. Letztere mussten dagegen geringere Mittel für Wohnen aufwenden und verfügten somit über mehr finanziellen Spielraum zum privaten Konsum. Ähnlich wie das Pendeln zur Arbeit erforderte der Bau eines Hauses nicht nur finanzielle Mittel, sondern nahm einen Großteil der arbeitsfreien Zeit in Anspruch. Dies reflektiert die bereits zitierte Reportage von 1973 aus Kragujevac folgendermaßen: Für den Bau eines Hauses braucht es so Vieles, erzählt Milorad Gajić mit müder Stimme. Man muss viel Geduld und viele Nerven dabei lassen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht nach Material und nach allem anderen, was notwendig ist, `herumrenne´, denn weder ist es möglich, alles auf einmal zu besorgen, noch habe ich die Möglichkeit vorauszusehen, was ich alles kaufen muss.325
322 Vgl. SI-PAM, f. 1341, šk. 84: Vprašalnik o stanovanjski problematiki. Delovna;
ZCZ-CA, Zavr. rač. ZCZ 1965: Izveštaj o radu Službe društvenog standarda u 1965. godini, S. 2f.; ZCZ-FPV, RS FPV, 1971–73: Zapisnik sa 20. sednice Radničkog saveta Fabrike privrednih vozila, 27.07.1971, S. 5; V. KOSTIĆ, Krov nad glavom za 300 radnika, Svetlost, 8.3.1973, 5; ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Konkurs, 15.02.1977, S. 1f.; P. K., Stanovi. Krediti na vreme, Crvena zastava, 27.2.1980, 7. 323 Vgl. KOSTIĆ, Krov nad glavom. 324 Vgl. KOSTIĆ, Novi dom se podiže. 325 Ebenda.
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Diese mehrfachen Belastungen sorgten für Konflikte am Arbeitsplatz. So auch zwischen dem unqualifizierten Transportarbeiter Dragan T. in der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik und seinem Vorarbeiter 1977.326 Um auf seiner heimischen Baustelle voranzukommen, bat Dragan T. darum, nur in die Frühschicht eingeteilt zu werden. Nachdem sein Brigadier diesen Wunsch abgelehnt hatte, verfasste der Transportarbeiter einen Antrag an den Arbeiterrat. Auf diesem Weg konnte er die für ihn günstigere Arbeitszeit erwirken. Andere wie Milijan S. im Jahr 1981, die versuchten, unentschuldigte Fehlzeiten mit ihrem Hausbau zu begründen, sahen sich trotz der Unterstützung der Gewerkschaft disziplinarischen Maßnahmen ausgesetzt.327 Anfragen von Beschäftigten nach flexiblerer Schichteinteilung konnten sich leicht zu Klischees über die Unzuverlässigkeit solcher ArbeiterInnen entwickeln und sie in den Fokus betrieblicher Disziplinierungsdiskurse und -praktiken rücken. Branislav Čukić, Mitarbeiter der Personalabteilung bei Zastava und Soziologe griff diese Perspektive 1985 auf und widerlegte empirisch, dass pendelnde ArbeiterInnen undisziplinierter seien.328 Stattdessen verwies er auf das Machtgefälle, welches sich in der Flexibilität des Zeitbudgets zwischen ArbeiterInnen und Angestellten bzw. LeiterInnen manifestierte.329 Den Hintergrund für diese Feststellung bildet, dass Arbeitsabläufe, die stärker in einzelne Schritte zerlegt waren, weniger eigenständige Zeiteinteilung erlaubten. Eine höhere Flexibilität im Zeitbudget war Angestellten in höherem Maße gegeben als Beschäftigten in getakteten Produktionsbereichen, deren Autonomie am Arbeitsplatz durch die Zerlegung von Arbeitsschritten in kleine kontrollierbare Einheiten in hohem Maße eingeschränkt war. Analog zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung spricht Čukić von „gesellschaftlicher Zeitteilung“ (Srb.: „društvena podela vremena“),330 welche Ungleichheit produzierte und auch die auch der Selbstverwaltungssozialismus nicht aufgehoben hatte. Er sah dadurch die Möglichkeit der ProduktionsarbeiterInnen eingeschränkt, an der Selbstverwaltung teilzunehmen. Analog dazu wird es ProduktionsarbeiterInnen schwerer möglich gewesen sein, Zugeständnisse bei der Einteilung ihrer Arbeitszeit zum Zweck des Hausbaus zu erwirken. Im Laufe der 1970er Jahre verfügten die Betriebe immer weniger über eigene Mittel, um Wohnungen zu bauen und nahmen daher selbst Kredite für den Wohnungsbau auf. Zudem gewährten sie weiterhin Baukredite an Belegschaftsmitglieder, anstatt ausschließlich das Wohnrecht für neugebaute, fertige Wohnungen zu vergeben. Auf diese Weise versuchten nicht nur TAM und Zastava die Wohnraumprobleme ihrer Belegschaften zu lösen, sondern Betriebe im ganzen
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Vgl. ZCZ-FPV, RS Tap., 1977: Zapisnik sa I. sednice RS Tap., 23.03.1977, 5. Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981: Zapisnik sa 77. sednice Radničkog, 3. Vgl. ČUKIĆ, Apsentizam u radu, 67. Vgl. ebenda, 18–20. Ebenda, 18.
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Land.331 Neben jungen ArbeiterInnen aus den Städten waren es vor allem die in die Städte Migrierten, die von diesen Entwicklungen betroffen waren.
Slowenien als Ziel jugoslawischer Binnenmigration Während in Serbien ab den 1960er Jahren stetig anstieg, entwickelte sich Slowenien im jugoslawischen Vergleich wirtschaftlich sehr günstig. Die Republik wandelte sich damit nach dem Zweiten Weltkrieg von einem traditionellen Auswanderungsgebiet zu einem Migrationsziel jugoslawischer ArbeiterInnen aus anderen Republiken.332 Zwischen 1961 und 1971 stieg der Anteil der in Slowenien hauptwohnsitzlich gemeldeten jugoslawischen BürgerInnen aus anderen Republiken von 4,4 % auf 6,2 % der Gesamtbevölkerung.333 Bis 1981 erhöhte er sich auf 9,5 %, was auch den Relationen der Bevölkerungsanteile in der Stadt Maribor entsprach.334 In Reaktion auf diese demografische Entwicklung befassten sich ab den späten 1960er Jahren soziologische und sozialgeografische Studien mit der gesellschaftlichen Stellung dieser MigrantInnen, unter anderem beauftragt von der slowenischen Dachorganisation der Gewerkschaften.335 So legte Milan Natek 1974 dar, dass ab den 1950er Jahren für unqualifizierte Tätigkeiten vor allem die kroatischen Nachbarregionen ein Arbeitskräftereservoir boten. Im Laufe der 1950er Jahre kamen ArbeiterInnen aus Nordwestbosnien und weiter entfernten kroatischen Gegenden hinzu. Schließlich migrierten ab den 1960er Jahren auch junge ArbeiterInnen aus Serbien und dem Kosovo auf der Suche nach besserem Verdienst, höherem Lebensstandard und einem eigenständigen Leben jenseits der patriarchalisch geprägten agrarischen Gemeinschaften nach Slowenien.336 Nur 6,5 % der MigrantInnen waren zwischen 1962 und 1968 in der Industrie tätig. Zum überwiegenden Teil waren die MigrantInnen als Saisonkräfte in der Landwirtschaft oder im Bausektor beschäftigt. 331 Vgl. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973–75: Zapisnik sa 34-te sednice Radničkog sa-
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veta OOUR-a za proizvodnju kamiona i unutrašnje opreme vozila, 29.08.1974, S. 2; ZCZ-FPV, OOUR PiK, RS 1981: Zapisnik sa 74. sednice Radničkog saveta OOURa PIK, 26.11.1981, S. 6–8; D. VINCETIČ, Stanovanjska problematika. Ni denarja, ni stanovanj!, Skozi TAM, 1.6.1984, 4; BERKOVIĆ, Socijalne nejednakosti, 84. Vgl. SI-AS, f. 1133, šk. 73: Republiški zavod za zaposlovanje Ljubljana, Informacija o aktualni problematiki zaposlovanja in dejavnosti službe za zaposlovanje, September 1973, S. 8. Statistični urad Republike Slovenije, Population by ethnic affiliation, Slovenia, Census 1953, 1961, 1971, 1981, 1991 and 2002. Ljubljana 2002, unter , 24.4.2015. Vgl. POŽAR, Razvoj prebivalstva občine Maribor, 262. Vgl. Milan NATEK, Priseljevanje delovne sile v Slovenijo: V zadnjih letih se je zaposlilo v Sloveniji 66.000 ljudi iz drugih republik, Naši razgledi 16 (1967), H. 7, o.S.; MICKI, Delavci iz drugih republik; Jože TAVČAR (Hg.), Delavci iz drugih republik v slovenskem gospodrarstvu in v Ljubljani. Ljubljana 1976 (Javno mnenje, 56); VOVK (Hg.), Stanovanjska problematika priseljenih delavcev; Sonja DROBNIČ, Radni uslovi radnika iz drugih republika u SR Sloveniji, Sociologija 39 (1987), H. 3, 453–468. Vgl. NATEK, Sezonski radnici iz drugih republika, 252, 258.
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Auch bei TAM herrschte spätestens ab den 1970er Jahren Arbeitskräftemangel, welcher MigrantInnen aus jugoslawischen Republiken außerhalb Sloweniens anzog.337 Die häufig prekäre Wohnsituation dieser Kategorie von ArbeiterInnen wurde sowohl in soziologischen und sozialgeografischen Studien als auch in den Massenorganisationen, Behörden und Betrieben thematisiert. Ein Informationspapier des slowenischen Arbeitsamts stellte 1973 heraus, dass nur für 14,7 % der freien Arbeitsplätze in der Republik, für die typischerweise MigrantInnen infrage kamen, Unterbringungsmöglichkeiten verfügbar gewesen seien. Von diesem niedrigen Anteil befanden sich 90 % der Plätze in betrieblichen Wohnheimen oder Baracken. Aus Sicht des Arbeitsamtes fehlte eine systematische Sozialpolitik, die auf diese Situation reagierte.338 Auch bei TAM wohnten auswärtige Beschäftigte häufig in betrieblichen Wohnheimen und Baracken, zur Untermiete oder in provisorischen Unterkünften in der Nähe des Werks.339 Bis in die Mitte der 1970er Jahre erhielten die migrantischen ArbeiterInnen und ihre Wohnverhältnisse in der Betriebsöffentlichkeit beinahe gar keine Aufmerksamkeit. 1975 räumte ein Artikel in der Fabrikzeitung am Rande ein, dass ArbeiterInnen aus anderen Republiken nicht mehr in Baracken in eineinhalb Kilometer Entfernung vom Werk wohnen sollten, sondern mindestens genügend Wohnheimplätze für sie geschaffen werden müssten.340 Migrantischen Familien sollte das Wohnen im Wohnheim in Zukunft erspart bleiben. Das Unternehmen knüpfte sozialpolitische Erwägungen jedoch nicht an Forderungen nach Klassensolidarität oder den humanen Umgang mit migrierten ArbeiterInnen, sondern die geplanten Maßnahmen entsprangen betriebswirtschaftlichen Überlegungen. Dies ist ein Punkt, den 1981 auch die Leiterin einer Studie über die Wohnbedingungen von BinnenmigrantInnen in Ljubljana als deutliche Kritik an slowenischen Wirtschaftsunternehmen formulierte.341 Charakteristisch war und blieb dennoch die Unsichtbarkeit derer, die die Baracken bewohnten in öffentlichen und nicht öffentlichen Debatten. So bezifferte ein Artikel der Fabrikzeitung aus dem Jahr 1976 die Zahl der Wohneinheiten in TAM-Besitz auf 2.290.342 Neben den Wohnungen erwähnte der Autor die fünf Wohnheime, über die TAM verfügte mit einigem Stolz, während er über die Baracken schwieg. Die Fabrik nutzte unter anderem Baracken, die unter nationalsozialistischer Besatzung beim Bau der Fabrik als Unterkünfte und als Ver337 Vgl. VINCETIČ, Ni delavcev. 338 Vgl. SI-AS, f. 1133, šk. 73: Informacija o aktualni problematiki zaposlovanja, 1973,
8, 13. 339 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 239: Personalne mape Kam–Kap; SI-PAM, f. 0990, šk.
240: Personalne mape Kap–Kauč; SI-PAM, f. 0990, šk. 285: Personalne mape Kus– Xhe. 340 Vgl. Liberat BUŽDON, Stanovanja, stanovanja …, Skozi TAM, 30.4.1975, 8. 341 Vgl. O.V., Zaključek, in: VOVK (Hg.), Stanovanjska problematika priseljenih delavcev, 167–173, 169. 342 Miha BUTINA, Upravljamo 2290 enot, Skozi TAM, 1.1.1976, o.S.
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waltungsgebäude errichtet worden waren.343 Aus den frühen 1960er Jahren sind Bilder erhalten, die zeigen, dass Beschäftigte in diesen Baracken wohnten.344 Im Jahr 1981 war bei TAM die Rede davon, „die Baracken“ abzureißen.345 Ob damit die Baracken aus der nationalsozialistischen Besatzungszeit oder andere in der Nähe des Werks gemeint waren, muss offen bleiben. Abbildung 13: Bau von Baracken in der Gründungsphase der Mariborer Fabrik zwischen 1941 und 1943 unter nationalsozialistischer Besatzung, Quelle: SIPAM, f. 0990, šk. 1075: Zgodovinske slike iz začetka proizvodnje.
Abbildung 14: Wohnbaracken bei TAM in den frühen 1960er Jahren (Kontaktabzüge), Quelle: SI-PAM, f. 0990, šk. 587: Fotografije 1962–1963.
343 Vgl. TOVŠAK, Šest desetletij od začetkov Tovarne, 4. 344 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 587: Fotografije 1962–1963. 345 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 91.
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Die insgesamt ausbleibende Verbesserung der Wohnsituation in Behelfsunterkünften wird jedoch in einem Leserbrief des Arbeiters Stjepan Šalamon in der Fabrikzeitung Skozi TAM von 1981 deutlich.346 Stellvertretend für die Familien, welche die Baracken bewohnten, schilderte er die dortigen Wohnverhältnisse mit Hitze im Sommer, Kälte im Winter, maroder Elektrik und unzeitgemäßer sanitärer Ausstattung. Den Verantwortlichen im Betrieb und der Gemeinde warf Šalamon Ignoranz vor und forderte die Solidarität der Gesellschaft ein. Solche Forderungen waren gemessen am Grad ihrer Sichtbarkeit in der Betriebsöffentlichkeit eine äußerste Seltenheit: Unter den Bewohnern herrscht die Überzeugung, dass es die Baracken nicht mehr geben würde, wenn sie irgendwo an einer großen Verkehrsstraße stünden, weil sie den Anblick der Stadt verschandeln würden und sich die Vorbeikommenden fragen würden, wie das überhaupt möglich sei, dass so etwas bei uns noch existiere.347
Der in Jugoslawien in den vorangegangenen Jahrzehnten gestiegene Lebensstandard diente dem Arbeiter als Orientierung wenn er die Barackenunterkünfte als unzumutbar einstufte. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass TAM und die Stadt Maribor angesichts der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation zu Beginn der 1980er Jahre die Wohnprobleme der vergangenen Jahrzehnte deutlich besser zu lösen im Stande waren.348 In den Wohnheimen des Betriebs waren weitere ArbeiterInnen aus anderen Republiken teilweise mit ihren Familien untergebracht. Ihre beengte Wohnsituation war selten Gegenstand öffentlicher Debatten über die betriebliche Sozialpolitik. Wenn die Fabrikzeitung oder die Betriebsleitung sie dennoch aufgriffen, dann koppelten sie daran regelmäßig Diziplinierungsforderungen. Konflikte und Unzufriedenheit prägten die Beziehungen zwischen der Verwaltung der Wohnheime und den BewohnerInnen, wie ein Bericht in der Fabrikzeitung über eine „Problemkonferenz“ zu den Wohnheimen im Jahr 1979 darlegt.349 In diesem warfen die BewohnerInnen der Verwaltung die unbefriedigenden Wohnverhältnisse vor. Das Fehlen angemessener Kochgelegenheiten, hohe Mieten, der Mangel an Reinigungspersonal, Aufenthaltsräumen und Wohnplätzen überhaupt zwinge sie zu einem hohen Maß an Improvisation. Der Betrieb seinerseits klagte über die BewohnerInnen: So schrieb der Autor des Berichts, langjähriger Redakteur der Fabrikzeitung Skozi TAM, wobei er zur Übernahme der Perspektive der Verwaltung neigte: „Wie bekannt ist, herrscht in den Wohnheimen eine ziemliche Unordnung, einige Bewohner zerstören die Einrichtung, randalieren und ähnliches mehr.“ Nirgends sei eine Hausordnung ausgehängt, „sodass jeder macht, was er will.“ Dieser Situation müsse ein Ende bereitet werden, indem stärker auf „Disziplin und den Nachweis des Wohnrechts“ geachtet werden sol346 Vgl. Stjepan ŠALAMON, Barake, Skozi ZIV TAM, 8.5.1981, 14. 347 Ebenda. 348 Vgl. VINCETIČ, Stanovanjska problematika; KANIŽAR, 3. rednega seja Izvršnega odbo-
ra. 349 Danilo VINCETIČ , Problemska konferenca o samskih domovih, Skozi ZIV TAM,
19.1.1979, 3.
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le, denn die Zimmer seien auch wegen illegal eingezogener BewohnerInnen übervoll. Es schliefen sogar Menschen in den Korridoren.350 Es entsteht der Eindruck, als würde die Forderung der BewohnerInnen nach besseren Wohnbedingungen automatisch an Bedingungen seitens der Leitung und Verwaltung geknüpft. Dabei war sicher einiges an ihrem Verhalten auf die betriebliche Sozialpolitik zurückzuführen. Bei fehlenden Kochmöglichkeiten werden die MieterInnen eigene improvisiert haben, was denkbar leicht zu Verstößen gegen die Hausordnung geführt haben wird. Die illegale Aufnahme von Landsleuten durch die BewohnerInnen wird ihre Ursache unter anderem in den mangelnden Unterkunftsmöglichkeiten bei deren ArbeitgeberInnen gehabt haben. Beschwerden über den hohen Alkoholkonsum in den Wohnheimen, die Beschädigung von Einrichtung und Ruhestörung prägten auch in der Hauptstadt Ljubljana zum Ende der 1970er Jahre die Wahrnehmung der Verwaltungen von den meist männlichen Bewohnern der Wohnheime, mit denen ein stark restriktiver Umgang gepflegt wurde.351 In Maribor reagierte die Jugendorganisation bei TAM auf eskalierende Konflikte, indem sie einen Dialog zwischen Verwaltung und BewohnerInnen anstieß, bei dem die sie und die Gewerkschaft vermittelnd wirken wollten.352 Ein offenbar gänzlich inaktiver BewohnerInnenrat wurde daraufhin wieder aktiviert, was sicherlich der Verständigung zwischen BewohnerInnen und Verwaltung zugute kam. Die Unternehmensleitung bei TAM gestand in der Folge ein, dass die Ausstattung der bestehenden Wohnheime aus den 1960er Jahren nicht mehr zeitgemäß sei. Trotz knapper werdender Mittel reagierte das Management auf den Mangel an Wohnheimplätzen. So begann TAM mit dem Bau ein neuen Heimes, was schon seit Jahren geplant war.353 Ob ein solcher Neubau auch in der Lage gewesen sein wird, die Beschäftigten aus den Barackenunterkünften aufzunehmen, geht aus den Materialien jedoch nicht hervor. Aus der Perspektive der intersektionalen Analyse ist neben den sozialen Realitäten auch die Art der Konfliktthematisierung von Interesse. Die BewohnerInnen der betrieblichen Wohnheime waren in mehrerer Hinsicht unterprivilegiert: Sie waren überwiegend junge, häufig niedrig qualifizierte, migrantische ArbeiterInnen, die in vielen Fällen schwere körperliche Arbeit mit niedrigem Prestige verrichteten. In der öffentlichen Diskussion der Fabrikzeitung wird jedoch keine dieser Kategorien explizit benannt. Das zentrale ideologische Dogma der Brüderlichkeit und Einheit zwischen den jugoslawischen Völkern sowie die problematische Unterprivilegierung von ProduktionsarbeiterInnen verbot eine solche Markierung. Wenn jedoch ein Journalist der Fabrikzeitung 350 Ebenda. 351 Vgl. GULIČ, Družbenoekonomski vidik, 77–83. 352 Vgl. VINCETIČ, Problemska konferenca o samskih domovih; SI-PAM, f. 0990, šk.
710: Sklepi 36. redne seje izvršilnega odbora delavskega sveta delovne organizacije Tovarne avtomobilov in motorjev Maribor, 20.03.1979, S. 3. 353 Vgl. SI-PAM, f. 0990, šk. 710: Sklepi 31. redne seje izvršilnega, 1; Največ sredstev za samski dom, Skozi ZIV TAM, 8.5.1981, 5; SI-PAM, f. 0990, šk. 750: Srednjeročni plan TAM 1981–1985, 91.
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als bekannt voraussetzte, „dass in den Wohnheimen ziemliche Unordnung herrscht“,354 so werden die LeserInnen auch gewusst haben, dass es sich bei den BewohnerInnen um migrantische ArbeiterInnen handelte. Deren sozialpolitische Forderungen wiederum konnten nicht für sich stehen, da der Betrieb und die Wohnheimverwaltung die Wohnsituation der BinnenmigrantInnen vornehmlich als Disziplinarproblem behandelten. Diese paternalistischen Ordnungsansprüche brachten sie mit Produktivitätsfragen in Verbindung, welche die Wohnsituation dieser Kategorie von ArbeiterInnen bedinge. Demgegenüber stand die Perspektive der wissenschaftlichen und gewerkschaftlichen Studien, die hier eher ein Problem sozialer Ungleichheit und eines gesellschaftlichen Widerspruchs sahen, wurden doch offiziell Solidarität und Gleichberechtigung als Grundwerte des sozialistischen Systems propagiert. In Bulgarien, wo sich ebenfalls ländliche und ethnische Herkunft bei einem Teil der ArbeiterInnen überschnitten, richteten sich ähnliche Disziplinierungsansprüche auf BinnenmigrantInnen, die Angehörige der Minderheiten waren.355 Als Lösungsweg besann man sich in den sozialistischen Massenorganisationen bei TAM auf die auch in Wohnheimen vorgesehene Selbstverwaltung. Dieses Instrument des jugoslawischen Systems konnte helfen, in solchen Konflikten mit starkem Machtgefälle zu vermitteln und für eine benachteiligte Gruppe überhaupt Artikulationsmöglichkeiten zu schaffen.
Fazit Migrantische ArbeiterInnen mussten entweder für ihren Arbeitsweg, hohe Mieten oder für den Bau von privatem Wohnraum viel Zeit und/ oder große finanzielle Mittel einsetzen. Das zeitaufwendige tägliche Pendeln ähnelte der Situation der großen Zahl pendelnder IndustriearbeiterInnen in den südosteuropäischen Nachbarländern in dieser Periode.356 Der finanzielle und zeitliche Aufwand, den migrantische ArbeiterInnen für Arbeitswege und den Hausbau betrieben, barg überdies Konfliktpotential am Arbeitsplatz. Eine Wohnoption neben teurer Untermiete oder dem Bau eigenen Wohnraums bot die Unterkunft in betrieblichen Wohnheimen oder Baracken. Im Vergleich zu besser Qualifizierten oder schon ortsansässigen ArbeiterInnen war die soziale Situation der BewohnerInnen in den Wohnheimen und Baracken prekär. Die knapperen Zeitbudgets, aber auch sprachliche Distanz schmälerten zudem die Möglichkeiten von MigrantInnen, an der Selbstverwaltung teilzuhaben. Diejenigen, die Republiksgrenzen überwunden hatten, waren in Slowenien beinahe gar nicht in die Selbstverwaltung integriert.357 Da sich Migration und nied354 Vgl. VINCETIČ, Problemska konferenca o samskih domovih. 355 Vgl. BRUNNBAUER / NONAJ / RAEVA, Workers, Steel Factories, and Communism, 33. 356 Vgl. für Rumänien: PETRESCU, Workers and Peasant-Workers, 125; für Bulgarien:
BRUNNBAUER, „Die sozialistische Lebensweise“, 149. 357 Vgl. z. B. im 1975 untersuchten Mariborer Eisenbahntransport: Majda EFERL, So-
cialna problematika delavcev iz drugih republik v prometni sekciji Maribor. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Univerza Edvarda Kardelja v Ljubljani, Višja šola za so-
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rige Qualifikation strukturell überlagerten, verwundert dies nicht. Vladimir Arzenšek erklärte 1984 die starke Neigung zum Streik von Nicht-SlowenInnen in Slowenien mit dem Zusammentreffen von fehlender Qualifikation und höherer sozialer Isolation. Er ging sogar so weit, von ihrer „absoluten Deprivation“ zu sprechen.358 Die soziale Benachteiligung, die z. B. bei bosnisch-herzegowinischen ZuzüglerInnen zudem noch eine ethnische Komponente aufwies, stand unter anderem angesichts der Devise Brüderlichkeit und Einheit auf mehreren Ebenen im Widerspruch zu den proklamierten Idealen der KommunistInnen Jugoslawiens. Die starke Benachteiligung dieser Kategorie von ArbeiterInnen spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass ihre Möglichkeiten, ihre Interessen zu artikulieren, stark eingeschränkt waren.
6.6. Zwischenfazit Umfassende Gleichberechtigung, vor allem der für die Legitimierung der kommunistischen Herrschaft so bedeutsamen IndustriearbeiterInnen, wurde in der Praxis der jugoslawischen Selbstverwaltung nicht erreicht. Innerhalb der jugoslawischen Industriebetriebe wirkten zahlreiche soziale Faktoren, die miteinander verschränkt unterschiedliche Intensitäten von sozialer Privilegierung und Benachteiligung bewirkten. Dabei lassen sich im Sinne der intersektionalen Analyse charakteristische Verknüpfungen einzelner Kategorien ausmachen. In privilegierter Position in den Fabriken befanden sich ältere, männliche, hochqualifizierte Angestellte ohne migrantischen Hintergrund. Unter den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus bedeutete dies, dass sie einerseits gute Verdienstmöglichkeiten und Zugang zu Sozialleistungen wie betrieblichem Wohnraum hatten. Andererseits besetzten hoch qualifizierte männliche Angestellte Schlüsselpositionen in der betrieblichen Selbstverwaltung und waren überdurchschnittlich in den sozialistischen Massenorganisationen vertreten. Für ArbeiterInnen in der direkten Produktion der untersuchten Betriebe ging ihre Stellung im Produktionsprozess – ein ideologisch stark aufgeladenes Merkmal – jedoch mit einer deutlichen Benachteiligung gegenüber Angestellten einher. Sowohl in ihren Verdienstchancen als auch in ihrer Beteiligung an ökonomischen und politischen Entscheidungen befanden sich ArbeiterInnen im Vergleich mit ihren KollegInnen in der Verwaltung und Leitung in einer weniger einflussreichen Position. Blickt man auf die Differenzierungen innerhalb der Gruppe der IndustriearbeiterInnen, so wirkten auch hier bestimmte soziale Kategorien charakteristisch zusammen. War jemand männlich, älter, qualifiziert und nicht migrantisch, so verfügte er über vergleichsweise gute Verdienstchancen und Zugang zu Sozialleistungen sowie über bessere Integrationsmöglichkeiten in die Strukturen von Selbstverwaltung und Massenorganisationen. Demgegenüber sahen sich die fast ausschließlich männlichen Migranten, die Republiksgrenzen überwanden, starken Benachteiligungen ausgesetzt. Ihr überwiegend junges Alter und oft niedricialne delavce. Ljubljana 1975. 358 Vgl. ARZENŠEK, Struktura i pokret, 71f.
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ge Qualifikation bewirkten darüber hinaus, dass ihre Chancen auf ökonomische sowie politische Teilhabe deutlich eingeschränkt waren. Ebenso typisch war die Verknüpfung der Kategorien weiblich und niedriger Qualifikation, die sich ähnlich auswirkte. Keine der analysierten sozialen Merkmale war frei von ideologischer Relevanz für die politische Ordnung des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus. Jedoch wiesen sie einen ungleichen Grad von Bedeutung für die kommunistische Führung auf und zogen ungleiche Artikulationsmöglichkeiten seitens der betreffenden ArbeiterInnen nach sich. Ungleichheiten, die auf weniger zentralen ideologischen Ansprüchen beruhten wie der Geschlechter oder verschiedenen Altersgruppen, waren weniger sensibel. Sie konnten, wenn auch mitunter ohne positive Wirkung auf die Situation der betroffenen Menschen, öffentlich thematisiert werden. Fehlende Artikulationsmöglichkeiten wie die niedrig Qualifizierter, MigrantInnen oder in geringerem Maße von Frauen konnten die annähernde Unsichtbarkeit dieser Gruppen und ihrer Interessen in der Öffentlichkeit bewirken, obwohl sie gravierenden sozialen Benachteiligungen ausgesetzt waren. Demnach hatten sowohl der Stellenwert der jeweiligen sozialen Kategorie im ideologischen Selbstverständnis des Staates, die Tabuisierung ihrer Benachteiligung als auch die Möglichkeit zur Artikulation von Gruppeninteressen Einfluss darauf, ob Diskrepanzen zwischen ideologischem Anspruch und sozialer Realität öffentlich wahrnehmbar wurden. So maß man seitens der Staatsführung „der Jugend“ trotz ihrer relativen Benachteiligung im wirtschaftlichen und politischen Leben eine herausragende Position zu. Zahlreiche auf die Integration junger Menschen in die politischen und gesellschaftlichen Strukturen gerichteten Maßnahmen sowie die Existenz einer eigenständigen Jugendorganisation belegen diese Bedeutung. Vergleicht man diese Aufmerksamkeit seitens der Machthabenden mit derjenigen, die der „sozialistischen Emanzipation“ der Frauen zuteil wurde, so springt ein starkes Gefälle ins Auge. Das Fehlen einer in allen gesellschaftlichen Sphären agierenden Frauenorganisation war Ausdruck einer institutionellen Vorprägung innerhalb derer die Artikulationsmöglichkeiten von Fraueninteressen deutlich eingeschränkter waren als die junger Menschen. Während den Kategorien Alter und Geschlecht in der Tradition der kommunistischen Bewegung Jugoslawiens eine – wenn auch unterschiedliche – Bedeutung beigemessen wurde, kamen MigrantInnen als selbständige Kategorie gar nicht vor. Dies wundert nicht, war doch interne Migration diesen Ausmaßes ein Novum in der Nachkriegszeit. Migration zwischen Land und Stadt oder auch über Republiksgrenzen hinweg gehörte jedoch in Jugoslawien zu den Erfahrungen, die sehr prägend für den Prozess der raschen, staatlich forcierten Industrialisierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg waren. Dennoch existierten die MigrantInnen in den offiziell propagierten Vorstellungen von der sozialistischen Gesellschaft allenfalls als soziales, wirtschaftliches oder entwicklungspolitisches Problem. Aufgrund der typischen Überlagerung des migrantischen Status mit niedriger Qualifikation und im Falle von republiksübergreifender Migration sprachlicher Distanz ergab sich in Slowenien für die Betref-
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fenden eine strukturell ausgeprägte Minderprivilegierung. MigrantInnen blieben beinahe unsichtbar in öffentlichen Auseinandersetzungen und wenn sie dennoch auftauchten, dann eher als Objekte von Disziplinierung, denn als Subjekte, die ihre eigenen Interessen vertraten. Nicht zuletzt wird als Hemmnis der Artikulation von MigrantInnen und ihrer sozialen Lage in Slowenien das zentrale ideologische Dogma der Brüderlichkeit und Einheit der jugoslawischen Völker beigetragen haben. Neben den komplexen Verschränkungen der ideologischen Relevanz der jeweiligen Kategorien für die kommunistische Führung und den ungleich verteilten Artikulationsmöglichkeiten in der betrieblichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit beeinflussten ab den späten 1960er Jahren politische Protestbewegungen die Austragung von sozialen Konflikten. So waren der Staatsführung die Existenznöte niedrig qualifizierter ArbeiterInnen vor den Protesten der Belgrader Studierenden 1968 unter anderem aus dem Berichtswesen der Massenorganisationen und der ansatzweise stattfindenden Interessenvertretung seitens der Gewerkschaften bekannt. Unterlegt von der marxistischen Gesellschaftskritik der Praxis-Gruppe fand die Kritik am Auseinanderklaffen des ideologischen Anspruchs und der gesellschaftlichen Wirklichkeit Eingang in die Proteste von Studierenden. Indem der Staatsführer diese Kritik annahm, fand die Anerkennung sozialer Unterprivilegierung von Gruppen wie den niedrig qualifizierten IndustriearbeiterInnen über den Umweg des Protests der jungen akademischen Eliten Eingang in die offizielle Parteirhetorik. Ein ähnlicher Mechanismus war im Fall der seit Ende der 1970er Jahre außerinstitutionell agierenden feministischen Gruppen am Werke. Sie übten mit ihren Positionen Druck auf die im Rahmen der Massenorganisationen tätigen „Staatsfeministinnen“ aus. Sie forderten, die Umwälzung der Machtverhältnisse, die im Privaten zwischen Männern und Frauen wirkten, in die staatlich proklamierten Emanzipationsziele einzubeziehen. Diese Auseinandersetzung zwischen quasi-staatlich und autonom organisierten Frauen resultierte darin, dass tendenziell als dissidentisch wahrgenommene Haltungen und Forderungen in den offiziellen Emanzipationsdiskurs der Frauenvertretungen in den Massenorganisationen aufgenommen wurden.
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7. Resümee Jugoslawischen ArbeiterInnen standen mehr Mitbestimmungsrechte zur Verfügung als ihren KollegInnen in anderen staatssozialistischen Ländern. Der emanzipative Anspruch der Arbeiterselbstverwaltung wurde jedoch nur in Ansätzen umgesetzt. Diese Annahmen bestätigt dieses Buch anhand der Untersuchung zweier Fahrzeugfabriken. Den Kern der Untersuchung bildete die Frage, auf welche Weise soziale Konflikte in der Tovarna avtomobilov in motorjev – TAM in Maribor (Slowenien) und in den Zavodi Crvena zastava in Kragujevac (Serbien) auf formalen und informellen Wegen ausgetragen wurden. Dabei interessierten sowohl das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Betriebsteilen, Auseinandersetzungen Einzelner mit Management und Selbstverwaltung sowie Konflikte zwischen Beschäftigten unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit. Dabei wurde berücksichtigt, inwieweit die AkteurInnen sich auf ideologische Vorgaben bezogen und welche Dynamik daraus zwischen der gesellschaftlichen Basis und der kommunistischen Führung entstand. National aufgeladene Rhetorik, die am Ende der 1980er Jahre in Serbien in öffentlich ausgetragenen sozialen Konflikten unübersehbar war, ließ sich in den hier untersuchten betrieblichen Konflikten nicht nachweisen. Dies gilt für den gesamten Untersuchungszeitraum von 1965 bis 1985, obwohl die Unternehmen mit Betrieben der Branche in anderen jugoslawischen Republiken konkurrierten. Zwei Jahre nach dem politischen Bruch mit der Sowjetunion 1948 setzte sich Jugoslawien mit der Einführung der Selbstverwaltung auch in der Wirtschaftsverfassung vom sowjetischen Modell der zentralen Planwirtschaft ab. In diesem Punkt unterschied sich das Land deutlich von den übrigen kommunistischen Einparteienherrschaften in Ost- und Südosteuropa. Deshalb lag hier ein Schwerpunkt darauf, wie Belegschaften dieses jugoslawische Alleinstellungsmerkmal – die Institutionen der betrieblichen Selbstverwaltung – nutzten, um ihre Interessen zu verfolgen. Deutlich konnte gezeigt werden, dass die Dezentralisierung der Betriebe auf mehreren Ebenen das Risiko der Partikularisierung barg. Das äußerte sich unter anderem in der einflussreichen Stellung einzelner Betriebsteile innerhalb der Unternehmen wie z. B. des Werkzeugbaus bei TAM. Die Ressourcen für Sozialleistungen wie Wohnungen waren begrenzt, sodass sich unter den Belegschaftsmitgliedern starke Konkurrenzsituationen um dieses knappe Gut ergaben. Da Beschäftigte sich individuell um Wohnungen bewerben mussten, standen sie ihren KollegInnen als direkte KonkurrentInnen um
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zu wenig Wohnraum gegenüber. Daraus resultierten mitunter gegenseitige Anfeindungen, die ein Klima schufen, in dem statt der beschworenen „Einheit der Arbeiterklasse“ Einzelinteressen in den Vordergrund rückten. Dies verstärkte sich zusätzlich, wenn die Verteilung nicht nach solidarischen, sondern nach personalwirtschaftlichen und klientelistischen Prinzipien funktionierte. Qualifiziertes Personal in Produktion und Verwaltung war durch diese Verteilungsmodi besonders begünstigt, was ab der Mitte der 1970er Jahre dazu führte, dass Protest öffentlich artikuliert wurde. Den Aktionsformen, die den Regeln der Selbstverwaltung folgten, stellte die vorliegende Analyse informelle Strategien von Beschäftigten gegenüber, mit denen sie ihre Interessen verfolgten. Die Einordnung als informell erfasst ein sehr weites Spektrum an Handlungsformen in sozialen Konflikten. Es reichte von der Toleranz von Disziplinübertretungen über Fluktuation und Migration von Beschäftigten bis zu klientelistischen Praktiken und Streiks. Die Klassifikation als informell erfüllt die wichtige Funktion, diese Praktiken von denjenigen abzugrenzen, die sich auf Instrumente der Selbstverwaltung stützten. Dass Beschäftigte diese informellen Strategien überhaupt anwandten, konnte unterschiedliche Gründe haben: Entweder wollten sie die formalen Aushandlungsformen unter den gegebenen Bedingungen nicht nutzen oder diese lagen aufgrund herrschender Machtbeziehungen außerhalb ihrer Reichweite. In Streiks, Fluktuation und dem sowohl verbreiteten als auch weitgehend tolerierten Absentismus drückte sich dabei eher die Macht aus, die ArbeiterInnen in den Betrieben besaßen. ArbeiterInnen und ihre Vorgesetzten verhielten sich hier in Vielem ähnlich wie Belegschaften in sozialistischen Planwirtschaften. So duldeten LeiterInnen den weit verbreiteten Absentismus, mit dem Beschäftigte versuchten, Kontrolle über ihre Arbeitszeit auszuüben, die das Management entsprechend seiner Rolle für sich beanspruchte. Überbeschäftigung, unter anderem begünstigt durch den ab 1971 geltenden Kündigungsschutz, zog ähnlich wie in anderen staatssozialistischen Wirtschaftssystemen nach sich, dass „Disziplinverstöße“ häufig toleriert wurden. Ebenfalls ähnlich wie in anderen kommunistisch geführten Ländern nutzten Beschäftigte in Produktion und Verwaltung entweder Arbeitszeit oder materielle Güter des Betriebs, um sich Nebenverdienst zu verschaffen oder für den Eigenbedarf zu arbeiten. Informelle Praktiken wie Streiks und die Nutzung klientelistischer Beziehungen traten in Jugoslawien nicht in Reinform auf, sondern formales und informelles Handeln gingen in vielfältiger Weise ineinander über. Sei es, dass Beschäftigte parallel auf Strategien aus beiden Registern zurückgriffen, wenn sie sich um höhere Löhne oder eine Betriebswohnung bemühten, sei es, dass sie diese in verschiedenen Stadien eines Aushandlungsprozesses nacheinander anwandten. Der BdKJ und die Massenorganisationen nahmen dabei eine mehrdeutige Rolle ein. Einerseits fungierten sie als Netzwerke, innerhalb derer informelle Praktiken angewendet wurden. Andererseits fiel ihnen die Aufgabe zu, informelle Praktiken in die formalen Bahnen der Selbstverwaltung (zurück) zu lenken.
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In einer weiteren Perspektive zeigte die Arbeit, auf welche Weise die Belegschaften sozial fragmentiert waren. Zum einen manifestierte sich soziale Privilegierung und Benachteiligung im Grad der Beteiligung an der betrieblichen Selbstverwaltung und in der materiellen Situation der Belegschaftsmitglieder. Zum anderen wurde die Benachteiligung verschiedener sozialer Kategorien in sehr unterschiedlicher Intensität öffentlich und nichtöffentlich thematisiert. Wenig spezifisch für das sozialistische Jugoslawien gegenüber anderen sozialistischen und nichtsozialistischen Wirtschaftssystemen ist dabei, dass die Kombination der Kategorien männlich, hoch qualifiziert und mit viel Berufserfahrung strukturell mit sozial vorteilhafteren Positionen verbunden war. Demgegenüber wirkte es sich negativ auf die Stellung von Beschäftigten aus, wenn sie die Kategorien migrantisch, unqualifiziert und jung in sich vereinten. Sie verfügten dann im Betrieb über maßgeblich weniger Einfluss und materielle Privilegien. Wie in anderen kommunistisch geführten Ländern schrieb die jugoslawische Partei der „Arbeiterklasse“ im Offizialdiskurs die Rolle der bestimmenden politischen und wirtschaftlichen Akteurin zu. Mit dem partizipativen Anspruch der betrieblichen Selbstverwaltung sollte sich dies in Jugoslawien jedoch viel konkreter als anderswo ausdrücken. Dieser Anspruch hatte eine zentrale legitimatorische Funktion. Deshalb bargen die ausgeprägt hierarchischen Machtverhältnisse in den Industriebetrieben, die trotz Selbstverwaltung einigen Gruppen kaum Teilhabe ermöglichten, das Potential, die Legitimation des herrschenden Systems infrage zu stellen. Am stärksten gefährdeten solche Ungleichheiten die Macht des BdKJ, wenn die Betroffenen sie in den Gremien der Selbstverwaltung und der Öffentlichkeit kollektiv verfolgten. An den Untersuchungsbeispielen wurde deutlich, dass Beschäftigte je nach sozialem Status in deutlich unterschiedlichem Maße in der Lage waren, ihren Unmut gemeinschaftlich zu artikulieren. Die Bedeutung der Integration von jungen Menschen und Frauen in die Selbstverwaltung zeigte sich unter anderem daran, dass die herrschende Elite – wenn auch mit unterschiedlicher Hartnäckigkeit – von ihnen verlangte, als politische Subjekte aufzutreten. Die Jugendorganisation, der Bund der Kommunisten und andere sozialistische Massenorganisationen boten Strukturen, innerhalb derer sich Beschäftigte in einem regulierten und kontrollierten Rahmen auf ihre gemeinsamen Interessen verständigen und auf legitime Weise Gehör verschaffen konnten. Für MigrantInnen und niedrig Qualifizierte standen jedoch keine speziellen Foren dieser Art zur Verfügung. Dies erschwerte es ihnen erheblich, ihre Interessen zu artikulieren. In der Konsequenz wurde ihnen die Rolle von politischen Subjekten praktisch abgesprochen und sie wurden zu Objekten betrieblicher und staatlicher Sozialpolitik gemacht. MigrantInnen und niedrig Qualifizierte waren darüber hinaus überdurchschnittlich häufig Disziplinierungsbestrebungen verschiedener betrieblicher Instanzen ausgesetzt. Die Belegschaften insgesamt, aber auch die Gruppe der ProduktionsarbeiterInnen in sich waren also auf vielfache Weise sozial fragmentiert. Die Auswirkungen davon lassen eine stark ausgeprägte Klassensolidarität unter jugoslawischen ArbeiterInnen äußerst fraglich erscheinen. Neben den Partikularis-
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men, für die die Dezentralisierung der Betriebe und die Selbstverwaltung die Voraussetzungen schufen, ergaben sich also auch hier Widersprüche zur normativen Vorstellung einer „vereinten Arbeiterklasse“. Eine wichtige Ursache für sich hartnäckig haltende und in der selbstverwalteten Industrie erst entstandene soziale Hierarchien und ihrer Folgen für die Austragung sozialer Konflikte lag in der Arbeitsorganisation, die tayloristischen Prinzipien folgte. Produktionsschritte zu planen, zu zerlegen, ihren Zeit- und Materialbedarf möglichst exakt zu bestimmen, schloss auch in Jugoslawien umfangreiche Überwachungs-, Kontroll- und Sanktionierungsmechanismen ein. Im Zuge des Wissens- und Technologietransfers zwischen westlichen Unternehmen wie Klöckner-Humboldt-Deutz und FIAT auf der einen Seite und ihren jugoslawischen Partnerunternehmen TAM und Zastava auf der anderen Seite wurden diese Prinzipien der Arbeitsorganisation übernommen. Die jugoslawische Selbstverwaltung stellte die Machtposition, die das Management und Angestellte in solchen organisatorischen Arrangements innehatten, zwar in Frage, aber eben nur teilweise: Die Arbeiterräte und die Dezentralisierung der Unternehmen sollten die ArbeiterInnen an Managemententscheidungen sowie an Kontrollund Sanktionierungspraktiken beteiligen. Dass sich starke Machtgefälle zwischen den verschiedenen betrieblichen Sozialgruppen hielten, kann unter anderem damit erklärt werden, dass der tayloristisch organisierte Produktionsprozess nur an einigen Stellen im Sinne der Prinzipien der Selbstverwaltung angetastet wurde. Die Stechuhr und mit ihr die Kontrolle über die Arbeitskraft der Belegschaft behielten ihre Bedeutung. Radikalere Eingriffe in die Arbeitsorganisation, die darauf setzten, exakte Planung, Kontrolle und Sanktionierung zu verringern – oder selbst dahingehende Diskussionen – sind aus den untersuchten Betrieben nicht bekannt. Stattdessen übten die von starken Hierarchien geprägten Institutionen der Selbstverwaltung die Kontrolle über weitgehend nach tayloristischen Prinzipien organisierte Industrieproduktion aus. Eine Periode von zwanzig Jahren bildete den zeitlichen Rahmen der Untersuchung. Zwischen den Jahren 1965 und 1985 lagen zwei für Jugoslawien markante Krisenmomente: 1968/71 als dezidiert politische Krise, in der das Herrschaftssystem an sich infrage gestellt wurde, und 1979–83 als die Krise der Industriemoderne auch in Jugoslawien in einer gravierenden Wirtschaftskrise zutage trat. Die Wende zu den 1980er Jahren war zudem vom Tod des Staatsführers Josip Broz Titos geprägt, dessen Integrationskraft eine wichtige Quelle von Legitimität für die kommunistische Herrschaft bedeutet hatte. Vor allem für die Zeitspanne 1968 bis 1975 lassen sich die vielschichtigen Aushandlungsprozesse zwischen gesellschaftlicher Basis und der politischen Elite Jugoslawiens gut nachweisen. Am Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren sowie in den unmittelbaren Folgejahren zeigte sich die kommunistische Führung in Ansätzen wandlungsfähig, da ihre Legitimität auf ernstzunehmende Weise infrage gestellt worden war. Der gesellschaftliche Protest wie die Unruhen von StudentInnen und von der BDKJ-Linie abweichende Stimmen in den Republiksparteien machten Tito und der Parteileitung die Ernsthaftigkeit auch sozialer Verwerfungen deutlich, die das jugoslawische System
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produziert hatte. Zudem kommunizierten die sozialistischen Massenorganisationen mittels ihres Berichtswesens die Unzufriedenheit von IndustriearbeiterInnen in Richtung Staatsspitze. Die politische Führung reagierte mit sehr ambivalenten Maßnahmen auf die politische Krise. In einem begrenzten Rahmen gestand sie ab 1968 offiziell ein, dass die bestehende Ordnung einen Teil der IndustriearbeiterInnen politisch und sozial marginalisiert hatte. Die Partei reagierte auf den Zustand mit öffentlicher Aufmerksamkeit für soziale Verwerfungen, mit konkret auf die Minderprivilegierten bezogenen sozialpolitischen Maßnahmen sowie ab 1971 mit weiteren Reformen der Selbstverwaltung. Letztere sollten die Partizipationsmöglichkeiten stärker auf die untere Ebene der Betriebe verlagern. Arbeitsplatzsicherheit, soziale Wohnungsfonds und die schon in der Verfassung von 1963 zugesicherten Minimallöhne sollten als Elemente der neuen Sozialpolitik die Legitimität der kommunistischen Herrschaft unter Industriebelegschaften stärken. Ein Einlenken der politischen Führung angesichts unerwünschter, aber in den Betrieben existierender sozialer Konflikte lässt sich auch am Umgang mit Streiks erkennen. Mit der Verfassung von 1974 und dem Gesetz über die vereinte Arbeit von 1976 erkannte die Staatsspitze ihre Existenz sogar ganz offiziell an, ohne Arbeitsniederlegungen als legitime Form des sozialen Protests oder als politisches Mittel gutzuheißen. Mit den Gesetzeswerken stellte die Bundespolitik Vermittlungsmechanismen zur Verfügung, bot aber letztlich keine Lösungen an, die für die lokalen AkteurInnen im Umgang mit Streiks wirklich befriedigend gewesen wären, was diese auch öffentlich äußerten. Da sich Streiks nicht verhindern ließen, schien dem BdKJ offenbar der geeignetste Weg des Umgangs mit ihnen zu sein, wenigstens ansatzweise Kontrolle über diese problematische Protestform auszuüben. Unter den Bedingungen der Einparteienherrschaft, der Selbstverwaltung, der auf mehreren Ebenen wirkenden Dezentralisierung sowie der wirtschaftlichen Öffnung Jugoslawiens zum Weltmarkt waren schwer überbrückbare soziale und politische Widersprüche zutage getreten. Dennoch hielt die jugoslawische Staatsspitze an der Selbstverwaltungsdoktrin fest. Soziale Gerechtigkeit könne nur erreicht werden, wenn die Selbstverwaltung trotz zutage getretener innerer Widersprüche konsequent angewendet würde. Wohlgemerkt sollte das Selbstverwaltungsprinzip nicht bis auf die oberste Ebene politische Entscheidungsebene vordringen, sondern vor allem auf den unteren gesellschaftlichen Ebenen wirken. Auch die in der Mitte der 1970er Jahre eingeführten Korrekturelemente Arbeiterselbstverwaltungskontrolle und die Gerichte der vereinten Arbeit lösten die dem Selbstverwaltungssystem innewohnenden Widersprüche nicht auf. Allenfalls sorgten sie wie auch andere vorhandene Mechanismen dafür, dass Beschäftigte ihren Unmut über bestehende sozio-ökonomische Machtverhältnisse in kanalisierter Form artikulieren konnten und dass willkürliches Verhalten Vorgesetzter ansatzweise eingedämmt werden konnte. Die radikale Dezentralisierung der Betriebe in GOVA wirkte ähnlich wie die Föderalisierung des jugoslawischen Staates, die die Verfassung von 1974 brachte: „Auf Republiksebene re-
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produzierten sich die Mechanismen der Herrschaftssicherung im Kleinen mit ihrem eklatanten Mangel an Partizipation und Transparenz.“1 Auch in den Betrieben täuschte die Dezentralisierung über das Fehlen einer wahrhaften Revision bestehender Machtkonstellation zugunsten der Teilhabe marginalisierter Gruppen hinweg. Obwohl die Parteispitze also einerseits eingestand, es hätte soziale Fehlentwicklungen gegeben und auf diese mit institutionellen und sozialpolitischen Reformen reagierte, beharrte sie andererseits umso stärker auf Grundsätzen der Selbstverwaltung, die unter den herrschenden Bedingungen höchst ambivalent wirkten. Den zweiten deutlichen Einschnitt in der untersuchten Zeitspanne bildete die Wende zu den 1980er Jahren. Zwischen der zweiten weltweiten Ölkrise 1979 und dem Jahr 1983 spitzten sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes in bisher ungekanntem Maße zu. Nach dem Tod Josip Broz Titos 1980 hielt die politische Führung unter der Maxime „Nach Tito, Tito!“ umso stärker an den Prinzipien der Selbstverwaltung fest. Gleichzeitig wurde zu Beginn der 1980er Jahre sowohl innerhalb als auch außerhalb von Jugoslawien die Krise der Industriemoderne unübersehbar. Das sozialistische Fortschrittsversprechen fußte jedoch auf extensivem industriellen Wachstum. In diesem Klima sich zuspitzender wirtschaftlicher Bedingungen äußerten in Jugoslawien immer mehr kritische Stimmen in Wissenschaft und Publizistik ihre Zweifel am Geltungsanspruch der Selbstverwaltungsideologie. Im Gegensatz zum vorangegangenen Jahrzehnt reflektierten sie nun grundsätzliche Mängel in der Praxis der betrieblichen Selbstverwaltung. Dass unter den Bedingungen wachsender politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit eine größere Meinungsvielfalt möglich wurde, war in den Betrieben deutlich wahrnehmbar. Manche VertreterInnen der Selbstverwaltung und der Gewerkschaften waren in der Mitte der 1980er Jahre nicht mehr bereit, ihre hochgradig ambivalenten Rollen im System zu übernehmen. Parteioffiziell hielt man jedoch weiterhin an ihren Grundsätzen fest, ohne schlüssige Instrumente zur Korrektur ihrer unintendierten Fehlentwicklungen für die Praxis bereitzustellen. Gerade die hartnäckige Bekräftigung der schwer umsetzbaren Verteilungs- und mehrdeutigen Entscheidungsprinzipien trug somit dazu bei, dass die Selbstverwaltung weiter an Glaubwürdigkeit verlor. Der Fokus der Untersuchung lag auf der Mikroebene von Industrieunternehmen, deren Umgebungen von unterschiedlichen sozioökonomischen, kulturellen und historischen Bedingungen in Slowenien und Serbien geprägt waren. Jedoch konnte die Untersuchung zeigen, dass die Mechanismen, mit denen Konflikte innerhalb der Betriebe ausgetragen wurden, sehr ähnlichen Mustern folgten. Vor allem der ideologische und institutionelle Rahmen bewirkte, dass die unterschiedlichen Kontexte in Slowenien und in Serbien dennoch ähnliche Praktiken hervorbrachten. Selbst dann, wenn unterschiedliche Bedingungen unterschiedliche Konflikte verursachten, kam dies zur Geltung: Die Stadt Maribor wuchs bei besser ausgebauter Verkehrsinfrastruktur weniger stark als Kraguje1
CALIC, Geschichte Jugoslawiens, 260.
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vac, wo die Arbeitslosigkeit deutlich höher lag. Dies bewirkte, dass die Nöte, die in Maribor hinter sozialen Konflikten standen, im Vergleich geringer waren. Am markantesten trat in der Untersuchung überdies der Unterschied hervor, dass Slowenien in sozialistischer Zeit zum Ziel innerjugoslawischer Arbeitsmigration wurde. Damit entstand eine in slowenischen Betrieben mehrfachen Marginalisierungen ausgesetzte Gruppe von ArbeiterInnen. Die Symptome und Mechanismen dieser sozialen und politischen Benachteiligungen folgten jedoch sehr ähnlichen Mustern wie jene, die marginalisierte Gruppen anderer sozialer Kategorien betrafen. Die weitgehend fehlende öffentliche Thematisierung ihrer Interessen war das markanteste Symptom ihrer Benachteiligung. Vor allem ideologische Vorgaben, die selbstverwalterische Betriebsverfassung und der Einfluss ökonomischer Faktoren bedingten sowohl in Slowenien als auch in Serbien, auf welche Weise soziale Vorteile oder Nachteile wirkten und in welchen Mustern solche Konflikte ausgetragen wurden. Im Vergleich der Praxis der Arbeiterselbstverwaltung mit anderen staatssozialistischen Betriebsrealitäten fällt auf, dass viele Konflikte, Machtstrukturen und Praktiken der Begünstigung dort ebenfalls existierten. Jedoch erlaubte die jugoslawische Betriebsverfassung, dass einzelne Betriebsteile oder betriebliche Gruppen ihre Partikularinteressen auf formal bestehenden Wegen verfolgten. Dies konnte geschehen, obwohl mehr oder weniger konkretisierte Solidaritätsforderungen sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf betrieblicher Ebene den Status offizieller Politikziele hatten. So radikal die theoretische Konzeption der Arbeiterselbstverwaltung mit planwirtschaftlichen Prinzipien brach, so gern wird oft übersehen, dass dennoch die Institutionen des Einparteienstaates auch in Jugoslawien bis in die Betriebe hinein wirkten. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens und die sozialistischen Massenorganisationen funktionierten dort wie in anderen staatssozialistischen Systemen als Agitations- und Kontrollinstrumente. Auch die so wichtige bottom-up-Kommunikationsfunktion des Beschwerdewesens von Partei, Gewerkschaften und anderen Organisationen ähnelte sich sehr stark. Zwar konnten jugoslawische ArbeiterInnen nicht nur bei diesen Instanzen sowie beim Staatsführer wie in anderen kommunistisch regierten Ländern Beschwerden einlegen. Ihnen standen zusätzlich Einsprüche beim Arbeiterrat, die Arbeiterselbstverwaltungskontrolle und die Gerichte der vereinten Arbeit zur Verfügung. Dies bewirkte jedoch keine fundamentalen Unterschiede in Bezug auf Beschwerdegründe und in Vielem auch nicht auf die Argumentationsstrategien von unzufriedenen Belegschaftsmitgliedern. Sicherlich bewirkten die Institutionen der Arbeiterselbstverwaltung, dass hierarchische Machtstrukturen nicht unhinterfragt und ungestört wirken konnten. Jedoch entsprach sich die Verteilung vorteilhafter und marginalisierter Positionen im Sozialgefüge der Unternehmen in jugoslawischen und Betrieben und denen anderer staatssozialistischer Länder weitestgehend. Damit ähnelte sich auch der Widerspruch, der sich aus der theoretischen Stellung der ArbeiterInnen in den jeweiligen Staatsideologien und der gesellschaftlichen Praxis ergab. Allerdings fiel er wegen des partizipativen Anspruchs der Arbeiterselbstverwal-
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tung in Jugoslawien noch gravierender aus. Darüber hinaus ähnelten sich die informellen Formen der Interessenverfolgung trotz der institutionellen Unterschiede. Überbeschäftigung und Kündigungsschutz (in Jugoslawien ab 1971) gingen mit weit verbreitetem Absentismus, Nebenverdienst von Beschäftigten inner- und außerhalb des Betriebs einher. Auch die weitverbreiteten kooperativen Praktiken zwischen ArbeiterInnen und ihren unmittelbaren Vorgesetzten kamen sich in den verschiedenen sozialistischen Systemen sehr nahe. An den Stellen, wo all diese Phänomene sogar denen in kapitalistischen Betrieben ähneln, liegt es nahe, als den Grund dafür in den allen Systemen gemeinsamen tayloristischen Produktionsprinzipien zu suchen. Was bedeuten nun die Ergebnisse dieser Arbeit für die Herrschaftsbeziehungen im sozialistischen Jugoslawien? Wolfgang Höpken führt vier Faktoren der „unsichtbaren Machtsicherung“ der kommunistischen Führung Jugoslawiens an: außenpolitisches Renommee, räumliche „Ent-Grenzung“, Wohlstand und Konsum sowie „negative Loyalität“ der Bevölkerung zu ihrem „besseren Sozialismus“.2 In puncto Wohlstand und Konsum erlebten die JugoslawInnen und insbesondere die IndustriearbeiterInnen unter ihnen spätestens ab der Mitte der 1970er Jahre, dass die erwartete ständige Verbesserung ihrer materiellen Situation nicht eintrat. Eben daran entzündeten sich viele der hier diskutierten sozialen Konflikte. Höpken zufolge begriffen die BürgerInnen Jugoslawiens ihr System als „besseren Sozialismus“, da er weniger restriktiv als im restlichen Ost- und Südosteuropa war. Die Selbstverwaltungsordnung hatte ebenso ihren Anteil an dieser „negativen Loyalität“ und Jugoslawien rühmte sich im Ausland seines „Dritten Weges zum Sozialismus“. Durch die Selbstverwaltung, so die Darstellungen der „Außenwerbung“, aber zu einem hohen Grade auch der propagandistischen Darstellung innerhalb Jugoslawiens, seien sowohl wahrhaft humane Arbeitsbeziehungen als auch ein hochgradig partizipatives politisches System geschaffen worden. Im Widerspruch dazu prägten vielfache Partikularismen, soziale Fragmentierungen der Belegschaften und verfestigte Machtstrukturen die Sozialbeziehungen in den Betrieben. In der Konsequenz hatte die Selbstverwaltungsordnung in den Betrieben nach mehreren Krisen spätestens in der Mitte der 1980er Jahre deutlich an Kraft verloren, die politische Ordnung zu legitimieren.
2
Vgl. HÖPKEN, „Durchherrschte Freiheit“, 59–63.
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Abkürzungen
AFŽ AS Bd. BdKJ BdKS/Sl br. CK Dt. DO DS DPJ Disc. f. FAZ FPV/ PV g. GOVA Hg./ Hgg. IO IWF JLA JNA k. KOP L.D. MO
Antifašistički front žena (Srb.), (Antifaschistische Frauenfront) Arhiv Srbije (Srb.), (Serbisches Staatsarchiv) Band Bund der Kommunisten Jugoslawiens Bund der Kommunisten Serbiens/ Sloweniens broj (Srb.), (Nummer) Centralni komitet (Srb.), (Zentralkomitee) Deutsch Delavska organizacija (Slow.), (Arbeitsorganisation) Delavski svet (Slow.), (Arbeiterrat) Direkcija i poslovnih jedinica (Srb.), (Direktion und Geschäftseinheiten) Disciplinske predmete/ Povrede radnih dužnosti (Srb.), (Disziplinarverfahren) fond (Srb./ Slow.), (Archivfond) Fabrika automobila Zastava (Srb.), (Zastava Autofabrik) Fabrika Privrednih vozila/ Privredna vozila (Srb.), (Nutzfahrzeugfabrik/ Nutzfahrzeuge) godina (Srb.), (Jahr) Grundorganisation der vereinten Arbeit Herausgegeben Izvršni odbor (Srb.), (Exekutivausschuss) Internationaler Währungsfonds Jugoslovanska ljudska armada (Slow.), (Jugoslawische Volksarmee) Jugoslovenska narodna armija (Srb.), (Jugoslawische Volksarmee) kutija (Srb.), (Karton) Kadrovski, pravni i opšti poslovi (Srb.), (Personal-, Rechts- und allgemeine Angelegenheiten) Lične dohotke (Srb.), (persönliche Einkommen) Mehanička obrada (Srb.)/ Mehanska obdelava (Slow.), (Mechanische Fertigung)
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NOB
Narodnooslobodilačka borba (Srb.)/ Narodnoosvobodilni boj (Slow.), (Volksbefreiungskampf) OD Osebni dohodek (Slow.), (Persönliches Einkommen) OOUR Osnovna organizacija udruženog rada (Srb.), (Grundorganisation der vereinten Arbeit) ORA Omladinska radna akcija (Srb.), (Jugendarbeitsaktion) OS ZSS Občinski svet Zveze sindikatov Slovenije (Slow.), (Gemeinderat des Gewerkschaftsbundes Sloweniens) OOZS Osnovna organizacija Zveze sindikatov (Slow.), (Grundorganisation des Gewerkschaftsbundes) PiK Preseraj i karoserija (Srb.), (Presswerk und Karosseriebau) RO Radna organizacija (Srb.), (Arbeitsorganisation) RS Radnički savet (Srb.), (Arbeiterrat); und Republiški svet (Slow.), (Republiksrat) RSS Republiški svet sindikatov (Slow.), (Republiksbund der Gewerkschaften) RZ Radna zajednica (Srb.), (Arbeitsgemeinschaft) SBWV Sozialistischer Bund des werktätigen Volkes SDK Samoupravna delavska kontrola (Srb.), (Arbeiterselbstverwaltungskontrolle) SDK Služba društvenog knjigovodstva (Srb.)/ Služba družbenega knjigovodstva (Slow.), (Gesellschaftlicher Buchführungsdienst) sedn. sednica (Srb.), (Sitzung) SGJ Statistički godišnjak Jugoslavije (Srb.), (Statistisches Jahrbuch Jugoslawiens) SI-AS Arhiv Republike Slovenije (Slow), (Slowenisches Staatsarchiv) SI-PAM Pokrajinski arhiv Maribor (Slow.), (Regionalarchiv Maribor) SK Sindikalna konferenca (Slow.), (Gewerkschaftskonferenz) SK(J) Savez komunista (Jugoslavije) (Srb.), (Bund der Kommunisten (Jugoslawiens)) Slow. Slowenisch SOUR Složena organizacija udruženog rada (Srb.), (Zusammengesetzte Organisation der vereinten Arbeit) SOZD Sestavljena organizacija združenega dela (Slow.), (Zusammengesetzte Organisation der vereinten Arbeit) SSOJ Savez socijalističke omladine Jugoslavije (Srb.), (Bund der sozialistischen Jugend Jugoslawiens) SSRN Socijalistički savez radnog naroda (Srb.), (Sozialistischer Bund des werktätigen Volkes) (S)RK (Samoupravna) radnička kontrola (Srb.), (Arbeiter(Selbstverwaltungs-)Kontrolle) Srb. Serbisch Stamb. prob. Stambena problematika (Srb.), (Wohnungsproblematik)
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SUBNOR SZDL SŽD šk. Tap. TOZD u. a. UO U. S. vgl. Zavr. rač. z. B. ZCZ ZIV ZKJ/S ZSMJ/S ZS(S) ZZB NOB ZŽD
Savez udruženja boraca narodnooslobodilačkog rata (Srb.), Zveza združenj borcev narodnoosvobodilne vojne (Slow.), (Bund der Vereinigungen der Kämpfer des Volksbefreiungskrieges) Socialistična zveza delovnega ljudstva (Srb.), (Sozialistischer Bund des werktätigen Volkes) Savez ženskih društava (Srb.), (Bund der Frauenvereine) škatla (Slow.), (Karton) Tapacirnica (Srb.), (Polsterei) Temeljna organizacija združenega dela (Slow.), Grundorganisation der vereinten Arbeit) unter anderem Upravni odbor (Srb.), (Verwaltungsausschuss) Ulrike Schult vergleiche Završni račun (Srb.), (Geschäftsbericht) zum Beispiel Zavodi Crvena zastava (Srb.), (Rote Fahne-Werke) Združena industrija vozil (Slow.), (Vereinte Fahrzeugindustrie) Zveza komunistov Jugoslavije/ Slovenije (Slow.), (Bund der Kommunisten Jugoslawiens/ Sloweniens) Zveza socialistične mladine Jugoslavije/ Slovenije (Slow.), (Bund der sozialistischen Jugend Jugoslawiens/ Sloweniens) Zveza sindikatov (Slovenije) (Slow.), (Gewerkschaftsbund (Sloweniens)) Zveza združenj borcev za vrednote NOB (Slow.), (Bund der Vereinigungen der Werte des Volksbefreiungskrieges) Zveza ženskih društev (Slow.), (Bund der Frauenvereine)
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Tabellen und Abbildungen Tabelle 1: Fallzahlen der Gerichte der vereinten Arbeit und Gemeindegrößen zu Beginn der 1980er Jahre..............................................................................134 Tabelle 2: Arbeitslosigkeit in Maribor und Kragujevac 1971 und 1981..................................................................................................................161 Tabelle 3: Fluktuation bei TAM Maribor, in der slowenischen Metallindustrie/ in der Branche Industrie und Bergbau in Slowenien, 19641984..................................................................................................................201 Tabelle 4: Fluktuation Zastava, in der serbischen Metallindustrie/ in der Branche Industrie und Bergbau im engeren Serbien zwischen 1965 und 1982..................................................................................................202 Tabelle 5: Bildungsabschlüsse und Qualifikationsgrade von ProduktionsarbeiterInnen..................................................................................258 Tabelle 6: Qualifikationsniveaus ProduktionsarbeiterInnen bei Zastava 1965, 1976, 1985..............................................................................................260 Tabelle 7: Frauenanteil und Durchschnittseinkommen nach Betriebsteilen bei TAM 1975, 1977..................................................................292 Abbildung 1: Anstieg Durchschnittseinkommen, Produktivität und Preise in Jugoslawien 1955–1981......................................................................................42 Abbildung 2: Arbeitslosigkeit und Arbeitsemigration in Jugoslawien 1965– 1981....................................................................................................................43 Abbildung 3: Beschäftigtenzahlen TAM 1960–1988.........................................50 Abbildung 4: Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM 1950–1985..........52 Abbildung 5: Beschäftigte und Produktion der Zastava-Nutzfahrzeugfabrik 1969–1990..........................................................................................................57 Abbildung 6: Anzahl der Fälle vor dem Gericht der vereinten Arbeit Maribor 1976– 1989.........................................................................................135 Abbildung 7: Karikatur: „Weißt du nicht, dass es verboten ist, Alkohol mit ins Unternehmen zu bringen? – Mitbringen ja, trinken nicht.“....177 Abbildung 8: Karikatur: „Aufräumen nach Silvester“.....................................178 Abbildung 9: Feier mit Alkoholausschank bei TAM (Kontaktabzug)..............180 Abbildung 10: Ein Gläschen auf den Geburtstag bei TAM (Kontaktabzug)....181 Abbildung 11: Bildungsabschlüsse der Belegschaft bei TAM.........................258
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Abbildung 12: Karikatur: „Nachbar Jaka, du hast dich wohl noch ganz nach altem Brauch für die Frühjahrsarbeiten krank schreiben lassen? – Du weißt doch, ich stelle mich dumm, um die größten Kartoffeln zu haben.“................271 Abbildung 13: Bau von Baracken in der Gründungsphase der Mariborer Fabrik (zwischen 1941 und 1943) unter nationalsozialistischer Besatzung..........................................................................................................321 Abbildung 14: Wohnbaracken bei TAM in den frühen 1960er Jahren.............323
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen Arhiv Republike Slovenije, Ljubljana – SI-AS [Archiv der Republik Slowenien], Fonds: 538 540 578 1435 1133
Republiška konferenca Zveze socialistične mladine (1941–1990) [Republikskonferenz des Bundes der sozialistischen Jugend] Republiški svet Zveze sindikatov Slovenije (1945–1974) [Republiksrat des Gewerkschaftsbunds Sloweniens] Republiški odbor Sindikata delavcev industrije in rudarstva Slovenije (1963–1974) [Republiksausschuss der Gewerkschaft für Industrie und Bergbau Sloweniens] Republiški odbor Sindikata delavcev kovinske industrije Slovenije (1974–1977) [Republiksausschuss der Gewerkschaft der Arbeiter der Metallindustrie Sloweniens] Republiški sekretarijat za delo Socialistične republike Slovenije (1968– 1975) [Republikssekretariat für Arbeit der Sozialistischen Republik Slowenien]
Arhiv Srbije, Beograd – AS [Arhiv Serbiens], Fonds: Đ-2 Đ-46 Đ-82
Centralni komitet Saveza komunista Srbije 1919– 1990 [Zentralkomitee des Bundes der Kommunisten Serbiens] Republička konferencija Saveza socijalističke omladine Srbije 1945– 1990 [Republikskonferenz des Bundes der sozialisttischen Jugend Serbiens] Veće sindikata Srbije 1948– 1967 [Rat der Gewerkschaften Serbiens]
Pokrajinski arhiv Maribor, Maribor – SI-PAM [Regionalarchiv Maribor], Fonds: 0990
Tovarna avtomobilov in motorjev Maribor (1941– 2003) [Auto- und Motorenfabrik Maribor]
344 1341 1362 1372 1373 1374 1464 1346 1911 1290
Občinski svet Zveze sindikatov Slovenije Maribor (1954–1981) [Gemeinderat des Gewerkschaftsbundes Sloweniens Maribor] Mestna konferenca Socialistične zveze delovnega ljudstva Maribor (1970–1990) [Ortskonferenz des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes Maribor] Mestna konferenca Zveze socialistične mladine Slovenije Maribor (1966–1991) [Ortskonferenz des Bundes der sozialistischen Jugend Sloweniens Maribor] Komite Občinske konference Zveze komunistov Slovenije Maribor (1975–1980) [Komitee der Gemeindekonferenz des Bundes der Kommunisten Sloweniens Maribor] Komite Mestne konference Zveze komunistov Slovenije Maribor (1965– 1974) [Komitee der Ortskonferenz des Bundes der Kommu nisten Sloweniens Maribor] Občinski svet Zveze sindikatov Slovenije Maribor Tezno (1980–1990) [Gemeinderat des Gewerkschaftsbundes Sloweniens Maribor Tezno] Občinski komite Zveze komunistov Slovenije Maribor Tezno (1949–1990) [Gemeindekomitee des Bundes der Kommunisten Sloweniens Maribor Tezno] Sodišče združenega dela Maribor (1975– 1993) [Gericht der vereinten Arbeit Maribor] Občinski Sindikalni svet Maribor Tezno (1955– 67) [Gewerkschaftsrat der Gemeinde Maribor Tezno]
Zavodi Crvena zastava, Kragujevac – ZCZ [Crvena zastava-Werke] Es handelt sich um Betriebsarchive in den Nachfolgefirmen der Zastava-Werke, die nicht archivalisch erschlossen sind. Die einzelnen archivalischen Einheiten (Aktenordner) sind nicht in einem archivalischen System mit Signaturen erfasst. Deshalb folgt eine Liste mit von der Autorin vergebenen Kürzeln, die jeweils mit der Beschriftung der Aktenordner korrespondiert, bzw. falls keine Beschriftung existiert, mit dem Inhalt der jeweiligen Einheit.
ZCZ-CA – Archiv der Werksebene Zavodi Crvena zastava, (unbekannte Laufzeit) [Zavodi Crvena zastava – Centralni Arhiv] Kürzel
Originalbeschriftung des Aktenordners
SRK ZCZ, 1983 Pers. 1981– 85 RZ KOP M, br. 645– 650, 1983 RZ KOP M, br. 651– 657, 1983 RK ZCZ, 1980
Radnicka kontrola Zavoda od 11.IV.1983 [Abgänge Personal ZCZ, Liste 1981– 85] 1983 ZCZ RZ KOP M 645– 650 1983 ZCZ RZ KOP M 651– 57 Radnicka kontrola Zavoda od. 27.III 1980g. 17– IX.1980g.
345 Pers. 1976– 80 Kom. LD, 1975– 76 Pers. 1970– 75 M, br. 477– 484, 1973 M, br. 485– 496, 1973 M, br. 152– 167, 1969 RS ZCZ, 1966 Pers. 1964– 69 M, br. 269– 287, 1966 UO ZCZ, 1966 Zavr. rač. ZCZ, 1965 RS ZCZ, 1965 RS DPJ, 1965– 67
[Abgänge Personal ZCZ Liste 1976– 80] Komisija za L.D. od 22.9.1975 do 22.I.1976 [Abgänge Personal ZCZ Liste 1970– 75] M 1973 g., 477– 484 M 1973 g., 485– 496 M 1969 g., 152– 167 Odluke RS. Zavoda. Od 20.I.66 do 26.9.66 g [Abgänge Personal ZCZ Liste 1964– 69] M 1966, br. 269– 287 Materijal uz zapisnike UOZ za period od 17-01-do 6-051966 g u 5 sveski Završni račun za 1965 god. Zavodi „Crvena zastava“, Deo u Kragujevcu Odluke Radnickog saveta zavoda 1965 Odluke Rad. saveta Direkcije i poslovnih jedinica
ZCZ-FPV – Zavodi Crvena zastava – Fabrika privrednih vozila, (1969-) [Crvena zastava-Werke – Nutzfahrzeugfabrik] Kürzel
Originalbeschriftung des Aktenordners
ZCZ-FPV, RS OOUR MO FPV, 1985
OOUR Mehanicka obrada FPV, Radnički Savet 38., 8.03.1985– 43., 9.04.1985 1985 Materijal i odluke RS OOUR Tapacirnica od 77 sed. 29.04.1985 g. do 81 sedn. 04.06.1985 g 1984 Stambena problematika OOUR FPV
ZCZ-FPV, RS OOUR Tap., 1985 ZCZ-FPV, Stamb. probl. OOUR PV, 1984 ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1984 ZCZ-FPV, Disc. OOUR MO, 1984 ZCZ-FPV, RS MO FPV, 1983– 84 ZCZ-FPV, Ref., izb., OOUR PV, 1982–3 ZCZ-FPV, RS OOUR PiK, 1981 ZCZ-FPV, IO RO FPV 1981– 83 ZCZ-FPV, Norm. akta OOUR MO FPV, 1980 ZCZ-FPV, Disc. Tap., 1979– 80 ZCZ-FPV, RS RO PV, 1978– 79
Radnicki savet OOUR-a Privredna vozila od 25.05.1984. do 8.06.1984 Disciplinska komisija OOUR-a MO od 42 1984 1983– 1984 OOUR-a „Mehanička obrada FPV“, Radnički savet, zapisci 1982– 1983 OOUR PV Referendum, Izbori 1981 Zapisnici sa svim prilozima Radnickog saveta OOUR-a Preseraj i Karoserija 16.12.1981 29.12.1981, 76 do 78 sednice Izvršni odbor RO FPV od 21.12.1981. do 28.02.83 1980 Normativna akta OOUR-a Mehanicka obrada FPV od 1980. god 1979– 80 Odluke disciplinske komisije Tapacirnica 1978– 79 Zapisnici i materijal sa radn. saveta od 12. sedn. 20.04.1978 do 18. sedn. 30.2.1979
346 ZCZ-FPV, Disc., 1978
Privredna vozila. Disciplinski predmeti. 1978 PV ZCZ-FPV, Zborovi Tap., 1977– 81 1977– 1981 Tapacirnica Zborovi ZCZ-FPV, RS Tap., 1977 1977 OOUR-a „Tapacirnica“, Radnički savet, Zapisci ZCZ-FPV, Stamb. probl. Tap., 1977 1977 Tapacirnica Stambena problematika Materijali Odluke ZCZ-FPV, RS, 1976 Materijal sa Radnickog saveta od 25 sednice 22.03.1976 god do 32. sednice 24.05.1976 god ZCZ-FPV, RS RZ EKO, 1975– 76 Radnički savet RZ [za ekonomiku, kadrovi i ostale poslove]. Zapisnici i materijal.1975/6 ZCZ-FPV, Disc., 1975– 76 14.02.1975. Povučeni zahtevi. Discipl. prijava ZCZ-FPV, RS OOUR ZS PV, 1973– 75 1973/5, Odluke RS-OOUR-a Zajedničke službe zajed. za proizvod nju privrednih voz., od 7– 54 sedn. ZCZ-FPV, RS OOUR PV, 1973– 75 Zapisnici RS OOUR-a za proizvodnju kamiona i unut. opreme vozila, od 1 do 58 sednice od 25.06.1973– 3.06.1975 ZCZ-FPV, Disc., 1972 1972 Povrede radnih duznosti od 1 do 43 ZCZ-FPV, RS FPV, 1971– 73 FPV, Radnički savet, Zapisinici od 25.I.1971. do 11.XII. 1973.
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Tages- und Wochenzeitungen Svetlost, Kragujevac Večer, Maribor
Fabrikzeitungen Crvena Zastava, Kragujevac Informator „Zastava transport“, Kragujevac Skozi TAM, Maribor Vesti iz TAM, Maribor
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Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas hrsg. von Prof. Dr. Wolfgang Höpken (Universität Leipzig) Robert Kunkel Visualisierung von Macht und Identität Installation und Transformation von Erinnerungskulturen im jugoslawischen und postjugoslawischen Kroatien am Beispiel der Stadt Osijek Der Zerfall des jugoslawischen Gesellschaftssystems stellte lange gepflegte Geschichtsbilder und die etablierte Kultur der Erinnerung infrage. Vormals unumstößlich scheinende Traditionen verloren an Geltung. Am Beispiel der kroatischen Stadt Osijek wird beleuchtet, wie das gewaltsame Auseinanderbrechen des Vielvölkerprojektes zu einer Transformation der lokalen Erinnerungskultur führte und wie die materiellen Träger von Erinnerung – Straßennamen, Monumente, Büsten etc. – einem radikalen Wandel unterworfen wurden, um die ethnienübergreifende jugoslawische Idee durch eine kroatischnationale Narration zu ersetzen. Bd. 14, 2015, 152 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-12888-1
Stefanie Friedrich Politische Partizipation und Repräsentation von Frauen in Serbien Wie gestalteten sich die politischen Partizipationsmöglichkeiten von Frauen in Serbien seit 1945? In welchem Verhältnis steht ihre steigende politische Repräsentation zu den Demokratisierungsprozessen seit dem Jahr 2000? Und wie beeinflussen kulturelle, sozioökonomische, rechtliche und institutionelle Faktoren ihre politische Teilhabe? In dieser Studie wird zunächst aufgezeigt, wie sich die politische Partizipation und Repräsentation von Frauen während des jugoslawischen Sozialismus und während der vom Nationalismus geprägten Zeit der Jugoslawienkriege gestalteten. Im Fokus steht dann die politische Teilhabe von Frauen in Serbien in den ersten zehn Jahren nach dem Sturz Miloševi´cs. Bd. 13, 2014, 392 S., 49,90 €, br., ISBN 978-3-643-12365-7
Carl Bethke (K)eine gemeinsame Sprache? Aspekte deutsch-jüdischer Beziehungsgeschichte in Slawonien, 1900 – 1945 Noch um 1900 waren viele Juden Nord-Kroatiens deutscher Muttersprache, in Städten wie Osijek lebten sie in der Nachbarschaft von „Schwaben“ bzw. den Nachkommen deutscher Einwanderer. Im Buch wird zunächst untersucht, wie sich das Verhältnis von Angehörigen beider Gruppen zueinander, zur deutschen Sprache und zur kroatischen Mehrheitsgesellschaft seitdem entwickelte und veränderte. Sodann wird die Zunahme des Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus beschrieben; erinnert wird sowohl an die Beteiligung von „Volksdeutschen“ an der Judenverfolgung ab 1941, als auch an einzelne Helfer und Retter. Herangezogen wurden Archivalien aus Deutschland, Kroatien, Serbien und Israel. Bd. 12, 2013, 464 S., 49,90 €, br., ISBN 978-3-643-11754-0
Sanela Hodži´c; Christian Schölzel Zwangsarbeit und der Unabhängige Staat Kroatien 1941 – 1945 Die Autoren/innen untersuchen erstmals in transnationaler Perspektive die grenzübergreifende Organisation von Zwangsarbeit für Betroffene aus dem „Unabhängigen Staat Kroatien“ (NDH) zwischen 1941 und 1945. Erstmalig verknüpfen die Verfasser/innen Archivalien aus Deutschland, Kroatien, Serbien, Italien und Norwegen zu einem facettenreichen Gesamtbild, das die Einsicht in Situation und Schicksal der aus dem NDH stammenden Männer, Frauen und Kinder in Kroatien, BosnienHerzegowina, Serbien, Deutschland, Österreich, Norwegen sowie Italien ermöglicht. Bd. 11, 2013, 232 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-11428-0
Tea Sindbaek; Maximilian Hartmuth (Eds.) Images of Imperial Legacy Modern discourses on the social and cultural impact of Ottoman and Habsburg rule in Southeast Europe Bd. 10, 2011, 136 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-10850-0
LIT Verlag Berlin – Münster – Wien – Zürich – London Auslieferung Deutschland / Österreich / Schweiz: siehe Impressumsseite
Stephan Olaf Schüller Für Glaube, Führer, Volk, Vater- oder Mutterland? Die Kämpfe um die deutsche Jugend im rumänischen Banat (1918 – 1944) Bd. 9, 2009, 560 S., 69,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1910-1
Vassil Vassilev Nationalismus unterm Roten Stern Vorgeschichte, Durchführung und Auswirkungen der Namensänderungskampagne 1984 – 89 gegenüber der türkischen Minderheit in Bulgarien Bd. 8, 2008, 160 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1296-6
Sabrina P. Ramet Serbia, Croatia and Slovenia at Peace and at War Selected Writings, 1983 – 2007 Bd. 7, 2008, 304 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1267-6
Sophia Bickhardt (Hg.) Aufklärung in Siebenbürgen Perspektiven – Diskurse Bd. 6, 2017, 208 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-8258-0418-3
Nina Wichmann Democratisation Without Societal Participation? The EU as an external actor in the democratisation processes of Serbia and Croatia Bd. 5, 2007, 296 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-8258-9883-0
Markus Krzoska; Hans-Christian Maner (Hg.) Beruf und Berufung Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert Bd. 4, 2005, 320 S., 29,90 €, br., ISBN 3-8258-8053-2
Björn Opfer Im Schatten des Krieges Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915 – 1918 und 1941 – 1944 Bd. 3, 2005, 376 S., 29,90 €, br., ISBN 3-8258-7997-6
Claudia Weber Auf der Suche nach der Nation Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878 – 1944 Bd. 2, 2006, 440 S., 39,90 €, br., ISBN 3-8258-7736-1
Wolfgang Höpken Labyrinthe der Erinnerung Kulturelle Gedächtnisse auf dem Balkan Bd. 1, 2017, 360 S., 29,90 €, br., ISBN 3-8258-7423-0
LIT Verlag Berlin – Münster – Wien – Zürich – London Auslieferung Deutschland / Österreich / Schweiz: siehe Impressumsseite